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H.-J. Möller, G. Laux, H.-P. Kapfhammer (Hrsg.) Psychiatrie und Psychotherapie Band 1: Allgemeine Psychiatrie 3., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage
Hans-Jürgen Möller Gerd Laux Hans-Peter Kapfhammer (Hrsg.)
Psychiatrie und Psychotherapie Band 1: Allgemeine Psychiatrie 3., vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage
Mit 253, zum Teil farbigen Abbildungen und 151 Tabellen
Prof. Dr. H.-J. Möller Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München Nußbaumstr. 7 80336 München
Prof. Dr. Dipl.-Psych. G. Laux Inn-Salzach-Klinikum Wasserburg a. Inn · Rosenheim · Freilassing Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn
Prof. Dr. Dr. H.-P. Kapfhammer Klinik für Psychiatrie Medizinische Universität Graz Auenbruggerplatz 31 8036 Graz, Österreich
ISBN-13 978-3-540-24583-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2008 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Dr. Karen Strehlow, Berlin Dr. Angelika Koggenhorst-Heilig, Leimen Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: Fotosatz Karlheinz Detzner, Speyer SPIN: 11391265 Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort zur 3. Auflage Fünf Jahre nach der 2. Auflage können wir die Neuauflage dieses Handbuches für den Facharzt und die in Weiterbildung stehenden Kollegen vorlegen. Seine Bedeutung als Standardwerk des großen Fachgebietes Psychiatrie und Psychotherapie lässt sich unter anderem daraus ableiten, dass aufgrund der großen Nachfrage vor 2 Jahren ein Nachdruck als Paperback-Sonderausgabe erforderlich wurde. Basierend auf der Tradition der deutschen Psychiatrie im Sinne einer umfassenden Sichtweise für das Gesamtverständnis und den breiten Gesamthorizont von historisch-philosophischen Grundlagen bis zur Neurowissenschaft, hat der Umfang dieses Werkes die Grenzen eines Bandes überschritten und der weitere immense Wissenszuwachs ließ es geboten erscheinen, nunmehr ein 2-bändiges Werk vorzulegen. Es gliedert sich in insgesamt 82 Kapitel, wobei Band I als allgemeiner Teil 42 Kapitel, Band II als spezieller Teil 40 Kapitel umfasst. Formal wurde auf eine stringente, einheitliche Gliederung und Systematik Wert gelegt, um trotz der für eine kompetente Darstellung erforderlichen großen Autorenzahl (100) einen einheitlichen Charakter zu gewährleisten. Durch zahlreiche Tabellen, Abbildungen und typografische Elemente wurde auf Didaktik und Lesefreundlichkeit besonders geachtet. Die inhaltliche Aktualisierung umfasst insbesondere epidemiologische und sozioökonomische Daten, neue Befunde der Genetik und Bildgebung bieten tiefere Einblicke in die Ätiopathogenese, Weiterentwicklungen der Psychopharmakotherapie wurden ebenso berücksichtigt wie neuere, störungsspezifische Psychotherapieverfahren. Als neue Kapitel wurden die Themen Bildgebungsforschung, integrierte Versorgung/Disease-Management, Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie, Qualitätsmanagement, psychische Störungen bei somatischen Erkrankungen, Nikotinabhängigkeit, ADHS im Erwachsenenalter, frauenspezifische Störungen, Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit sowie juristische Aspekte von Aufklärung und Dokumentation und die Frage der Fahrtüchtigkeit aufgenommen. Zudem wurden manche bereits bestehenden Kapitel von neuen Autoren verfasst. Zeitgemäß werden im Sinne der evidenzbasierten Medizin Evidenzgrade der therapiebezogenen Informationen angegeben, besonders wichtige Aussagen in Form einer »EbM-Box«. Alle Autoren von therapiebezogenen Kapiteln wurden gebeten, wenn möglich, Evidenzgrade im Sinne der EbM anzugeben. Dazu wurde folgende Evidenzgraduierung vorgegeben: Level A: Gute studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen. Dieser Level wird erreicht, wenn die auf Studien basierende Evidenz für die Wirksamkeit aus mindestens 3 mittelgroßen randomisierten kontrollierten (doppelblinden) Studien (randomized controlled trials, RCT) mit positivem Ergebnis stammt. Zusätzlich muss mindestens eine dieser Studien eine nach wissenschaftlichen Kriterien gut durchgeführte, plazebokontrollierte Studie sein. Level B: Mittelmäßige studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen. Die Wirksamkeit muss nachgewiesen sein in mindestens 2 mittelgroßen randomisierten doppelblinden Studien (das bedeutet mindestens 2 oder mehr Studien gegen andere Substanzen und eine plazebokontrollierte Studie) oder in einer mittelgroßen randomisierten doppelblinden Studie (plazebokontrolliert oder gegen eine andere Substanz) und in mehr als einer prospektiven, mittelgroßen (mehr als 50 Teilnehmer), offenen Studie, die naturalistisch angelegt war. Level C: Minimale studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen. Dieser Level wird erreicht, wenn in einer randomisiert-doppelblinden Studie gegen eine andere Substanz und in einer prospektiven, offenen Studie/Kasuistikserie (mit mehr als 10 Teilnehmern) oder wenn in mindestens 2 prospektiven, offenen Studien/Kasuistikserien (mit mehr als 10 Teilnehmern) eine Wirkung nachgewiesen wurde. Level D: Basiert auf Expertenmeinung und wird von mindestens einer prospektiven, offenen Studie/Kasuistikserie (mit mehr als 10 Teilnehmern) belegt. Kein Evidenzlevel: Expertenmeinung über allgemeine Behandlungsverfahren und Behandlungsprinzipien.
VI
Vorwort zur 3. Auflage
Es sei darauf hingewiesen, dass Evidenzgraduierungen derzeit noch arbiträr sind, sodass unterschiedliche Kriteriologien nebeneinander existieren. Bei einigen dieser Kriteriologien wird den metaanalytischen Ergebnissen von Therapiestudien der Vorrang gegeben. Die hier verwendete Graduierung stellt methodisch wichtige und zentrale Einzelstudien ins Zentrum der Evidenzgraduierung. Nicht alle Autoren konnten der Anregung zu einer Evidenzgraduierung folgen, u. a. deshalb, weil im Bereich der psychosozialen Therapie die Evidenzgraduierung noch nicht so eingeführt ist wie im Bereich der Psychopharmakotherapie. Die Herausgeber sind allen Autoren, die ihre Kapitel aufgrund zahlreicher eingetretener Veränderungen häufig komplett neu erstellt haben, zu großem Dank verpflichtet. Gleiches gilt für die kompetente Mitarbeit der Wissenschaftsassistentinnen Frau Jacqueline Klesing und Frau Sindy Lehwald sowie für die bewährte aufwändige Arbeit der Sekretärinnen Frau Christine Hauer, Frau Rosi Riedl, Frau Alexandra Fend und Frau Anne-Maria Burgstaller. Für die hervorragende Arbeit vonseiten des Springer-Verlags danken wir Frau Renate Schulz (Projektmanagement), Frau Dr. Karen Strehlow (Lektorat), Frau Dr. Angelika Koggenhorst-Heilig (Lektorat) und Frau Renate Scheddin (Planung). Wir hoffen, dass auch diese 3. Auflage auf eine hohe Akzeptanz stoßen wird und den Kollegen in Klinik und Praxis mit diesem Buch ein hochkarätig angenehmer Berufsbegleiter offeriert wird. München, Wasserburg a. Inn und Graz, im Herbst 2007 Hans-Jürgen Möller Gerd Laux Hans-Peter Kapfhammer
VII
Vorwort zur 1. Auflage Die Psychiatrie hat im letzten Jahrzehnt, wie alle medizinischen Fächer, einen außerordentlichen Wissenszuwachs zu verzeichnen, der an den einzelnen Arzt große Anforderungen stellt. Der Zuwachs im psychiatrischen Wissen betrifft die theoretischen Grundlagen unseres Faches, ganz besonders natürlich die ätiopathogenetischen Erklärungsansätze für die einzelnen Erkrankungen, die Untersuchungsmethoden, die Veränderungen der psychiatrischen Diagnostik, wie sie insbesondere durch die Einführung operationalisierter Diagnosesysteme resultieren, und insbesondere die Verbesserungen der therapeutischen Möglichkeiten, sowohl im Bereich der Psychopharmakotherapie als auch im Bereich der psychosozialen Therapiemaßnahmen. Daraus ergeben sich für den Facharzt große Herausforderungen hinsichtlich des Wissens für die alltägliche psychiatrische Praxis und ihrer theoretischen Grundlegung. Das immer mehr spezialisierte Fachwissen, das zu einem Großteil nur in speziellen Fachzeitschriften vermittelt wird, verlangt von dem Arzt einen erheblichen Lese- und Fortbildungsaufwand, um auf dem aktuellen Stand des Wissens zu bleiben. Unter diesem Aspekt ist ein umfangreiches Lehrbuch, das primär auf die Bedürfnisse des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie zugeschnitten ist und ganz besonders auch den in der Weiterbildung zu diesem Facharzt befindlichen Kollegen zugute kommen soll, von besonderer Bedeutung. Es kann den aktuellen Wissensstand in ausreichend umfangreicher Weise, wie es die üblichen für die Studenten geschriebenen Lehrbücher nicht tun können, darstellen. Das hier vorgelegte Buch wurde in dieser Intention konzipiert und von renommierten Fachkollegen unter diesem Aspekt geschrieben. Zu jedem Kapitel wurde die relevante internationale Literatur zitiert, um auf diese Weise dem Leser die Möglichkeit zu geben, die Richtigkeit der Darstellung zu prüfen und sich noch intensiver in die Thematik zu vertiefen. Das Buch versucht, insbesondere praktisch relevantes Wissen in ausreichend differenzierter und umfassender und gleichzeitig anschaulicher Weise zu vermitteln. Es vermeidet dabei aber jegliche »kochbuchartige« Verkürzung der komplizierten Sachverhalte, sondern versucht, den speziellen Gesamthorizont des Faches, insbesondere in dem allgemeinen Teil des Buches, ausreichend einzubeziehen. Dabei werden u. a. auch historische, konzeptuelle und philosophische Aspekte vermittelt. Insofern bietet das Buch mehr als nur eine praxisrelevante Wissens- und Handlungsanleitung, sondern – gemäß der besten Tradition der deutschen Psychiatrie – eine umfassende Sichtweise, die zum Gesamtverständnis des Faches wichtig ist. Das Buch deckt alle Wissensbereiche eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie ab und ist somit u. a. hervorragend für die Vorbereitung zur Facharzt-Prüfung geeignet. Besonders interessierten Medizin-Studenten bietet es insgesamt oder ausschnittsweise eine sinnvolle Vertiefung zu dem üblichen Lehrbuch-Wissen, dem nicht-psychiatrischen Facharzt bzw. dem im klinischen Feld tätigen Psychologen eröffnet es eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich das psychiatrische Stoffgebiet in umfassender Weise zu erarbeiten. Das Buch gliedert sich in einen allgemeinen und einen speziellen Teil. Für den, der sich bevorzugt der konkreten, praktischen Fragestellung der Diagnostik und Behandlung bestimmter Krankheiten zuwenden will, sind die jeweils speziell auf die einzelnen Erkrankungen bezogenen Kapitel so verfaßt, daß sie für sich – ohne Rückgriff auf die Kapitel im allgemeinen Teil – verständlich sind. Unter dem Aspekt der Gesamtgliederung, der sprachlichen Darstellung, der drucktechnischen Aufbereitung, der Einbeziehung zahlreicher Tabellen und Abbildungen u.a. wurde versucht, das Buch optimal didaktisch zu gestalten. Das ist gerade angesichts eines so umfassenden Werkes von größter Wichtigkeit, damit der Leser sich im Buch zurechtfindet und damit er durch die Lektüre eines gut gegliederten, didaktisch ansprechenden Textes in möglichst einfacher und angenehmer Weise den erwünschten Lernzuwachs erreicht. Insbesondere die drucktechnischen Hervorhebungen wie auch die Randspaltenhinweise sind unter diesem Aspekt von ganz besonderer Bedeutung. Der spezielle Teil zur Darstellung der einzelnen Erkrankungen orientiert sich an der ICD10, also dem Klassifikationssystem, das ab dem Jahre 2000 auch im ambulanten Bereich für
VIII
Vorwort zur 1. Auflage
Deutschland verbindlich wird, nachdem es schon lange im stationären Bereich von vielen Kliniken angewandt wird. Diese Systematik psychischer Erkrankungen bedeutet zum Teil eine erhebliche Veränderung gegenüber der traditionellen psychiatrischen Krankheitslehre wie auch gegenüber der Systematik des psychiatrischen Teils der ICD-9. Auf diese Änderungen wird ausführlich eingegangen, um dem damit noch nicht so Vertrauten eine hilfreiche Einführung zu geben. Gleichzeitig wird auf das neben der ICD-10 insbesondere im internationalen wissenschaftlichen Bereich zunehmend an Bedeutung gewinnende DSM-System, das primär in der amerikanischen Psychiatrie entwickelt wurde, an vielen Stellen hingewiesen, um Ähnlichkeiten und Diskrepanzen zwischen DSM-IV und ICD-10 zu verdeutlichen. Insbesondere für Kollegen, die auch wissenschaftlich tätig sind, ist die Kenntnis beider Systeme heute unerläßlich. Da die bisherige Ausbildung in Psychotherapie, die bisher im Rahmen des Zusatztitels »Psychotherapie« praktiziert wurde, inzwischen in die Weiterbildung des Facharztes für Psychiatrie, der seitdem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie heißt, eingegliedert wurde, war es erforderlich, auch diesem Aspekt besonders Rechnung zu tragen. Der kompetente Psychiater wird in Zukunft nicht nur durch seine diagnostischen, psychopharmakotherapeutischen und soziotherapeutischen Fähigkeiten definiert werden, sondern auch durch gutes psychotherapeutisches Wissen und diesbezügliche Kompetenz. Dabei ist für den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie charakteristisch – dies war eine der Zielvorgaben bei der Erweiterung des Facharztes für Psychiatrie zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie! –, daß die Psychotherapie als eine spezielle Behandlungsmethode sich nicht völlig ablöst von dem Konzept der multifaktoriellen Ätiopathogenese und der mehrdimensionalen Therapie, wie es in der Psychiatrie seit langem gelehrt wird, sondern in dieses Konzept integriert bleibt. Das Idealbild ist ein Psychiater, der alle relevanten psychopharmakologischen und psychosozialen Therapieverfahren, einschließlich mindestens eines speziellen Psychotherapieverfahrens, ausreichend beherrscht und beim individuellen Patienten in sinnvoller Weise einzeln oder, was eher der Regelfall ist, kombiniert, aber mit jeweiligem Focus auf das eine oder andere, einsetzen kann. Ziel des Buches mußte es deshalb sein, auch das erforderliche psychotherapeutische Fachwissen darzustellen. Insgesamt gibt das Lehrbuch einen Einblick in das Selbstverständnis der modernen Psychiatrie als ein komplexes diagnostisches und therapeutisches Fach mit einem hohen Wissens-, Diagnose- und Therapiestandard, das den Vergleich mit den anderen Fächern der Medizin nicht zu scheuen braucht. Es war nicht leicht, ein so umfangreiches Buch zu schaffen, da ein so umfangreiches Buch nicht als das Werk eines einzelnen Autors, sondern nur als das Werk mehrerer Autoren möglich ist. Es wurde aber versucht, die Zahl der Autoren in Grenzen zu halten und gleichzeitig durch differenzierte Rahmenvorgaben sowie intensive editorische Arbeit den einheitlichen Charakter des Buches zu erhalten. Allen Autoren, die sich der Mühe unterzogen haben, an diesem Werk mitzuarbeiten, sei herzlich für ihr Engagement gedankt. Ganz besonders sei auch meiner Mitarbeiterin, Frau Klesing, für ihre Sekretariats- und Lektoratshilfe bei diesem Buch gedankt. Nicht zuletzt danken die Herausgeber dem Springer-Verlag, daß er das Wagnis eines solchen großen Facharzt-Handbuches in unserem Fachgebiet nicht gescheut hat. München, im Oktober 1999 Hans-Jürgen Möller Gerd Laux Hans-Peter Kapfhammer
IX
Inhaltsverzeichnis Band 1: Allgemeine Psychiatrie Sektion I Geschichte, Krankheitsmodelle, Häufigkeit und Ursachen psychischer Erkrankungen
1 Geschichte der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . P. Hoff 2 Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie . . . . W. Gaebel, J. Zielasek
3
29
3 Psychiatrische Epidemiologie . . . . . . . . . . . . M. M. Fichter, I. Meller
55
4 Genetik psychischer Störungen . . . . . . . . . . W. Maier, A. Zobel, S. Schwab
71
5 Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . B. Bogerts 6 Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung . . . . . . . . . . . . . P. Falkai, F. Schneider, G. Gründer 7 Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen . . . . P. Riederer, W. E. Müller, A. Eckert, J. Thome 8 Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . R. Rupprecht, N. Müller
13 Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . M. Schmidt-Degenhard
305
14 Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . W. Machleidt, I. T. Calliess
319
15 Methodik empirischer Forschung . . . . . . . . . H.-J. Möller
345
Sektion II Klassifikation und Diagnostik
16 Traditionelle Klassifikationssysteme . . . . . . . J. Klosterkötter 17 Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . H. J. Freyberger
371
393
109
18 Biografische und Krankheitsanamnese . . . . . P. Hoff
409
129
19 Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung . . . . . . . B. Widder
419
20 Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Saß, P. Hoff
435
21 Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-J. Möller
455
22 Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik . . . . R. R. Engel, K. Fast
483
23 Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring . . . . . . B. Bondy, M. J. Schwarz
528
24 Neurophysiologische Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . U. Hegerl, O. Pogarell
529
157
185
9 Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . U. Hegerl, S. Karch, C. Mulert
209
10 Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Schüßler, A. Brunnauer
227
11 Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . W. Rössler
265
25 Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . E. M. Meisenzahl, H.-P. Volz
12 Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen . . . . . . . . A. M. Möller-Leimkühler
277
26 Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen . . . . . . . . . . W. E. Müller, A. Eckert
553
583
X
Inhaltsverzeichnis
Sektion III Therapeutische Grundlagen
27 Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen . . . . . . . . . . S. Kasper, H.-J. Möller 28 Sonstige biologische Therapieverfahren (EKT, Schlafentzugsbehandlung, Lichttherapie, TMS, VNS) – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien . . . . . S. Kasper
627
691
30 Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen. . . . M. Ermann, B. Waldvogel
703
32 Entspannungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . M. Zaudig, R. D. Trautmann, A. Pielsticker 33 Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien . . . . . . A. Retzer
841
35 Soziotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. Weinmann, Th. Reker, T. Becker
871
36 Ergotherapie, Kreativtherapie, Körperund Sporttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Habermann, J. Unterberger, A. Broocks
883
37 Berufliche und sonstige Rehabilitationsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . W. Weig
911
669
29 Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung . . . . . . . . . . K. Schonauer
31 Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien . . . . . M. Linden, M. Hautzinger
34 Humanistische Psychotherapieverfahren . . . . W. Butollo, M. Krüsmann, M. Hagl
743
777
38 Psychoedukation und Angehörigenarbeit . . . R. Borbé, W. P. Hornung, G. Buchkremer
923
39 Versorgungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . W. Rössler
937
40 Integrierte Versorgung/ Disease-Management . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Kissling 41 Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-J. Möller 42 Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung . . . . . . . . . . . . . . M. Philipp, G. Laux
963
971
985
Sachverzeichnis Band 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1003 815 Sachverzeichnis Band 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013
XI Inhaltsverzeichnis
Band 2: Spezielle Psychiatrie
Sektion VII Affektive Störungen
Sektion IV Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen
54 Affektive Störungen: Einleitung und Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . G. Laux
43 Organische psychische Störungen. . . . . . . . . A. Kurz
3
44 Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Hampel, K. Bürger, S. J. Teipel
391
55 Depressive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . G. Laux
399
13
56 Bipolare affektive Störungen . . . . . . . . . . . . G. Laux
471
45 Delir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Kurz
87
46 Organisches amnestisches Syndrom . . . . . . . A. Kurz
93
57 Depressive und Angststörungen bei somatischen Krankheiten . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
47 Andere organische psychische Störungen . . . A. Kurz
99
48 Organische psychische Störungen bei wichtigen somatischen Erkrankungen . . . H.-B. Rothenhäusler
499
Sektion VIII Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen 109
Sektion V Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
58 Angststörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
567
59 Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
633
49 Störungen durch Alkohol. . . . . . . . . . . . . . . M. Soyka
143
60 Anpassungsstörung, akute und posttraumatische Belastungsstörung . . . H.-P. Kapfhammer
187
61 Dissoziative Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
723
50 Drogen- und Medikamentenabhängigkeit . . . M. Soyka
243
62 Somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
767
51 Tabakabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Batra, G. Buchkremer
63 Artifizielle Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-P. Kapfhammer
903
64 Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Alm, E. Sobanski
Sektion VI Schizophrene Psychosen, schizophrenieähnliche Störungen und nichtorganische Wahnerkrankungen
52 Schizophrene Psychosen . . . . . . . . . . . . . . . H.-J. Möller, A. Deister, A. Schaub, M. Riedel 53 Schizophrenie-ähnliche Störungen und nichtorganische Wahnerkrankungen . . . . A. Marneros
659
923
253
357
Sektion IX Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
65 Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. M. Fichter
949
XII
Inhaltsverzeichnis
66 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Hajak, E. Rüther
971
67 Sexualstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007 F. Pfäfflin 68 Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . 1031 T. Bronisch, V. Habermeyer, S. C. Herpertz 69 Impulskontrollstörungen. . . . . . . . . . . . . . . 1095 T. Bronisch
Sektion X Intelligenzminderung
70 Intelligenzminderungen . . . . . . . . . . . . . . . 1103 H. Remschmidt, G. Niebergall
76 Psychische Störungen im höheren Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . . 1245 M. Haupt, H. Gutzmann 77 Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie. . . . . . . . . . 1263 H.-P. Kapfhammer 78 Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1281 T. Bronisch 79 Notfallpsychiatrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1307 G. Laux, H. Berzewski
Sektion XIII Juristische Aspekte, forensische Psychiatrie
80 Forensische Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . 1339 N. Nedopil 81 Aufklärung und Dokumentation . . . . . . . . . . 1379 C. Cording
Sektion XI Entwicklungsstörungen
82 Fahrtüchtigkeit und psychische Erkrankung . . 1391 A. Brunnauer, G. Laux
71 Umschriebene Entwicklungsstörungen . . . . . 1119 A. Warnke 72 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen . . . . . . 1151 A. Warnke 73 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend . . . . . 1161 A. Warnke, C. Wewetzer, G.-E. Trott, S. Wirth, U. Hemminger
Anhang G. Laux
A1 Übersicht Kliniken, Fachgesellschaften und Dachverbände von Selbsthilfeund Angehörigengruppen. . . . . . . . . . . . . . 1404 A2 Auszüge wichtiger Gesetze . . . . . . . . . . . . . 1409
Sektion XII Sonstige psychiatrische Aspekte
74 Frauenspezifische psychische Störungen in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1217 A. Rohde 75 Betreuung schwangerer und stillender Patientinnen – Psychopharmakotherapie und psychiatrische Begleitung . . . . . . . . . . . 1235 A. Rohde, C. Schaefer
A3 Verzeichnis wichtiger standardisierter Beurteilungsskalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1411 A4 Wichtige Fachzeitschriften des psychiatrisch-psychotherapeutischen Gebietes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1413 A5 Psychopharmakaübersicht . . . . . . . . . . . . . 1414
Sachverzeichnis Band 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1417
Sachverzeichnis Band 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1427
XIII
Autorenverzeichnis Alm, B., Frau Dr. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68159 Mannheim Batra, A., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit Poliklinik Universitätsklinikum Tübingen Osianderstr. 24 72076 Tübingen Becker, T., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik II Universität Ulm Bezirkskrankenhaus Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2 89312 Günzburg Berzewski, H., Prof. Dr. Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Duisburger Str. 20 10707 Berlin
Broocks, A., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Carl-Friedrich-Flemming-Klinik HELIOS Kliniken Schwerin Wismarsche Str. 393–397 19049 Schwerin Brunnauer, A., Dr. Dipl.-Psych. Inn-Salzach-Klinikum Neuropsychologie Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn Buchkremer, G., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit Poliklinik Universitätsklinikum Tübingen Osianderstr. 24 72076 Tübingen
Bogerts, B., Prof. Dr. Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Otto-von-Guericke Universität Magdeburg Leipziger Str. 44 39120 Magdeburg
Bürger, K., Frau Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München
Bondy, B., Frau Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München
Butollo, W., Prof. Dr. Klinische Psychologie und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 13 80802 München
Borbé, R., Dr. Zentrum für Psychiatrie, Die Weissenau Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie Weingartshoferstr. 2 88214 Ravensburg
Calliess, I. T., Frau Dr. Abt. Sozialpsychiatrie und Psychotherapie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover
Bronisch, T., Prof. Dr. Max-Planck-Institut für Psychiatrie Psychiatrische Klinik Kraepelinstr. 10 80804 München
Cording, C., Prof. Dr. Psychiatrische Universitätsklinik Universitätsstr. 84 93053 Regensburg
Deister, A., Prof. Dr. Abteilung für Psychiatrie Krankenhaus Itzehoe Robert-Koch-Str. 2 25524 Itzehoe Eckert, A., Frau Priv.-Doz. Dr. Neurobiologisches Labor Psychiatrische Universitätsklinik Basel Wilhelm Klein-Str. 27 4025 Basel, Schweiz Engel, R. R., Prof. Dr. Abteilung für Klinische Psychologie und Psychophysiologie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Ermann, M., Prof. Dr. Abteilung für Psychotherapie u. Psychosomatik Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Falkai, P., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Göttingen Von-Siebold-Str. 5 37075 Göttingen Fast, K., Frau Dr. Abteilung für Klinische Psychologie und Psychophysiologie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Fichter, M. M., Prof. Dr. Klinik Roseneck Schön-Kliniken Am Roseneck 6 83209 Prien a. Chiemsee
XIV
Autorenverzeichnis
Freyberger, H. J., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Ellernholzstraße 1–2 17475 Greifswald
Hampel, H, Prof. Dr. M. Sc. Discipline of Psychiatry Trinity College Dublin The Adelaide and Meath Hospital Incorporating The National Children‘s Hospital (AMiNCH) Tallaght, Dublin 24, Irland
Gaebel, W., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heinrich-Heine-Universität Rheinische Kliniken Düsseldorf Bergische Landstr. 2 40629 Düsseldorf
Haupt, M., Priv.-Doz. Dr. Praxisschwerpunkt Hirnleistungsstörungen im Neuro-Centrum Düsseldorf Hohenzollernstr. 1–5 40211 Düsseldorf
Gründer, G., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen Gutzmann, H., Prof. Dr. Krankenhaus Hedwigshöhe Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie Buntzelstr. 36 12526 Berlin Habermann, C., M.A. Berufsfachschule für Ergotherapie Gießereistr. 43 83022 Rosenheim Habermeyer, V., Frau Dr. Psychiatrische Klinik der Universität Rostock PF 100888 18055 Rostock Hagl, M., Frau Dipl.-Psych. Klinische Psychologie und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 13 80802 München Hajak, G., Prof. Dr. MBA Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität am Bezirkskrankenhaus Regensburg Universitätsstr. 84 93042 Regensburg
Hautzinger, M., Prof. Dr. Psychologisches Institut Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie der Eberhard Karls Universität Christophstr. 2 72072 Tübingen Hegerl, U., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie Universitätsklinikum Leipzig Johannisallee 20 04317 Leipzig Hemminger, U., Dr. Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie der Universität Füchsleinstr. 15 97080 Würzburg Herpertz, S. C., Frau Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Rostock Gehlsheimer Str. 20 18147 Rostock Hoff, P., Prof. Dr. Dr. Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZH West Lenggstrasse 31 Postfach 1931 8032 Zürich, Schweiz Hornung, W.-P., Prof. Dr. Rheinische Kliniken Bonn Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie I Kaiser-Karl-Ring 20 53111 Bonn
Kapfhammer, H.-P., Prof. Dr. Dr. Klinik für Psychiatrie Medizinische Universität Graz Auenbruggerplatz 31 8036 Graz, Österreich Karch, S., Frau Dipl.-Psych. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Kasper, S., O. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien, Österreich Kissling, W., Dr. Zentrum für Disease Management Psychiatrische Klinik der TU Möhlstr. 26 81675 München Klosterkötter, J., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität zu Köln Kerpener Strasse 62 50924 Köln Krüsmann, M., Frau Dipl.-Psych. Klinische Psychologie und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstr. 13 80802 München Kurz, A., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar der TU München Ismaninger Str. 22 81675 München Laux, G., Prof. Dr. Dipl.-Psych. Inn-Salzach-Klinikum Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn
XV Autorenverzeichnis
Linden, M., Prof. Dr. Dipl.-Psych. Deutsche Rentenversicherung Reha-Zentrum Seehof Lichterfelder Allee 55 14513 Teltow Machleidt, W., Prof. Dr. Abt. Sozialpsychiatrie und Psychotherapie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover Maier, W., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn Marneros, A., Prof. Dr. Klinikum der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Julius-Kühn-Str. 7 06097 Halle/Saale Meisenzahl, E. M., Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Meller, I., Frau Prof. Dr. Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Türkenstr. 70 80799 München Möller, H.-J., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Möller-Leimkühler, A. M., Frau Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München
Müller, N., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München
Pogarell, O., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstraße 7 80336 München
Müller, W. E., Prof. Dr. Pharmakologisches Institut für Naturwissenschaftler der Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Biozentrum Niederursel Max-von-Laue-Str. 9 60438 Frankfurt
Reker, T., Prof. Dr. Westfälische Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Friedrich-Wilhelm-Welser-Str. 30 48147 Münster
Mulert, C., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Nedopil, N., Prof. Dr. Abt. für Forensische Psychiatrie Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Niebergall, G., Dr. Universitätsklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie Klinikum der Philipps-Universität Marburg Hans-Sachs-Str. 4 35039 Marburg
Remschmidt, H., Prof. Dr. Dr. Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum Gießen und Marburg Hans-Sachs-Str. 4 und 6 35039 Marburg Retzer, A., Priv.-Doz. Dr. Dipl.-Psych. Systemisches Institut Heidelberg (SIH) Bleichstr. 15 69120 Heidelberg Riedel, M., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Riederer, P., Prof. Dr. Psychiatrische Klinik der Universität Klinische Neurochemie Füchsleinstr. 15 97080 Würzburg
Pfäfflin, F., Prof. Dr. Sektion Forensische Psychotherapie Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätklinikum Ulm Am Hochsträß 8 89081 Ulm
Rössler, W., Prof. Dr. Dipl.-Psch. Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZH West Militärstr. 8 Postfach 1931 8021 Zürich, Schweiz
Philipp, M., Prof. Dr. M.A. Bezirkskrankenhaus Landshut Professor-Buchner-Str. 22 84034 Landshut
Rohde, A., Frau Prof. Dr. Gynäkologische Psychosomatik Universitätsfrauenklinik Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn
Pielsticker, A., Frau Dr. Tal 15 80331 München
XVI
Autorenverzeichnis
Rothenhäusler, H.-B., Univ.-Doz. Dr. Univ.-Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität Graz Auenbruggerplatz 31 A 8036 Graz, Österreich Rupprecht, R., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Rüther, E., Prof. Dr. Wielinger Str. 8 b 82340 Feldafing Saß, H., Prof. Dr. Universitätsklinikum Aachen Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen Schaefer, C., Dr. Pharmakovigilanzund Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie Spandauer Damm 130, Haus 10 14050 Berlin Schaub, A., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Schmidt-Degenhard, M., Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Florence Nightingale Krankenhaus der Kaiserwerther Diakonie Zeppenheimer Weg 7 40489 Düsseldorf Schneider, F., Prof. Dr. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
Schonauer, K., Prof. Dr. Dr. Zentrum für Psychiatrie Reichenau Feursteinstr. 55 78479 Reichenau Schüßler, G., O. Univ.-Prof. Dr. Universitätsklinik für Med. Psychologie und Psychotherapie Sonnenburgstr. 9 6020 Innsbruck, Österreich Schwab, S., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn Schwarz, M. J., Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Sobanski, E., Frau Dr. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68159 Mannheim Soyka, M., Prof. Dr. Privatklinik Meiringen Postfach 612 3860 Meiringen, Schweiz Teipel, S. J., Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Ludwig-MaximiliansUniversität München Nußbaumstr. 7 80336 München Thome, J., Prof. MD PhD Chair of Psychiatry The School of Medicine University of Wales Sansea Grove Building (113) Singleton Park Swansea, SA2 8PP, United Kingdom Trautmann, R. D., Dr. Vorderer Anger 210 86899 Landsberg Trott, G.-E., Prof. Dr. Luitpoldstr. 2–4 63739 Aschaffenburg
Unterberger, J., Dipl.-Psych. Inn-Salzach-Klinikum Ergo- u. Kreativtherapien Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Neurologie Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München Gabersee 7 83512 Wasserburg am Inn Volz, H.-P., Prof. Dr. Krankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie Schloss Werneck Balthasar-Neumann-Platz 1 97440 Werneck Waldvogel, B., Dr. Enhuberstraße 1 80333 München Warnke, A., Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Würzburg Füchsleinstr. 15 97080 Würzburg Weig, W., Prof. Dr. Niedersächsisches Landeskrankenhaus Knollstr. 31 49088 Osnabrück Weinmann, S., Dr. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik II Universität Ulm Bezirkskrankenhaus Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2 89312 Günzburg Wewetzer, C., Prof. Dr. Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Köln-Holweide Florentine-Eichler-Str. 1 51067 Köln Widder, B., Prof. Dr. Dr. Klinik für Neurologie und Neurologische Rehabilitation des Bezirkskrankenhauses Günzburg Ludwig-Heilmeyer-Str. 2 89312 Günzburg
XVII Autorenverzeichnis
Wirth, S., Frau Dr. Luitpoldstr. 2-4 63739 Aschaffenburg Zaudig, M., Prof. Dr. Psychosomatische Klinik Windach/Ammersee Schützenstraße 100 86949 Windach
Zobel, A., Frau Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn
Zielasek, J., Priv.-Doz. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Heinrich-Heine-Universität Rheinische Kliniken Düsseldorf Bergische Landstr. 2 40629 Düsseldorf
I Geschichte, Krankheitsmodelle, Häufigkeit und Ursachen psychischer Erkrankungen 1
Geschichte der Psychiatrie – 3 P. Hoff
2
Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie W. Gaebel, J. Zielasek
3
Psychiatrische Epidemiologie M. Fichter, I. Meller
4
Genetik psychiatrischer Störungen W. Maier
5
Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 109 B. Bogerts
6
Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung – 129 P. Falkai, F. Schneider, G. Gründer
7
Störungen der Neurotransmission/Transduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen – 157 P. Riederer, J. Thome
8
Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 185 R. Rupprecht, N. Müller
9
Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 209 U. Hegerl, S. Karch, C. Mulert
10
Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen – 227 G. Schüssler, A. Brunnauer
11
Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen – 265 W. Rössler
12
Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen – 277 A. M. Möller-Leimkühler
13
Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen – 305 M. Schmidt-Degenhard
14
Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen – 319 W. Machleidt, I. T. Calliess
15
Methodik empirischer Forschung in der Psychiatrie H.-J. Möller
– 29
– 55 – 71
– 345
1 1 Geschichte der Psychiatrie P. Hoff
1.1
Antike Medizin – 4
1.8
Psychoanalyse und Behaviorismus
1.2
Mittelalter und Renaissance – 4
1.9
Psychopathologie: Karl Jaspers und die »Heidelberger Schule« – 17
1.3
Vom 17. Jahrhundert zur »Aufklärung« und zur französischen Schule des frühen 19. Jahrhunderts – 4
1.10
Von der Degenerationslehre zur Rassenhygiene und zur Psychiatrie im Nationalsozialismus – 18
1.11
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts – 20
1.12
Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts – 23
1.13
Zusammenfassende Schlussbetrachtung – 24
1.4
Von der Aufklärung zur »romantischen Psychiatrie« – 7
1.5
Von Griesinger zur »Gehirnpsychiatrie«
1.6
Degenerationslehre – 11
1.7
Die Kliniker um die Jahrhundertwende
–9
– 12
Literatur
– 25
> > Psychiatrisches Wissen und Handeln weist die von allen medizinischen Fächern wohl komplexeste Vernetzung mit der Ideen- und Sozialgeschichte auf. Daher birgt eine knappe Darstellung der Psychiatriegeschichte das Risiko unzulässiger Verkürzung: Die folgende Übersicht kann somit nur einer ersten Orientierung dienen und ein vertieftes Literaturstudium nicht ersetzen. Zwar orientiert sich der Aufbau des Beitrags v. a. an der Chronologie der wesentlichen psychiatrischen Konzepte von der Antike bis zur Gegenwart, doch wurde gerade mit Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert diese zeitliche Strukturierung zugunsten einer mehr thematischen Schwerpunktsetzung aufgelockert. Eine bemerkenswerte Tatsache ist die große Ähnlichkeit psychiatrischer Grundfragestellungen in der antiken, der mittelalterlichen und der neuzeitlichen Medizin, etwa die Fragen nach dem Verhältnis von psychischer Störung und betroffener Person und deren Biografie, nach der Bedeutung körperlicher Funktionsstörungen für die Genese seelischer Krankheiten und auch die Debatten um das Verständnis psychopathologischer Phänomene als übersteigerter Ausdruck anthropologischer Konstanten (»Urängste«) oder als Metaphern metaphysischer Zusammenhänge. Aus Platzgründen wurde hier auf den ideengeschichtlichen Kontext und den Nachweis seiner Relevanz für klinisches Denken und Handeln größerer Wert gelegt als auf die Nennung möglichst vieler Personen oder Veröffentlichungen.
– 15
4
1
Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
1.1
Antike Medizin
Der wesentliche Schritt, den die griechische Medizin gegenüber ihren Vorläufern machte, ist die Überzeugung, dass Krankheiten als natürliche Phänomene und nicht als Ausdruck unbekannter und unbeeinflussbarer metaphysischer Kräfte anzusehen sind. Natürlich gilt dies nicht für jeden Vertreter der antiken griechischen Medizin, wohl aber für den bedeutendsten, Hippokrates von Kos (460– 377 v. Chr.). Für ihn machte aus eben diesem Grund die damals übliche Benennung der Epilepsie als »Morbus sacer«, als »heilige Krankheit«, keinen Sinn. Er forderte deren empirisch fundierte, sachliche und von Spekulationen soweit wie möglich befreite Erforschung.
Humoralpathologie Eigentliche psychiatrische Lehrtexte wurden in der Antike nicht verfasst. Die Beschreibung dessen, was wir heute seelische Störung nennen, war vielmehr eingebettet in die Darstellung der allgemeinen Medizin, also der in erster Linie körperlichen Krankheiten. Dies hängt mit der damals verbreiteten »Humoralpathologie« zusammen, die auch von Hippokrates vertreten wurde und die ein gestörtes Gleichgewicht zwischen den 4 Körpersäften als Ursache von Krankheiten annahm. Neben Hippokrates sind Galen (130–201 n. Chr.), Soranus von Ephesus, Celsus und Aretäus von Kappadozien (alle im 1. nachchristlichen Jahrhundert) wichtige Vertreter der antiken Medizin, die sich auch zu seelischen Krankheiten geäußert haben.
Andere Bedeutung der Fachtermini Das grundlegende Verständnis dieser Störungen war zumeist ein somatisches, wenn auch das Gehirn selbst noch nicht im Zentrum des Interesses stand. Die damaligen Fachtermini sind, wie etwa derjenige der Phrenitis bei Soranus, heute entweder nicht mehr gebräuchlich oder meinten – wie im Falle der Manie und der Melancholie – psychopathologische Sachverhalte, die von der heutigen Definition stark abweichen. Die von Emil Kraepelin Ende des 19. Jahrhunderts herausgearbeitete Dichotomie psychotischer Erkrankungen in affektive und nichtaffektive, also etwa katatone und paranoid-halluzinatorische Typen, war in der Antike kein Bestandteil ärztlichen Denkens. Bis in das 19. Jahrhunderts hinein meinte Manie vielmehr eine Form der Geisteskrankheit, bei der das Verhalten des Betroffenen von Erregung und Unruhe geprägt war, wohingegen der Melancholiker seine psychotischen Inhalte kaum preisgab und äußerlich ruhig, gehemmt oder sogar stuporös wirkte.
Therapie Entsprechend der stark somatischen Ausrichtung der antiken »Seelenheilkunde« – ein eigenes Fach mit dieser Bezeichnung existierte noch nicht – wiesen auch die therapeutischen Empfehlungen in diese Richtung, etwa
Aderlass, Abführmittel, spezielle Diätvorschriften. Aber auch Verhaltensregeln für den Umgang mit Patienten, die man im weitesten Sinn als psychotherapeutisch bezeichnen könnte, etwa ruhige Atmosphäre im Kontakt und Herausnehmen aus aktuellen Konfliktherden, wurden erörtert.
1.2
Mittelalter und Renaissance
Für diesen Zeitraum gibt es – aus medizinhistorischer Sicht – wenige Fortschritte und viele Rückschritte zu berichten. ! Der wesentliche Fortschritt dieser Epoche, nicht nur in bezug auf die Psychiatrie, war die Entstehung von Kliniken. Von sehr frühen Gründungen von Institutionen zur Behandlung seelischer Störungen wird aus dem arabischen Kulturraum berichtet, in Westeuropa finden sich Vorläufer psychiatrischer Kliniken bzw. – in heutiger Terminologie – psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern etwa ab dem frühen 15. Jahrhundert (Gründung der Abteilung in Valencia/Spanien 1409). Diesem Fortschritt, der nicht zuletzt auf den erwähnten »aufgeklärten«, also einen naturalistischen Standpunkt einnehmenden Grundgedanken der antiken Medizin beruhte, steht aber ein erheblicher Rückschritt gerade im Umgang mit psychischen Störungen gegenüber: Psychotische Menschen, v. a. Frauen, wurden als Besessene, als Hexen bezeichnet, sozial ausgegrenzt und in vielen Fällen unter Berufung auf das 1486 erschienene berüchtigte Werk »Der Hexenhammer« von Heinrich Krämer und Jakob Sprenger hingerichtet, meist durch Verbrennung. Es gab aber auch Gegenstimmen, etwa wenn Paracelsus (1491–1541) – eigentlich Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim – und Johann Weyer (1515–1588), so sehr sie auch in vielerlei Hinsicht noch in mittelalterlichem Denken verhaftet sein mochten, die übernatürliche Genese von seelischen Erkrankungen anzweifelten und, an antike Traditionen anknüpfend, den Blick auf empirisch erkennbare körperliche oder seelische Ursachen lenkten.
1.3
Vom 17. Jahrhundert zur »Aufklärung« und zur französischen Schule des frühen 19. Jahrhunderts
Von den Erneuerungsvorschlägen der Renaissanceautoren wurde in der Folgezeit nur wenig aufgegriffen. Zwar ging die Bereitschaft, psychisch Kranke als Besessene und Hexen zu bezeichnen und zu verfolgen, langsam zurück, und es erschienen eine Reihe von kasuistisch und klinisch
5 1.3 · Vom 17. Jahrhundert zur »Aufklärung«
interessanten Büchern über psychiatrische Fragen, etwa Felix Platers (1536–1614) »Medizinische Praxis« und Robert Burtons »Anatomy of Melancholy« (1621), jedoch wurde das emanzipatorische Moment etwa im Denken Paracelsus’ zunehmend konterkariert von der sich verstärkenden Tendenz, psychisch Kranke als bloße Randfiguren der Gesellschaft zu verstehen, die ähnlich wie Kriminelle und »Asoziale« auszugrenzen seien. So waren die großen psychiatrischen Kliniken von Paris, Bicêtre und Salpêtrière zunächst eine Mischung aus Armenhaus, Gefängnis, Obdachlosenasyl, Waisenhaus und psychiatrischer Klinik, letzteres aber am wenigsten, und die Hinzuziehung von Ärzten war keineswegs die Regel. Dieser Sachverhalt nimmt in Michel Foucaults primär philosophischer und gesellschaftskritischer und sekundär auch psychiatriekritischer Perspektive einen zentralen, da – im negativen Sinne – identitätsstiftenden Platz ein (Foucault 2005; Abschn. 1.11).
Aufklärung und Rationalismus Erst im 18. Jahrhundert, ideengeschichtlich geprägt von der Aufklärung, kam es zu ernsthaften Bemühungen, die Psychiatrie als medizinische Wissenschaft zu etablieren, die psychiatrischen Patienten als Personen ernst zu nehmen und sowohl aus dem Dunstkreis von Hexenglaube und Spiritismus als auch aus ihrer Verbannung an den äußersten Rand der Gesellschaft herauszulösen (Leibbrand u. Wettley 1961). Cum grano salis kann der Rationalismus als die tragende Denkweise der Aufklärung angesehen werden. Das Wort »Wissenschaft« bekam einen betont positiven, ja optimistischen Bedeutungshof, gab es doch für die überzeugten Rationalisten des 18. Jahrhunderts nur vorläufig, nicht aber grundsätzlich unlösbare Probleme. Die Vernunft, die Ratio, werde, so die feste Überzeugung dieser Autoren, den gesamten Bereich menschlichen Erkennens und Handelns früher oder später durchdringen. Der Rationalismus schuf geradezu das gedankliche Konstrukt, welches seither Wissenschaft genannt wird und das sich dezidiert an der Mathematik und der empirischen Naturforschung orientiert.
Vermögenspsychologie Eine derart »vernunftlastige« Philosophie konnte natürlich nicht umhin, auch die seelischen Funktionen des Menschen in ihr Konzept einzubeziehen: Es entstand eine, etwa von dem Philosophen Chr. Wolff vertretene, »rationale Psychologie«. Sie wollte sich klar von der sensualistischen Assoziationslehre abgrenzen, wie sie etwa von den Philosophen Hume und Condillac vertreten worden ist (Anm.: Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einer neuerlichen Blüte der Assoziationspsychologie, die auch, allerdings in recht unterschiedlichem Kontext, Einfluss auf die Psychiatrie nahm – Vertreter waren Ziehen, Ebbinghaus, Wernicke, Freud). Im Unter-
schied zu diesen beschritt sie nämlich nicht nur den empirisch-induktiven, sondern zunächst den rational-deduktiven Weg: Das Seelenleben sei in verschiedene Funktionen oder »Vermögen« gegliedert, die bei jeder Interpretation empirischer Beobachtungen zugrunde zu legen seien. In der Folge entstanden zahlreiche Spielarten der »Vermögenspsychologie«, denen allerdings zumindest die Unterscheidung von Denken, Fühlen und Wollen gemeinsam war. In der Philosophie hat Immanuel Kant am einflussreichsten diesen psychologischen Ansatz vertreten.
Neues psychiatrisches Selbstverständnis Das große Interesse, das das »aufgeklärte Zeitalter« für das Phänomen seelische Krankheit, insbesondere für die psychotischen Erscheinungsformen, den »Wahnsinn«, aufbrachte, ist ein aussagekräftiges Beispiel für die ebenso notwendige wie enge Vernetzung zwischen Ideengeschichte und Psychiatrie: Der Mensch als Vernunftwesen – dies war das zentrale Postulat aufklärerischen Denkens; und die Psychose beraubt ihn genau dieses Momentes, trifft ihn also an entscheidender Stelle, woraus wiederum die Aufforderung an die Mitmenschen resultiert, zu helfen und den »vernünftigen« Zustand wiederherzustellen. Das Mitleid mit den Kranken, nicht ihre, im wahrsten Sinne, Verteufelung, die Diagnostik und Behandlung der Patienten, nicht deren bloße Ausgrenzung, wurden zunehmend zu Schwerpunkten psychiatrischen Selbstverständnisses. In ganz Europa wurden neue psychiatrische Kliniken errichtet, und in diesen Kliniken setzte sich eine Haltung durch, die schließlich gegen Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts zu der oft beschriebenen »Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten« führte: Philippe Pinel in Bicêtre in Paris (1793; s. unten), William Tuke in York (1796), Johann Gottfried Langermann in Bayreuth (1805), um nur einige Beispiele zu nennen. Zwei weitere Neuerungen bedürfen im Zusammenhang mit der Psychiatrie der Aufklärungszeit der Erwähnung: Rechtliche Fragen. Zum einen wurde von nun an der
Psychiater systematisch in die Beurteilung rechtlicher Fragen, insbesondere der Zurechnungsfähigkeit bzw. Schuldfähigkeit im Strafrecht und der Urteils- und Geschäftsfähigkeit im Zivilrecht, einbezogen. Dieses zunächst praktische, also in foro stattfindende Engagement der Psychiater, zog im Laufe der Zeit auch die Entwicklung wissenschaftlicher Fragestellungen und die Etablierung eines eigenen, wenn auch der klinischen Psychiatrie nahe verwandten Gebietes, der forensischen Psychiatrie, nach sich. Vorbeugung. Zum anderen betonte die Aufklärung erst-
mals den Gesichtspunkt der Vorbeugung seelischer Störungen. Zahlreiche zeitgenössische Arbeiten beschäf-
1
6
1
Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
tigten sich mit der Frage des Verlaufs von psychischen Erkrankungen, ihres Zusammenhangs mit Alkoholmissbrauch und mit ihren psychosozialen Umgebungs- und Entstehungsbedingungen.
Die Animismustheorie von Stahl Das Denken der Medizin war lange Zeit von der »Iatrochemie« und der »Iatrophysik« geprägt gewesen, von Theorien also, die von der problemlosen Übertragbarkeit chemisch-physikalischer Gesetzmäßigkeiten und Forschungsmethodiken auf die Medizin und von der Vollständigkeit eines solchen Ansatzes ausgingen. Die nachhaltigste Herausforderung für diese Konzeption des (gesunden und kranken) Menschen als physikalische und chemische Maschine ging von dem Hallenser Arzt und Chemiker Georg Ernst Stahl (1660–1734) aus. Er formulierte die Theorie des »Animismus« und ging von der Grundannahme aus, dass chemisch-physikalische Vorgänge allein nicht in der Lage seien, lebendige Prozesse hervorzubringen und aufrechtzuerhalten. Vielmehr sei die Seele, »Anima«, der entscheidende Wirkfaktor, der den anderen, zwar notwendigen, aber nicht hinreichenden Momenten die Richtung erteile. Konsequent verstand er Krankheit in erster Linie als Ausdruck eines Widerstandes der »Anima« gegen Noxen, die die Funktionen des menschlichen Organismus beeinträchtigen. Zwar hat sich Stahl zu psychiatrischen Fragen im konkret-klinischen Sinne kaum geäussert, doch fiel die von ihm vorgeschlagene Zweiteilung seelischer Störungen in solche, die durch die Erkrankung bestimmter Organe verursacht werden – »sympathische Geisteskrankheiten« – und solche, die ohne eine Organerkrankung auftreten – »pathetische Geisteskrankheiten« – in der psychiatrischen Literatur auf fruchtbaren Boden. Die klinisch immer noch geläufige, wenn auch gerade in jüngster Zeit aus neurobiologischer Perspektive grundsätzlich in Frage gestellte Gegenüberstellung »organischer« vs. »psychogener« oder »funktioneller« seelischer Störungen, hat hier eine ihrer (sehr zahlreichen) Wurzeln.
Bedeutungswandel psychiatrischer Termini Wie sehr klinische Begriffe – gerade die geläufigsten unter ihnen – Produkte komplexer ideengeschichtlicher Prozesse sind und dabei oft ihre Bedeutung verändern, ja ausgewechselt haben, zeigt auch der Terminus »Neurose«: Am verbreitetsten war lange Zeit das psychogenetische und dabei vor allem das psychoanalytische Verständnis, das in der »neurotischen« Symptomatik den indirekten Ausdruck unbewusster, aber eben nachhaltig wirksamer seelischer Prozesse sah. Ursprünglich, nämlich am Ende des 18. Jahrhunderts, geprägt von dem schottischen Kliniker Cullen, bezog sich der Begriff »Neurose« allerdings auf die von Albrecht von Haller entwickelte neurophysiologische Theorie der Sensibilität neuronaler Strukturen und der Irritabilität des Muskel-
gewebes. Er hatte also einen unmittelbar somatischen Hintergrund, insoweit »Neurose« in dieser primären Fassung Ausdruck einer gestörten Erregbarkeit des Nervensystems war. Dem Begriff wird heute, im Rahmen der operationalen psychiatrischen Diagnostik, von vielen Autoren so wenig Konsistenz zugesprochen, dass er – ähnlich wie der Begriff des Endogenen – als hinderlich und wissenschaftlich entbehrlich angesehen wird (Anm.: Man darf nicht verkennen, dass mit der Abschaffung eines Begriffs das von ihm adressierte Problem, so unscharf er es auch erfasst haben mag, nicht zugleich eliminiert ist.). Auch der Begriff »Psychiatrie« taucht in diesem Zeitraum erstmalig auf, und zwar in Arbeiten des Hallenser »Stadtphysikus« und späteren Professors der Medizin an der neugegründeten Universität Berlin Johann Christian Reil (1759–1813).
Barbarische Therapieverfahren Besonderer Hervorhebung bedarf der Umstand, dass die Psychiatrie der Aufklärungszeit bei aller grundsätzlichen Orientierung am Konzept der Vernunft als zentralem Merkmal des Menschen, also an der Rationalität, doch in der Praxis der Patientenbetreuung eine Reihe von aus heutiger Sicht außerordentlich irrational, ja barbarisch anmutenden »Therapieverfahren« entwickelt, propagiert und angewandt hat. Viele dieser »Behandlungen« beruhten auf dem Prinzip, den seelisch Kranken derartig zu erschrecken oder körperlicher Belastung auszusetzen, dass die Erscheinungen der Psychose entweder in den Hintergrund treten oder günstigstenfalls ganz verschwinden: Im Drehstuhl wurden die Patienten herumgeschleudert, beim Überqueren einer Brücke öffnete sich plötzlich eine Falltür, so dass der Patient ins Wasser stürzte, Hungerkuren, selbst Kastrationen wurden durchgeführt.
Philippe Pinel und die »französische Schule« 1801 erschien das Hauptwerk des bereits erwähnten französischen Arztes Philippe Pinel (⊡ Abb. 1.1) mit dem Titel »Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou la manie«. Damit gelangte ein – auch schon von früheren, vorwiegend französischen Autoren verfochtenes – prag⊡ Abb. 1.1. Philippe Pinel (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)
7 1.4 · Von der Aufklärung zur »romantischen Psychiatrie«
matisch-eklektisches, an humanen Grundwerten orientiertes Psychiatrieverständnis zum Durchbruch. Skeptisch bis offen ablehnend äußerte sich Pinel über alle spekulativen Hypothesen über die Genese und v. a. den »Sitz« der Geisteskrankheiten. Zwar übernahm auch er bei seiner nosologischen Einteilung seelischer Störungen in Manie, Melancholie, Demenz und Idiotie viele, z. T. auch wenig begründete Annahmen früherer Autoren, etwa die Zuordnung der Manie zum Abdomen, genauer zu gestörten Funktionen in den viszeralen Gangliengeflechten, doch wird als Grundtenor stets die Forderung nach nüchtern-sachlicher Beschreibung klinischer Sachverhalte in ihrem individuellen biografischen und sozialen Kontext beibehalten. Unausgeglichene Affekte, falsche Erziehungs- und Bildungsmethoden, biografische Krisenzeiten wie Pubertät oder Berentung können für Pinel ebenso in die psychotische Erkrankung münden wie rein somatische Einflüsse. Insofern findet sich bei Pinel wie auch bei Reil ein breites, personenzentriertes und verhältnismäßig undogmatisches Verständnis seelischer Störung – einige Jahrzehnte bevor es im Gefolge des Siegeszuges naturwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse in der Medizin allgemein und in der Psychiatrie im Besonderen zu der bis heute anhaltenden Polarisierung zwischen naturalistischen und personalistischen Ansätzen kam. Darauf wird zurückzukommen sein.
»Befreiung der Irren von den Ketten« Konsequent lehnte Pinel mechanische oder sonstige Zwangsmittel bei der Therapie psychotischer Patienten ab und polemisierte gegen die bereits erwähnten barbarischen Gerätschaften, deren zugrunde liegende theoretische Konzepte er als schlimmere Verirrungen bezeichnete als die Wahngebilde seiner Patienten. Die »Befreiung der Irren von den Ketten«, die er in den beiden von ihm geleiteten Pariser Kliniken – Bicêtre hatte er 1793, Salpêtrière 1795 übernommen – vornahm, umfassend begründete und gegen Angriffe verteidigte, machte seinen Namen international bekannt. Dora Weiner (1980) hat über diese Vorgänge und die Beteiligung von Pinels Mitarbeiter Pussin eingehend berichtet. Wie bereits erwähnt, gab es Bemühungen zur Abschaffung von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts in vielen Ländern. Im englischsprachigen Raum war John Conolly (1794–1866) der Vorreiter dieser Bewegung: Er entwickelte das Konzept des »no-restraint« und setzte es ebenfalls konsequent in die Tat um.
Eklektischer Standpunkt In der Synopsis waren Pinel und sein einflussreichster Schüler Jean-Etienne Dominique Esquirol (1772–1861) klinische Pragmatiker, die auf dem Boden eines aufgeklärten Humanismus vieles in der zeitgenössischen Psychiatrie in Bewegung setzten, einen eklektischen Standpunkt vertraten und theoretischen Ansätzen gegenüber Zurück-
haltung übten, insbesondere, wenn diese mit dogmatischem Anspruch auftraten.
Konzept der »moral insanity« Eine wichtige konzeptuelle Neuerung ist hier zu nennen: Die Schaffung der diagnostischen Kategorie »moral insanity« durch den englischen Psychiater James Cowles Prichard (1785–1848). Er bezeichnete damit Personen, die die üblicherweise respektierten, im sozialen Kontakt angewandten Wertmassstäbe missachteten, in rücksichtslos-egoistischer Weise ihre Interessen durchsetzten und zugleich die Kritikwürdigkeit eines solchen Verhaltens, zumindest für ihre eigene Person, nicht anerkannten. Anklänge an diese Konzeption finden sich in späteren Psychopathielehren wieder, und auch die heute in der forensisch-psychiatrischen Literatur viel diskutierte und in ihrem Status als behandlungsbedürftige seelische Störung umstrittene »antisoziale Persönlichkeit« hat viele Gemeinsamkeiten mit Prichards Ansatz.
1.4
Von der Aufklärung zur »romantischen Psychiatrie«
Franz Anton Mesmer Eine eigenartige Zwischenstellung zwischen dem nüchternen aufklärerischen Rationalismus und der subjektund v. a. affektorientierten, zu spekulativer Naturphilosophie neigenden Romantik nimmt, was den medizinischen und hier besonders den psychiatrischen Bereich anbetrifft, Franz Anton Mesmer (1734–1815) ein. Theoretischer Kern seines Konzepts ist das Postulat, dass der Kosmos aus verschieden feinen, als materiell gedachten »Flutreihen« bestehe. Die feinste dieser Flutreihen sei nicht mehr teilbar. Deren besondere Wirkung im Bereich des Organischen nannte Mesmer »tierischen Magnetismus«. Dabei dachte er aber nicht an eine starre, atomistische Korpuskulartheorie, sondern betonte den allerdings nicht näher erläuterten Aspekt der »Wechselwirkung« der Flutreihen untereinander. Diese begriffliche Unschärfe rief zurecht viele Kritiker auf den Plan und begründete die sehr komplexe Rezeptionsgeschichte des Mesmerismus. Entscheidend ist, dass sich Mesmer selbst als »Aufklärer« sah, als Entdecker einer allgemeinen, keineswegs nur die Medizin betreffenden naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit. Konsequent – manche Kritiker nannten es übernachhaltig oder gar fanatisch – verfocht er diese These und baute sie, hierin eindeutig über das Ziel hinausschießend, zu einer Theorie der Gesellschaft schlechthin aus. Zwar war eine solche recht unmittelbare Anwendung grundsätzlicher philosophischer Überlegung auf die konkrete Planung von Gemeinwesen und auf die Politik allgemein zur damaligen Zeit nicht unüblich. Man denke an die großen politischen Entwürfe der »deutschen Idealis-
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
ten« Kant, Fichte und Hegel. Mesmers Konzeption jedoch stand nach der Einschätzung der meisten Zeitgenossen sowohl in medizinischer als auch in philosophisch-politischer Hinsicht auf so tönernen Füßen, dass sie, abgesehen von einigen hartnäckigen und Mesmer treu ergebenen Verfechtern, von den medizinischen Wissenschaften abgelehnt und von den, in heutiger Terminologie, Gesellschaftswissenschaften nicht rezipiert wurde. Bemerkenswert ist ferner, dass Mesmer mit dieser – potenziell bedenklichen – Überdehnung medizinisch-psychiatrischer Aspekte auch in der Psychiatrie selbst keineswegs alleine steht: Gleichartige Tendenzen – Stichwort: Psychiatrie als Grundlage für ganze Weltanschauungen – finden sich etwa bei so entscheidenden Autoren wie J. C. A. Heinroth, E. Kraepelin, E. Bleuler und S. Freud.
Mesmerismus Der »Mesmerismus« in populärwissenschaftlicher Form mit seinen – nicht Mesmer selbst anzukreidenden – Übergängen in die Scharlatanerie war über Jahre eine Modeerscheinung in größeren europäischen Städten, v. a. in Paris, Wien und Berlin. Der aktuellen psychiatriehistorischen Forschung stellt sich der Mesmerismus als ein sich selbst der Aufklärung zuordnendes, jedoch weit eher der naturphilosophischen Spekulation zuneigendes System dar, das im Bereich der Behandlung seelischer Störungen durchaus als Vorläufer heute weitverbreiteter auto- und heterosuggestiver Therapiemethoden betrachtet werden kann. Durch sein starres Festhalten am Buchstaben seines ursprünglichen Konzepts hat Mesmer selbst aber die sachliche Erforschung der von ihm beschriebenen Phänomene, letztlich also der Suggestion, behindert (Darnton 1968; Hoff 1989 a).
Zum Begriff der »romantischen Psychiatrie« Eine klare Abgrenzung vom Rationalismus der Aufklärung nahmen Autoren vorwiegend des deutschen Sprachraums vor, die heute als Vertreter der »romantischen Psychiatrie« bezeichnet werden. Auch hier ist, wie bei allen wissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Schlagworten, Vorsicht am Platze: Natürlich gab es nicht die romantische Psychiatrie, vertraten nicht alle hierher zu rechnenden Psychiater die gleiche Auffassung, weder theoretisch noch klinisch, natürlich erschöpfte sich die theoretische Debatte in der Psychiatrie des beginnenden 19. Jahrhunderts keineswegs in dem immer wieder verkürzt, ja verfälschend zitierten Streit der beiden Schulen der »Psychiker« und »Somatiker«. Dennoch ist der Begriff der romantischen Psychiatrie grundsätzlich berechtigt und als heuristische Leitlinie für die psychiatriehistorische Forschung sinnvoll (Benzenhöfer 1993; Leibbrand 1956; Marx 1990, 1991). Das romantische Lebensgefühl äußerte sich auf breiter gesellschaftlicher, v. a. künstlerischer Ebene (z. B. romantische Malerei, Musik und Dichtung) und hatte zu-
nächst keine unmittelbaren Berührungspunkte mit der Seelenheilkunde. Diese Verbindung entstand aber gleichsam ganz natürlich, insoweit das Interesse der Romantiker dem Affektiven, dem Unverständlichen und Mysteriösen, der, wie Ricarda Huch (1920) es nannte, »Nachtseite der Seele« galt – und viele der hierzu gerechneten erlebnis- und verhaltensbezogenen Phänomene fanden und finden sich besonders bei Menschen mit gravierenden seelischen Störungen.
Blick auf das Individuum Zentrales Anliegen der psychiatrischen Autoren dieser Zeit war es, die individuelle, v. a. auf den einzelnen Lebenslauf gerichtete Perspektive in die Lehre von Verursachung, klinischem Erscheinungsbild, Verlauf und Behandelbarkeit von seelischen Störungen einzubringen. Dabei wurde dem Bereich der Affekte, der »Leidenschaften«, wie es in den Originaltexten zumeist heißt, großes Gewicht beigemessen. Die wesentliche Kritik am aufklärerischen Rationalismus lautete, dieser habe auf der Suche nach allgemein gültigen »Naturgesetzen« zu sehr die überindividuelle, den einzelnen Menschen eher zufällig betreffende Regel betont und dabei das Individuum in seiner Einzigartigkeit und persönlichen – auch persönlich verantworteten – »Gewordenheit« vernachlässigt.
Psychiker vs. Somatiker Die »Psychiker« unter den romantischen Autoren vertraten die Auffassung, dass die Seele aus sich heraus erkranken könne, dass es also Seelenkrankheiten im engeren Sinne gebe. Genau dies wurde von den »Somatikern«, etwa M. Jacobi (1775–1858) und C. F. Nasse (1778–1851), bestritten. Diese waren aber, im Gegensatz zu einem verbreiteten Missverständnis, keineswegs materialistisch eingestellte Psychiater, sondern hielten – ebenfalls ein typisch romantischer Gedanke – die Seele für etwas ebenso Immaterielles wie Unsterbliches, auch Göttliches, das somit gar nicht selbst erkranken könne; krank werde nur der Körper. Scheinbar seelische Krankheiten seien also in Wahrheit der seelische Ausdruck körperlicher Störungen, die im Übrigen nicht notwendig das Gehirn betreffen müssen, sondern auch im Verdauungs-, Kreislauf- oder Atmungssystem angesiedelt sein können.
Heinroth und Ideler Wesentliche psychiatrische Autoren dieser Epoche, und beide, wenn man sie denn etikettieren will, Psychiker, waren J. C. A. Heinroth (1773–1843) und K. Ideler (1795– 1860). In ihren Schriften finden sich zum einen ausgezeichnete psychopathologische Beschreibungen, getragen von einem genuinen und auch nach fast 200 Jahren dem Text noch anzumerkenden Interesse für das in seelischer Not befindliche Individuum. Heinroth entwarf auch ein der späteren psychoanalytischen Konzeption in Teilen verblüffend ähnliches Instanzenmodell des Seelenlebens,
9 1.5 · Von Griesinger zur »Gehirnpsychiatrie«
in dem er »Instinkte«, »Bewusstsein« und »Über-Uns« unterschied. Zum anderen wurden psychopathologische Befunde aber oft mit einem spekulativen naturphilosophischen oder moralisch-religiösen Hintergrund verknüpft. Schwere seelische Krankheiten wurden so etwa als Folge eines verfehlten Lebenswandels oder »sündhaften Verhaltens« gedeutet (Cauwenbergh 1991; Heinroth 1818; Schmidt-Degenhard 1985). Der Begriff der »persönlichen Verantwortung« für das eigene Leben und damit bis zu einem gewissen Grad auch für die eigenen Krankheiten spielte eine zentrale Rolle im Denken der romantischen Psychiater. Bei Heinroth hatte dies eine radikal anmutende Konsequenz in forensischer Hinsicht: Wer, so Heinroth, im Zustand schwerer geistiger Störung eine Straftat begehe, habe zwar aktuell nicht gewusst, was er tue, sei aber dennoch für die Tat verantwortlich, da ja das Hineingeraten in die Psychose zurückzuführen sei auf vorwerfbare Fehlverhaltensweisen. Dies erinnert an das in unserem Jahrhundert in der forensischen Literatur kontrovers diskutierte – und zumeist verworfene – Konzept der »Lebensführungsschuld«, das aber eher nicht auf die strafrechtliche Verantwortung von psychotisch Erkrankten angewandt wurde.
Vorreiterfunktion der romantischen Psychiatrie Bei aller – oft wesentlich sprachlich begründeten – Befremdlichkeit mancher Überzeugungen der romantischen Psychiater haben Forschungsarbeiten aus jüngerer Zeit doch eindrucksvoll belegt, dass die früher – v. a. gegen Ende des 19. Jahrhunderts –, aber auch heute noch oft anzutreffende pauschale Disqualifizierung dieser psychiatrischen Epoche unbegründet ist, einmal ganz abgesehen von ihrer, allerdings nicht unbestrittenen, Vorreiterfunktion für spätere psychodynamische und im besonderen psychoanalytische Ansätze (s. unten). Weitere wichtige Autoren dieser Zeit sind Johann Reil (1759–1813), der nicht nur, wie erwähnt, den Begriff »Psychiatrie« – ursprünglich: »Psychiaterie« – einführte, sondern in seiner Lehre von den »Gemeingefühlen« eine auch für den heutigen Blick interessante Grundlage für das Verständnis psychotischer Störungen entwarf, Ernst von Feuchtersleben (1806–1849), der psychotherapeutische und psychoedukative Behandlungsformen entwickelte und Carl Gustav Carus (1789–1869), der das – von ihm selbst, Jahrzehnte vor Freud, bereits so benannte – »Unbewusste« für eine zentrale, zumindest teilweise aber unerkennbare Kraft im menschlichen Seelenleben hielt.
1.5
Von Griesinger zur »Gehirnpsychiatrie«
Etwa ab den 1930er Jahren setzte eine Gegenbewegung ein, die sich an die erstarkenden »positiven« Naturwis-
senschaften anzulehnen trachtete. Dieser außerordentlich komplexe Vorgang muss im Übrigen deutlich unterschieden werden von der bereits erörterten Kontroverse zwischen den romantischen Schulen der Psychiker und Somatiker. Eine herausragende Erscheinung der damaligen Psychiatrie, Wilhelm Griesinger (1817–1868; ⊡ Abb. 1.2), darf als einflussreichster Vertreter der Forderung in Anspruch genommen werden, die klinische Psychiatrie habe sich dem psychophysischen Problem empirisch und nicht metaphysisch zu stellen, sie habe also psychophysiologische Forschung zu betreiben. Das ebenso bekannte wie oft ohne Zusammenhang und verkürzt wiedergegebene Zitat, wonach Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind, stellt die größtmögliche begriffliche Verdichtung des wohldurchdachten Konzepts Griesingers dar, für welches die klinische Diagnostik gerade nicht hinter einer platten »Hirnmythologie« verschwindet.
Psychiatrie als empirische Wissenschaft Griesinger, der nach einem Wort von Ludwig Binswanger der »Psychiatrie ihre Verfassung gegeben« habe, wandte sich gegen jede Art von unkritischer Spekulation, sowohl naturphilosophisch-romantischer als auch materialistischer Orientierung. Sein Hauptziel war die Etablierung der Psychiatrie als eigenständige, empirisch arbeitende Wissenschaft, die ärztlichem Ethos verpflichtet ist, also psychisch Kranke als Kranke ernst nimmt. Seine Psychiatrie war, plakativ gesagt, von ihrem Selbstverständnis her sowohl ein vorwiegend biologisches Forschungsprogramm als auch eine angewandte ärztliche Anthropologie.
Materialismus Es ist zwar nicht völlig falsch, lädt aber zu Missverständnissen ein, wenn man Griesinger unbesehen und unkommentiert einen Materialisten nennt. Der entscheidende Zusatz muss lauten, dass sein Materialismus ein methodischer und mit Sicherheit kein metaphysischer war. Dies verband ihn mit dem damals einflussreichen Philosophen F. A. Lange (1828–1875). Zentraler Gedanke dieses metho⊡ Abb. 1.2. Wilhelm Griesinger (1817–1868) (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
dischen Materialismus war die – im Vergleich zu den kompromisslosen Materialisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts geradezu bescheidene – These, dass in der gegebenen Situation eine auf das zerebrale Substrat gerichtete und insoweit von den anzuwendenden Forschungsmethoden her »materialistische« Betrachtungsweise wissenschaftlich, am Weitesten führe. Und wenn Psychisches zwar als »Funktion« des Materiellen, dabei aber sehr wohl als eigenständiges Phänomen angesehen und nicht etwa grundsätzlich geleugnet werde, dann werde – erklärtes Ziel der psychiatrischen Forschung seit Griesinger – auch das Psychische der empirisch-quantifizierenden Forschung zugänglich. Damit bleibe es nicht mehr, wie bei manchen romantischen Psychiatern, gerade den Somatikern unter ihnen, hinter der Qualifizierung als »heilig« oder »göttlich« abgeschottet (Hoff u. Hippius 2001; Verwey 1985; Wahrig-Schmidt 1985)
Verlaufsaspekt des »Irreseins« Nicht nur dieses hier nur grob umrissene Forschungsprogramm, sondern ein psychopathologisches Konzept, nämlich die gemeinsam mit seinem Lehrer Albert Zeller, des Leiters der Anstalt Winnenthal, entwickelte Idee der Einheitspsychose, hat Griesingers Namen vom Erscheinen seines Hauptwerks »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« (1845, 2. Aufl. 1861) an bis in die aktuelle Diskussion (Berrios u. Beer 1995; Crow 1990; Mundt u. Sass 1992; Rennert 1965, 1982) fest mit Grundfragen der psychiatrischen Nosologie verknüpft. Noch vor Kahlbaum und Kraepelin war hier der Verlaufsaspekt als ein Moment gewürdigt worden, das jede bloß symptomatologisch orientierte Nosologie differenzierte und ordnete. Allerdings ging es Griesinger gerade nicht um ein nosografisches Aufspalten in einzelne Krankheitseinheiten, sondern im Gegenteil um die Darstellung des »Irreseins« als eines einzigen Morbus (Einheitspsychose), der gesetzmässig mehrere Stadien durchläuft (Vliegen 1980): Primär die affektive Störung, dann die wahnhafte Entgleisung, die »Verrücktheit«, und schließlich, sofern nicht Stillstand oder Remission eintreten, das schwere und schließlich irreversible Defizit auf der kognitiven und der Handlungsebene, in heutiger Terminologie eine Demenz. Allerdings akzeptierte Griesinger später – auch hier nicht dogmatisch – Snells Beschreibung einer »primären Verrücktheit« (1865), der gerade kein affektives Vorstadium vorauszugehen brauche und widerrief in diesem Punkt seine frühere Konzeption. Auch diese Debatte ist alles andere als »nur« historisch interessant: Die Frage nämlich, mit welchem Typus von Krankheit oder gar Krankheitseinheit wir es in der Psychiatrie zu tun haben, ob wir von distinkten Kategorien oder deutlich überlappenden Dimensionen zu tun haben, ist ein kontroverser Gegenstand der aktuellen und sicherlich ebenso der zukünftigen Diskussion.
Stadtasyle vs. große Kliniken Griesinger beschäftigte sich, was oft übersehen wird, intensiv mit »Sozialpsychiatrie«, um den heutigen Terminus zu gebrauchen. Er grenzte sich klar von der von Roller, dem Leiter der Badischen Anstalt Illenau, vertretenen Auffassung ab. Roller postulierte, psychisch Kranke seien möglichst abgeschieden in ruhigen ländlichen Gebieten und in eigens für diesen Zweck geschaffenen Einrichtungen zu behandeln, also strikt getrennt von allen sonstigen Patienten. Griesinger hingegen forderte die Integration der psychiatrischen in die medizinische Versorgung. Konkret beinhaltete dies v. a. die Errichtung sog. »Stadtasyle« (Griesingers Ausdruck) für die akut Erkrankten, die einer eher kurzen stationären Behandlung bedürfen. Derartige »gemeindenahe« Versorgungseinrichtungen sollten nach Griesingers Vorstellung im Verbund mit den bestehenden allgemeinen Stadtkrankenhäusern betrieben werden, da eine enge Verzahnung zwischen Zuweiser, Klinik, Weiterbehandler und Lebensumfeld entscheidend für die Prognose sei (Bergener 1987; Rössler 1992). Die Mitte und 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Zeit der Gründung zahlreicher großer und, Griesingers Intention ganz entgegengesetzt, meist weit ab von den großen Siedlungsräumen situierter psychiatrischer Kliniken (Jetter 1981). Unabhängig davon etablierten sich in diesem Zeitraum an den meisten medizinischen Fakultäten Lehrstühle für Psychiatrie bzw. für Nervenkrankheiten.
Fortschritte in den Naturwissenschaften In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Naturwissenschaften, auch die Biologie, rasch weiter. Für die Psychiatrie besonders wichtig wurden die Fortschritte der Neuroanatomie, die Lehre von der zerebralen Lokalisation bestimmter Leistungen wie Motorik und Sensibilität, aber auch Sprache und Gedächtnis. Wesentlich bereichert wurde diese Forschungsrichtung durch die Entwicklung neuer Techniken: Beispielhaft seien das von Bernhard von Gudden (1824–1886) konstruierte Mikrotom zur Fertigung von sehr dünnen Hirnschnitten und spezifischere histologische Färbemethoden wie diejenige von Franz Nissl (1860–1919) genannt (»Nissl-Färbung«).
Unreflektierter Materialismus Jedoch wurde dieser Fortschritt auch von der Neigung mancher Autoren begleitet, das gerade erfolgreich etablierte biologische Paradigma zu überdehnen und einem mehr oder weniger unreflektierten Materialismus das Wort zu reden. Für Autoren wie den Wiener Psychiater Theodor Meynert (1833–1892) waren denn auch seelische, insbesondere psychotische Störungen, nichts anderes als »Erkrankungen des Vorderhirns«, so der bezeichnende Untertitel seines 1884 erschienenen, einflussreichen Lehrbuchs der Psychiatrie. Zeitgenössische und spätere Kritiker haben die (Universitäts-)Psychiatrie des ausgehenden
11 1.6 · Degenerationslehre
19. Jahrhunderts nicht ganz zu unrecht »Gehirnpsychiatrie« genannt, »Psychiatrie ohne Seele« oder spöttisch, so etwa Jaspers, »Hirnmythologie«. Wenn man einmal von der heute oft als eigenartig, ja befremdlich empfundenen psychiatrischen Begrifflichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts absieht, so bleibt doch die Parallele zwischen den damals und heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, drängenden grundsätzlichen Fragen verblüffend, etwa die nach dem Zusammenhang zwischen Subjektivität und Hirnfunktion oder nach dem Begriff, um nicht zu sagen dem »Wesen« der psychischen Krankheit schlechthin. Darauf wird noch mehrfach zurückzukommen sein.
1.6
Degenerationslehre
Bei der »Entartungs-« oder »Degenerationslehre« handelt es sich um nichts weniger als um eine bloß unter psychiatrischen Spezialisten erörterte randständige Theorie. Sie prägte vielmehr über die Literatur, die Naturwissenschaften und nicht zuletzt die Politik das geistige Profil des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entscheidend mit (Chamberlin u. Gilman 1985; Pick 1989; Wettley 1959). Der für die Psychiatrie besonders relevante Teil dieser Lehre nahm entscheidende Impulse aus der französischen Psychopathologie auf, v. a. von B. A. Morel (1857) und V. Magnan (1896). Der Ansatz ging davon aus, dass über viele Generationen hinweg innerhalb einer Familie eine zunehmende »seelische Degeneration« auftreten kann, wobei die Reihe von leichten psychischen Auffälligkeiten wie Nervosität oder geringe Belastbarkeit über markante affektive Störungen und psychotische Episoden bis hin zu schwerster Demenz reicht (Hermle 1986; Liegeois 1991). Die psychiatrischen Degenerationstheoretiker – im deutschen Sprachraum etwa H. Schüle und R. von KrafftEbing – beriefen sich durchaus auf umfangreiche empirische Beobachtungen und hinterstellten ihren Erfahrungen eine teils naturwissenschaftlich (Magnan), teils moralphilosophisch (Morel) ausgerichtete Theorie. Andere Autoren wiederum verknüpften die theoretische Ebene des Entartungsgedankens auf noch viel direktere Weise mit der empirischen: Vor allem die italienische kriminalanthropologische Schule Cesare Lombrosos hob die diagnostische, ja prognostische Wertigkeit somatischer Kennzeichen (»Stigmata«) hervor, aus deren Vorhandensein sowohl auf psychopathologische Zusammenhänge als auch auf das bereits erreichte Niveau der Degeneration rückgeschlossen werden könne.
Degenerationslehre und Rassentheorie Die Grundgedanken der Degenerationslehre finden sich in fast allen psychiatrischen oder nervenheilkundlichen Lehrtexten der Jahrhundertwende in mehr oder weniger klar erkennbarer Form wieder. Als Beispiel sei hier Emil Kraepelin erwähnt, ein besonders einflussreicher psychi-
atrischer Autor, auf den in anderem Zusammenhang noch zurückzukommen sein wird. Das Beispiel soll die starke Verbreitung der Degenerationslehre ebenso belegen wie die – für heutige Leser irritierende – Selbstverständlichkeit, mit der die entsprechende Terminologie als wissenschaftlich akzeptabel, ja geboten anerkannt wurde. Hervorzuheben ist die Notwendigkeit, mit dieser psychiatriegeschichtlich besonders wichtigen und emotionsgeladenen Materie sorgfältig und differenziert umzugehen. Nicht jeder Autor der Jahrhundertwende, der sich der Sprache der »Entartungslehre« bedient, kann als unmittelbarer gedanklicher Vorläufer oder gar Befürworter nationalsozialistischen (oder sonstigen) Terrors gegen psychisch Kranke diskreditiert werden. Freilich stehen andererseits – und dies macht die Situation so komplex – die Degenerationslehre und der Nationalsozialismus über die Konzepte des Sozialdarwinismus und der »Rassenhygiene« (s. unten) in einem vielschichtigen ideengeschichtlichen Zusammenhang. Ein einfaches Ursache-Wirkungs-Verhältnis liegt hier zwar mit Sicherheit nicht vor, doch hat es die wissenschaftlich auf tönernen Füssen stehende degenerationstheoretische Lehrmeinung den noch weitaus spekulativeren, ja absurden Rassetheorien der Nationalsozialisten besonders leicht gemacht, ihre ideologischen Verzerrungen wissenschaftlich zu verbrämen.
Verwendung des Degenerationsbegriffes am Beispiel von Kraepelin Viele Psychiater der Jahrhundertwende, so eben auch Emil Kraepelin, haben vom Begriff der Degeneration regen Gebrauch gemacht: Kraepelin, der alles andere als ein unpolitischer Wissenschaftler war (Engstrom 1991), spricht immer wieder von »Entartung«, auch von den »Entarteten«, von »degenerativer Grundlage« und »Minderwertigkeit«. Besonders deutlich wird dies bei seiner Schilderung von – wie wir heute sagen würden – persönlichkeitsgestörten, aber auch dysthymen oder sexuell devianten Patienten. Dennoch wäre der Schluss verfehlt, in der deutschsprachigen Psychiatrie der Jahrhundertwende habe eine vollkommen unkritische Einstellung zur Degenerationstheorie vorgeherrscht. Insbesondere nach der »Wiederentdeckung« der von Mendel beschriebenen Vererbungsgesetze verlor der im Vergleich dazu sehr verschwommene Begriff der »Degeneration« zunehmend an Boden. Bei Kraepelin etwa kontrastiert die umfassende Anwendung der Degenerationstheorie auf eigenartige Weise mit seiner mehrfach geübten Kritik an der begrifflichen Unschärfe des Konzepts. So spricht er von der »unsicheren und schwankenden Umgrenzung« des Begriffs Entartung (Kraepelin 1915, S. 1973). 1918 weist er den von Magnan vertretenen umfassenden Erklärungsanspruch der Theorie zurück: Wenn auch, so Kraepelin, durch dessen »Bestrebungen, die Geistesstörungen der Entarteten
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
grundsätzlich denen der gesund Veranlagten gegenüberzustellen …, die engen Beziehungen gewisser Formen des Irreseins zur erblichen Anlage in helles Licht gesetzt wurden, hat sich doch die schroffe Trennung jener beiden Gruppen als undurchführbar erwiesen« (Kraepelin 1918, S. 253).
Differenzierung zwischen »gesund« und »krank« Auch Kraepelins Verwendung einschlägiger Termini wie »erbliche Entartung«, »krankhafte Veranlagung«, »seelische Entwicklungshemmungen« oder »angeborene Grundzustände« ist alles andere als einheitlich. Dies sehr wohl spürend, beruft er sich bei der Differenzierung zwischen »gesund« und »krank« besonders im Falle der nicht klar psychotischen Krankheitsbilder letztlich auf das quantitative Moment, nämlich den Schweregrad, v. a. im Sinne der psychosozialen Folgen einer seelischen Störung: »Würden wir im strengsten Sinne alle diejenigen angeborenen Eigenschaften als Ausfluss der Entartung betrachten, die der Erreichung allgemeiner Lebenszwecke hinderlich sind, so würden wir deren Spuren nirgends vermissen. Die Bedeutung des Krankhaften können wir aber den persönlichen Abweichungen von der vorgezeichneten Entwicklungsrichtung erst dann zuschreiben, wenn sie eine erhebliche Bedeutung für das körperliche oder psychische Leben gewinnen; die Abgrenzung ist also eine rein gradweise und deswegen in gewissem Spielraume willkürliche« (Kraepelin 1915, S. 1973).
Ethische Erwägungen Andererseits hat Kraepelin mehrfach vor der unbedachten Umsetzung derartiger Konzepte in konkrete Maßnahmen gewarnt. So stand er der von ihm erwähnten amerikanischen Praxis, bei manchen psychischen Störungen eine Sterilisation durchzuführen, unter Hinweis auf das unvermeidliche ethische Dilemma skeptisch gegenüber: »Ohne Zweifel wäre die Massregel wirksam, doch erscheint die Bestimmung darüber schwierig, bei wem sie Halt zu machen hätte.« (Kraepelin 1903, S. 386).
Erbfaktoren vs. Persönlichkeit und Umwelt Auf ein weiteres Beispiel für die durchaus vorhandene Bereitschaft zur kritischen Prüfung der Degenerationslehre hat Heimann (1989) hingewiesen: Als der spätere Tübinger Ordinarius für Psychiatrie und überzeugte Nationalsozialist H. F. Hoffmann im Juli 1920 anlässlich einer Sitzung der von Emil Kraepelin geleiteten (und gegründeten) Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie über seine rassenhygienischen und erbbiologischen Thesen sprach, äusserte Kraepelin bei aller Zustimmung zur genetischen Forschung in der Psychiatrie im allgemeinen doch erhebliche Bedenken gegen die unkritisch-vorschnellen Rückschlüsse von Symptomen auf zugrunde liegende Krankheitsprozesse im besonderen. Er betonte, dass »die Krankheit« eben gerade nicht unmittelbar zu
der klinischen Symptomatik führe, sondern dass Persönlichkeit und Umwelt – also nicht oder nicht entscheidend erbbedingte Faktoren – von grosser Bedeutung seien.
Degenerationstheorie als konzeptueller Hintergrund Für den hier beispielhaft herausgegriffenen Autor Kraepelin gilt also, dass die Degenerationstheorie zu einem umfassenden, aber nicht dogmatisch angewandten Raster wurde, zu einer Art konzeptuellem Hintergrund für das Verständnis zahlreicher seelischer Störungen. Am wenigsten wirkte sich dies hinsichtlich der Dementia praecox aus, am deutlichsten bei der manisch-depressiven Erkrankung, der Paranoia und, wie bereits erwähnt, bei den Persönlichkeitsstörungen. Trotz dieser wenig reflektierten allgemeinen Bejahung des Degenerationsgedankens lehnte Kraepelin biologistische Verkürzungen – etwa im Sinne der »stigmata degenerationis« – klar ab. Seine Einstellung – und auch die anderer wichtiger zeitgenössischer Autoren – bleibt hier auf eine ähnlich merkwürdige Art unscharf wie diejenige zum Leib-Seele-Problem oder zu sonstigen wissenschaftstheoretischen Grundsatzfragen, obwohl Kraepelin, äußerlich betrachtet, in allen Auflagen des Lehrbuchs sowie in einer eigens diesem Thema gewidmeten Studie (Kraepelin 1908) mehrfach ausführlich dazu Stellung genommen hat. Im deutschen Sprachraum wird Bumkes Studie »Über nervöse Entartung« (1912) als die entscheidende und wirksamste Kritik an der tradierten Form der Degenerationslehre angesehen.
1.7
Die Kliniker um die Jahrhundertwende
Klinisch-pragmatische Verlaufsforschung Parallel zur Entwicklung des Degenerationsgedankens und, wie gezeigt wurde, deutlich beeinflusst von ihm, trat in Fortsetzung der Studien von Wilhelm Griesinger und Karl Ludwig Kahlbaum (1828–1899; ⊡ Abb. 1.3) mit Emil Kraepelin (1856–1926) die klinisch-pragmatische Ver⊡ Abb. 1.3. Karl Ludwig Kahlbaum (1828–1899) (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)
13 1.7 · Die Kliniker um die Jahrhundertwende
laufsforschung in den Vordergrund des Interesses. Vor allem Kahlbaum und Kraepelin empfanden frühere Systematiken besonders deswegen als unbefriedigend, weil dem fluktuierenden klinischen Zustandsbild im Vergleich zum Langstreckenverlauf ein zu großes Gewicht beigemessen worden sei. »Pragmatisch« kann man beide Autoren insoweit nennen, als es ihnen um die möglichst umfassende und detailgenaue klinische Erfassung von Krankheitsverläufen ging, um erst auf dem Boden einer solchen empirischen Kenntnis theoretisch-systematische Überlegungen anzustellen. Dabei schwingt insbesondere bei Kraepelin eine gewisse Skepsis gegenüber vertieften wissenschaftstheoretischen Erwägungen in der Psychiatrie mit. Kahlbaum hingegen entwarf ein recht komplexes, zwischenzeitlich weitgehend in Vergessenheit geratenes nosologisches System, das hier nicht näher betrachtet werden kann. In klinischer Hinsicht ist Kahlbaums Name v. a. mit der Beschreibung der Katatonie, des »Spannungsirreseins«, wie er es nannte, verbunden (Kahlbaum 1874; Lanczik 1992).
Emil Kraepelin Emil Kraepelin (⊡ Abb. 1.4) setzte in manchen Aspekten das von Griesinger und Kahlbaum begonnene Vorhaben einer klinischen Forschung fort, prägte es aber stark durch seine eigenen Konzepte. Ähnlich wie Kahlbaum äußerte sich Kraepelin immer wieder sehr kritisch über den rein symptomatologischen Zugang zur psychiatrischen Diagnostik, der bei vielen Autoren des 19. Jahrhunderts vorgelegen habe. Zwar verkannte er nicht, dass auch Griesinger den Verlaufsaspekt herausgearbeitet hatte, jedoch konnte dessen bereits erörterte Konzeption einer Einheitspsychose den pragmatischen Kliniker Kraepelin nicht überzeugen. Entscheidend für den bis heute anhaltenden großen Einfluss seines Werkes dürfte gewesen sein, dass Kraepelin der unter der terminologischen Unübersichtlichkeit des 19. Jahrhunderts leidenden Psychiatrie ein sich auf jahrzehntelange klinische Erfahrung berufendes und damit »innerpsychiatrisch« – also eben nicht philosophisch oder neuroanatomisch – legitimiertes und zudem noch prognostisch und damit pragmatisch ⊡ Abb. 1.4. Emil Kraepelin (1856–1926) (Quelle: Psychiatrische Klinik der LMU München, Psychiatriehistorische Sammlung)
orientiertes nosologisches Bezugssystem zur Verfügung stellte.
Konzept der »natürlichen Krankheitseinheiten« Vor dem Hintergrund der von ihm, wie oben ausgeführt, in hohem Masse, aber nicht kritiklos akzeptierten und angewandten Degenerationslehre waren psychophysischer Parallelismus, strikter, wenn auch kaum thematisierter philosophischer Realismus sowie eine unbedingte Orientierung an der beobachtbaren klinischen Realität die Grundpfeiler, die es Kraepelin ermöglichten, in ungemein wirksamer Art unterschiedliche methodische Ansätze auf ein gemeinsames Forschungsziel hin auszurichten, nämlich die Erkennung dessen, was er »natürliche Krankheitseinheiten« nannte. Der zentrale Gedanke dieses Ansatzes ist die Hypothese, dass es in der Psychiatrie, wie in anderen medizinischen Fächern auch, von der Natur vorgegebene – in heutiger Terminologie: biologische – Krankheitseinheiten gibt, die in genau dieser Weise existieren, ganz unabhängig davon, ob sich die Forschung mit ihnen beschäftigt oder nicht. Diese Einheiten werden also nach Kraepelins Auffassung keineswegs von den Psychiatern »konstruiert«, sind keineswegs bloße psychopathologische Konventionen, sondern existente und voneinander eindeutig trennbare Entitäten, ähnlich wie dies bei Gegenständen der Außenwelt, etwa verschiedenen Arten von Pflanzen, möglich ist. Das von Kraepelin vertretene, sehr weitgehende Postulat lautete nun, dass der Forscher sich unabhängig von der von ihm angewandten Forschungsmethodik – pathologische Anatomie, ätiologisch-pathogenetische Forschung oder Symptomatologie einschließlich des Verlaufs – bei hinreichend ausgearbeiteter Technik notwendigerweise auf die Entdeckung immer derselben psychiatrischen Einheiten hinbewegen wird, eben den ja schon vor jeder Forschung festliegenden »natürlichen Krankheitseinheiten«.
Psychiatrische Forschung und Wissenschaftstheorie Freilich war Kraepelin bewusst, und er hat dies auch geäußert, welch hohen Anspruch an die psychiatrische Forschung er hier stellte. Weit weniger klar hingegen brachte er die von ihm explizit oder häufiger implizit eingeführten wissenschaftstheoretischen Konzepte zur Sprache, nämlich Realismus (Anm.: Hier im wissenschaftstheoretischen Sinne, also im Gegensatz zu Idealismus, gemeint), Parallelismus, Naturalismus und die methodische Ausrichtung der Psychiatrie an der experimentellen Psychologie Wundtscher Prägung. Durchaus kritisch diskutierte er aber die Tatsache, dass sich in der klinischen Realität die Grenzen zwischen den einzelnen psychischen Erkrankungen oft kaum ziehen lassen, obwohl sein Modell genau dies fordern müsste. Diesem von ihm selbst, aber auch von zahlreichen an-
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
deren Autoren geäußerten Einwand versuchte er in den späten programmatischen Arbeiten aus den Jahren 1918– 1920 Rechnung zu tragen. Hier finden sich Formulierungen, die ein graduelles Aufweichen der früher kompromisslosen Konzeption natürlicher und prinzipiell erkennbarer Krankheitseinheiten anzeigen und die v. a. die von Birnbaum (1923) »pathoplastisch« genannten Faktoren deutlich mehr berücksichtigen, etwa die Persönlichkeit des Erkrankten, seine Lebensbedingungen und die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Dennoch ist, wenn man Kraepelins Texte sehr genau auf diesen Punkt hin untersucht, über die 5 Jahrzehnte seiner aktiven psychiatrischen Forschung »kein grundsätzliches Abrücken« von der Leitidee der natürlichen Krankheitseinheit festzustellen (Hoff 1994). Die wesentlich auf Verlaufsmerkmale gestützte Dichotomie endogener Psychosen (Dementia praecox vs. manisch-depressive Erkrankung) ist nur eines unter vielen Resultaten seiner diagnostischen Forschung, wenn auch ohne Zweifel ein besonders nachhaltig, nämlich bis hin zu den aktuellen operationalen Diagnosemanualen wirksames (s. unten).
Alfred Erich Hoche Ein nicht grundsätzlicher, aber doch deutlicher Gegenentwurf zu Kraepelins Psychiatrieverständnis kam von Alfred Erich Hoche (1865–1943), eine aus psychiatriegeschichtlicher Sicht in mehrfacher Hinsicht wichtige Figur. Im jetzigen Zusammenhang geht es um Hoches hartnäckig vorgetragene Kritik an Kraepelins Konzept der »natürlichen Krankheitseinheiten«, das Hoche für zu spekulativ, mindestens aber für weitaus verfrüht hielt. Er sprach von der »Jagd nach dem Phantom« Krankheitseinheit und spottete in unverkennbarer Anspielung auf Kraepelins zahlreiche kleine und große Änderungen der nosologischen Grenzen, dass man eine trübe Flüssigkeit – nämlich das klinische Bild und den Verlauf seelischer Störungen – nicht dadurch klarer mache, dass man sie von einem Gefäß in das andere giesse – also den Störungen bloß neue Namen gebe (zusammengefasst dargestellt in Hoche 1912). Hoche schlug vor, die Frage der natürlichen Krankheitsentitäten als – vorläufig oder grundsätzlich – unbeantwortbar zurückzustellen und sich der Erarbeitung empirisch abgesicherter, den Belangen von Praxis und Forschung vollauf genügender Symptomenkomplexe zu widmen. Dieser später »syndromal« genannte Ansatz hat sich weitgehend durchgesetzt, was freilich die Existenz von »hinter« den Syndromen stehenden Krankheitseinheiten nicht prinzipiell ausschließt. Erwähnenswert ist aber bereits hier, dass derselbe Autor, Hoche, einer von 2 Autoren eines 1920 erschienenen Buches war, in dem die »Tötung lebensunwerten Lebens« aus juristischer und psychiatrischer Sicht erörtert und definitiv gutgeheißen wird. Darauf wird zurückzukommen sein.
Robert Gaupp und Ernst Kretschmer Einige weitere wichtige konzeptuelle Beiträge, die zu Beginn dieses Jahrhunderts erschienen, seien erwähnt: Robert Gaupp (1870–1953), bis 1906 Kraepelins Oberarzt in München, und Ernst Kretschmer (1888–1964), beide in Tübingen, entwarfen einen psychopathologisch fundierten Ansatz, mit dem sie sich in mancherlei Hinsicht, wenn auch nicht grundsätzlich, von Kraepelins Denken entfernten.
Verstehender Zugang zum »Unverständlichen« des Wahns Gaupp ging es v. a. um die Frage, inwieweit es einem verstehenden, Biografie und Persönlichkeitsentwicklung betonenden Zugang zumindest in Einzelfällen möglich sein könnte, das »Unverständliche« des Wahns aufzulösen, den Wahn somit als psychologisch verständliche, wenn auch ungewöhnliche Reaktion auf eine ganz bestimmte Konstellation vorwiegend seelischer und sozialer, aber auch körperlicher Bedingungen aufzufassen. In meisterhafter Weise hat Gaupp diese Thematik anhand des Falles des von ihm begutachteten »Hauptlehrers Wagner« entwickelt, der aus wahnhaftem Erleben heraus 1913 seine Familie und mehrere ganz unbeteiligte Personen getötet sowie verschiedene Brände gelegt hatte. Gaupp hielt bis zu Wagners Tod im Jahre 1938 mit ihm Kontakt und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zu diesem Fall (Gaupp 1920). Neuzner und Brandstätter (1996) haben die Krankengeschichte Wagners unter besonderer Berücksichtigung seiner langjährigen Beziehung zu Gaupp und der von ihm verfassten Theaterstücke und sonstigen literarischen Texte umfassend aufgearbeitet.
Konstitutionsbiologischer Ansatz Ergänzt und wesentlich erweitert wurde diese Forschungsrichtung durch Gaupps Schüler Ernst Kretschmer (Anm.: In diesem Zusammenhang ist vor allem Kretschmers Monografie über den »Sensitiven Beziehungswahn« (1918) zu erwähnen, auf die später noch eingegangen wird.), der einen konstitutionsbiologischen Ansatz verfolgte, also versuchte, bestimmte körperliche Merkmale, v. a. den Körperbau, mit seelischen Eigenschaften und Störungen in Verbindung zu bringen. Kretschmer forderte in heute sehr aktuell anmutender Weise eine »mehrdimensionale« Diagnostik und damit auch Befunderhebung.
Carl Wernicke, Karl Kleist und Karl Leonhard Der bedeutende Kliniker und Forscher Carl Wernicke (1848–1905) entwarf eine psychiatrische Systematik, die in den endogenen Psychosen in mancherlei Hinsicht Analoga der neurologischen Systemerkrankungen sah. Er beschäftigte sich intensiv mit der psychotisch gestörten Ausdrucksmotorik, insbesondere mit den katatonen Symptomen. Die von ihm begründete Schule wurde von
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Karl Kleist (1879–1960) und Karl Leonhard (1904–1988) fortgeführt. Diese Autoren definierten – weit über die als zu grob empfundene Einteilung Kraepelins hinaus, v. a. unter Ablehnung seiner nosologischen Dichotomie endogener Psychosen – distinkte psychische Krankheitseinheiten, die bezüglich ihrer Genese, familiären Belastung, Symptomatik, Verlauf und Therapie scharf zu trennen seien. Am prägnantesten hat diesen Gedanken Karl Leonhard in seiner »Einteilung der endogenen Psychosen« (1980) herausgearbeitet. Dieser Ansatz stellt den Gegenpol zum einheitspsychotischen Konzept Griesingers dar (Beckmann u. Franzek 1995).
Karl Bonhoeffer Karl Bonhoeffer (1868–1948), nach seiner Breslauer Zeit von 1912–1938 26 Jahre lang Direktor der Klinik für psychische und Nervenkrankheiten an der Berliner Charité, postulierte die »nosologische Unspezifität« psychopathologischer Symptome, indem er die bis heute akzeptierte These aufstellte, dass dem Gehirn nur eine begrenzte Anzahl von Reaktionsmöglichkeiten auf die theoretisch unbegrenzte Zahl von Noxen zur Verfügung stünden. Damit werde jeder unmittelbare Schluss vom Symptom auf die Ursache hinfällig (Bonhoeffer 1910).
Eugen Bleuler Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939; ⊡ Abb. 1.5) versuchte als einer der ganz wenigen Universitätspsychiater, Freuds Psychoanalyse in die klinische Psychiatrie zu integrieren. Später allerdings, nachdem sich zunehmende inhaltliche Diskrepanzen zwischen Bleulers und Freuds Grundüberzeugungen gezeigt hatten, entfernte er sich wieder von dieser Position, wenn auch keineswegs vollständig (Bleuler 1913; Küchenhoff 2001). Nach einer kritischen Zusammenfassung der vorliegenden Forschungsergebnisse schlug Bleuler (1911) vor, nicht mehr, wie Kraepelin, von der Dementia praecox, sondern in Anbetracht der symptomatologischen, möglicherweise aber auch ätiologisch-pathogenetischen Heterogenität dieser Erkrankungen von der »Gruppe der
⊡ Abb. 1.5. Eugen Bleuler (1857–1939) (Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)
Schizophrenien« zu sprechen, ein Vorschlag, der sich weithin durchsetzte. Für die systematische Erfassung psychopathologischer Phänomene bedeutsam wurden Bleulers Unterscheidungen zwischen Grundsymptomen und akzessorischen Symptomen sowie zwischen primären und sekundären Symptomen: Grundsymptome sind bei jeder schizophrenen Erkrankung vorhanden, akzessorische hingegen können, müssen aber nicht hinzutreten. Ganz anders, nämlich ätiologisch, ist die zweite Unterscheidung gedacht: Primäre Symptome resultieren nach Bleuler unmittelbar aus dem von ihm vermuteten neurobiologischen Krankheitsprozess, während die sekundären Symptome bereits psychische Reaktionen des Betroffenen auf die Krankheit darstellen. Richtungweisend wurde auch Bleulers Beitrag zum Verlauf schizophrener Erkrankungen, insoweit er die ausgesprochen pessimistische Kraepelinsche Auffassung vom notwendig schlechten Verlauf der »Dementia praecox« verließ und die Gruppen der teilweise oder sogar vollständig remittierten Patienten beschrieb. Jüngst hat Christian Scharfetter (2006) Bleulers Werk aus psychopathologischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive einer umfassenden und kritischen Würdigung unterzogen. Der Band enthält auch einen psychiatriehistorisch bemerkenswerten Text von Manfred Bleuler (1903–1994), Sohn und Nachfolger Eugen Bleulers in der Leitung der Zürcher Universitätsklinik »Burghölzli«.
1.8
Psychoanalyse und Behaviorismus
Das Forschungsinteresse Sigmund Freuds (1856–1939; ⊡ Abb. 1.6) bezog sich zunächst vorwiegend, später mehr implizit auf neurophysiologische Zusammenhänge (Hirschmüller 1991; Hoffmann-Richter 1994; Miller u. Katz 1989; Sulloway 1983). Nach einer Phase der Zusammenarbeit mit Brücke und Meynert in Wien beeindruckte ihn die in Paris bei J. M. Charcot (1825–1893) erlebte Beeinflussbarkeit seelischer Phänomene, insbesondere
⊡ Abb. 1.6. Sigmund Freud (1856–1939) ((Quelle: Münchener Medizinische Wochenschrift)
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
hysterischer Symptome, durch Suggestion und Hypnose. Zusammen mit J. Breuer (1842–1925) entwickelte Freud in der Folgezeit eine Behandlungsstrategie für hysterische Störungen, die als Vorläuferin für die später beschriebene »psychoanalytische Kur« im engeren Sinne verstanden werden kann.
Theorie der psychoanalytischen Behandlung Deren Kerngedanke ist die Annahme eines unbewussten seelischen Bereichs, der aber starken Einfluss auf das bewusste Seelenleben habe. Dies könne sich v. a. dann negativ auswirken, wenn ungelöste Konflikte, zentraler Punkt der psychoanalytischen Neurosekonzeption, übermächtig werden und durch ihr Drängen an die Oberfläche zu Leidensdruck, zu Symptomen führen. Durch den, wie Freud es nannte, »Königsweg« der Traumdeutung, könne man im Rahmen der psychoanalytischen Behandlung Zugang zu den unbewussten Inhalten bekommen. Durch das Wiedererleben der konflikthaften Momente in der therapeutischen Beziehung zum Analytiker, in der »Übertragung«, durch einen kathartischen Prozess also, könne man den Konflikt bewusst machen und einer Lösung näher bringen bzw. im Idealfall ganz auflösen.
Seelische Instanzen Später ergänzte Freud dieses therapieorientierte Modell durch die auch und gerade auf die ungestörte Psyche bezogene Vorstellung der Existenz unterschiedlicher seelischer Instanzen, des »Es«, das die Instinkte und Triebe beinhalte, des »Über-Ich«, das alle Arten von Normen repräsentiere sowie des »Ich«, das die für das Individuum jeweils erlebens- und handlungsrelevante Schnittstelle darstelle.
Ablehnung durch die akademische Psychiatrie Die zeitgenössische akademische Psychiatrie hat mit wenigen Ausnahmen, etwa Eugen Bleuler, die Psychoanalyse nicht akzeptiert, weder als Therapiemethode noch als Menschenbild. Ein besonders drastisches Beispiel für die bissig-polemische Ablehnung der Psychoanalyse ist der bereits mehrfach erwähnte Münchner Psychiater Emil Kraepelin, der in der Psychoanalyse lediglich eine sich in individueller Beliebigkeit verlierende und dem sexuellen Bereich zu starkes Gewicht beimessende psychologische Spekulation sah. Diese krasse Ablehnung gerade durch biologisch orientierte Autoren ist insoweit bemerkenswert, als Freud sich selbst ja durchaus – und zwar zeitlebens – als Naturwissenschaftler sah. Er hatte wie die meisten forschenden Psychiater der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das charakteristische Fernziel eines physiologischen oder biochemischen Verständnisses seelischer Phänomene. Er kam aber, völlig zu Recht, zu dem Schluss, dass mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln diese Frage nicht zu beantworten sei, es somit zunächst eines psychologischen Zugangs bedürfe.
Psychoanalyse und »romantische Psychiatrie« Es trägt viel zur Unübersichtlichkeit der Literatur zur wissenschaftstheoretischen Einordnung der Psychoanalyse bei, dass zum einen Freuds naturwissenschaftlicher Impetus nicht erkannt oder anerkannt wurde, dass aber zum anderen tatsächlich Parallelen bestehen zwischen dem psychoanalytischen und dem Menschenbild der bereits beschriebenen »romantischen Psychiatrie«. Dies gilt insbesondere für die Betonung der individuellen Lebensgeschichte sowie der affektiven Seite des Seelischen. Immer wieder wurde auf die geistige Verwandtschaft zwischen dem Denken Heinroths und Freuds verwiesen, ja Heinroth und der spätromantische Autor Carl Gustav Carus (1789–1869) gar als – verkannte – Vorläufer der Psychoanalyse bezeichnet.
Diskrepanz durch verschiedene Sprachen Der psychoanalytische Krankheitsbegriff rückte den Gesichtspunkt individueller psychischer Entwicklung, die auf jeder Stufe gehemmt werden oder scheitern könne, in den Vordergrund. Dies schloss aber die Bedeutung somatischer Bedingungsfaktoren keineswegs aus. Die zunehmende Diskrepanz zur akademisch-psychiatrischen Lehrmeinung resultierte nicht zuletzt aus der Tatsache, dass »psychodynamische Sprachen« entstanden, die weder auf der Ebene einzelner Termini noch in bezug auf die vorwiegend entwicklungs- und persönlichkeitspsychologischen Vorannahmen mit einer klinischen Psychiatrie etwa Kraepelinscher Prägung kompatibel erschienen (Hoff 2006 a). Die Nachfolger Kraepelins auf dem Münchner Lehrstuhl, O. Bumke und K. Kolle – beide im Übrigen keineswegs befangen in unkritisch-positiver Beurteilung von Kraepelins Psychiatrieverständnis – setzten dessen Tradition einer weitgehend kompromisslosen Psychoanalysekritik fort. Dabei meldete Bumke (1926) in einer begrifflich ausgefeilten Argumentation nachhaltige Bedenken am Konstrukt des »Unterbewusstseins« an. Diese Arbeit ist gerade für die aktuelle, v. a. von A. Grünbaum (1987) angestoßene Debatte um den wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse von Interesse.
Behaviorismus Die der psychoanalytischen Perspektive in vielerlei Hinsicht entgegengesetzte Position vertrat der von J. Watson zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründete Behaviorismus. Hier steht das beobachtbare Verhalten und dessen Veränderung durch Psychotherapie im Vordergrund und nicht der unbewusste, erst durch Interpretation subjektiv und intersubjektiv zugänglich werdende Konflikt. Watson sah etwa die phobische Störung als konditioniert an, als »gelernt«, und schlug das Verfahren der Desensibilisierung gegenüber dem phobischen Stimulus vor. Weitere wichtige Autoren, die die behavioristische und – um den späteren, im deutschsprachigen Raum eingebürgerten Terminus zu verwenden – verhaltenstherapeutische
17 1.9 ·Psychoipathologie: Karl Jaspers und die »Heidelberger Schule«
Tradition begründeten, waren E. L. Thorndike und B. F. Skinner.
1.9
Psychopathologie: Karl Jaspers und die »Heidelberger Schule«
Erklären und Verstehen Hatten bei Kraepelin die philosophischen Vorannahmen psychiatrischen Handelns noch ein eher unbeachtetes Dasein gefristet, besannen sich andere zeitgenössische Autoren ganz entschieden methodischer und wissenschaftstheoretischer Probleme der Psychiatrie. Dafür wegbereitend war der Umstand, dass die psychiatrische Literatur der Jahrhundertwende die von dem deutschen Philosophen W. Dilthey betonte, sich auf Arbeiten des Historikers Droysen stützende Unterscheidung von Erklären und Verstehen intensiv zu rezipieren begann. Unter den gedanklich dichten Monografien, die sich mit dieser speziellen Thematik, aber auch mit der systematischen Darstellung begrifflicher Grundlagen der gesamten Psychiatrie beschäftigen, sind beispielhaft Karl Jaspers’ »Allgemeine Psychopathologie« (1913), Ernst Kretschmers »Der sensitive Beziehungswahn« (1918) und Arthur Kronfelds »Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis« (1920) zu nennen, so verschieden die 3 Werke sonst auch sein mögen. Nur auf Jaspers’ Buch, das einen besonders starken und langanhaltenden Einfluss auf die wissenschaftliche Diskussion genommen hat (und nimmt), kann hier näher eingegangen werden.
Jaspers Karl Jaspers’ (⊡ Abb. 1.7) Ziel war es, die von ihm als, wie Janzarik (1979) es später nennen sollte, Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie verstandene Psychopathologie auf eine solide methodische Grundlage zu stellen, insbesondere rein spekulativen und dogmatischen Ansätzen ihren Kredit zu entziehen. In seinem Buch beschrieb er zum einen die einzelnen psychopathologischen Phänomene mit großer klinischer Prägnanz, oft ergänzt durch Kasuistiken, zum anderen aber auch die Grundlagen des gesunden Seelenlebens. ⊡ Abb. 1.7. Karl Jaspers (1883–1969) (Quelle: Psychiatrische Klinik der LMU München, Psychiatriehistorische Sammlung)
Nichterfassbarkeit der Ganzheit Er beharrte darauf, dass die Erfassung der Ganzheit des seelisch gesunden oder gestörten Menschen gerade in seiner biografisch gewordenen Einzigartigkeit, seiner Personalität, keiner wissenschaftlichen Methode abschließend möglich sein könne. Eine Methode müsse nicht nur ihre Möglichkeiten, sondern genauso sicher auch ihre Begrenztheit erkennen. Überdehnungen hätten unweigerlich dogmatische Erstarrung zur Folge, was Jaspers anhand verschiedener Typen psychiatrischer Vorurteile meisterhaft exemplifizierte (Hoff 1989 b). Dabei hatte er die als »Hirnmythologien« gebrandmarkte unreflektierte Identifizierung neuroanatomischer oder neurophysiologischer Befunde mit seelischem Erleben ebenso im Auge wie klinisch nicht überzeugende metaphysische Spekulationen über Entstehung und Wesen psychischer Störungen.
Beobachtbarkeit des Seelischen Er hielt daran fest, dass Seelisches nie unmittelbar als solches beobachtet werden kann, wie dies bei vielen physikalischen Naturvorgängen (zumindest in erster Näherung) möglich ist, sondern nur über den Ausdruck des Erlebenden, über dessen Sprache, Mimik und Gestik, kurz in der intersubjektiven Begegnung, auch im künstlerischen Produkt. Von großer Bedeutung wurde seine, über Dilthey hinausgehende Abgrenzung des statischen und genetischen Verstehens vom naturwissenschaftlichen Erklären. Jaspers hat sein Werk mehrfach, zuletzt während des Zweiten Weltkriegs, umfassend überarbeitet und erweitert, ohne dass er an den Grundlagen wesentliche Änderungen vorgenommen hätte. Nicht zu Unrecht sehen viele Autoren in Jaspers’ Buch den eigentlichen Beginn einer methodisch reflektierten psychopathologischen Forschung; es ist einer der wegweisenden psychiatrischen Texte überhaupt. Auf Karl Jaspers’ Bedeutung als Psychiatriehistoriker, Pathograph und Existenzphilosoph kann hier nur hingewiesen werden. Über Jaspers’ kritisch-ablehnende Position gegenüber der Psychoanalyse und über deren kulturhistorische Einordnung informiert Bormuth (2002).
Heidelberger Psychiatrie In der Tradition der Heidelberger Psychiatrie, prägnant repräsentiert im IX. (Schizophrenie-)Band des Bumkeschen Handbuches (1932), wird man noch am ehesten die Fortsetzung von Kraepelins Gedankengut sehen können. So etwa hob W. Gruhle in seinem historischen Beitrag zu diesem Band anerkennend hervor, dass die in der »Kraepelinschen Tradition der reinen Beobachtung« stehende »rein funktionale Betrachtung des Seelenlebens … in der Geschichte der Psychiatrie keine Präcedenz« habe (Gruhle 1932). Diese rein funktionale Psychopathologie (Anm.: der Begriff »funktionale Psychopathologie« wird heute
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
zumeist in einem anderen Sinne gebraucht, s. unten) stelle im Gegensatz zu Bleulers Schizophreniebegriff weit weniger auf den Inhalt (das »So-Sein«) als auf die faktische Existenz des Wahnes (das »Da-Sein«) ab. Trotz aller ausgewogenen und nuancierten Methodendiskussion stellte Gruhle klar, »dass in diesem Bande an der Schizophrenie als einem Destruktionsprozess ebenso wenig gezweifelt wird wie am manisch-depressiven Irresein nicht als einem Symptomenkomplex, sondern als einer Krankheitseinheit« (Gruhle 1932).
Kurt Schneider In dieser Tradition der Heidelberger Psychiatrie steht auch Kurt Schneider (1887–1967; ⊡ Abb. 1.8; Anm.: Um eine Verwechslung mit Carl Schneider, einer der zentralen Figuren in der Psychiatrie des Nationalsozialismus, zu vermeiden, sollte bei Kurt Schneider stets der Vorname mitgenannt werden), ja er stellt selbst einen wesentlichen Teil eben dieser Tradition dar (Huber 1997, Janzarik 1984). Bezüglich der Pathogenese vertrat K. Schneider die in der deutschsprachigen Psychiatrie seit langem fest verankerte Auffassung, dass es sich bei den endogenen Psychosen letztlich um organische Störungen des Zentralnervensystems handle. Dieser Standpunkt wird als »Somatosepostulat« bezeichnet. Aber schon hier hob er, für seinen von Methodenkritik und wissenschaftlichem Purismus geprägten Stil sehr charakteristisch, hervor, dass es sich eben um eine Modellvorstellung, ein Postulat, ein, wie er es nannte, »heuristisches Prinzip«, handle, das andere Entstehungsmodi seelischer, auch psychotischer Störungen keineswegs ausschließe. Er erkannte ausdrücklich »die neben dem Somatogenen und Psychogenen bleibende dritte Denkbarkeit des Metagenen an, ein Ver’irr’en der Seele ohne somatische oder psychologische Ursache«, ohne hierauf allerdings näher einzugehen.
Deskriptive Psychopathologie Methodenkritik und Selbstbeschränkung waren auch die Leitideen von K. Schneiders Hauptwerk »Klinische Psychopathologie«, 1992 in der 14. Auflage erschienen. Dieser Text ist hinsichtlich seiner gedanklichen Stringenz und des Einflusses, der von ihm auf die weitere Diskussion ausging, trotz aller Unterschiede im theoretischen Ansatz ⊡ Abb. 1.8. Kurt Schneider (1887–1967) (Quelle: Psychiatriehistorisches Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie München)
und in der Zielsetzung durchaus mit Jaspers’ »Allgemeine Psychopathologie« vergleichbar. K. Schneider entwarf eine vorwiegend deskriptive, jedoch das Seelenleben gerade nicht atomisierende, sondern den klinisch sinnvollen, verstehenden Gesamtzusammenhang wahrende Psychopathologie. Kennzeichnend ist das Ringen um eine präzise psychopathologische Begrifflichkeit, was u. a. zur Herausarbeitung der »Symptome ersten Ranges« führte, bei deren Vorliegen in Abwesenheit greifbarer hirnorganischer Störung K. Schneider »in aller Bescheidenheit« von Schizophrenie zu sprechen empfahl.
Psychiatrische Diagnosen als wandlungsfähige Konstrukte Psychiatrische Diagnosen waren für ihn alles andere als die bloße Abbildung dessen, was Kraepelin unter »natürlichen Krankheitseinheiten« verstanden hatte. Er sah in ihnen vorläufige psychopathologisch fundierte begriffliche Konstrukte, die sich einem ständigen, durch empirisches Wissen und konzeptuelle Weiterentwicklung gesteuerten Anpassungs- und Erneuerungsprozess zu stellen hätten. Diese – in markantem Gegensatz zu Kraepelins Streben nach Realdefinitionen stehende – nominaldefinitorische Auffassung psychiatrischer Diagnosen sowie die Forderung, für die Psychiatrie möglichst eindeutige und allgemein akzeptierte diagnostische Kriterien zu schaffen, lassen K. Schneider als entscheidenden Vorläufer der heutigen operationalisierten psychiatrischen Diagnostik erscheinen – also der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1991) und des DSM-IV der American Psychiatric Association (APA 2000; s. unten).
1.10
Von der Degenerationslehre zur Rassenhygiene und zur Psychiatrie im Nationalsozialismus
Nachdem am Ende des letzten Abschnitts bereits die Verbindung mit der aktuellen Situation psychiatrischer Forschung hergestellt wurde, ist jetzt ein zeitlicher Schritt zurück erforderlich, um den Hintergrund des dunkelsten Kapitels deutscher Psychiatriegeschichte, der nationalsozialistischen Pervertierung neuropsychiatrischer Theorie und Praxis, deutlich werden zu lassen.
Sozialdarwinistisches Gedankengut Schon lange vor 1933 hatten sich bestimmte rassistische, sozialpolitische und ideologische Auseinandersetzungen sowie Polarisierungen angebahnt. Es gab, worauf bereits eingegangen wurde, seit Ende des 19. Jahrhunderts in allen europäischen Gesellschaften einen breiten Konsens darüber, dass ein Teil der Bevölkerung minderwertig, degeneriert und erblich belastet sei, als sozialer Ballast der
19 1.10 · Von der Degenerationslehre zur Rassenhygiene und zur Psychiatrie im Nationalsozialismus
übrigen Gesellschaft zur Last falle, keinen Nutzwert habe, sich aber mehr als die Eliten vermehre. Dieser eng mit der Degenerationslehre verknüpfte sozialdarwinistische Gedanke führte schließlich auch zu der Überlegung, durch »Auslese« der einen und »Ausmerzung« der anderen Bevölkerungsgruppe die Gesellschaft nachhaltig zu fördern, ja zu »retten«. Der Begriff der »Rassenhygiene« war 1895 von Alfred Ploetz geprägt worden. Zu diesem Umfeld gehört auch der Terminus »Eugenik«, worunter die gesteuerte Fortpflanzung nach erbbiologischen Hypothesen verstanden wurde. Dass sich dieses Gedankengut mit antisemitischem vermischte, mussten die jüdischen Kollegen am eigenen Leibe erfahren: So etwa musste der Genetiker und Psychiater F. J. Kallmann aus Berlin Deutschland verlassen (1936) und gründete am Institute of Psychiatry in New York eine genetische Abteilung.
Kein Konsens unter den Psychiatern Am 1. Januar 1934 trat das bereits am 14. Juli 1933 verabschiedete Erbgesundheitsgesetz in Kraft, auf das noch einzugehen sein wird. Von einer allgemein anerkannten psychiatrischen Systematik konnte trotz der gegenteiligen Thesen der Erbforscher und Rassenhygieniker nicht die Rede sein. Die Erbforschung stand auf schwachen Beinen, insbesondere die diagnostische Zuordnung der Krankheitsbilder. Das Wissen um die vielfältigen Ursachen des angeborenen Schwachsinns war mangelhaft, er wurde damals fälschlicherweise zumeist mit dem erblichen Schwachsinn gleichgesetzt. Bei den zahlreichen Epilepsieformen und -ursachen gab es ähnliche Fehlschlüsse, einmal ganz abgesehen von der brutalen Folgerung, durch »Ausmerze« und Zwangssterilisation dieser und anderer Krankheiten Herr zu werden (Holdorff u. Hoff 1997; Weber 1993). Es gab aus dem psychiatrischen Bereich Widerstände gegen die von den Nationalsozialisten erlassenen Bestimmungen, u. a. von K. Kleist und O. Bumke, indem an den psychiatrischen Abteilungen tunlichst Diagnosen vermieden wurden, die unter die Sterilisationsgesetzgebung fielen, oder indem keine Meldung an die Ämter erfolgte.
Sterilisation, Euthanasie und Menschenversuche Von der freiwilligen Sterilisation, die von vielen in den 1920er Jahren propagiert und die am Anfang der 1930er Jahre als Gesetzesvorlage eingebracht worden war, gingen die Nationalsozialisten auf die Zwangssterilisation und, mit Kriegsbeginn, nahtlos auf die »Euthanasieaktion« über. Was ursprünglich bei unheilbar Kranken den Gedanken an Sterbehilfe aus Mitleid nahelegte, leitete später über in den ganz anderen Aspekt der Tötung von »Minderwertigen«, von »Ballastexistenzen«, die die Gesellschaft nur belasteten, wobei aber der scheinheilige Begriff des »Gnadentodes« beibehalten wurde. Eine Medizin mit
sehr engem biologistischen Selbstverständnis, die den Menschen zum Objekt machte und unter rassistischem Vorzeichen Fremde, Homosexuelle, psychisch Kranke, körperlich und geistig Behinderte und andere vermeintliche Randgruppen zu »Minderwertigen« stempelte, machte dann auch keinen Halt mehr vor Menschenversuchen, die nicht nur in der extremsten Form in den Konzentrationslagern, sondern auch in manchen »normalen Kliniken« in Form von Experimenten am Patienten durchgeführt wurden (Finzen 1996; Lifton 1986; Seidel u. Werner 1991).
Oppositionelle Ärzte Kritische Strömungen gegen derartige extreme Tendenzen waren in der Zeit der Weimarer Republik noch zahlreich. Sie formten sich im Bereich der Ambulatorien, der Vorsorge und Fürsorge, der Sozialhygiene, der Beratungsstellen für Sexualkunde und Geschlechtskrankheiten und in Gruppierungen wie dem Verein sozialistischer Ärzte, der auch zahlreiche jüdische Kollegen wie K. Goldstein angehörten. Dieser oppositionelle Teil der Ärzteschaft hatte ab dem Jahr 1933 keine Möglichkeit der Einflussnahme mehr und wurde ausgeschaltet, verfolgt, vertrieben oder vernichtet (Peters 1992). Auch der Bereich der Psychotherapie, in dem eine biologistische Verkürzung argumentativ schwerer fallen dürfte als im Hinblick auf die Ätiologie und Behandelbarkeit schwer psychotischer Krankheitsverläufe, wurde während des Nationalsozialismus in die »Gleichschaltung« aller medizinischen Disziplinen einbezogen, worüber Cocks (1985) umfassend informiert hat.
Erbgesundheitsgesetz Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« bestimmte, dass alle approbierten Ärzte zur Meldung der folgenden, als Erbkrankheiten bezeichneten Krankheitsbilder verpflichtet waren: »angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres Irresein, erbliche Fallsucht, Huntingtonsche Chorea, erbliche Blindheit, erbliche Taubheit, schwere körperliche Missbildung und schwerer Alkoholismus«. Trotz z. T. erheblicher Widerstände auf seiten der Betroffenen und ihrer Angehörigen wurden nach diesem Gesetz zwischen 1934 und Kriegsende etwa 360.000 Menschen sterilisiert. In Hitlers »Mein Kampf« (Auflage von 1935) wurde auch diese besondere Thematik ganz klar angesprochen: Die Sterilisation sei in derartigen Fällen »die humanste Tat der Menschheit …. Sie wird Millionen von Unglücklichen unverdientes Leiden ersparen …. Der vorübergehende Schmerz eines Jahrhunderts kann und wird Jahrtausende von Leid erlösen.« (S. 279 f.)
Behinderte Kinder Auch Kinder gerieten ins Visier dieser zerstörerischen Ideologie: Im August 1939 verfügte das Reichsinnenmi-
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
nisterium in einem geheimen Erlass die Meldepflicht für Kinder mit schweren Missbildungen und für solche mit Trisomie 21 (»Mongolismus«). Nach Aktenlage – diese bestand in aller Regel nur aus den dürftigen Meldebögen – hatten 3 Gutachter über das weitere Schicksal des jeweiligen Kindes, also auch über seine eventuelle Tötung, zu entscheiden. Von 1940 an wurden etwa 30 »Kinderfachabteilungen« gegründet, in denen nach naturgemäss unsicheren Schätzungen insgesamt 5000 Kinder durch Gaben von Morphium, Barbituraten oder durch Nahrungsentzug vorsätzlich ums Leben gebracht wurden.
nicht strafbar, sondern geradezu geboten, um weiteres individuelles Leid abzuwenden und – dieser Aspekt hat hohes Gewicht – die Gesellschaft von »nutzlosen«, also »lebensunwerten« Mitgliedern zu entlasten. Es hat zu dieser Schrift innerhalb der psychiatrischen Fachwelt der Weimarer Zeit bemerkenswerter-, besser bestürzenderweise keine umfassende Debatte gegeben (Meyer 1988). Heute hingegen wird die kontroverse Diskussion um Leben und Werk Hoches von dieser Thematik geradezu dominiert (Schimmelpenning 1980; Seidler 1986).
Widerstand Ermordung psychisch Kranker und geistig Behinderter Mit Kriegsbeginn ging die Sterilisationswelle fast nahtlos in die nach der Berliner Tiergartenstrasse 4, dem Ort wesentlicher Entscheidungen in der Planungsphase, benannte »T4-Aktion« über. Sie stellt die schlimmste Verstrickung der Neuropsychiatrie in die nationalsozialistischen Verbrechen dar: Nach unterschiedlichen Schätzungen wurden während des »Dritten Reiches«, und hier v. a. 1940 und 1941, zwischen 80.000 und 130.000 psychisch Kranke und geistig Behinderte von ihren Kliniken in spezielle Vernichtungslager transportiert und dort, meist in der Gaskammer, getötet. Im Rahmen der »T4Aktion« waren sämtliche Patienten zu melden, die nicht arbeitsfähig waren oder nur einfache mechanische Tätigkeiten verrichten konnten, weil sie an folgenden Krankheiten litten: Schizophrenie, Epilepsie, senile Erkrankungen, therapierefraktäre Paralyse und andere Lueserkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache, Enzephalitis, Chorea Huntington und vergleichbare neurologische Endzustände und schließlich solche, die sich seit mehr als 5 Jahren dauernd in Anstalten befanden.
Strafrechtliches Konzept des »geistig Toten« Die Nationalsozialisten konnten sich zur Begründung ihres Handelns unter anderem auf ein 1920 erschienenes Buch berufen, das von dem Strafrechtler K. Binding und dem – in ganz anderem, nämlich theoretisch-nosologischen Zusammenhang bereits erwähnten – Psychiater Alfred E. Hoche verfasst worden war und den Titel »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« trug. Hier wird, knapp 2 Jahrzehnte vor den nationalsozialistischen Tötungsaktionen, die These vertreten, dass schwer chronisch Kranke unter bestimmten Bedingungen gar nicht mehr als Menschen, als Personen zu betrachten seien, sondern vielmehr als bereits gestorben, als, wie es im Text heißt, »geistig tot«. Eine solche Un-Person, so der entscheidende Schritt in der Argumentation, könne zwar biologisch getötet werden, doch sei dies keineswegs mit dem strafrechtlichen Tatbestand des Totschlags oder gar des Mordes in Verbindung zu bringen. Eine solche Tötung eines bereits »geistig Toten« sei vielmehr nicht nur
Widerstände gegen die Tötungsaktionen gab es sowohl von Psychiatern, etwa von Walther von Baeyer, Karl Kleist und Kurt Schneider, als auch aus den Reihen der betroffenen Familien, der übrigen Bevölkerung und der Kirchen; hier ist v. a. Kardinal Graf Galen aus Münster zu nennen. Nicht zuletzt aufgrund dieses weder ganz zu unterdrückenden noch zu verheimlichenden Widerstandes wurden im August 1941 die Tötungen in Gaskammern eingestellt, dafür aber die unorganisierte »Euthanasie« im Rahmen pseudowissenschaftlicher Experimente – Hungern, Medikamentengabe, künstlich herbeigeführte schwere Infektionen – fortgesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die EuthanasieObergutachter in den Nürnberger Prozessen vor Gericht gestellt, sofern sie sich nicht durch Selbstmord (de Crinis 1945; Carl Schneider 1946) oder durch Flucht in die anonyme Illegalität (Heyde) der gerichtlichen Verfolgung entzogen hatten.
Notwendigkeit der Forschung Erfreulicherweise ist zu dem dunkelsten Abschnitt deutscher Psychiatriegeschichte, der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in jüngerer Zeit bereits viel Forschungsarbeit geleistet, ja nachgeholt worden. Aber gerade hier bedarf es auch weiterhin der sorgfältigen Analyse der Entwicklung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933 bzw. 1945, v. a. hinsichtlich der Entstehung und Ausdifferenzierung von Degenerationslehre, Sozialdarwinismus und Eugenik. Auch gilt es, in viel größerem Umfang als bisher die Krankenblattarchive der psychiatrischen Kliniken und die Archive anderer Institutionen auf Daten hin zu untersuchen, die ein umfassenderes und präziseres Bild von den historischen Tatsachen entstehen lassen werden.
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Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
Historische Aufarbeitung Die Pervertierung psychiatrischer Theorie und Praxis durch die Nationalsozialisten stellte für die Psychiatrie im Nachkriegsdeutschland eine sehr schwerwiegende Hypo-
21 1.11· Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
thek dar. Zunächst entstand das Bedürfnis, das Geschehene, das später oft mit den Bezeichnungen »unfassbar« und »unverständlich« etikettiert wurde, festzuhalten, also die historischen Fakten zu veröffentlichen und wissenschaftlicher Forschung zugänglich zu machen. Dieser Prozess lief mehr als schleppend an und gewann erst in den letzten Jahrzehnten an Dynamik in Gestalt einer ganzen Reihe von Forschungsprojekten, wissenschaftlichen Symposien und Publikationen. Zum anderen darf aber nicht übersehen werden, dass ganze Forschungsrichtungen, insbesondere die psychiatrische Genetik, auf Jahrzehnte hinaus in prinzipiellen Misskredit gerieten und wissenschaftlich im deutschsprachigen Raum praktisch nicht existierten. Auch dies hat sich in den letzten Jahren geändert, wobei natürlich das Bewusstsein um die historischen Hintergründe auch in der aktuellen Forschung stets präsent bleiben sollte.
Anthropologische Psychiatrie In den 1950er Jahren hatte eine psychiatrische Richtung starken Einfluss, die »anthropologische Psychiatrie«, die sich – ganz im Gegensatz zu vielen früheren Konzepten, die sich eher ungern mit ihren philosophischen Prämissen auseinandersetzten – offen auf eine bestimmte philosophische Theorie, nämlich die Existenzialontologie Martin Heideggers, bezog. Die von Ludwig Binswanger begründete Daseinsanalyse arbeitete den existenzphilosophisch und gerade nicht psychologisch gemeinten Aspekt des Individuellen an Genese, Ausgestaltung und Therapie seelischen Gestörtseins heraus. Hier findet sich bei strikter Ablehnung elementaristischer Psychologie eine Hinwendung zur Ganzheit seelischer Akte und zu deren Struktur. Psychose, v. a. in ihrer wahnhaften Ausgestaltung, ist eine besondere, von einer Einschränkung der Freiheitsgrade im Erleben und Handeln, vom »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit«, von der »Unfähigkeit zum Perspektivenwechsel« gekennzeichnete Störung im Lebensvollzug des Menschen (Binswanger 1965; Blankenburg 1971).
Von der Gestaltpsychologie zur Strukturdynamik In der Psychologie gab es schon eine längere, sich durchaus als empirischen Ansatz verstehende Tradition, die sich ebenfalls entschieden gegen ein elementaristisches Verständnis psychischer Phänomene wandte. Unter dem Schlagwort, das Ganze sei eben mehr als die bloße Summe seiner Teile, ging es hier um eine Perspektive, die einerseits die personale Ganzheit betonte, andererseits aber diese Ganzheit sehr wohl binnendifferenzierte, nun aber gerade nicht in additive Elemente, sondern in komplexe und an den Rändern nicht scharf voneinander abgetrennte Strukturen. Diese ursprünglich aus der Wahrnehmungsforschung stammende »Gestaltpsychologie« gelangte vor allem über das Werk Klaus Conrads (1905–1961)
in die Psychiatrie. Conrad hatte mit einer explizit der Gestaltpsychologie entlehnten Methodik eine neue psychopathologische und verlaufsorientierte Sichtweise der schizophrenen Psychose entwickelt, die dem Fach bis heute zahlreiche Impulse gegeben hat. Sein Kerngedanke war dabei, die gestaltanalytische Methode als »dritten Weg« zwischen die zwar weiterhin wichtigen, aber je zu kurz greifenden klassischen Wege der Deskription einerseits (zu statisch und zu wenig differenziert) und Hermeneutik bzw. Deutung andererseits (zu wenig überprüfbar und zu spekulativ) zu positionieren (Conrad 1958). Ebenfalls gestalt- und strukturpsychologisch fundiert ist der über Jahrzehnte weiterentwickelte psychopathologische Entwurf des Heidelberger Psychiaters Werner Janzarik: Für ihn gestalten sich normale und pathologisch verformte psychische Vorgänge auf zwei Ebenen, der strukturellen und der dynamischen. Dynamik steht dabei vor allem für Affektivität und Antrieb, Struktur für überdauernde Charakteristika der Person, etwa Werthaltung, Persönlichkeitszüge, Interaktionsmuster (Janzarik 1988). In fruchtbarer Weise wurde dieser theoretische Rahmen auf so verschiedene psychopathologische Gebiete wie die psychotischen Syndrome (schizophrener und affektiver Prägung), die Persönlichkeitsstörungen und, diagnosenunabhängig, die Beurteilung der Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Gutachten angewandt. Der ebenso originelle, differenzierte und psychopathologisch noch lange nicht völlig ausgelotete Ansatz der »Strukturdynamik« erschließt sich allerdings schon aus sprachlichen Gründen nicht leicht und steht zudem noch gleichsam quer zu der seit Jahren vorherrschenden Tendenz zu einer besonders einfachen und operationalisierbaren psychiatrischen Terminologie.
»Antipsychiatrie« Charakteristisch für die Sonderstellung von Psychiatrie und Psychotherapie, was die Praxisrelevanz von grundsätzlichen Fragen wie den Krankheits- und Diagnosenbegriff anbetrifft, sind die Entstehung und der nicht unbeträchtliche Einfluss fundamental »antipsychiatrischer« Positionen. Vergleichbare Debatten wird man in anderen medizinischen Disziplinen kaum antreffen. Denn schließlich ging es den theoretisch heterogen argumentierenden Psychiatriekritikern der 1960er und 1970er Jahre um nichts weniger als das »Entlarven« der vermeintlich wissenschaftlich fundierten Krankheitskonzepte der akademischen Psychiatrie als Ausgrenzungsinstrumente der bürgerlichen Gesellschaft gegen Personen, die in ihrer Lebensführung zwar andersartig, »auffällig«, aber aus der Sicht dieser Autoren nicht krank und behandlungsbedürftig waren (Szasz 1972). Keineswegs darf im Übrigen die Antipsychiatrie als skurrile Minderheitenmeinung abgetan werden: Nur zu berechtigt waren nämlich viele ihrer Kritikpunkte mit Blick auf die damalige psychiatrische Versorgungssituation vor allem in den Großkrankenhäu-
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
sern. Und auch aus heutiger Perspektive haben die von der Antipsychiatrie aufgeworfenen Fragen sehr wohl ihre Bedeutung, auch wenn man die radikalen Antworten etwa von Thomas Szasz nicht mittragen mag.
Biologischer Forschungsansatz Der biologische Forschungsansatz erlebte seit den späten 1950er Jahren einen starken und bis heute andauernden Aufschwung, der zunächst durch die Entdeckung der psychotropen Wirkung zahlreicher Substanzen generiert wurde. Zum einen ging es um die wissenschaftliche Erfassung der therapeutischen Wirksamkeit von neuroleptischen, antidepressiven, anxiolytischen und phasenprophylaktischen Substanzen. Zum anderen entstanden aus den Kenntnissen über die vermuteten oder gesicherten pharmakologischen Mechanismen auch Hypothesen zur Ätiologie, v. a. aber zur Pathogenese seelischer, insbesondere psychotischer Störungen. In praxi führte dieser Argumentationsweg, etwa in Gestalt der Dopaminhypothese der Schizophrenie oder der Noradrenalinhypothese der Depression, zur »Diagnostik ex juvantibus«, bei der aus dem Ansprechen oder Nichtansprechen auf ein ganz bestimmtes Psychopharmakon auf die (biologische) Natur der vorliegenden seelischen Störung rückgeschlossen wird (Helmchen 1990). Neben der Evaluation der Psychopharmakawirkungen entstand der biologischen Richtung durch die Entwicklung neuer diagnostischer Techniken ganz wesentlicher Zuwachs: Beispielhaft zu nennen sind die bildgebenden Verfahren, die neurophysiologischen, neurochemischen und molekulargenetischen Forschungsansätze. Auch psychiatriehistorisch interessant ist die von biologischpsychiatrischer Seite jüngst wiederholt erhobene Forderung, sich bei der Planung von Studien nicht mehr von der herkömmlichen, die Kraepelinsche Dichotomie endogener Psychosen widerspiegelnden Nosologie leiten zu lassen, sondern syndrom-, symptom- oder an seelischen Funktionen orientiert zu forschen. Diese Strategie wird auch als »Denosologisierung« der psychiatrischen Forschung bezeichnet und nennt eine »funktionale Psychopathologie« als Ziel, der es um die krankheitsunabhängige Erfassung biologischer Korrelate bestimmter – gestörter oder ungestörter – seelischer Funktionen geht, etwa Affektregulation, kognitive Prozesse und Gedächtnis (Benkert 1990; van Praag et al. 1987).
Neue therapeutische Wege Neben den klassischen, deutlich den historischen Wurzeln gleichenden Psychotherapieverfahren – also in erster Linie der an Freud orientierten Psychoanalyse und der sich auf Grundsätze des Behaviorismus berufenden Verhaltenstherapie – sind in den letzten Jahren vermehrt therapeutische wie Forschungsbemühungen erkennbar, zu integrativen Modellen zu gelangen. Diese nehmen je nach Art und Schweregrad der vorliegenden Störung Aspekte
ganz unterschiedlicher therapeutischer Richtungen auf, etwa im Sinne einer sowohl medikamentösen als auch verhaltensmodifizierenden und das soziale Umfeld einbeziehenden Behandlung von Angststörungen. Für diese Krankheitsgruppe konnte die Überlegenheit eines solchen kombinierten Vorgehens bereits mehrfach schlüssig gezeigt werden. Der Bereich der Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten weit aufgefächert: Als Beispiele seien genannt Gesprächspsychotherapie, kognitive Therapie, Gestalttherapie, Ergotherapie, Musik- und Tanztherapie.
Sozialpsychiatrie Einen weiteren Schwerpunkt psychiatrischer Forschung der letzten Jahrzehnte stellt die Sozialpsychiatrie dar, die sich mit der komplexen Interaktion zwischen dem unmittelbaren, also familiären und beruflichen, und dem weiterem, also dem gesellschaftlichen Umfeld des psychisch Kranken beschäftigt. Dies bezieht sich auf die Genese, die symptomatische Ausgestaltung, das therapeutische Ansprechen und vor allem den Langstreckenverlauf seelischer Störungen unter besonderer Berücksichtigung rehabilitativer Aspekte (Rössler 2004). Einige zentrale, durch die bundesdeutsche Psychiatrie-Enquete (1975) nachhaltig unterstützte sozialpsychiatrische Ziele, etwa eine gemeindenahe Psychiatrie nach dem Prinzip »ambulant vor stationär«, konnten zwischenzeitlich durch die Regionalisierung und die Etablierung integrativer Versorgungsmodelle teilweise realisiert werden.
Operationalisierung Psychopathologie und psychiatrische Diagnostik haben in den letzten Jahren eine starke Tendenz zur Kodifizierung und Operationalisierung erfahren, obwohl komplexere Entwürfe, etwa Janzariks über Jahrzehnte immer weiter ausgearbeiteter und bereits erwähnter strukturdynamischer Ansatz, ein markantes Gegengewicht bilden. Den wissenschaftstheoretischen und -historischen Hintergrund der operationalisierten Diagnosesysteme ICD10 und DSM-IV bildet die »analytische Philosophie« (Anm.: der hier verwandte Begriff »analytisch« hat keine Gemeinsamkeiten mit dem Begriff »psychoanalytisch«), die in Fortsetzung neopositivistischer Traditionen des logischen Empirismus v. a. im angloamerikanischen, seit einiger Zeit aber auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung gefunden hat. Als »Analytische Philosophie des Geistes« (Bieri 1981) stellt diese Richtung das – keineswegs einheitliche – gedankliche Gerüst des facettenreichen Forschungsunternehmens dar, welches zumeist als »cognitive science« bezeichnet wird.
Unterschiedliche psychiatrische »Sprachen« Während die oft mit dem Namen des Philosophen Ludwig Wittgenstein verbundene »linguistische Wende« in der Philosophie lange Zeit keinen wesentlichen Einfluss auf
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die Psychiatrie nahm, setzte etwa ab den 1960er Jahren eine Rückbesinnung auf grundlegende methodische Probleme der psychopathologischen Befunderhebung und Diagnostik ein. Internationale Studien über die Vergleichbarkeit psychiatrischer Diagnosen wirkten erheblich desillusionierend, indem sie die Unvereinbarkeit psychiatrischer »Sprachen« in ihrem ganzen Umfang offenlegten. Die daraus resultierende Unzufriedenheit verband sich mit der praktischen Notwendigkeit, für die therapeutische Evaluation neuentwickelter Psychopharmaka auf Messinstrumente zurückzugreifen, die statistischen Normen genügten. Die »gemeinsame Endstrecke« dieser ineinander verwobenen Entwicklungsstränge ist die aktuelle operationalisierte psychiatrische Diagnostik. In Anlehnung an die Grundvorstellungen der »analytischen Philosophie des Geistes« wird die psychiatrische »Sprache« einer rigorosen Kritik unterzogen. Ambiguitäten und Widersprüche sollen aufgedeckt werden, um durch klare Definitionen von Symptomen, durch Kriterienkataloge und Verknüpfungsregeln, kurz durch operationalisierte Entscheidungsprozesse, eine reliable Diagnostik zu schaffen.
Keine eindimensionalen Erklärungsmodelle. Die Befürch-
Vor- und Nachteile der Operationalisierung
Neurophilosophie. Als markantes und eigenständiges
Eindeutige Vorteile einer solchen Operationalisierung sind die erhöhte Reliabilität, die deskriptive Anwendbarkeit vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher ätiopathogenetischer Hypothesen, die einfache rechnergestützte Auswertbarkeit und nicht zuletzt die Funktion als überschaubares terminologisches Gerüst für die Aus- und Weiterbildung. Aber auch die potenziell problematischen Aspekte eines operationalen, kriteriengeleiteten Vorgehens wird man im Auge behalten müssen, etwa die Tendenz zu sekundärer, aus der Praxis erwachsender »Reifizierung« ursprünglich deskriptiv gemeinter Entitäten, eine implizit unreflektierte Diskreditierung nichtoperationaler Ansätze oder die Gefahr, komplexe psychopathologische Sachverhalte, die sich möglicherweise erst in wiederholter Exploration oder gar völlig außerhalb derselben erschließen, auf »noch am ehesten passende« operationale Kriterien zu reduzieren oder, da kriteriologisch kaum fassbar, für wissenschaftlich unwesentlich zu halten. So aber würde Psychopathologie über Gebühr eingeengt und vereinfacht (Sass 1990; Schwartz u. Wiggins 1986).
Beispiel für das soeben erwähnte neue Interesse an theoretischen Fragen kann das Schlagwort »Neurophilosophie« gelten: In den letzten Jahrzehnen entstand eine bemerkenswerte Koalition zwischen den empirischen Neurowissenschaften einerseits und der »Analytischen Philosophie des Geistes« andererseits, eben die Neurophilosophie. Die analytische Philosophie des Geistes wiederum war um einiges früher im 20. Jahrhundert aus der Unzufriedenheit mit den klassischen dualistischen Theorien zum Leib-Seele-Problem entstanden und forderte, vor einer Feststellung von Tatsachen oder gar Wahrheiten zunächst einmal die Sprache zu untersuchen, in der diese Feststellungen getroffen werden. Anders ausgedrückt: Zunächst kommt die Fokussierung auf die Aussagen über ein Phänomen und erst dann auf das Phänomen selbst. Dieser Grundgedanke wird in der Philosophiegeschichte meist als »Linguistische Wende« (»Linguistic Turn«) bezeichnet. Für die Psychiatrie interessante Aspekte dieser sehr facettenreichen Debatte drehen sich um den Funktionalismus (z. B. Davidson 1980; Fodor 1981), die Intentionalität (Dennett 1987; Searle 1983), um qualitative seelische Phänomene (»Qualia«; Kripke 1980; Nagel 1974), um den besonders radikalen eliminativen Materialismus (Churchland 1986) und um die Emergenzbehauptung (Popper u. Eccles 1977; Hastedt 1988; Carrier u. Mittelstrass 1989). Nun sind dies alles andere als praxisferne philosophische Überlegungen. Vielmehr sind sie – neben den klassischen philosophischen Positionen – wesentliche Bausteine für ein zeitgemäßes Selbstverständnis der Psychiatrie zwischen Neurowissenschaft, Sozialwissenschaft und Sub-
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Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich in Fortsetzung sowohl der älteren Psychiatriegeschichte als auch der Entwicklungen nach 1970 eine Reihe von wichtigen und kontroversen Debatten ergeben. Wesentliche Beispiele sind nachfolgend aufgeführt.
tungen mancher Autoren, wissenschaftstheoretische Themen könnten in der Psychiatrie unter dem Eindruck der rasant anwachsenden empirischen Daten immer mehr an den Rand gedrängt werden, scheinen sich nicht zu bewahrheiten. Im Gegenteil lässt sich in den letzten Jahren eine verstärkte Bereitschaft erkennen, den theoretischen Rahmen des klinischen wie wissenschaftlichen Faches Psychiatrie auf dem Hintergrund jüngerer Forschungsergebnisse neu zu überdenken. Mittlerweile besteht weitgehend Konsens dahingehend, dass eindimensionale Erklärungsmodelle für psychische Störungen unangemessen sind, ja sein müssen. Aber auch die Tragfähigkeit des biopsychosozialen Modells als größtem gemeinsamen Nenner der unterschiedlichsten psychiatrischen Richtungen wird kritisch diskutiert. Die entscheidende Frage dabei ist, wie man verhindert, dass dieses auf den ersten Blick überzeugende Modell zu einem bloß oberflächlichen Kompromiss wird, der keine kreativen Impulse für Forschung und Praxis mehr zu setzen vermag und im schlimmsten Fall sogar dogmatische Einzelpositionen unfreiwillig wieder erstarken lässt (Ghaemi 2006).
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
jektivität (Northoff et al. 2006; Synofzik et al. 2004). Noch konkreter (und kontroverser) wird es, wenn so grundlegende Konzepte wie die Entscheidungsfreiheit, personale Autonomie und Verantwortung des Menschen auf dem Hintergrund moderner Hirnforschung neurophilosophisch hinterfragt, mitunter auch negiert werden. Beispielhaft ist hier das vieldiskutierte »neurowissenschaftliche Manifest« von Elger et al. (2004) zu nennen. Stärkung der Patientenrolle und -verantwortung. Ange-
stoßen, wenn auch sicherlich nicht erfunden von der antipsychiatrischen Kritik der 1960er und 1970er Jahre, wird die Rollendistribution von Arzt und psychiatrischem Patienten zum Gegenstand von differenzierten (also nicht nur von platt-polemischen) Diskussionen. Analog allen anderen medizinischen Disziplinen gewinnt nun auch in der Psychiatrie der Gedanke des »empowerment« an Bedeutung, also der Stärkung der Patientenrolle allgemein, speziell aber auch der Patientenverantwortung durch aktive Einbeziehung der Betroffenen in Therapieplanung und -durchführung. Dies beinhaltet eine kritische Bestandsaufnahme des Verhältnisses von Psychiatrie und Zwang ebenso wie den Abschied vom oft unreflektierten ärztlichen Paternalismus früherer Zeiten. Ein besonders interessanter, noch nicht hinreichend ausgeleuchteter Aspekt im Spannungsfeld von Paternalismus und Patientenautonomie ist die Erkenntnis, dass es mit der bloßen »Übergabe« der Letztverantwortung an den Patienten im Sinne einer zu kurz gedachten gemeinsamen klinischen Entscheidungsfindung (»shared clinical decision making«) nicht getan sein kann. Vielmehr muss die spezielle Situation der psychisch kranken Person berücksichtigt werden, deren kognitive, affektive und Bewertungskompetenzen oft ja gerade durch die Erkrankung selbst eingeschränkt, wenn auch nur selten völlig aufgehoben sind. Ethische Maximen müssen hier einen hohen und psychiatriespezifischen Differenzierungsgrad erreichen. Dieses hochgesteckte Ziel wird allerdings nicht nur mit formalen (juristischen) oder sozialwissenschaftlichen Mitteln zu erreichen sein, sondern erfordert den systematischen Einbezug psychopathologischen Wissens. Stellenwert der Psychopathologie. Dies leitet über zu der
Frage, welcher Stellenwert der Psychopathologie in der Weiterentwicklung der Psychiatrie zukommen wird. Neben vielen eher pessimistischen Einschätzungen seit etwa 1970 wird heute auch wieder auf die Option eines erweiterten Verständnisses von Psychopathologie verwiesen. Dieses könnte günstigstenfalls sogar ihrem früheren Anspruch, Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie zu sein, wieder Gehör verschaffen. Allerdings müsste eine solche Psychopathologie nicht nur eine operationale Deskription der Phänomene bereitstellen, sondern auch eine »offene« Deskription, die einzelfallorientiert psychopathologische Sachverhalte zwischen den bzw. jenseits der Krite-
rienkataloge erfasst. Ein kritisches Methodenbewusstsein hätte integraler Bestandteil der Psychopathologie zu sein. Und diese müsste das notwendig schwierige und interdisziplinäre methodische Umfeld, in dem sie sich nun einmal bewegt, stets auch unter dem Gesichtspunkt der Grenzen der jeweiligen wissenschaftlichen Methode prüfen. Schließlich sollte eine zukünftige Psychopathologie in der psychiatrischen Ideengeschichte verankert sein und die grundsätzlichen Fragen unseres Faches bewusst so lange wie nötig offen halten. Gemeint sind etwa das Leib-Seeleund das Subjekt-Objekt-Problem sowie der Status von Personalität und hier vor allem von personaler Verantwortung (verkürzend und irreführend oft »Problem des freien Willens« genannt). Ein solches Offenhalten ist nun gerade nicht Ausdruck unentschlossenen Zögerns, sondern des Respekts vor einer noch nicht definitiv entscheidbaren zentralen Frage. Derartige Überlegungen zur Psychopathologie sind nun durchaus praxisrelevant für die gesamte Psychiatrie. Denn diese muss sich gerade in ihrer aktuellen angefochtenen Lage nicht nur ihrer besonderen gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein, sondern auch das Spannungsfeld der neurowissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen, subjektzentrierten und neuerdings neurophilosophischen Perspektiven nicht nur akzeptieren, sondern aktiv mitgestalten. In diesem für die Zukunft der Psychiatrie entscheidenden Prozess könnte die Psychopathologie in der hier umrissenen Gestalt die Funktion einer Richtschnur übernehmen. Dies freilich ist ein sehr hoher Anspruch, den es erst noch einzulösen gilt (Hoff 2006 b, 2006 c). Im selben Kontext steht eine Initiative der World Psychiatric Association (WPA), die ein personzentriertes Verständnis psychischer Störungen anstrebt (IPPP; International Program for Psychiatry of the Person). Auch hier spielt die Psychopathologie eine wesentliche Rolle (Mezzich 2006). Psychiatriegeschichte. Als letztes Beispiel sei das Fach
Psychiatriegeschichte selbst erwähnt. Der hier zu beobachtende Prozess zunehmender Professionalisierung äußert sich nicht nur in konkreten Forschungsprojekten innerhalb der engen Grenzen einzelner psychiatrischer Institutionen, sondern auch in erfolgreichen Bemühungen um internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit (Engstrom 2006; Hoff et al. 2006).
1.13
Zusammenfassende Schlussbetrachtung
Es mag unzeitgemäß wirken, so kurz nach der »Dekade des Gehirns« auf die genuine Bedeutung der Psychiatriegeschichte hinzuweisen, und doch ist es nötig. Denn das Selbstverständnis der Psychiatrie bleibt theoretisch wie
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praktisch, in Forschung und Klinik, ebenso unübersichtlich wie die zahlreichen konkurrierenden psychiatrischen Forschungs- und Behandlungskonzepte. Ob man nun bloss von postmoderner Theorienvielfalt – manche sagen, weniger freundlich: postmoderner Beliebigkeit – sprechen will oder eine Identitätskrise des Faches diagnostiziert, bleibt letztlich irrelevant. Entscheidend ist, dass die grundsätzlichen Fragen, was denn Psychiatrie, was psychische Gesundheit und Krankheit, was Diagnose und Therapie seien, ganz unabhängig vom jeweiligen wissenschaftstheoretischen Standpunkt eines Autors nicht ignoriert und nur unter Einbeziehung und Nutzbarmachung des bestehenden und in Zukunft zu erarbeitenden Wissens über ihre Geschichte beantwortet werden können. Die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte der Psychiatrie, wie sie hier in den Grundzügen dargestellt worden ist, kann den Nachweis führen, wie sehr jede psychiatrische Konzeption – sei ihr Selbstverständnis realwissenschaftlich-naturalistisch, deskriptiv, hermeneutisch, anthropologisch oder sozialwissenschaftlich – notwendigerweise mit ganz bestimmten theoretischen Vorannahmen, v. a. zum Menschenbild, verknüpft ist. Genau dies – die ideengeschichtliche Perspektive in praktischer Absicht – macht den eigentlichen Wert psychiatriehistorischen Arbeitens für den heutigen Psychiater in Klinik, Praxis und Forschung aus. Erst durch die überzeugende wissenschaftliche Durchdringung der beiden Schwerpunkte Institutionsgeschichte und Ideengeschichte wird die psychiatriehistorische Forschung als das aktuelle und praxisrelevante Arbeitsgebiet wahrgenommen werden können, das sie aufgrund ihres Forschungsgegenstandes ist.
Literatur (Wegen des umfassenden Themas kann hier nur eine kleine Auswahl wiedergegeben werden; aus diesem Grund konnte auch die sonst übliche eindeutige Zuordnung von Literaturzitaten und Textstellen nicht konsequent durchgeführt werden.)
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Kapitel 1 · Geschichte der Psychiatrie
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1
2 2 Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie W. Gaebel, J. Zielasek
2.1
Standortbestimmung ätiopathogenetischer Konzepte – 30
2.2
2.2.2 2.2.3
Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie – 30 Allgemeine Charakteristik von Krankheits-/Gesundheitsmodellen – 31 Psychische Gesundheit – 33 Psychische Krankheit – 35
2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
Ätiopathogenese – 39 Ätiologische Grundkonzepte – 39 Pathogenetische Grundkonzepte – 40 Integrative Modelle – 41 Modulare Modelle – 43
2.2.1
2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4
Dimensionen der Störungsdiagnostik – 44 Verlaufsdiagnostik – 44 Psychopathologische Funktionsdiagnostik – 45 Soziale Funktionsdiagnostik – 47 Biologische Funktionsdiagnostik – 48
2.5 2.5.1 2.5.2
Forschungskonsequenzen – 49 Terminologischer Exkurs – 49 Forschungsstrategien – 50
2.6
Ausblick
– 52
Literatur
– 53
> > Psychische Krankheit ist kein Mythos, sondern – jenseits kultureller, politischer und weltanschaulicher Perspektiven – nachweisliche Realität. In ihrem Übergangsbereich sind psychische Krankheit und Gesundheit nicht scharf abgrenzbar, definitorisch sind sie aufeinander bezogen. Psychische Krankheit wird in ihren Erscheinungs- und Verlaufsformen, ihren Ursachen und Bedingungen mehrdimensional konzipiert und diagnostiziert. Pathobiologische, -psychologische und -soziale Aspekte sind komplementär, objektive Indikatoren allerdings teilweise noch unzureichend entwickelt. Eindimensionale oder monokausale Theoriebildung ist überholt; in der Forschung ist zwecks Hypothesenprüfung oft ein reduktionistischer Ansatz, in der klinischen Praxis jedoch durchgehend eine integrative Sichtweise erforderlich. Grundsätzlich ist eine funktionale, auf normale Funktionsweisen und ihre Störungen ausgerichtete Betrachtungsweise anzustreben, die deskriptive Operationalisierungen moderner Klassifikationssysteme ergänzt und rein nosologische Konzeptionen kontrastiert. Valide, empirisch geprüfte oder prüfbare ätiopathogenetische Rahmenkonzepte und Krankheitsmodelle sind die Voraussetzung zur Entwicklung und Anwendung rationaler Therapie. Als allgemeines Modell zur integrativen Konzeptualisierung von Ätiopathogenese, Disposition, auslösenden, aufrechterhaltenden und chronifizierenden sowie protektiven und therapeutischen Faktoren für Krankheitsmanifestation und Verlauf kann heute das Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell gelten. Es besitzt heuristischen Wert für die individuelle Psychoedukation und Therapieplanung wie für die Ursachen-/Bedingungs- und Therapieforschung. Psychiatrische Forschung ist – in einem klar bestimmten begrifflichen Feld und unter Berücksichtigung strategischer wie methodischer Erfordernisse – multidisziplinär orientiert. Dies rückt die Psychiatrie – im Kontext eines naturwissenschaftlich orientierten Weltbildes – näher an Psychologie, Sozialwissenschaften und Medizin; letzteres ist auch ein Beitrag zur immer noch unvollständigen sozialen Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken.
30
Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
2.1
2
Standortbestimmung ätiopathogenetischer Konzepte
Grundlage einer rationalen Therapie in der Psychiatrie müssen – wie auch sonst in der Medizin – klare ätiologische und pathogenetische Vorstellungen sein. Eine in diesem Sinne valide Krankheitstheorie mit entsprechenden Modellvorstellungen sollte Basis einer kohärenten Therapietheorie sein, aus der nicht nur allgemeine, sondern störungsspezifische therapeutische Handlungsanweisungen ableitbar sind, deren Einsatz zu einer spezifischen und wissenschaftlich überprüfbaren Wirkung führt. Aus in diesem Sinne gültigen Krankheitsmodellen müssen aber auch Aussagen über den Übergangsbereich zwischen Krankheit und Gesundheit ableitbar sein. In dieser Anwendungsbreite kommt derartigen Modellen eine Bedeutung über die therapeutische Nutzanwendung hinaus zu. Sie dienen dem Selbstverständnis der in der Psychiatrie Tätigen, der interprofessionellen und Arzt-Patient-Verständigung, der Öffentlichkeitsarbeit, der Lehre, der Forschung. Derart umfassende Modelle liegen bisher erst in Ansätzen vor. Allerdings vollzieht sich eine Entwicklung hin zu integrativen Modellen, die verschiedene Aspekte und Perspektiven integrieren und auf diese Weise unfruchtbare Dualismen zu überwinden suchen. Sie sind in ihrer Komplexität zwar schwieriger zu evaluieren, kommen aber dem nahe, was in der therapeutischen Praxis ohnehin unverzichtbar ist: die Berücksichtigung verschiedener Perspektiven, um dem Kranken in den verschiedenen Dimensionen seines Krankseins wie seiner Person gerecht zu werden.
2.2
Krankheitsund Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie
Krankheit und Gesundheit sind nicht scharf abgrenzbar – dies gilt besonders für die Psychiatrie. Ein Blick in die Geschichte der Psychiatrie, aber auch ein Kulturvergleich, zeigen (Ackerknecht 1985), dass Krankheitskonzeptionen mit den politischen, kulturellen und weltanschaulichen Normen und Werten einer historischen Epoche oder einer Gesellschaftsform variieren. Daraus ist abgeleitet worden, die Psychiatrie schaffe sich erst durch Etikettierung ihre Klientel, die sie zu heilen vorgebe. Dieser Vorwurf, der in der sog. »Labeling-Theorie« der Antipsychiatriebewegung kulminierte, ist wissenschaftlich nicht haltbar (van Praag 1978).
Andererseits sind die Gefahren eines politischen Missbrauchs der Psychiatrie zur Ausgrenzung missliebiger Individuen oder Gruppen auch heute nicht von der Hand zu weisen. Grundsätzlich hat die kritische Auseinandersetzung mit der ordnungspolizeilichen Funktion der Psychiatrie zu einer Sensibilisierung für die Gefahren sozialer Stigmatisierung beigetragen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, »dass wahrscheinlich hinter der Vielfalt der Symptome in allen Gesellschaften dieselbe biologische Krankhaftigkeit, eine absolute Abnormalität, steckt. Die Schwierigkeit besteht nur darin, dass uns für die verbreitetsten Psychosen und Neurosen solche absoluten biologischen Kriterien fehlen, und wir Geisteskrankheiten darum in der Hauptsache nur anhand von Symptomen und der grundlegenden Unfähigkeit zur Einordnung diagnostizieren können« (Ackerknecht 1985).
Ähnlich äußert sich Berrios (1994): »The demonstration of culture-related variations in the presentation of a symptom, however, does not necessarily mean that this has no biologic basis or that, if it has, it is irrelevant to its understanding.« (Der Nachweis kulturabhängiger Unterschiede bei der Präsentation eines Symptoms bedeutet nicht zwingend, dass es keine biologische Basis hat oder dass diese, sofern vorhanden, für sein Verstehen irrelevant ist). Diese Aussagen sind insofern zu relativieren, als z. B. ein abnorm hoher Blutdruck nicht per se aufgrund einer »absoluten« Norm »zu hoch« ist, sondern weil diese Devianz empirisch mit bestimmten Gesundheitsrisiken verknüpft ist (van Praag 1978). Die Definition von »krank« erfordert eine Vorstellung darüber, was »gesund« ist – und umgekehrt. Insofern ergibt sich eine wechselseitige Konzeptualisierung, die allerdings nicht in Zirkelschlüsse münden darf: krank ist, was nicht gesund ist – und vice versa. Zirkuläre Definitionen lassen sich nur vermeiden, wenn konkret auf eine definierte »Lebensfunktion« eingegrenzt wird, deren »physiologische« Gesetzmäßigkeit bekannt ist, so dass sich Abweichungen der »Normalfunktion« quantitativ und/oder qualitativ beschreiben und für eine Definition der »Pathofunktion« verwenden lassen. Funktionsstörungen in der Psychiatrie sind oft identisch mit Handlungsstörungen: »In physical medicine … where scientifically derived disease-theories are important, failure of function is a prominent concept … But in psychiatry the concept of failure of action, though not always recognizable for what it is, is, in many contexts, at least as prominent as that of failure of function … Function and action, although distinct concepts, are of course not unrelated« (Fulford 1991). (Übersetzung: »In der somatischen Medizin, … in der wissenschaftlich gewonnene Krankheitstheorien wichtig sind, ist die Funktionsstörung ein vorherrschendes Konzept … In der Psychiatrie ist das Konzept der Handlungsstörung, wenngleich nicht immer als solche erkennbar, mindestens so bedeutsam wie das der Funktionsstörung … Funktion und Handlung, wenngleich unterschiedliche Konzepte, sind natürlich nicht unabhängig«.)
31 2.2 · Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie
Der Zusammenhang erklärt sich daraus, dass Handlungsstörungen auch als Funktionsstörungen eines »Handlungsapparats« konzipiert werden können; die konzeptuelle Unterscheidung von »Nichtfunktionieren« und »Nichtkönnen« (Blankenburg 1989) hat allerdings auch ethische Implikationen (Fulford 1991). Wo Indikatoren für »gesund« und »krank« vorliegen, ist eine Abgrenzung empirisch-statistisch möglich, sofern eine normative Grenzziehung unter Angabe eines gewissen Toleranzbereichs erfolgt ist. Das heißt, »gesund« und »krank« sind in der Natur nicht einfach als diskrete Merkmale vorfindbar, sondern sie müssen auf der Grundlage verfügbarer Indikatoren operational definiert werden. Dabei gibt es »Grenzfälle« oder subklinische »Übergangsformen«, deren korrekte Zuordnung oft erst nach einer längeren Verlaufsbeobachtung möglich ist.
ein störungsübergreifendes psychobiologisches Funktionsmodell erforderlich. Die notwendigerweise hohe Komplexität eines derartigen Modells und der noch ungenügende wissenschaftliche Kenntnisstand stehen allerdings einer Ausformulierung derzeit entgegen. Umschriebene Modelle und Forschungsansätze sind zu bevorzugen, wenn unter Kontrolle von »Störvariablen« falsifizierbare Hypothesen geprüft werden sollen. Allerdings darf der Vorteil der experimentellen Überschaubarkeit auf Dauer nicht zu Lasten einer eingeschränkten theoretischen Perspektive und klinischen Repräsentanz gehen (vgl. Lipowski 1986). In der wissenschaftlichen Theoriebildung ist eine integrative Sichtweise unverzichtbar, wenn sich Forschung nicht dauerhaft im Detail verlieren, sondern klinisch relevant werden soll.
Wissenschaftstheoretische Grundlagen 2.2.1
Allgemeine Charakteristik von Krankheits-/Gesundheitsmodellen
Subjektive bzw. implizite Krankheitsmodelle Allgemein kann zwischen wissenschaftlichen (expliziten) und subjektiven (impliziten) Modellen unterschieden werden. Die Relevanz subjektiver bzw. impliziter Modelle für den Krankheits- und Behandlungsverlauf darf nicht unterschätzt werden. Laientheoretische Krankheitsmodelle bei Patienten und Angehörigen können (therapie)verlaufsbeeinflussende Bedeutung gewinnen, indem sie einerseits in der Krankheitsverarbeitung, andererseits in der Therapiemotivation und Lebensführung mehr oder weniger günstige Erlebens- und Verhaltensmuster beisteuern. Sie sind daher im diagnostischen Prozess zu berücksichtigen und in die Behandlungsplanung und -gestaltung einzubeziehen. Sie sind darüber hinaus aber auch von theoretischem Interesse, insofern als ihre genauere Analyse Einsichten in verlaufsstabilisierende wie -destabilisierende psychologische Einflussfaktoren geben kann, die therapeutisch systematischer zu nutzen wären.
Die Suche insbesondere nach den biologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen impliziert auch die Frage nach dem erkenntnistheoretischen Rahmenkonzept zum Leib-Seele-Problem (»mind-brain«), das diesem Forschungsansatz zugrundeliegt. Die Problematik gründet u. a. darin, dass sich ein wesentlicher Teil der Symptome bzw. Syndrome psychischer Störungen auf der Ebene der für den Beobachter nur indirekt zugänglichen Subjektivität des individuellen Seelenlebens abspielt, andererseits das Gehirn frühzeitig als »Seelenorgan« erkannt wurde und demnach psychische Symptome mit gestörten Hirnfunktionen in Einklang zu bringen waren.
Historische Entwicklung Historisch lassen sich im Wesentlichen 4 grundlegende Theorien unterscheiden (Goodman 1991). Psychophysischer Parallelismus. Nach dem von Leibniz
begründeten psychophysischen Parallelismus sind Körper und Seele/Geist grundsätzlich verschiedene Seinsformen, die sich nicht beeinflussen.
Wissenschaftliche bzw. explizite Modelle
Psychophysischer Dualismus. Die als psychophysischer
Wissenschaftliche Modelle werden unterteilt in: krankheits- bzw. störungsorientierte und gesundheitsorientierte Konzepte.
Dualismus bezeichnete Auffassung Descartes’ postuliert demgegenüber eine Interaktion und gegenseitige Beeinflussung von Psyche und Physis, die aber unterschiedlicher Natur sind. Descartes sah mentale Vorgänge als Ausdruck der göttlichen Natur, die dem Menschen in unteilbarer Einheit innewohnt und nicht mit wissenschaftlichen Methoden untersuchbar ist. Die nach seiner Vorstellung in der Epiphyse lokalisierten mentalen Prozesse sollten einen Körper steuern, der gleich einer Maschine funktioniert und dessen Prinzipien wissenschaftlichen Methoden zugänglich sein sollten. Die dualistische Sichtweise ist historisch gesehen für die Entwicklung der Naturwissenschaften insofern fruchtbar gewesen, als sie die isolierte wissenschaftliche Betrachtung des menschlichen Orga-
In der Regel lassen sich aus gesundheitsorientierten Modellen keine Vorhersagen über krankhafte Abweichungen treffen, während störungsorientierte Modelle selten klare Gesundheitskonzepte aufweisen (Tamm 1993). Andererseits fokussieren gesundheitsorientierte Modelle insbesondere auf protektive Faktoren und sind damit hinsichtlich präventiver Konzepte von Bedeutung. Um die komplementären Prozesse Gesundheit und Krankheit konzeptuell integrieren und ihren mannigfaltigen Überschneidungen gerecht werden zu können, wäre
2
32
Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
nismus unter Ausklammerung des Leib-Seele-Problems ermöglichte.
2
Materialismus. Die Theorie des Materialismus nach Hob-
bes hat 3 Arten des Verständnisses mentaler Phänomene hervorgebracht, wonach mentale Prozesse auf Physisches reduzierbar und vollständig durch zugrundeliegende physische Prozesse erklärbar sind, Epiphänomene, d. h. sekundäre bzw. »zufällige« Effekte darstellen, oder sich aus der Interaktion physischer Prozesse ergeben. Identitätslehre. Als vierter Ansatz zur Lösung des Leib-
Seele-Problems ist die Identitätslehre nach Spinoza zu nennen. Danach sind Gehirnprozesse und mentale Zustände ein und dasselbe bzw. unterschiedliche Weisen des Verständnisses derselben Sache. Der monistische Standpunkt vermeidet das Leib-Seele-Problem, da es sich unter dieser Prämisse gar nicht erst stellt. Die auf philosophischer Ebene letztlich unbefriedigende Lösung des Leib-Seele-Problems stellt allerdings kein prinzipielles Hindernis für die Entwicklung ätiopathogenetischer Modelle dar. Zunehmend setzt sich die Einsicht durch (Davidson 1980; Searle 1984; Quine 1987; Lewis 1989), dass in diesem Problem 2 verschiedene Probleme enthalten sind: das unlösbare (sprach-)philosophische Problem der Inkommensurabilität (Unvergleichbarkeit) zwischen 2 konzeptuellen Ebenen (einer mentalistischen und einer die somatischen Bedingungen repräsentierenden Sprachebene) und das bearbeitbare und lösbare empirische Problem der »Realisierung« psychischer Phänomene in neurobiologisch definierten Systemen. Die Subjektivität mentaler Phänomene stellt für die empirische Seite des Problems kein grundsätzliches Hindernis dar, sofern eine konzeptuelle Konfundierung mentaler und somatischer Termini strikt vermieden (Goodman 1991) und eine intersubjektive Verifizierung mentaler Gegebenheiten angestrengt wird (Hempel 1965). In diesem Zusammenhang wird häufig die Frage nach der Kompatibilität der Perspektiven von 1. und 3. Person aufgeworfen. In Ablehnung eines ontologisch-reduktionistischen Ansatzes (Searle 2004) wird hier die Position vertreten, dass in Diagnostik und Therapie psychischer Störungen Erlebensinhalte aus der subjektiven 1. PersonPerspektive über Zwischenschritte einer interaktionell vermittelten intersubjektiven 2. Person-Perspektive gemeinsam in den objektiven Bezugsrahmen einer 3. Person-Perspektive eingeordnet und damit gestörte Erlebensformen prinzipiell auch einer hirnphysiologischen Betrachtung zugänglich gemacht werden können. Biographisches Verstehen der Gründe und Motivlagen bestimmter Erlebens- und Verhaltensweisen und deren metapsychologische Einordnung finden dabei ebenso
Anwendung, wie kausal-orientiertes Erklären des formalen Auftretens bestimmter Symptombildungen auf der Ebene involvierter Hirnmechanismen. Ohne Intersubjektivität des Verstehens kann es, um mit Habermas (2004) zu sprechen, keine Objektivität des Wissens geben.
Anomaler bzw. pragmatischer Monismus Die als »anomaler«, nicht durchgehend gesetzmäßigen psychophysischen Zusammenhängen genügender (vgl. Davidson 1980) oder »pragmatischer« (Pöppel 1988) Monismus bezeichnete wissenschaftstheoretische Grundposition biologisch-psychiatrischer Forschung betrachtet psychische Phänomene und die sie fundierenden neuronalen Funktionen unter einem phylogenetisch und ontogenetisch evolutionären Blickwinkel. Sie impliziert eine Erweiterung des Kausalitätsprinzips insofern, als hierunter neben der sukzessiven Ursache-Wirkungs-Beziehung auch die simultane »Realisierung« einer Struktur auf der Makroebene durch ein komplexes System auf der Mikroebene subsumiert wird. Für die Formulierung gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen beiden Funktionsebenen stellt die Objektivierung psychischer Phänomene eine wichtige Voraussetzung dar, die die Kompatibilität mit der neurobiologischen Beschreibungsebene gewährleistet und die Prüfung von Hypothesen über regelhafte Zusammenhänge zwischen definierten Funktionszuständen auf beiden Ebenen erlaubt. Die Sonderstellung der Psychiatrie in der Medizin ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich mehr als andere klinische Fächer im konzeptuell-methodologischen Dualismus nomothetischer und ideographischer Erfahrung bewegt (Heimann 1991). Im naturwissenschaftlichen Forschungskontext ist die Anwendung einer objektiven Beobachtungssprache allerdings unverzichtbar. Mentale Vorgänge, die in dieser Sprache nicht abbildbar sind, bleiben der biologischen Forschung vorerst verschlossen. Dieser notwendige Reduktionismus ist legitim, solange er auf den genannten Anwendungsbereich beschränkt bleibt: »We need to practise reductionism in research, but endorse the integrative approach to theory, clinical work, and teaching« (Lipowski 1986). (In der Forschung ist ein reduktionistischer Ansatz gerechtfertigt, in Theorie, Klinik und Lehre hingegen muss ein integrativer Zugang gewährleistet sein.)
Mehrdimensionales biopsychosoziales Krankheitsmodell In der Psychiatrie haben systemtheoretische Überlegungen (von Bertalanffy 1974) zur Ablösung eines eindimensionalen biomedizinischen durch ein mehrdimensionales biopsychosoziales Krankheitsmodell (Engel 1980) geführt, anhand dessen die Bedingungen und Manifestationsformen von Krankheit (und Gesundheit) auf ver-
33 2.2 · Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie
schiedenen Ebenen konzeptualisiert und analysiert werden können (⊡ Abb. 2.1). Eine »biologisch« orientierte Psychiatrie erhebt in diesem Kontext den Anspruch, »Forschungsergebnisse aus allen Bereichen der Psychiatrie zu subsumieren, die mit naturwissenschaftlich-biologischen Methoden gewonnen werden« (Hippius u. Matussek 1978), nicht hingegen, dass psychische Störungen als primäre Hirnkrankheiten zu konzipieren seien (vgl. McLaren 1992). Ein multifaktorielles systemisches Funktionsmodell (Marmor
1983) vermag sowohl biologische als auch psychosoziale Bedingungen neuronaler Veränderungen als Substrat devianten Verhaltens zu integrieren. »Anlage« und »Umwelt« sind in diesem Modell komplementäre Aspekte, deren Auswirkungen am – sich entwickelnden – neuronalen Substrat erst durch adäquate biotechnologische Untersuchungsmethoden der Forschung zugänglich werden. Der Wissenszuwachs über Funktionszustände von und Interaktionen zwischen Nervenzellen und die daraus erwachsene Theorie »neuronaler Netzwerke« (Wieding u. Schönle 1991) lassen in Zukunft eine problemadäquate Formulierung neurobiologischer Funktionszustände und korrespondierender psychischer Zustände erwarten.
2.2.2
⊡ Abb. 2.1. Hierarchische Organisationsstruktur biopsychosozialer Systeme. (Nach Engel 1980; Goodman 1991)
Psychische Gesundheit
Die Satzung der WHO definiert in ihrer Präambel Gesundheit allgemein als »Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur (als) das Freisein von Krankheit oder Gebrechen«. Die Definition verweist auf die notwendige Mehrdimensionalität einer Konzeption von Gesundheit – und Krankheit –, indem sie sich an ein biopsychosoziales Konzept (s. unten) anlehnt. Die Orientierung an der subjektiven Befindlichkeit ist allerdings hilfreich, um objektivierbare funktionale Kriterien zu erweitern. Darüber hinaus erscheint der Einbezug der sozialen Dimension als Gesundheitskriterium problematisch, sofern er nicht auf sozial-kommunikative und instrumentelle Kompetenzen beschränkt wird, sondern auch einen normativen sozialen »Lebensstandard« umfasst. Ohne ein Funktionsmodell »gesunder« Lebensvorgänge – körperlich wie seelisch oder sozial – sind Kriterien weder für Gesundheit noch Krankheit angebbar. Reduziert man Gesundheit im Sinne des medizinischen Modells auf die Funktionsfähigkeit einzelner Organe oder Organsysteme, lassen sich anhand der empirisch-statistischen Verteilung von Funktionsparametern Normbereiche mit Hilfe kritischer Indikatoren definieren. Wie die Beispiele Blutdruck oder Blutzuckerkonzentration zeigen, sind entsprechende Meßwerte außerhalb des Normbereichs noch kein Krankheitsbeleg; sie sind eher Indikatoren für eine Regulationsstörung unterschiedlicher Ursache, deren Folgen zeitabhängig Krankheitscharakter gewinnen können. In gleicher Weise ist die pathologische Ausprägung eines Tumormarkers als Hinweis auf ein Malignom zu werten; auch wenn das Vorliegen eines Malignoms selbst – abgesehen von seiner Stadiendifferenzierung – keine Ausprägungsfrage ist, kann seine Entstehung als zellbiologische Gleichgewichtsverschiebung zwischen Entartungs- und Abwehrvorgängen verstanden werden.
2
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
Demnach wäre »Gesundheit« als das anhand bestimmter Funktionsgrößen normierte »Funktionieren« definierter Organsysteme und nicht nur als das Fehlen von Krankheitsindikatoren aufzufassen. Das nach dieser Vorstellung gegenüber dem Anspruch einer »ganzheitlichen« Erfassung zwar reduktionistische statistische Gesundheitsmodell ist Grundlage beispielsweise körperlicher Vorsorgeuntersuchungen (»Organ-Check«), lässt sich aber durchaus auf mentale (z. B. Intelligenztest, Gedächtnisprüfung), prinzipiell auch auf sozial-kommunikative Funktionen (z. B. Einstellungstests) erweitern. Im klinischen Alltag dienen »Routineuntersuchungen« eben diesem Zweck. »Pathologische« Laborwerte können Krankheitswert haben oder auch nicht – hierüber entscheidet weniger das subjektive Wohlbefinden, das durchaus erhalten sein kann, als die gesamte Befundkonstellation: Erst sie gibt – im Kontext eines funktionalen Krankheitsmodells – Aufschluss über den pathologischen Stellenwert eines oder mehrerer Befunde. Psychische Gesundheit wäre in diesem Kontext analog funktionsspezifisch am psychischen »Apparat« oder »Funktionssystem« zu definieren. Aber auf welcher Beschreibungsebene, in welchem Modell, anhand welcher Indikatoren ist das möglich? Ein valides psychisches Funktionsmodell – besonders wichtig für präventive Aufgabenstellungen – sowie daraus abgeleitete Störungsmodelle sind derzeit nicht verfügbar. Während die somatische Medizin über die genannten – in der Regel dimensionalen – Funktionsindikatoren verfügt, gibt es in der Psychiatrie bisher keine objektiven funktionalen Kriterien für psychische Gesundheit oder Krankheit. An metapsychologischen Konstrukten orientierte Störungs- und Therapietheorien (Lipowski 1986; Blankenburg 1989; Tamm 1993) besitzen zwar auch Vorstellungen über psychische Gesundheit, explizieren diese aber unzureichend oder in keiner empirisch überprüfbaren Weise (s. unten). In epidemiologischen Untersuchungen wie in der klinischen Routine werden zur Fallidentifikation bzw. Diagnostik ganz wesentlich psychopathologische Auffälligkeiten herangezogen, die bei definierter Qualität, Schwere und Verlaufscharakteristik »Krankheitswert« besitzen. Die Entscheidung hierüber und damit eine etwaige therapeutische Indikationsstellung beziehen wesentlich das Ausmaß der (subjektiven und objektiven) Alltagsbeeinträchtigung, gestörte Rollenfunktionen etc. – kurz, die Beeinträchtigung von Lebensvollzügen –, aber auch die Wirksamkeit von Bewältigungsstrategien mit ein.
Gesundheitsmodelle
! Psychische Gesundheit wird daher in praxi als Fehlen definierter pathologischer Merkmale und – im Rahmen individueller Möglichkeiten und Lebensumstände – als subjektiv und objektiv weitgehend ungestörter Lebensvollzug operationalisiert.
toren gewinnt in der Psychiatrie zunehmend an Bedeutung. Das Salutogenese-Konzept (Antonovsky 1985) beinhaltet eine Beschreibung der Bedingungen, unter denen sich Gesundheit entwickelt und gefördert werden kann. Krankheit ist weniger Folge gesundheitsbeeinträchtigender Einflüsse, als Konsequenz unzulänglicher gesundheitserhaltender oder wiederherstellender Ressourcen.
Einige wenige Gesundheitsmodelle, die allenfalls bedingt einen wissenschaftlichen Anspruch reklamieren können, sind zu nennen (Tamm 1993). Religiöses Modell. Eines der ältesten ist das religiöse Mo-
dell, von so mannigfaltiger Gestalt wie es Religionen, Völker und Kulturen gibt. Geprägt von magisch-religiösen Begriffen und moralischen Aspekten wird Gesundheit als Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele, Krankheit entsprechend als Ungleichgewicht zwischen Mensch und Natur oder zwischen Mensch und Göttern aufgefasst. Es findet sich nur noch innerhalb verschiedener Naturreligionen, bildet andererseits mit seinem Niederschlag in der christlichen Tradition auch heute noch eine Art philosophisches Grundkonzept unserer westlichen Kultur. Humanistisches Modell. Im Gegensatz hierzu erhebt das
humanistische Modell einen wissenschaftlichen Anspruch. Es entwickelte sich in Gegenbewegung zur traditionell psychopathologischen Orientierung der Psychoanalyse und zu einem mechanistisch geprägten Behaviorismus. Dieser insbesondere auf Maslow zurückgehende »holistische« Ansatz begreift den Menschen als biologischen und psychologischen Organismus in Interaktion mit seiner Umwelt, Gesundheit als gelungenen Interaktionsprozess. Phänomenologische Vorgehensweisen und qualitative Forschungsmethoden kennzeichnen das Modell. Transpersonales Modell. Aus der Weiterentwicklung hu-
manistischer (und existentieller) Modelle sowie deren Amalgamierung mit Theorien des Bewusstseins und fernöstlicher Religion entstand das transpersonale Modell. Das Interesse dieses Ansatzes gilt transzendentalen Erfahrungen. Als Protagonisten sind hier z. B. Maslow, Watts und Ornstein zu nennen. Einsicht und »mindfullness« werden als primäre Gesundheitsfaktoren angesehen. Menschliches Bewusstsein wird als ein sich selbst regulierendes, hierarchisch organisiertes System verstanden. »Ungesunde« mentale Faktoren sind u. a. Agitation und Sorge, die zum Zustand der Angst als Hauptmerkmal vieler psychischer Störungen führen. Als therapeutische Methode der Wahl gilt die Meditation. Das Modell ist wissenschaftlich nicht belegt. Salutogenese-Konzept. Die Betrachtung protektiver Fak-
35 2.2 · Krankheits- und Gesundheitskonzepte in der Psychiatrie
Die Sichtweise, »dass eine Stärkung gesundheitsfördernder Kompetenzen mehr zur Überwindung einer Krankheit beitragen kann, als die alleinige Behandlung der Symptomatik« (Haltenhof u. Vossler 1994), stellt allerdings eine nicht belegte Überschätzung protektiver Faktoren dar.
2.2.3
Psychische Krankheit
Begriffsbestimmung In Anlehnung an die WHO-Definition von Gesundheit wäre Krankheit als »Abwesenheit« körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens zu definieren. Ausschließlich subjektive Mißbefindlichkeit mit Krankheit gleichzusetzen, führte allerdings nicht nur zu weit ( Abschn. 2.2.2), sondern würde auch dem Anspruch auf ein mehrdimensionales Krankheitsverständnis zuwiderlaufen. Es ist daher entsprechend obiger Ausführungen – unabhängig von der Ätiopathogenese – auch das Vorliegen einer objektivierbaren Störung zu fordern. Das Sozialgesetzbuch V (SGB V) definiert – ebenso wie früher die Reichsversicherungsordnung (RVO) – Krankheit nicht explizit. Der §27 SGB V garantiert Versicherten den Anspruch auf Krankenbehandlung, »wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern«; dabei ist »den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung zu tragen, insbesondere bei der Versorgung mit Heilmitteln und bei der medizinischen Rehabilitation«. Die Beurteilung einer »Regelwidrigkeit« geht vom »Leitbild« des gesunden Menschen aus, d. h. inwieweit die naturgegebenen körperlichen und geistigen Funktionen so ausgeübt werden können, wie das bei gesunden Menschen möglich ist; dabei können objektive und/oder subjektive Abweichungen vom Regelzustand auftreten, wobei aber eine Störung erst dann eine Leistungspflicht auslöst, wenn die Funktionseinschränkung so weit über eine bestimmte »Bandbreite individueller Verschiedenheiten« hinausgeht, dass sie nur durch Mithilfe des Arztes wiederhergestellt werden kann (Heinze 1989). Vor diesem Hintergrund sind die Behandlungs- und Versorgungserfordernisse psychisch Kranker einzuordnen. Während nach dem sog. realistischen Ansatz der objektive Behandlungs- und Versorgungsbedarf psychisch Kranker die Wirksamkeit, Verfügbarkeit und Finanzierbarkeit einer Behandlungsmethode mit einbezieht, orientiert sich der sog. humanitäre Versorgungsansatz am subjektiven Behandlungsbedürfnis leidender Menschen. Diese Unterscheidung verdeutlicht, dass in der konkreten Versorgungspraxis die Differenzierung von Gesundheit und behandlungsbedürftiger Erkrankung nicht ausschliesslich auf die subjektive Bewertung zurückgeführt werden kann. Eine ausführliche Diskussion der Proble-
matik des Gegenübers von (objektiv) diagnostizierendem Arzt und subjektiv seine Krankheit erleidendem Patienten findet sich bei Helmchen (2005) gewidmet. Diese Problematik ist in der Psychiatrie auch in anderer Hinsicht von Bedeutung, insofern als subjektives Krankheitsgefühl bzw. Krankheitseinsicht und objektive Behandlungsnotwendigkeit gerade bei schweren Störungen auseinanderklaffen können.
Krankheit vs. Störung: Die Krise nosologischer Konzepte Nosologie bedeutet Krankheitslehre. Die aus der Pathologie stammende Bezeichnung beinhaltet zum einen die Bestimmung und symptomatologische Beschreibung der Krankheiten (Nosographie), zum anderen deren systematische Ordnung zu Krankheitsgruppen (nosologische Klassifikation). Ziel einer nosologischen Klassifikation psychischer Krankheiten ist ein »natürliches« Klassifikationssystem, welches »Krankheitseinheiten« mit definiertem klinischem Bild, bekannter Verlaufscharakteristik, umrissener Ätiopathogenese und Therapieansprechbarkeit widerspiegelt. Psychiatrische Nosologie zielt demnach darauf ab, ausgehend von klinischen Phänomenen »transphänomenale« ätiopathogenetische und/ oder pathofunktionale Entitäten zu erfassen.
Historischer Überblick Nosologische Klassifikation, die »Aufstellung der ganzen Gruppe psychischer Krankheiten … aus einer symptomatologischen Betrachtungsweise« (Griesinger 1845) war das besondere Anliegen einer hirnpathologisch orientierten Psychiatrie im 19. Jahrhundert. »Die so durch Zusammenfassung der häufigsten coincidierend vorkommenden Symptome und durch rein empirische Abgrenzung sich ergebenden Gruppen von Krankheitsgestaltungen« – geordnet »nach der Methode der klinischen Pathologie« – sollten nicht nur valide prognostische Aussagen im Einzelfall ermöglichen, sondern schließlich auch klinischer Ausgangspunkt »für die anatomische Begründung der einzelnen Krankheitsformen« sein (Kahlbaum 1874). Kahlbaum (1874) vertrat die Auffassung, dass »der Psychiater sich ja mit der Symptomatologie erst die rechte, für ihn brauchbare Psychologie« geschaffen habe und die »psychischen Erscheinungen« – anders als in der deduktiv vorgehenden Psychologie – »zunächst ganz vorurtheilslos betrachtet und angesammelt werden« sollten. Die in diesem Zeitgeist entwickelte Nosologie hatte zum Ziel, »der Natur entsprechende Krankheitsbilder« aufzufinden (Kraepelin 1920). Sie hat bis heute im Wesentlichen ihre Gültigkeit behalten. Anfang des 20. Jahrhunderts setzte eine Krise des nosologischen Konzepts ein. Hoche (1912) äußerte sich kritisch, später auch Kraepelin (1920) selbst. Die »Erscheinungsformen des Irreseins« – so Kraepelin (1920) – seien »die natürliche Antwort der menschlichen Maschine«, die
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
»auf das Spiel vorgebildeter Einrichtungen unseres Organismus« durch Beeinträchtigung »gleicher Gebiete« zurückgehe. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass es funktionell-anatomisch vorgebildete überindividuelle Reaktionsweisen geben müsse, die sich als »Grundstörungen« durch Abbauvorgänge im evolutiven »schichtmäßigen Aufbau der Seelengrundlagen« äußerten und am angemessensten durch Methoden der »vergleichenden Psychiatrie« zu studieren seien. Mit den im Wesentlichen durch Freud, später durch A. Meyer (biographischer Ansatz) und Menninger (Störungen der Ich-Funktion), durch lerntheoretisch-behaviorale und systemisch-interaktionelle Ansätze platzgreifenden psychodynamisch-psychologischen Konzeptionen entstand allmählich ein »antinosologisches« Klima (Akiskal 1978), in dem metapsychologisch-interpretative (deduktive, s. Kahlbaum 1874) gegenüber deskriptiv-empirischen (induktiven) Konzepten dominierten. Eine »dynamisch« orientierte Psychopathologie versuchte, Inhalt, Form und Mechanismus in einem theoretischen Modell unterzubringen (Berrios 1994). Das Unbehagen an einer symptomorientierten Diagnostik aufgrund geringer Reliabilität und prädiktiver Kraft sowie die Bevorzugung psychodynamischen »Verstehens« anstatt eines als sozial-schädlich angesehenen »Labeling« (Akiskal 1978) förderten die Ablehnung nosologischer Konzepte und gaben einer antipsychiatrischen Bewegung Auftrieb.
Moderne Klassifikationssysteme Vor dem Hintergrund dieser historischen Entwicklung ist der konzeptuelle Standort moderner Klassifikationssysteme zu sehen. Sie dienen nicht nur klinisch-pragmatischen Zwecken, sondern definieren das Feld der Störungen, mit dem sich das Fachgebiet der Psychiatrie beschäftigen soll (Mezzich u. Berganza 2005). Insofern geht die Etablierung eines Diagnose- und Klassifikationssystems in der Psychiatrie weit über das in den übrigen klinischen Fächern übliche hinaus. Ohne Krankheitskonzeption kann es eine solche weitreichende diagnostische Klassifikation nicht geben (Berganza et al. 2005). Insbesondere von Seiten der World Psychiatric Association (WPA) wird derzeit auf die Bedeutung eines personalen Ansatzes in Diagnostik und Klassifikation verstärkt hingewiesen. ICD-10. So weist ICD-10 (Dilling et al. 2000) darauf hin, dass der Begriff Störung (»Disorder«) den »problematischen Gebrauch von Ausdrücken wie ›Krankheit‹ und/ oder ›Erkrankung‹ weitgehend vermeiden soll«. Dabei soll vermieden werden, mit »Krankheit« assoziierte nosologische Konzepte beizubehalten, da der nosologische Status psychischer »Störungen« unklar sei. Störung soll in diesem Kontext »einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen,
der immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden ist, sich aber nicht auf der sozialen Ebene allein darstellt«. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hat die Weltgesundheitsvollversammlung 2001 die »International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)« (Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) verabschiedet. Ihr liegt ein Konzept der funktionalen Gesundheit auf Grundlage eines biopsychosozialen Modells der Gesundheitskomponenten zugrunde, es ist ressourcen- und defizitorientiert, wobei die soziale Dimension und ihre Beeinträchtigung als ›Partizipation‹ i. S. der Wechselwirkung zwischen dem gesundheitlichen Problem (ICD) einer Person und ihren Umweltfaktoren definiert wird. DSM-IV. DSM-IV (Saß et al. 2000) weist zunächst kritisch
darauf hin, dass der Begriff »psychische Störung« »leider eine Unterscheidung zwischen ›psychischer‹ und ›körperlicher‹ Störung« impliziere, und betont, dass trotz dieses aus der Zeit des Leib-Seele-Dualismus stammenden »reduktionistischen Anachronismus« und der Tatsache, »dass psychische Störungen viel ›Körperliches‹ und körperliche Störungen viel ›Psychisches‹ enthalten«, der Begriff beibehalten werde, »da sich kein angemessener Ersatz fand«. DSM-IV führt weiter aus, dass es keine allgemeingültige, situationsübergreifend gültige operationale und zwischen gesund und krank grenzziehende Definition psychischer Störungen gibt. Ähnlich wie in der somatischen Medizin, wo krankhafte Zustände auf unterschiedlichem Abstraktionsniveau – wie der strukturellen Pathologie (z. B. Colitis ulcerosa), der Symptomatik (z. B. Migräne), der Abweichung von einer physiologischen Norm (z.B. Bluthochdruck) und der Ätiologie (z. B. Pneumokokkenpneumonie) – beschrieben werden, werden psychische Störungen durch eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte definiert, wie z. B. Leiden, Kontrollstörung, Benachteiligung, Behinderung, mangelnde Flexibilität, Irrationalität, Syndrommuster, Ätiologie oder statistische Abweichung. Trotz dieser Vorbehalte wird eine allgemeine Definition psychischer Störungen beibehalten, die aufgefasst werden »als ein klinisch bedeutsames Verhaltens- oder psychisches Syndrom oder Muster, das bei einer Person auftritt und das mit momentanem Leiden (z. B. einem schmerzhaften Symptom) oder einer Beeinträchtigung (z. B. Einschränkung in einem oder mehreren wichtigen Funktionsbereichen) oder mit einem stark erhöhten Risiko einhergeht, zu sterben, Schmerz, Beeinträchtigung oder einen tiefgreifenden Verlust an Freiheit zu erleiden«. Darüber hinaus darf es sich nicht um »eine verständliche oder kulturell sanktionierte Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis« handeln, und es muss – unabhängig von dem »ursprünglichen Auslöser« – eine »verhaltensmäßige,
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psychische oder biologische Funktionsstörung« zu beobachten sein. Normabweichendes Verhalten (z. B. politischer, religiöser oder sexueller Art) oder Konflikte des einzelnen mit der Gesellschaft werden explizit von psychischen Störungen abgegrenzt, sofern es sich hierbei nicht um ein Symptom einer der genannten Funktionsstörungen bei der betroffenen Person handelt. Die hier ausführlicher dargestellte Definition des DSM-IV geht also von einer objektivierbaren psychobiologischen Funktionsstörung aus, die mit subjektivem Leiden oder einer bereits bestehenden oder drohenden Funktionseinschränkung bis hin zum Verlust von (innerer) Freiheit oder Leben verbunden ist. Dabei »wird nicht angenommen, dass jede Kategorie einer psychischen Störung eine diskrete Entität mit absoluten Grenzen ist, die sie von anderen Störungen und von der Normalität trennt«. Auch DSM-IV verzichtet damit auf ein nosologisches Konzept.
Validierungskriterien nosologischer Klassifikationen Trotz dieser historischen Entwicklung und des aktuellen Kenntnisstandes ist die Hoffnung auf eine nosologische Klassifikation psychischer Störungen nie aufgegeben worden. Im Gegenteil ist als Voraussetzung für eine derartige Entwicklung die Notwendigkeit einer streng deskriptiven Phänomenologie bekräftigt worden. Reliabilität der klinischen Syndrombeschreibung ist die Voraussetzung ihrer Validität: »There is no guarantee that a reliable system is valid, but assuredly an unreliable system must be invalid« (Spitzer u. Fleiss 1974; ein reliables System ist nicht notwendigerweise valide, aber ein unreliables System kann nicht valide sein). Als erforderliche Schritte eines Validierungsprozesses gelten (Robins u. Guze 1970; Guze 1992): klinische Deskription (Einschlusskriterien), Laborbefunde, Abgrenzung gegenüber anderen Störungen (Ausschlusskriterien), Follow-up-Studien, Familienstudien. In einer Weiterentwicklung unter Einbezug biologischer Validierungskriterien wurde folgende diagnostische Systematik vorgeschlagen (Akiskal 1978): klinische Phänomenologie, Verlauf, Heredität, pharmakologische Response, biochemische Korrelate, neuro-/psychophysiologische Korrelate. Heute wäre hier sicher das gesamte Inventar neurobiologischer Forschungsmethoden zu nennen. Die verschie-
denen Validierungssysteme lassen allerdings den Bezug zu externen »Goldstandards«, die für eine Konstruktvalidierung entscheidend sind, vermissen. Allerdings sind Wege vorgeschlagen worden, wie auch ohne »Goldstandard« eine Valdierung der Konzeption psychischer Störungen möglich ist (Faraone u. Tsuang 1994).
Operationale Diagnostik und Klassifikation Bereits die Einführung von DSM-III brachte wichtige Neuerungen mit sich, etwa die Einführung expliziter und operational definierter diagnostischer Kriterien sowie ein multiaxiales Beschreibungssystem. Der deskriptive Ansatz unterstreicht das Bemühen um eine weitgehende Neutralität hinsichtlich ätiologischer Vorannahmen, der multiaxiale Ansatz dient einer systematischen Beurteilung psychischer Störungen unter Berücksichtigung medizinischer Krankheitsfaktoren, psychosozialer Probleme und des allgemeinen Funktionsniveaus. Neben einer besseren Organisation der Information sowie der Erfassung von klinischer Komplexität und Heterogenität fördert ein multiaxiales Klassifikationssystem die Anwendung eines biopsychosozialen Modells in Klinik, Ausbildung und Forschung. DSM-IV hält folgende 5 Achsen vor: Achse I klinische Störungen, andere klinisch relevante Probleme; Achse II Persönlichkeitsstörungen, geistige Behinderung; Achse III medizinische Krankheitsfaktoren; Achse IV psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme; Achse V globale Beurteilung des Funktionsniveaus. Die unabhängige Beurteilung der Achsen ermöglicht die breitgefächerte Dokumentation krankheitsassoziierter Merkmale ohne Hypostasierung kausaler Zusammenhänge. Auch mit der operationalen Klassifikation kann allerdings aufgrund einer polythetischen Kriteriologie der Systeme die Heterogenität der klassifizierten Individuen nicht völlig vermieden werden. Das heißt, unter dem »Etikett« der gleichen Diagnose können sich durchaus Personen mit heterogenen Symptombildern verbergen. Andererseits wäre selbst eine phänomenologisch homogene Klassifizierung aufgrund möglicher pleomorpher Syndromgestaltungen noch keine Garantie für eine homogene Nosologie (s. unten). Eine kategoriale – anstatt einer dimensionalen – Ordnung psychischer Störungen ist möglicherweise der Realität ohnehin nicht angemessen, hat sich aber in der Praxis bewährt. Von Fragen der Praktikabilität abgesehen ist beispielsweise unklar, welche Dimensionen als konstituierend herangezogen werden sollten. Aus wissenschafts-
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
theoretischer Sicht wird allerdings für die Taxonomie psychischer Störungen eine Entwicklung dimensionaler Funktionsmodelle antizipiert (Hempel 1965):
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»The development of taxonomic concepts in the study of mental disorder will probably show two trends: First, a continuation of the shift from systems defined by reference to observable characteristics to systems based on theoretical concepts; and second, a gradual shift from classificatory concepts and methods to ordering concepts and procedures, both of the non-quantitative and of the quantitative varieties«. (Übersetzung: »Die Entwicklung taxonomischer Konzepte psychischer Störungen wird sich wahrscheinlich auf zwei Wegen vollziehen: einerseits in einem weiteren Übergang von beobachtungsbasierten zu theoriebasierten Konzepten und andererseits in einem schrittweisen Wandel von klassifikatorischen hin zu dimensionalen Konzepten und Methoden, beide sowohl qualitativer wie quantitativer Natur«.)
Auf dem Weg zu ICD-11 und DSM-V Gegenwärtig sind von der American Psychiatric Association (APA) ausgehend Bestrebungen zur Neufassung der US-amerikanischen Diagnosekriterien in Gang, die etwa im Jahre 2011 mit der Publikation von DSM-V zum Abschluss kommen sollen. Bereits im Jahre 2002 wurde eine »Forschungsagenda« publiziert, die die wesentlichen Forschungsfelder absteckte, die zur Etablierung der DSM-V zunächst »abgearbeitet« werden müssen (Kupfer et al. 2002). Die Neufassung der WHO-Klassifikation (ICD-11) dürfte sich diesem Forschungs- und Reklassifizierungsprozess anschließen, und im Sinne einer Vereinheitlichung der Diagnosekriterien ist zu hoffen, dass hier ein Konsens möglich wird. Optionen für eine künftige Neuklassifikation bedienen sich entweder einer kategorialen Typologie, dimensionaler Modelle, oder empirisch ermittelter Prototypen (Jablensky 2005). Der Ruf nach einer ätiologisch basierten anstelle einer symptombasierten DSM-V-Klassifikation wird lauter (Phillips u. Frank 2006). Die klassifikatorische Diskussion wird besonders geprägt von den Fortschritten in der Genetik psychischer Störungen, z. B. von der Frage, inwiefern das klinischpsychopathologische »Psychose«-Konzept »dekonstruiert« werden muss. Diese Diskussion erfolgt auf dem Hintergrund der Erforschung genetischer Risikofaktoren von Schizophrenie und affektiven Störungen, wobei rasch klar wurde, dass die Genetik dieser Erkrankungen komplex ist, dass bisweilen dieselben Risikogene in beiden Erkrankungsgruppen verändert sind, dass bestimmte genetische Faktoren nur einen Teil des Erkrankungsrisikos vermitteln, und dass die Aufklärung der genetischen Risikomarker noch nicht zu einer klaren Kausalkette vom Gen zum Phänotyp geführt hat. Einige Genotyp-Phänotyp-Korrelationen kristallisieren sich jedoch heraus (Craddock et al. 2006) und Aspekte einer Gen-Umwelt-Interaktion, die theoretisch in der Psychiatrie schon immer eine große Rolle gespielt haben, finden hier eine völlig neue Betrach-
tungsebene, die Neurowissenschaftler, Genetiker, und psychiatrische Epidemiologen zusammenbringt (Cospi u. Moffitt 2006). Allerdings: Während man auf Vereinfachung hoffte, zeigte sich eine hochgradige Komplexität auf allen Untersuchungsebenen. Diskussionen um eine möglicherweise notwendig werdende Aufgabe der Kraepelin-Dichotomie schizophrener und (bipolarer) affektiver Störungen zeigen (Craddock et al. 2006), dass die Neurogenetik die Grundlagen der psychiatrischen Nosologie in Frage zu stellen beginnt. Selbstkritische Neurogenetiker, sowie einige Psychiater und Philosophen bezweifeln allerdings, dass genetische Untersuchungen allein überhaupt in der Lage sind, die komplexen Probleme der psychiatrischen Nosologie zu lösen (Kendler 2006; Robert u. Plantikow 2005). Neben den sicher erforderlichen klinisch-empirischen Forschungsbemühungen, die eine Konkretisierung der neurowissenschaftlichen Grundlagen der Pathophysiologie psychischer Störungen zur Aufgabe haben, ist daher dringend eine Vertiefung und Fortführung des Diskurses über die philosophischen Grundlagen psychopathologischer Phänomene und ihrer Interpretation im Rahmen psychiatrischer Klassifikationssysteme notwendig (Graham u. Stephens 1994; Heinze 2006). Die Zeit für einen Paradigmenwechsel hin zu ätiopathogenetisch fundierten psychiatrischen Klassifikationssystemen ist zumindest im Jahre 2006 noch nicht gekommen. Wichtiger erscheint derzeit die Erarbeitung von kurz-, mittel- und längerfristigen Forschungsstrategien. Dies geschieht im Rahmen des DSM-V-Entwicklungsprozesses noch bis 2007 in einer Serie von Forschungskonferenzen zu praktisch allen psychiatrischen Störungsgruppen. Hierbei deutet sich bereits an, dass aufgrund der Komplexität der Störungsbilder und ihrer möglichen Ätiopathogenesen trotz des gegenwärtig rasanten Erkenntniszuwaches in der Neurobiologie psychischer Störungen keine schnellen Fortschritte zu erwarten sind.
Störungsmodelle Hinsichtlich ihres konzeptuellen Ansatzes lassen sich 3 Arten von Störungsmodellen unterscheiden (Lipowski 1986): biologische (somatische, organische), psychische (psychologische, psychodynamische, psychosoziale), biopsychosoziale. Während die beiden erstgenannten Ansätze vorrangig nur eine Klasse putativer Ätiologiefaktoren betrachten (und deshalb auch als reduktionistisch bezeichnet werden), gelten die an dritter Stelle aufgeführten Ansätze aufgrund ihrer Mehrdimensionalität als integrativ oder holistisch. Die hier gewählte Einteilung erscheint sinnvoller als die Unterscheidungen in biomedizinisch, existentiell und psychosomatisch (Tamm 1993) oder die in naturwissen-
39 2.3 · Ätiopathogenese
schaftlich, individualpsychologisch, interaktional und integriert (Alanen 1984), da sie aus den 3 möglichen konzeptuellen Ansätzen bereits spezifische Modellvorstellungen herausgreifen. Im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts standen »Psychiker« wie Heinroth oder Ideler den »Somatikern« wie Griesinger kontrovers gegenüber (Ackerknecht 1985). Der englische Psychiater Bucknill (vgl. Lipowski 1986) hat schon Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen somatischen, psychischen und somatopsychischen Theorien unterschieden und letzteren den Vorzug gegeben. Eine adäquate Formulierung eines »psychobiologischen« Ansatzes erfolgte aber erst ein halbes Jahrhundert später durch A. Meyer, der den Patienten als mit der Umwelt interagierendes integriertes Ganzes – als Geist/Seele-Körper-Komplex – auffasste.
nale und kommunikationstheoretische Vorstellungen angelehnte psychosoziale Modelle einzubeziehen. Psychosomatisches Modell. Als Vorläufer biopsychosozi-
aler Modelle sei hier das in den 1930er Jahren entwickelte psychosomatische Modell erwähnt. Nach der Grundthese dieses insbesondere auf Helen Flanders Dunbar zurückgehenden Ansatzes gibt es keine somatische Erkrankung ohne emotionale und/oder soziale Antezedentien und psychische Erkrankung ohne somatische Symptome; Krankheit entsteht durch das Zusammenspiel physischer und psychischer Faktoren.
2.3
Ätiopathogenese
2.3.1
Ätiologische Grundkonzepte
Biomedizinisches Modell. Das biomedizinische Modell als
somatischer Ansatz mit Wurzeln in der altgriechischen Philosophie und Medizin beansprucht eine empirische, rationale und systematische, d. h. naturwissenschaftliche Grundlage seiner Krankheitsvorstellungen. Die Annahme, physikochemische Prozesse des Gehirns könnten schlussendlich alle mentalen Prozesse und deren Störungen erklären, schien bei entzündlichen und degenerativen Erkrankungen des Gehirns am ehesten erfolgreich. Prototyp einer hirnorganischen Erkrankung mit bekannter Ätiologie war die progressive Paralyse. Bei den sog. »endogenen«, v. a. aber bei den »psychogenen« Störungen konnte das biomedizinische Modell jedoch zunächst nicht den gleichen Erfolg aufweisen. Psychisches Modell. Nach Annahme des psychischen Mo-
dells sind mentale Phänomene und ihre Störungen nicht auf Gehirnprozesse reduzierbar, aber mit den Methoden und Konzepten der Verhaltenswissenschaften untersuchbar und erklärbar. Betrachtet wurden zunächst alle, später v. a. sog. psychogene oder funktionelle Störungen, deren Auftreten und Merkmale – je nach Zeitgeist – als Konsequenz unmoralischen Lebenswandels, gestörten Sexuallebens und/oder gestörter interpersonaler Beziehungen, insbesondere während früher individueller Entwicklungsstadien, aufgefasst wurden. Ein hermeneutischer, psychologisch-«verstehender« Zugang zur Psychopathologie hat das wissenschaftliche und therapeutische Denken in der Psychiatrie entscheidend geprägt. Erst dort, wo dieser Zugang nicht weiterführte, wo krankes Seelenleben nicht aus gesundem ableitbar erschien, wurden körperliche Ursachen angenommen und somatische Therapieverfahren einbezogen. In diese Konzeption sind auf Struktur- und Trieblehre Freuds aufbauende psychodynamische, an die Existenzphilosophie angelehnte daseinsanalytische, aus der Lernund Verhaltenstheorie abgeleitete behaviorale bzw. behavioral-kognitive sowie an systemtheoretische interaktio-
Bereits Griesinger (1845) hatte in seinem Lehrbuch »Die Pathologie und Therapie psychischer Krankheiten« deren »Ätiologie und Pathogenese« ein eigenes Kapitel gewidmet. In der »Ätiologie des Irreseins«, die »in der außerordentlichen Mehrzahl der Fälle nicht eine einzige specifische Ursache, sondern ein Complex mehrerer, zum Theil sehr vieler und verwickelter schädlicher Momente« ist, unterschied er eine allgemeine (z. B. Geschlecht, Alter) und individuelle Prädisposition (Erblichkeit, Erziehung, psychische und somatische Konstitution) sowie psychische, somatische und gemischte Ursachen. In Überschneidung mit den vorgenannten Krankheitsmodellen können allgemein als wissenschaftliche ätiologische Modelle herausgestellt werden (Zubin u. Spring 1977): feldtheoretische Modelle (ökologische Faktoren), sozialpsychologische Modelle (Entwicklung, Lernen), biologische Modelle (Gene, Hirnfunktionen, »milieu interne«). Einfach-kausale Zusammenhänge, bei denen einer einzelnen Ursache eine allein entscheidende Wirkung zukäme, kommen – z. B. als monogene Erkrankungen – sowohl in der somatischen Medizin als auch in der Psychiatrie selten vor. Auch bei Infektionskrankheiten mit weitgehend aufgeklärtem pathogenetischem Mechanismus kommt Faktoren wie der Disposition, Immunitätslage, peristatischen Faktoren etc. eine manifestationsbestimmende und verlaufsbeeinflussende Bedeutung zu. Eine alleinige somatische »Ursache« (Gendefekt, Infektion, Perinataltrauma etc.) reicht in der Regel nicht aus, um die (oft mit Latenz auftretende und individuell geprägte) Krankheitsmanifestation schlüssig zu erklären. Während eine akute (primäre oder sekundäre) somatische Schädigung zu entsprechenden neuropsychiatrischen Irritationen oder Ausfallserscheinungen führen
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
kann (unmittelbare Ursache-Wirkungs-Beziehung), ist für die meisten psychischen Störungen eine unmittelbare somatische Noxe nicht erkennbar, sondern muss entweder durch zeitliche Summierung (chronischer Einfluss, Sensitivierung), neu aufgetretene bzw. dispositionell angelegte Fehlsteuerung (Demenz) oder zurückliegende Einwirkung (z. B. Perinatalschaden) mit konsekutiver Fehlentwicklung und/oder dispositioneller »Schwäche« unterstellt werden. In den letztgenannten Fällen bleibt das »freie Intervall« bis zur Krankheitsmanifestation zu erklären; hier werden z. B. Reifung sensibler Hirnregionen, Stressoren in kritischen Entwicklungsphasen oder vorzeitige Alterungsvorgänge als pathogenetische Zwischenglieder herangezogen. Erklärungsbedürftig ist weiterhin, warum einzelne Individuen trotz gleicher Exposition nicht oder weniger schwer erkranken bzw. ein besseres Regenerationspotenzial aufweisen. Derartige Beobachtungen widersprechen dem Konzept einfacher linearer Zusammenhänge zwischen Ätiologie, Pathogenese und Manifestation und erfordern die Einführung u. a. folgender Moderatorgrößen: Disposition (Vulnerabilität, Suszeptibilität), Art und Ausmaß der primären Noxe(n), Einwirkungszeitpunkt (sensible Phase) und -dauer, kritische Schädigungsregion(en), kompensatorische (regenerative, reparative) Funktionen, manifestationsfördernde/-hemmende Bedingungen (Risikofaktoren, protektive Faktoren), verlaufsgestaltende (interne/externe) Faktoren. Psychosoziale Faktoren. Damit Modellelemente wie »Dis-
position« nicht nur »leere Worte für eine ganz unbekannte Sache« bleiben (Griesinger 1845), müssen entsprechende Indikatoren entwickelt werden (s. unten). Psychosoziale Faktoren können ebenfalls Noxencharakter haben. Der Einfluss von Umgebungsfaktoren bzw. Erfahrung auf das neuronale Substrat ist belegt (Kandel 1998; Hyman 2000), hier sind daher prinzipiell die gleichen Modellvorstellungen mit früher, später, akuter oder chronischer Schädigung anwendbar. Allerdings bedarf es der Berücksichtigung, dass an sich neutrale oder durchschnittlich belastende Lebensereignisse/-konstellationen erst aufgrund ihrer individuell-biographischen (symbolischen) Konnotation pathogene Bedeutung bekommen. Auch in diesem Denkansatz steht das biologische Modell im Zentrum. Therapiemöglichkeiten. Therapie kann allgemein auf al-
len Ebenen des biopsychosozialen Modells angreifen – dabei kann auf der psychosozialen Ebene unterschieden werden zwischen Therapie zur Konfliktbehebung, zum Konfliktmanagement oder zur Mitigierung »biologischer« Konfliktfolgen mit der Konsequenz einer besseren
Konfliktbewältigung. »Kausal« im eigentlichen Sinne wäre das Ausschalten oder Neutralisieren primärer Noxe(n) – d. h. Prävention. Alle anderen Therapieprinzipien können durch Eingriff in das komplexe Bedingungsgefüge Funktionsstörungen ausgleichend, modulierend oder kompensatorisch wirken.
2.3.2
Pathogenetische Grundkonzepte
Die Aufklärung der Pathogenese – auf Symptom- oder Syndromebene – ist nicht minder bedeutsam. Sie erlaubt ihrerseits Rückschlüsse auf Ätiologien, ermöglicht aber auch näher an der Krankheitsentstehung orientierte Therapieformen. Ohne Kenntnis des pathogenetischen Mechanismus sind letztlich die Wirkungen verschiedener Ätiologien und ihr Zusammenspiel bei Krankheitsmanifestation und -verlauf nicht verstehbar. Diese Aufklärung steht vor der Anforderung, zwischen verschiedenen Konzept- und Beschreibungsebenen zu vermitteln. Um diesen Brückenschlag zu ermöglichen, müssen zunächst die relevanten Ebenen, und auf diesen die krankheitsspezifischen Indikatoren definiert werden (s. unten). Dabei können der Einfachheit halber als Beschreibungsebenen Ätiologie, Pathogenese und klinische Symptomatik unterschieden werden, wobei 2 Prämissen zu beachten sind: zeitlich/kausale Priorität von Ätiologieindikatoren, definierte Assoziationsmodi zwischen den einzelnen Indikatorebenen. Auch wenn logischerweise Krankheitsursachen der Krankheitsmanifestation zeitlich vorangehen müssen, ist das zeitliche »vorher« noch kein ätiologischer Beweis. Oft schwere Abgrenzbarkeit des Krankheitsbeginns, Kausalitätsbedürfnis von Patient und Angehörigen etc. müssen bei der Hypothesenbildung berücksichtigt werden. Zu den Assoziationsmodi unterscheiden Tsuang et al. (1990) am Beispiel schizophrener Störungen die folgenden Modelle: Homogenitätsmodell; Heterogenitätsmodelle mit a) spezifischen Beziehungen zwischen den Ebenen, b) unspezifischen Beziehungen zwischen den Ebenen. Ausgehend von der Ebene der klinischen Symptomatik ist zu fragen, ob hinter einzelnen Symptomen oder Syndromen ein oder mehrere Pathomechanismen stehen, ob diese sich überlappen und jeweils für bestimmte Symptome/Syndrome spezifisch sind oder nicht. Ähnlich lässt sich fragen, ob zwischen Pathomechanismen und Ätiologie(n) spezifische oder unspezifische Zusammenhänge bestehen. Das Homogenitätsmodell geht von einer nosologischen Krankheitseinheit aus, während das Hete-
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41 2.3 · Ätiopathogenese
rogenitätsmodell je nach Spezifität unterstellt, dass ein Symptommuster auf einen Pathomechanismus, aber mehrere Ätiologien (»common final pathway«), oder aber dass einzelne Bestandteile eines Symptommusters auf mehrere (teilweise überlappende) Pathomechanismen mit jeweils spezifischen Ätiologien zurückgehen. Ein Spezialfall sind symptomatisch unspezifische Pathomechanismen, die zum klinisch gleichen Bild führen können (Phänokopie). Natürlich gibt es hier verschiedene Übergangsmöglichkeiten zwischen den genannten Prägnanztypen. Empirisch zu überprüfen wäre, ob die Beziehung zwischen der Ebene biologischer Pathomechanismen und Symptomatik direkt hergestellt werden kann, oder ob dies nur für elementare Symptome möglich ist, während bei komplexeren Symptomen eine psychologische Erklärungsebene einbezogen werden muss. Gleichermaßen wäre zu prüfen, ob primär soziale Ätiologien über eine psychologische Zwischenebene zur direkten Krankheitsmanifestation führen können, oder ob dies nur über eine biologische Ebene möglich ist.
2.3.3
sitzt allgemeine Gültigkeit für die ätiopathogenetische Konzeption psychischer Störungen. Vulnerabilität und Stress werden als zentrale komplementäre ätiopathogenetische Faktoren bei der Krankheitsmanifestation aufgefasst (⊡ Abb. 2.2). Dabei ist Vulnerabilität die subklinische angeborene und/oder erworbene, d. h. ihrerseits multifaktoriell vermittelte Krankheitsdisposition (Erkrankungswahrscheinlichkeit), die in interindividuell und möglicherweise auch intraindividuell variierender Ausprägung vorliegt und erst durch das Hinzutreten zusätzlicher Faktoren (individuell kritische Ereignisse/Belastungen/Konflikte aus dem psychosozialen Umfeld, aber auch biologische »Stressoren«) die Störung über die Manifestationsschwelle treten lässt. Es wird eine kontinuierlich abgestufte Disposition (Diathese, Vulnerabilität) angenommen, die durch eine Kombination von Indikatoren psychophysiologischer, kognitiver und sozialer Auffälligkeiten definiert wird (s. unten), die gehäuft bei sog. »high-risk«-Kindern gefunden werden. Die Disposition ist nicht notwendig zeitstabil; insbesondere Personen mit einer ausgeprägten Disposition neigen beim Auftreten von Stressoren zur Fehlanpassung und schließlich zur psychophysiologischen Dekompensation, die über »intermediäre« Stadien (Nuechterlein 1987) bzw. pathogenetische Zwischenglieder zu einer zunehmenden Pathologisierung bereits prämorbid defizitärer psychophysiologischer und neuropsychologischer Funktionen (als Korrelate neurobiochemischer Entgleisungen) bis hin zur manifesten Krankheitsepisode führen. Pathogenetische Präkursoren bzw. Determinanten der Episodenmanifestation wären von solchen Veränderungen zu differenzieren, die erst als Folge einer Krankheitsepisode auftreten.
Integrative Modelle
Um neben Bedingungsfaktoren und Betrachtungsebenen im Querschnitt auch Manifestationsbedingungen und Verlaufsdynamik einer Erkrankung im Längsschnitt zu berücksichtigen, bedarf es eines Modells mit Prozesscharakteristik.
Vulnerabilitäts-Stress-Modell Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell, zunächst für schizophrene Störungen entwickelt (Zubin u. Spring 1977), be-
⊡ Abb. 2.2. Funktionaler
Stressintensität
Zusammenhang zwischen Vulnerabilität, Stressintensität und protektivem Niveau (P). P1/P2 niedriges/hohes protektives Niveau. a/b niedrige/hohe Ausprägung der Vulnerabilität. Bei niedrig/hoch ausgeprägter Vulnerabilität führt eine hohe/ geringe Stressintensität zum Überschreiten der Grenze gesund/krank; dieser Zusammenhang wird durch das Ausmaß des protektiven Niveaus entsprechend beeinflusst. (In Anlehnung an Zubin u. Spring 1977)
P1 P2
gesund
a
krank
b
Vulnerabilität
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
Familiär vermittelte Vulnerabilität. Neuere Versionen
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dieses Modells betonen die familiär vermittelte Vulnerabilität (»liability«). Zeitlich stabile Indikatoren dieses Aspekts werden auch als »true vulnerability-markers« bezeichnet (Steinhauer et al. 1991). Eine erhöhte »liability« weisen alle Angehörigen Erkrankter auf, gleichgültig, ob sie z. B. den hypothetischen disponierenden Gentyp tragen oder nicht, und gleichgültig, ob sie später eine schizophrene Episode (oder andere Störungen) entwickeln oder nicht. Dieses Vulnerabilitätskonzept ist umfassender und zugleich unspezifischer als das Konzept der prämorbiden Disposition, die nur denen zukommt, die später manifest erkranken. Vulnerabilitätsmarker können auch eine subklinische Variante der Erkrankung darstellen.
Hypothetisches System »Patient« In regeltechnischer Konzeption und Begriffsbildung spielt die adaptive Kapazität des hypothetischen Systems »Patient« oder »Patient-Umwelt« eine Rolle, das je nach Ausgangszustand (prämorbides Niveau), Auslenkbarkeit (Labilität) und Rückstellkräften (Elastizität) nach einem auslenkenden Ereignis oder unter einer Dauerbelastung wieder einem Gleichgewichtszustand zustrebt. Die Homöostase des Systems kann entsprechend einem vorgegebenen Sollwert auf vorherigem, durch Sollwertverstellung auch auf neuem Niveau hergestellt werden – ihre Einstellung kann aber auch mißlingen. Hohe Systemlabilität (häufige Rezidive) oder geringe Systemelastizität bzw. Dauerbelastung (schubförmiger Verlauf, primär chronischer Verlauf) könnten z. B. einige Verlaufsformen erklären (vgl. Zubin et al. 1992), sofern die hypothetischen Systemeigenschaften in überprüfbare Modellkonzepte überführt werden können (⊡ Abb. 2.3 a–f). Bei der Konzeptualisierung adaptiver Systemeigenschaften (vgl. Zubin u. Spring 1977) können in Anlehnung an Piaget akkomodative und assimilative Verhaltensweisen unterschieden werden. Ihnen wiederum können reflex- oder instinkthafte Mechanismen sowie aktive Bewältigungsmechanismen auf dem Boden angeborener oder erworbener Bewältigungskompetenz (intellektuelle Ausstattung, Problemlösefähigkeit, prämorbide soziale Kompetenz etc.) zugrundeliegen. Protektive Faktoren können – wie Stressfaktoren – grundsätzlich psychobiologisch konzipiert werden; dabei spielen erfolgreiches Coping sowie positive Umgebungsfaktoren eine besondere Rolle (Nuechterlein 1987). Neben pathogenetischen sind demnach auch salutogenetische Aspekte in allen Phasen des Krankheitsprozesses stärker zu berücksichtigen. Die Berücksichtigung im Verlauf variierender Konstellationen der Einflussfaktoren dürfte eine bessere Verlaufsprädiktion (Gaebel 1996) und individuelle Abstimmung präventiver, therapeutischer und rehabilitativer Maßnahmen erlauben (⊡ Abb. 2.4).
⊡ Abb. 2.3 a–f. Verschiedene Verlaufsformen psychischer Störungen mit unterschiedlicher klinischer Ausprägung als Resultante von subklinischer Vulnerabilität (V), Stressoren (S) und protektiven Faktoren (P), a, b Bei gegebener Vulnerabilität hängt die Verlaufsform vom Gleichgewicht P/S ab; es kommt zu keiner oder nur einer kurzen subklinischen Episode. c–e Bei Ungleichgewicht P/S mit unterschiedlich lang nachwirkenden/persistierenden Stressoren (und/oder unzureichenden protektiven Mechanismen) resultieren klinisch ausgeprägte Episoden mit (un-)vollständiger Remission oder primär chronischem Verlauf. f Bei fehlenden protektiven Faktoren oder verminderter »Systemelastizität« kann ebenfalls ein primär chronischer Verlauf resultieren
43 2.3 · Ätiopathogenese
G
G
G
⊡ Abb. 2.4. Vereinfachtes Vulnerabilitäts-Stress-Modell mit potenziellen Verlaufsprädiktoren und therapeutischen Angriffspunkten
Das Modell stellt ein heuristisches Rahmenkonzept für die Aufstellung präziser Prüfhypothesen, u. a. zum neuronalen Substrat der postulierten Diathese, dar. Bisher nur partiell empirisch validiert, begründet es die Notwendigkeit prospektiver Mehrebenenuntersuchungen an initial gesunden Risikopopulationen.
2.3.4
Modulare Modelle
Grundlegende Funktionen der menschlichen Geistestätigkeit – angefangen von den elementaren Sinneseindrücken über die komplexe Verarbeitung von Wahrnehmungen im Gehirn bis zu den motorischen Äußerungen – sind in vielerlei Hinsicht modular aufgebaut, wobei der Grundgedanke des modularen Aufbaus der menschlichen Gehirnaktivität von Fodor erstmals systematisch untersucht wurde (Fodor 1983). Während Fodor einen modularen Aufbau in erster Linie für die »peripheren« Module postulierte, gingen in den folgenden Jahren insbesondere Vertreter der »evolutionären Psychologie« dazu über, auch »zentralen« Organisations- und Funktionseinheiten des Gehirns einen Modul-Charakter zuzusprechen. Dies ist die Hypothese der »massiven Modularität«: Das Gehirn besteht aus einer großen Zahl distinkter, jedoch miteinander verbundener Informationsprozessoren, die im Laufe der Evolution einen Anpassungsprozess erfuhren (bisweilen in diesem Kontext auch als »Darwin’sche Module« bezeichnet, da sie in ihrer Grundausstattung von den ursprünglichen Fodor-Modulen abweichen). In Anlehnung an die »Klinische Psychopathologie« von Kurt Schneider müssen dabei »seelische Funktionen« beeinträchtigt werden, aus deren Fehlfunktion sich psychiatrische Diagnosen aufbauen:
1. Arten des Erlebens: Empfinden und Wahrnehmen, Vorstellen und Denken, Fühlen und Werten, Streben und Wollen. 2. Grundeigenschaften des Erlebens: Ich-Erlebnis, Zeiterlebnis, Gedächtnis, seelische Reaktionsfähigkeit. 3. Umgreifungen des Erlebens: Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Intelligenz, Persönlichkeit. Murphy und Stich haben die grundlegenden Überlegungen dazu vorgestellt, wie ein solches evolutionär-psychologisch geprägtes modulares Konzept der Gehirnaktivität als Grundlage für eine Klassifikation psychischer Störungen dienen könnte (Murphy u. Stich 2000). Interessanterweise korrespondiert dieses Modell in vielen Grundzügen mit den heutigen neurobiologischen Vorstellungen von Funktionsmodulen des Gehirns, sodass es als Grundlage für eine Hypothesenbildung zur Dysfunktion solcher Module bei psychischen Störungen herangezogen werden kann (Gaebel et al. 2006). Neben den »basalen« Modulen, wie z. B. den sensorischen oder motorischen Modulen, werden z. B. Module für »höhere« Hirnfunktionen wie das »Spracherwerbsmodul« oder Module für die soziale Kognition und die Wahngenerierung postuliert. Eine Erkrankung würde dann entstehen, wenn eine »schädliche Dysfunktion« (im Sinne Wakefields; Wakefield 1992) eines oder mehrerer solcher Module
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
auftritt. Dabei kann die Störung das Modul selbst beeinträchtigen, es können aber auch vor- oder nachgelagerte Module (Input-Module, Output-Module) gestört sein, was dann trotz normaler Funktion des zwischengeschalteten Moduls zu einer »Modulstörung« führen würde (»garbage in – garbage out«). Module können sogar ganz normal funktionieren und die ihnen von der Evolution zugedachten Aufgaben korrekt erfüllen. Das Ergebnis mag jedoch – wenn sich die Umwelt nur hinreichend rasch geändert hat, seit das Modul entstanden ist – nicht mehr in die Umwelt passen und daher »Symptomwert« bekommen. Die heutigen Diskussionen gehen in der Psychiatrie bei der Anwendung des Modulbegriffs weit über die klassischen »basalen« oder »peripheren« Module hinaus, sie umfassen immer mehr auch zentrale, hochkomplexe Funktionen. Allerdings muss die Hypothese der »Modularität« der menschlichen Gehirnaktivität in ihrer möglichen Bedeutung für die Nosologie und Taxonomie psychischer Störungen noch durch eingehende klinischwie experimentell-psychopathologische und neurobiologische Untersuchungen verifiziert werden.
2.4
Dimensionen der Störungsdiagnostik
Operational-deskriptive Diagnosesysteme können eine funktionsorientierte und empirisch validierte Krankheits- und Therapietheorie nicht ersetzen. Bisher sind allerdings die konzeptuellen und methodischen Voraussetzungen zur mehrdimensionalen Charakterisierung psychischer Erkrankungen nicht hinreichend entwickelt, um sie als empirischen Ausgangspunkt einer naturwissenschaftlich orientierten Ursachen-, Pathogenese- und Therapieforschung voll nutzen zu können. Dementsprechend sollen hier neben den Beschreibungskategorien des multiaxialen Ansatzes weitere Charakteristika psychischer Störungen einschließlich ihres Verlaufs und Verlaufsausgangs dargestellt werden, die einen systematischeren Zugang zur Störungsphänomenologie erlauben.
mehreren Beschreibungsebenen – z. B. intrinsischer Krankheitsprozess, Krankheitsverarbeitung, soziales Umfeld – adäquat zu erfassen sind. Allgemein lassen sich – je nach Weite oder Enge des angelegten Zeitrasters – makro- und mikrozeitliche formale Verlaufsaspekte unterscheiden: makrozeitliche Verlaufsaspekte: – Verlaufsform (phasisch, schubförmig, chronisch), – Interepisodendauer, – Episodenfrequenz, – Verlaufsgesetzmäßigkeit (mono-, bipolar), – Richtungsprognose; mikrozeitliche Verlaufsaspekte: – Krankheitsbeginn (akut, blande, primär chronisch), – Episodendauer, – Streckenprognose, – Tagesschwankungen. Krankheitsbeginn. Der eigentliche Krankheitsbeginn ist oft nicht sicher abgrenzbar, insbesondere bei sog. blandem oder primär chronischem Verlauf, v. a. aber bei einer (gleichzeitig bestehenden) Persönlichkeitsstörung. In diesen Fällen kann die Abgrenzung von »Krankheit« gegenüber einer prämorbid devianten Persönlichkeit schwierig sein, die ihrerseits eine gewisse Störungsspezifität aufweisen kann. Oft gehen der eigentlichen Krankheitsepisode unspezifische Prodromalsymptome voraus. Akuter Beginn mit zeitlich steilem psychopathologischem Gradienten – Ausdruck eines rasch de- wie restabilisierbaren »Systems« – prognostiziert in der Regel eine eher günstige Streckenprognose. Episode. Als Episode wird die zeitlich begrenzte psycho-
pathologische Dekompensation bezeichnet, die mit Restitution (Phase) oder Residualsymptomatik (Schub) abklingen, aber auch in einen chronischen Verlauf übergehen kann. Remission. Ist die Restitution vollständig, was bei gleich-
2.4.1
Verlaufsdiagnostik
Psychische Störungen entfalten sich im zeitlichen Verlauf und sind oft von lebenslanger Dauer. Dabei ist die enge Verflechtung mit dem Lebenszyklus des sich entwickelnden Individuums zu beachten. Die Verlaufscharakteristik einzelner Störungen, d. h. die spontane Verlaufsprognose, ist selbst als nosologisches Unterscheidungsmerkmal betrachtet worden (Dementia praecox vs. manischdepressive Erkrankung); unzweifelhaft muss aber der individuelle Verlauf als das Resultat einer Fülle von Einflussfaktoren aufgefasst werden, die ihrerseits nur auf
zeitig bestehender Persönlichkeitsstörung schwierig beurteilbar sein kann, wird von Remission gesprochen. Nicht immer ist eine Episode als zeitlich zusammenhängende Störung zu identifizieren; rasche Symptomwechsel, Symptomspitzen im Intervall oder zeitlich gehäufte Symptomcluster mit zwischenzeitlicher Symptomfreiheit oder verarbeitungsbedingtem Fehlverhalten sind weitere Muster akuter Symptomverläufe. Postakutes Verlaufsstadium. Mit Abklingen einer Episode beginnt das postakute Verlaufsstadium. Neben monoepisodischen werden v. a. rezidivierende Verlaufsformen beobachtet – mit unterschiedlich langem und mehr oder
45 2.4 · Dimensionen der Störungsdiagnostik
weniger symptomfreien interepisodischen Intervall, variierender Episodenfrequenz, wechselnder (affektiver) Polarität der einzelnen Episoden und unterschiedlicher Richtungsprognose über mehrere Episoden hinweg. Durch simultane oder sequenzielle Kombination verschiedener psychopathologischer Syndrome im Sinne der Komorbidität kann sich die Verlaufscharakteristik weiter komplizieren. Verlaufsausgang. Der Verlaufsausgang (»outcome«) ist
allgemein der zu einem bestimmten Zeitpunkt erfasste Status auf verschiedenen, insbesondere psychopathologischen und psychosozialen Beurteilungsebenen. Mit zunehmender Verlaufsdauer reflektiert er das Ergebnis des spontanen Krankheitsverlaufs und damit die durchschnittliche Richtungsprognose. Globale Beurteilungskriterien, wie »geheilt«, »gebessert« oder »verschlechtert«, werden der Komplexität des Verlaufsausgangs nicht gerecht, zumal die einzelnen »outcome«-Bereiche im Sinne offener teilverbundener Systeme (»open-linked systems«; Strauss et al. 1974) im Querschnitt nur locker assoziiert sind. Im übrigen erscheint das Konzept der »Heilung« in Anbetracht des rezidivierenden Verlaufs vieler psychischer Störungen nur insofern angebracht, als damit die dauerhafte – spontan einsetzende oder therapeutisch induzierte – Inaktivierung eines hypothetischen Krankheitsprozesses, eine (z. B. durch Entwicklungs- oder Lernprozesse bedingte) Reaktionsveränderung des psychobiologischen »Resonanzbodens« oder die (aktive bzw. passive) Mobilisierung hypothetischer »Gegenkräfte« verstanden wird (s. oben). Das Ergebnis ist häufig keine Restitutio ad integrum, sondern mit der Entwicklung maladaptiver Verhaltensmuster verbunden. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Frage nach den ätiopathogenetischen Modellen, die die verschiedenen Verlaufsfiguren erklären können, vorerst kaum zu beantworten ist. Ein deterministisches Modell, wonach mit einem bestimmten Krankheitsbild ein definierter Krankheitsverlauf verbunden ist, ist in der Regel nicht angemessen; gleichwohl gibt es krankheitsspezifische Verlaufsbesonderheiten, die – bei aller interindividuellen Heterogenität – auf nosologisch relativ homogene Zustands-Verlaufs-Einheiten verweisen.
2.4.2
Psychopathologische Funktionsdiagnostik
Funktionsdiagnostik ist hier im Sinne eines funktionalen, d. h. auf die zugrunde liegenden Funktionsstörungen zielenden, ätiopathogenetischen Verständnisses deskriptiver psychopathologischer Auffälligkeiten zu verstehen. Dieses zielt nicht primär auf nosologische Entitäten, son-
dern auf nosologieübergreifende Funktionsstörungen psycho-neurobiologisch determinierter Systeme, die bei ähnlichen Syndromen im Rahmen verschiedener Erkrankungen involviert sein können (van Praag et al. 1987). Die noch heute verwendete psychopathologische »Sprache« mit einem Kanon von Konzepten, Begriffen sowie grammatischen und syntaktischen Regeln zur Beschreibung psychischer Störungen bildete sich im Wesentlichen in der französischen und deutschen Psychiatrie zwischen 1815 und 1880 heraus (Berrios 1994). Der Symptomkatalog, der sich bei »vorurtheilloser Betrachtung« (Kahlbaum s. oben) in elementarer Form aus der Natur quasi von selbst ergab, hat bis heute Gültigkeit behalten. Formal kann die Grundstruktur psychopathologischer Symptome folgendermaßen definiert werden: »Symptoms are no more than systematic variations in the form and content of the patients‹ speech and habitual motility patterns« (Berrios 1994; Übersetzung: »Symptome sind nichts anderes als systematische Variationen von Form und Inhalt, von Sprache und Bewegungsmustern der Patienten.«).
Selten erfolgt allerdings in der Praxis eine rein phänomenologische Deskription – Voraussetzung einer funktionalen Korrelation –, sondern zumeist sind interpretative Anteile im Gefolge subjektiver oder interaktioneller Verarbeitung beigemengt: »Psychopathologic symptoms have two components: a biologic source (a dysfunction) that engenders a dislocation of behavior (›signal‹) and a psychosocial aspect (›noise‹) that relates to the interpretation of the behavioral dislocation by the patient or others« (Berrios 1994). [Übersetzung: »Psychopathologische Symptome haben 2 Komponenten: eine biologische Quelle (eine Dysfunktion), die eine Verhaltensstörung hervorruft (»Signal«) und einen psychosozialen Aspekt (»Geräusch«), der sich aus der Interpretation der Verhaltensänderung durch den Patienten und andere ergibt«.]
In diesem Sinne wird die Erfassung auf der Beobachterseite z. B. durch implizite nosologische Theorien (Sulz u. Gigerenzer 1982) oder durch implizite Plausibilitätskontrollen mit »Zurückweisungs«- und »Transformations«-Regeln (Berrios 1994) mitbestimmt. Dementsprechend kann von einer »vorurteilslosen« Erfassung nur bedingt die Rede sein. Als Konsequenz wird ein in Frage stehendes Symptom/Syndrom unterschiedlichen Grundprozessen attribuiert: Ein stärker »idiographisch« eingestellter Untersucher wird eher dazu neigen, psychopathologische Auffälligkeiten als Konsequenz der individuellen Lebens- und Lerngeschichte zu »verstehen«, während bei einer querschnittsbezogenen »nomothetischen« Sichtweise eher die Abweichung von einer überindividuellen Norm als »Erklärung« herangezogen werden dürfte. Hier ist Jaspers’ Unterscheidung von Form und Inhalt eines Symptoms von Bedeutung:
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
»Mental content is derived from contexts, symbolization, drives and cortical structures involved; the form of a symptom complex … is determined by etiologically-related antecedents. Thus form and content are applicable to different clinical operations; only form is relevant to diagnosis« (Akiskal 1978). (Übersetzung: »Mentale Inhalte leiten sich aus Kontext, Symbolisierung, Antrieben und involvierten kortikalen Strukturen ab; die Form eines Symptomkomplexes … wird von Voraussetzungen bestimmt, die mit der Ätiologie zusammenhängen. Form und Inhalt sind demnach auf unterschiedliche klinische Vorgänge bezogen; nur die Form ist für die Diagnosestellung von Bedeutung«.)
Die beiden Sichtweisen sind komplementär, erfordern aber beide zunächst eine möglichst vorannahmefreie deskriptive Erfassung des (formalen) Symptoms, bevor eine (inhaltliche) »Interpretation« oder »Erklärung« seines Auftretens angestrengt wird. »The demonstration that patients have psychodynamics, that they suffer with them, and that they deal with them ineffectively, does not necessarily tell us what is the matter with them, that is, why they are patients« (Meehl 1973). (Der Nachweis, dass Patienten eine Psychodynamik aufweisen, dass sie unter ihr leiden und sie unzureichend bewältigen, sagt noch nichts darüber aus, was ihnen fehlt, d. h. warum sie Patienten sind.)
Psychologische Kategorien Die geläufigen psychopathologischen Systeme und Skalen projizieren den gesamten Merkmalsraum auf ein kategoriales Koordinatennetz, das einer traditionellen Elementenpsychologie entlehnt ist. Die theoretischen Vorannahmen bestehen darin, dass Funktionen wie z. B. »Bewusstsein«, »Denken«, »Wahrnehmung«, »Affekt« etc. psychologische Kategorien darstellen, die unterscheidbar, operational beschreibbar und in ihrem jeweiligen Störungsgrad gegenüber der Norm abgrenzbar sind und auf der Störung einer identifizierbaren elementaren Funktion beruhen. Diese Annahmen sind nur bedingt erfüllt. So fehlt z. B. eine empirisch begründete operationale Definition und gegenseitige Abgrenzung normaler Funktionen, so dass eine klinisch eindeutige Zuordnung von Störungen zu den einzelnen Kategorien häufig unmöglich ist und zur Doppelkodierung von Merkmalen führt (z. B. AMDP 1997). Ebenso sind krankhafte von normalen Funktionen häufig nicht klar abgrenzbar. Rein theoretisch ist eine Abgrenzung qualitativ und/ oder quantitativ denkbar, wenn die Normalfunktion anhand spezifischer Indikatoren eindeutig definiert und in ihrem Normbereich umrissen ist (s. oben).
Psychopathologische Kategorien Interaktioneller Prozess Das Spektrum psychopathologischer Auffälligkeiten wird erst im interaktionellen Prozess unmittelbar oder mittelbar zugänglich. Eine Abweichung psychischer Funktionen wird vom Interaktionspartner entweder aus der direkten Verhaltensbeobachtung oder aus der Selbstschilderung des Patienten anhand mehr oder weniger expliziter formaler, inhaltlicher und zeitlicher Beurteilungskriterien erschlossen. Kommunikation ist in jedem Fall Voraussetzung einer adäquaten Erfassung und Abbildung psychopathologischer Merkmale: Verbales und nonverbales Wahrnehmungs- und Mitteilungsvermögen, d. h. die kommunikative Kompetenz auf beiden Seiten entscheidet über die Qualität der Kommunikation und ihre methodische Eignung als psychopathologisches Untersuchungsinstrument. Verzerrungen können – je nach Betrachtungsperspektive – auf allen Wahrnehmungskanälen bzw. durch deren Interferenz (Polzer u. Gaebel 1993) z. B. aufgrund unterschiedlicher »sozialer Codes«, durch individuelle Einstellungen und psychodynamisch begründete »Widerstände«, dyskommunikative soziokulturelle »Darbietungsregeln« sowie durch einen die Enkodierungs- und Dekodierungsleistungen direkt beeinträchtigenden pathologischen Prozess hervorgerufen werden. Eine Differenzierung der verschiedenen möglichen Determinanten eines (gestörten) kommunikativen Prozesses ist Voraussetzung für die formale Identifizierung eines psychopathologischen Merkmals.
Quantitative Normabweichungen wären dann als Hypooder Hyperfunktion, qualitative Abweichungen als Dysfunktion zu charakterisieren. Schließlich muss die Annahme, dass den unterschiedlichen psychopathologischen Kategorien (neuropsychologisch) definierte Funktionen korrespondieren, zumindest so lange in Frage gestellt werden, als nicht eine hinter den klinischen »Rohdaten« stehende Störung psychologischer »Grundfunktionen« identifiziert ist (Gaebel 1996). Auch kann eine Alteration psychischer Grundfunktionen mittels entsprechender Indikatoren noch nicht als primär oder sekundär identifiziert werden, da derartige Funktionsstörungen Ausdruck sowohl primär dysregulativer wie sekundär gegenregulatorischer Prozesse sein können. Hinzu kommt, dass einzelne Symptome oder Symptomkomplexe aufgrund unvollständiger, subklinischer oder atypischer Ausprägung, Maskierung und Kombination nicht oder fehlerhaft identifiziert werden, was zu diagnostischen Irrtümern Anlass geben kann. Psychopathologische Symptome/Syndrome erlauben beim gegenwärtigen Stand ihrer Erfassung noch keine sicheren Rückschlüsse auf die Pathophysiologie involvierter Funktionssysteme. Laborbefunde in der somatischen Medizin verweisen demgegenüber zwar bereits auf organübergreifende oder –spezifische Funktionszustände, sind aber in aller Regel ebenfalls mehrdeutig. Auch hier hilft erst eine bestimmte Befundkonstellation vor dem Hintergrund von Regelwissen bei der diagnostischen Differenzierung weiter. »Latente« Funktionsstö-
47 2.4 · Dimensionen der Störungsdiagnostik
rungen können oft erst durch funktionsspezifische Belastungstests aufgedeckt werden. Die Mehrdeutigkeit des pathologischen Ausfalls häufig hochkomplexer behavioraler Funktionstests (z. B. Wisconsin Card Sorting Test) muss hier allerdings gleichermaßen durch Berücksichtigung der Befundkonstellation wie hypothesengeleitete Analyse der Untersuchungsbedingungen und involvierten Teilfunktionen differenziert werden.
Bestandsaufnahme psychischer Grundfunktionen Ansätze zu einer experimentellen Reduktion klinischpsychopathologischer Phänomene auf deren »psychologischen« Kern bedürfen zunächst einer Bestandsaufnahme psychischer »Grundfunktionen« (vgl. Pöppel 1988). Eine Taxonomie derartiger Funktionen unter Berücksichtigung ihrer Interdependenz (z. B. ubiquitär intervenierende Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozesse) gilt es erst zu entwickeln. Verhaltensbesonderheiten, die zunächst möglichst theorieneutral deskriptiv erfasst werden, sind nur durch Berücksichtigung der externen und internen Stimulusbedingungen etc. »erklärbar« und damit »verstehbar«. Eine weitere Differenzierung ist durch Berücksichtigung longitudinaler (anamnestischer) Informationen sowie durch standardisierte Untersuchungsbedingungen bezüglich des im explorativen Screening herausgehobenen Merkmals möglich. Dabei müssen die verschiedenen Informationsquellen (subjektiv-verbal, motorisch, physiologisch) und methodischen Zugangsweisen (Selbst-, Fremdbeurteilung, Verhaltensbeobachtung, Verhaltenstest) der Psychopathologie voll genutzt werden (Gaebel u. Wölwer 1996). Mit Hilfe ergänzend durchgeführter biologischer Funktionstests wäre eine funktionale Klassifikation zu entwickeln, die von definierten Störungen psycho-neurobiologischer Systeme ausgeht. Derartige Überlegungen machen eine psychodynamische Perspektive nicht überflüssig, sondern bilden ihre Grundlage. Die diagnostische wie therapeutische Vernachlässigung der subjektiven Krankheitsbedeutung würde einem Sinnverlust in der therapeutischen Beziehung und subjektiven Krankheitsbewältigung Vorschub leisten (Gabbard 1992). Bei einer – vor dem Hintergrund traditioneller Diagnostik – stärker an psychodynamischen Fragestellungen interessierten operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) wird neuerdings versucht, auch zentrale psychodynamische Konstrukte wie Krankheitserleben, Beziehung, Konflikt und Struktur operational zu erfassen (Arbeitskreis OPD 2001).
2.4.3
Soziale Funktionsdiagnostik
ICD-10 und DSM-IV unterscheiden sich wesentlich in der Gewichtung psychosozialer Kriterien (Saß et al. 1998). Während DSM-IV bei nahezu jeder Störung als Eingangskriterium klinisch bedeutsame »Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen« aufführt, versucht ICD-10 psychosoziale Kriterien bei der Diagnosestellung zu vermeiden und trägt damit der Ansicht Rechnung, dass die psychosozialen Auswirkungen psychischer Störungen auf einer gesonderten Klassifikationsachse in Form von Behinderung, Einschränkung und Funktionsstörung kodiert werden sollten. Psychosoziale Aspekte werden im Rahmen der klinischen Befunderhebung explizit berücksichtigt (z. B. Sozialanamnese), sozial-kommunikative Aspekte sind zumindest impliziter Bestandteil der psychopathologischen Befunderhebung. Sie sind zentraler Bestandteil einer psychodynamisch orientierten Beziehungsanalyse und stellen andererseits ein wesentliches »OutcomeKriterium« dar.
Einfluss sozialer Faktoren Zum Einfluss sozialer Faktoren auf Entstehung und Verlauf psychischer Störungen gibt es eine Reihe sozialwissenschaftlicher Untersuchungen, die im Kontext unterschiedlicher soziologischer Theorien (Eaton 1994) die Bedeutung von Schichtmerkmalen, »life events«, sozialem Netzwerk oder emotionalem Familienklima mit Hilfe entsprechender Erhebungsinstrumente überprüft haben, allerdings nur teilweise belegen konnten. Interkulturelle epidemiologische Vergleichsstudien weisen für Krankheitsverläufe eine beachtliche Umweltplastizität aus. Gesellschaftliche Einflüsse überformen die klinische Ausprägung von Symptomen psychischer Störungen in erheblichem Ausmaß (Kirmayer 2005). Trotz unbestrittenen Einflusses von Umgebungsfaktoren auf die strukturelle und funktionelle Hirnentwicklung (Eisenberg 1995), wird das Ausmaß von Umwelteinflüssen in der Ätiopathogenese psychischer Störungen kontrovers diskutiert. Während für die Manifestation schizophrener Störungen – aufgrund von Zwillingsbefunden Paradebeispiel für eine Anlage-Umwelt-Interaktion – auch die Möglichkeit einer rein genetischen Ursache diskutiert wird (McGuffin et al. 1994), wird für affektive Störungen die Möglichkeit einer – über Genexpression vermittelten – neurobiologischen Sensitivierung durch psychosoziale Stressoren (Verlustereignisse) wie durch biochemische Begleitwirkungen einer stattgefundenen Krankheitsepisode als Rezidivmechanismus erwogen (Post 1992). Umwelt-Gen-Interaktionen sind vermutlich die Grundlage langfristiger neurobiologischer Adaptationsvorgänge (neuronale Plastizität), die für (psycho- wie somato-)therapeutische Langzeiteffekte verantwortlich
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
sind (Hyman 2000). Wissenssoziologische Grundlagen sind von Bedeutung für das Verständnis der Entwicklung von Wissenssystemen, wie z. B. psychiatrischen Klassifikationssystemen (Eaton 1994). Bei multiaxialer Diagnostik mit dem DSM-IV werden deskriptiv auf Achse IV psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme, auf Achse V das globale Funktionsniveau erhoben. Die multiaxial konzipierte OPD (s. oben) erfasst auf Achse II das vom Patienten erlebte »habituelle« wie das in der diagnostischen Situation aktuelle Beziehungsverhalten, auf Achse III das Konfliktmuster mit weiteren interpersonellen Konfliktkonstellationen. Ethologische Konzeptionen haben jüngst zu der Forderung beigetragen, soziobiologische Aspekte als Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie stärker zu berücksichtigen (Gardner 1996). Zu dieser Forderung scheinen u. a. Befunde zur sozialkommunikativen Bedeutsamkeit basolateraler Hirnstrukturen (»social brain«) zu berechtigen (Deakin 1994). Gerade diese letztere Entwicklung hat in jüngster Zeit enorme Forschungsanstrengungen zur Folge gehabt. Die »soziale Kognition« als Fähigkeit des Menschen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, aber auch im sozialen Kontakt »normal« zu funktionieren, ist mittlerweile eine durch viele neurowissenschaftliche Untersuchungen gut etablierte Grundfunktion des menschlichen Gehirns. Dabei interagieren in der »sozialen Kognition« psychologische und neurobiologische Prozesse (vgl. Übersicht in der Sonderausgabe der Zeitschrift »Brain Research«, Vol. 1079, 2006). Die Implikationen dieser neuen Sichtweise auf soziale Vorgänge für die Psychiatrie sind erheblich, weisen in ihrer ethisch-moralischen Dimension (Stichwort: Wie frei ist der Mensch bei sozial relevanten Entscheidungen?) jedoch weit über die Psychiatrie hinaus. Auch für die Ursachenforschung der Stigmatisierung psychisch Kranker bieten sich hier ganz neue Ansätze; so konnten beispielsweise neurophysiologische Grundlagen für Stereotypien und Vorurteile gefunden werden (Mitchell et al. 2006). Da Störungen der sozialen Kognition aber auch als wichtige Grundlagen für die Symptombildung psychischer Störungen anzusehen sind, gibt es bereits erste therapeutische Ansätze, die sich speziell mit einer psychotherapeutischen Verbesserung der sozialen Kognition bei psychischen Störungen beschäftigen (Wölwer et al. 2005; Choi u. Kwon 2006; Gevers et al. 2006).
2.4.4
Biologische Funktionsdiagnostik
Hier geht es um die Identifikation normabweichender Befunde bei psychischen Störungen auf verschiedenen Ebenen »unterhalb« des beobachtbaren Verhaltens (Neuropsychologie, Psychophysiologie, Neurophysiologie,
Hirnstoffwechsel/-durchblutung, Neurobiochemie, Hirnmorphologie, Molekularbiologie). Dabei muss differenziert werden, ob die entsprechenden Merkmale das Auftreten einer Krankheitsepisode, prämorbide Krankheitsbedingungen oder residuale Krankheitsfolgen charakterisieren bzw. auch bei klinisch gesunden Mitgliedern von Risikopopulationen beobachtbar sind (s. unten). Die Suche nach den neurobiologischen Determinanten psychischer Störungen zielt letztlich darauf ab, zwei konzeptuell und methodisch weit voneinander »entfernte« Beobachtungsebenen miteinander in Beziehung zu setzen: Die klinisch-phänomenologische Beschreibungsebene einerseits und die Ebene der als ätiologisch relevant postulierten Determinanten andererseits (z. B. genetische Faktoren). Dazwischen ist vermittelnd eine Reihe pathogenetisch relevanter Ebenen eingeschoben, deren Interrelation durch sog. Mehrebenenuntersuchungen unter standardisierten Bedingungen zu klären ist (Gaebel u. Maier 1993; Lopez-Ibor et al. 2002): die Ebene der neuropsychologischen Leistung; neurophysiologische und psychophysiologische Auffälligkeiten (z. B. evozierte Potenziale, autonomes Erregungsniveau, Augenfolgebewegungen); neurobiochemische Abweichungen (z. B. Neurotransmitterstörungen, neuroendokrinologische, immunologische Befunde); hirnfunktional mit bildgebenden Verfahren (SPECT, PET, fMRT) in vivo nachweisbare Auffälligkeiten (z. B. regionale Mangeldurchblutung, regionaler Hypometabolismus); hirnmorphologisch mit bildgebenden Verfahren (CT, NMR) in vivo oder neuropathologisch post mortem feststellbare Normabweichungen (z. B. Ventrikelweite, Größe bestimmter Nuklei und Hirnregionen, Hemisphärenasymmetrien etc.); molekularbiologische Analysen (z. B. Assoziationsund Kopplungsstudien, Genprodukte, postsynaptische Signaltransduktion, neuronale Plastizität). Als Ausgangspunkt korrelativer Studien (s. unten) ist allerdings noch unklar, ob der psychopathologische Phänotyp nicht durch einen neurobiologisch definierten Phänotyp (Endophänotyp; Gottesman et al. 1987) ersetzt bzw. ergänzt werden sollte, der z. B. mit dem familiären Auftreten der Störung assoziiert ist und eine größere Spezifität für den angenommenen Genotyp aufweist. Jenseits genetischer Forschung eröffnet sich im Aufsuchen neurobiologischer Krankheitskorrelate und in der Charakterisierung ihres Zusammenhangs untereinander sowie mit dem zeitlichen Verlauf bzw. Stadium der Erkrankung (Risikofaktor, Vulnerabilitätsmarker, Residualmarker etc.; s. unten) ein indirekter Weg zur Aufklärung der (Ätio-) Pathogenese.
49 2.5 · Forschungskonsequenzen
2.5
Forschungskonsequenzen
Die Umsetzung der genannten Konzepte in ein konkretes Forschungsdesign zur Ätiopathogenese psychischer Störungen erfordert forschungsstrategische Vorüberlegungen, ohne die Forschungsziele nicht erreicht und Forschungsressourcen verschwendet werden. Zunächst sollen einige begriffliche Klärungen vorangestellt werden, bevor 2 komplementäre Forschungsstrategien vorgestellt werden (vgl. Gaebel u. Maier 1993).
2.5.1
Terminologischer Exkurs
tig definiert. Einerseits wird darunter ein prämorbid feststellbarer Risikofaktor verstanden, der auch nach Erstmanifestation der Erkrankung persistiert; bei bereits manifest Erkrankten kann die Ausprägung dieses Merkmals u. U. die Rezidivneigung bzw. Neigung zur Chronifizierung voraussagen. Andererseits wird unter Vulnerabilitätsmarker ein Risikoindikator verstanden, dessen Validität durch die Differenzierung zwischen gesunden Angehörigen von Erkrankten und gesunden, familiär nicht belasteten Kontrollen belegt wird (»true vulnerability«-Marker; Steinhauer et al. 1991). Vulnerabilitätsindikatoren müssen nicht notwendig direkter Ausdruck der Ätiopathogenese des Krankheitsprozesses sein, sie können auch lediglich mit einem Risikofaktor assoziiert sein.
Korrelate – Indikatoren/Marker – Determinanten. Korre-
late sind zunächst statistisch assoziierte Merkmale psychischer Störungen, deren potenzielle ätiopathogenetische Bedeutung offenbleibt, sofern nicht forschungsstrategische Voraussetzungen (s. unten) eine nähere Charakterisierung des Zusammenhangs erlauben. Akiskal (1978) unterscheidet ätiologische, epiphänomenale und kovariierende Korrelate. Näher spezifizierte Indikatoren oder Marker (s. unten) haben über einen korrelativen Zusammenhang hinaus bereits einen gerichteten indikativen Status; sie fungieren als objektive transphänomenale, d. h. auf einen hypothetischen Krankheitsprozess bzw. dessen dispositionelle Grundlagen verweisende Zeichen, ohne dass ihnen selbst notwendig eine pathogenetische Bedeutung zukommt. Sie können auch lediglich mit einem Risikofaktor für die Erkrankung assoziiert sein. Zufriedenstellende Spezifität und Sensitivität vorausgesetzt, wären sie als eine Art diagnostischer Test einsetzbar. Determinanten schließlich sind konzeptuell und empirisch am weitesten entwickelte Merkmale; in einem pathophysiologischen Kontext käme ihnen die Bedeutung definierter (ätio-)pathogenetischer Bedingungskonstellationen zu. Risikofaktoren und Risikoindikatoren. Risikofaktoren zei-
gen bei Personen, die bisher nicht erkrankt sind, ein erhöhtes Manifestationsrisiko an. Risikoindikatoren kennzeichnen dagegen lediglich die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, ohne dass jeder Träger dieser Eigenschaft ein tatsächlich erhöhtes Risiko für die Krankheitsmanifestation aufweisen muss; z. B. stellt die Verwandtschaft zu einem Erkrankten bei familiärer Häufung der Erkrankung einen Risikoindikator dar, obwohl bei monogener genetischer Übertragung nur eine Teilgruppe der Angehörigen tatsächlich Träger des Genotyps ist. Vulnerabilitätsmarker. Entsprechend der Mehrdeutigkeit
des Vulnerabilitätsbegriffs ist dieser Begriff nicht eindeu-
Genetische und andere ätiologische Marker. Diese Indi-
katoren kennzeichnen das Vorliegen eines Ursachenfaktors der Erkrankung. Indikatoren des prämorbiden Zustands bzw. dessen unspezifischer Folgezustände (z. B. reduziertes Ausbildungsniveau oder lediger Familienstatus, die häufig im Rahmen eines »vorauslaufenden Defekts« auftreten) oder Indikatoren der mangelnden Verfügbarkeit protektiver Mechanismen (z. B. Fehlen ausgeprägter Intelligenz) können zwar Risikofaktoren oder Vulnerabilitätsmarker, nicht aber ätiologische Marker darstellen. Ätiologische Marker sind demgegenüber Indikatoren von Determinanten der hypothetischen Vulnerabilität, d. h. »true vulnerability«-Marker. Von Markern im genetischen Sinn wird zudem gefordert, dass sie auf dem Genom lokalisierbar sind (z. B. DNA-Marker, Blutgruppen, Rot-Grün-Blindheit). Episoden- bzw. Verlaufsindikatoren. Treten Normabwei-
chungen eines Indikators nur bei manifest Erkrankten während der Episode auf, so handelt es sich um Episodenindikatoren. Um diesen Markertyp zu identifizieren, ist eine operationalisierte psychopathologische Episodendefinition erforderlich, wie sie z. B. für affektive Störungen entwickelt wurde (Frank et al. 1991). Das hierbei definitorisch zu berücksichtigende Gegenstück der Episode wäre die (Teil-)Remissionsphase. Da zu verschiedenen Verlaufszeitpunkten unterschiedliche Aspekte der Krankheitsphänomenologie im Vordergrund stehen, die nur partiell korrelieren und nicht synchron variieren, muss die Operationalisierung einzelner Verlaufsstadien mehrere Symptomdimensionen berücksichtigen. Residualmarker zeigen eine postepisodisch persistierende Symptomatik an; hier wären auch Folgezustände der Erkrankung zu subsumieren. Verlaufsindikatoren markieren ein bestimmtes Verlaufsstadium oder sagen den weiteren Verlauf, z. B. eine
2
50
Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
erhöhte Rezidivneigung, voraus; sie wären somit für den weiteren Verlauf von prognostischer Relevanz (Prädiktoren).
2
Akuitäts- bzw. Beeinträchtigungsindikatoren. Hier sind
Indikatoren zu subsumieren, die in Abhängigkeit von der Akuität der psychopathologischen Symptomatik (Zeitgradient) oder vom Schweregrad der damit einhergehenden psychosozialen Beeinträchtigung variieren und teilweise mit Episodenindikatoren überlappen. Insbesondere beim internosologischen Vergleich eines neurobiologischen Merkmals müssen Gruppenunterschiede hinsichtlich Beeinträchtigung und/oder Akuität kontrolliert werden, damit Ausprägungsunterschiede des untersuchten Merkmals nicht als Ausdruck nosologischer Spezifität fehlinterpretiert werden. State- bzw. Traitmarker. Diese Differenzierung betrifft die
zeitliche Variabilität der Ausprägung einer Indikatorvariablen. Besteht bei manifest Erkrankten oder bereits vor Auftreten der Erkrankung eine Normabweichung bezüglich der Indikatorvariablen, bleibt diese trotz Variation bzw. Remission der Symptomatik bestehen und ist nicht auf peristatische Faktoren (z. B. Medikation) zurückzuführen, so liegt ein zeitinvarianter Trait-Marker vor. Besteht die Normabweichung – krankheits- oder behandlungsbedingt – nur während der Krankheitsepisoden, so liegt ein State-Marker (nicht synonym mit Episodenmarker) vor. Die Trait-Qualität eines Indikators kann indirekt auch durch dessen deviante Ausprägungen bei gesunden Angehörigen erhärtet werden. Eine Trait-Variable sollte bereits im prämorbiden Stadium nachweisbar sein. State-Trait-Kontinuum. Häufig zeigen Indikatoren sowohl
State- als auch Trait-Eigenschaften (»mediating vulnerability factor«; Nuechterlein u. Dawson 1984): Es besteht eine zeitlich (auch außerhalb von Krankheitsepisoden) überdauernde Normabweichung bei Erkrankten, die beim Auftreten von Krankheitsepisoden ausgeprägter wird. Daher erscheint es (auch unter funktionalem Aspekt, Abschn. 2.5.2) angemessener, von einem StateTrait-Kontinuum, anstatt von einer Dichotomie auszugehen. Jener Teil der zeitlichen Varianz der Indikatorausprägung über verschiedene Meßzeitpunkte, der nicht durch die synchrone Fluktuation der psychopathologischen Symptomatik erklärt werden kann, könnte als Maß für die »Trait«-Qualität eines Indikators angesehen werden.
2.5.2
Forschungsstrategien
Assoziationsstudien In einem ätiopathogenetisch orientierten Forschungsmodell werden die eingangs skizzierten »vertikal« organisierten Untersuchungsebenen (Helmchen 1988) im Sinne einer Mehrebenenanalyse im Querschnitt zueinander in Beziehung gesetzt. Zielsetzung dieser Forschungsstrategie ist zunächst das Auffinden von Krankheitskorrelaten über verschiedene Untersuchungsebenen hinweg. Zeitliche Dimension. Messzeitgleichheit mit neurobiolo-
gischen Merkmalen ist allerdings durch den in der Regel zeitversetzt stattfindenden und verschiedene Transformationsstufen durchlaufenden Erhebungsprozess psychopathologischer Merkmale nicht gewährleistet. Bisher fehlt der Erfassung psychopathologischer Merkmale die angemessene Berücksichtigung der zeitlichen Dimension (vgl. Berrios 1994). Tatsächlich werden Befunde mit versetzten Zeitkoordinaten unter der – unbewiesenen – Annahme in Beziehung gesetzt, dass die zum Zeitpunkt t1 bzw. t2 gemessenen Größen mindestens für den beide Messzeitpunkte umfassenden Zeitraum t1–t2 repräsentativ sind. Zur besseren Synchronisierung im Mikrobereich, insbesondere bei Verwendung zeitlich hochauflösender psychophysiologischer Untersuchungsmethoden (z. B. evozierte Potentiale), spielt der Einsatz behavioraler Indikatoren eine besondere Rolle. Konzeptuell ist zwar keine Untersuchungsebene einer anderen »epiphänomenal« untergeordnet, eine Aussage über die Validität biologischer Indikatoren im Sinne von Krankheitsdeterminanten oder -ursachen erlaubt dieser Ansatz aber zunächst nicht. Dem Vorwurf einer heuristischen »fishing-expedition« (Palm 1990) entgeht dieser Ansatz allerdings nur durch Berücksichtigung »horizontaler« Aspekte (Helmchen 1988) im Sinne einer prospektiv angelegten Verlaufsforschung im makro- und mikrozeitlichen Bereich. Sie erst erlaubt Aussagen über pathogenetisch oder ätiologisch relevante Prozesse, die der Episodenmanifestation vorauslaufen, sie begleiten oder überdauern. Dies wiederum setzt präzise Episodenindikatoren voraus. Eine Differenzierung zwischen dispositions- und zustandsgebundenen Krankheitskorrelaten erfordert deren longitudinale Untersuchung in prä-, intra- und postmorbiden Krankheitsstadien unter adäquater Berücksichtigung der fluktuierenden Psychopathologie. Vergleich neurobiologischer Parameter. Aberrationen neurobiologischer Parameter sind nur vergleichend zu identifizieren und interpretieren. Während intraindividuelle Vergleiche Aussagen zur State- bzw. Trait-Spezifität ermöglichen, erlauben erst interindividuelle Vergleiche Aussagen zur Krankheitsspezifität (krank vs. gesund),
51 2.5 · Forschungskonsequenzen
Syndromspezifität (z. B. Positiv- vs. Negativsymptomatik), Spektrumspezifität (z. B. Schizophrenie vs. schizotypische Persönlichkeit) oder Nosologiespezifität (z. B. Schizophrenie vs. Affektpsychose) eines Befundes. In Umkehrung dieses Ansatzes kann auch eine nosologieübergreifende »select-by-marker«-Strategie (Buchsbaum et al. 1976) angewandt werden, bei der homogene Gruppen anhand der Ausprägung neurobiologischer Merkmale gebildet und psychopathologische oder diagnostische Charakteristika als abhängige Variablen betrachtet werden. Dieses Vorgehen empfiehlt sich insbesondere in Zusammenhang mit dem unten diskutierten funktionalen Ansatz. Unterscheidung primärer vs. sekundärer Störungen.
Schwierig bis unmöglich ist derzeit die Unterscheidung primärer (krankheitsprozessabhängiger) Störungen von sekundären (reaktiven, kompensatorischen, reparativen etc.) Veränderungen auf den jeweiligen Untersuchungsebenen. Rückschlüsse auf eine quantitativ und/oder qualitativ gestörte Funktionscharakteristik psychobiologischer Systeme (Hypo-, Hyper-, Dysfunktion) aufgrund singulärer und einmalig erhobener Funktionsparameter scheinen ohne Kenntnis von deren normaler Regulationsdynamik verfrüht. Nur die vergleichende experimentelle Untersuchung einer mutmaßlich gestörten Funktion im Tiermodell, an gesunden Kontrollpersonen sowie an Patienten mit anderen psychiatrischen Krankheitsbildern kann hier künftig zum Ziel führen. Tiermodelle. Die Krankheitsmodellierung am Tier stellt eine Basismethode dar, mit deren Hilfe die Kausalität einzelner Faktoren hinsichtlich ätiopathogenetischer Fragestellungen empirisch evaluiert werden kann. Nur das Tiermodell erlaubt die experimentelle Variation von Faktoren, deren Untersuchung am Menschen lediglich in prospektiven Studien oder retrospektiven Analysen in konfundierter Form mit nur vergleichsweise schlecht zu kontrollierenden anderen Faktoren möglich ist. Trotz der eingeschränkten Übertragbarkeit von tierexperimentellen Befunden auf den Menschen sind auf der Ebene der Neurowissenschaften wesentliche Ergebnisse erzielt worden. Gleichwohl wird selbst nach Aufklärung der biologischen Prozesse und Mechanismen die Frage nach der Beziehung derselben zur Phänomenologie der Symptomatik sowohl auf der subjektiven Ebene des Erlebens als auch auf der Ebene des Verhaltens offenbleiben. Statistisches Modell der Korrelation. Bei der Wahl des
Auswertungsverfahrens ist zu berücksichtigen, dass das statistische Modell der linearen Korrelation dem Sachverhalt durchaus nicht angemessen sein muss, da Prozesse auf verschiedenen Ebenen jeweils eigenen, nichtlinearen Gesetzmäßigkeiten folgen können (z. B. kurvilineare Arousal-Leistungs-Beziehung).
Darüber hinaus ist mit Schwellenphänomenen zu rechnen, d. h. Funktionsstörungen auf einer Ebene treten möglicherweise erst nach Überschreiten der homöostatischen Regelbreite aus der Latenz und manifestieren sich dann auch auf anderen Ebenen. Pathologische Befunde sind hier erst unter nicht mehr kompensierbaren Belastungsbedingungen zu erwarten.
Funktionaler Ansatz Zielsetzung der oben geforderten Denosologisierung und funktionalen Orientierung der Diagnostik ist die Entwicklung der klinischen Psychopathologie zu einer pathopsychophysiologischen Funktionsdiagnostik. Ähnlich dem bisherigen Vorgehen in der Medizin muss der pathophysiologisch unspezifische Allgemeinbefund durch normierte Funktionsindikatoren ergänzt bzw. ersetzt werden, die über den Funktionszustand einzelner Organsysteme im zeitlichen Verlauf Auskunft geben. ! Wenn die Funktion zerebraler (Sub-)Systeme (neuronale Module, Transmittersysteme etc.) in der Gewährleistung bestimmter psychischer (Anpassungs-)Leistungen besteht, sind vorläufig, d. h. bis zur Entwicklung direkter neurobiologischer Indikatoren, Verhaltensindikatoren in standardisierten Untersuchungssituationen als Funktionsindikatoren heranzuziehen. Psychopathologische Syndrome/Symptome sind dementsprechend auf deviante verhaltenskorrelierte psychische Grundfunktionen zurückzuführen, deren Normabweichung insofern »unspezifisch« ist, als sie jenseits nosologischer Konzepte bei verschiedenen psychischen Erkrankungen vorkommen kann, bei denen die entsprechenden Grundfunktionen involviert sind. Als forschungsstrategische Konsequenz ergibt sich, neurobiologische Analysen des Krankheitsgeschehens im Kontext übergreifender psychobiologischer Funktionsmodelle anzusiedeln, die sowohl für krankhaftes wie gesundes Verhalten Gültigkeit haben. Homöostasemodell. Beispielsweise geht das Homöosta-
semodell (Bertalanffy 1974) davon aus, dass psychobiologische Funktionen innerhalb deren adaptiver Regelbreite der Anpassungsleistung des Organismus dienen. Informationsverarbeitung, Kommunikation, Problemlösung, Trieb- und Affektkontrolle etc. wären demnach funktionale Teilaspekte einer situativ differenzierten individuellen Anpassungsleistung (»Lebenstest«), deren Qualität unter gesunden wie krankhaften Bedingungen aus verschiedensten konzeptuellen und methodischen Perspektiven untersuchbar ist. In der klinischen Routinediagnostik werden derartige Aspekte aus anamnestischen Angaben erschlossen (z. B. »Knick in der Lebenslinie«), bei der Leistungsbewertung müssen die individuelle psychobiologische Entwicklungs-
2
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2
Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
phase und soziokulturelle Einbettung ebenso wie bestimmte Moderatorvariablen (z. B. Geschlecht) als pathoplastische Faktoren berücksichtigt werden. Grundsätzlich gilt allerdings, dass teleologische Gesichtspunkte bei der Analyse gesunden und kranken Verhaltens (»Fehlanpassung«) die eingehende (induktive) empirische Analyse von Teilfunktionen nicht ersetzen können (Hartmann 1959). Dementsprechend ist der Einsatz umschriebener funktionsdynamischer Forschungsmodelle erforderlich, die unter definierten Stimulusbedingungen die Integrität/ Störung von psychischen Elementarfunktionen (z. B. Informationsverarbeitung) und deren neurobiologischer Korrelate mittels funktionsadäquater Indikatoren untersuchen. Zunehmend werden z. B. hirnregional differenzierende neuropsychologische »Belastungstests« unter simultaner Hirnfunktionsmessung (z. B. rCBF, fMRI) eingesetzt (Berman 1987), die am ehesten eine wechselseitige Validierung gestörter psychischer und neuronaler Funktionen ermöglichen. Experimentelle Forschungsansätze mit pharmakologischen Belastungsprozeduren (z. B. Apomorphin-»Challenge«, Testdosismodell) können ebenfalls Auskunft über die Ansprechbarkeit definierter psychobiologischer Systeme im Sinne einer Funktionsdiagnostik geben. Hier werden künftig auch genetische Untersuchungen zur Stratifizierung von Probandenkollektiven eingesetzt werden, Beispiele aus der experimentellen Psychopathologie hierzu gibt es bereits (Cospi u. Moffitt 2006). Ganz neue Aspekte ergeben sich auch durch den Einsatz der funktionellen Kernspintomographie. So konnte beispielsweise bei Phobien und Zwangserkrankungen gezeigt werden, dass medikamentöse und psychotherapeutische Ansätze in ähnlicher Weise auf dieselben Hirnareale einwirken. Dies kann nun nicht nur der Objektivierung einer therapeutischen Wirksamkeit dienen, sondern eröffnet gerade der Psychotherapieforschung ganz neue Möglichkeiten der Validierung von Behandlungskonzepten und der Psychopathologieforschung neue Wege der Überprüfung von neurobiologischen Effekten bestimmter Belastungsprozeduren. Hierdurch wird eine Funktionsdiagnostik möglich, die über die klinische Phänomenologie hinausweist und zukünftig für die Diagnostik, die Prognoseeinschätzung und die Auswahl der geeignetsten Therapiemethode eine Rolle spielen dürfte (Linden 2006). Hieraus ergeben sich jedoch auch neue ethische Problemstellungen. So wird gegenwärtig diskutiert und untersucht, inwiefern aus der Aktivitätsmessung bestimmter Gehirnareale Rückschlüsse auf unbewusste oder nicht explizierte Denkinhalte möglich sind (Übersicht bei Haynes u. Rees 2006). Während dies künftig faszinierende neue Einblicke in bisher der objektiven Untersuchung unzugängliche mentale Prozesse erlauben dürfte (und zumindest für visuelle Informationen auch bereits möglich ist), sind die möglichen
ethischen Implikationen noch nicht abzusehen. Für die psychiatrische Nosologie stellt sich die Frage, ob damit ein erster Schritt getan ist, die rein subjektive psychopathologische Phänomenologie durch eine objektive »Gehirnmessung« zumindest ansatzweise zu komplementieren. Die hier angesprochenen Untersuchungsmöglichkeiten gehen dabei wesentlich über die reine Darstellung von aktivierten Hirnarealen, beispielsweise bei akustischen Halluzinationen, hinaus, da damit erstmals Rückschlüsse auf Denkinhalte der betroffenen Person möglich sind. Die bislang gültige Grenzziehung zwischen dem diagnostizierenden Psychiater und dem sein Erleben kommunizierenden Patienten, zwischen Krankheit und Kranksein werden durchlässig. Zwischen Neurobiologen, die in einem viel beachteten Manifest der Hirnforschung im 21. Jahrhundert ein neurobiologisch determiniertes Menschenbild skizzieren, und klinisch tätigen Psychiatern, die dem Menschen noch Raum für Subjektivität und Willensfreiheit einräumen, hat sich eine längst überfällige Diskussion um das Menschenbild im 21. Jahrhundert entwickelt (Maier et al. 2005), das Grundlage aller Konzepte über psychische Gesundheit und Krankheit ist.
2.6
Ausblick
Die vorstehenden Ausführungen zur Ätiopathogenese psychischer Störungen bilden einen konzeptuellen Rahmen, der durch empirische Untersuchungen weiter ausgefüllt werden muss. Die skizzierten Störungsdimensionen und ihre Indikatoren sowie die verfügbaren forschungsstrategischen wie untersuchungsmethodischen Möglichkeiten verweisen auf ein bisher nur unvollständig und kaum systematisch genutztes Forschungsinventar, durch dessen Einsatz die Aufklärung der ätiopathogenetischen Grundlagen psychischer Störungen voranzutreiben wäre. Störungsübergreifende heuristische Rahmenkonzepte müssen in empirisch überprüfbare Teilhypothesen übersetzt und auf ihre störungsspezifische Gültigkeit geprüft werden. Die Komplexität psychischer Störungen erfordert interdisziplinäres Denken und Handeln. Dabei kommt der Psychiatrie ein ihr eigenes ausgeprägtes Methodenbewusstsein zugute, das für die adäquate Formulierung und Umsetzung von Fragestellungen unerlässlich ist. Die damit verbundene Notwendigkeit der wissenschaftlichen Forschungskooperation und -koordination rückt die Psychiatrie wieder näher an die Medizin. Im Zentrum klinisch-psychiatrischer Tätigkeit steht die Begegnung mit dem Kranken; sie bildet nicht nur Grundlage und Ausgangspunkt wissenschaftlichen Fragens, ihr gelten auch die Antworten.
53 Literatur
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Kapitel 2 · Ätiopathogenetische Konzepte und Krankheitsmodelle in der Psychiatrie
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3 3 Psychiatrische Epidemiologie M. M. Fichter, I. Meller
3.1
Einleitung
– 56
3.2
Historische Aspekte
3.3
3.5.3
3.3.1 3.3.2 3.3.3
Einsatzgebiete und Betrachtungsebenen der psychiatrischen Epidemiologie – 57 Deskriptive Epidemiologie – 57 Analytische Epidemiologie – 57 Experimentelle Epidemiologie – 57
3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4
Methodik der Epidemiologie – 58 Stichproben und Grundgesamtheit – 58 Konzepte und Indizes – 59 Instrumente – 60 Falldefinition und Diagnose – 61
3.6
– 56
3.5 3.5.1 3.5.2
3.5.4
3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5
Ergebnisse von Feldstudien – 62 Frühe Feldstudien – 62 Große psychiatrisch-epidemiologische Studien der 3. Generation – 63 Gegenwärtige Entwicklungen in der psychiatrischen Epidemiologie – 65 Fragen und Probleme in der psychiatrischen Epidemiologie der Gegenwart – 66 Einige spezielle Erkrankungen und Risikofaktoren – 67 Schizophrenie – 67 Depressive Erkrankungen – 67 Demenzielle Erkrankungen – 68 Angststörungen – 68 Substanzmissbrauch/-abhängigkeit Literatur
– 69
> > Die Epidemiologie beschäftigt sich mit der Verteilung einer Krankheit in Zeit und Raum sowie mit Faktoren, die diese Verteilung beeinflussen (Cooper u. Morgan 1977). Seit ihren Anfängen als eigenständige Disziplin hat sie die Rolle einer Grundlagenwissenschaft des öffentlichen Lebens gespielt, da ihr Interesse traditionell der Bevölkerung gilt. Nach Gruenberg (1980) ist die Epidemiologie durch die Art ihrer Fragestellungen definiert, nicht durch ihre Methoden, darauf Antworten zu finden. Bei seinen Fragen geht der Epidemiologe von Modellen aus, welche die Bedingungen für Gesundheit und Krankheit im Kontext einer Wechselwirkung von Wirt, Agens und Umgebung betrachten. In den letzten Jahrzehnten sind diese Modelle durch Konzepte der klinischen Forschung, der Genetik, der Molekularbiologie, der Ökologie, der Psychologie und der Soziologie ergänzt worden. Die moderne Epidemiologie versucht somit, Untersuchungsansätze und Ergebnisse aus unterschiedlichen Forschungsgebieten in einen einheitlichen Bezugsrahmen zu integrieren. Die klinische Epidemiologie konnte mit dem Konzept begründet werden, definierte Populationen zu untersuchen.
– 68
56
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
3.1
3
Einleitung
Die psychiatrische Epidemiologie ist ein Zweig der allgemeinen Epidemiologie. Als solche ist sie eine medizinische Disziplin. Sie ist eine der Grundlagenwissenschaften desjenigen Fachgebietes, das den Inhalt ihrer Fragestellungen und das jeweilige Wissen um die zu untersuchenden Krankheitsbilder bereitstellt: der Psychiatrie. Vergleichbar den anderen Grundlagenwissenschaften der Psychiatrie, steht die psychiatrische Epidemiologie bezüglich ihres Erkenntnisfortschritts in Abhängigkeitsbeziehung zur Mutterdisziplin. Die Bearbeitung des größten Teils ihrer praktisch-relevanten Fragestellungen setzt Forschungsergebnisse der klinischen Psychiatrie voraus (Häfner 1978). In früheren Jahrzehnten wurde die psychiatrische Epidemiologie in enger Assoziation mit der Sozialpsychiatrie gesehen. In jüngster Zeit haben sich hier die Perspektiven der psychiatrischen Epidemiologie erweitert. Durch eine Zusammenführung genetischer Methodik (Zwillings-, Familienstudien, Molekulargenetik) und epidemiologischer Methodik wurde z. B. die genetische Epidemiologie begründet. Eine Verbesserung der psychiatrischen epidemiologischen Forschung ist in den letzten Jahren durch methodische Verbesserungen (z. B. explizite diagnostische Kriterien für psychische Erkrankungen, neue Untersuchungsinstrumente, Verfeinerung statistischer Analysetechniken) erfolgt. Epidemiologische Studien können entweder als Primärerhebungen neuer Daten oder auch als Sekundärerhebungen an bereits vorliegenden Daten durchgeführt werden. Sie können 3 wesentliche Arten von Information über Störungen liefern: Raten (Prävalenz und Inzidenz), Veränderungen dieser Raten über Person, Zeit und Ort, Identifizierung von Risikofaktoren für bestimmte Erkrankungen.
3.2
Historische Aspekte
Die Geschichte der Epidemiologie reicht mehr als 2000 Jahre zurück. Hippokrates hat den Begriff Epidemie im Titel mehrerer medizinischer Werke verwendet und eine Reihe interessanter Überlegungen über die Beziehung zwischen Umweltfaktoren wie Lüfte, Gewässer, Orte und Krankheiten angestellt. Im Mittelalter erstellte der Astronom Halley 1693 die ersten Sterbetafeln für die Stadt Breslau. 1662 hatte der Kurzwarenhändler Graunt bereits aus den wöchentlichen Sterberegistern der Londoner Pfarreien die regionalen
Pest- und Pockenmortalitätsunterschiede ermittelt und sie als Hinweise für die frühzeitige Evakuierung der gefährdeten Bezirke benutzt (Häfner 1978). Choleraepidemie. Ein klassisches Beispiel dafür, wie epi-
demiologische Überlegungen zur Lösung von öffentlichen Gesundheitsproblemen beitragen können, sind die Beobachtungen von John Snow über die Choleraepidemie in London 1854. Sie hatten eine berühmtgewordene präventive Maßnahme zur Folge, die in der Entfernung des Handgriffs an der Wasserpumpe in der Broadstreet bestand (Jablensky 1989). Snow hatte während des Choleraausbruchs 1848 die Choleramortalität der Versorgungsgebiete der beiden Wasserwerke Southwark und Vauxhall und Lamberth im Süden Londons verglichen. Beide wiesen relativ hohe Mortalitätsraten auf. Zum nächsten Choleraausbruch 1853 war das Wasserwerk Lamberth weiter flusswärts verlegt worden, so dass sein Quellgebiet nunmehr vom Abwasser Londons frei blieb. Die Choleramortalität des Versorgungsgebietes von Lamberth war in der Epidemie des Jahres 1853 stark gesunken, während die Versorgungsgebiete von Southwark und Vauxhall hohe Raten behielten. Zur weiteren Prüfung der auf Gebietsebene vorgefundenen Beziehungen von Wasserversorgung und Erkrankungshäufigkeit gliederte Snow die Haushalte nach ihrer Versorgung der Wasserwerke und konnte mit dieser Feldstudie den epidemiologischen Beweis eines noch unbekannten krankheitserzeugenden Agens durch abwasserverseuchtes Trinkwasser erbringen. Dies führte vor Entdeckung der Choleravibrionen zur erfolgreichen Bekämpfung durch Trinkwassersanierung.
Anfänge der psychiatrischen Epidemiologie Der Beginn der psychiatrischen Epidemiologie im engeren Sinne lässt sich kaum auf einen bestimmten Zeitpunkt festlegen. In den Anfängen galt das Bemühen der Sammlung und Auswertung von Sekundärdaten aus administrativen Quellen, z. B. Krankenhaus- und Mortalitätsstatistiken (Esquirol in Frankreich 1838, Griesinger in Berlin 1867, Maudsley in London 1872, zitiert nach Häfner 1978). Die Geschichte der Prävention psychischer Erkrankungen kann bisher keine spektakulären Erfolge aufweisen; allerdings gibt es eine Reihe historisch interessanter bzw. für die Zukunft vielversprechender Ansätze. Eine der bedeutendsten Errungenschaften ist die durch Goldberger während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte Entdeckung der Ernährungsmängel, die zur Pellagra und der mit ihr verbundenen schweren Psychose und Demenz führen (Goldberger 1914, nach Jablensky 1989). Zu erwähnen ist auch die Arbeit von Gajdusek. Sie führte zu der mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Entdeckung, dass die Kuru-Krankheit durch eine Infektion (später als
57 3.3 · Einsatzgebiete und Betrachtungsebenen der psychiatrischen Epidemiologie
Prionen identifiziert) hervorgerufen wird und bereitete so den Weg für die Aufklärung übertragbarer Demenzerkrankungen durch eine geniale Verbindung von klinischen, anthropologischen und labortechnischen Methoden, die alle von einer epidemiologischen Analyse geleitet waren (Gajdusek u. Zigas 1959, zitiert nach Jablensky 1989).
3.3
Einsatzgebiete und Betrachtungsebenen der psychiatrischen Epidemiologie
Morris (1957) hat 7 Anwendungsmöglichkeiten der Epidemiologie zusammengefasst: Historische Untersuchungen über Gesundheit und Krankheit, Diagnostik im unmittelbaren Lebensumfeld, Untersuchung der Wirksamkeit von Gesundheitsdiensten, Bestimmung von individuellen Chancen und Risiken, Erkennung von Syndromen, Vervollständigung des klinischen Erscheinungsbildes von Krankheiten, Ermittlung von Krankheitsursachen. Jedes dieser Anwendungsgebiete steht in einem mehr oder weniger deutlichen Zusammenhang mit der Prävention als letztlichem Ziel epidemiologischen Denkens und Wissens. Generell lassen sich für diese Anwendungsmöglichkeiten folgende 3 epidemiologische Betrachtungsebenen unterscheiden: 1. Deskriptive Ebene, 2. analytische Ebene, 3. experimentelle Ebene.
3.3.1
Deskriptive Epidemiologie
Sie stellt Zusammenhänge beschreibend dar. Unter deskriptiven Studien sind Gemeindestudien einzuordnen. Diese versuchen Anwort zu geben auf die Fragen, wie viele Personen in der Gemeinde psychische Erkrankungen aufweisen, welche Störungen am häufigsten vorkommen, inwieweit die Versorgungssituation gewährleistet ist. Die deskriptive Epidemiologie dient zur Vervollständigung des klinischen Bildes psychischer Erkrankungen. Manche Aspekte psychischer Erkrankungen sind nicht zu beantworten, so lange nur in Behandlung befindliche Patienten gesehen werden. Manche psychische Erkrankungen wie z. B. die Agoraphobie oder die soziale Phobie sind kaum in stationär-psychiatrischen Einrichtungen zu finden. Fragen der Komorbidität und der familiären Be-
lastung können am besten durch epidemiologische Studien beantwortet werden. Sie können Aussagen zur Ausprägung, zum Schweregrad psychischer Erkrankungen und zur Definition eines Falles anhand der Ausprägung treffen. Die deskriptive Epidemiologie kann auch zur Identifizierung neuer Syndrome beitragen, somit klinische diagnostische Kriterien erweitern.
3.3.2
Analytische Epidemiologie
Die analytische Epidemiologie arbeitet Risikofaktoren für eine spätere Erkrankung oder für eine Zustandsveränderung heraus, indem sie verschiedene Gruppen vergleicht. Als Risikofaktoren können sowohl soziodemografische Merkmale, Lebensereignisse als auch biologische, genetische und weitere Faktoren berücksichtigt werden. Statistische Techniken können das Ausmaß des Risikos abschätzen, verschiedene Risikofaktoren gewichten. Auf der Suche nach Risikofaktoren hat sich die analytische Epidemiologie mit historischen Trends beschäftigt: Zum Beispiel ergaben Studien, dass depressive Erkrankungen häufiger in der jüngeren Generation vorkommen oder möglicherweise in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts früher beginnen (Klerman u. Weissman 1989). Um die Zunahme von Drogen und Suiziden in den letzten Jahrzehnten unter Jugendlichen zu erhellen, werden unter historischen Gesichtspunkten Risikofaktoren mittels der analytischen Epidemiologie untersucht.
3.3.3
Experimentelle Epidemiologie
Die experimentelle Epidemiologie beschäftigt sich mit der Einschätzung der Effektivität von präventiven und therapeutischen Gesundheitsmaßnahmen. Falls ein möglicher Risikofaktor identifiziert wurde und die Wahrscheinlichkeit einer Verursachung angenommen wird, ist es möglich, Interventionen vorzunehmen und zu überprüfen, wie effektiv die Intervention ist. Unter experimentellen Aspekten können therapeutische Maßnahmen, z. B. Medikation und Psychotherapie, hinsichtlich ihrer Effektivität überprüft werden. Innerhalb der Psychiatrie sind 2 Störungen, nämlich depressive Erkrankungen und Drogenmissbrauch für präventive Interventionen besonders geeignet. Die Methoden für präventive Maßnahmen entsprechen den therapeutischen Interventionen. Neben diesen Aspekten der klinischen Epidemiologie entwickelte sich analog die Evaluation von Gesundheitsdiensten, um zu bestimmen, ob Interventionen wie z. B. die Errichtung der Liaison-Psychiatrie oder der Einsatz von Selbstbeurteilungsbögen zur Erfassung von Depressionen in der Allgemeinpraxis die Qualität der Versorgung verbessern.
3
58
3
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
3.4
Methodik der Epidemiologie
3.4.1
Stichproben und Grundgesamtheit
Eine Besonderheit der epidemiologischen Konzeption ist, dass sie nicht primär von Individuen, sondern von (in der Regel größeren) Populationen ausgeht. Um eine Aussage zu der Frage machen zu können »Wie verbreitet ist Schizophrenie in Deutschland?« ist erforderlich, die Grundgesamtheit (Population) genau zu definieren (deutsche Staatsbürger, lange in Deutschland lebende Zuwanderer, kurzfristig in Deutschland sich aufhaltende Personen). Die Grundgesamtheit (Population) stellt die Summe aller Individuen dar, über die es quantitative Aussagen über die Verteilung psychischer Erkrankungen zu machen gilt. Weil es aus praktischen und kostenbedingten Gründen zumeist nicht möglich ist, die Grundgesamtheit insgesamt zu untersuchen, beschränkt man sich in der Regel auf die Auswahl einer für die Grundgesamtheit repräsentativen Stichprobe. Das Konzept der repräsentativen Stichprobe ist von eminenter Bedeutung und findet auch heute noch in wissenschaftlichen Untersuchungen in der Medizin nicht ausreichend Berücksichtigung. In sehr vielen Projekten will der Untersucher letztlich zu möglichst repräsentativen Aussagen gelangen. Eine Untersuchung jedes 10. konsekutiv in einer bestimmten Klinik aufgenommenen Patienten mit einer Schizophrenie kann letztlich nur für die Grundgesamtheit aller Schizophrenen, die in dem definierten Zeitraum in dieser Klinik behandelt wurden, repräsentativ sein; die Untersuchung wird kaum für alle (auch unbehandelte) Schizophrenen repräsentativ sein können. Ist die Grundgesamtheit groß genug, kann aus dieser nach dem Zufallsprinzip eine Stichprobe gezogen werden, die dann näher untersucht wird. Wenn bei der Erhebung an dieser Stichprobe hohe Ausfallquoten z. B. durch Nichtauffindung oder Verweigerung der Teilnahme vorliegen, kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse für die Stichprobe und damit die Grundgesamtheit repräsentativ sind. Ergebnisse, die keine Generalisierung auf die Grundgesamtheit zulassen, sind aus epidemiologischer Sicht wertlos. Bei der Festlegung einer Stichprobe muss gewährleistet sein, dass jede Person der Grundgesamtheit die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, in die Stichprobe zu kommen. Untersuchungen an ausgelesenen Stichproben, deren Individuen leicht erreichbar und kooperativ sind (»samples of convenience«), erlauben keine Rückschlüsse auf die Grundgesamtheit. In die Grundgesamtheit einzubeziehen sind auch jene, die schwer erreichbar oder schwer für die Teilnahme an einer Untersuchung zu gewinnen sind. Stichprobenbeziehung. Die Erstellung einer kompletten
Liste der Personen der Grundgesamtheit und eine darauf aufbauende Stichprobenziehung ist in den meisten euro-
päischen Ländern durch das Vorliegen von Gemeinderegistern erheblich einfacher, als in nordamerikanischen Ländern. Haushaltsstichproben. In den meisten nordamerikanischen epidemiologischen Untersuchungen wurde deshalb meist von sog. Haushaltsstichproben (»household samples«) ausgegangen; nach bestimmten Festlegungen werden dabei bestimmte Personen eines Haushalts ausgewählt und dann näher untersucht. Hier kann es zu Verzerrungen kommen (Auswahlregeln, Haushaltsgrenzen und -größe). Auch sind bestimmte Personenkreise (Patienten in Kliniken, Heimbewohner, Gefängnisinsassen) dabei in der Regel nicht erfasst. Stratifizierte Stichprobe. Bei einer stratifizierten Stich-
probe können Personen einer bestimmten Strata (z. B. Männer im sehr hohen Alter) mit einer höheren Quote für die Stichprobe gezogen werden, so dass eine größere Datenbasis für diese sonst nur gering in der Stichprobe repräsentierten »Minoritätengruppe« vorliegt. Dies muss später bei der Berechnung von Morbiditätsraten durch entsprechende Gewichtung wieder berücksichtigt werden. Cluster-Sampling. Eine weitere Art der Stichprobenzie-
hung ist das Cluster-Sampling, das z. B. bei Multicenterstudien eingesetzt wird. Diese Technik ist vergleichsweise ökonomischer, doch ist sie meist weniger genau. Nicht selten werden Kombinationen dieser Methoden, z. B. stratifizierte Stichprobe und Cluster-Sampling, in der Epidemiologie eingesetzt.
Analytische Epidemiologie In der analytischen Epidemiologie, die sich u. a. mit der Identifizierung von Risikofaktoren beschäftigt, werden prospektive longitudinale Studien sowie sog. Case-control-Untersuchungen bevorzugt. Letztere beinhaltet eine retrospektiv aus dem Querschnitt erfolgende Datenerhebung bei mindestens 2 Stichproben. Eine davon besteht aus Fällen einer bestimmten Krankheit, die andere aus Personen, die von dieser Krankheit nicht betroffen sind. Die beiden Stichproben sollen im Hinblick auf eine Reihe von spezifischen Merkmalen vergleichbar sein, die bekanntermaßen das Auftreten oder den Verlauf der betreffenden Erkrankung beeinflussen. Sie sollen sich aber andererseits voneinander unterscheiden in bezug auf andere Variablen, deren Wirkung auf die Krankheit im Voraus nicht bekannt ist. Die Methode eignet sich besonders zur Prüfung von Hypothesen über Risikofaktoren. Bisweilen sind komplexe Gewichtungen einzelner Untergruppen der Stichprobe oder Fehlerkorrekturen durch die Art der Stichprobenbildung vorzunehmen, wofür statistische Softwareprogramme (z. B. SUDAAN) entwickelt wurden. Bei
59 3.4 · Methodik der Epidemiologie
Erhebungen an Geburtskohorten wird die Teilnahme an der Untersuchung durch das Geburtsjahr (oder durch ein Zeitintervall bis zu einem Jahrzehnt) bestimmt. Sie eignet sich beispielsweise zur prospektiven Prüfung von Hypothesen über die Auswirkung von Einflussfaktoren in aufeinanderfolgenden Lebensstadien.
Experimentelle Epidemiologie Die experimentelle Epidemiologie setzt klinische Prüfungen und Interventionsstudien ein. Diese Technik kann man als eine prospektive Erweiterung des Typs der Fallkontrollstudien betrachten. Die Krankheitsfälle und die Kontrollpersonen sollen im Hinblick auf das Vorhandensein einer bestimmten Krankheit und einiger weiterer Merkmale, die den Verlauf und den Ausgang beeinflussen können, übereinstimmen. Idealerweise ist die einzige Variable, welche die beiden Gruppen unterscheidet, die zu evaluierende Intervention. Durch eine gezielte Variation der therapeutischen Maßnahmen ist es möglich, kausale Hypothesen zu testen. Das natürliche Experiment in Form von Veränderungen der Umwelt (z. B. Naturkatastrophen), die eine große Zahl von Menschen betreffen, kann einzigartige Möglichkeiten für die experimentelle epidemiologische Beobachtung und Messung der Wirkung verschiedener Einflussgrößen auf die psychische Morbidität öffnen.
3.4.2
Konzepte und Indizes
Prävalenz (Häufigkeit einer Erkrankung) Mit dem Begriff Prävalenz bezeichnet man die Häufigkeit einer Erkrankung in einer definierten Stichprobe oder Population. Wegen der unterschiedlichen Verlaufstypen verschiedener Erkrankungen hat man mehrere Prävalenzarten im Hinblick auf den Zeitraum, im dem der Krankheitsfall zumindest kurz vorgelegen haben muss, definiert. Punktprävalenz. Sie ist das Verhältnis zwischen symptomatischen Fällen und der gesamten mit einem Risiko behafteten Bevölkerung an einem bestimmten Stichtag. Dies ist ein nützliches Maß für den Bedarf an Gesundheitsmaßnahmen, eignet sich aber weniger zur Identifikation von Risikofaktoren und zur Feststellung des Ergebnisses von Interventionen, weil sie sehr stark durch chronische Fälle mit einer langen Dauer geprägt wird, weil sie Erkrankungen mit intermittierendem, episodischem Verlauf unzureichend erfasst und weil sie gegenüber demografischen Vorgängen wie differenzielle Mortalität und Migration anfällig ist.
time«)prävalenz (Anzahl aller an einem bestimmten
Stichtag lebenden Personen, bei denen mindestens eine Episode psychischen Krankseins zu irgendeiner Zeit in ihrem Leben aufgetreten ist), umfassen größere Zeitintervalle. Dieser Index berücksichtigt die episodischen Störungen, ist aber im Übrigen denselben verfälschenden Einflüssen ausgesetzt, wie die Punktprävalenz. Prävalenzraten sollten mit der Information des Konfidenzintervalls oder der Standardabweichung versehen werden, um Signifikantstests für Unterschiede zwischen Prävalenzraten zu ermöglichen.
Inzidenz (Neuerkrankungen in definiertem Zeitraum) Das letztliche Ziel ärztlichen und wissenschaftlichen Handelns sollte darin liegen, das Vorkommen von Krankheiten so erfolgreich zu verhindern, dass sie gar nicht mehr auftreten (primäre Prävention) oder sie im Frühstadium des Auftretens zu heilen (sekundäre Prävention). Für diese Zielsetzung ist es sehr hilfreich, alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzraten verfügbar zu haben. Die Anzahl von neu in einem definierten Zeitraum (z. B. 12 Monate) auftretenden Fällen (z. B. pro 1000 Personen) geben uns ein Maß für das Krankheitsrisiko. Die Inzidenzrate ergibt sich aus der Anzahl der innerhalb einer bestimmten Zeitperiode neuerkrankten Personen zu der ursprünglichen Risikopopulation, die frei von dieser Erkrankung ist. Eine Veränderung dieser »wahren« Inzididenz nach einer bestimmten Intervention kann (wenn repliziert) als Ausdruck der Auswirkung dieser Intervention auf die der Krankheit zugrundeliegenden Ursachen und Mechanismen gesehen werden. Da es in der Praxis kaum möglich ist, dass Personen exakt nach 12 Monaten nachuntersucht werden, sind kompliziertere Maße als die Inzidenzrate erforderlich, nämlich die Inzidenzdensität, die die Risikozeit berücksichtigt. Innerhalb des beobachteten Zeitraums ist die krankheitsfreie Zeit eines Individuums die »person time at risk«. Die Summe der individuellen »person time at risk« repräsentiert die »total person time at risk« (»population time at risk«) des beobachteten Zeitraums. Die Inzidenzdensität berechnet sich aus der Anzahl der Neuerkrankungen zu der »population time at risk«.
Morbiditätsrisiko (Krankheitserwartung) Die Krankheitserwartung steht in einer Beziehung zur Inzidenz und wird manchmal aus Inzidenzraten abgeleitet. Sie gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der eine Person in einer gegebenen Population eine bestimmte Krankheit erwerben wird, unter der Voraussetzung, dass sie ein definiertes Alter erreicht.
Periodenprävalenz. Die Periodenprävalenz (Zahl der Fäl-
Risikomaße
le), die zu irgendeiner Zeit innerhalb eines bestimmten Intervalls symptomatisch waren und die Lebenszeit(»life
Drei weitere eng miteinander zusammenhängende Indizes sind besonders nützlich für das Vorhaben zur Identi-
3
60
3
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
fizierung von Risikofaktoren oder zur Evaluation der Wirkung von Interventionen: Mit Odds-Ratio wird die Auswirkung einer Exposition gegenüber einem vermuteten Risikofaktor geschätzt. ⊡ Tab. 3.1 gibt ein Beispiel für die Berechnung der Odds-Ratio. Das Maß gibt anschaulich an, wieviel häufiger das Erkrankungsrisiko im Vergleich zu einer Referenzstichprobe ist. Der Index des relativen Risikos gibt das Ausmaß an, in dem ein Risikofaktor die Inzidenz der Krankheit beeinflusst. Mit dem Index des Attributable-Risk wird der Anteil von Krankheitsfällen in einer bestimmten Population abgeschätzt, der einem spezifischen Risikofaktor zugeordnet werden kann. Dieses Maß ist besonders geeignet für die Untersuchung von multifaktoriellen Erkrankungen, bei denen die Auspartialisierung von Einzelrisiken eine Grundlage für Präventionsversuche bilden kann.
3.4.3
Instrumente
Drei Arten von Messinstrumenten haben eine besondere Bedeutung in der Epidemiologie: 1. Screeninginstrumente, 2. diagnostische Instrumente, 3. Instrumente zur Beurteilung von Verlauf und Ausgang.
Screeninginstrumente Der Zweck eines Screeninginstruments ist die rasche Erkennung von Personen, die mit Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Erkrankung aufweisen. Jedes Screeningverfahren in der Medizin sollte folgende Bedingungen erfüllen, die von Wilson u. Jungner (1968) zusammengefasst wurden: Reliabilität (die dem Instrument selbst oder ihrem Anwender zuzuschreibende Variation), Validität (die Fähigkeit eines Tests, Personen mit der gesuchten Erkrankung von den nicht davon betroffenen zu trennen), Ausschöpfung (der Anteil vorher unerkannter Krankheitfälle, die durch das Screeningverfahren entdeckt werden), Kosten (Aufwand an Zeit, Personal), Akzeptanz (durch die dem Screeningverfahren unterworfenen Personen) und Verfügbarkeit nachfolgender Behandlungsangebote. ⊡ Tab. 3.1. Berechnung der Odds-Ratio Risikofaktor
Fall
Nichtfall
Vorhanden
a = 45
b = 80
Nicht vorhanden
c = 65
d = 230
Odds-Ratio =
a c a d (45) (230) : = = = 1,99 b d b c (80) (65)
Reliabilität. Der diagnostische Prozess sollte dazu in der
Lage sein, bei gleichartigen Phänomenen konsistente Ergebnisse anlässlich gleicher Phänomene sowohl durch verschiedene Untersucher als auch zu verschiedenen Gelegenheiten zu produzieren (Reliabilität). Ein Maß für diese Konsistenz ist die Inter-Rater-Reliabilität (mehrere unabhängige Untersucher kommen zu übereinstimmenden Ergebnissen). Ein weiteres wichtiges Konsistenzmaß ist die Re-Test-Reliabilität (kurzfristige Wiederholung der Untersuchung am selben Probanden führt zu übereinstimmenden Ergebnissen). Ein zur Darstellung der Reliabilität in der Diagnostik häufig eingesetztes Maß ist der Kappakoeffizient. Ein κ-Koeffizient von über 0,75 gilt in der Regel als gut, ein geringerer als mäßig oder schlecht. Validität. Mit dem Begriff Validität wird das Ausmaß der
Gültigkeit einer diagnostischen Untersuchung bezeichnet, mit der diese auch das erfasst (z. B. Depression), was sie zu erfassen vorgibt. Man unterscheidet verschiedene Formen der Validität: Mit »face-validity« bezeichnet man die Augenscheinvalidität, die in der Regel von Experten beurteilte Übereinstimmung des Testergebnisses mit dem, was augenscheinlich Sache ist; mit »content-validity« wird die inhaltliche Übereinstimmung und ausreichende inhaltliche Abdeckung eines Bereiches (meist mit Expertenurteilen) bezeichnet; mit »Kriteriumvalidität« bezeichnet man das Ausmaß der Übereinstimmung einer (Test-)Untersuchung mit einer ähnlichen bekannten Untersuchung und Tests (= Kriterium); mit »predictive-validity« ist die Übereinstimmung eines (Test-)Untersuchungsergebnisses mit dem weiteren Verlauf bezeichnet. Sensitivität und Spezifität. Wichtige Begriffe für die Eignung eines Untersuchungsverfahrens sind die Sensitivität (Fähigkeit des Tests, die Personen mit der Erkrankung als positiv zu klassifizieren) und die Spezifität (Fähigkeit des Tests, die Personen ohne die Erkrankung als negativ zu klassifizieren). ⊡ Tab. 3.2 gibt ein Beispiel für die Berechnung von Sensitivität und Spezifität. In dem gegebenen Fall liegt sowohl eine ausreichende Sensitivität als auch eine ausreichende Spezifität vor, so dass sich dieses Untersuchungsverfahren (z. B. ein Screeningfragebogen im Rahmen einer zweistufigen Erhebung) eignen würde, Risikopersonen herauszufiltern, die im nächsten Schritt genauer untersucht werden könnten.
! Eine hohe Sensitivität beinhaltet eine geringe Rate falsch-negativer Fallzuordnungen; eine hohe Spezifität beinhaltet eine niedrige Rate falschpositiver Fallzuordnungen. Die Anwendung dieser Indizes auf Screeningintrumente für psychische Erkrankungen ist in der Regel an die Diagnose als Validitätskriterium gebunden. Ein auf Sensitivität und Spezifität aufbauender Quotient ist der »positive predictive value« (PPV). Dieses Maß eignet sich besonders für
61 3.4 · Methodik der Epidemiologie
⊡ Tab. 3.2. Sensitivität und Spezifität Zuordnung nach Ergebnissen eines zu evaluierenden Screeningfragebogens
»Wahre Ordnung z. B. aufgrund eines detailierten psychiatrischen Interviews«
Erkrankt
Nicht erkrankt
Mutmaßlich erkrankt (positiv)
a = 71
b = 15
a+b = 86
Mutmaßlich nicht erkrankt (negativ)
c=9 a+c = 80
d = 105 b+d = 120
c+d = 114 n = 200
Sensitivität =
Spezifität =
a 71 = = 0,887 a + c 80 d b+d
=
105
= 0,875
120
die Beurteilung, ob ein bestimmtes Untersuchungsverfahren (z. B. Screeningfragebogen) sinnvoll ist.
Diagnostische Instrumente Die Psychiatrie hat in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte in der reliablen Erfassung von Diagnosen gemacht. Nachdem Diagnosen früher oft nur vage definiert oder sehr untersucherspezifisch waren, wurden detaillierte Kriterien für eine operationale Diagnose entwickelt. Frühe Entwicklungen dazu gehen zurück auf Wing et al. (1974) mit der Entwicklung des Present State Examination (PSE). Etwa parallel dazu entwickelte eine Arbeitsgruppe an der Washington University in St. Louis, USA, operationale Diagnosekriterien, die nach dem Erstautor als Feighner-Kriterien bezeichnet wurden (Feighner et al. 1972). Beide Ansätze gingen Mitte der 1970er Jahre in die Entwicklung der Research Diagnostic Criteria (RDC) und des in diesem Zusammenhang entwickelten Interviews Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia (SADS) ein (Endicott u. Spitzer 1978). Mit der Formulierung der DSM-III-Kriterien (American Psychiatric Association 1980) wurde das NIMH-Diagnostic Interview Schedule (DIS) als standardisiertes Interview zur psychiatrischen Diagnostik speziell für den Einsatz in großen epidemiologischen Untersuchungen entwickelt, das auch von geschulten Laien angewandt werden kann (Robins et al. 1981). Mit Entwicklung der ICD-10 und DSM-III-R-/DSM-IV-Kriterien wurde das Composite International Diagnostic Interview (CIDI) entwickelt, das ebenfalls von geschulten Laien angewendet werden kann (Robins et al. 1988; Wittchen et al. 1991). Für die Verwendung durch entsprechend geschulte Fachleute wurde das Schedule for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN) für DSM-III-R-/DSM-IV- und ICD10-Diagnosen entwikkelt (Wing et al. 1990). Zu dem gleichen Zweck, allerdings beschränkt auf DSM-III-R- bzw. DSM-IV-Diagnosen entwickelten Spitzer et al. (1992) das
Structured Clinical Interview (SCID). Einige dieser Instrumente können per Hand ausgewertet werden, für andere stehen Computeralgorithmen für die Auswertung zur Verfügung. Gegenwärtig ist eine Vielzahl von standardisierten Instrumenten verfügbar, von relativ einfachen bis zu systematischen, klinischen Interviews, die alle wichtigen psychopathologischen Bereiche abdecken. Hinsichtlich dieser diagnostischen Instrumente ist folgendes wesentlich: Mit dem Einsatz geeigneter Interviews ist auch in großen Studien eine reliable psychiatrische Diagnostik möglich. Auch sind die Ergebnisse zwischen einzelnen Untersuchungen bei Einsatz desselben Instrumentes sehr viel besser vergleichbar. Erst damit macht es wirklich Sinn, Morbiditätsraten für einzelne psychische Erkrankungen zwischen verschiedenen Ländern und Kulturkreisen zu vergleichen.
Instrumente zur Erfassung von Verlauf und Ausgang (Outcome) Zusätzlich zu einer oder mehreren Querschnittserhebungen des psychischen Gesundheitszustandes ist es erforderlich, den longitudinalen Aspekt der Krankheit und den Endzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt messen zu können. Zu den Beispielen für solche Maße gehören Verlaufsmuster (z. B. chronisch, periodisch, remittierend). Wenn möglich sollte die Beurteilung mehr als eine Dimension der Krankheit berücksichtigen. So spielen neben dem Schweregrad der Symptomatik auch der Grad der Beeinträchtigung und das Ausmaß an sozialer Unterstützung eine Rolle.
3.4.4
Falldefinition und Diagnose
Der Begriff »Fall« hat in der Epidemiologie mehrere Bedeutungen. Als »Fall« bezeichnet man zum einen das Individuum, das eine bestimmte Krankheit oder eine vergleichbare Merkmalsgruppe aufweist (im Unterschied zu all jenen, die sie nicht aufweisen). Diese Definition liegt in der Regel bei Untersuchungen zugrunde, die sich mit der wahren Morbidität (Inzidenz, Prävalenz) – also bevölkerungsbezogen – befassen. Zum anderen wird der Begriff »Fall« auch für behandelte Fälle verwendet, da Krankheit in unterschiedlichen administrativen Systemen verschiedene Bedeutung haben kann (z. B. hinsichtlich Arbeitsunfähigkeit); man spricht hier von administrativer Prävalenz bzw. Inzidenz – sie ist nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Es ist notwendig, den Definitionsmerkmalen des Falles in verschiedenen Statistiken sorgfältige Beachtung zu schenken. Ganz allgemein bezeichnet »Fall« schließlich diejenige Person, die wegen einer bestimmten Krankheit Hilfe bedarf oder bereits Hilfe erhält, im Unterschied zu den Gesunden oder Leichterkrankten, die keiner Hilfe bedürfen.
3
62
3
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
Die letztgenannte Definition hat eine enge Beziehung zur Bestimmung des Bedarfs an medizinischen, sozialen und pädagogischen Einrichtungen. Die Ermittlung der einer Behandlung oder anderweitigen Versorgung bedürftigen Fälle ist unter den aufgezählten Aufgaben der Epidemiologie eine der wichtigsten. Wenn Untersuchungsergebnisse, die auf Fallzahlen oder Raten basieren, zuverlässig und vergleichbar sein sollen, dann ist eine exakte Falldefinition die erste unerlässliche Bedingung epidemiologischer Forschung. Die Anforderungen an eine zureichende Falldefinition sind nach Cooper u. Morgan (1977) an 3 Voraussetzungen gebunden: 1. Sie muss adäquat für die geplante Untersuchung sein. Darunter ist zu verstehen, dass sie für die Fragestellung relevant ist und ihre Merkmale mit den Mitteln des Projekts objektiv zuverlässig fassbar sind. 2. Die Definition muss reliabel so präzise sein, dass dem Untersucher klar ist, welche Merkmale vorhanden sein müssen, oder nicht vorhanden sein dürfen, um einen Fall positiv zu identifizieren. 3. Für alle Krankheitszustände, die fließend in den gesunden Bereich übergehen, ist die Festlegung einer Grenze oder Schwelle für die Kategorisierung als Fall aus operationalen Gründen erforderlich. Tatsächlich wirft die scheinbar einfache Frage »Was ist ein Fall?« auch heute noch – nicht nur in der Psychiatrie – beträchtliche Schwierigkeiten auf. Die Entwicklung standardisierter oder strukturierter Interviewinstrumente mit spezifizierten Kriterien machte es möglich, einen neuen Standard variabler Diagnostik zu schaffen. Einen weiteren Fortschritt stellt besonders bei Studien mit großen Stichproben die computergestützte Diagnostik dar.
3.5
Ergebnisse von Feldstudien
3.5.1
Frühe Feldstudien
Europa Da die wahre Prävalenz bedeutend höher ist als die behandelte Prävalenz, sind reliable Daten über psychische Erkrankungen allein über Untersuchungen in repräsentativen Bevölkerungstichproben möglich. Cooper u. Morgan (1977) beschrieben eine frühe norwegische Untersuchung, die von gemeindebediensteten Pfarrern und Lehrern durchgeführt wurde. Sie kamen zu sehr niedrigen Morbiditätsraten (2,65‰ in städtischen und 3,03‰ in ländlichen Regionen). Allerdings richtete sich das Interesse im Wesentlichen auf psychotisch gestörte Personen. Eschenburg (1885) berichtete ebenfalls über Morbiditätsraten von ca. 3‰ für Geisteskranke in Lübeck (zitiert nach Fichter et al. 1990). Brugger berichtete 1931 über eine Geisteskrankenzählung in Thüringen und 1933 im Allgäu. Außerdem beschrieb er 1937 Ergebnisse einer Feldstudie
im Landkreis Rosenheim. Er berichtete eine psychiatrische Morbiditätsrate von 3,5%. Ein Großteil der Studien in früheren Jahren verließ sich auf Schlüsselinformanten, mehr als auf intensive Fallfindungstechniken. Daraus folgte, dass nur schwer gestörte, sichtbar sozial auffällige Personen als Fälle identifiziert wurden und die Morbiditätsraten für psychische Erkrankungen mit 3% angegeben wurden (Dohrenwend 1972). Die durchschnittliche Prävalenz für psychische Erkrankungen liegt nach Dohrenwend (1972) aufgrund von 33 Feldstudien, die nach 1950 durchgeführt wurden und auch leichtere psychische Störungen berücksichtigen, mit ungefähr 18% deutlich höher. Essen-Möller führte 1947 eine Feldstudie in Lundby durch (Essen-Möller 1956). In dieser Studie wurden so gut wie alle Einwohner eines umschriebenen Gebietes in Südschweden persönlich untersucht. Die Lundby-Studie wurde von Hagnell (n = 2550) fortgeführt (Hagnell 1966; Hagnell et al. 1982). Die Arbeitsgruppe von Schepank untersuchte im Rahmen einer repräsentativen Kohortenfeldstudie für die Altersjahrgänge 1935, 1945 und 1955 eine Stichprobe deutscher Erwachsener in der Stadt Mannheim. Es wurde über eine Morbiditätsrate von 25% für psychosomatische, neurotische und andere überwiegend psychogene Erkrankungen berichtet (Schepank 1982, 1987). Die Arbeitsgruppe um Angst untersuchte eine repräsentative Kohorte von 20-Jährigen im Kanton Zürich (Angst u. Dobler-Mikola 1984 a–c). Im Jahre 1978 wurde eine Stichprobe von 2201 Männern und 2346 Frauen in einem 2-stufigen Vorgehen untersucht. Basierend auf den Ergebnissen der Hopkins-Symptom-Checklist (SCL90) wurden 292 Männern und 299 Frauen mit besonders hohen bzw. niedrigen Werten auf der Skala für ein nachfolgendes halbstrukturiertes Interview ausgewählt. Die Studie wurde als Verlaufsuntersuchung fortgesetzt. Dilling u. Weyerer (1984) führten in den Jahren 1974– 1979 in einer Stichprobe von 1668 Probanden im Alter von 15 Jahren und älter eine epidemiologische Studie bei einer ländlichen Bevölkerungsstichprobe im Landkreis Traunstein durch. Fichter et al. (1990, 1996 a) nahmen dies als
Basis für eine longitudinale Bevölkerungsstudie (Upper Bavarian Study – UBS). Zur Schätzung der Prävalenzraten der 1980er Jahre wurde eine neue Stichprobe (Prävalenzstichprobe der 1980er Jahre) zusammengestellt (Fichter 1990). Die Prävalenzstichprobe der 1980er Jahre bestand aus 1979 Personen im Alter von 15 Jahren und älter; davon konnten 84,2% untersucht werden. Die Prävalenzrate (7Tage-Punktprävalenz/ICD-9) für psychische Erkrankungen für Personen ab 20 Jahren blieb konstant und betrug für die erste Querschnittsstichprobe 20,4%, für die zweite der 1980er Jahre 20,8%. Die höchsten Prävalenzraten fanden sich in der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen. Deutliche Unterschiede über die Zeit ergaben sich beim Vergleich von einzelnen diagnostischen Gruppen
63 3.5 · Ergebnisse von Feldstudien
psychischer Erkrankungen. Eine Zunahme war hauptsächlich bei Alkoholabhängigkeit zu verzeichnen, affektive Störungen zeigten eine deutliche Abnahme.
Nordamerika Durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges wurde das Interesse in Nordamerika geweckt, mit relativ einfachen Mitteln die Häufigkeit psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung erfassen zu können - nicht zuletzt, um künftige Musterungsprozesse bei Kriegseinsätzen effektiver zu gestalten. Heute aus historischen Gründen sind folgende amerikanische Studien aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von Bedeutung: In der klassischen Midtown-Manhattan-Studie wurde eine Stichprobe von 1660 Erwachsenen interviewt. Bei 23,4% der Bevölkerung wurde eine bedeutsame Beeinträchtigung durch psychische Erkrankungen festgestellt. Wurden leichtere Behinderungen durch psychische Symptome mit einbezogen, erhöhte sich die Morbiditätsrate gar auf 81,5% (Srole et al. 1962). Die Studie wurde wegen der weiten »inflationären« Fallidentifikation (»Manhattan Madness«) und der Tatsache, dass sie zwischen einzelnen psychiatrischen Diagnosen nicht unterschied, kritisiert. In der Baltimore-Morbidity-Studie (Commission on Chronic Illness 1957) wurden 809 Personen einer Stichprobe aus Haushalten in Baltimore von Ärzten untersucht. In der Studie wurden alle Altersgruppen nichtinstitutionalisierter Personen in der Stadt erfasst. Psychiatrische Diagnosen wurden mit dem internationalen Diagnoseschlüssel ICD gestellt und eine Prävalenzrate von 10,9% berichtet. In der Stirling-County-Studie untersuchte Leighton et al. (1963) 1010 erwachsene Bürger eines ländlichen Bezirks in Kanada. Auf der Basis ihrer Ergebnisse kamen sie zu der Schätzung, dass 20% der erwachsenen Bevölkerung eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung aufweist. Hervorzuheben ist hierbei der Versuch, implizite Kriterien des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM-I) der American Psychiatric Association explizit in Itemformulierungen für das psychiatrische Interview zu fassen. Nach Reanalyse der Daten der Stirling-County-Studie ermittelte Murphy (1980) eine Prävalenzrate von 4,1% nach DSM-III-Kriterien für Major Depression.
3.5.2
Große psychiatrischepidemiologische Studien der 3. Generation
Die früheren Untersuchungen in Europa und USA wurden hinsichtlich der Fallidentifikation sehr kritisch in Frage gestellt, die auf einfache Rating-Skalen oder subjektive Einschätzung des Untersuchers auf der Basis eines wenig reliablen diagnostischen Systems beruhen. Über
Jahre erfolgte eine sehr bedeutsame Entwicklung operationalisierter diagnostischer Systeme, beginnend mit einer Arbeitsgruppe in St. Louis [USA (Feighner et al. 1972)]. In derselben Zeit wurden von Lee Robins et al. (1991) in St. Louis und getrennt davon am Institut of Psychiatry in London durch John Wing (Wing et al. 1974) versucht, reliable Interviews für die Erfassung operationalisierter psychiatrischer Diagnosen zu entwickeln. Dies führte zur Entwicklung der Present State Examination (PSE), von Wing später weiterentwickelt zum SCAN. Parallel entwickelten Lee Robins et al. das Diagnostic Interview Schedule DIS, das später zum Composit International Diagnostic Interview (CIDI) weiterentwickelt wurde. Die in ⊡ Tab. 3.3 dargestellten Ergebnisse mehrerer amerikanischer und deutscher epidemiologischer Untersuchungen an repräsentativen Bevölkerungsstichproben beruhen auf der operationalen Diagnostik nach DSM-III (American Psychiatric Association 1980) bzw. späteren Versionen des DSM sowie der Erfassung der Psychopathologie durch strukturierte Interviews. Man spricht von den psychiatrischen epidemiologischen Studien der ersten Generation (erste Krankenzählung) bis zum Ersten Weltkrieg. Studien nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die Midtown-Manhattan-Studie und die Stirling-County-Studie, bezeichnet man als Studien der zweiten Generation. Psychiatrische epidemiologische Studien der dritten Generation basieren auf den operationalen Kriterien von DSM-III und folgenden Ausgaben oder ICD-10 sowie auf reliablen diagnostischen Interviews, deren Fragen zu einem Algorithmus führen, aus dem sich die Diagnosen ergeben.
Epidemiologic Catchment Area (ECA) Ende der 1970er Jahre wurde die groß angelegte Epidemiologic Catchment Area (ECA) des National Institute of Mental Health durchgeführt (Regier et al. 1984, 1988; Regier u. Kaelber 1995). Die Studie wurde multizentrisch in 5 Zentren durchgeführt. Ziele waren die Beschaffung von Informationen über die Morbiditätsraten einzelner psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung, die Abschätzung des Versorgungsbedarfs für psychisch Kranke und die Erarbeitung von Inzidenzraten und Ausarbeitung von Risikofaktoren. Bei der Stichprobenziehung wurde sowohl von Haushalten, als auch von Personen in Heimen, Gefängnissen und Kliniken ausgegangen und als Interview den Diagnostic Interview Schedule (DIS) von Robins et al. (1991) verwendet, ein in hohem Maße strukturiertes Interview für relinierte Laieninterviewer. In 5 über die USA verstreuten Zentren wurden insgesamt 18.572 Personen untersucht. Aufgrund der Art der Stichprobenziehung, die mangels eines Gemeinderegisters erforderlich war (stratifizierte Household-Samples und Stichproben aus Institutionen), mussten (unter Berücksichtigung des US-Zensus für nichtinstitutionalisierte Personen von 1980) korrigierende Gewichtungen vorgenommen werden.
3
64
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
⊡ Tab. 3.3. Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen nach DSM-III/-III-R/-IV in größeren US-amerikanischen und deutschen epidemiologischen Untersuchungen in der Bevölkerung Land
BRD
USA
USA
USA
BRD
Studie
UBS Upper Bavarian Studyb
E CA Epidemiologic Catchment Area Study
NCS National Comorbidity Study
NCS Replication
GHS German Health Survey
DSM-III
DSM-III, 3 sites
DSM-III-R
DSM-IV
DSM-IV
Goldberg Interview
DIS
UM-CIDI
WHO-CIDI
M-CIDI
3 Interview Autoren
Fichter u. Elton (1990)
Regier et al. (1998)
Kessler et al. (1994)
Kessler et al. (2005)
Jacobi et al. (2004)
%
%
(SE)
%
%
(SE)
%
(SE)
Affective (Mood) Störungen gesamt
8,7
9,3
(0,4)
19,3
20,8
(0,6)
18,6
(0,6)
– Majore-depressive Episode
1,7
7,2
(0,3)
17,1
(0,7)
16,6
(0,5)
17,1
(0,6)
– Manische Episode
–
–
1,6
(0,3)
–
– –
(SE)
– Dysthymia
5,9
3,6
(0,2)
6,4
(0,4)
2,5
(0,2)
– Bipolare I–II-Störung
0,2
–
–
3,9
(0,2)
1,0
(0,1)
Angststörungen gesamt
5,6
14,2
(0,4)
24,9
(0,8)
28,8
(0,9)
–
– Panikstörung
0,4
1,9
(0,2)
3,5
(0,3)
4,7
(0,2)
3,9
– Agoraphobie ohne Panikstörung – Soziale Phobie i y – Einfache Phobie t
–
–
5,3
(0,4)
1,4
(0,1)
–
1,6
(0,1)
13,3
(0,7)
12,1
(0,4)
–
11,3
(0,6)
12,5
(0,4)
–
(0,3)
5,7
(0,3)
–
–
– Generalisierte Angststörung
1,3 –
– –
5,1
– Posttraumatische Belastungsstörung
–
–
–
6,8
(0,4)
– Zwangsstörung
0,1
–
–
1,6
(0,3)
–
– Trennungsangststörung
–
–
–
5,2
(0,4)
–
– Somatoforme Störung
1,4
–
–
–
16,2
(0,7)
Substanzmissbrauch/-abhängigkeit gesamt i – Alkoholmissbrauch y – Alkoholabhängigkeit t i – Drogenmissbrauch y – Drogenabhängigkeit t
7,3
19,9
(0,5)
26,6
(1,0)
14,6
(0,6)
9,9
–
–
9,4
(0,5)
13,2
(0,6)
8,6
(0,4)
14,1
(0,7)
5,4
(0,3)
i y 8,5 t i y 2,1 t
5,9 1,4
–
–
4,4
(0,3)
7,9
(0,4)
4,8
(0,3)
7,5
(0,4)
3,0
(0,2)
(0,3)
(0,6)
(0,5) (0,2)
Sonstige – Anpassungsstörung
4,9
–
–
–
–
– Schmerzstörung
–
–
–
–
12,7
– Antisoziale Persönlichkeit
–
–
3,5
(0,3)
–
–
– Nonaffektive Psychosec
0,8
1,5
0,7
(0,1)
–
– Psychische Störung mit Einfluss auf körperlichen Zustand
11,5
–
–
–
2,3
(0,2)
Störungen der Impulskontrolle gesamt
–
–
–
24,8
(1,1)
–
(0,5)
– Oppositions- & Aufsässigkeitsstörung
–
–
–
8,5
(0,7)
–
– Verhaltensstörung
–
–
–
9,5
(8,8)
–
– AD(H)S
–
–
–
8,1
(0,6)
–
– Intermittierende explosive Störung
–
–
–
5,2
(0,3)
–
Mindestens eine der UBS-Störungen
42,1
–
–
–
–
36,1
(0,6)
–
–
–
Mindestens eine der NCS-Störungen
48,0
(1,1)
–
–
Mindestens eine der NCS-ReplicationStörungen
–
46,4
(1,1)
–
Mindestens eine der GHS-Störungen
–
–
42,6
(0,8)
Mindestens eine der ECA-Störungen
4,5a
(0,5)
– Nicht näher untersucht; a Möglicherweise psychotische Störung; b 5-Jahres-Prävalenz, alle Schweregrade s ≤1; c Beinhaltet Schizophrenie, schizophreniforme Störung, schizoaffektive Störung, Wahnstörung und atypische Psychose.
65 3.5 · Ergebnisse von Feldstudien
Nach den aus den 5 Zentren zusammengefassten Ergebnissen der ECA-Studien hatte jeder 5. Proband (19,1%) zum Zeitpunkt der Untersuchung (Sechsmonatsprävalenz) eine psychische Erkrankung nach DSM-III. Die vergleichsweise höchsten Sechsmonatsmorbiditätsraten zeigten sich für Angstsyndrome (8,9%), hauptsächlich bedingt durch phobische Erkrankungen (7,7%). Die zweithäufigste diagnostische Gruppierung waren Suchterkrankungen: 4,7% wiesen Alkoholmissbrauch oder Abhängigkeit und 2% Drogenmissbrauch oder -abhängigkeit auf. Affektive Erkrankungen waren in 5,8% der Fälle zu finden. Die Sechsmonatsprävalenzrate für bipolare affektive Störungen wurde mit 0,5%, für Dysthymie mit 3,3%, für Schizophrenie mit 0,8%, für schizophrenieforme Störungen mit 0,1%, für somatoforme Störungen mit 0,1%, für antisoziale Persönlichkeit mit 0,8%, für schwere kognitive Störungen mit 1,3%, für die gesamte Population, zunehmend mit dem Alter (3% für 65- bis 79Jährige, 7% für 75- bis 80-Jährige und fast 16% für über 85-Jährige) angegeben. Nur ein Viertel der Betroffenen erhielten eine Behandlung.
ner großen repräsentativen Bevölkerungsstichprobe Deutschlands (n = 4181) mit Hilfe des vollstrukturierten computerassistierten klinischen Interviews (M-CIDI) durch. Die Ergebnisse basieren auf diagnostischen Klassifikationen nach DSM-IV (⊡ Tab. 3.3). Wittchen et al. (1998) führten auch eine weitere relevante epidemiologische Bevölkerungsstudie mit wiederholten Erfassungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch. Etwa zeitgleich mit der ECA-Studie in den USA führte die Arbeitsgruppe von Manfred Fichter die oberbayerische Verlaufsuntersuchung bei einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe von 1979 Personen im Alter von 15 Jahren und älter durch. Die höchsten Prävalenzraten fanden sich in der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen (⊡ Tab. 3.3). Die Studie wurde als Langzeitverlaufsuntersuchung bei denselben Probanden 20 Jahre später erneut implementiert (Fichter 2006).
3.5.3
Gegenwärtige Entwicklungen in der psychiatrischen Epidemiologie
National Comorbidity Survey (NCS) Als weitere wichtige US-amerikanische Studie ist der National Comorbidity Survey (NCS) zu erwähnen (Kessler et al. 1994). Ergebnisse dieser Studie basieren auf dem Composite International Diagnostic Interview (UM-CIDI) für DSM-III-R-Diagnosen. Insgesamt 8098 Probanden zwischen 15 und 54 Jahren (nationale Stichprobe der USA) wurden untersucht. Davon berichteten 50% eine »life time disorder«, beinahe 30% litten innerhalb eines Jahres an einer psychischen Erkrankung. Die häufigsten Erkrankungen waren Major Depression und Alkoholabhängigkeit, gefolgt von sozialer bzw. einfacher Phobie (Kessler et al. 1994). Wie bereits in der ECA-Studie (Robins u. Regier 1991), die bei 75% aller Probanden mit einer »life time depressive episode« noch eine weitere psychische Störung feststellt, fanden Kessler et al. (1996), dass 61,8% aller Probanden mit einer Life-time-Major-Depression vor dem Beginn der Depression eine andere psychische Störung aufwiesen, vornehmlich Angststörungen und Substanzmissbrauch. Die NCS-Replikationsstudie, ebenfalls von Kessler et al. (2005) durchgeführt und veröffentlicht, beruht auf den DSM-IV-Kriterien, und Interviews erfolgten durch einen leicht veränderten CIDI (WHO-CIDI). Darüber hinaus wurden Störungen der Impulskontrolle erstmals detailliert erfasst.
Weitere Studien Die Arbeitsgruppe um Hans-Ulrich Wittchen (Jacobi et al. 2004) führte in Deutschland im Rahmen des »German National Health Interview and Examination Survey (GHS)«
eine psychiatrische epidemiologische Untersuchung ei-
Gegenwärtige Konzeptualisierungen und Untersuchungen in der psychiatrischen Epidemiologie gehen dahin, das Fundament in verschiedene Richtungen zu verbreitern. WHO-Psychiatric Disability Assessment Schedule. Zwar
ist eine klar formulierte operationale reliable und valide Diagnosestellung sehr wichtig, doch sagt sie nur begrenzt etwas über die durch die Störung bzw. Erkrankung bedingten Einschränkungen (z. B. Arbeitsunfähigkeit) und erforderlichen Behandlungen aus. Sie helfen dafür nur begrenzt für konkrete Planungen des Gesundheitswesens. Dies führte zur Entwicklung darüber hinausgehender Konzepte und Instrumente. Vor diesem Hintergrund wurde das »WHO-Psychiatric Disability Assessment Schedule« (WHO-DAS II) entwickelt, in dem Einschränkungen, Beeinträchtigungen und Behinderungen erfasst werden, die für die Einschätzung des Behandlungsbedarfs und für eine Quantifizierung des »Outcomes« relevant sind. International Classification of Functioning, Disabilities and Health. Ein weiterer Ansatz in diese Richtung ist die
Entwicklung der »International Classification of Functioning, Disabilities and Health« (ICF), eine Weiterentwicklung der »International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps« (ICIDH). Die ICF geht von einer Interaktion zwischen Erkrankung, Person und sozialer Umwelt aus, und Einschränkungen (Disability) beinhalten Disfunktionen auf dem körperlichen, persönlichen und sozialen Level (Üstün et al. 2003; World Health Organisation 2001).
3
66
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
WHO Quality of Life Assessment. Ein weiterer Ansatz ist
3
tersuchen (World Mental Health Survey Consortium – Demyttenaere et al. 2004). ⊡ Tab. 3.4 gibt eine Übersicht über einen Teil der relevanten Ergebnisse zur Prävalenz psychischer Störungen nach DSM-IV in verschiedenen Ländern und Kontinenten auf der Basis von WHO-CIDIInterviews – eine Herausforderung für die Zukunft. Wie ⊡ Tab. 3.4 zeigt, sind die Prävalenzraten zum Teil sehr unterschiedlich. Für Amerika und Asien lässt sich ein Nord-Süd-Gefälle (mehr Sonnenlicht im Süden) aus den Daten herauslesen. Die niedrigsten Prävalenzraten fanden sich für Nigeria (Afrika) und Shanghai (China), die höchsten für USA, Frankreich und Deutschland. Künftige Untersuchungen werden zeigen müssen, inwieweit diese Ergebnisse Untersuchungsartefakte (in den USA entwickelte Instrumente in weltweitem Einsatz) oder wirkliche Unterschiede darstellen und wodurch diese bedingt sind (Genetik, Gesundheitssystem, soziokulturelle Bedingungen).
die Einbeziehung der Lebensqualität der mit Störung oder Krankheit betroffenen Personen, die z. B. erfasst werden mit dem WHO Quality of Life Assessment (Kuyken u. Orley 1995). Die Quantifizierung beruht in der Regel auf subjektiven Angaben der Betroffenen, was durch die Nichtberücksichtigung des eigenen Anspruchs zu Verzerrungen führen kann. Psychisch zu einem hohen Anteil erkrankte Obdachlose waren »im Großen und Ganzen mit ihrem Gesundheitszustand zufriedener« als Personen einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe der UBS (Fichter u. Quadflieg 2001). Global burden of disease. Die Auswirkung in einer Er-
krankung kann über die individuelle Ebene auch erweitert werden. Psychische Erkrankungen können nicht nur auf den Betroffenen, sondern auch auf Angehörige kommen, die auf das Gesundheitssystem und die Volkswirtschaft Auswirkungen haben. Es kann nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Arbeitsleistung durch funktionale Einschränkungen verloren gehen. Dieser »Global burden of disease« (Üstün u. Mezzich 2002) hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.
Fragen und Probleme in der psychiatrischen Epidemiologie der Gegenwart
3.5.4
Einige wichtige Fragen und Probleme der psychiatrischen Epidemiologie der Gegenwart lassen sich aus ⊡ Tab. 3.3 und ⊡ Tab. 3.4 ersehen. ⊡ Tab. 3.3 enthält Ergebnisse von zwei mit moderner Methodologie durchgeführten nordamerikanischen Studien der 1980er Jahre (ECA-Programm) und der in den 1990er Jahren durchgeführten
World Mental Health Survey Consortium. In den letzten
Jahren hat man es auch unternommen, große Bevölkerungsstichproben in verschiedenen Ländern, Kontinenten und Kulturen mit derselben zeitgemäßen Erhebungsmethodik, koordiniert durch die WHO, zu un-
⊡ Tab. 3.4. Prävalenz psychischer Störungen nach DSM-IV, erfasst mit einheitlichem Interview (WHO-CIDI) in verschiedenen Ländern und Kontinenten (World Mental Health Survey Consortium: Demyttenaere et al. 2004) – gekürzt Kontinente/ Länder
12-MonatsPrävalenz
Lebenszeitprävalenz Angststörungen
Affektive (Mood) Störungen
Störungen der Impulskontrolle
Alkoholmissbrauch/ -abhängigkeit
Mindestens eine der genannten Störungen
Mindestens eine der genannten Störungen
%
(SE)
%
(SE)
%
(SE)
%
(SE)
%
(SE)
%
(SE)
14,1
(1,3)
10,9
(0,8)
2,3
(0,7)
6,2
(0,8)
25,0
(1,6)
8,6
(0,9)
22,0 10,9 10,0
(1,5) (0,9) (1,0)
23,3 10,2 11,6
(1,3) (0,6) (0,6)
3,4 1,1 1,2
(0,5) (0,3) (0,3)
5,8 1,2 2,9
(0,8) (0,3) (0,7)
37,9 18,1 19,7
(2,0) (1,1) (1,4)
14,3 7,2 8,4
(1,2) (0,7) (0,6)
Nordamerika (USA)
28,6
(0,9)
21,4
(0,8)
17,8
(0,7)
14,6
(0,6)
47,3
(1,1)
26,1
(0,9)
Mittelamerika (Mexiko)
11,9
(0,7)
10,0
(0,7)
5,0
(0,5)
8,0
(0,6)
25,3
(1,1)
12,5
(0,9)
Afrika (Nigeria)
5,8
(0,7)
3,2
(0,3)
0,2
(0,1)
4,2
(0,5)
11,8
(0,7)
4,9
(0,5)
8,4 5,9
(0,9) (1,2)
8,5 4,6
(0,7) (0,6)
3,2 4,1
(0,7) (1,2)
4,9 7,5
(0,9) (1,2)
19,8 17,4
(1,7) (2,4)
8,3 9,3
(1,1) (1,6)
3,9
(1,0)
3,7
(0,8)
0,9
(0,3)
1,9
(0,4)
8,6
(1,3)
4,5
(0,9)
Europa – Deutschland – Frankreich – Italien – Spanien
Asien – Japan – Peking (China) – Shanghai (China)
67 3.6 · Einige spezielle Erkrankungen und Risikofaktoren
National Comorbity Survey (NCS). Die Gesamtprävalenz betrug in der ECA-Studie 36,1% und in der NCS-Studie 48,0%. Diese sehr unterschiedlichen Ergebnisse hochsophistizierter psychiatrischer epidemiologischer Studien im selben Land führten zu Konfusionen und Diskussionen (Regier et al. 1998). Die Unterschiede ließen sich nicht wesentlich durch unterschiedliche Stichproben (keine Personen ≥55 Jahre in der NCS) oder durch die Veränderung des diagnostischen Manuals (DSM-III in der ECA-Studie und DSM-II-R in der NCS) erklären. Ein wesentlicher Unterschied schien nach genaueren Recherchen bedingt zu sein durch unterschiedliche ScreeningFragen (»Stem-Questions«), was Regier et al. (1998) im Detail ausführten. Dieser Befund ist sehr bemerkenswert, denn die verwendeten Interviews in beiden Studien waren sich ansonsten sehr ähnlich (DIS in der ECA, UM-CIDI in der NCS) und wurden beide von derselben Person (Lee Robins) federführend entwickelt, wobei das CIDI eine Weiterentwicklung der DIS darstellt. Es wurde gefolgert, dass Interviews zur Fallidentifikation noch zu einem sehr viel höheren Grad standardisiert werden müssten. Es stellt sich aber die Frage, ob die für die US-Bürger standardisierten Fragen in dieser hochstandardisierten Form in anderen Kontinenten und Kulturen wirklich das erfassen können, was sie erfassen sollen. ⊡ Tab. 3.3 zeigt auch, wie bereits in dem kurzen Zeitraum, in dem die aufgeführten Studien durchgeführt wurden, die diagnostischen Kriterien Änderungen erfuhren. Die simple Frage, ob eine bestimmte Erkrankung (z. B. Depression) in den letzten Jahrhunderten zu- oder abgenommen hat, ist fast unmöglich zu beantworten, da die diagnostischen Konzepte und Kriterien im Jahr 1930 andere waren als 1950, 1980 oder 1998. Die an sich sinnvolle Entwicklung der Fortentwicklung diagnostischer Konzepte erschwert den Vergleich von Studien über die Zeit und den Vergleich bei derselben Stichprobe in LangzeitLongitudinalstudien, wie der Upper Bavarian Study UBS (Fichter 2006). Bei der Interpretation der Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen (z. B. Prävalenz, Inzidenz) ist somit immer der Kontext aufs Engste zu berücksichtigen. Das wird komplex und schwierig, wenn wir Fachleute dieses medizinischen Laien, wie z. B. Politikern, für Planungen im Gesundheitswesen und gesamtökonomische Planungen vermitteln wollen. Auch hier gilt es, den wesentlichen Kontext mitzuvermitteln, da die Zahlen für sich nur begrenzt etwas aussagen.
3.6
Einige spezielle Erkrankungen und Risikofaktoren
3.6.1
Schizophrenie
Rössler et al. (2005) haben den Kenntnisstand zusammengefasst. Bei einer engen Definition von Schizophrenie
(im Wesentlichen Symptome ersten Ranges bei Ersterkrankung) ist die Neuerkrankungsrate (Inzidenz) recht gleich über die Welt verteilt (0,7–4,2 Fälle pro 10.000 Population/Jahr). Die Lifetime-Prävalenzrate liegt zwischen 0,5 und 1,6%. Das kumulative Lebenszeitrisiko für Männer und Frauen an Schizophrenie zu erkranken, ist nahezu gleich, wenngleich Männer häufiger in jüngerem Alter unter 40 Jahren erkranken. Obschon nicht häufig, ist Schizophrenie doch eine Erkrankung mit erheblichen Auswirkungen für die Betroffenen, die Angehörigen und die Gesellschaft. Die Lebenserwartung ist um ca. 10 Jahre reduziert, häufige Folge ist Suizid. Nach dem WHO World Health Report (2001) ist Schizophrenie aufgeführt als die achthäufigste Ursache für »Disability Adjusted Life Years (DALYs)« für die Altersgruppe 15–44 Jahre.
3.6.2
Depressive Erkrankungen
Paykel et al. (2005) fassten die Literatur zur majoren Depression für Europa zusammen und danach liegt die 1-Jahres-Prävalenz für majore Depression bei ca. 5%. Es zeigen sich erhöhte Prävalenzraten für Frauen, Menschen im mittleren Alter, weniger privilegierte Schichten und für jene mit »social adversity«. Es besteht eine hohe Komorbiditätsrate mit anderen psychischen und insbesondere auch körperlichen Erkrankungen. Depression ist eine wesentliche Ursache für Beeinträchtigung (Disability). Es bedarf z. B. in »Public Health Programs« besonderer Anstrengungen, um Häufigkeitsrate und Folgen depressiver Störungen zu senken. Weltweit schwanken die Prävalenzraten für affektive (mood) Störungen erheblich zwischen 3,2% in Nigeria und 23,2% in Frankreich (World Mental Health Survey Consortium: Demytthenaere et al. 2004; Andrade et al. 2003). Neue Ergebnisse zu bipolaren Störungen in Europa wurden von Pini et al. (2005) zusammengefasst: Die 12Monats-Prävalenz liegt bei 0,5–1,1% und ist (anders als andere depressive Störungen) bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig zu finden. Der Krankheitsbeginn liegt in der Regel in der Spätadoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter. Komorbidität mit anderen psychischen und körperlichen Erkrankungen ist relativ häufig. Die meisten Studien basieren auf einer mindestens so hohen Einschränkung (Disability) und Behinderung (Impairment) durch eine bipolare Störung im Vergleich zu majorer Depression und Schizophrenie. Depression im hohen Alter ist relativ weit verbreitet. Nach der Münchener Hochbetagten-Studie (Meller et al. 1996) haben 18,7% der über 85-Jährigen eine depressive Störung (17,6% der Frauen, 22,2% der Männer).
3
68
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
3.6.3
3
Demenzielle Erkrankungen
Erst in den letzten 40 Jahren wurde mit Zunahme der Lebenserwartung und damit verbundenen demenziellen Erkrankungen mit großer Intensität gerontopsychiatrische epidemiologische Forschung betrieben. Abhängig von der Stichprobe, den eingesetzten Instrumenten und der Falldefinition schwanken Prävalenzraten für demenzielle Erkrankungen zwischen 6,8% (Schoenberg et al. 1985) und 47,2% (Evans et al. 1989). Gerade die Anzahl leichterer demenzieller Störungen dürfte für die Schwankungsbreite verantwortlich sein. Nach Häfner u. Löffler (1991) zeigt die Prävalenz von mittleren bis schweren Fällen einen Anstieg von 2–3% bei den 65- bis 70-Jährigen, über 20% bei den 80- bis 90-Jährigen und über 30% bei über 90-Jährigen. Fratiglioni et al. (2000) zeigten auf der Basis von 8 Studien der EURODEM-Gruppe eine exponentielle Zunahme der Inzidenz und Demenz vom Alzheimertyp ab dem 65. Lebensjahr auf. In der Münchener HochbetagtenStudie litten 25,4% der befragten über 85-jährigen Probanden nach der GMSA-AGECAT-Computerdiagnose an einer Demenz (25,7% der Frauen, 24,4% der Männer). Bei 64,8% der hochbetagten dementen Probanden wurde eine leichte, bei 26,1% eine mittlere und bei 9,1% eine schwere Demenz diagnostiziert (Fichter et al. 1995; 1996 b). In den meisten europäischen und nordamerikanischen epidemiologischen Studien wird die AlzheimerDemenz als häufigste Form der Demenz angegeben.
3.6.4
Angststörungen
Die generalisierte Angststörung findet sich nach einer Übersichtsarbeit von Lieb et al. (2005) bei etwa 2% der erwachsenen Bevölkerung (12-Monats-Prävalenz). Bis zu 10% der Patienten in der Allgemeinmedizin weisen eine generalisierte Angststörung auf und werden dort aber als solche oft nicht erkannt. Wenig ist bekannt über den natürlichen Verlauf in unselektierten Stichproben, Risikofaktoren und Kosten für Betroffene und Gesellschaft. Nach den Daten einer großen amerikanischen Untersuchung (Grant et al. 2005) fand sich eine 12-Monats-Prävalenz von 2,1% für generalisierte Angststörung mit höheren Prävalenzwerten für Frauen, Menschen mittleren Alters, verwitweten, getrenntlebenden und geschiedenen Menschen und Menschen mit niedrigem Einkommen. Bei Amerikanern asiatischen, spanischen oder schwarzafrikanischen Ursprungs fanden sich niedrigere Prävalenzraten. Soziale Phobie findet sich in einer Übersichtsarbeit von Fehm et al. (2005) bei ca. 2% der Bevölkerung (12Monats-Prävalenz) mit höheren Raten für jüngere Menschen sowie Frauen im Vergleich zu Männern. Goodwin
et al. (2005) gaben eine Übersicht über 13 neuere europäische Studien zu Panikstörung und Agoraphobie. Die 12Monats-Prävalenz für Panikstörung war 1,8% (Range 0,7–2,2%) und für Agoraphobie ohne Panikstörung betrug sie 1,3% (Range 0,7–2,0%). Diese Erkrankungen waren gehäuft bei Frauen und der Erkrankungsbeginn lag in der Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter. Panikstörungen werden in der allgemeinärztlichen Versorgung häufig nicht als solche erkannt und behandelt.
3.6.5
Substanzmissbrauch/ -abhängigkeit
Eine Übersicht zur Alkoholabhängigkeit auf der Basis der DSM-III-R, DSM-IV oder ICD-10-Kriterien findet sich bei Rehm et al. (2005 a): Der gewichtetere, geschätzte Median für die 12-Monats-Prävalenz für Alkoholabhängigkeit lag für Männer (6,1%) deutlich höher als für Frauen (1,1%). Keine klaren Aussagen waren möglich hinsichtlich des Erkrankungsrisikos für verschiedene Altersgruppen sowie Unterschieden zwischen Stadt und Land. Diese Daten lassen Alkoholmissbrauch und seine Folgen noch unberücksichtigt. In einer anderen Übersichtsarbeit folgerten Rehm et al. (2005 b), basierend auf Bevölkerungsstudien und direkten Schätzungen, dass Missbrauch oder Abhängigkeit von Opioiden, Kokain und Amphetaminen in Bevölkerungsstichproben im Vergleich zu indirekten Methoden deutlich unterschätzt wird. In Europa lag nach indirekten Schätzungen die Häufigkeit des genannten Drogenmissbrauchs/-abhängigkeit bei 0,3–0,9%. Die Häufigkeit ist höher bei Männern im Vergleich zu Frauen im jüngeren Alter (18–25 Jahre).
Fazit Da die Verbesserungen der psychiatrischen Diagnostik und diagnostischen Klassifikation in den letzten 20 Jahren erhebliche Fortschritte machten, haben sie auch die psychiatrische Epidemiologie verändert und zu präziseren Ergebnissen geführt. Nachdem große Feldstudien das deskriptive Wissen über die Verteilung spezifischer psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung belegt haben, ergeben sich für die Zukunft darüber hinausgehende Fragestellungen. Die Identifizierung von Risikofaktoren, daraus sich ergebende präventive Bemühungen sowie die Bedarfsanalyse notwendiger zu planender Gesundheitsdienste, machen die psychiatrische Epidemiologie zu einem wesentlichen Bestandteil der psychiatrischen Forschung für die Zukunft.
69 Literatur
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3
70
3
Kapitel 3 · Psychiatrische Epidemiologie
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4 4 Genetik psychischer Störungen W. Maier, A. Zobel, S. Schwab
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.1.8 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3
Konzepte – 73 Warum Genetik und genetische Forschung in der Psychiatrie? – 73 Phänotypen – 73 Gene und genetische Variabilität – 74 Monogene und komplexe Störungen – 74 Genetische Heterogenität, Moderatorgene – 75 Intermediäre Phänotypen bzw. Endophänotypen – 75 Gen-Umgebungs-Interaktion und genetisch vermittelte Vulnerabilität – 76 Epigenetik – 77 Genetik spezifischer psychischer Störungen – 77 Untersuchungen bei Schizophrenie – 77 Untersuchungen bei affektiven Störungen – 83 Fortschritte in der molekulargenetischen Analyse von Schizophrenie und affektiven Störungen – 87
4.2.4 4.2.5 4.2.6
Untersuchungen bei Angsterkrankungen Untersuchungen bei Alkoholismus und Drogenabhängigkeit – 90 Untersuchungen zu Demenzen – 93
– 87
4.3
Diagnostische Spezifität und Unspezifität genetischer Einflussfaktoren – 95
4.4
Perspektiven
4.5
Zusammenfassung
4.6
Anhang – Methoden genetischer Forschung in der Psychiatrie – 98 Analyse der familiären Ähnlichkeit – 98 Suche nach molekular-genetischen Einflussfaktoren (DNA-Sequenzvarianten) – 100
4.6.1 4.6.2
Literatur
– 96 – 98
– 103
> > Die genetische Forschung hat in der Psychiatrie seit über 100 Jahren eine sehr wechselhafte Geschichte. So wurde über viele Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Psychologie und Psychiatrie eine heftige, teilweise verbitterte Diskussion über »Gen oder Umwelt?« (»nature versus nurture«) bei psychischen Erkrankungen und Eigenschaften geführt: Sind Verhaltensdispositionen, psychische Anlagen und Eigenschaften, psychische Beschwerden und Störungen auf genetisch-konstitutionelle Faktoren oder psychosoziale Belastungen und andere Umwelteinflüsse zurückführbar? Diese Frage hat sich als nicht entscheidbar herausgestellt, solange nur die Analyse von familiären Ähnlichkeitsmustern von äußerlichen Merkmalen (Phänotypen) möglich war. Heute ist allgemein anerkannt, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist unstreitig: Verhaltensdispositionen und insbesondere psychische Störungen und zugrunde liegende Persönlichkeitseigenschaften und Reaktionsbereitschaften werden sowohl von genetischen Anlagen als auch von Umweltbedingungen und Erfahrungen beeinflusst; offene Forschungsfragen sind die Mechanismen der Interaktion beider Ebenen. Entscheidend haben zu den erreichten Erkenntnissen die technischen Möglichkeiten zur direkten Untersuchung der genetischen Information auf DNA-Ebene beigetragen. Eine Serie überraschender, nicht antizipierbarer Ergebnisse sind in Bezug auf psychische Störungen dabei erarbeiten worden ( Abschn. 4.2.1–4.2.6). Das gesamte Feld der psychiatrischen Genetik hat sich folgerichtig von der Analyse familiärer Ähnlichkeitsmuster in Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien von Merkmalen (inkl. Störungen) auf die molekulargenetische Analyse psychischer Störungen und Eigenschaften verschoben. Merkmalsunterschiede (Phänotypen; z. B. Auftreten einer Störung oder Ausprägungsunterschiede in Messweiten) werden dabei auf unter-
schiedliche Ausprägungen in der DNA-Sequenz (Genotypen) zurückgeführt oder zumindest damit in Relation gesetzt. Dieser rasch vollzogene Methodenwandel kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Analyse familiärer Ähnlichkeitsmuster eine entscheidende Voraussetzung für die Anwendung molekulargenetischer Methoden in der Ursachenanalyse psychischer Störungen war und auch weiterhin bleibt (z. B. in Bezug auf die Definition und Priorisierung molekulargenetisch zu untersuchender Phänotypen). Der vollzogene methodische »Paradigmenwechsel« hat gleichwohl das Interesse an dem klinischen Forschungsfeld der psychiatrischen Genetik massiv gesteigert, da über diesen Weg die molekularen Bausteine seelischer und geistiger Prozesse und Abweichungen sichtbar werden. Die molekulargenetische Analyse ist zudem mittlerweile zu einer wesentlichen Erkenntnisquelle der Pathophysiologie und Neurobiologie psychischer Störungen und auch der Epidemiologie (z. B. in Form der molekularen und genetischen Epidemiologie und Gen-Umwelt-Interaktion) geworden.
73 4.1 · Konzepte
4.1
Konzepte
4.1.1
Warum Genetik und genetische Forschung in der Psychiatrie?
Ausgangspunkt der genetischen Analyse von äußerlichen Merkmalen ist der Nachweis familiärer Ähnlichkeit in Familienstudien. Intrafamiliäre Ähnlichkeit kann auf sozialen und psychologischen Lebensbedingungen beruhen, die Familienangehörige teilen, oder in der genetisch begründeten biologischen Ähnlichkeit. Liegt Familiarität (d. h. familiäre Ähnlichkeit) vor, ist zunächst abzuklären, ob genetische Faktoren die Ähnlichkeit vermitteln. Diese Aufgabe kann auf phänotypischer Ebene erfolgen, ohne molekulargenetische Mittel. Hierfür sind 2 Studienformen geeignet: 1. Zwillingsstudien (Nachweis genetischer Einflüsse durch systematische Variation genetischer Ähnlichkeit) und 2. Adoptionsstudien (Nachweis genetischer Einflüsse über systematische Variation von Sozialisationsbedingungen). Zwillingsstudien. Sie erlauben bei varianzanalytischen Modellannahmen die Abschätzung des relativen Anteils genetischer Einflüsse (Heritabilität) an der Gesamtmasse ätiologischer Einflussfaktoren. Eine Vielzahl solcher Studien hat in den vergangenen Jahrzehnten sicher belegen können, dass alle häufigen psychischen Störungen genetisch beeinflusst sind, wobei stets auch nichtgenetische Faktoren ätiologisch relevant sind. Analoges gilt für alle psychischen Eigenschaften (z. B. Persönlichkeitsdimensionen) und für das Ausmaß der psychischen Sensitivität in Bezug auf belastende oder traumatische Ereignisse.
relativen Risiko als jeder andere nichtfamiliäre Risikofaktor verbunden (z. B. Schizophrenie oder bipolare Erkrankung). Diese globalen Kennzeichen teilen psychische Störungen mit allen häufigen Störungen in der Medizin (wie beispielsweise Hypertonie, koronare Herzerkrankung, Diabetes mellitus, Morbus Crohn, Allergien). Polymorphismen. Genetische Einflüsse sind auf Polymor-
phismen (d. h. auf Positionen in der DNA, die interindividuell unterschiedlich ausgeprägt sein können) in der DNA-Sequenz spezifischer Gene zurückzuführen. Die Entdeckung dieser störungsrelevanten Gene und ihrer pathogenen Varianten ist durch molekulargenetische Methoden zunehmend möglich geworden. Das Feld der »psychiatrischen Genetik« ist mittlerweile durch molekulargenetische Methoden geprägt. Angriffspunkt für Therapeutika. Die Entdeckung von
krankheitsrelevanten Genen und die nachfolgende Aufdeckung zugrunde liegender krankheitsfördernder molekularer Mechanismen leisten nicht nur substanzielle Beiträge zur bisher weitgehend unbekannten Ätiologie und Pathogenese psychischer Störungen. Die dabei aufgedeckten krankheitsrelevanten Strukturen und Funktionskreise stellen vor allem Angriffspunkte für neu zu entwickelnde Therapeutika dar; diese versprechen effizientere Therapiestrategien, da sie an kausalen Mechanismen und nicht nur am symptomatischen Endprodukt ansetzen. Die Notwendigkeit der Aufdeckung solcher kausalorientierter möglicher Wirkmechanismen und ihre Umsetzung in die Medikamentenentwicklung ist angesichts der relativ hohen Chronifizierungsrate bei allen psychischen Störungen (trotz Behandlung) und der jeweils nur begrenzten therapeutischen Wirksamkeit derzeit verfügbarer Behandlungsstrategien offenkundig.
Komorbidität. Genetische krankheitsbezogene Forschung
kann bei der Aufdeckung der Ursachen für wichtige klinische Phänome gelten. Beispielhaft soll die Komorbidität, das überzufällig häufige Auftreten mehrerer häufiger Erkrankungen beim selben Individuum, betrachtet werden. Diese Konstellation ist bei allen psychischen Störungen untereinander gegeben. Eine Ursache für Komorbidität können genetische Ursachenfaktoren sein, die beiden komorbiden Störungen gemeinsam sind. Diese Konstellation wird auch tatsächlich oft angetroffen ( Abschn. 4.3). Eine Konsequenz gemeinsamer genetischer Ursachenfaktoren wäre z. B. das oft beobachtete, überzufällig häufige gemeinsame Auftreten beider Störungen in derselben biologen Familie (Kosegregation). Relatives Risiko. Bei psychischen Störungen stellt dieselbe Erkrankung bei einem monozygoten Zwillingspartner den stärksten Risikofaktor dar (Stärke definiert über relatives Risiko; Shih et al. 2004); sehr häufig ist auch bereits die Erkrankung eines Geschwisters mit einem höheren
4.1.2
Phänotypen
Genetisch beeinflusste bzw. determinierte, äußerlich beobachtete oder feststellbare Merkmale heißen Phänotypen; diese können vorübergehender (»state«) oder überdauernder (»trait«) qualitativer oder quantitativer Natur sein. Genetisch beeinflusste Phänotypen häufen sich in biologisch definierten Familien, die stets eine überzufällige Ähnlichkeit von DNA-Sequenz-Varianten zeigen. Eine zentrale Fragestellung der medizinischen Genetik ist der assoziative und der kausale (direkte) Zusammenhang zwischen DNA-Sequenzvarianten bzw. Genotypen und Phänotypen. Qualitative Phänotypen werden dabei in Fall-Kontroll-Studien untersucht, für quantitative Phänotypen sind zwei Strategien möglich: durch Vergleich der Genotyp-Verteilung zwischen Extremgruppen in der Phänotypausprägung (definiert über obere/untere Quantile des Phänotyps) oder
4
74
Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
Vergleich der Ausprägungen zwischen verschiedenen Genotypen.
4
Die am häufigsten verwendeten Phänotypen in der medizinischen Genetik sind Krankheitsdiagnosen, (qualitative Phänotypen) bzw. Risikofaktoren wie z. B. Persönlichkeitsfaktoren (quantitative Phänotypen). In der Psychiatrie sind diese Phänotypen in der Regel psychopathologisch oder psychologisch definiert. Phänotypen, die nicht unmittelbar beobachtbar sind, sondern zugrunde liegende, nur experimentell oder indirekt abbildbare Prozesse abbilden, heißen »intermediäre Phänotypen«. Diese sind in der Regel quantitativer Natur ( Abschn. 4.1.6). Verschiedene familiäre, genetisch beeinflusste Phänotypen können gemeinsame genetische Wurzeln haben: entweder vollständige (Phänotypen) oder teilweise Übereinstimmung (Überlappung) in den genetisch einflussreichen DNA-Sequenz-Varianten. In beiden Fällen kommt es zu einer (teilweisen) gemeinsamen familiären Übertragung (Kosegregation).
4.1.3
Gene und genetische Variabilität
Mendel postulierte bereits 1865 das hypothetische Konzept der Übertragung phänotypischer Eigenschaften zwischen Generationen über materiale Strukturen, die wir heute »Gene« nennen. Craig und Watson haben vor ca. 50 Jahren die in den Zellkernen lokalisierte DNA (auch Nukleotide genannt) als reales Substrat genetischer Information entdeckt. Die Gesamtheit der DNA-Sequenzen heißt heute Genom. Das menschliche Genom umfasst ca. 3,2×109 Basenpaare auf autosomalen 22 Chromosomen und 2 Geschlechtschromosomen. Der Chromosomensatz ist paarig aufgebaut: von jedem autosomalen Gen liegen 2 Kopien, und zusätzlich 2 Geschlechtschromosomen in jedem Zellkern vor. Das Genom ist in ca. 30.000 Genen organisiert. Gene werden als Proteine exprimiert. Gene nehmen aber nur ca. 3% des Genoms ein. Die Funktion des verbleibenden Rests (97%) ist weitgehend unbekannt; jedenfalls enthält er sog. regulatorische Sequenzen, die die Genexpression steuern (⊡ Abb. 4.1). Gene untergliedern sich in exonische Bereiche (Exone), intronische und regulatorische Bereiche (u. a. Promotorbereich). Nur Exone werden in Proteine exprimiert; es resultieren durch Mechanismen der translatio-
⊡ Abb. 4.1. Prototypischer Aufbau eines Gens
nalen Modifikation mehr als 100.000 Proteine. Die Genexpression erfolgt in 2 Stufen: die Überschreibung (Transkription) der DNA-Sequenz in die MessengerRNA; diese wird dann in Proteine transformiert (Translation) oder bleiben »unübersetzt«. Verschiedene modifizierende Prozesse (z. B. Splicing) ermöglichen, dass die Anzahl der resultierenden Proteine um ein Mehrfaches über der Anzahl der Gene liegt. Im sog. »Humangenom«-Projekt wurde die menschliche DNA-Sequenz vollständig »entziffert«. Die Erforschung der genetischen Ursprünge häufiger Erkrankungen hat damit einen enormen Aufschwung erhalten. Die Basenpaarsequenz (DNA-Sequenz) ist zwischen zwei Menschen nur dann gleich, wenn beide ein monozygotes Zwillingspaar darstellen; die DNA-Sequenz-Variabilität ist also enorm und prägt die menschliche Individualität: Variabilität bedeutet dabei das Vorliegen verschiedener Ausprägungen (Allele) in der DNA-Sequenz. Liegen 2 oder mehr Allele mit einer jeweiligen Häufigkeit 1% vor, spricht man von einem Polymorphismus. Die Kartierung von DNA-Sequenzen einer Person wird mit Genotypisierung bezeichnet; hierfür werden immer effizientere molekulargenetische Techniken entwickelt (z. B. Hochdurchsatzverfahren auf Chip-Basis). Mit dem Abschluss des Großprojektes »Hap-Map« liegt heute eine umfassende Kenntnis über die Variabilität des menschlichen Genoms vor. Insgesamt 99,9% des Genoms sind zwischen den Menschen identisch und nur 0,1% sind zwischen Menschen variabel, was immerhin 3×106 variablen Positionen entspricht. Auf diese Orte im Genom lassen sich alle genetisch begründeten Unterschiede zwischen Menschen zurückführen – dazu gehören auch Anfälligkeiten (Vulnerabilität) für Krankheiten. Nur diese 0,1% der Orte auf dem Genom können auf genetischem Weg erklären, warum manche Menschen erkranken und andere gesund bleiben. Struktur und Funktion von Genen können hier nicht näher ausgeführt werden, hierfür sei auf Lehrbücher der Humangenetik verwiesen.
4.1.4
Monogene und komplexe Störungen
Die dominanten und rezessiven Erbgänge werden heute als »einfach« benannt. Dabei muss aber nicht jeder Anlageträger den Phänotyp in vollem Umfang zeigen: die »Penetranz« kann auch unvollständig sein. Genetisch beeinflusste oder verursachte Erkrankungen, denen kein einfacher Erbgang zugrunde liegt (in Form einer rezessiven oder dominanten Übertragung mit voll- oder unvollständiger Penetranz), werden heute »komplex« genannt. »Einfache« Erbgänge werden durch Mutationen in einem Krankheitsgen verursacht; folglich spricht man von kausalen Genen. Komplexen Störungen liegen dagegen in der
75 4.1 · Konzepte
Regel mehrere Gene, meist zusammen mit nichtgenetischen Ursachenfaktoren zugrunde. In genetischer Hinsicht handelt es sich also um so genannte poly- oder oligogene Störungen. Dabei sind stets nicht nur mehrere beeinflussende Gene, sondern auch zahlreiche begünstigende Umweltfaktoren anzunehmen. Dieses Krankheitsmodell heißt auch »multifaktoriell«. Die nicht-genetischen Einflussfaktoren werden meist unter dem globalen Begriff »Umgebungsfaktoren« zusammengefasst. Diese Konstellation von »komplexer« Störung ist bei allen häufigen Erkrankungen in der Medizin gegeben: einerseits zeigen Zwillingsstudien genetische Einflüsse, andererseits fehlt (von seltenen Unterformen abgesehen) die Evidenz für einen einfachen Erbgang. Eine einzelne krankheitsassoziierte Variante in einem Gen ist bei »komplexen« Störungen nicht hinreichend, um die Störung auszulösen; andererseits können sich die zahlreichen Einfluss- bzw. Ursachenfaktoren auch gegenseitig in ihrer krankheitsinduzierenden Wirkung vertreten, sodass auch Mutationen in einem spezifischen Gen für die Krankheitsauslösung nicht notwendig sind. Die zu komplexen Störungen beitragenden Gene können über ihre pathogenen Varianten die Krankheit nicht verursachen, sondern lediglich das Erkrankungsrisiko beeinflussen. Solche risikomodulierenden Gene werden (in Abgrenzung zu kausalen Genen) Suszeptibilitäts- oder Dispositionsgene genannt.
4.1.5
Genetische Heterogenität, Moderatorgene
»Genetische Heterogenität« kennzeichnet den Einfluss verschiedener genetischer Varianten auf dieselbe klinisch definierte Erkrankung. Der Begriff ist bei monogenen Erkrankungen entwickelt worden. Bei monogenen Störungen verursachen alternativ verschiedene kausale Gene über ihre Mutanten die Störung. Beispielsweise können früh beginnende Varianten der Alzheimer-Erkrankung – im Gegensatz zur spät beginnenden, häufigen Form – durch ein einzelnes Gen verursacht sein (d. h. sind monogen verursacht). Die früh beginnende (<60 Jahre) Alzheimer-Erkrankung kann alternativ sowohl durch Mutationen im APP-Gen wie auch in den Presenilin 1- und 2-Genen verursacht werden (s. unten). Mutationen in mehreren Genen können also dieselbe Störung hervorrufen (Locus-Heterogenität). Es können aber auch verschiedene Mutationen im selben Gen gleichermaßen dieselbe Erkrankung hervorrufen (allelische Heterogenität): z. B. sind eine große Anzahl von Mutationen im APP-Gen als Einzelursachen für die frühe Alzheimer-Erkrankung gefunden worden. Dabei können unterschiedliche Locus- oder Allelvarianten zu unterschiedlichen symptomatischen Ausformungen derselben Erkrankung führen.
Zusätzlich können auch genetische Varianten, die keinen ursächlichen oder risikosteigernden Effekt haben, die symptomatische Ausgestaltung von Erkrankungen beeinflussen. Solche phänotypisch relevanten Gene werden auch Moderatorgene genannt, z. B. kann eine allelische Variante des Apoproteins E, die ApoE4-Variante, das exakte Ersterkrankungsalter bei monogenen Formen der früh beginnenden Alzheimer-Erkrankung vorverlagern, ohne das kumulative Lebenszeitrisiko signifikant zu beeinflussen. Auf komplexe genetische Störungen, wozu die ganz überwiegende Mehrheit psychischer Störungen gehört, lassen sich diese Begriffe analog anwenden: Genetische Komplexität schließt per Definition eine monogene Krankheitsverursachung über eine einzelne DNA-Sequenz-Variante aus, so dass genetische Heterogenität die Regel darstellt. So sind für alle häufigen Störungen unterschiedliche Gene als Suszeptibilitätsgene sehr wahrscheinlich gemacht worden, wobei mutmaßlich bei der Mehrzahl der Erkrankten pathogene Varianten in mehreren Suszeptibilitätsgenen vorliegen. Es besteht also intraindividuelle Locus-Heterogenität; daneben ist auch allelische Heterogenität wahrscheinlich: innerhalb eines einzelnen Suszeptibilitätsgens beeinflusst nicht eine, sondern beeinflussen viele Varianten das Risiko. Neben den Suszeptibilitätsgenen spielen bei psychischen Störungen auch Moderatorgene eine Rolle. So ist für den Met-/Val-Polymorphismus des COMT-Gens einerseits ein Zusammenhang mit dem Erkrankungsrisiko für die Schizophrenie ausgeschlossen worden, andererseits wurde oft repliziert, dass die Val-Variante mit schlechteren Gedächtnisleistungen einhergeht (Craddock et al. 2006).
4.1.6
Intermediäre Phänotypen bzw. Endophänotypen
Das Konzept »intermediäre Phänotypen« (auch »Endophänotypen« genannt) hat in der Psychiatrie eine umso stärkere Beachtung gefunden, je komplexer und schwieriger sich die Suche nach den Suszeptibilitätsgenen für psychische Störungen erwiesen. Während nämlich unmittelbare Genwirkungen eher auf der Ebene von Zellen und Zellverbunden funktionell wirksam werden, sind psychiatrische Krankheitsdiagnosen ausschließlich psychopathologisch definiert. Neurobiologische Krankheitskorrelate mit hoher Spezifität und Sensitivität, die als sog. »Surrogatmarker« Krankheitsdiagnosen ersetzen oder ergänzen könnten, fehlen zudem (Ausnahme: AlzheimerErkrankung). Zwischen der zellulären und der psychopathologisch zugänglichen Ebene von Erleben und Verhalten liegen zahlreiche systemische Zwischenstufen, die wiederum sehr unterschiedlichen genetischen und nichtgenetischen Einflüssen unterliegen. Solche Zwischenebe-
4
76
4
Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
nen sind aber jeweils direkter durch die Suszeptibilitätsgene beeinflusst als die Erkrankung selbst, weshalb sie eventuell bessere, erfolgversprechendere Ziele für die genetische Analyse darstellen (Gottesmann u. Gould 2003; ⊡ Abb. 4.2). Voraussetzung ist allerdings, dass sich in diesen Zwischenebenen spezifische Krankheitskorrelate finden, die selbst wieder stark genetisch beeinflusst sind, und zwar durch Faktoren, die auch auf die Erkrankung einwirken. Tatsächlich hat die neurobiologische Forschung in jüngster Zeit auch für alle nachfolgend diskutierten Störungen solche geeigneten »intermediären Phänotypen« herausgearbeitet. Bei allen Störungen gibt es sogar Belege oder Hinweise für mehrere, nicht eng miteinander korrelierte »intermediäre Phänotypen« ( Kap. 4.2). Unter diesem Konzept der »intermediären Phänotypen« stellen sich psychische Störungen als Kombination verschiedener neurobiologischer Prozesse dar. Letztere müssen nicht krankheitsspezifisch sein, tragen aber bei einer substanziellen Anzahl von Erkrankten zur Störung bei. Jeder dieser Prozesse kann durch »intermediäre«, neurobiologische Phänotypen charakterisiert werden. Diese alternativen Phänotypen sind zumindest teilweise genetisch beeinflusst; wenn sie unter demselben genetischen Einfluss wie die Erkrankung selbst stehen (d. h. von derselben pathogenen DNA-Sequenzvariante mitbedingt sind), vermitteln sie damit auch das genetische Krankheitsrisiko. Eine unmittelbare Konsequenz ist, dass der »intermediäre Phänotyp« nicht nur bei Erkrankten gehäuft auftritt, sondern auch bei nicht oder auch noch nicht erkrankten »Anlageträgern«, also z. B. bei Angehörigen von Erkrankten (Kosegregation). Die Validität eines »intermediären Phänotyps« wird im Rahmen dieses Konzeptes durch eine enge Korrelation von neurobiologischen Krankheitskorrelaten auf verschiedenen Ebenen belegt
⊡ Abb. 4.2. Hypothetische Beziehung zwischen Suszeptibilitätsgenen und dem Phänotyp der Erkrankung
(s. z. B. neuropsychologische und morphometrische Abweichungen; Cannon 2005; Zobel u. Maier 2004). Ein anderer wichtiger, zwischen diagnostischen und intermediären Phänotypen differenzierender Aspekt ist das »Skalierungsniveau«. Während erstere kategorialer Natur sind (vorhanden/nicht vorhanden), sind die letztgenannten in der Regel kontinuierlich bzw. quantitativ ausgeprägt. Da die Informativität eines Merkmals mit der Zahl seiner möglichen Ausprägungen steigt, können intermediäre Phänotypen die Genortsuche durch eine vermehrte »Power« erleichtern. Haben sich die Hoffnungen erfüllt, dass intermediäre Phänotypen/Endophänotypen in einem engeren Zusammenhang mit Dispositionsgenvarianten stehen als psychopathologisch definierte Diagnosen oder Verhaltensdispositionen? Geben Endophänotypen im Gegensatz zu Diagnosen oder Verhaltensdimensionen Hinweise auf genetisch vermittelte Pathogenese? Die Fragen können derzeit – trotz erster positiver Signale ( Abschn. 4.2.1) – noch nicht beantwortet werden.
4.1.7
Gen-Umgebungs-Interaktion und genetisch vermittelte Vulnerabilität
Bei allen häufigen Erkrankungen (inklusive allen psychischen) spielen sowohl genetische als auch nichtgenetische umweltbedingte Faktoren eine substanzielle Rolle. Wie wirken diese beiden qualitativ unterschiedlichen Bedingungsfaktoren zusammen, um das Erkrankungsrisiko zu formen? Wirken beide Varianzquellen unabhängig voneinander und interagieren sie (Gen-Umgebungs-Interaktion)? Für solche Interaktionen gibt es einige diskutierte Beispiele ( Abschn. 4.2.1 oder 4.2.2).
77 4.2 · Genetik spezifischer psychischer Störungen
Besonders nützlich für die Interpretation von statistisch festgestellten Gen x-Umwelt-Interaktionen ist das folgende Modell: verschiedene DNA-Sequenzvarianten des Gens beeinflussen das Krankheitsrisiko nur unter bestimmten Umweltbedingungen (z. B. Belastungen, kritische Lebensereignisse). ! Bestimmte Genotypen des Gens vermitteln also eine vermehrte Vulnerabilität für die Erkrankung, die jedoch nur unter bestimmten Umgebungsbedingungen zur Krankheitsmanifestation führen.
4.1.8
Epigenetik
Während der Begriff »Gen-Umgebungs-Interaktion« die Modifikation der Übertragung der genetischen Information durch Umgebungsfaktoren benennt, bezieht sich der Begriff »Epigenetik« (Fazzari u. Greally 2004) auf die »Übertragung von nicht in DNA-Sequenzen gespeicherter Information von einer Zelle zur Tochterzelle oder von einer Generation zur anderen«. Eine besondere Variante in dieser Klasse von Prozessen stellen Veränderungen in der Regulation der Transkription aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen in der Chromatinstruktur dar, die zu unterschiedlicher DNA-Expression führen können. Diese nicht über DNA-Sequenz-Variationen, aber gleichwohl molekulargenetisch vermittelten Effekte, können u. a. durch Umweltfaktoren bedingt oder beeinflusst sein. Eventuell stellt dieser biologische Prozess der Modifikation von der DNA-Expression sogar einen Hauptweg in der ätiologischen Wirkung von Umweltfaktoren dar. So konnte z. B. modellhaft bei monozygoten Zwillingen (die identische DNA-Sequenzen aufweisen) gezeigt werden, dass sich die auf Messenger-RNA-Ebene exprimierten Mengen einer DNA-Sequenz (Gen) desto mehr unterschieden, je weniger Zeit die beiden Zwillinge miteinander verbrachten. Zu beachten ist also, dass die epigenetisch relevanten Gene das Krankheitsrisiko nicht – oder zumindest nicht notwendig – über DNA-Sequenzvarianten beeinflussen (Brena et al. 2006). Tierexperimentell konnte gezeigt werden, dass ungünstige Umgebungsbedingungen nach der Geburt zu überdauernden Veränderungen der transkriptionalen Aktivität spezifischer Gene (z. B. des Glukokortikoidrezeptorgens) führen. Diese überdauernde Reagibilität tritt vor allem unter Stressbedingungen auf und begründet die Vulnerabilität für depressionsanaloges Verhalten (Meaney 2001). Epigenetisch bedingte interindividuelle Unterschiede der Genexpression können also die unvollständige Konkordanz zwischen eineiigen Zwillingen erklären, bei denen einer unter einer psychischen Störung leidet, der andere aber nicht.
4.2
Genetik spezifischer psychischer Störungen
4.2.1
Untersuchungen bei Schizophrenie
Familiarität der Schizophrenie und ihrer Symptomatik Die ersten bahnbrechenden Studien zu Erkrankungshäufigkeiten bei biologischen Angehörigen von Patienten mit Schizophrenie wurden vor ca. 100 Jahren von Rüdin (1916) durchgeführt; seither ist Rüdins Hypothese der familiären Häufung der Diagnose »Schizophrenie« oftmals bestätigt worden: Die überwiegende Mehrheit der Familienstudien fand bei biologischen Angehörigen 1. Grades eine Erhöhung des Krankheitsrisikos um einen Faktor von ca. 5 (d. h. Lebenszeitrisiko bei Geschwistern von Patienten mit Schizophrenie 5% im Vergleich zu 1% in der Allgemeinbevölkerung; ⊡ Tab. 4.1; s. auch Shih et al. 2004). Die Suche nach klinisch definierten Subtypen, die ein spezifisches familiäres Häufungsmuster zeigen, verlief bislang meist erfolglos. Als besonders geeigneter Kandidat für eine Subtypisierung schizophrener Störungen wird v. a. das Ersterkrankungsalter diskutiert, das in der Mehrzahl der Familienstudien eine schwach positive Korrelation mit dem Ausmaß familiärer Belastung zeigte; die kategorial definierten Subtypen früh beginnender Schizophrenien stellen aber keine differenzierbare Gruppe dar (Kendler et al. 1996). Die klinischen Subtypen (paranoid, hebephren, kataton) zeigen keine sicher reproduzierbare familiäre und genetische Homogenität (McGuffin et al. 1984; Kendler u. Diehl 1993). Die beobachtete genetische Homogenität und starke genetische Determination von unsystematischen Schizophrenien und periodischen Katatonien im Sinne Leonhards (Beckmann et al. 1996; Franzek u. Beckmann 1996) bedürfen weiterer Abklärung in Replikationsstudien. Familienstudien belegen, dass v. a. Probanden mit ausgeprägter sog. Negativsymptomatik (sozialer Rückzug, bizarres Verhalten, formale Denkstörungen) familiär mit psychischen Störungen belastet sind (Kendler et al. 1995; Van Os et al. 1997). Probanden, die ausschließlich unter Halluzinationen und Wahnsyndromen leiden, zeigen eine niedrigere familiäre Belastung mit psychotischen Störungen. Bei der Fallidentifikation nach DSM-III, in der bevorzugt Probanden mit einer neben der Positivsymptomatik bestehenden Negativsymptomatik eingeschlossen werden, ließ sich in Zwillingsstudien ein genetischer Einfluss nachweisen, nicht jedoch für die bei ausschließlich auf das Vorhandensein von Positivsymptomatik erfolgende Fallidentifikation (definiert nach den Symptomen 1. Ranges nach K. Schneider; McGuffin et al. 1984; Franzek u. Beckmann 1996). Dementsprechend wurden besonders
4
78
Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
⊡ Tab. 4.1. Altersadjustierte Wiederholungsrisiken für psychische Störungen bei Angehörigen 1. Grades im Vergleich zu Kontrollen aus der Allgemeinbevölkerung Diagnose
Literatur (Studie)
Schizophrenie
Coryell u. Zimmermann 1988 (RDC/DSM-III)
1,4
0
Gershon et al. 1988 (RDC/DSM-III)
3,1
0,6
Kendler et al. 1993 a (DSM-III-R)
8,0
1,1
Maier et al. 1993 a (RDC/DSM-III-R)
5,2
0,5
Parnas et al. 1993a (DSM-III-R)
16,2
1,9
Gershon et al. 1988 (RDC/DSM-III)
7,2
0,3
Maier et al. 1993a (RDC/DSM-III-R)
7,0
1,8
Gershon et al. 1988 (RDC/DSM-III)
16,7
6,7
Kendler et al. 1993 c (DSM-III-R)
31,1
22,8
Maier et al. 1993 a (RDC/DSM-III-R)
21,6
10,6
Winokur et al. 1995 (RDC)
10,4
4,9
Klein et al. 2001 (DSM-III-R)
33,9
21,2
Maier et al. 1993 b (DSM-III-R)
17,3
6,8
4
Bipolare Störung
Unipolare Depression
Alkoholabhängigkeit a
Wiederholungsrisiko (Lebenszeitprävalenz) für Erkrankung des Indexfalles bei Angehörigen 1. Grades (%)
Lebenszeitprävalenz in der Allgemeinbevölkerung (%)
Prospektive Untersuchung bei Kindern schizophrener Mütter und Kontrollen (Kopenhagener High-Risk-Studie).
hohe Konkordanzraten bei jenen eineiigen Zwillingen beobachtet, bei denen der Indexpatient eine ausgeprägte schizophrene Negativsymptomatik mit einer langen Episodendauer aufwies (Kendler u. Diehl 1993). In Familien Schizophrener findet sich aber nicht nur die Diagnose Schizophrenie gehäuft, sondern es finden sich auch andere psychotische und nichtpsychotische Störungen. So kommen auch schizoaffektive Störungen überzufällig häufig vor (Maier et al. 1993 a, Laursen et al. 2005). Andererseits kommen in Familien von Patienten mit schizoaffektiven Störungen auch gehäuft Schizophrenien vor. Ein analoges Verhältnis besteht zwischen der Schizophrenie und affektiven Störungen mit psychotischen Symptomen (Kendler et al. 1993 b) Diese familiären Zusammenhänge beruhen teilweise auf gemeinsamen genetischen Ursachenfaktoren (Farmer et al. 1987).
Das Konzept »Schizophrenie-Spektrum« Sorgfältige Familien- und Adoptionsstudien bei Indexfällen mit Schizophrenie haben bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach belegt, dass biologische Angehörige 1. Grades überzufällig häufig Verhaltensauffälligkeiten zeigen, auch wenn sie niemals im Leben an einer Schizophrenie leiden (Kety et al. 1983). Die können z. B.: a) Unter anderen Erkrankungen leiden oder b) nichtkrankheitswertige Auffälligkeiten zeigen. Insbesondere zeigen sich in den biologischen Familien von an Schizophrenie Erkrankten vermehrt die folgenden, nichtschizophrenen Erkrankungen bzw. die folgenden Auffälligkeiten: a) Nichtschizophrene psychotische Erkrankungen wie Wahnsyndrome oder schizoaffektive Störungen und affektive Störungen (v. a. mit psychotischen Symptomen) und
79 4.2 · Genetik spezifischer psychischer Störungen
b) schizophrenieähnliche Einzelsymptome, ohne dass gleichzeitig akute Störungen vorlägen: magisches Denken, bizarres Verhalten, subklinische Denkstörungen, soziale Ängstlichkeit und Rückzug; diese Symptome bei Familienangehörigen von Patienten sind oft überdauernd vorhanden, ohne notwendigerweise zu akuten psychotischen Störungen oder zur Schizophrenie zu führen; diese Auffälligkeiten wurden wegen ihres häufig überdauernden Charakters als Persönlichkeitsstörungen (schizotype Persönlichkeitsstörungen) oder bei geringerer Ausprägung als Persönlichkeitstypus bzw. -dimension (Schizotypie) bezeichnet (z. B. Kinney et al. 1997; Maier et al. 1994 a; Kendler 1995). Diese Beobachtungen stellten die Grundlage für das sog. Spektrumkonzept dar. Zum sog. »schizophrenen Spektrum« gehören sowohl psychische Störungen als auch Persönlichkeitsstörungen oder auch Merkmale, die 1. bei biologischen Angehörigen von Patienten mit Schizophrenie häufiger als in der Allgemeinbevölkerung sind und 2. ein der Schizophrenie verwandtes Symptomprofil aufweisen. Zu diesem »schizophrenen Spektrum« gehören damit: Andere psychotische Störungen, affektive Psychosen, die schizotype Persönlichkeitsstörung und ggf. auch die Persönlichkeitsdimension »Schizotypie«. Das Konzept des »Spektrum« ist auf einer psychopathologischen Ebene definiert. Es hat auf neuropsychologischer-physiologischer Ebene eine Entsprechung: kosegregierende Merkmale, die die Kriterien von intermediären Phänotypen erfüllen (s. unten). Genetische Determination. Zahlreiche Zwillingsstudien
liegen zur Schizophrenie vor. Höhere Konkordanzraten für eine Diagnose bei eineiigen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingspaaren belegen übereinstimmend die Relevanz genetischer Faktoren für das Auftreten der Schizophrenie (⊡ Tab. 4.2). Die unvollständige Konkordanz monozygoter Zwillinge bezüglich der Schizophrenie (inkl. assoziierter Störungen) weist zudem auf die Relevanz nichtgenetischer Ursachenfaktoren hin. Adoptionsstudien beweisen ebenso eine genetische Teildetermination (Kendler u. Diehl 1993; Tienari et al. 2004). Die aus dem Verhältnis der Konkordanzraten ermittelte Schätzung für den Anteil der durch genetische Faktoren erklärbaren ätiologischen Varianz (Heritabilität) beträgt etwa 50% (Metaanalyse über alle publizierten Studien nach McGue u. Gottesman 1991). Bei Anwendung des DSM-III-R als Diagnosemanual wurde die maximale Heritabilität von Franzek u. Beckmann (1996) mit 87% beobachtet. Unter den verschie-
denen Optionen zur Definition der Schizophrenie variiert das Ausmaß an Heritabilität. Insgesamt ist dabei die DSM-III-/DSM-III-R-Definition im Mittel mit einem besonders hohen bzw. maximalen Ausmaß genetischer Determination assoziiert (z. B. McGuffin et al. 1984). Die Analyse von eineiigen Zwillingspaaren, die bezüglich der Diagnose »Schizophrenie« diskordant sind, haben im Vergleich zu diskordanen zweieiigen Zwillingen auch Phänotypen herausgearbeitet, die mit der Schizophrenie gemeinsame genetische Wurzeln teilen (Cannon 2005). Solche Phänotypen sind z. B. Störungen des Arbeits- und episodischen Gedächtnisses (s. unten Intermediäre Phänotypen/Endophänotypen), Reaktion der grauen Hirnsubstanz v. a. frontal. Familiäre Umgebungsfaktoren. Der Beitrag von nichtge-
netischen Umgebungsfaktoren zur Krankheitsentstehung kann adäquat vor allem in Adoptionsstudien ermittelt werden, denn diese variieren systematisch die sozialen Lebensbedingungen. Die Anzahl durchgeführter Adoptionsstudien liegt auch bei der Schizophrenie deutlich unter der Anzahl von Zwillingsstudien. Die jüngste, am nationalen Adoptionsregister in Finnland durchgeführte Studie (Tienari et al. 2004) ist besonders aussagekräftig und belegt neben einem deutlichen genetischen Faktor eine starke Umweltrelevanz. Erkrankungen des schizophrenen Spektrums traten nahezu ausschließlich unter dem gleichzeitigem Vorliegen zweier Bedingungen auf: einem erhöhten familiären Risiko (ein erkrankter Elternteil) und ungünstigen psychosozialen Sozialisationsbedingungen (psychologisch konflikthaftes und emotional restringiertes Adoptionsmilieu). Hieraus ist das Modell ableitbar, dass schizophrene Spektrumerkrankungen aus der Interaktion einer vorzugsweise genetisch vermittelten Vulnerabilität und von abträglichen Sozialisationsbedingungen und Einzelerfahrungen entstehen. Eine Konsequenz dieser Beobachtungen ist es auch, dass die genetisch vermittelte Vulnerabilität für Schizophrenie stumm bleiben kann (Gottesman u. Bertelsen 1989). ! Aus Zwillingsstudien resultieren meist keine familiären Umgebungsfaktoren, ganz im Gegenteil zu Adoptionsstudien. Bei diesem Widerspruch ist zu bedenken, dass Zwillingsstudien zwar genetische Einflussfaktoren systematisch variieren, nicht aber familiär-umgebungsbezogene; sie sind also für die Entdeckung familiärer, nichtgenetischer Einflussfaktoren gegenüber von Adoptionsstudien weniger sensitiv.
Intermediäre Phänotypen/Endophänotypen bei Schizophrenie Das Konzept des intermediären Phänotyps bzw. von Endophänotypen ist bei der Schizophrenie entwickelt und
4
80
Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
Tab. 4.2. Ergebnisse neuerer Zwillingsstudien Diagnose des Indexfalles
Schizophrenie
4
Bipolare Störung
Unipolare Depression
Literatur (Studie)
Anzahl untersuchter Paare
Probandenweise Konkordanzraten (%)
MZ
MZ
DZ
Kringlen 1976 (ICD-7)
55
90
45
15
Farmer et al. 1987 (DSM-III-R)
21
21
48
10
Onstad et al. 1991 (DSM-III-R)
31
28
48
4
Franzek u. Beckmann 1996 (DSM-III-R)
21
18
75
11
Cannon et a. 1998 a (DSM-III-R/ICD-8)
134
374
46
9
Bertelsen et al. 1977 (ICD-7)
34
37
79
19
Kendler et al. 1993 d
13
22
39
5
Cardno et al. 1999
22
27
36
7
Torgersen 1986 (DSM-III)
28
46
25
11
McGuffin et al. 1991 (DSM-III)
62
79
53
28
Kendler et al. 1992 a (DSM-III)
b
b
49
42
Kendler et al. 1993 c (DSM-III-R)
b
b
48
42
McGuffin et al. 1996 (DSM-IV)
Alkoholabhängigkeit
DZ
68
102
46
20
Lyons et al. 1998
1874
1498
23
14
Bierut et al. 1999
1323
1339
42
35
Kendler u. Prescott 1999
1368
2422
39
30
50
64
59
36
861
653
48
34
31
24
25
5
26
12
Männliche Paare: Pickens et al. 1991c (DSM-III) Prescott u. Kendler 1999 Weibliche Paare: Pickens et al. 1991c (DSM-III) Kendler et al. 1992 d (DSM-III-R)
b
b
MZ monozygot; DZ dizygot. Einzige epidemiologische Stichprobe aller in einer Region geborenen Zwillinge. b Zwillingsstudie in der weiblichen Allgemeinbevölkerung, diagnostisch unselektiert (MZ 510, DZ 440). c Alternative Auswertung dieser Stichprobe in McGue et al. 1992. a
vielfach bestätigt worden (Gottesmann u. Gould 2003). Mehrere quantitative neurobiologische Krankheitskorrelate der Schizophrenie a) fanden sich ebenso häufiger bei gesunden Personen mit erhöhtem Krankheitsrisiko (eineiige Zwillingspartner Erkrankter, Angehörige 1. Grades von Patienten) und b) erwiesen sich als genetisch beeinflusst und c) gehen der Erkrankung zeitlich voraus (Cannon 2005).
Intermediäre Phänotypen sollen neurobiologische Prozesse abbilden, die zur Erkrankung beitragen. Jeder dieser Prozesse umfasst verschiedene strukturelle und funktionelle Ebenen; daher stellen Korrelationen zwischen quantitativen Normabweichungen auf verschiedenen Ebenen (z. B. neuropsychologische Funktion und Hirnstruktur) ein wichtiges Validierungskriterium für intermediäre Phänotypen dar. Besonders gut bestätigte intermediäre Phänotypen sind (Cannon 2005):
81 4.1 · Konzepte
Störungen des Arbeitsgedächtnisses: Diese neuropsychologische Leistung betrifft das Behalten räumlicher oder verbaler Information zum Zweck der kurzfristigen Verarbeitung; dabei ist v. a. das dorsolaterale Frontalhirn involviert, das bei Patienten und Risikopersonen zahlreiche strukturelle und funktionelle Normabweichungen aufweist. Störungen des deklarativen bzw. episodischen Gedächtnisses: Dabei handelt es sich um die Aufnahme, das Speichern und den Abruf von kontextgebundenem Gedächtnismaterial (z. B. Wortassoziationen); diese Funktion wird wesentlich vom temporalen Korten und Hippokampus vollzogen; auch diese Hirnstrukturen zeigen bei Patienten und Risikopersonen eine Vielzahl struktureller und funktioneller Normabweichungen. Die Bahnung der elektrophysiologischen Reaktion auf einen akustischen Reiz (P50) durch einen Vorreiz (Prepulse-Inhibition): Der Vorreiz führt zu einer Abfla-
chung der elektrophysiologischen Reaktion auf einen Reiz; diese Normabweichung geht mit einer Vielzahl anderer Störungen der Informationsverarbeitung und hirnstrukturellen Veränderungen einher; diese Antwortreduktion wird als Hinweis auf eine reduzierte Fähigkeit zur Ausbildung irrelevanter Reize gewertet.
Andere kosegregierende neuropsychologische Merkmale Bei biologischen Angehörigen Schizophrener, die selbst nie in ihrem Leben an einer psychischen Erkrankung litten, treten überzufällig häufig Normabweichungen in neuropsychologischen und -physiologischen Parametern auf, die sich auch bei Schizophrenen finden; diese im Folgenden genannten Auffälligkeiten stellen isolierte gruppenstatistische Abweichungen dar, die keine empirisch gesicherte Entsprechung in hirnstrukturellen Veränderungen haben. Daher werden sie hier nicht als »intermediäre Phänotypen« geführt (Cannon et al. 1994; Faraone et al. 1995). Als gesichert gilt die familiäre Häufung von Defiziten bei gesunden/nichtpsychiatrischen Angehörigen Schizophrener in folgenden psychologischen Funktionen: Der langsamen Augenfolgebewegungen, der Daueraufmerksamkeit, der visuellen Informationsverarbeitung (»backward masking«), spezifischer Gedächtnisfunktionen (u. a. räumliches Arbeitsgedächtnis und verbales Gedächtnis) und der funktionellen zerebralen Asymmetrie (Friedman et al. 1988; Franke et al. 1994; Park et al. 1995; Green et al. 1997; Keefe et al. 1997). Die einzelnen neurokognitiven Funktionen zeigen ein uneinheitliches Korrelationsmuster, was auf unterschied-
liche, genetisch determinierte Komponenten von Dysfunktionen bei Schizophrenen und in Familien Schizophrener hinweist. Diese verschiedenen Komponenten werden offenbar auf unterschiedlichen Wegen intrafamiliär übertragen (Keefe et al. 1997). Langsame Augenfolgebewegungsstörungen. Besonders
gründlich wurden langsame Augenfolgebewegungsstörungen als Risikoindikatoren für eine genetisch vermittelte Vulnerabilität für Schizophrenie untersucht. Globale Defizite wurden auch in Familien affektiv Kranker beobachtet, dagegen zeigte v. a. die erhöhte Frequenz von antizipatorischen Sakkaden einen diagnostisch spezifischen Zusammenhang mit dem Status, ein gesunder biologischer Angehöriger eines Schizophrenen zu sein (Rosenberg et al. 1997). Der familiäre Zusammenhang der langsamen Augenfolgebewegungsstörungen mit der Schizophrenie beruht offenbar v. a. auf gemeinsamen genetischen Ursachenfaktoren; folglich wurde postuliert, dass die genetisch übermittelte Anlage zur Schizophrenie als langsame Augenfolgebewegungsstörung exprimiert wird (Holzman et al. 1988). Eine experimentell induzierte Steigerung der visuellen Aufmerksamkeit kann allerdings den Leistungsunterschied zwischen gesunden Risikopersonen und Kontrollpersonen deutlich reduzieren, was auf eine genetische Einschränkung visueller Aufmerksamkeitsleistung hinweist (Rosenberg et al. 1997). Diese visuelle Aufmerksamkeitsstörung, kosegregiert aber offenbar nicht mit anderen, genetisch vermittelten visuellen Aufmerksamkeitsstörungen (Keefe et al. 1997).
Molekulargenetische Befunde Die genetische Analyse psychischer Störungen auf der Ebene der DNA-Sequenz hat v. a. bei der Schizophrenie seit 2002 (Straub et al. 2002) enorme Forstschritte erreicht, die vorher nicht vorstellbar waren. Besonders erfolgreich war die konsequente Anwendung einer zweistufigen Strategie in der Genortsuche: 1. Stufe: Genomweite Kopplungsanalysen zur Identifikation von Kandidatenregionen, die wahrscheinlich Suszeptibilitätsgene enthalten, 2. Stufe: Suche nach diesen vermuteten Suszeptibilitätsgenen in den identifizierten Kandidatenregionen durch systematische Feinkartierung; die Kenntnis von Genen, die im Gehirn exprimiert werden und in diesen Regionen lokalisiert sind, ist dabei richtungsweisend. Die publizierten genomweiten Kopplungsuntersuchungen in ca. 20 Stichproben mit Familien mehrerer Erkrankter erbrachten zunächst wenig konsistente Befunde. Die anfänglich irritierende Ergebnislage war vermutlich auf die in einzelnen Studien jeweils zu geringe
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Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
Stichprobenumfrage zurückzuführen. Die anschließenden Metaanalysen zeigten erfreulicherweise trotz der Inkonsistenz der Einzelstudien belastbare Konsensusresultate: Die folgenden Chromosomenabschnitte beinhalten demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit ein oder mehrere DNA-Sequenzvarianten, die zum Krankheitsrisiko beitragen: 6p24-22, 8p22-21, 13q14-22, 22q11-12, 1q21-22. Diese Befunde aus Metaanalysen von Kopplungsstudien erwiesen sich in der Folgezeit auch insofern als valide und richtungsweisend, als für fast alle genannten Regionen die Suche nach Suszeptibilitätsgenen erste Erfolge zeigte. Die folgenden 3 Kandidatengene könnten mittlerweile als Suszeptibilitätsgene der Schizophrenie wahrscheinlich gemacht werden: 1. In der metaanalytisch bestätigten Kandidatenregion in Chromosom 6 kurzer Abschnitt (p): 6p24-22; hier wurde 2002 als erstes mutmaßliches Suszeptibilitätsgen das Gen für das Dysbindin (DTNB1-Gen) postuliert (Straub et al. 2002). 2. In der metaanalytisch bestätigten Kandidatenregion 13q14-22 wurden der mutmaßliche Genort G72/930 als Suszeptibilitätsgen gefunden. Ebenso wurde das mit G72/G30 in vitro interagierende Gen für D-AminoAcid-Oxidase (DAAO) mehrfach mit Schizophrenie assoziiert gefunden, das Gen G72 wird daher auch DAAO-Aktivatur (DAOA) genannt (Chumakov et al. 2002); dieses Gen kommt möglicherweise nur beim Menschen vor. 3. In der gut bestätigten Kandidatenregion 8p22-p21 wurde das Gen für die verschiedenen Isoformen des Proteins Neuregulin 1 (NRg-1) als mutmaßliches Suszeptibilitätsgen postuliert (Stefansson et al. 2003). Metaanalysen haben gezeigt, dass in jedem dieser 3 mutmaßlichen Suszeptibilitätsgene verschiedene Allele mit dem Erkrankungsrisiko assoziiert sind. Dabei ist zu bedenken, dass auch sicher assoziierte genetische Marker nur die räumliche Nähe auf dem Genom (innerhalb des Kopplungsungleichgewichts) zu einer direkt auf die Krankheitsentstehung einwirkenden genetischen Variante anzeigen. Chromosomen werden nämlich stückweise von Eltern auf Kinder übertragen, so dass Allele an benachbarten Positionen nicht unabhängig voneinander übertragen werden. Es resultiert das sog. Kopplungsgleichgewicht. Replizierbare allelische Assoziationen bedeuten daher, dass entweder das assoziierte Allel einen direkten Effekt ausübt oder dass dieses mit dem pathogenen Allel in Kopplungsungleichgewicht steht. Kopplungsungleichgewicht besteht in europäischen Populationen über ca. 80.000 Basenpaare hinweg. Für keine der 3 genannten Gene ist jedoch bisher eine direkt pathogene Variante bekannt. Die Suche nach den pathogenen Varianten ist u. a. durch das Fehlen von kodierenden Sequenzvarianten erschwert, die zu einer Veränderung der Aminosäurese-
quenz und damit einer möglichen, leicht entdeckbaren Funktionsveränderung des resultierenden Proteins führen. Somit sind die direkt risikomodulierenden Varianten mutmaßlich in den Regulatorbereichen des Gens lokalisiert, wo sie eine Veränderung der Expressionsstärke (d. h. mehr oder weniger Protein in spezifischen Regionen) oder ein alternatives »Splicings« (d. h. mehr oder weniger Mengen einer Isoform im Vergleich zu anderen Isoformen) bewirken. Relativ geringe Risikosteigerungen. Bemerkenswert sind
die nur jeweils geringen relativen Risikosteigerungen, die mit den krankheitsassoziierten Varianten verbunden sind. In Metaanalysen werden relative Risiken von maximal 2,0 meist maximal 1,5 berichtet: d. h. das Lebenszeitrisiko eines Risikoallelträgers erhöht sich von 1% auf maximal 2%. Solche Risikosteigerungen sind nur in gruppenstatistischen Vergleichen verwertbar und eignen sich nicht für die Diagnose oder für die Prognose in einem spezifischen Einzelfall. Der Wert der geschilderten Entdeckungen liegt dagegen vor allem in der Aufklärung von Pathogenese und physiologie. Was ist über die Funktion der genannten mutmaßlichen Suszeptibilitätsgene bisher bekannt: 1. Die genannten Gene sind im Gehirn exprimiert u. a. auch in Schlüsselregionen für die Pathophysiologie der Schizophrenie wie Frontalhirn und/oder Temporallappen und Hippokampus. 2. Alle genannten Gene werden prä- oder postsynaptisch in der glutamatergen Synapse exprimiert (Dysbindin, Neuregulin-1-Gen) oder die Genprodukte (DAO-A) interagieren mit Enzymen (DAAO), die die Transmission in dieser Synapse beeinflussen; alle Gene tragen mit ihren exprimierten Proteinen zur Modulation eines spezifischen glutamatergen Rezeptors, des NMDA-Rezeptors bei (Harrison u. Owen 2003). Diese Beobachtungen sind auf dem Hintergrund der glutamatergen Hypothese interessant: Schizophrenie ist durch eine abgeschwächte glutamaterge Transmission (hypoglutamaterg) gekennzeichnet. Dieser hypothetische Zusammenhang wird durch zahlreiche neuropathologische, experimental psychologische, zellbiologische, tierexperimentelle, aber auch humanpharmakologische Studien gestützt. 3. Proteine erfüllen meist mehrere Funktionen, was auch zumindest für Dysbindin und Neuregulin 1 bekannt ist (Ross et al. 2006): So trägt Dysbindin nicht nur zur glutamatergen Transmission, sondern auch zum Funktionserhalt und zum Überleben von Nervenzellen bei (Nazarian et al. 2006). Neuregulin 1 ist schon lange ein als für die Hirnentwicklung und hier v. a. für die Markscheidenbildung (Myelinisierung) bedeutsames Eiweißmolekül untersucht worden. Hier ergeben sich hypothetische Zusammenhänge mit Befun-
83 4.2 · Genetik spezifischer psychischer Störungen
den zur Volumenreduktion in der weißen Substanz bei der Schizophrenie. 4. Erste replizierte Befunde zeigen, dass Träger der mit der Schizophrenie assoziierten Allele bzw. Allelkombinationen spezifische klinische Prägnanztypen aufweisen: so gehen Risikovarianten des Dysbindin-Gens offenbar mit stärker ausgeprägten Negativsymptomen einher (Fanous et al. 2005).
Potenzielle Wirkungen und Relevanz möglicher Suszeptibilitätsgene Wie können diese Gene zum Erkrankungsrisiko beitragen? Interessanterweise sind bisher weder im DysbindinGen noch im NRG1-Gen DNA-Sequenzvarianten in dem für Proteine kodierenden Bereich gefunden worden. Die Aminosäuresequenzen der resultierenden Proteine sind also bei allen Menschen gleich. Diese Beobachtung lässt vermuten, dass die Suszeptibilitätsvarianten ihre funktionelle Bedeutung über die Modifikation der Genexpression vermitteln. Folglich wird auch intensiv nach Mengenunterschieden der von diesen mutmaßlichen Suszeptibilitätsgenen exprimierten RNA und Proteinen in krankheitsrelevanten Hirnarealen gesucht. So wurde auch für Dysbindin sowohl im Frontalhirn als auch im Hippokampus eine Reduktion der Genexpression im neuropathologischen Präparat bei verstorbenen Erkrankten gefunden. Für Neuregulin sind derzeit die Befunde noch weniger eindeutig (Lewis u. Gonzales-Burgos 2006).
4.2.2
Untersuchungen bei affektiven Störungen
Familiarität affektiver Störungen Alle Subtypen affektiver Erkrankungen – bipolare Störungen, unipolare Depressionen, Zyklo- und Dysthymien – zeigen in allen Familienstudien eine familiäre Häufung im Vergleich zu Familien gesunder Kontrollen (⊡ Tab. 4.1). Das berichtete familiäre Lebenszeitrisiko, d. h. das Risiko eines Angehörigen 1. Grades, irgendwann an einer affektiven Störung zu erkranken, variiert erheblich zwischen den Studien (Lebenszeitrisiken von 7% bis über 31% unter den Verwandten 1. Grades von Patienten); eine ähnlich breite Variation des Lebenszeitrisikos für unipolare Depression ist aus Allgemeinbevölkerungs- bzw. Kontrollstichproben bekannt (0–23%). Folgende Ergebnisse sind besonders relevant: a) Das Risiko für bipolar affektive Störungen ist um den Faktor 5–10 bei biologischen Angehörigen 1. Grades von bipolar affektiv Kranken erhöht. Unter der großen Gruppe bipolarer Störungen verbergen sich mehrere familiär homogene Untergruppen mit einer möglicherweise spezifischen genetischen Determination. Unter den Subtypen bipolarer Störungen induzieren
v. a. bestimmte Komorbiditätsmuster spezifische und homogene familiäre Häufungen: gleichzeitiges Vorliegen von Alkoholabhängigkeit, -abusus, Substanzmittelabusus, psychotische Symptome und Suizidalität; auch frühes Ersterkrankungsalter zeigt eine deutliche Familiarität (Schulze et al. 2006). b) Das Risiko für unipolare Major Depression (depressive Episode) ist bei biologischen Angehörigen 1. Grades von Patienten mit dieser Erkrankung ca. um den Faktor 2 erhöht; trotz der Geschlechterdifferenzen in den absoluten Prävalenzziffern ist diese Steigerung des relativen Risikos in der Mehrzahl der Studien für Männer und Frauen gleich. Es ist gut belegt, dass rezidivierende und chronische Depressionen im Mittel mit einer stärkeren familiären Belastung einhergehen als einzelne, zeitlich abgegrenzte Krankheitsperioden. Das Ersterkrankungsalter steht dagegen in keinem systematischen Zusammenhang mit dem Ausmaß der familiären Belastung bei der unipolaren Depression. Eine Ausnahme stellen lediglich Depression mit Ersterkrankungsalter nach 60 Jahren dar, die eine geringere familiäre Belastung aufweisen (Klein et al. 2004; Sullivan et al. 2000). c) Dysthymien und Zyklothymien zeigen ebenso eine familiäre Häufung; allerdings treten in Familien Dysthymer auch unipolare Depressionen häufiger auf, ebenso wie in Familien von Zyklothymien bipolare Störungen häufiger als in der Allgemeinbevölkerung zu finden sind (Klein et al. 2004). Genetische Determination. Zwillings- (⊡ Tab. 4.2) und
Adoptionsstudien belegen, dass das Auftreten unipolarer und bipolarer Störungen, insbesondere bipolar-affektiver Störungen, von genetischen Faktoren mitbestimmt wird (Propping 1989). Auch Zwillingsstudien bekräftigen die Validität der Unterscheidung unipolar-/bipolar-affektiver Störungen: Die Konkordanz des bipolaren Verlaufstyps bei eineiigen Zwillingen beträgt 80% im Vergleich zu weniger als 10% bei zweieiigen Zwillingen. Mehr als 80% der ätiologischen Varianz werden in modellabhängigen Varianzanalysen von Zwillingsstudien genetischen Faktoren zugeschrieben. Die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen für unipolare Depressionen ist deutlich niedriger (maximal 50%), ebenso die durch genetische Faktoren erklärbare Varianz (Sullivan et al. 2000). Metaanalysen weisen eine genetisch erklärbare Varianz von weniger als 50% aus; darüber hinaus sind v. a. nichtgenetische Umgebungsfaktoren ursächlich relevant, die nicht von beiden Zwillingspartnern geteilt werden, sondern individueller Natur sind: z. B. kritische Lebensereignisse in der frühen Kindheit (wie Missbrauchserfahrungen) oder unmittelbar vor Krankheitsausbruch. Ein weiterer, sehr gut bestätigter Risikofaktor für unipolare Depressionen sind höhere Ausprägungen des Persönlichkeitsfaktors »Neurotizis-
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Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
mus«; dieser Risikofaktor unterliegt aber selbst genetischen Einflüssen, die auch wesentlich zur unipolaren Depression beitragen (Kendler et al. 1993 b). Bei monozygoten Zwillingspartnern unipolar Depressiver, die selbst nicht unter einen unipolaren Depression leiden (diskordante Zwillingspartner) treten aber auch andere Störungen (v. a. Angsterkrankungen und Essstörungen) häufiger auf als (a) bei Personen in der Allgemeinbevölkerung und (b) bei diskordanten dizygoten Zwillingspartnern. Diese Konstellation weist auf teilweise gemeinsame genetische Ursachenfaktoren von unipolaren Depressionen, Angst- und Essstörungen hin. Die unvollständige Konkordanz zwischen monozygoten Zwillingen bezüglich des Merkmals affektiver Störungen weist außerdem auf die Relevanz nichtgenetischer Faktoren hin, die offenbar bei unipolaren Depressionen ausgeprägter sind als bei bipolar-affektiven Störungen.
Familiär-genetischer Zusammenhang biund unipolarer Störungen Die diagnostische Differenzierung zwischen bipolaren Erkrankungen und unipolaren Depressionen (auch in Hinblick auf eine Abhebung bipolarer Depressionen von unipolaren in ätiologischer, psychogenetischer und therapeutischer Hinsicht) hat ihren Ausgangspunkt in der Analyse der familiären Häufungsmuster beider Störungstypen. Angst (1966), Perris (1966) und Winokur (1966) konnten nämlich durch voneinander unabhängige Familienstudien zeigen, dass bipolare Störungen in Familien unipolar Depressiver viel seltener als in Familien bipolar affektiv Kranker vorkommen. Sie zogen daraus den Schluss von zumindest teilweiser ätiologischer Unabhängigkeit zwischen bipolaren Störungen und unipolaren Depressionen; damit wurde die klassische, auf Kraepelin zurückgehende »nosologische« Einheit zwischen beiden affektiven Störungsgruppen erfolgreich in Zweifel gezogen. Nachfolgende Familien-, Zwillings- und Adaptionsstudien bestätigten die Position einer familiär-genetischen (jedenfalls partiellen) Dichtomie zwischen bipolaren Störungen und unipolaren Depressionen. Eine weiterführende Bekräftigung erhielt diese These von kontrollierten Familienstudien, die feststellten, dass bipolare Störungen unter Angehörigen unipolar Depressiver nicht häufiger als in der Allgemeinbevölkerung sind. Dagegen ist aber auch unstreitig, dass das Risiko unipolarer Depressionen unter Familienangehörigen 1. Grades von bipolar affektiv Kranken doppelt so häufig wie in der Allgemeinbevölkerung ist. Die damit festgestellte Kombination von diagnostischer Spezifität (bipolare Störungen gehäuft nur in Familien bipolar Kranker) und diagnostischer Unspezifität (unipolarer Depressionen gehäuft in Familien von Erkrankten mit jeder Unterform affektiver Störungen) weist auf teilweise ätiologische Spezifität (v. a. der bipolaren Störung) und auf teilweise ätiologische Unspezifität der
verschiedenen affektiven Störungen hin. Die einzige Zwillingsstudie, die als Indexfälle sowohl Patienten mit bipolaren Störungen als auch unipolaren Depressionen einschloss (McGuffin et al. 2003), ergänzte die genannten Befunde der teilweisen Spezifität und teilweisen Unspezifität von bipolaren und unipolar depressiven affektiven Störungen in Bezug auf familiäre Übertragung. Bipolare und unipolare Störungen zeigten erneut beide Aspekte: diagnostische Spezifität und Unspezifität. Die Ursachen für diesen komplexen Befund liegen in der genetischen Determination beider Störungsgruppen: Manien und Depression lassen sich auf einander überlappende genetische Varianzquellen zurückführen. Diagnostisch übergreifende Zwillingsstudien erlauben auch eine Quantifizierung der spezifischen und unspezifischen genetischen Komponenten: ca. 70% der genetischen Varianz der Manie sind syndromspezifisch, 30% werden mit der Depression geteilt.
Zusammenspiel genetischer und anderer Risikofaktoren: Gen x-Umgebungs-Interaktion bei der unipolaren Depression Die Kombination epidemiologischer und genetischer Forschung hat für unipolare Depressionen empirisch gestützte Modelle für eine Gen x-Umgebungs-Interaktion herausgearbeitet. Besonderes Interesse fanden dabei nichtgenetische Risikofaktoren wie kritische Lebensereignisse, einerseits in Form von unmittelbar vor Krankheitsausbruch auftretenden Belastungen wie andererseits auch frühkindliche Missbrauchserfahrungen. So konnten Zwillingsstudien zeigen, dass die krankheitsfördernde Wirkung kritischer Lebensereignisse umso stärker (z. B. früher Verlust eines Elternteils) mit dem Ausmaß familiär-genetischer Belastung steigt (Interaktion; Kendler et al. 1995); andererseits erwies sich, dass bestimmte genetisch determinierte Persönlichkeitsfaktoren (v. a. Neurotizismus) die Exposition zu kritischen, depressionsfördernden Lebensereignissen (z. B. Partnerschaftsproblemen) begünstigen (Korrelation; Silberg et al. 2001). Dagegen steht der Risikofaktor weibliches Geschlecht weder in einem korrelativen noch in einem interaktiven Verhältnis zur familiär-genetischen Belastung. Hieraus kann das Modell abgeleitet werden, das der genetisch beeinflusste Persönlichkeitsfaktor »Neurotizismus« die Vulnerabilität für die Depression trägt, die sich aber nur unter ungünstigen Lebensbedingungen in einer Depression manifestiert. Andererseits sind Personen mit geringer Vulnerabilität bei (niedrigem Neurotizismus) gegenüber Belastungen in Bezug auf die Entwicklung einer Depression »restistent«.
Kosegregierende Normabweichungen Affektive Erkrankungen gehen mit neurobiologischen Auffälligkeiten einher, die meist schon vor Erkrankungsausbruch feststellbar sind. Dabei handelt es sich um
85 4.2 · Genetik spezifischer psychischer Störungen
quantitative Maße, die Gruppenunterschiede zwischen Erkrankten und Kontrollen zeigen. Sie kennzeichnen daher bei Gesunden eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit (Vulnerabilität). Wenn auch Personen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko (z. B. biologische Angehörige von Betroffenen) diese Gruppenunterschiede aufweisen, spricht man von Endophänotypen oder intermediäre Phänotypen ( Abschn. 4.1.2). Depressionsassoziierte intermediäre Phänotypen sind z. B. (Hasler et al. 2004, 2006): a) Verstärkte depressive Verstimmung nach Gabe von Tryptophan (Tryptophen-Test), der zu einer vorübergehenden Verarmung von Serotonin im Gehirn führt, b) reduzierte Fähigkeit zur Hemmung der HPA-Achse nach pharmakologischer Suppression mit Dexamethason, die mit stärkerer Stresssensitivität einhergeht, c) Verkleinerung des Volumens des Hippokampus, d) Depressionsähnliche Schlafmuster (Lauer et al. 1995), erhöhte REM-Dichte, geringerer Slow-wave-sleepAnteil, e) Überaktivität des autonomen Nervensystems bei definierter Belastung (Zahn et al. 1989). Bei bipolaren Störungen imponieren v. a. reduzierte verbale Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistungen als intermediäre Phänotypen.
Molekulargenetik affektiver Störungen Auch bei affektiven Störungen sind verschiedene Strategien zur Suche nach risikomodulierenden Genen verfolgt worden, die nachfolgend dargestellt sind.
Kopplungsanalysen und die Entdeckung von Suszeptibilitätsgenen Kopplungsanalysen haben bei bipolar affektiven Störungen eine besonders lange Tradition. Eine besondere Beachtung erfuhren zu Beginn der 1980er Jahre die ersten Untersuchungen mit molekulargenetischen Markern in dem sehr stark mit bipolaren Störungen belasteten Stammbaum einer amerikanischen, genetisch homogenen Isolat-Bevölkerung, den Amish in der Region Lancaster (Kelsoe et al. 1989). Die dabei erzielten Ergebnisse hatten aber wegen mehreren methodischen Problemen und Besonderheiten keinen Bestand. Mittlerweile haben sich v. a. genomweite Kopplungsanalysen bei erkrankten Geschwisterpaaren, die in großen, aber genetisch weniger homogenen Bevölkerungen rekrutiert wurden, als richtungsweisend erwiesen. Die dabei jeweils erreichbaren begrenzten Stichprobenumfänge gewährleisten jedoch keine hinlängliche Replizierbarkeit »wahrer« Befunde, sodass erst die Kombination von Einzelstudien in Metaanalysen zur Herausarbeitung belastbarer Kopplungsregionen wegweisend wurde.
Die umfangreichste bisher verfügbare Metaanalyse über 11 genomweite Kopplungsstudien bei bipolaren Störungen brachte robuste Hinweise auf Kopplung für Regionen auf Chromosom 11q und Chromosom 8q (McQueen et al. 2005). In keiner dieser beiden Regionen wurden bisher polymorphe Kandidatengene gefunden, für deren Varianten über mehrere Studien hinweg konvergente, signifikante Assoziationen mit der Diagnose »bipolare Störung« festgestellt werden können. Eine weitere Region wurde in mehreren Kopplungsanalysen zu bipolaren Störungen wiederholt gekoppelt gefunden, ohne jedoch in der umfänglichsten, oben genannten Metaanalyse eindeutig gestützt zu werden: 12q2224. In dieser großen Region wurden jüngst krankheitsassoziierte Varianten des Gens P2RX7 gefunden (Barden et al. 2006). Diese Befunde bedürfen der Bestätigung durch mehrere weitere unabhängige Assoziationsstudien. Die Funktionen des Gens P2RX7 liegen nach derzeitigem Wissen v. a. in der Steuerung einer Immunantwort. Die Region 12q22-23 ist auch deshalb von besonderem Interesse, weil bisher zwei der bislang wenigen genomweiten Analysen in mehrfach belasteten Familien für unipolare Depression in diesem Chromosomabschnitt Kopplung berichten (McGuffin et al. 2005; Abkevich et al. 2003). Offenbar entwickelt sich diese Region zu einem für beide Untergruppen affektiver Störungen gleichermaßen bedeutsamen Chromosomenabschnitt, in dem möglicherweise auch Gene liegen, deren Variante beide affektiven Erkrankungsformen beeinflussen.
Parallelen zur Genetik der Schizophrenie Eine andere Forschungsstrategie geht von der Familienund Zwillingsstudien aus, die eine teilweise Identität der familiengenetischen Wurzeln der Schizophrenie und der affektiven Störungen nahelegen ( Abschn. 4.3). Die bei der Schizophrenie in mehreren unabhängigen Studien vorgeschlagenen Suszeptibilitätsgene wurden daher auch bei affektiven Störungen auf Krankheitsassoziation geprüft. Überraschenderweise ergaben sich für Allele und Haplotypen von jedenfalls 2 der oben gelisteten 3 mutmaßlichen Suszeptibilitätsgene für die Schizophrenie in mehreren Fall-Kontroll-Stichproben Assoziationsbefunde mit bipolaren Störungen; es handelt sich um Gene für Neuregulin I (NRG1), DAOA auch genannt: G72/G30. Teilweise, z. B. für das Neuregulin 1-Gen (Green et al. 2006), zeigten dieselben Allele gleichgerichtet Assoziationen für beide Störungen; es besteht damit die Möglichkeit, dass diese unterschiedlichen Krankheiten von denselben pathogenen Mutanten auf eine ähnliche Weise beeinflusst werden. Solche Spekulationen sind aber auf der Ebene der Assoziationsgenetik nicht beweisbar – hierzu bedarf es direkter funktioneller Nachweise.
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Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
Funktionelle Kandidatengene
Serotonintransportergen: Gen x-Umwelt-Interaktion. Die
Serotonintransportergen (Krankheitsassoziation). Be-
Heterogenität dieser Befundlage zur risikomodulierenden Rolle des Promotorpolymorphismus des 5HTT-Gens ist möglicherweise auf eine Interaktion zwischen den Varianten des Serotonintransportergens und Umweltfaktoren in Bezug auf die Depressionsentstehung zurückzuführen; liegen nämlich psychosoziale Belastungen vor, findet sich ein Zusammenhang zwischen Genvariante und Erkrankung, fehlen sie, so findet sich dieser Zusammenhang nicht. Eine solche Konstellation wurde erstmals von einer vielbeachteten longitudinalen allgemeinbevölkerungsbasierten Kohortenstudie (Caspi et al. 2003) beschrieben. Anschließend konnte eine größere Anzahl von Studien bestätigen, dass die kurze Variante des 5HTTLPR nur dann depressionsfördernd wirkt, wenn in der Kindheit oder Jugend körperliche oder schwere psychische Missbrauchserfahrungen erlitten werden mussten. Die kurze Variante des Promotorpolymorphismus erhöht in diesem Modell die Vulnerabilität; nur bei frühkindlichen Missbrauchserfahrungen entwickelt sich bei vulnerablen Personen (d. h. Träger der kurzen s-Variante des Polymorphismus eine Depression. Bei nicht vulnerablen Personen (d. h. ohne die kurze Variante des Polymorphismus) haben dieselben Erfahrungen keine Depression zur Folge. In einer Minorität von Studien – mit den jedoch weitaus größten Stichprobenumfängen – konnte dieses Modell jedoch nicht bestätigt werden. Entsprechend wurden neuerdings Zweifel an der Gültigkeit dieser Hypothese zur Gen x-Umgebungs-Interaktion erhoben (Zammit u. Owen 2006).
sonders zahlreich wurde bei affektiven Störungen der statistische Zusammenhang mit funktionell wirksamen DNA-Sequenz-Varianten in Genen untersucht, die für – aufgrund gegenwärtigen Wissens – pathophysiologisch relevante Proteine kodieren. Diese Strategie war bei der Suche nach krankheitsassoziierten Genorten bislang wenig erfolgreich: das stärkste Interesse erfuhr eine Variante im – nicht exprimierten – Promotorbereich des Gens für den Serotonin-Transportorts-5-HTTLPR; diese Variante moduliert in In-vitro-Modellen die Expressionsstärke des Gens (kurze, sog. s-Variante mit geringer Expression, lange, sog. l-Variante mit stärkerer Expression); die In-vivo-Relevanz dieser alleel-spezifischen Expressionsstärke ist allerdings weniger eindeutig (⊡ Abb. 4.3). Die Zusammenschau vorliegender Befunde schließt einen relevanten Einfluss dieser Variante auf das Risiko für bipolare Störungen aus. Bei unipolaren Depressionen wurde dieser Polymorphismus in sehr großen Stichprobenumfängen untersucht; ein schwacher risikosteigernder Effekt der kurzen Variante des 5HTTLPR-Polymorphismus konnte dabei nicht ausgeschlossen werden (Levinson 2006). Interessanterweise ist der genetische Zusammenhang mit einem der am besten bestätigten Risikofaktoren für unipolare Depression, mit verstärktem »Neurotizismus«, eindeutiger als mit der Störung selbst. Metaanalysen bestätigen, dass die mittlere Ausprägung des Persönlichkeitsfaktors »Neurotizismus« bei Trägern der kurzen Varianten des Promotorpolymorphismus um 1/2 Standardabweichung erhöht ist.
Abb. 4.3. Serotonintransportergen und Genprodukt
87 4.2 · Genetik spezifischer psychischer Störungen
Serotonintransportergen: Pharmakogenetik. Der sta-
bilste Befund zur Relevanz des 5HTTLPR bei affektiven Erkrankungen ergab sich aus pharmakogenetischen Studien. Bei der unipolaren Depression konnten jüngste Metaanalysen sichern, dass die kurze Variante ein ungünstigeres kurz- und langfristiges Ansprechen auf Antidepressiva (v. a. SSRI) voraussagt (Seretti et al. 2007). Dieses Ergebnis ist insofern paradox, als Serotoninwiederaufnahmehemmer funktionell äquivalent zu einer Unterexpression des 5HTT-Gens wirken (was der In-vitro-Wirkung der kurzen Variante des 5HTTLPR entspräche; Levinson 2006). Weitere Gene (COMT, BDNF). Andere bei affektiven Stö-
rungen häufig untersuchte, funktionell relevante Varianten von Kandidatengenen haben jeweils einen Aminosäureaustausch zur Folge: Der Val 108/158-Met-Polymorphismus des COMTGens, wobei die Met-Variante zu einem verstärkten Abbau von Dopamin im Frontalhirn führt. Der Val 66-Met-Polymorphismus im BDNF-Gen. Assoziationen dieser DNA-Sequenz-Varianten mit unipolarer Depression und bipolaren Störungen wurden zwar initial postuliert, konnten aber letztlich nicht bestätigt werden (Farmer et al. 2007). Dagegen ist ein pathoplastischer Effekt jedoch wahrscheinlicher: für den BDNFPolymorphismus wurde wiederholt eine Assoziation zur Rapid-Cycling-Symptomatik gefunden.
4.2.3
Fortschritte in der molekulargenetischen Analyse von Schizophrenie und affektiven Störungen
Die Suche nach Genen, deren Varianten die Krankheitsentstehung beeinflussen, war in den letzten 5 Jahren (seit 2002) bei der Schizophrenie und mit Verzögerung auch bei bipolaren Störungen überraschenderweise enorm erfolgreich. Diese Erfolge sind in der kombinierten Anwendung der beiden Hauptstrategien zur Genortsuche, der Kopplungs- und der Assoziationsstrategie zurückzuführen: Dabei schält sich für die genannten Diagnosen das typische Profil häufiger genetisch beeinflussbar komplexer Erkrankungen heraus: Offenbar gibt es nicht nur ein Gen, sondern viele Gene, die jeweils zur Erkrankungsentstehung beitragen, keine der krankheitsbeeinflussenden Genvarianten ist für die Störung notwendig, keine ist hinreichend, die Beiträge einzelner Varianten sind relativ gering und klären nur einen geringen ätiologischen Variantenteil auf,
die Mehrzahl der zum Krankheitsrisiko beitragenden Gene ist noch nicht aufgedeckt; dieses Ziel erfordert neue, effizientere Suchstrategien, es gibt auch keine bisher bekannten Subtypen dieser Störung, die durch die genetische Variation an einem Genort vollständig erklärt werden könnten. In einem polygenen Modell ( Abschn. 4.1.4) heißen krankheitsbeeinflussenden Gene Suszeptibilitätsgene. Dieser Begriff grenzt sich gegen die kausalen Gene ab, die durch eine (oder mehrere) DNA-Sequenzvarianten eine Erkrankung verursachen. Solche kausalen Krankheitsgene liegen sog. monogenen Störung zugrunde, die (vom Spezialfall der Sichelzallanämie in Afrika abgesehen) deutlich seltener sind (Lebenszeitprävalenz wesentlich kleiner als 1%). Die komplexe genetische Beeinflussung bei psychischen Störungen hat wesentlich zu der langjährigen Erfolglosigkeit bei der Entdeckung von Krankheitsgenen beigetragen. Die zugleich ätiologisch wirksamen Effekte von nichtgenetischen Umgebungsfaktoren erschweren diese Suche zusätzlich.
4.2.4
Untersuchungen bei Angsterkrankungen
Familiarität Angsterkrankungen zeigen ein familiär gehäuftes Auftreten, unabhängig von der angewandten Methode der Fallidentifikation und der diagnostischen Definitionen. Dabei kommen alle durch die gegenwärtige Subtypisierung nach DSM-IV möglichen diagnostischen Einzelkategorien von Angsterkrankungen familiär gehäuft vor: Panikstörungen mit und ohne Agoraphobie, Agoraphobie ohne Panikstörungen, generalisierte Angststörung, Soziophobie, Zwangsstörung, einfache Phobien, posttraumatische Belastungsstörung (Noyes et al. 1986, 1987; Davidson et al. 1989; Fyer et al. 1990, 1995; Black et al. 1992; Weissman et al. 1993). Beispielhaft sind in ⊡ Tab. 4.3 Familienstudien zur Panikund Zwangsstörung dargestellt. Die absoluten Prävalenzraten in Familien von Erkrankten und in Kontrollkollektiven variieren zwischen den Studien erheblich. Diese hohe Variation der Prävalenzraten ist u. a. auf komplizierende Faktoren zurückzuführen, deren Ausprägung sich zwischen den Studien möglicherweise erheblich unterscheidet (z. B. Komorbidität und Ersterkrankungsalter): So zeigen z. B. Panikstörungen, die sekundär zu depressiven Störungen auftreten, eine geringere familiäre Häufung als primäre Panikstö-
4
88
Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
⊡ Tab. 4.3. Neuere kontrollierte Familienstudien zu Panik- und Zwangsstörungen: Lebenszeitprävalenz bei Angehörigen in Abhängigkeit von Diagnose des Indexfalles Panikstörung
4
Fyer et al. 1996 (n = 236 vs. n = 380) Goldstein 1994 (n = 141 vs. n = 225) Mendlewicz 1993 (n = 122 vs. n = 130) Maier et al. 1993 (n = 174 vs. n = 309) Zwangsstörung Black et al. 2003 (n = 43 vs. n = 35) Grados et al. 2001 (n = 323 vs. n = 297) Nestadt et al. 2000 (n = 326 vs. n = 297) Pauls et al. 1995 (n = 466 vs. n = 113)
Angehörige 1. Grades von Patienten (in Prozent)
Kontrollen (in Prozent)
10
3
16,4
1,8
13,2
0,9
7,9
2,3
23,3
2,9
15,5
5,2
11,7
2,7
10,3
1,9
rungen; ebenso zeigen Panikstörungen mit frühem Erkrankungsbeginn (<20 Jahre) eine höhere Wiederholungsrate bei den biologischen Angehörigen 1. Grades als später beginnende Panikstörungen; eine analoge Aussage gilt für Zwangsstörungen. Stabiler als absolute Prävalenzwerte sind relative Risiken (RR; d. h. das Ausmaß der Risikoerhöhung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung); eine Ausnahme bilden hierbei lediglich Panikstörung und soziale Phobie: Panikstörung – RR: 3,6–15,6, generalisierte Angststörung – RR: 2,7–6,6, Agoraphobie – RR: 3,0–3,5, soziale Phobie – RR: 3,0–12,9, einfache Phobie – RR: 2,0–5,0, Zwangsstörung – RR: 1,0–5,0 (Noyes et al. 1987; Black et al. 1992; Maier et al. 1993 c; Mendlewicz et al. 1993; Fyer et al. 1995; Mannuzza et al. 1995, Pauls et al. 1995; Stein et al. 1998; Lieb et al. 2000; Merikangas u. Low 2005). Diese RR sind von verschiedenen Erkrankungscharakteristika abhängig. Die ausgeprägteste familiäre Häufung (höchstes relatives Risiko) wurde von Goldstein et al. (1997) für früh beginnende Panikstörungen (< 20 Jahre) beschrieben: Hier wurde ein 17-mal höheres Erkrankungsrisiko als in parallelisierten Allgemeinbevölkerungsstichproben beobachtet; im Gegensatz dazu fand sich bei später beginnenden Panikstörungen lediglich ein 6fach erhöhtes Risiko bei den Angehörigen der Probanden mit Panikstörung.
Genetische Determination. Die familiäre Häufung ist teilweise auf genetische Faktoren zurückzuführen. Diese These wird durch einige Zwillingsstudien belegt (Adoptionsstudien bei Panikstörungen wurden bisher nicht publiziert). In der Virginia-Zwillingsstudie, die in der Allgemeinbevölkerung durchgeführt wurde, können simultan die Heritabilitätsraten für die verschiedenen Erkrankungen errechnet werden (Heritabilität beschreibt dabei den Anteil der durch genetische Faktoren erklärbaren Varianz): Panikstörung – zwischen 37 und 43%, generalisierte Angststörung – zwischen 22 und 37%, Agoraphobie – zwischen 37 und 39%, soziale Phobie – zwischen 20 und 30%, einfache Phobie (z. B. Tierphobie) – zwischen 25 und 30% (Kendler et al. 1992 c, 1993 d, 2001; Hettema et al. 2001; Scherrer et al. 2000).
Beispielhaft sind in ⊡ Tab. 4.4 Zwillingsstudien zur Panikund Zwangsstörung dargestellt. Die schwächste genetische Determination weisen mit einem Varianzanteil von 13–35% posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD) auf (True et al. 1993). Zwillingsstudien bei Indexfällen mit klinisch definierten Zwangsstörungen fehlen bislang. Unter den nichtgenetischen Faktoren imponieren insbesondere die individuumspezifischen Umgebungsfaktoren als Risikofaktoren für die Angsterkrankungen; umgebungsbezogene, nichtgenetische Risikofaktoren, denen Zwillingspartnern gemeinsam ausgesetzt sind, spielen dagegen eine deutlich geringere Rolle. Eine mögliche Interpretation dieses Befundes ist, dass entgegen einer häufigen Lehrbuchmeinung das Lernen am Modell der Eltern für die Entwicklung von krankheitswertigem Vermeidungsverhalten keine entscheidende Rolle spielt. Einschränkend ist allerdings dar-
⊡ Tab. 4.4. Zwillingsstudien: Konkordanzraten zu Panik- und Zwangsstörungen (Angaben jeweils in Prozent)
Panikstörung Perna et al. 1997 (n = 26 vs. n = 34) Skre et al. 1993 (n = 12 vs. n = 18) Kendler et al. 1993 Zwangsstörung Carey u. Gottesman 1981 (n = 15 vs. n = 15) MZ monozygot; DZ dizygot
MZ
DZ
Heritabilität (genetisch beeinflusster Varianzteil)
73
0
–
42
17
–
24
11
14–19
87
47
89 4.2 · Genetik spezifischer psychischer Störungen
an zu erinnern, dass die Schätzungen relativer Varianzanteile in Zwillingsstudien vom vorgegebenen Übertragungsmodell abhängen und damit nicht eindeutig möglich sind.
Kosegregierende Störungen und psychologische Normabweichungen Generalisierte Angststörungen und Depressionen. In Fa-
milien von Erkrankten mit Angsterkrankungen werden auch unipolare Depressionen häufiger beobachtet. Beide Störungen, generalisierte Angsterkrankungen und depressive Erkrankungen, sind genetisch teildeterminiert. Verschiedene Zwillingsstudien beschreiben nicht nur eine Überlappung der genetischen Komponenten für unipolare Depression und generalisierte Angststörung (wie sie für das Verhältnis unipolarer Depression und bipolarer Störungen bekannt ist). Sie legen die Identität beider genetischer Anlagen nahe (Kendler et al. 1992 b)! Der genetische Anteil bei beiden Störungen liegt dabei jeweils bei ca. 30–40%. Hieraus ist nicht nur das überhäufige Auftreten beider Diagnosen bei derselben Person erklärbar. Das Auftreten unterschiedlicher Diagnosen (generalisierte Angststörung bzw. unipolare Depression oder häufige Komorbidität zwischen beiden Störungen) ist also ausschließlich Umgebungsfaktoren geschuldet. Da familiäre Umgebungsfaktoren, die von beiden Zwillingen geteilt werden, für die Krankheitsentstehung gemäß der Varianzanalysen von Zwillingsstudien nicht relevant werden, geht die diagnostische Differenzierung bei vulnerablen Personen auf individuumspezifische Faktoren zurück. Psychologische Normabweichungen. Ein für affektive
und Angsterkrankungen gemeinsamer Risikofaktor sind höhere Ausprägungen des Persönlichkeitsfaktors »Neurotizismus«. Die deutliche genetische Beeinflussung dieses Faktors trägt zum genetischen Risiko für diese beiden Störungsgruppen bei und begründet damit deren gemeinsames häufigeres familiäres Auftreten und deren Komorbidität (Hettema et al. 2006). Auch unter den gesunden Familienangehörigen von Patienten mit Angsterkrankungen zeigen sich psychologische Normabweichungen, die nicht oder noch nicht diagnostisch relevant wurden: So konnte die Arbeitsgruppe von Kagan (Biederman et al. 1991) feststellen, dass Kinder von Patienten mit Angsterkrankungen häufiger Vermeidungsverhalten zeigen; dies gilt insbesondere für quasi-experimentelle Situationen, in denen neue, bisher unbekannte Objekte Kindern im ersten Lebensjahr präsentiert wurden: Eine abwehrende bzw. Rückzugsreaktion war positiv assoziiert mit einer Angsterkrankung bei einem Elternteil, wie auch mit einer späteren Angsterkrankung der Kinder, die neue Reize zu meiden trachten.
Phobien und Panikstörung. Zwillingsstudien konnten
zeigen, dass die genetischen Risikofaktoren für die verschiedenen phobischen Störungen hoch untereinander und zusätzlich mit der Panikstörung korrelieren (Kendler et al. 1992). In neueren Zwillingsstudien konnte nahe gelegt werden, dass es zwei unabhängige Gruppen genetischer Risikofaktoren bei Angsterkrankungen gibt: für ein generalisiertes Angstsyndrom und eine unipolare Depression einerseits und für phobische Störungen andererseits (Hettema et al. 2006).
Molekulargenetische Befunde Zu Angst- und Zwangsstörungen sind ebenso wie bei Schizophrenie und affektiven Störungen genomweite Kopplungsanalysen und anschließende Studien zur Eingrenzung der Kandidatenregionen durchgeführt worden. Die Anzahl der Studien war bisher jedoch geringer als bei anderen psychischen Störungen; diese Arbeiten sind zudem durch die häufige Komorbidität mit affektiven Störungen und Alkoholabusus/-abhängigkeit erschwert. So gab es bisher keine Ergebnisse, die so gut bestätigt wären, dass sie in einem psychiatrischen Lehrbuch zu diskutieren wären. Es liegen aber jüngste, sehr hoffnungsvolle Ergebnisse v. a. zu Panikstörungen und Zwangsstörungen vor (z. B. Fyer et al. 2006). Es sind jedoch derzeit konvergente Ergebnisse für den quantitativ ausgeprägten Persönlichkeitsfaktor »Ängstlichkeit« verfügbar. Zwillingsstudien belegen genetische Einflüsse auf die überdauernde Persönlichkeitseigenschaft »Ängstlichkeit« (»trait anxiety«). Angesichts der gut bestätigten Hypothesen zum Zusammenhang zwischen Serotoninmetabolismus und »Ängstlichkeit« stellt das Gen für den Serotonintransporter ein gut begründetes Kandidatengen dar. Dieses Gen wurde bereits bei affektiven Störungen vorgestellt. Es weist mit der Promotorvariante einen funktionellen Polymorphismus auf: die kurze Variante dieses Polymorphismus geht mit einer geringeren Expressionsstärke, d. h. geringeren Transporterdichte in vitro und damit vermutlich in vivo einher und würde in einer reduzierten Rückaufnahme von Serotonin resultieren. Die Untersuchungen zum Vergleich der Häufigkeit kurzer und langer Promotorvarianten des 5-HTT-Gens erbrachte zwar bei »Ängstlichkeit« keine konsistenten Befunde, die Metaanalysen zeigten aber einen geringen Effekt, der allerdings wegen des großen Stichprobenumfangs signifikant war: Die kurze Variante war bei ängstlichen Personen geringfügig häufiger (um 10% einer Standardabweichung). Trotz dieses größenmäßig geringen Unterschieds in Bezug auf den psychologisch definierten Phänotyp »Ängstlichkeit« ergab sich diesbezüglich eine überraschend konsistente Befundlage in der funktionellen Bildgebung: Je stärker der Durchblutungsanstieg in der Amygdala bei Exposition eines aversiven Stimulus,
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4
Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
desto ausgeprägter das Erleben subjektiver Angst. Mehrere Untersuchungen mit funktioneller Bildgebung (fMRT) haben zudem belegt, dass gesunde Träger der s-Variante des Promotors des 5-HTT-Gens eine stärkere Aktivierung der Amygdala zeigen; dieses fMRT-Signal entspricht einer vermehrten Angstbereitschaft (Heinz et al. 2005; s. a. Hariri et al. 2002). Bei s-Allelträgern wurde auch eine stärkere zusätzliche Aktivierung der Durchblutung im ventromedialen präfrontalen Kortex festgestellt; dabei wird die ausgeprägtere subjektive Psychopathologie durch die geringere Transporterdichte und die resultierende höhere Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt erklärt (Heinz et al. 2005). Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch Befunde über die Prädiktion eines eher ungünstigen Verlaufs unter der antidepressiven Behandlung von Serotonintransporterinhibitoren (Serretti 2007).
4.2.5
Untersuchungen bei Alkoholismus und Drogenabhängigkeit
Familiär-genetische Determination Die Lebenszeitrisiken für Alkoholismus (-abhängigkeit oder -abusus) in der Allgemeinbevölkerung und bei Angehörigen von Alkoholikern variieren zwischen den publizierten Familien- und Zwillingsstudien erheblich und sind durch die Befragungstechnik, die Rekrutierungsmethoden und den kulturellen Kontext beeinflusst. Alle Familienstudien zeigen eine familiäre Häufung für beide Geschlechter (Maier 1995), das Ausmaß der Häufung ist in manchen Studien bei Männern ausgeprägter. Drei von 5 publizierten Zwillingsstudien berichten bei männlichen Zwillingspaaren über eine deutlich höhere Konkordanzrate bei eineiigen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen; weibliche Zwillingspaare zeigen dagegen niedrigere Konkordanzraten und Heredität. Diese Aussagen gelten auch für Folgeerkrankungen des Alkoholismus wie alkoholinduzierte Psychosen, Leberzirrhose, Pankreatitis. Adoptionsstudien belegen ebenfalls, dass die genetische Übertragung auch bei wegadoptierten Kindern Alkoholabhängiger zu einem erhöhten Erkrankungsrisiko führt.
Familiär-genetische Subtypen Ausgehend von schwedischen Adoptionsstudien und genetischen Befunden, nach denen die Disposition für die Entwicklung eines Kontrollverlusts unabhängig von der Disposition für die Entwicklung eines Alkoholismus ist (Cloninger 1987), postulierten Cloninger et al. (1981) die Existenz von 2 unterschiedlichen Alkoholismustypen: Typ I ist gekennzeichnet durch einen vergleichsweise gutartigen Verlauf und das Vorliegen eines Kontrollverlusts. Dieser Typ tritt bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig auf, wobei die Milieufaktoren eine wichtige, ursächliche Rolle spielen.
Typ II findet sich v. a. bei Männern mit familiärer Belastung durch Alkoholismus und ist gekennzeichnet durch einen früh einsetzenden Alkoholkonsum (d 20 Jahre) und die Unfähigkeit zur Abstinenz. Dieser Typ ist begleitet von (prämorbid) antisozialen Persönlichkeitszügen und tritt relativ unabhängig von Umweltfaktoren auf. Vor allem der früh beginnende Alkoholismus des Typ II ist stark genetisch beeinflusst: z. B. wird 88% der Varianz genetischen Faktoren zugeschrieben im Vergleich zu 21% beim später beginnenden Typ I (in einer Zwillingsstudie von Gilligan et al. 1987); auch nachfolgende Studien stützten diese genetisch begründete Typisierung des Alkoholismus (McGue et al. 1992). Der genetische Zusammenhang des früh beginnenden Alkoholismus mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen ist auch jenseits dieser Typologie wiederholt bestätigt worden: diese Persönlichkeitsstörung wurde einerseits in Adoptions- und Zwillingsstudien als stark genetisch beeinflusst gefunden; andererseits hat sie den größten Teil ihrer genetisch begründeten Varianz mit dem früh beginnenden Alkoholismus gemeinsam (Hicks et al. 2004). Cadoret et al. (1985, 1995) postulierten aufgrund einer Varianzanalyse der Daten einer Adoptionsstudie 2 unterschiedliche Faktoren, die zum genetisch vermittelten Risiko beitragen: In einer Subgruppe entwickelt sich aus einer genetisch übertragenen antisozialen Persönlichkeitsstörung sekundär eine Alkoholabhängigkeit, während in einer anderen genetischen Subgruppe antisoziale Persönlichkeitszüge nicht relevant sind und die primäre Alkoholabhängigkeit übertragen wird. Die erste Variante entspricht dem Typ II, die letztere dem Typ I von Cloninger.
Genetische Determination des Trinkverhaltens Nicht nur die Ausbildung eines Abhängigkeitssyndroms oder des Missbrauchs von Alkohol, sondern auch das Trinkverhalten unterliegt genetischen Ursachen bzw. Teilursachen (Heath et al. 1991 a, b; Kaprio et al. 1992). Während irgendein Konsum von Alkohol nur geringfügig genetisch determiniert ist, ist dieser Einfluss auf die Trinkfrequenz deutlich ausgeprägt (Viken et al. 1999). Biometrische Analysen von Fragebogendaten eines großen australischen Zwillingskollektivs haben zudem belegt (Heath et al. 1991 a, b), dass verschiedene Charakteristika des Trinkverhaltens in unterschiedlicher qualitativer und quantitativer Form von verschiedenen genetischen und nichtgenetischen Determinanten beeinflusst werden: Abstinenzverhalten (überdauernd oder intermittierend); Frequenz des Trinkens über einen definierten Zeitraum und die Menge des in einem Zeitraum konsumierten Alkohols;
91 4.2 · Genetik spezifischer psychischer Störungen
Diese 3 Verhaltensdimensionen unterliegen unterschiedlichen Einflüssen. Dabei ist Abstinenz weitgehend nicht durch genetische, sondern durch nichtgenetische, gemeinsame Umgebungsfaktoren beeinflusst, die also meist beiden Zwillingen gemeinsam sind (sog. familiäre Umgebungsfaktoren wie z. B. religiöse Einstellungen). Die beiden anderen Dimensionen »Frequenz« und »Menge« unterliegen etwa zur Hälfte genetischen, zur anderen Hälfte Umgebungseinflüssen, die v. a. individuumspezifischer Art (z. B. kritische Lebensereignisse), die genetischen Faktoren für die beiden letztgenannten Dimensionen sind dabei nur schwach miteinander korreliert. Diese Aussagen gelten für alle Altersgruppen, obwohl das Trinkverhalten über Alterskohorten variiert (regelmäßiges Trinken v. a. im Alter, Trinkexzesse v. a. in der Jugend); mögliche Geschlechterunterschiede bedürfen dabei weiterer Abklärung (McGue et al. 1992). Andere Zwillingsstudien fanden, dass das Ausmaß der zeitlichen Stabilität des Alkoholkonsums genetisch determiniert ist (Kaprio et al. 1992). ! Ungeklärt ist bisher, in welchem Umfang die genetischen Ursachen der Alkoholabhängigkeit und die genetischen Ursachen des Trinkverhaltens identisch sind.
Familiär-genetische Determination von anderen Abhängigkeitserkrankungen Auch nichtalkoholbezogene Abusus- und Abhängigkeitserkrankungen finden sich in der biologischen Familie von Abhängigen häufiger. Hierzu zählen alle illegalen Drogen aber auch Nikotin- und Benzodiazepinabhängigkeit. Das familiäre Häufigkeitsmuster zeigt dabei eine substanzspezifische und eine substanzübergreifende Komponente (Merikangas et al. 1998). Die nahezu regelmäßige Komorbidität von verschiedenen suchtinduzierenden Substanzen erschwert in Familienstudien die Differenzierung substanzspezifischer und -übergreifender Komponenten. In der Elterngeneration von Drogenabhängigen kommt es vor allem zu einer erhöhten Rate von Alkoholabusus bzw. -abhängigkeit. Diese Beobachtung spricht für den Einfluss der Verfügbarkeit von abhängigkeitsinduzierenden Substanzen: bei substanzübergreifender Anlage zu Abhängigkeit und Abusus wird die Substanzwahl entsprechend der Verfügbarkeit getroffen. Drei große Zwillingsstudien, die auf Allgemeinbevölkerungsstichproben in den USA basieren, konnten übereinstimmend feststellen, dass sich die Abhängigkeit zu illegalen Substanzen aufgrund starker genetischer Komponenten entwickelt (Varianzanteil zwischen 20 und 45%), etwa gleichstark sind individuelle Umgebungsfaktoren wirksam (Tsuang et al. 2001). Im Gegensatz zu anderen psychischen Störungen können hier Umgebungsfaktoren, die beiden Zwillingspartnern gemeinsam sind, nicht ausgeklammert werden, diese nichtgenetische
Komponente stellt auch den für die Substanzwahl entscheidenden Faktor der Verfügbarkeit spezifischer Drogen dar (Kendler et al. 2003 a, b; Tsuang et al. 2001). Ein weiteres, allen diesen Zwillingsstudien gemeinsames Ergebnis, betrifft die Substanzspezifität dieser Einflussfaktoren: die genetischen wie umweltbezogenen Determinanten sind ganz überwiegend substanzübergreifend wirksam. Eine Ausnahme stellt aufgrund einer Studie (Tsuang et al. 1998) die Heroinabhängigkeit mit einer stärkeren substanzspezifischen genetischen Beeinflussung. Dies ist angesichts des unterschiedlichen Bindungsverhaltens an Rezeptoren bemerkenswert (Kreek 2001). Das Überwiegen substanzübergreifender Bedingungsfaktoren bei Suchterkrankungen, v. a. bei illegalen Drogen, hat eine wichtige klinische Bedeutung: auf dem Hintergrund dieser Befunde wird die ausgeprägte Komorbidität von substanzspezifischen Abhängigkeitssyndromen verständlich. Es ist auch bemerkenswert, dass nicht nur Abhängigkeitserkrankungen, sondern auch bereits der Gebrauch illegaler Drogen genetisch mitbegründet ist, wobei die Größe des durch genetische Faktoren erklärbaren Varianzanteils dem der Abhängigkeitserkrankungen gleicht (Kendler et al. 2003 a, b). Beim Drogengebrauch zeigt sich aber eine stärkere Substanzspezifität als bei Abhängigkeiten (Kendler et al. 2003 b). Diesem Ergebnis entspricht auch die Beobachtung, dass der Beigebrauch anderer Drogen bei spezifischen Abhängigkeitserkrankungen häufiger und stärker ausgeprägt vorkommt als beim Gebrauch spezifischer Drogen. Auch die Nikotinabhängigkeit zeigt ein stärkeres familiäres Häufigkeitsmuster. Die gemeinsame Analyse der zahlreichen Zwillingsstudien zur Nikotinabhängigkeit zeigt starke genetische Einflüsse, die zusammenfassend auf 67% geschätzt wurden (Sullivan u. Kendler 1999). Dabei unterliegen die Initiierung des Nikotingebrauchs und die Fortsetzung des Nikotingebrauchs zur Abhängigkeit gleichermaßen genetischen Einflüssen, die aber weitestgehend voneinander unabhängig sind. Es fallen auch gemeinsame familiäre Häufungsmuster der Nikotinabhängigkeit mit affektiven Störungen und Alkoholabhängigkeit/-abusus auf. Die gemeinsame familiäre Übertragung ist dabei auf eine teilweise Überlappung der genetischen Einflussfaktoren dieser beiden Störungen mit der Nikotinabhängigkeit zurückzuführen (Kendler u. Prescott 1999)
Kosegregierende psychische Störungen Zahlreiche Studien belegen gut, dass Alkoholabhängigkeit mit mehreren anderen Störungen gemeinsam übertragen wird (kosegregieren). Es kosegregieren die folgenden Störungen: Andere stoffgebundene Abhängigkeitserkrankungen, antisoziale Persönlichkeitsstörungen,
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Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
Angsterkrankungen, unipolare Depressionen.
4
Zwillingsstudien legen nahe, dass der familiäre Zusammenhang der Alkoholabhängigkeit mit den vorgenannten Störungen jedenfalls teilweise genetisch vermittelt ist. Insbesondere ist damit wahrscheinlich gemacht, dass die genetisch begründete Vulnerabilität dieser Erkrankungen mit der Vulnerabilität für Alkoholabhängigkeit gemeinsame Wurzeln aufweisen. Es wird auch ein familiär-genetischer Zusammenhang mit dem Alkoholabusus und bipolaren Störungen diskutiert (Nurnberger et al. 2004; Kendler et al. 1993 a; Goldstein et al. 1994). In einer schwedischen Stichprobe von wegadoptierten Alkoholabhängigen konnte zudem eine genetisch vermittelte Kosegregation eines Subtyps von Alkoholabhängigkeit (Typ I nach Cloninger) und somatoformen Störungen (v. a. Somatisierungsstörungen) belegt werden (Cloninger et al. 1981); dieser Befund ist jedoch nur unzureichend repliziert.
Intermediäre Phänotypen Bei Söhnen von Alkoholikern, die vorher noch nie mit Alkohol in Kontakt kamen, ist überzufällig häufig eine gesteigerte Empfänglichkeit für die positiven Effekte des Alkoholgenusses feststellbar: Die toxischen Effekte des Alkohols sind reduziert während gleichzeitig verstärkte hedonistische und entspannende Effekte des Alkohols sowie abgeschwächte endokrinologische Reaktionen (Kortisol, Prolaktin) beobachtbar sind. Söhne von Alkoholikern unterscheiden sich von Kontrollpersonen v. a. durch nach Alkoholbelastung geringere Veränderungen im EEG bzw. in den kortikal evozierten Potenzialen (Schuckit 1984 a, b; Schuckit et al. 1987). So wurde im EEG insbesondere eine erhöhte -Aktivität festgestellt, die als intermediärer Phänotyp gewertet wird (Begleiter et al. 1999). Söhne von Alkoholikern wiesen auch vermehrt persönlichkeitsgebundene und neuropsychologische Auffälligkeiten auf (Tarter et al. 1984). Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Indikatoren einer erhöhten, familiär vermittelten Vulnerabilität, die sich zu einem späteren Zeitpunkt als Alkoholabhängigkeit manifestieren kann.
Molekulargenetische Befunde Kopplungs- und Assoziationsstudien. Kopplungsunter-
suchungen sind bei Alkoholabhängigkeit bisher in deutlich geringerem Umfang als bei Schizophrenie und bipolar-affektiver Störung durchgeführt worden. Diese Analysen wurden in Stichproben von Familien mit mehreren erreichbaren Erkrankten durchgeführt; diese können aber wegen der erhöhten Mortalität und geringeren Compliance bei Alkoholikern nur in geringerem Maße als bei Betroffenen mit anderen vergleichbar schweren psychischen Störungen rekrutiert werden. Eine Kopplungs-
studie untersuchte eine besonders informative Familienstichprobe und erhielt daher eine starke Aufmerksamkeit: die »Collaborative Study of the Genetics of Alcoholism« (COGA) hatte das Ziel, in 1020 Familien Gene, die das Risiko für Alkoholismus erhöhen, auf dem Genom zu lokalisieren und zu charakterisieren. Kandidatenregionen für Suszeptibilitätsgene konnten auf den Chromosomen 1, 2 und 7 nachgewiesen werden. Des Weiteren konnte – mit geringer Sicherheit – auch ein »protektiver« Genort auf dem kurzen Arm von Chromosom 4q festgestellt werden. Dieser Genort liegt benachbart zur Lokalisation der Alkoholdehydrogenasegenorte (Reich et al. 1998; Foroud et al. 2000). Eine zweite Studie machte sich die Tatsache zu Nutze, dass in einer indianischen Bevölkerung im Südwesten der USA Alkoholismus relativ häufig auftritt. Kandidatenregionen konnten auf dem langen Arm von Chromosom 4p in der Nähe GABAA-Rezeptor-Gen-Clusters und auf Chromosom 11 in der Nähe des Dopmin-D4-Rezeptors nachgewiesen werden. Weiterhin wurde auch hier die Region der Alkoholdehydrogenasegenorte (s. unten) als mögliche Risikoregion gefunden (Long et al. 1998). Gene für metabolisierende Enzyme. Als Kandidatengene
wurden bisher v. a. Gene für Enzyme, die den Alkoholabbau steuern, und für Neurotransmitterrezeptoren untersucht. Die wichtigsten Enzyme für den Alkoholstoffwechsel sind die Alkoholdehydrogenase (ADH) und die Aldehyddehydrogenase (ALDH). Die Aldehyddehydrogenase (ALDH) kommt beim Menschen in 10 Subtypen mit jeweils unterschiedlichen Genen vor. Funktionell besonders relevant ist der Subtyp ALDH2; das zugehörige Gen liegt auf Chromosom 12q. Ein zum Aminosäureaustausch führender biallelischer Polymorphismus zeigt v. a. in Asien eine relevante Prävalenz (im Gegensatz zu Europa). Das Enzym kommt in 2 genetisch begründeten Varianten vor: ALDH2.1 und ALDH2.2. Dabei bewirkt die Variante ALDH2.2 eine Enzymhemmung, sodass Alkohol verzögert abgebaut wird und vermehrt toxisch wirkt. Die Personen mit dem Enzym ALDH2.2 reagieren beim Trinken von Alkohol aversiv mit Übelkeit und Gesichtsrötung, was zu geringerem Alkoholkonsum und geringerem Risiko für Alkoholabhängigkeit führt (Chen et al. 1997). Dieses Defektallel kommt in europäischen Populationen praktisch nicht vor und tritt in einer Allelfrequenz von 16 bzw. 22% bei Chinesen und Japanern besonders häufig auf. Das Risiko für Alkoholismus beträgt bei Homozygoten für dieses Defektallel 0,05 im Vergleich zu 18,3% bei fehlendem Defektallel in diesen Populationen (Higuchi et al. 1992). Verschiedene Gene kodieren für Untereinheiten Enzyme, die unter dem Namen »Alkoholdehydrogenase (ADH)« zusammengefasst werden; ADH trägt wesentlich zur Alkoholoxidation bei; die verschiedenen, jeweils sehr
93 4.2 · Genetik spezifischer psychischer Störungen
variantenreichen Gene sind in einem Cluster auf Chromosom 4q lokalisiert, und zwar in einer Region zu der auch eine Kopplung mit der Alkoholabhängigkeit gefunden wurde (Prescott et al. 2006; Reich et al. 1998). Für europäische Populationen wurden v. a. Assoziationen mit dem ADH4-Gen beschrieben (Higuchi et al. 2006). Gene für GABA-Rezeptoren. GABA-Rezeptoren kommen
in vielen Subtypen vor, einer davon ist GABAA mit 5 Untereinheiten auf Chromosom 4p, in einer Region, zu der eine Kopplung mit Alkoholabhängigkeit in mehreren genomweiten Kopplungsstudien beschrieben wurde. Hier liegt ein hochpolymorphes Cluster von Genen für GABAARezeptoren, darunter auch für die Untereinheit GABAα2. Einzelne DNA-Sequenz-Varianten des Gens für die GABAα2-Untereinheit sind mit Alkoholismus assoziiert. Mehrere Fallkontrollstudien, die Assoziationen der Alkoholabhängigkeit mit Varianten mit dem Endophänotyp der β-Frequenz-Band im Spontan-EEG und mit subjektiver Alkoholantwort bei gesunden Trinkern berichten, unterstützen die Validität dieser Befunde. Kodierende Varianten in diesem Gen sind ebenso wie Varianten mit Expressionsunterschieden der GABAα2-Untereinheit noch nicht gefunden, sodass die funktionelle Relevanz der Assoziationsbefunde derzeit unklar ist. Jedoch bestätigt die genetische Manipulation von GABA-RezeptorGenen deren funktionelle Rolle für die Entstehung der Alkoholabhängigkeit (Higuchi et al. 2006). Andere funktionelle Kandidatengene. Andere diskutierte
alkoholismusassoziierte Gene bzw. Genvarianten kodieren für den μ-Opoid-Rezeptor, den Serotonintransporter und das Neuropeptid Y. Obwohl für jede dieser Gene mindestens 2 unabhängige Studien mit krankheitsassoziierten Varianten vorliegen, bleibt die Befundlage inkonsistent (Higuchi et al. 2006; Edenberg u. Foroud 2006).
4.2.6
Untersuchungen zu Demenzen
Familiär-genetische Determination bei Alzheimer-Demenz Die Alzheimer-Erkrankung zeigt im Vergleich zu allen vorher diskutierten psychischen Störungen eine wichtige Besonderheit: es gibt familiäre Unterformen der Erkrankung, die nach einem Mendelschen dominanten Modell übertragen werden; diese Unterformen sind sämtlich durch einen sehr frühen Erkrankungsbeginn (unter 55 Jahre) gekennzeichnet. Unter den Betroffenen mit späterem Erkrankungsbeginn ist zwar auch eine familiäre Häufung zu bemerken, dominante Übertragungsmuster können aber nicht beobachtet werden. Bei der Mehrzahl der Erkrankten mit späterem Erkrankungsbeginn kommen keine Sekundärfälle
in der biologischen Familie vor; dabei spricht man von sporadischen Fällen. Trotz dieser Unterschiede in der Ätiologie und im Ersterkrankungsalter zeigen diese, nach Ersterkrankungsalter sortierten Unterformen keine relevanten Unterschiede in der Progredienz, Neuropathologie, Therapieansprechen oder der Pathophysiologie. Die sehr häufige spät beginnende Variante der Alzheimer-Erkrankung tritt familiär gehäuft auf: Familienstudien belegen, dass das Erkrankungsrisiko bei Geschwistern von Erkrankten um den Faktor 2 höher als in der Allgemeinbevölkerung ist (Heun et al. 2006). Diese Risikoerhöhung ist unabhängig vom Geschlecht; zu beachten ist dabei, dass das Erkrankungsrisiko bei Frauen höher als bei Männern ist. Das Erkrankungsrisiko der Angehörigen zeigt eine lineare Abhängigkeit vom Ersterkrankungsalter des Indexfalls. Zur spät beginnenden Alzheimer-Erkrankung liegen mittlerweile ca. 6 Zwillingsstudien vor, wobei die meisten auf nationalen Zwillingsregistern der Skandinavischen Staaten basieren (Gatz et al. 2006). Alle diese Studien belegen eine deutlich erhöhte Konkordanzrate bei eineiigen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen, wobei die absoluten Raten wegen der starken Altersabhängigkeit der Erkrankungsprävalenz und den unterschiedlichen Altersmittelwerten in verschiedenen Studien stark variieren. Maximale Konkordanzraten werden in der norwegischen Studie von Bergem et al. (1997) beschrieben: MZ 83%, DZ 46%, die geringsten Raten berichtet Kaprio et al. (2002) mit MZ 31% und DZ 9%. Die geschätzte Heritibilität ist jeweils substanziell: den niedrigsten genetischen Anteil an der Gesamtvarianz ermittelte Bergem et al. (1997) mit 58%, den höchsten Gatz et al. mit 79%. Sehr bemerkenswert ist, dass alle Studien, die die verbleibende Umgebungskomponente in gemeinsame (familiäre) und individuelle Anteile zerlegen, nichtvernachlässigbare Anteile der beiden Zwillingspartnern gemeinsamen Umgebungskomponente zuweisen und zwar in Höhe von 19–39% (Bergem et al. 1997; Kaprio et al. 2002; Gatz et al. 2006). In dieser Komponente könnte sich der für die Alzheimer-Erkrankung bekannte Risikofaktor eines niedrigen Bildungsniveaus niederschlagen, der ja bekanntlich aus sozialen Gründen eine hohe Familiarität aufweist. Bei der Alzheimer-Erkrankung ist die Unterscheidung zwischen familiären (gemeint ist genetisch determinierten) und sporadischen (d. h. nicht genetisch verursachten) Fällen üblich. Dabei wurden unter den genetisch determinierten Erkrankungsvarianten solche verstanden, die früh (d 60 Jahre) beginnen und einen einfachen Erbgang aufweisen (d. h. monogen verursacht sind). Mittlerweile ist anerkannt, dass wahrscheinlich alle oder jedenfalls fast alle Unterformen der Erkrankung, auch wenn sie nicht monogen verursacht sind, genetisch beeinflusst werden, auch wenn keine Sekundärfälle in der Familie vorkommen. In diesem Zusammenhang ist es besonders
4
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Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
bemerkenswert, dass auch solche Patienten mit Alzheimer-Erkrankung, in deren biologischer Familie die Störung noch nicht aufgetreten ist (nichtfamiliäre Fälle) eine höhere ApoE4-Häufigkeit aufweisen als gesunde Gleichaltrige (s. unten). Bei den sog. sporadischen Erkrankungsfällen liegen dabei – im Gegensatz zu monogenen Fällen – multifaktorielle Ursachenbedingungen zugrunde, wobei multiple, eventuell miteinander interagierende genetische Faktoren wie auch nichtgenetische Ursachenfaktoren eine Rolle spielen. Die klassische Gegenüberstellung genetisch vs. sporadisch hat damit ihre Grundlage verloren, die Wirksamkeit genetischer Einflussfaktoren muss sogar dort angenommen werden, wo keine familiäre Häufung von Diagnosen feststellbar ist. Genetische Faktoren stellen dabei allerdings keine Krankheitsursachen, sondern lediglich Einflussgrößen auf das Erkrankungsrisiko dar.
Molekulargenetische Untersuchungen Die monogen verursachten, früh beginnenden Subtypen der Alzheimer-Erkrankung sind zwar nur in wenigen Familien feststellbar und im Verhältnis zu spät beginnenden Subtypen sehr selten. Trotzdem war die Aufdeckung zugrunde liegender Genmutationen wegen des einfachen, dominanten Erbgangs relativ einfach. Bereits vor 10 Jahren war bekannt, dass die Mehrzahl dieser Erkrankungsfälle durch mehr als 100 verschiedenen Mutationen in einer von 3 Genen verursacht sind: Diese Gene kodieren für das Amyloid-Vorläufer-Protein (APP), Presenilin 1 (PS1) und Presenilin 2 (PS2). Obwohl Mutationen in diesen 3 Genen nicht bzw. nichtsubstanziell zu der später beginnenden Form der Erkrankung beitragen, hat es die Entdeckung dieser Gene und ihrer Genprodukte ermöglicht, die Pathophysiologie der Erkrankung – auch der spät beginnenden Unterformen – wesentlich zu erhellen. Diesen Erkenntnissen ist es zu verdanken, dass die sog. Amyloidkaskade als pathophysiologischer Kern der Erkrankung aufgedeckt wurde (Caselli et al. 2006). Amyloid-Precursor-Protein (APP). Die pathogenen Vari-
anten in allen 3 kausalen Genen weisen interessanterweise eine gemeinsame Endstrecke auf, die zum neuropathologischen Charakteristikum der Erkrankung führt: Alle Mutanten führen auf unterschiedlichen Wegen zur Erhöhung des Spaltprodukts Amyloid-β-Protein (Aβ) des überall im Gehirn vorhandenen membranständigen Amyloid-Precursor-Proteins (APP); im Gegensatz zum physiologischen Abbauprodukt verknüpfen sich verschiedene Aβ-Proteine zu Oligomeren und bilden schließlich Amyloid-Aggregate, die die Grundlage der neuropathologisch darstellbaren »Schollen« bzw. Plaques darstellen. Die sog. »Amyloid-Hypothese« postuliert, dass die pathogene Grundlage der Alzheimer-Erkrankung in der Anhäufung aggregierter Spaltprodukte (d. h. Polymere) des APP liegt. Diese Hypothese ist heute weitgehend ak-
zeptiert und kann die initiierenden Schritte in der Entstehung der Alzheimer-Erkrankung erklären. Ohne die Aufdeckung der Funktionen der, für die früh beginnende Alzheimer-Erkrankung kausalen Gene, wäre die Überzeugungskraft dieser Hypothese nicht gegeben. Sie wird auch für die spät beginnende Alzheimer-Erkrankung als gültig angesehen, obwohl dort Mutationen im APP, PS1bzw. PS2-Gen wahrscheinlich keine risikomodulierende Rolle spielen (Caselli et al. 2006). E4-Allel des Gens für Apolipoprotein E. Für die spät beginnende Alzheimer-Erkrankung ist jedoch ein anderer genetischer Risikofaktor entdeckt worden, der – aufgrund der Häufigkeit dieses Subtyps – sehr viel mehr Risikomasse dieser Erkrankung erklären kann, als die drei genannten kausalen Gene: das E4-Allel des Gens für Apolipoprotein E (ApoE) steigert das Risiko für die spät – nicht die früh – beginnenden Krankheitsfälle (Corder et al. 1993; Saunders et al. 1993). Motivierender Ausgangspunkt für die ersten genetischen Assoziationsstudien mit diesem Gen war u. a. der Befund einer Kopplung zu einer Region auf Chromosom 1q, die das ApoE-Gen enthält. Das Risiko für die Alzheimer-Erkrankung ist bei den Trägern einer ApoE4-Variante um den Faktor 2–4 erhöht. Trotz dieser relativ geringen Erhöhung des relativen Risikos hat die hohe Prävalenz dieser Variante (ca. 50% der Erkrankten sind Allel-Träger) zu der sicheren Replizierbarkeit des Assoziationsbefundes beigetragen. Diese Assoziationen konnten sowohl bei familiär belasteten als auch bei familiär nichtbelasteten Fällen mit Demenz vom AlzheimerTyp beobachtet werden. Das ApoE-Gen stellt dabei kein kausales Gen (wie APP) dar, sondern ein Suszeptibilitätsgen. Das Allel ApoE4 führt zu einer Veränderung der Aminosäuresequenz des resultierenden Apolipoproteins (differente Isoform). Die resultierende Proteinvariante ApoE4 hebt sich funktionell von den anderen ApoE-Isoformen ab: Sie steigert unter anderem die Aggregation von Aβ in Plaques. Hiermit trägt die genetische Variante ApoE4 nicht nur zum Lebenszeitrisiko für die Alzheimer-Erkrankung bei; sie induziert auch eine Linksverschiebung der Verteilung des Ersterkrankungsalters – also ein früheres Ersterkrankungsalter. Zudem beeinflusst APoE4 offenbar den Krankheitsverlauf, indem es einen schnelleren kognitiven Abbau nach Manifestation der Alzheimer-Erkrankung bewirkt. Offensichtlich haben aber bei gesunden Personen – vor allem im mittleren Erwachsenenalter – die genetischen ApoE4-Varianten keinen Einfluss auf die kognitive Leistungsfähigkeit. Das ApoE4-Allel steigert aber – neben der Alzheimer-Erkrankung – das Risiko für Herz-KreislaufErkrankungen. Möglicherweise trägt diese doppelte Krankheitsassoziation zu der erhöhten Komorbidität zwischen der Alzheimer-Erkrankung und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei.
95 4.3 · Diagnostische Spezifität und Unspezifität genetischer Einflussfaktoren
Modellfunktion von ApoE4 für die psychiatrische Genetik Der genetische Risikofaktor ApoE4 hat auch weiterhin eine einzigartige Modellfunktion in der psychiatrischen Genetik, obwohl er bereits vor ca. 15 Jahren entdeckt wurde: 1. Die krankheitsassoziierte Variante ApoE4 übt einen direkten pathogenen Einfluss aus: bei allen anderen genetisch beeinflussten häufigen psychischen Störungen sind bisher nur krankheitsassoziierte, nicht aber direkt für die Krankheitsentstehung relevante Allele bekannt. 2. Die Assoziation dieses Allels mit der Alzheimer-Erkrankung ist in allen, hinlänglich umfangreichen Studien in der europäischen bzw. europastämmigen Bevölkerung in ähnlicher Stärke bestätigt worden. 3. Trotz dieser sicher replizierbaren Assoziation sind die relativen Risiken nur relativ gering (Odds ratio 2,5– 3,5), wobei allerdings wegen des häufigen Vorkommens der Störung und des Allels das (für das populationsweite Auftreten der Erkrankung) attribuierbare Risiko beträchtlich ist; gleichwohl hat dieser allelische Risikofaktor – wegen des relativ geringen allelischen relativen Risikos – in die einzelfallbezogene Routinediagnostik noch keinen Eingang gefunden (Caselli et al. 2006). 4. Dieser assoziative Zusammenhang ist in der schwarzen Bevölkerung in Afrika deutlich geringer ausgeprägt; populationsspezifische Gen x-Umgebungs-Interaktionen werden als Erklärung für diese replizierte Befunddiskrepanz angeführt (Luchsinger 2002); zugleich zeigt diese Beobachtung die Populationsabhängigkeit von genetischen Assoziationsbefunden. 5. Die Entdeckung von ApoE4 als Risikoallel hat die intensive Untersuchung von Lipiden und ihren Funktionen in der Ätiologie und Pathophysiologie der Alzheimer-Erkrankung motiviert; diese durch den genetischen Befund angestoßene Forschungslinie war in den letzten 10 Jahren enorm erfolgreich. Aufgrund dieser Forschung sind heute Nahrungsfette als Risikofaktoren für Demenzen bekannt; in Entwicklung befindliche neue Therapiestrategien basieren heute teilweise auf der Modifikation des Lipidstoffwechsels im Gehirn. Dieses auf Chromosom 19 gelegene Suszeptibilitätsgen kann nur einen kleinen Teil der genetischen Varianz der spät beginnenden Alzheimer-Erkrankung erklären. Folglich legen Kopplungsanalysen Suszeptibilitätsgene auch in anderen Regionen nahe (z. B. Chromosome 10q und 12p; Myers et al. 2000). Kandidatengene in diesen Regionen werden intensiv untersucht, ohne dass es bisher zu replizierbaren Befunden gekommen wäre (Übersicht Mayeux 2006). Ebenso wurden andere Suszeptibilitätsgene aufgrund von Assoziationsstudien postuliert (z. B.
eine funktionelle Variante des Angiotensin-ConvertingEnzyms – ACE; Farrer et al. 2000).
Andere Demenzformen Weitere häufige Demenzformen sind die vaskulär bedingte Demenz und die Frontalhirndemenz. Die zuerst genannte zeigt als Gesamtgruppe eine deutlich geringere genetische Beeinflussung als die Alzheimer-Erkrankung (Bergem et al. 1997); es gibt jedoch seltene familiäre Unterformen mit Mendelschen Übertragungsmustern – wie z. B. die dominant übertragene CADASIL-Erkrankung, deren monogener Ursprung mittlerweile aufgeklärt ist. Die Frontalhirndemenzen – die ebenfalls in verschiedene klinische Unterformen zerfallen – sind durch fortschreitende und nicht rückbildungsfähige Veränderung im Sozialverhalten, in Sprach-, Wahrnehmungs- und kognitiven Funktionen charakterisiert; häufig kommen motorische Störungen hinzu. Diese Demenzformen zeigen einen wesentlich stärkeren familiär-genetischen Einfluss als die vaskulären Demenzen: 30% weisen eine deutliche familiäre Belastung auf, häufig auch einen dominanten Erbgang. Dieses familiäre Häufigkeitsmuster weist auf genetische Ursachen, nicht nur auf genetische Einflüsse hin. Und tatsächlich konnte in den vergangenen 10 Jahren festgestellt werden, dass alternativ verschiedene monogene Mutationen zugrunde liegen (genetische »Locus«Heterogenität), wobei 2 spezifische Gene besonders häufig betroffen sind: a) Das Gen des »microtubuli assoziierten Tau-Proteins« (MAPT) und b) das Progranulin-Gen (PGRN). Jede dieser beiden genetischen Unterformen von Frontalhirndemenzen kann durch unterschiedliche Mutationen im selben Gen verursacht werden (allelische Heterogenität innerhalb jeder Unterform). Jede der beiden Unterformen weist spezifische, pathogenomische, neuropathologische Veränderungen auf: Mutationen im MAPT gehen mit tau-positiven Einschlusskörpern, Mutationen im Gen für PgRN mit ubiquitinpositiven Einschlusskörpern in Nervenzellen des Frontalhirns einher (Baker et al. 2006; Cruts et al. 2006). Pathogene Mutationen in beiden Genen führen trotz dieses unterschiedlichen ätiologischen Ursprungs zu einer im Frontalhirn beginnenden Neurodegeneration, die mit ähnlicher klinischer Symptomatik einhergeht.
4.3
Diagnostische Spezifität und Unspezifität genetischer Einflussfaktoren
Familien-, Zwillings- und v. a. molekulargenetische Studien haben in den vergangenen 10 Jahren klar belegen können, dass verschiedene psychopathologisch definierte
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96
4
Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
Diagnosekategorien denselben genetischen Einflussfaktoren unterliegen können. Diese Schlussfolgerung stellt das früher, dominierende, auf Kraepelin zurückgehende Konzept der Diagnose als sog. »nosologische Krankheitseinheit« erheblich in Frage: dieses Konzept unterstellte nämlich eine zwar noch weitgehend unbekannte, aber diagnosenspezifische Ätiologie; die psychopathologische und verlaufsbezogene Homogenität (»Querschnitts-Verlaufs-Einheit«) sollte auch die ätiologische Homogenität und Spezifität sicherstellen! Die Relevanz der Infragestellung dieser über ca. 100 Jahre geltenden sog. »Nosologie« psychischer Störungen kann in historischer Hinsicht nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dieser Erkenntnisfortschritt soll exemplarisch an 3 besonders bedeutsamen Beispielen im Bereich psychotischer und affektiver Störungen sowie Angsterkrankungen dargestellt werden.
Schizophrenie und affektive Störungen Einige kontrollierte Familienstudien wiesen schon seit über 20 Jahren auf eine Kosegregation (gemeinsame Übertragung) von psychotischen Störungen (inklusive Schizophrenie) und unipolaren wie auch bipolaren Störungen hin (z. B. Maier et al. 2002). Die einzige Zwillingsstudie, die Indexfälle sowohl mit Schizophrenie und als auch mit bipolaren Störungen einschloss, konnte zeigen, dass psychotische und manische Syndrome – auch wenn sie nicht intraindividuell gemeinsam auftreten – genetische Ursachenfaktoren teilen (Cardno et al. 1999). Diese aus Zwillingsstudien resultierende Schlussfolgerung erhielt durch jüngere molekulargenetische Untersuchungen eine nachhaltige Bekräftigung: 2 der 3 mittlerweile am besten bestätigten Suszeptibilitätsgene für die Schizophrenie zeigen auch allelische Assoziationen mit der bipolaren Störung; für das Gen Neuregulin 1 und DAOA sind sogar identische Allele mit beiden Störungen in Assoziation gefunden worden (Hattori et al. 2003; Green et al. 2005); somit sind pathogenetische Gemeinsamkeiten zwischen beiden Störungen wahrscheinlich. Besonders bemerkenswert sind dabei Befunde, die die Syndromspezifität im Kontrast zur Diagnosenspezifität betrachten: so wird z. B. nahe gelegt, dass die krankheitsassoziierten Allelkombinationen bei DAO-A über den diagnoseübergreifenden Zusammenhang mit affektiven Syndromen vermittelt werden (Williams et al. 2006), diese Beobachtung kann die simultane Assoziation sowohl zur Schizophrenie als auch zu bipolaren Störungen erklären. Zahlreiche Reviewartikel sind neuerdings dieser neuen Einsicht gewidmet (Craddock u. Owen 2005).
Unipolare Depression und generalisierte Angststörung Auch für diese Störungsgruppen wurde in Familienstudien eine Kosegregation beobachtet. Zwillingsstudien
können diese familiäre Überlappung auf gemeinsame diagnoseübergreifende, genetische Wurzeln zurückführen. Es wurde sogar postuliert, dass die genetischen Risikofaktoren für unipolare Depressionen und generalisierte Angststörung identisch sind, sodass die symptomatische Differenzierung zwischen beiden Störungen ausschließlich auf Umgebungseinflüsse zurückzuführen wäre. Für depressive Episoden und generalisierte Angststörungen wurde zudem ein gemeinsamer, genetisch beeinflusster Risikofaktor festgestellt (Fanous et al. 2002; Hettema et al. 2004): erhöhte Extremwerte des Persönlichkeitsfaktors »Neurotizismus«. Wie alle Persönlichkeitsfaktoren ist Neurotizismus mehrheitlich genetisch beeinflusst. Diese genetischen Ursachenfaktoren für »Neurotizismus« beeinflussen offenbar sowohl Angst- als auch depressive Störungen. Den einzigen gesicherten, mit allerdings geringer Erklärungskraft ausgestatteten beeinflussenden genetischen Polymorphismus stellt der Promotorpolymorphismus des 5HTT-Gens dar; es konnte jedoch für keine der beiden Störungen eine Krankheitsassoziation für diesen Marker bestätigt werden. Weitere, beide Störungsgruppen gemeinsam risikomodulierende genetische DNA-Sequenz-Varianten sind zurzeit noch nicht gesichert.
Panikstörung, Phobien, generalisierte Angststörung Zwischen allen Angsterkrankungen besteht eine erhebliche Komorbidität, die die Validität der diagnostischen Grenzen in Zweifel zieht. Diagnoseübergreifende Zwillingsstudien, die Indexfälle mit allen häufigen Diagnosen von Angsterkrankungen einbeziehen (Hettema et al. 2005; Kendler et al. 1995), konnten gemeinsame genetische Einflussfaktoren für einen substanziellen Anteil der Komorbidität unter verschiedenen Angsterkrankungen sicherstellen. Dabei zerfällt die Gesamtgruppe in 2 in genetischer Hinsicht homogene Untergruppen: Generalisierte Angsterkrankungen, Panikstörung und Agoraphobie bilden eine, alle spezifischen Phobien (jenseits der Agoraphobie) die andere Gruppe; die soziale Phobie liegt zwischen beiden Diagnosegruppen und ist mit beiden Untergruppen korreliert. In jeder Untergruppe sind die einzelnen Störungen auf nahezu dieselben genetischen Faktoren zurückzuführen.
4.4
Perspektiven
Genomierte Assoziationsstudien Die bisher besonders erfolgreiche Strategie zur Genortsuche für komplexe Störungen ging von genomweiten Kopplungsanalysen und den dabei identifizierten Kandidatenregionen aus, um anschließend durch Feinkartierung der DNA-Sequenz-Variabilität in diesen Regionen
97 4.4 · Perspektiven
Suszeptibilitätsgene zu finden. Die aus Fallkontrollvergleichen resultierenden genetischen Assoziationsbefunde reichen für keine der diskutierten Erkrankungen dazu aus, einen substanziellen Anteil des in Zwillingsstudien sichtbaren genetischen Einflusses auf die Erkrankungen zu erklären. Alternative, sensitivere Suchstrategien sind also nötig. Die jüngste Methodenentwicklung in der Molekulargenetik kommt diesem Bedarf sehr entgegen. Zwei miteinander zusammenhängende methodische Entwicklungen sind dabei erwähnenswert: a) Die zunehmend breite Verfügbarkeit von Hochdurchsatzverfahren, die die parallele Analyse von tausenden von genetischen Polymorphismen in großen Stichproben ermöglicht; besonders effizient sind dabei Typisierungen von biallelischen Polymorphismen, sog. SNPs möglich, die zahlreich (t 2 Mio.) und mit hoher Dichte auf dem menschlichen Genom vorkommen; die Genotypisierungskosten sinken dabei dank technischer Innovationen kontinuierlich; b) die umfassende Kartierung der DNA-Sequenz-Variabilität im Rahmen des mittlerweile abgeschlossenen Genome-Diversity-Programms (»Hap-Map«); damit ist die Variabilität entlang des Genoms in vielen Populationen bekannt und kann genutzt werden. Das Wissen um die Zusammenhangsstruktur und Evolutionsgeschichte der DNA-Sequenzvariabilität erlaubt eine ökonomische Reduktion der komplexen Variabilität. Damit können Genorte mit einer begrenzten Anzahl von Markern bei einer hypothesenfreien Suche lokalisiert werden (nicht aber kausale DNA-SequenzVarianten, deren Identifikation funktionelle Nachweise erfordert). Heute werden ca. 500.000 biallelische geeignet platzierte Varianten für ausreichend gehalten, um das Genom erschöpfend abzudecken. Wahre Assoziationen zwischen einem genetischen Marker und der Erkrankung zeigen an, dass eine genetische Variante im Kopplungsgleichgewicht mit dem Marker Einfluss auf das Erkrankungsrisiko nimmt. Aufgrund der geschilderten Fortschritte und unter Ausnutzung des Prinzips des Kopplungsungleichgewichts sind heute theoretisch und praktisch die hypothesenfreien genomweiten Vergleiche von Allelfrequenzen zwischen Fällen und Kontrollen (Assoziationsuntersuchungen) möglich. Voraussetzung für diese Strategie sind jedoch sehr umfangreiche Fallkontrollstichproben (z. B. mehr als 1000 Fälle und 1000 Kontrollen), um den Fehler von falsch-positiven Befunden der bei ca. 500.000 Einzelvergleichen anfällt, zu kontrollieren. Solche umfänglichen Fallkontrollstichproben sind mittlerweile für alle psychischen Störungen mehrfach verfügbar. Ein Vorteil dieser einstufigen, genomweiten Assoziationsstrategie ist gegenüber der an Kopplungsanalysen anknüpfenden, zweistufigen Strategie hervorzuheben:
Kopplungsanalysen in Familien mit mehreren Erkrankungsfällen entdecken vorzugsweise Genorte, die einen substanziellen Beitrag zur Krankheitsentstehung liefern; Assoziationsstudien haben dagegen eine höhere Sensitivität für weiniger einflussreiche Genorte; diese sind aber nach unseren heutigen Modellvorstellungen bei häufigen, polygenen Störungen besonders relevant. Somit ist es möglich, dass genomweite Assoziationsstudien in Zukunft eine Hauptrolle spielen werden. Erste Studien dieser Art werden derzeit publiziert (z. B. Grupe et al. 2007).
Pharmakogenetik/-genomik Die Pharmakogenetik repräsentiert ein relativ altes Konzept (Vogel 1959; Lerer 2002). Das Konzept geht von genetischen Einflüssen auf das Therapieansprechen aus, was auch durch frühere pharmakologische Familienstudien nahe gelegt wurde. Die Vision war und ist die Voraussage des individuellen Ansprechens auf Pharmakotherapie (in Bezug auf therapeutische wie unerwünschte Wirkungen) durch genetische Mittel – vorzugsweise durch die individuelle Ausprägung von DNA-SequenzVarianten. Ursprünglich standen vor allem die funktionell relevanten, genetischen Varianten von pharmakologischen Zielproteinen im Vordergrund. Das Konzept wurde mittlerweile zur »individualisierten Therapie« erweitert; die Erfassung der gesamten individuellen DNASequenz erlaubt die Voraussage des Ansprechens auf jede Pharmakotherapie; für dieses Konzept wird wegen der Berücksichtigung der DNA-Sequenz-Variabilität im gesamten Genom auch der Begriff Pharmakogenomik in Abhebung zur Pharmokogenetik verwandt. Letztere untersucht lediglich einzelne, vorher spezifizierte, funktionell relevante Gene und ihre Varianten. Diese Konzepte sind attraktiv und angesichts fehlender nichtgenetischer Prädiktoren des Therapieansprechens von enormem praktischem Interesse. Letzteres gilt umso mehr, je mehr sich die Therapieoptionen bei einzelnen Indikationen erweitern, was das Finden der besten Therapie für einen individuellen Patienten erschwert. Die intensiven pharmakogenetischen Forschungsaktivitäten haben jedoch bislang praktisch, d. h. für den Einzelfall verwertbare Ergebnisse, nur in Bezug auf die Voraussage der Höhe des Plasmaspiegels eines Präparats (bei freier oraler Dosis) erarbeitet (s. hierzu die pharmakologischen Kapitel dieses Buches). In Bezug auf die therapeutische Wirkung und Nebenwirkungen kann nur der bereits diskutierte Befund zur Voraussage des Therapieerfolges mit Serotoninwiederaufnahmehemmern durch den häufigen Kurz-/lang-Promotor-Polymorphismus des Gens für den Serotonintransporter als gesichert gelten (Seretti et al. 2007). Die Voraussagekraft ist aber so gering, dass sie nur im Gruppenvergleich bei größerem Stichprobenumfang sichtbar wird, nicht im Einzelfall anwendbar ist.
4
98
Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
4.5
4
Zusammenfassung
Das familiär gehäufte Auftreten und die teilweise genetische Determination aller häufigen psychischen Störungen zählen zu den sicheren Befunden psychiatrischer Ursachenforschung. Trotz der gut belegten genetischen Determination für alle hier diskutierten Störungen können monogene Erbgänge, die auf Mutationen in einem Gen zurückzuführen sind, für die überwiegende Mehrzahl von Erkrankten ausgeschlossen werden (Ausnahme: Sonderformen der Demenzen). Die von einzelnen, kausalen Genen verursachten schweren Verhaltensstörungen unterliegen dem Selektionsdruck und kommen daher in der Regel selten vor, wie z. B. das mit geistiger Behinderung verbundene fragile X-Syndrom. Dagegen unterliegen die häufigen psychischen Störungen dem Einfluss mehrerer Gene, wobei eine genetische Variante nicht ausreicht, um die Störung hervorzurufen. Mithilfe skizzierter molekulargenetischer Methoden ist es prinzipiell möglich, dass für die schizophrenen Störungen, die affektiven Störungen und für die Suchterkrankungen in den nächsten Jahren prädisponierende Gene identifiziert werden. Vom ALDH- und ADH-Polymorphismus bei Alkoholismus und dem ApoE-Polymorphismus bei Morbus Alzheimer abgesehen sind bei diesen Störungen bisher keine Suszeptibilitätsgene mit absoluter Sicherheit identifiziert. Bei der Schizophrenie und – in geringerem Maße auch bei bipolaren Störungen – sind sehr wahrscheinliche Suszeptibilitätsgene gefunden worden: Gene für Dysbindin (Schizophrenie), Neuregulin 1 (Schizophrenie, bipolare Störungen), DAO-A (Schizophrenie, bipolare Störungen) – früher G72/G30. Zum endgültigen Beweis sind die direkt risikomodulierenden Genvarianten in Mutationsanalysen noch zu identifizieren und der Nachweis der funktionellen Wirkung ist noch zu erbringen. Der rasche technische und methodische Fortschritt in der molekulargenetischen Analyse von komplexen Erkrankungen lässt in den nächsten Jahren die Entdeckung einer Vielzahl von Suszeptibilitätsgenen für psychische Erkrankungen erwarten. Die Diagnostik und Therapeutik psychischer Störungen dürften sich unter den zu erwartenden genetischen Erkenntnisfortschritten durchgreifend verändern.
4.6
Anhang – Methoden genetischer Forschung in der Psychiatrie
4.6.1
Analyse der familiären Ähnlichkeit
Familienstudien Familienstudien untersuchen die Merkmalsverteilung bei Angehörigen derselben Familie, soweit diese »blutsverwandt« sind; dabei muss zunächst offen bleiben, ob eine
beobachtete familiäre Ähnlichkeit genetisch oder durch soziale, nichtgenetische Gemeinsamkeiten innerhalb derselben Familie hervorgerufen wird. Merkmale können dabei diskrete (kategoriale, z. B. Diagnosen) oder kontinuierliche (dimensionale) Phänotypen (Merkmale) sein. So liegt z. B. eine familiäre Häufung von Erkrankungsdiagnosen dann vor, wenn in Familien von Merkmalsträgern oder Erkrankten eine höhere Prävalenz als in Familien von Kontrollpersonen beobachtet wird. Die Wahl der optimalen Kontrollgruppe ist manchmal schwierig zu treffen. Nach Möglichkeit sollten Kontrollpersonen aus der Allgemeinbevölkerung rekrutiert werden, wobei Merkmalsträger bzw. Erkrankte entsprechend ihrer Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung berücksichtigt werden; damit kann der Gefahr begegnet werden, dass aufgrund einer Unterschätzung der Merkmalshäufigkeit in der Kontrollgruppe falsch-positive Häufungsbefunde resultieren. Aussagekraft von Familienstudien. Häuft sich ein Merkmal familiär, sagt dies natürlich noch nichts darüber aus, ob der Häufung genetische Faktoren oder andere Ursachenfaktoren zugrunde liegen, die verschiedene Mitglieder derselben Familie gleichermaßen betreffen (familiäre Umgebungsfaktoren). Trotz dieses Mangels kommt den Familienstudien aus folgenden Gründen eine zentrale Bedeutung in der klinischen Forschung zu: Sie stellen ein wichtiges Validierungskriterium für Definitionen von psychischen Störungen dar, die familiär gehäuft auftreten. Familienstudien, in denen verschiedene diagnosespezifische Gruppen von Indexfällen verglichen werden, erlauben Aussagen über das Verhältnis zwischen den Ursachen der untersuchten Erkrankungen. Anforderungen an Familienstudien. Bei der Durchfüh-
rung von Familienstudien sollten einige Anforderungen unbedingt eingehalten werden, die auch für andere nachfolgend geschilderte Untersuchungen von Phänotypen Gültigkeit haben: Reliabilität der Fallidentifikation und der Charakterisierung des Phänotyps (z. B. persönliche Interviews durch trainierte Untersucher, strukturierte Interviews und operationalisierte Diagnosen bei Indexfällen und möglichst vielen Angehörigen, ansonsten fremdanamnestische Befragung möglichst mehrerer Informanten mit zumindest semistrukturierten Interviews der»family history method«). Kontrollkollektiv: Das Kontrollkollektiv (d. h. psychisch gesunde Indexpersonen und deren Angehörige 1. Grades) sollte möglichst parallelisiert sein. Blindbedingung: Diagnostik von Angehörigen sollte in Unkenntnis des Status der Indexperson erfolgen, was vor allem bei Prüfung der diagnostischen Spezifität wichtig ist.
99 4.6 · Anhang – Methoden genetischer Forschung in der Psychiatrie
Diagnosestellung für Probanden und Angehörige: Für jede Person werden die oben genannten Informationen sowie die Krankenakten (soweit vorhanden) zusammengeführt, und ein erfahrener Kliniker führt auf dieser Grundlage die Klassifikation zu einer Konsensusdiagnose (»best estimate diagnosis«) durch.
Zwillingsstudien Zwillingsstudien vergleichen die Übereinstimmung (Konkordanz) zwischen ein- und zweieiigen Paaren. Die besondere Aussagekraft von Zwillingsstudien basiert auf der systematischen Variation des Ausmaßes genetischer Übereinstimmung bei weitgehend ähnlichen Umgebungsbedingungen zwischen beiden Partnern eines Zwillingspaars unabhängig von der Eiigkeit. Der Unterschied in der Übereinstimmung zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingspaaren (nach Bereinigung der zufallsbedingten Übereinstimmung) gibt Auskunft über das Ausmaß der genetisch determinierten Varianz. In der Regel kann aus Zwillingsstudien eine Schätzung des Varianzanteils der Gesamtheit a) genetischer Einflussfaktoren (Heritibilität), b) von familiären und c) individuellen Umgebungsfaktoren abgeleitet werden, ohne dass jedoch diese Faktoren näher spezifiziert werden können. Es ist aber auch die Spezifikation einzelner Umweltfaktoren, z. B. Erziehungsstile, kritische Lebensereignisse (Kendler 1993 b, c, d) möglich. Die Aussagekraft von Zwillingsstudien kann in mehrfacher Hinsicht begrenzt sein: Annahme der Gleichheit von Umgebungsbedingungen unabhängig von der Eiigkeit. Die Angemessenheit dieser
Annahme wird teilweise bezweifelt. So wird angeführt, dass sich eineiige Zwillinge eine Plazenta teilen können, d. h. die Blutkreisläufe beider Zwillingspartner sind intrauterin unmittelbar miteinander verbunden; dagegen liegen bei zweieiigen Zwillingsschwangerschaften regelmäßig 2 Plazenten vor. Infektionen der Mutter in der Schwangerschaft, die einen der beiden Zwillinge affizieren, werden bei nur einer Plazenta wegen des gemeinsamen Blutkreislaufes regelmäßig auch den Zwillingspartner betreffen, was bei unterschiedlicher Plazenta für jeden Zwillingspartner nicht regelmäßig der Fall ist. Es ist auch fraglich, ob sich Eltern gegenüber eineiigen Zwillingen, die einander aus genetischen Gründen besonders ähnlich sind, ebenso verhalten wie gegenüber den sich deutlicher unterscheidenden zweieiigen Zwillingen. Möglicherweise haben solche differenten Erziehungseffekte unterschiedliche Auswirkungen auf das manifeste Verhalten. Repräsentativität. Idealerweise sollten Zwillingspaare in
der Allgemeinbevölkerung rekrutiert werden. Stichpro-
ben von Zwillingen in sog. Inanspruchnahmekollektiven können nämlich verfälscht sein: Die Wahrscheinlichkeit der Rekrutierung eines Zwillingspaares, bei denen beide Zwillinge dasselbe Inanspruchnahmeverhalten zeigen, ist größer als die Wahrscheinlichkeit der Rekrutierung von Zwillingspaaren mit unterschiedlichem Inanspruchnahmeverhalten. Zwillingspaare unterscheiden sich auch in ihrer pränatalen Entwicklung, in ihren perinatalen Bedingungen sowie während ihrer Sozialisation von anderen Personen. Insbesondere kommen bei Zwillingen mehr Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen vor, das Geburtsgewicht ist im Mittel geringer als bei Einzelgeburten, das Zusammenleben mit einem gleichaltrigen Geschwister schafft eine besondere Erziehungs- und Sozialisationssituation. Alle diese Faktoren beeinflussen möglicherweise die psychische Entwicklung und können damit die Repräsentativität von Zwillingsstichproben in Frage stellen.
Adoptionsstudien Der entscheidende Vorteil dieser Studienform im Vergleich zu Zwillingsstudien ist die systematische Variation familiärer Umgebungsfaktoren. Adoptionsstudien sind damit besonders geeignet, die Relevanz von Umgebungsfaktoren, aber auch von Gen-Umgebungs-Interaktionen zu prüfen. Für Adoptionsstudien stehen verschiedene Forschungsstrategien bereit: Die Prävalenzraten einer Erkrankung oder die Ausprägung einer Verhaltensdifferenz können zwischen wegadoptierten Kindern von Merkmalsträgern und wegadoptierten Kindern von Eltern ohne dieses Merkmal verglichen werden. Die Prävalenz der Erkrankung kann zwischen biologischen Eltern von erkrankten Adoptivpersonen und biologischen Eltern von gesunden Adoptivpersonen verglichen werden. Methodisch begründete Einschränkungen. Adoptions-
studien setzen voraus, dass die Auswahl der Adoptiveltern zufällig und unabhängig vom sozialen und Erkrankungsstatus der biologischen Eltern erfolgt. Bei der 3. Studienform wird angenommen, dass die Wegadoption des Kindes eines erkrankten Elternteils unabhängig vom Verhalten des Kindes erfolgt. Diese Annahmen treffen häufig nicht zu und schränken die Aussagekraft von Adoptionsstudien ein. Adoptionsstudien setzen voraus, dass die genetischen Bedingungen von den Umgebungsbedingungen im Adoptionshaushalt unabhängig sind. Bei der Vermittlung von Kindern wird meist versucht, einen der sozialen Schicht der biologischen Eltern entsprechenden Adoptivhaushalt auszuwählen (»selective placement«). Das soziale Milieu der biologischen Eltern ist aber vermutlich in verschiedener Hinsicht von den genetischen Voraussetzungen der biologischen Eltern abhängig (z. B. sind Intel-
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100
Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
ligenz und soziale Schicht assoziiert, Intelligenzausprägung ist teilweise genetisch bedingt).
4.6.2
4
Suche nach molekular-genetischen Einflussfaktoren (DNA-Sequenzvarianten)
Lokalisierung und Identifizierung von kausalen und Suszeptibilitätsgenen Das Auffinden von kausalen Genen ist bei monogenen Erbkrankheiten ein klar beschriebener Weg, beginnend mit der Kartierung durch Kopplungsstudien in Familien bis zum Nachweis von Mutationen in dem Gen, welches für die Erkrankung verantwortlich ist (⊡ Abb. 4.1). Die Kartierung der Krankheit auf einem bestimmten chromosomalen Abschnitt des Genoms erfolgt mithilfe von Kopplungsanalysen. Ist ein solcher Abschnitt lokalisiert, wird dieser in kleinere DNA-Fragmente unterteilt. Diese kleineren Fragmente werden auf Gene untersucht, die dann wiederum auf Mutationen (z. B. durch Sequenzanalyse) bei Kranken untersucht werden. Werden entsprechende Veränderungen nur bei Erkrankten und nicht bei Gesunden gefunden, so ist dies ein Hinweis darauf, dass dieses Gen die Ursache für die Erkrankung sein könnte. Bei komplexen Erkrankungen, zu denen die psychischen Erkrankungen gehören, kann im Prinzip der gleiche Weg beschritten werden, allerdings ist das Auffinden von krankheitsverursachenden Veränderungen schwieriger (z. B. Baron 1996). Hierfür sind folgende Gründe verantwortlich: Der Übertragungsmodus genügt keinen Mendelschen Regeln und ist unbestimmt. Der in Familien übertragene Phänotyp ist nicht eindeutig definiert und stattdessen unscharf begrenzt und möglicherweise inhaltlich heterogen. Komplexe Störungen sind meist häufig auftretende Erkrankungen, so dass Phänokopien (d. h. der Störung liegen nichtgenetische Ursachen zugrunde) häufig sein können. Genetische Heterogenität mit unterschiedlichen genetischen Mechanismen ist möglich. Nichtgenetische Umgebungsfaktoren können ebenso relevant sein. Häufig vorkommende Genvarianten können zum Risiko beitragen, wobei das daraus resultierende häufige Vorkommen dieser Varianten informationsreduzierend wirkt (Lander u. Schork 1994).
Strategien zur Identifizierung von genetischen Varianten bei psychischen Störungen Zwei Wege sind möglich, um auf Genomebene nach krankheitsverursachenden Veränderungen zu suchen: Kopplungsuntersuchungen und Assoziationsuntersuchungen.
Beide Ansätze werden bei der Suche nach Suszeptibilitätsgenen für komplexe Erkrankungen angewendet. Beide Ansätze gehen von einer kategorialen Kennzeichnung als »erkrankt« aus.
Kopplungsuntersuchungen Ziel der Kopplungsanalyse ist es, innerhalb von Familien die Kosegregation eines polymorphen Markers, von dem die Lokalisation bekannt ist, mit der Erkrankung nachzuweisen. Das Prinzip der Kopplungsanalyse beruht auf einem Vorgang, der in der Reifeteilung (Meiose) auftritt. In der Meiose kommt es nicht nur zum Austausch väterlicher und mütterlicher Chromosomen, sondern auch zum Austausch von Genabschnitten mit Hilfe des sog. »crossing over« (⊡ Abb. 4.4). Je näher 2 Genorte, z. B. ein bekannter Marker und der unbekannte Krankheitsgenort, zusammenliegen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie zusammen vererbt werden. Die Wahrscheinlichkeit der gemeinsamen Vererbung von bekanntem Marker und unbekanntem Krankheitsgenort wird in Familien mit mehreren Erkrankten untersucht. Ein Maß für Kopplung ist der Lodscore, der Logarithmus der Wahrscheinlichkeit von Kopplung gegenüber Nichtkopplung. Ein Wert von +3 bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit für Kopplung 1000 : 1 beträgt, was ein starker Hinweis auf einen Genort für die Erkrankung ist. Voraussetzungen für die Kopplungsanalyse sind: Hochinformative, polymorphe Marker, Multiplexfamilien (mehr als ein Betroffener; mehr als eine Generation verfügbar).
Auswahl der genetischen Marker Prinzipiell stehen alle genetischen Polymorphismen als Marker für Kopplungs- und Assoziationsuntersuchungen zur Verfügung. Bei der Auswahl der genetischen Marker, die auf Kopplung untersucht werden, sind 2 Strategien
⊡ Abb. 4.4. Affected-Sib-Pair-Methode. Gemeinsame Vererbung von Marker und Genort. Bei voll informativem Genotyp der Eltern (beide Eltern heterozygot ohne gemeinsame Allele) ergeben sich die 3 verschiedenen Gentypkonstellationen bei den beiden erkrankten Kindern mit den in der Abbildung dargestellten Wahrscheinlichkeiten unter der Voraussetzung, dass der Markergenort und der Erkrankungsort unabhängig voneinander übertragen werden. Gekoppelte Übertragung wird in einer Abweichung von dieser Wahrscheinlichkeitsverteilung deutlich
101 4.6 · Anhang – Methoden genetischer Forschung in der Psychiatrie
möglich, der Kandidatengenansatz und der systematische Genomscan. Kandidatengenansatz. Polymorphismen von Genen, de-
ren Genprodukte wahrscheinlich für die Pathophysiologie der Störung relevant sind; die Auswahl der Marker erfolgt also analog den Assoziationsstudien. So stellen die Gene von Neurotransmitterrezeptoren Kandidatengene für Schizophrenie und Alkoholismus dar. Inzwischen ist eine Vielzahl von Varianten in kodierenden und nichtkodierenden Bereichen von Kandidatengenen durch direkte Mutationsanalyse identifiziert worden, die damit als genetische Marker in Kopplungs- und Assoziationsstudien fungieren können. Systematischer Genomscan. Dies sind eng platzierte, möglichst polymorphe Marker, die das gesamte Genom abdecken. Dabei sollte der Abstand zwischen 2 benachbarten Markern nicht mehr als 5–20 cM (Centi-Morgan) betragen. In Simulationsanalysen konnte nachgewiesen werden, dass dieser Abstand für den Nachweis einer Kopplung zwischen Markergenort und Krankheitsgenort genügt (Holmans u. Craddock 1997). Da das menschliche Genom etwa 3300 cM umfasst, würden also unter günstigen Bedingungen etwa 350 Marker genügen, um das Genom so abzudecken, dass stabile Kosegregationen zwischen einer Störung und einem Gen entdeckt werden können. Mit der Kopplungsanalyse ist es möglich, das Genom in größeren Bereichen auf Genorte abzusuchen. Im Gegensatz zur Assoziationsanalyse wird hier zunächst nach dem chromosomalen Bereich gesucht, welcher einen Genort enthält, und dieser anschließend auf das Vorhandensein von Kandidatengenen untersucht.
⊡ Abb. 4.5. Identifikation von SNPs (single nucleotide polymorphisms) und ihre Assoziation mit Erkrankungen
Lodscore-Methode in mehrfach belasteten Stammbäumen Die Auswertung der Analyse erfolgt mit Hilfe der Lodscore-Methode. Da diese Methode parameterabhängig ist, sind folgende Angaben nötig: Erbgang (z. B. dominant oder rezessiv), Krankheitsallelfrequenzen in der Bevölkerung, Penetranz, Markerallelfrequenzen. Da diese Parameter (mit Ausnahme der Markerallelfrequenzen) bei komplexen Erkrankungen häufig nicht exakt zu bestimmen sind, ist die klassische, parametrische Kopplungsanalyse für komplexe Erkrankungen nur bedingt geeignet. Besser geeignet sind hier Kopplungsmethoden, die keine Spezifikation des Übertragungsmodus erfordern (parameterfrei), wie die Affected-PedigreeMember-Methode oder die Affected-Sib-Pair-Methode. ⊡ Abb. 4.4 zeigt die parametrischen und nichtparametrischen Kopplungsmethoden in der Übersicht.
Assoziationsuntersuchungen Ziel der Assoziationsanalyse ist es, durch Vergleich einer Patienten- mit einer Kontrollstichprobe ein mit der Erkrankung assoziiertes genetisches Merkmal (eine Veränderung in der DNA-Sequenz) zu finden. Dazu werden Unterschiede in den Allelfrequenzen von bekannten Varianten in der DNA-Sequenz statistisch ausgewertet. Voraussetzung für diesen Ansatz sind jeweils Stichproben von nicht verwandten Probanden und Patienten; beide müssen der gleichen ethnischen Gruppe angehören (⊡ Abb. 4.5). Eine systematische Untersuchung aller Gene – sie werden auf etwa 30.000 geschätzt – mittels Assoziations-
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studien war mit den bislang verfügbaren technischen Möglichkeiten nicht möglich, wird aber mit den sich entwickelnden Hochdurchsatzverfahren in nächster Zukunft realisierbar sein. Assoziationsuntersuchungen prüfen auf ein Kopplungsungleichgewicht zwischen Varianten eines Markergens und eines Krankheitsgens. Kopplungsungleichgewicht besteht im Mittel über ein kürzeres Intervall entlang dem Genom als eine Kopplung zwischen 2 polymorphen Genen. Daher sind für genomweite Assoziationsuntersuchungen besonders informative und möglichst einfache Markersysteme nötig, die einen Großteil der Sequenzvariation im Genom abdecken; solche Markersysteme stehen zunehmend zur Verfügung. Eine weitere unerlässliche Voraussetzung sind extrem große Stichproben von Fällen und Kontrollen (jeweils mehrere Tausend Probanden; Risch 2000). Die sich entwickelnde Chip-Technologie wird in Zukunft zu einer ökonomischen Realisierung genomweiter Assoziationsstudien beitragen. Bisher wurden v. a. Varianten von sog. Kandidatengenen auf Assoziation mit der Erkrankung untersucht. Kandidatengene exprimieren Proteine, die aufgrund gegenwärtigen Wissens für Ätiologie und Pathophysiologie der Störung relevant sind. Von besonderer Bedeutung sind DNA-Varianten, welche direkte funktionelle Auswirkungen haben. Derartige Varianten können entweder über eine veränderte Aminosäurensequenz für ein modifiziertes Protein verantwortlich sein oder über Variation in den regulatorischen DNA-Sequenzen den Grad der Expression des entsprechenden Proteins beeinflussen. Daher werden Kandidatengene auf funktionell relevante DNA-Sequenzvarianten hin untersucht. Im Mittelpunkt neuer Untersuchungen steht v. a. die Analyse von SNPs (single nucleotide polymorphisms); jeder dieser Polymorphismen weist 2 Varianten (Allele) auf, die durch einfache Basenpaarsubstitutionen gekennzeichnet sind. SNPs sind im menschlichen Genom extrem häufig; im Mittel weist jede 1000. Position einen solchen Polymorphismus auf. SNPs können in kodierenden und nichtkodierenden Bereichen des Genoms vorkommen; von besonderem Interesse sind SNPs, die funktionelle Konsequenzen haben. Durch die immer bessere Verfügbarkeit des Wissens über die Sequenz des menschlichen Genoms ist auch die Anzahl der verfügbaren Varianten (SNPs) enorm angewachsen. Gleichzeitig entwickelten sich neue technische Möglichkeiten für die Hochdurchsatzanalyse von derartigen Polymorphismen. Kandidatengene genomweit auf Assoziation zu untersuchen, rückt daher immer mehr in den Bereich des Möglichen.
Nachteile der Assoziationsanalyse Eine der Hauptschwierigkeiten dieser Methode liegt darin, eine geeignete Patienten- und Kontrollstichprobe zu finden. Die Häufigkeiten von Sequenzvarianten variieren oft stark in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Sind
die verwendeten Stichproben von unterschiedlicher ethnischer Abstammung, kann es zum Nachweis eines Unterschiedes kommen, der durch diese bedingt ist, aber mit der Erkrankung nicht in Verbindung steht. Neuerdings wurden zur Kontrolle solcher möglichen Verfälschungen in Fall-Kontroll-Stichproben auch molekulargenetische Verfahren zur Feststellung der populationsgenetischen Vergleichbarkeit vorgeschlagen (»genomic controls«).
Vergleichende Wertung: Kopplungsund Assoziationsstudien Kopplungs- und Assoziationsstudien sind prinzipiell komplementäre Methoden. Dabei sind Kopplungsanalysen im Vergleich zu Assoziationsanalysen umso effizienter, je größer der zu entdeckende Anteil eines Suszeptibilitätsgens ist. Insbesondere ist für die Sicherung der Aussagekraft von Kopplungsanalysen eine hinreichend ausgeprägte Familiarität (gemessen als Quotient zwischen Erkrankungsrisiko bei Erstgradverwandten von Betroffenen und Risiko in der Allgemeinbevölkerung) Voraussetzung (Risch 1990). So bieten sich für Kopplungsanalysen v. a. die Schizophrenie und bipolar-affektive Störungen an, weniger aber unipolare Depressionen (Risikoquotienten 5–10 bei der Schizophrenie und 1,5–2,5 bei den affektiven Psychosen). Assoziationsstudien (insbesondere familienbasierte) können mit relativ geringem Stichprobenumfang Allele entdecken, die nur ein mäßiges relatives Erkrankungsrisiko (< 4) tragen (Nöthen et al. 1993; Risch u. Merikangas 1996). Dagegen sind Kopplungsanalysen, v. a. die Affected-Sib-Pair-Methode, zur Entdeckung von Genen, die ein höheres Erkrankungsrisiko (sog. Hauptgene mit relativem Risiko > 4,0) transportieren, effizienter. Wie am Beispiel von Schizophrenie und bipolaren Störungen dargelegt ( Abschn. 4.2.1, 4.2.2), können bei der Genortsuche Kopplungs- und Assoziationsuntersuchungen als komplementäre Methoden betrachtet werden. Die Erfolge der Kombination beider Strategien (⊡ Abb. 4.6) kann als »Proof of principle« bewertet werden. Allerdings ist dieses Vorgehen nur soweit zielführend, wie das Auflösungsvermögen der Kopplungsanalysen reicht. Schwache »Signale« werden dabei oft nicht erkannt, so dass die Genortsuche bei polygenen Störungen nicht ohne genomweite Assoziationsstudien ( Abschn. 4.4) auskommen wird.
Phänotypcharakterisierung bei psychischen Störungen Kopplungs- und Assoziationsstudien erfordern es, den Phänotyp als »erkrankt« oder »nichterkrankt« auszuzeichnen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Suche nach den Ursachen der psychischen Erkrankungen ist daher eine gesicherte Diagnose. Für die Vergleichbarkeit von Ergebnissen ist entscheidend, dass die Diagnose ein
103 Literatur
⊡ Abb. 4.6. Zweistufiger Prozess zur Identifikation von Krankheitsgenen bei komplexen Erkrankungen: hypothesenfreier, genomweiter Ansatz
und derselben Person unabhängig vom Arzt immer die gleiche ist. Zum Beispiel sind in Familien, in denen gehäuft Schizophrenien auftreten, meist auch andere psychische Erkrankungen, wie z. B. andere Psychosen oder affektive Störungen, vorhanden. Die Konsequenzen falsch-positiver oder falsch-negativer Phänotypzuschreibungen sind für Kopplungs- und Assoziationsuntersuchungen unterschiedlich. Phänotypcharakterisierung bei Kopplungsanalysen. Sie
ist insofern besonders kritisch, als neben dem erkrankten Indexfall auch die anderen Familienmitglieder als »erkrankt« oder »nicht erkrankt« gewertet werden müssen. Die Ausgrenzung von Fällen, die auf dieselben genetischen Ursachen wie die untersuchte Störung zurückzuführen sind, kann bei Kopplungsanalysen zu einem Informationsverlust führen. Werden hingegen Phänotypen der Erkrankung zugerechnet, die auf der genetischen Ebene in keinem Zusammenhang mit der Erkrankung stehen (Phänokopien), so kann in der Kopplungsanalyse die statistische Power erheblich reduziert werden. Der zuletzt genannte Nachteil wiegt meist schwerer als der zuerst genannte. Diesem Problem kann Rechnung getragen werden durch Vergabe verschiedener Definitionen (Krankheitsmodelle) von »erkrankt« und getrennte statistische Analyse für jedes Krankheitsmodell; dabei nimmt durch die mehrfache Durchführung statistischer Tests die Power ab; durch ausschließliche Anwendung eines vorher spezifizierten Krankheitsmodells; bei Anwendung einer engen Phänotypdefinition kann dabei vermutlich die Rate falsch-positiver Phänotypzuordnungen minimal gehalten werden.
Phänotypcharakterisierung bei Assoziationsuntersuchungen. Hier ist nur über die Phänotypcharakterisie-
rung der Probanden zu entscheiden. Wird der Phänotyp »erkrankt« zu weit gefasst, so kann die genetische Heterogenität der Stichprobe zunehmen, sodass sich die Anwendung eng definierter Diagnosen empfiehlt. Die qualitative und quantitative Variation des familiär übertragenen Phänotyps und die nur begrenzte Reliabilität der klinischen psychiatrischen Diagnosen erfordern eine extensive und standardisierte Erfassung der psychiatrisch relevanten Anamnese und eine standardisierte und operationalisierte Diagnosenzuordnung. Hierfür sind umfangreiche Erhebungsinstrumente zur klinischen Symptomatik entwickelt worden (Nurnberger et al. 1994).
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Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
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Kapitel 4 · Genetik psychischer Störungen
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5 5 Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen B. Bogerts
5.1 5.1.1
5.1.2 5.1.3 5.1.4
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3
Funktionell-neuroanatomische Grundlagen psychischer Störungen – 110 Grundlagen der zerebralen Informationsverarbeitung und Bedeutung des limbischen Systems – 110 Analogien zwischen funktioneller Neuroanatomie und Tiefenpsychologie – 111 Kortikale Kontrolle von Emotionen – 111 Plastizität von Hirnstruktur und Hirnfunktion – 112 Organische Psychosyndrome – 113 Psychosen bei Hirnläsionen – 113 Alkoholbedingte Hirnschäden – 115 Morbus Alzheimer – 115
Problematik der neuropathologischen Erforschung psychischer Krankheiten – 116 5.3.1 Neuropathologische Befunde bei psychischen Erkrankungen – 116 5.3.2 Historische Aspekte der neuropathologischen Psychoseforschung – 117
5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4
Schizophrenien – 117 Entwicklung der hirnpathologischen Schizophrenieforschung – 117 Befunde der neueren Schizophrenieforschung – 118 Ätiopathogenetische Aspekte – 122 Interpretation der hirnstrukturellen Befunde bei Schizophrenen – 123
5.5
Histopathologische Untersuchungen bei affektiven Störungen – 124
5.6
Zusammenfassung und Ausblick Literatur
– 125
– 124
110
5
Kapitel 5 · Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
5.1
Funktionell-neuroanatomische Grundlagen psychischer Störungen
5.1.1
Grundlagen der zerebralen Informationsverarbeitung und Bedeutung des limbischen Systems
In der Neuropathologie und Pathophysiologie von Schizophrenien, affektiven Störungen, symptomatischen Psychosen, Angsterkrankungen sowie des Morbus Alzheimer und des amnestischen Syndroms spielt das limbische System eine zentrale Rolle. Die anatomische Lage der wichtigsten limbischen Strukturen ist in ⊡ Abb. 5.1 dargestellt. Die Bedeutung des limbischen Systems liegt darin, dass in ihm Informationen aus dem gesamten Assoziationskortex konvergieren, emotional bewertet werden, ins Gedächtnis überführt und mit Strukturen des Hirnstamms verschaltet werden.
Prinzipien der kortikalen Informationsverarbeitung Alle Sinneseindrücke treffen zunächst nach Durchlaufen der spezifischen Sinnesbahnen (Sehbahn, Hörbahn, Körperfühlbahn) und nach Passage thalamischer Schaltstati-
⊡ Abb. 5.1. Konnektivität zwischen Assoziationskortex, limbischen
System und Hirnstamm. 1 Hippokampus, 2 Mandelkern, 3 entorhinaler Kortex, 4 Gyrus cinguli, 5 Septum, Area subcallosa, 6 Orbitalhirn
onen in den primären sensorischen Kortexarealen (Hörrinde, Sehrinde, somatosensible Rinde) ein (⊡ Abb. 5.1.). Von dort wird die Information in die den primären Kortex umgebenden sekundären unimodalen sensorischen Assoziationsareale weitergeleitet. In diesen unimodalen Assoziationsarealen werden Reize der gleichen Sinnesqualität synthetisiert; hier erfolgt z. B. die Erkennung von Worten oder räumlicher Muster. Von den sekundären Arealen wird die unimodal assoziierte Information in polymodale kortikale Assoziationsareale des Frontal-, Parietal- und Temporalhirns geleitet. In diesen tertiären Neokortexbezirken konvergieren Informationen verschiedener Sinnesqualitäten, z. B. Seh- und Höreindrücke, am gleichen Neuron. Dies ist die hirnanatomische Grundlage dafür, dass verschiedene Sinnesqualitäten trotz getrennter peripherer Kanäle als Sinneseinheit wahrgenommen werden. Der tertiäre Assoziationskortex projiziert weiter zu supramodalen kortikalen Assoziationsregionen in der präfrontalen und temporalen Rinde, in denen die eingehende Information auf noch höherer Ebene mit bereits Erlerntem integriert und assoziiert wird. Nach dem kaskadenförmigen Durchlaufen von unimodalem, polymodalem und supramodalem Assoziationskortex konvergiert letztlich alle Information in den limbischen Schlüsselstrukturen des medialen Temporallappens, das sind Hippokampus und Mandelkern. Den limbischen Strukturen kommt eine zentrale Bedeutung in der Ausfilterung unwichtiger Informationen, dem »sensory gating« zu, indem sie in Zusammenarbeit mit dem vorgeschalteten Kortex und durch Vergleich vergangener mit der gegenwärtigen Erfahrung die eingehende Umweltinformation auf deren emotionale Relevanz hin bewerten. Was emotional bedeutsam ist, beeinflusst weiter die Hirnaktivität, was redundant ist, wird gelöscht (Mesulam 1986; Gray 1982; Millner 1992). Außerdem stimulieren oder hemmen dieselben zentralen temporolimbischen Strukturen über mehrere Bahnen die Aktivitäten des Hypothalamus, in dem die neuronalen Generatoren der phylogenetisch alten Trieb- und Emotionalsphäre liegen (Palkovits u. Zaborski 1979). Elementare Triebe wie Aggression, Flucht, Sexualität, die im Hypothalamus-Septum-Bereich auch durch direkte elektrische Stimulierung aktivierbar sind (Hess 1949), werden durch Afferenzen von Amygdala und Hippokampus gesteuert und zwar in Abhängigkeit von der Information, den letztere Strukturen vom sensorischen Assoziationskortex bekommen. Der Hypothalamus reguliert seinerseits über lange absteigende vegetative Bahnen (Fasciculus longitudinalis dorsalis) den dorsalen Vaguskern, der für die parasympathische Innervation fast des gesamten Körpers zuständig ist, und die Sympatikuszentren der Medulla und damit alle peripher-vegetativen Reaktionen (Palkovits u. Zaborski 1979; Nieuwenhuis 1985).
111 5.1 · Funktionell-neuroanatomische Grundlagen psychischer Störungen
Damit ist die Kette der sensorischen Informationsverarbeitung vom Sinnesorgan über kortikale Assoziation und Integration, limbische Bewertung, Aktivierung oder Hemmung des Hypothalamus bis hin zur peripheren sympathischen oder parasympathischen Reaktion vollständig.
Psychoanalytische vs. neuroanatomische Dreiteilung Diese funktionelle Dreiteilung zeigt eine erstaunliche Parallele zur Einteilung des psychischen Apparates durch Freud in Über-Ich, Ich und Es. Über-Ich. Das Über-Ich, das erlernte ethisch-soziale Nor-
5.1.2
Analogien zwischen funktioneller Neuroanatomie und Tiefenpsychologie
Die an der Informationsverarbeitung beteiligten Hirnsysteme lassen sich in die 3 folgenden miteinander verbundenen phylogenetisch verschieden alten Funktionsschichten gliedern: den phylogenetisch jungen Neokortex, der für höhere kognitive Prozesse zuständig ist, den phylogenetisch sehr alten Septum-Hypothalamus-Hirnstamm-Bereich, in dem die neuronalen Substrate archaischer Triebe und Emotionen zu suchen sind und das phylogenetisch und strukturell dazwischen gelagerte limbische Endhirnsystem, das aufgrund seiner afferenten und efferenten Verschaltung zwischen Neokortex und Hypothalamus/Hirnstamm vermittelt (McLean 1952). Direkte Verbindungen zwischen Neokortex und Hypothalamus gibt es nicht; eine gegenseitige Beeinflussung dieser Hirnteile ist nur über Vermittlung der limbischen Schlüsselstrukturen (Hippokampus, Mandelkern, z. T. auch Orbitalhirn) möglich.
⊡ Abb. 5.2. Analogie zwischen Hirnphysiologie und Psychoanalyse
men repräsentiert, setzt die Existenz eines hochentwickelten Neokortex mit einer ausreichenden Speicherkapazität für die ethisch-moralischen Postulate unserer sozialen Umwelt voraus. Es. Mit Es umschreibt Freud die archaischen Triebe, die
neurophysiologisch gesehen durch Aktivierung des Septum-Hypothalamus-Hirnstamm-Bereiches entstehen. Ich. Freud postulierte, dass es eine zerebrale Instanz ge-
ben müsse, die zwischen Über-Ich und Es vermittelt und nannte diese Instanz Ich. Damit nahm er die Erkenntnisse der späteren Hirnforschung intuitiv vorweg, die in den limbischen Strukturen eine Vermittlerinstanz zwischen neokortikalen kognitiven Aktivitäten und emotionalen Stammhirnreaktionen erkannte (⊡ Abb. 5.2).
5.1.3
Kortikale Kontrolle von Emotionen
Alle visuellen, akustischen und somatosensiblen Sinneseindrücke werden vor Eintreffen in den primären sensorischen Kortexarealen im Thalamus umgeschaltet (⊡ Abb. 5.3). Vom Thalamus führt eine direkte Bahn zum Mandelkern, über die sensorische Informationen unter Umgehung des Neokortex direkt in dieses limbische Zen-
Hirnstruktur
Hirnfunktion
Psychoanalyse
Assoziationskortex
Höhere Assoziationen, erlernte moralischsoziale Normen
Hippokampus, Amygdala, Orbitalhirn
Neuronale Vermittlung zwischen Kognition und Emotion
Ich
Hypothalamus, Septum, Hirnstamm
Archaische Triebe
Es
Über-Ich
5
112
Kapitel 5 · Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
⊡ Abb. 5.3. Schema kortikaler Kontrolle emotionaler Reaktionen. 1 Primäre rasche Signaltransduktion vom Thalamus zum Mandelkern und visuellen Kortex, 2, 3, 4 sekundäre kortikale Kontrolle amygdalärer Angstreaktion
5 trum zur raschen emotionalen Bewertung des Wahrgenommenen geleitet werden. Zugleich werden von dem primären sensorischen Kortexareal die eintreffenden Sinnesimpulse an kortikale Assoziations- und Integrationszentren im Parietal-, Temporal- und Frontallappen weitergeleitet. Von dort erfolgt in zeitlicher Verzögerung eine kortikal-kognitive Kontrolle (vorwiegend Hemmung) der primären amygdalären Reaktion (z. B. Angst) auf den thalamischen Input. Kommt es zu einer Fehlfunktion der kortikalen Kontrolle der primären amygdalären Aktivität, kann eine Affektstörung (z. B. Angsterkrankung) resultieren.
5.1.4
Plastizität von Hirnstruktur und Hirnfunktion
In der neuropathologischen Erforschung psychischer Erkrankungen werden ausschließlich reduktionistische Strategien, mit deren Hilfe die klinische Symptomatik auf eine primär gestörte Hirnbiologie zurückgeführt werden soll, angewandt. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass durch ein pathogenes psychosoziales Umfeld auch ein primär gesundes Gehirn in seiner Neuroanatomie
⊡ Abb. 5.4. Plastische Prägung neuronaler Verschaltung durch frühe Erfahrung und zerebrale Aktivierung. Bei Geburt im Überschuss angelegte Synapsen werden nach dem Motto »Use it or lose it« verstärkt
krankhaft verändert werden kann. Untersuchungen zur Hirnplastizität zeigen eindrucksvoll, dass eine abnorme Reizkonstellation der Umwelt eine nachhaltige Störung der normalen Hirnentwicklung in funktioneller und morphologischer Hinsicht haben kann. Ein Beispiel für psychosoziale Ursachen morphologischer Veränderungen ist das Auftreten von teilweise irreversiblen Schädigungen von Hirnstruktur und -funktion nach sensorischer Deprivation insbesondere in frühen Phasen der postnatalen Hirnentwicklung (Braun u. Bogerts 2001). Bei Geburt sind die synaptischen Kontaktstellen im Hirn im Überschuss angelegt. Es werden im Laufe der weiteren Hirnentwicklung nur solche Synapsen erhalten und verstärkt, die aktiviert werden; nichtgebrauchte Kontaktstellen werden eliminiert. Auf diese Weise kommt es in Abhängigkeit von der Art der frühen Erfahrung zur plastischen Ausbildung »fest verdrahteter« neuronaler Netzwerke, die spätere Denkkonzepte, Verhaltensstrategien und emotionale Reaktionen prägen (⊡ Abb. 5.4).
Prinzipien der Hirnplastizität In den letzten 20 Jahren konnte v. a. durch eine umfangreiche Deprivationsforschung nachgewiesen werden, dass die Entwicklung von Hirnstruktur und -funktion nicht
oder eliminiert. Dadurch erfolgt die Festlegung von Denkkonzepten, Verhaltensstrategien und emotionale Prägung. (Mod. nach Vorlage von Prof. H. Scheich, Der Spiegel Nr. 27 vom 1.7.2002)
113 5.2 · Organische Psychosyndrome
nur von genetischen Faktoren abhängt, sondern auch von Umwelteinflüssen wesentlich mitbestimmt wird (Braun u. Bogerts 2001). Die Ergebnisse sind auf andere Hirnsysteme übertragbar. Durch diese Forschungen wurden folgende Prinzipien der Hirnplastizität aufgestellt: Funktionelle Inaktivierung (sensorische Deprivation) von Hirnsystemen in frühen postnatalen kritischen Entwicklungsphasen führt zu irreversiblen oder nur partiell reversiblen morphologischen und funktionellen Ausfällen; nach Abschluss der kritischen Phasen sind durch eine Aktivierung der durch vorherigen Funktionsentzug unterentwickelten Hirnsysteme keine oder nur minimale Nachholeffekte zu erreichen. Umgekehrt hat nach Abschluss der kritischen Phase eine Inaktivierung von früher bereits ausreichend stimulierten und somit normal entwickelten Hirnsystemen nur geringfügige und reversible Funktionseinbußen zur Folge; die kritischen, d. h. für Funktionsentzug vulnerablen Zeitspannen sind für einzelne Hirnsysteme unterschiedlich und fallen mit den postnatalen Entwicklungsabschnitten zusammen, in denen die genetisch determinierte Reifung der betroffenen Systeme abgeschlossen ist und die entsprechenden Fähigkeiten normalerweise erlernt werden (z. B. bei Primaten 3.–6. postnatale Woche für binokuläres Sehen).
Frühe emotionale Deprivation und psychische Störungen Nach den Ergebnissen der Deprivationsforschung ist nach Abschluss der sensiblen Phasen wegen der dann stark eingeschränkten Plastizität der betroffenen Hirn⊡ Abb. 5.5. Psychosyndrome bei Schädigung kortikaler Areale. (Mod. nach Mesulam 1986)
systeme therapeutisch eine vollständige Wiederherstellung der normalen Struktur und Funktion kaum noch erreichbar. Das erklärt die mangelhafte spätere therapeutische Beeinflussbarkeit psychischer Störungen als Folge massiver früher Deprivation (Braun u. Bogerts 2001). Bei der Diskussion über die Ursachen subtiler neuroanatomischer Substanzdefekte, die bei psychiatrischen Syndromen oft angetroffen werden, sollte unter dem Aspekt der Hirnplastizität auch an eine mögliche Verursachung durch eine unzureichende frühe sensorische Aktivierung gedacht werden.
5.2
Organische Psychosyndrome
5.2.1
Psychosen bei Hirnläsionen
Während Läsionen primär sensorischer oder motorischer Hirnareale oder des extrapyramidalmotorischen Systems mit Symptomen einhergehen, die in das Gebiet der Neurologie fallen, verursachen Störungen des höheren Assoziationskortex und des limbischen Systems klinische Bilder, die in den Bereich der psychiatrischen Symptomatologie gehören. Läsionen einfacher unimodaler kortikaler Assoziationsareale, die anatomisch und funktionell zwischen dem primären sensorischen oder motorischen Kortex und dem höheren Assoziationskortex liegen, manifestieren sich klinisch in einem neurologisch-psychiatrischen Übergangsbereich (z. B. Agnosien, Aphasien, Apraxien, sog. Werkzeugstörungen; Mesulam 1986; ⊡ Abb. 5.5).
5
114
Kapitel 5 · Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Stirn- und Temporalhirn
5
Stirn- und Temporalhirn bestehen überwiegend aus polymodalen und supramodalen Assoziationsarealen. Das erklärt, dass selbst größere Tumoren, Infekte, Traumata, vaskuläre Schäden und degenerative Veränderungen im Stirn- und Schläfenlappen ohne motorische oder sensorisch-neurologische Symptome auftreten (Ausnahme olfaktorische Symptome bei Stirnhirntumoren oder -traumata), dass Stirn- und Schläfenhirnsyndrome aber regelmäßig mit einer Einbuße an höheren kortikalen Funktionen oder limbischen Funktionsstörungen verbunden sind (Übersicht s. Förstl 2005). Läsionen des Stirnhirns. Schädigungen des Stirnhirns ver-
ursachen unabhängig von der Ätiologie Persönlichkeitsveränderungen, die gekennzeichnet sind durch Motivationsverlust, Apathie, Urteilsschwäche, fehlende antizipatorische Fähigkeiten, soziale Enthemmung, reduzierte Impulskontrolle oder Rückzug sowie psychomotorische Verlangsamung. Läsionen temporolimbischer Areale. Zerstörungen tem-
porolimbischer Areale verursachen Amnesien oder psychotische Symptome. Komplette bilaterale Ausfälle des Hippokampus heben die Erinnerungsfähigkeit für neu eintretende Ereignisse auf, die Überführung des Kurzzeitgedächtnisses in das Langzeitgedächtnis ist nicht mehr möglich; beidseitige Läsionen des Mandelkerns verursachen das Klüver-Bucy-Syndrom. Dieses ist gekennzeichnet durch die Unfähigkeit einer adäquaten emotionalen Einstufung des sensorisch Wahrgenommenen, oft verbunden mit Hypersexualität und verminderter Aggressivität (Mesulam 1986). Geringgradigere Läsionen temporolimbischer Strukturen, z. B. Anfangsstadien von Tumoren und Infekten, gehen oft mit einer schizophrenieähnlichen Symptomatik einher. Läsionen des medialen Temporallappens. Virale Infekte
mit einer hohen Affinität zum medialen Temporallappen, wie die Herpes-simplex-Enzephalitis oder die Rabies ver-
ursachen in den Frühstadien schwere emotionale Alterationen verbunden mit Angst, Schreckhaftigkeit, Überreaktionen, Aggressivität oder Apathie, abnormen Sexualverhalten, Wahn und Halluzinationen (Greenwood et al. 1983). Das gleiche Symptomspektrum kann bei Traumata, Tumoren und Durchblutungsstörungen des medialen Temporallappens auftreten (Davison u. Bagley 1969; Hillbom 1951) sowie bei Temporallappenepilepsie (Slater et al. 1963), insbesondere wenn der Fokus auf der linken Seite liegt und die zugrunde liegende Läsion angeboren ist (Flor-Henry 1969; Perez et al. 1984). In den Frühstadien werden solche Erkrankungen limbischer oder paralimbischer Regionen des Temporaloder Frontalhirns oft als Schizophrenie oder affektive Psychose fehldiagnostiziert. ⊡ Tab. 5.1 gibt einen Überblick über die hirnregionale Verteilung von Tumoren und Verletzungen, in deren Folge schizophreniforme Psychosen auftraten. Am häufigsten ist das Frontal- und Temporalhirn betroffen, also die Hirnteile, in denen die ausgedehntesten limbischen und paralimbischen Regionen (Hippokampus, parahippokampale Rinde, Mandelkern, Temporalpol, Gyrus cinguli, Orbitalkortex) liegen (⊡ Abb. 5.6a–c und ⊡ Abb. 5.7a,b).
⊡ Tab. 5.1. Häufigkeit der Lage von Hirnläsionen bei schizophreniformer Symptomatik als Folge von Hirnverletzungen und Hirntumoren (Angaben in %) Hirnverletzungen (Hillbom 1951)
Hirntumoren (Davison u. Bagley 1969)
Temporal
40
35
Frontal
23
19
Parietal
14
–
Lage
Okzipital Dienzephal
8 –
2 19
Zerebellär
–
6
Basalganglien
–
1
Hirnstamm
–
3
Andere
15
15
⊡ Abb. 5.6a–c. Beispiele limbischer Hirnsubstanzdefekte bei Verdachtsdiagnose »Schizophrenie«. a Meningeom (Verdachtsdiagnose »Hebephrenie«). b Multiple Sklerose (Sklerosierung im Hippokampus und Gyrus cinguli). c Arachnoidalzyste vorderer Temporallappen
115 5.2 · Organische Psychosyndrome
⊡ Abb. 5.7a,b. Ausgedehnte linkstemporale (a) und frontobasale (b) Substanzdefekte (nach alter Kontusion) bei einem inhaftierten Gewalttäter
5.2.2
Alkoholbedingte Hirnschäden
Wernicke-Enzephalopathie Der hirngewebszerstörende Einfluss chronischen Alkoholmissbrauchs wurde bereits von Wernicke 1881 beschrieben. Die bekannteste neuropathologische Folge des Alkoholismus ist die Wernicke-Enzephalopathie, die charakterisiert ist durch degenerative Veränderungen, Gliose und kleine Einblutungen mit Schwerpunkt im Zwischenund Mittelhirn. Besonders betroffen sind dienzephale limbische Strukturen, die um den 3. Ventrikel und den Aquädukt herumliegen (medialer Thalamuskern, Corpus mammillare, Tegmentum des Mittelhirns) und eine enge Beziehung zum limbischen Endhirn haben, außerdem das Kleinhirn. Das klinische Bild des Wernicke-KorsakowSyndroms, nämlich Amnesie, Störungen der Augenmotilität, Ataxie, emotionale Verflachung und Desorientierung kann aus der hirnregionalen Verteilung der Pathologie und der daraus resultierenden Störung der betroffenen funktionellen Systeme im Zwischen-, Mittelund Kleinhirn hergeleitet werden. Andere neuropathologische Veränderungen bei chronischem Alkoholismus sind zentrale pontine Myelinolyse, Marchiafava-Syndrom und fetales Alkoholsyndrom (Mann u. Widmann 1995).
Morphologische Befunde Morphometrische Untersuchungen des Kleinhirns von Alkoholikern ergaben signifikante Verminderungen der Purkinje-Zellen im Kleinhirn und Schrumpfungen der molekularen und granulären Zellschichten; eine zerebelläre Atrophie wird etwa bei der Hälfte der Alkoholiker angetroffen. Alkohol allein kann zerebelläre Schäden verursachen; bei der Wernicke-Enzephalopathie wurde ein ernährungsbedingter Thiaminmangel mitverantwortlich gemacht (Victor et al. 1989). Erweiterungen kortikaler Sulci und der Ventrikel sind ein häufiger Befund im CT und MRT von Alkoholikern
(Mann u. Widmann 1995). Dem entsprechen reduzierte Nervenzellzahlen im frontalen Kortex und ein geschrumpftes Einzelzellvolumen im zingulären, motorischen und temporalen Kortex. Die kortikale Atrophie ist bis zu einem gewissen Grad nach längerer Abstinenz reversibel (Mann u. Widmann 1995), besonders bei jüngeren Individuen und bei kurzer Abhängigkeitsdauer. Bereits eingetretene Verluste an zerebellären und kortikalen Neuronen sowie die morphologischen Schäden im Zwischen- und Mittelhirn bei Wernicke-Enzephalopathie sind aber irreversibel. Die Hippokampusformation scheint besonders empfindlich gegenüber Alkoholmissbrauch in der Adoleszenz zu sein. Bei jugendlichen Trinkern wurde nach längerem Alkoholmissbrauch eine signifikante Volumenreduktion dieser Struktur kernspintomografisch nachgewiesen (De Bellis et al. 2000).
Menge des konsumierten Alkohols und Hirnschädigung Von beträchtlichem Interesse ist die Frage, ob bereits moderates, aber regelmäßiges Trinken Hirnschäden verursachen kann. Da die Definition von dem, was als moderates Trinken anzusehen ist, erheblichen soziokulturellen Einflüssen unterliegt, wurde für wissenschaftliche Zwecke ein täglicher Alkoholkonsum von 40–80 g als »moderat« definiert. In einer Post-mortem-Studie wurden bei »moderaten« Trinkern ein nichtsignifikanter Trend zur Hirngewebsschrumpfung und eine signifikante Retraktion an Dendriten kortikaler Neurone beschrieben (Harper et al. 1985).
5.2.3
Morbus Alzheimer
Im Hinblick auf die umfangreiche Literatur über die hirnpathologischen Grundlagen der Alzheimer-Krankheit
5
116
5
Kapitel 5 · Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
und auf mehrere exzellente Übersichtsarbeiten wird an dieser Stelle auf eine eingehendere Darstellung verzichtet. Herausgehoben werden hier aber neuere Befunde, die eine Einteilung der Krankheit in Schweregrade auf hirnpathologischer Basis und eine Verbesserung der Diagnostik mit bildgebenden Techniken ermöglichen.
5.3
Problematik der neuropathologischen Erforschung psychischer Krankheiten
5.3.1
Neuropathologische Befunde bei psychischen Erkrankungen
Bedeutung der senilen Plaques und Neurofibrillenveränderungen
Schizophrenien und affektive Psychosen
Die wichtigsten mikroskopischen Merkmale der Erkrankung, die im Zwischenzellraum liegenden amyloidhaltigen Plaques und die in den Nervenzellen liegenden neurofibrillären Entartungen haben eine unterschiedliche hirnregionale Verteilung. Während die Plaques ubiquitär in der Hirnrinde verteilt sind, sind die Fibrillen im Anfangsstadium der Erkrankung fast ausschließlich in der parahippokampalen Region anzutreffen. Sie breiten sich von hier aus über den Hippokampus, den übrigen limbischen und paralimbischen Kortex und schließlich auf das gesamte Gehirn aus, behalten ihren Schwerpunkt aber im limbischen mesiotemporalen Bereich (Braak u. Braak 1991). Der Beginn der Erkrankung im limbischen System erklärt, dass unter den klinischen Erstsymptomen neben mnestischen Problemen häufig emotionale und wahnhafte Symptome angetroffen werden, die die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu depressiven Syndromen der zweiten Lebenshälfte, paranoiden Entwicklungen und Spätschizophrenien sehr schwierig machen können.
Molekularbiologische Grundlagen Auch auf molekularbiologischer Ebene differieren Plaques und Fibrillen. Der im Zentrum der Plaques liegende Amyloidanteil besteht aus aggregiertem β-A4-Protein; dieses entsteht durch pathologische Abspaltung aus dem Amyloid-Vorläuferprotein (APP), dessen Gen auf dem Chromosom 21 lokalisiert ist. Die Entstehung der Plaques beansprucht einen Zeitraum von Jahrzehnten und geht dem Auftreten der ersten klinischen Symptome lange voraus. Die Hauptkomponente der Neurofibrillenbündel ist das τ-Protein, dem unter physiologischen Bedingungen eine stabilisierende Funktion der intraneuronalen Transportwege, der Mikrotubuli, zugesprochen wird. Durch pathologische Phosphorylierung des τ-Proteins kommt es zur Bildung der Fibrillenbündel und Unterbrechung des intraneuronalen Transports. Für die Ätiologie der Alzheimer-Krankheit ist ein inhomogenes Ursachengefüge anzunehmen. Für den kleinen Teil erblich bedingter Erkrankungen mit Genmutationen auf den Chromosomen 21, 14 und 1 liefert die Amyloidkaskaden-Hypothese eine plausible Erklärung (Frölich u. Hoyer 2002). Für den größeren Teil sporadischer Alzheimer-Fälle wurde bislang keine eindeutige Ätiologie gesichert.
Bei Schizophrenien und affektiven Psychosen dominierte lange Zeit die Meinung, dass neuropathologische Substrate nicht existierten. Die neuere Forschung konnte aber durch morphometrisch-statistische und neuere histochemische postmortale Untersuchungen wie auch in vivo mit struktur- und funktionsbildgebenden Verfahren nachweisen, dass bei vielen dieser Patienten moderate Veränderungen in bestimmten Hirnregionen vorhanden sind. Das Ausmaß der beschriebenen makroskopischen oder histologischen Veränderungen reicht aber an das, was wir von bekannten hirnorganischen Erkrankungen kennen, nicht heran; die Veränderungen sind inhomogen (d. h. Art und Lage differiert) und sind nur bei einem Teil der bisher als »endogen psychotisch« diagnostizierten Patienten anzutreffen. Oft bedarf es aufwändiger statistischer Verfahren, um Gruppendifferenzen zu psychisch gesunden Vergleichsfällen nachzuweisen. Es gibt deutliche Überlappungen zwischen Patienten- und Kontrollgruppen und die untersuchten morphologischen Parameter vieler Patienten liegen im Normbereich. Pathognomonische Hirngewebsalterationen, anhand derer die nach den gängigen Klassifizierungssystemen definierten schizophrenen und affektiven Erkrankung sicher differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden könnten, wurden bis jetzt nicht gefunden. Es liegt hier somit eine ganz andere Qualität hirnpathologischer Veränderungen vor als wir sie von Krankheiten aus dem Gebiet der Neurologie oder von Hirnabbauprozessen her kennen.
Neurosen und Persönlichkeitsstörungen Im Gegensatz zur großen Zahl von hirnstrukturellen Untersuchungen an schizophrenen Patienten, gibt es kaum neuropathologische und relativ wenige strukturbildgebende Untersuchungen bei affektiven Psychosen. Bei den sog. Neurosen oder Persönlichkeitsstörungen wurden bislang noch überhaupt keine hirnpathologischen Studien durchgeführt. Das ist nicht verwunderlich, da hier psychosoziale Faktoren oder Variationen normaler Persönlichkeitszüge (aber auch genetische Faktoren!) als Ursachen angenommen werden. Auch bei den letztgenannten Krankheitsgruppen sind hirnstrukturelle Vulnerabilitätsfaktoren durchaus denkbar oder zumindest nicht widerlegt, da diesbezügliche Post-mortem-Studien fehlen. Jedoch konnte durch CT-Untersuchungen eine Erweiterung äußerer Liquorräume bei Patienten mit Agoraphobie nachgewiesen werden (Wurthmann et al. 1999).
117 5.4 · Schizophrenien
Erklärungsmodelle zur inhomogenen Hirnpathologie Es gibt mehrere Erklärungsmöglichkeiten für den Mangel an offensichtlichen und homogenen hirnpathologischen Substraten bei den genannten psychiatrischen Krankheitsbildern. Eine Erklärung liegt darin, dass – im Gegensatz zu den klassischen hirnorganischen Psychosyndromen – Schizophrenien und affektive Psychosen keine Krankheitseinheiten, sondern durch Konventionen geschaffene diagnostische Konstrukte sind, deren hirnbiologische Ursachen so verschiedenartig sein können wie die klinischen Symptome. Wie von internistischen Erkrankungen bekannt, können ähnlicher Symptomatik unterschiedliche hirnbiologische Substrate mit gemeinsamer funktioneller Endstrecke zugrunde liegen (vgl. z. B. Fieber, Bluthochdruck). Andererseits ist es denkbar, dass die Gehirne vieler dieser Patienten eine völlig normale Struktur haben, dass aber reversible neurochemische Störungen oder stressabhängige Transmitter- oder Neurohormonveränderungen die psychische Erkrankung verursachen. Eine andere Erklärung ist, dass histopathologische Veränderungen bei den typischen psychischen Erkrankungen so subtil sind, dass sie von den traditionellen auf qualitativer Hirngewebsbeurteilung beruhenden Methoden neuropathologischer Forschung übersehen wurden oder dass sie in Hirnarealen oder Neuronen- oder Gliazelltypen oder Nervenzellfortsätzen liegen, die bisher nicht untersucht wurden. Ein Beispiel für ein lange Zeit übersehenes Hirnsystem ist das limbische System, dessen funktionelle Bedeutung erst in den 1950er Jahren voll erkannt wurde (McLean 1952) und das in der Hirnpathologie und Pathophysiologie psychischer Störungen derzeit zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die intrazerebralen Neurotransmittersysteme wurden erst in den 1960er Jahren entdeckt (Dahlström u. Fuxe 1964), 10 Jahre später die neuropeptidhaltigen Zellgruppen (Übersicht s. Nieuwenhuis 1985). Trotz der enormen Bedeutung für die Theorie und Pharmakologie psychischer Erkrankungen wurden erst in letzter Zeit systematische histopathologische Untersuchungen dieser Zellgruppen durchgeführt.
5.3.2
Historische Aspekte der neuropathologischen Psychoseforschung
Der Grund für das lange Zeit zurückhaltende Interesse der Hirnpathologie an psychischen Erkrankungen ist zum einen in der Erfolglosigkeit der neuropathologischen Schizophrenieforschung in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu suchen, zum andern wohl auch darin, dass in der Psychiatrie dualistische Einstellungen zum GehirnGeist-Problem weit verbreitet waren.
Historische Daten zur hirnpathologischen Erforschung von Geisteskrankheiten, durch die dualistische Sichtweisen relativiert wurden, sind in ⊡ Tab. 5.2 dargestellt. Folgende bahnbrechende Fortschritte, die auch zum besseren Verständnis der Hirnbiologie psychotischer Syndrome beigetragen haben, seien hervorgehoben: Hess entdeckte 1949, dass elementare Triebe und Emotionen durch direkte elektrische Stimulation des Zwischenhirns hervorgerufen werden können; McLean erkannte 1952 die Bedeutung des limbischen Systems für die neuronale Modulation der Gefühle und Emotionen; die intrazerebralen Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin wurden erstmals 1964 von Dahlström und Fuxe lokalisiert; die neuroanatomischen Grundlagen der kortikalen Integration und Assoziation sensorischen Inputs wurden 1970 von Jones und Powel beschrieben; das erste integrative, mehrdimensionale Modell, das hirnphysiologische, psychologische, verhaltensbiologische und pharmakologische Aspekte eines psychischen Symptoms zusammenfasste, wurde 1982 von Gray am Beispiel der Angst vorgestellt.
5.4
Schizophrenien
5.4.1
Entwicklung der hirnpathologischen Schizophrenieforschung
Nachdem sich auf dem ersten Internationalen Kongress für Neuropathologie, der 1952 in Rom stattfand, die Meinung durchgesetzt hatte, dass hirnanatomische Alterationen bei schizophrenen Patienten nicht nachweisbar seien, kam es in der Folgezeit – bis Anfang der 1980er Jahre – zu einem Stillstand dieser Forschungsrichtung; statt dessen rückten tiefenpsychologische sowie transmitterchemische Erklärungsversuche der Erkrankung in den Vordergrund. Das Interesse an der Hirnstruktur Schizophrener wurde durch die Einführung der Computertomografie in die Psychiatrie wieder belebt. 1976 konnten Johnstone et al. erstmals computertomografisch nachweisen, dass Schizophrene im statistischen Mittel weitere innere Liquorräume haben als neuropsychiatrisch Gesunde und bestätigten damit ältere pneumenzephalografische Untersuchungen (Huber 1961). Nachdem die ersten CT-Befunde bestätigt wurden, kam es zu einer Flut von Computer- und später kernspintomografischen Untersuchungen der inneren sowie äußeren Liquorräume Schizophrener. Über diese Studien liegen mittlerweile mehrere Metaanalysen vor, in denen überzeugend nachgewiesen werden konnte, dass trotz Abweichungen in Einzelergebnissen in computertomografischen Untersuchungen ca. 30–50%
5
118
Kapitel 5 · Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 5.2. Daten zur Geschichte der Hirnanatomie und Psychiatrie
5
6.–4. Jh. v. Chr.
Vorsokratiker: Demokrit: Denken und Empfinden haben eine materielle Grundlage Hippokrates: Epilepsien und Psychosen sind Folgen einer Gehirnirritation
4. Jh. v. Chr.
Aristoteles: Herz ist Sitz von Verstand und Empfindung, Gehirn ist Kühlorgan, sondert Nasenschleim ab
8. Jh. n. Chr.
Galen: Entdeckung der Hirnkammern
1662
Descartes: Zirbeldrüse vermittelt zwischen Geist und Körper
Ende 18. Jh.
Gall: Phrenologie und Kranioskopie Flourens: Hirn-Holisten vs. -Regionalisten Seelenheilkunde: Somatiker vs. Psychiker
1822
Bayle: Beschreibung der progressiven Paralyse
1861
Broca: Fall Leborgne, motorische Aphasie
1867
Griesinger: Geisteskrankheiten sind Hirnkrankheiten
1868
Harlow: Fall Phineas Gage, Stirnhirnsyndrom
1874
Darwin: Körper und Geist sind Produkte einer biologischen Evolution
Jahrhundertwende
Cajal, Golgi, Nissl: Neuronenlehre (Nobelpreis 1906) Sherrington: Konzept der Synapse Alzheimer: Beschreibung der hirnanatomischen Grundlagen der Demenzen, der Epilepsien, der progressiven Paralyse und der Psychosen Kraepelin: Systematik psychischer Erkrankungen Freud: Psychoanalyse Pawlow, Thorndike: klassisches und operantes Konditionieren, Grundlagen der Verhaltenstheorie und -therapie
1949
Hess: Intrahypothalamische Stimulation (Auslösung elementarer Triebe und Emotionen durch elektrische Reizung des Gehirns)
1952
McLean: Konzept des limbischen Systems, 1. Internat. Kongress für Neuropathologie, Einführung antipsychotisch wirksamer Neuroleptika
1965
Dahlström, Fuxe: Entdeckung der intrazerebralen Transmittersysteme
1970
Jones, Powel: Neuroanatomische Grundlagen der kortikalen Informationsverarbeitung
1975
Huges, Kosterlitz: Entdeckung der Endorphine (Neuropeptide)
Etwa seit 1980
Struktur- und funktionsbildgebende Untersuchungen des Gehirns durch Computertomografie (CT), Kernspintomografie (MRT), Positronenemissionstomografie (PET) und Single-Photon-Emissionstomografie (SPET)
Etwa seit 1990
Funktionskernspintomografie (fMRT) und Magnetenzephalografie (MEG)
der Schizophrenen eine Erweiterung der Seitenventrikel um im Mittel 30%, des 3. Ventrikels und der zerebralen Sulci sowie in kernspintomografischen Studien eine Verminderung des Gesamthirnvolumens (3%), der Temporallappen bilateral (links 6%, rechts 9,5%) und des Amygdala-Hippokampus-Komplexes ebenfalls bilateral (ca. 8% beidseits) aufweisen (Lawrie u. Abukmeil 1998; Wright et al. 2000; ⊡ Abb. 5.8). Nach dem überzeugenden Nachweis geringgradiger, aber hochsignifikanter Erweiterungen des Ventrikelsystems bei schizophrenen Patienten durch computertomografische Untersuchungen, erwachte Mitte der 1980er Jahre wieder das Interesse an der postmortalen Forschung an Gehirnen Schizophrener.
5.4.2
Befunde der neueren Schizophrenieforschung
Neben den häufig replizierten Befunden zu Erweiterungen der inneren und äußeren Liquorräume stehen heute Untersuchungen an limbischen Strukturen, am Thalamus, zur kortikalen Architektur, an den Basalganglien, Dendriten und Synapsen sowie Befunde einer gestörten kortikalen Strukturasymmetrie im Zentrum des Interesses. In den letzten 15 Jahren wurden etwa 50 neuropathologische oder MRT-Studien limbischer Strukturen publiziert (Übersichtsarbeiten s. Bogerts 1999; Harrison 1999). Die große Mehrzahl dieser Studien beschrieben in limbischen Arealen subtile Strukturdefekte wie Volumenreduktionen, verminderte Zellzahlen, zytoarchitektonische Veränderungen oder Konfigurationsanomalien im Hippokampus, der parahippokampalen Rinde, dem Mandelkern, im Gyrus cinguli, im Septum sowie im Orbitalhirn. Es wurde auch über pathologische Alterationen in Bezir-
119 5.4 · Schizophrenien
Abb. 5.8a–e. Hirnsubstanzreduktion bei schizophrenen Patienten (alle Pat.<30 Jahre). a Erweiterung der seitlichen Hirnkammern, b Erweiterung der 3. Hirnkammer, c Arachnoidalzyste links mit Temporalhornerweiterung, d kortikale Sulkuserweiterung, e Hippokampushypoplasie
ken des Thalamus und des Kleinhirns berichtet, die mit dem limbischen System in enger Beziehung stehen (Pakkenberg 1990; Katsetos et al. 1997). Temporolimbische Strukturen. Seit Mitte der 1990er Jahre
wurde eine große Zahl neuropathologischer oder MRTStudien an limbischen Strukturen publiziert (Übersichtsarbeiten s. Bogerts 1997; Wright et al. 2000; Narr et al. 2001; Harrison 2004). Bei weitem die meisten dieser Studien beschrieben in limbischen Arealen subtile Strukturdefekte wie Volumenreduktionen, verminderte Zellzahlen, zytoarchitektonische Veränderungen oder Konfigurationsanomalien im Hippokampus, in der parahippokampalen Rinde, dem Mandelkern, dem Gyrus cinguli, im Septum sowie im Orbitalhirn. Dabei wurde ein signifikanter Zusammenhang zwischen verringertem Hippokampusvolumen und Geburtskomplikationen festgestellt (McNeil et al. 2000). Aufgrund schizophrenieähnlicher Symptome bei organischen Läsionen des limbischen Systems wird seit langem vermutet, dass bestimmte Hirnfunktionsstörungen Schizophrener in limbischen Strukturen, insbesondere im medialen Temporallappen, zu suchen sind. Wie oben dargestellt, liegen dort die zentralen limbischen Schlüsselstrukturen als zentrale Konvergenzstellen von Informationen aus den höheren kortikalen Assoziationsarealen, des Frontal-, Temporal- und Parietalhirns (⊡ Abb. 5.8c,d). Sie spielen eine zentrale Rolle in der Analyse von situativem Kontext, in der Reizausfilterung und beim Vergleich von vergangener mit gegenwärtiger Erfahrung. Diese Strukturen sind als höchste kortikale Integrations- und Assoziationsareale anzusehen und nehmen zugleich eine Vermittlerstellung zwischen neokortikal-kognitiven Aktivitäten
und entwicklungsbiologisch alten neuronalen Reaktionsweisen des Septum-Hypothalamus-Hirnstamm-Bereiches ein. Es ist deshalb vorstellbar, dass Struktur- und Funktionsstörungen in temporolimbischen Arealen zu einer Dissoziation zwischen höheren kognitiven Prozessen und elementaren emotionalen Reaktionsformen führen. In dieser Entkopplung von Kognition und Emotion sah Bleuler eine Grundstörung schizophrener Erkrankungen. Kortikale Volumenreduktion. Es mehren sich Hinweise,
dass zusätzlich zu temporolimbischen Alterationen ausgedehntere kortikale Volumenreduktionen bei Schizophrenen vorliegen. Durch mehrere kernspin- und computertomografische Arbeiten (Raz 1993; Schlaepfer et al. 1994) konnte gezeigt werden, dass der heteromodale Assoziationskortex (dorsolateraler präfrontaler Kortex, unterer Parietallappen und obere Temporalwindung), nicht aber die okzipitalen und sensomotorischen kortikalen Volumina verkleinert sind. Eine Volumenreduktion des heteromodalen Assoziationskortex scheint spezifisch für schizophrene Kranke zu sein; bei affektiven Psychosen konnten derartige Veränderungen nicht gefunden werden. Der Befund unterstützt die Auffassung, dass bei Schizophrenen neben limbischen Funktionen auch die Funktion höherer kortikaler Assoziationsareale gestört ist. Eine Reihe anderer Untersuchungen zeigte, dass auch makroskopische Parameter des Hirns geringgradig reduziert sind. Ein um wenige Prozentpunkte verringertes Hirnvolumen, ein verringerter anterior-posteriorer Durchmesser sowie eine diffuse Erweiterung des äußeren Liquorraumes wurden mehrfach beschrieben (Steen et al. 2006).
5
120
Kapitel 5 · Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Thalamus. Neben Befunden im Frontalkortex und lim-
5
bischen System wurde auch über pathologische Auffälligkeiten in Kernen des Thalamus berichtet, die mit dem frontalen Kortex und limbischen System in enger Beziehung stehen (Pakkenberg 1990; Young et al. 2000). Insbesondere der Nucleus anterior des Thalamus, der dem limbischen System zuzurechnen ist und zum Gyrus cinguli projiziert, sowie der mediodorsale Thalamuskern, der bidirektional mit dem präfrontalen Kortex verbunden ist, scheinen in den Krankheitsprozess miteinbezogen zu sein. Im vorderen Thalamuskern wurde eine selektive Reduzierung von Parvalbumin-haltigen Neuronen (inhibitorische Projektionsneurone) um 40% nachgewiesen (Danos et al. 1998). Weiterhin gelangen Nachweise von Substanzdefekten im periventrikulären Grau des Thalamus (Lesch u. Bogerts 1984) sowie einer verminderten Dichte von Glutamat-(NMDA-)Rezeptoren im Thalamus (Ibrahim et al. 2000). Der Befund einer geringgradigen Volumenreduktion des thalamischen Gesamtvolumens kann mittlerweile auch kernspintomografisch als gesichert gelten (Staal et al. 1998). Neuropil und inhibitorische Interneurone. Eine Studie
von Zelldichten und Kortexdicke im dorsolateralen präfrontalen Kortex ergab eine Gewebsschrumpfung bei erhaltener Zellzahl, was auf einen Verlust des interzellulären Gewebes, des sog. Neuropils, bestehend aus Nervenfasern, Synapsen, Axonen und Dendriten, hinwies (Selemon u. Goldman-Rakic 1999; ⊡ Abb. 5.9) Dies war keine Folge neuroleptischer Behandlung, da Neuroleptika entgegengesetzte Effekte zeigten. Außerdem sprechen weitere Indizien dafür, dass es sich bei den Veränderungen im Frontalkortex nicht um Zellausfälle – wie bei klassischen neurodegenerativen Erkrankungen – handelt, sondern um subtilere Alterationen im subzellulären, synaptischen und dendritischen Bereich (Jarskog 2006). Da-
bei sind hauptsächlich inhibitorische Komponenten und Interneurone betroffen. Dies ergibt sich aus den folgenden Befunden: Reduzierte Interneuronenzahlen im Gyrus cinguli (Benes 1995), veränderte Expression Parvalbumin- und Calbindinhaltiger inhibitorischer Neurone (Woo et al. 1997), Verminderung synaptischer Proteine und dendritischer Spines an frontalen Pyramidenzellen und im Hippokampus (Glantz u. Lewis 1997, 2000; Sawada et al. 2005), Störung der präfrontalen GABAergen Neurotransmission (Lewis et al. 2005), Reduktion des für die Signaltransduktion wichtigen Proteins GSK-3 (Kozlovsky et al. 2000), verminderte Expression des GABA-synthetisierenden Enzyms Glutamatdecarboxylase in einer Untergruppe frontaler Interneurone (Dracheva et al. 2004; Akabarian u. Huang 2006) sowie verminderte inhibitorische Axonterminale der sog. Chandelier-Neurone (Konopaske et al. 2006). Somit kann kein Zweifel daran bestehen, dass zumindest in dem bislang am meisten untersuchten frontalen Bereich, dem dorsolateralen präfrontalen Kortex, Defekte auf histologischer Ebene in den zwischen den Nervenzellkörpern liegenden neuronalen Schaltelementen, insbesondere inhibitorische Interneurone betreffend, vorliegen (Bogerts 2002). Gliazellen. Tradierter Schwerpunkt der neuropathologischen Schizophrenieforschung auf histologischer Ebene waren stets die Neurone, d. h. die Nervenzellkörper mit ihren Fortsätzen, was verständlich erscheint, da in den Nervenzellen das hirnbiologische Substrat höherer kognitiver und emotionaler Aktivitäten gesehen wird. Typische pathologische Veränderungen an Nervenzellen, wie sie von anderen Hirnerkrankungen bekannt sind (degenerative Alterationen, Apoptose verbunden mit Zellausfällen und gliöser Reaktion) konnten aber weder durch die umfangreiche ältere noch die neuere hirnpathologische Schizophrenieforschung trotz erheblichen Aufwandes gefunden werden.
! Die Art der bei Schizophrenen vorliegenden Hirnpathologie differiert somit grundsätzlich von der, wie sie von gut definierten Hirnkrankheiten bekannt ist.
⊡ Abb. 5.9. Geschrumpfte Zwischenzellsubstanz (Neuropil) im präfrontalen Kortex Schizophrener. (Mod. nach Selemon u. GodmanRakic 1999)
Lange Zeit unbeachtet blieb die bei weitem häufigste Zellart im Gehirn, dass sind nicht die Nervenzellen sondern die Gliazellen. Die Glia (griechisch: Leim, Kitt) wurde lange Zeit ausschließlich als eine Art Füllsubstanz zwischen den Neuronen angesehen, die dem Hirn seinen Halt gibt. Die einzelnen Gliazelltypen sind aber in eine Vielzahl von metabolischen mit den Neuronen interagierenden Pro-
121 5.4 · Schizophrenien
zessen eingebunden: Die Astroglia umgibt die Synapsen und greift in die dort stattfindende Neurotransmission ein, den Astrozyten kommen auch umfangreiche neurotrophe Funktionen zu, insbesondere an der NMDA-Synapse; zudem bilden ihre Ausläufer die Blut-Hirn-Schranke. Die Oligodendrozyten sind zuständig für die Myelinisierung und neuronale Migration, die Mikroglia ist an der intrazerebralen Immunmodulation beteiligt (Übersicht s. Cotter et al. 2001 b). In Gegensatz zur reaktiven Gliose, wie sie bei degenerativen, vaskulären und entzündlichen Hirnerkrankungen vorliegt, wurde in mehreren kortikalen und limbischen Regionen sowohl im Nissl-Bild als auch mit immunhistochemischen Färbemethoden eine Abnahme von Astroglia und Oligodendroglia berichtet (Cotter et al. 2001 a; Moises et al. 2002; Rajkowska et al. 2002). Eines der Kandidatengene für Schizophrenie, nämlich Neuregulin-1, ist wichtig für die Steuerung der Ologodendrogliafunktion und Myelinisierung; mehrere Microarray-Studien konnten übereinstimmend zeigen, dass die Expression von Genprodukten, die bei der Myelinisierung bedeutsam sind, gestört ist (Miklos u. Maleszka 2004). Studien, die hypothesenfrei DNA- und mRNA-Profile mittels Microarray-Techniken untersuchten, fanden im frontalen Kortex Defekte mehrerer Myelinisierungs-relevanter Gene, die an Oligidendroglia gebunden sind (Bahn 2002; Hof et al. 2002). Das lässt darauf schließen, dass die Feinstruktur und Funktion der großen markhaltigen intrazerebralen Bahnen beeinträchtigt ist. Mittels DTI (»diffusion tensor imaging«) konnten tatsächlich Alterationen der Fasertrakte, die Frontal- und Temporalhirn verbinden demonstriert werden (Kubicki et al. 2002). Das astrozytäre Protein S100B, das in neuronale und gliale Zelldifferenzierungsvorgänge eingreift, ist bei Schizophrenen erhöht, was als allgemeiner Hinweis auf eine bei Schizophrenen vorliegende Hirnpathologie gewertet wurde (Rothermundt et al. 2004). Derzeit zeichnet sich eine Situation ab, die es immer wahrscheinlicher erscheinen lässt, dass ein Schwerpunkt der zytolopathologischen Hirngewebsalterationen bei Schizophrenen nicht in neuronalen Veränderungen liegt, sondern in den Zellpopulationen, die lange Zeit ignoriert wurden, nämlich den Gliazellen.
Dopaminerge, glutamaterge und GABAerge Neurone Dopamin. Bei der Beurteilung der Bedeutung von Dopa-
min in der Pathophysiologie psychotischer Symptome ist zu beachten, dass dieser Transmitter in verschiedenen Hirnsystemen sehr unterschiedliche Wirkungen entfaltet. Die Dopamin-synthetisierenen Neurone, die ausnahmslos im ventralen Mittelhirn liegen (Substantia nigra, Area tegmenti ventralis) beeinflussen im nigrostriatalen System (Projektionsorte hier sind hauptsächlich Caudatum und Putamen) extrapyramidalmotorische Funktionen, im mesolimbischen System (Projektionsorte: Nucleus ac-
cumbens, Mandelkern, Hippokampus, parahippokampale Rinde) emotionale und Gedächtnisfunktionen, im hypothalamischen System endokrine und vegetative Regulationen und im mesokortikalen System (Projektionsorte sind frontaler und temporaler Neokortex) kognitive Funktionen. Wegen der hirnregionalen Verteilung der oben erwähnten pathomorphologischen Befunde bei Schizophrenen liegt es nahe, dass eine Dysfunktion der mesolimbischen und mesokortikalen Anteile des Dopaminsystems in der Pathophysiologie und Pharmakotherapie schizophrener Psychosen eine bedeutsamere Rolle spielen als die striatalen und hyothalamischen Zielorte. Die Dopamintheorie, in deren ursprünglichen Form angenommen wurde, dass die erhöhten Konzentrationen von Dopaminrezeptoren oder von Dopamin selbst Krankheitsursache seien, konnte so nicht aufrechterhalten werden. Direkte Messungen von Dopamin oder dessen Metaboliten im postmortalen Hirngewebe von Schizophrenen erbrachten keine replizierbaren Konzentrationserhöhungen; anfängliche Berichte über eine erhöhte Dichte von D2- oder D4-Rezeptoren konnten entweder nicht bestätigt werden oder erwiesen sich als Folge neuroleptischer Behandlung. Mehrere Studien bestimmten die Konzentration von D2-Rezeptoren mit Hilfe verschiedener Radioliganden mittels Positronemissionstomografie, wobei überwiegend das Corpus striatum als Areal mit der höchsten D2-Rezeptordichte untersucht wurde. Auch hier konnten anfängliche Befunde erhöhter Werte bei Patienten nicht bestätigt werden oder erwiesen sich als Kunstprodukt einer neuroleptisch bedingten Hochregulation (Abi-Dargham et al. 2000; Laruelle 2003). Glutamat. Glutamat ist als wichtigste exzitatorische neu-
ronale Überträgersubstanz des Gehirns der Transmitter der gesamten von den Pyramidenzellen ausgehenden efferenten und afferenten intrakortikalen und kortikofugalen sowie der thalamisch-kortikalen Signaltransduktion. Von daher kann erwartet werden, dass selbst geringgradige Störungen der glutamatergen Neurotransmission eine erhebliche Desorganisation höherer Hirnfunktionen zur Folge hat. Die beste Modellpsychose für schizophrene Erkrankungen ist die Phencyclidin(PCP)-Psychose. PCP reduziert die glutamaterge Übertragung am N-methyl-DAspartrat-(NMDA-)Subtyp der Glutamatrezeptoren. Ähnliche Wirkung hat Ketamin, ebenfalls ein NMDA-Rezeptorantagonist. Deshalb wurde vermutet, dass psychotische Symptome mit einer Hypofunktion von NMDARezeptoren zusammenhängen (Übersicht s. Moghaddam u. Krystal 2002). Mehrere Post-mortem-Studien fanden eine Reduktion des NMDA-Subrezeptors NR1 im Temporalkortex oder Thalamus, sowie des Glutamat-AMPAoder -kainat-Rezeptors im Hippokampus und Temporallappen (Meador-Woodruff et al. 2001). Das Neuropeptid N-acetylaspartyly-Glutamat (NAAG), das Ligand für einige Glutamatrezeptor-Subtypen ist, soll im Post-mortem-
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Kapitel 5 · Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Gehirn von Schizophrenen erhöht sein, verbunden mit einer Reduktion des dieses Peptid abbauenden Enzyms NAALADase in Hippokampus und präfrontalem Kortex (Coyle 2004). Eine modifizierte Theorie zur NMDA-Rezeptor-Hypofunktion zur Schizophrenie besagt, dass es hierdurch zur mangelhaften Aktivierung inhibitorischer Interneurone im limbischen Kortex kommt und infolge dessen zu einer durch chronische Überfunktion der nachgeschalteten Neurone verursachten Struktur- und Funktionsschädigung des limbischen Systems (Olney u. Farber 1995),.
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GABA. Gamma-aminobuttersäure (GABA) ist ein ubiqui-
tär im Hirn vorkommender hemmender Neurotransmitter. GABA ist im Kortex, limbischen System und Thalamus in Interneuronen enthalten und wird dort aus Glutamat durch das Enzym Glutamat-Decarboxylase (GAD) hergestellt. Etwa 20% der kortikalen und thalamischen Nervenzellen sind inhibitorische GABAerge Interneurone (Benes u. Berretta 2001). Im Corpus striatum (bestehend aus Caudatum, Putamen und Nucleus accumbens) hingegen ist die überwiegende Mehrzahl der Nervenzellen GABAerg und projiziert zu Pallidum und Substantia nigra. Die Vermutung liegt nahe, dass psychotische Symptome wie Halluzinationen, beeinträchtigte Ausfilterung unrelevanter Reize, Desorganisation der Denkvorgänge, sowie die bei Schizophrenen anzutreffende verminderte Präpulse-Hemmung durch eine Beeinträchtigung inhibitorischer zerebraler Prozesse und deshalb durch eine Störung GABAerger Mechanismen mitverursacht sein könnte. Somit lag es auf der Hand, Indikatoren der inhibitorischen Neurotransmission wie den Transmitter GABA selbst, das synthetisierende Enzym GAD (Isoformen GAD65 und GAD67), GABA-Rezeptoren oder bestimmte Neuropeptide, die mit GABA in Interneuronen kolokalisiert sind, das sind die kalziumbindenden Proteine Parvalbumin, Calretinin und Calbindin, in Hirnen Schizophrener zu untersuchen. Einige Untersuchungen ergaben reduzierte mRNA für GAD65 oder GAD67 im Hippokampus und Frontalkortex sowie des GABA-Transporters GAT in inhibitorischen Synapsen des Frontalkortex (Volk et al. 2001). Umgekehrt wurde eine Hochregulation von GABAA-Rezeptoren im Hippokampus beschrieben und diese wiederum auf einen Verlust GABA-haltiger Synapsen und Neurone zurückgeführt (Benes u. Beretta 2001). Andere Arbeiten berichten über unveränderte Marker für GABA oder sogar erhöhte Konzentrationen, sodass die Befundlage auch für diesen Neurotransmitter sehr widersprüchlich bleibt. Gut repliziert ist eine frontale und temporale Verminderung der Expression von Parvalbumin, das in einer Subklasse inhibitorischer Interneurone lokalisiert ist, sowie des Peptides Reelin, das in Interneuronen der äußersten Kortexschicht liegt und während der Hirnentwicklung bei der Steuerung der Nervenzellmigration eine Rolle spielt (Impagnatiello et al. 1998).
Gen-Expression von Neuregulin und Dysbindin. In den
letzten Jahren wurden mehrere Kandidatengene für schizophrene Störungen identifiziert. Gut repliziert sind Polymorphismen für das Neuregulin-1-Gen und das Dysbindin-Gen. Deshalb stellte sich die Frage, ob im Hirngewebe Schizophrener eine veränderte Expression der Produkte dieser Gene nachweisbar ist und damit ein Brückenschlag zwischen Molekulargenetik und Pathohistologie möglich wird (Harrison u. Weinberger 2005). Mehrere Arbeiten berichteten eine erhöhte Expression des Neuropeptides Neuregulin-1 (Hashimoto et al. 2004; Hahn et al. 2006), wohingegen das Peptid Dysbindin im Frontalhirn eine leichte Reduktion aufweist (Weickert et al. 2004).
5.4.3
Ätiopathogenetische Aspekte
Schizophrenie als Hirnentwicklungsstörung In der Anfangsphase der hirnmorphologischen Schizophrenieforschung überwog die Auffassung, dass die Ventrikelerweiterungen und die Volumenreduktion nicht progredient seien; da in ersten Publikationen keine Korrelation zur Krankheitsdauer nachgewiesen wurden. Zudem konnte in den betroffenen Hirnarealen keine gliöse Reaktion gefunden werden, wie sie bei im Erwachsenenalter auftretenden Hirnerkrankungen erwartet werden müsste (Falkai et al. 1999). Deshalb erschienen progressive degenerative Veränderungen in limbischen Strukturen unwahrscheinlich; eine früh erworbene limbische Hypoplasie war mit diesen Befunden aber vereinbar (Bogerts 1999; McCarley et al. 1996). Somit sprechen frühe Befunde für die Theorie einer frühen Hirnentwicklungsstörung (Allin u. Murray 2002). Dagegen mehren sich Befunde, die dafür sprechen, dass die kortikale Pathologie progressiv ist (Zipurski et al. 1994; Gur et al. 1998). Bei kataton-schizophrenen Patienten konnte sogar eine eindrucksvolle linkshemisphärische Progression temporaler und frontaler Sulcuserweiterungen mit zunehmender Krankheitsdauer festgestellt werden (Northoff et al. 1999). Auch andere strukturbildgebende Untersuchungen konnten in Follow-up-Untersuchungen eine geringgradige über die Altersnorm hinausgehende progressive Erweiterung innerer und äußerer Liquorräume und eine diskrete Volumenabnahme frontaler und temporolimbischer Strukturen in frühen Krankheitsstadien nachweisen werden, was nahe legt, dass zu eine Hirnentwicklungsstörung eine progressive Komponente hinzukommt (de Haan u. Bakker 2004) Andererseits sind zytoarchitektonische Veränderungen in limbischen und präfrontalen kortikalen Regionen wichtige Hinweise auf eine frühe Störung der Hirnentwicklung, auch wenn die ersten Berichte von Migrationsstörungen von Zellgruppen in der parahippokampalen Region (Jakob u. Beckmann 1986; Arnold et al. 1991) wegen methodischer Probleme kontrovers diskutiert wer-
123 5.4 · Schizophrenien
den (Falkai et al. 1988 a, b; Heinsen et al. 1996; Akil u. Lewis 1997; Bernstein et al. 1998 a). Eine abnorme Anordnung und Verteilung von Nervenzellen im Hippokampus, im zingulären, frontalen und temporalen Kortex und den daran angrenzenden Schichten des subkortikalen Marklagers (Benes u. Bird 1987; Akbarian et al. 1996; Beckmann et al. 2006) passt zu früheren Befunden einer gestörten Zytoarchitektur bei Schizophrenen und ist ebenso wie ein gehäuftes Vorkommen eines Cavum septi pellucidi (Degreef et al. 1992 a) und eine abnorme kortikale Gyrifizierung (Vogeley et al. 2000) ein weiteres Indiz für eine Hirnentwicklungsstörung (Beckmann et al. 2006) Andere Untersuchungen mit strukturbildgebenden Verfahren deuteten darauf hin, dass neben genetischen Faktoren und Geburtskomplikationen auch saisonale Effekte (erhöhtes Risiko einer viralen Exposition in den Wintermonaten) eine Rolle bei den makroskopisch feststellbaren hirnanatomischen Veränderungen Schizophrener spielen (Amato et al. 1994; Cannon et al. 1993; Geddes u. Lawrie 1995; McNeil et al. 2000; Allin u. Murray 2002).
Hinweise auf eine frühe Hirnentwicklungsstörung bei Schizophrenen Fehlen einer Gliose in limbischen und kortikalen Strukturen Zytoarchitektonische Veränderungen im temporalen und frontalen Kortex Vermehrtes Auftreten eines Cavum septi pellucidi (⊡ Abb. 5.10a,b) Aufgehobene kortikale Strukturasymmetrie Fehlende Korrelation zwischen Strukturveränderung und Krankheitsdauer Keine Progression in Follow-up-Studien
⊡ Abb. 5.10a,b. Septumzyste und Cavum vergae im MRT (a) und Post-mortem-Schnitt (b) bei schizophrenem Patienten als Zeichen einer früh erworbenen Dysplasie
5.4.4
Interpretation der hirnstrukturellen Befunde bei Schizophrenen
Eine Erklärung für die Uneinheitlichkeit der hirnstrukturellen Veränderungen bei Schizophrenen ist in der biologischen und klinischen Heterogenität der Erkrankung zu suchen. Ein klarer, d. h. durch mehrere Arbeiten replizierter Zusammenhang zwischen den einzelnen Typen der Hirnsubstanzanomalien und psychopathologischen Untergruppen konnte bislang nicht etabliert werden. Eine Ausnahme macht hier das Zusammentreffen von linkstemporaler Liquorraumerweiterung und positiv-schizophrenen Symptomen (Degreef et al. 1992 b). Erweiterungen der Seitenventrikel und des 3. Ventrikels, der kortikalen Sulci sowie pathomorphologische Befunde im limbischen System sind die am besten dokumentierten morphologischen Alterationen bei Schizophrenen. Darüber hinaus wurden Substanzdefizite in kortikalen Assoziationsarealen außerhalb des limbischen Systems wiederholt beschrieben. Strukturveränderungen in heteromodalen kortikalen Assoziationsarealen sowie die aufgehobene Strukturasymmetrie des Frontal- und Okzipitallappens konnten bislang nur bei Schizophrenen, nicht aber bei affektiven Psychosen und neurotischen Patienten gefunden werden. Es scheint hier also eine gewisse Krankheitsspezifität vorzuliegen. Geht man von den neueren hirnstrukturellen Studien aus, dann sind Schizophrenien Erkrankungen des gesamten Gehirns, bei denen aber limbische Regionen und damit in enger funktioneller Verbindung stehende kortikale Assoziationsareale besonders betroffen sind. Die Ventrikelerweiterungen und limbischen Strukturdefekte Schizophrener können weder den variablen Krankheitsverlauf noch den typischen Beginn der klinischen Symptomatik im frühen Erwachsenenalter erklären. Sie sind deshalb als Vulnerabilitätsfaktoren zu betrachten, die zusammen mit anderen Faktoren (psychosoziale, biochemische, unspezifische Stressoren) Voraussetzungen zum Entstehen der Erkrankung sind.
5
124
Kapitel 5 · Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
5.5
5
Histopathologische Untersuchungen bei affektiven Störungen
Im Gegensatz zu den mehr als 100 neuropathologischen Arbeiten zur Schizophrenie, die seit der Jahrhundertwende publiziert wurden, blieb das Interesse an hirnpathologischen Untersuchungen von Patienten mit affektiven Psychosen bis heute vergleichsweise gering. Ein Grund hierfür mag darin gelegen haben, dass man unter dem Einfluss dualistischer Sichtweisen des Körper-Geist-Problems weniger geneigt war, der Emotionalsphäre hirnorganische Mechanismen beizumessen als schizophrenen Denk- und Wahrnehmungsstörungen. Erst seit wenigen Jahren gibt es morphometrisch-statistisch kontrollierte Post-mortem-Studien, die subtile neurohistologische Defekte in solchen Hirnarealen nachweisen, die mit der neuronalen Modulation unserer Gefühle in Zusammenhang gebracht werden (Baumann u. Bogerts 2001). Im hypothalamischen Nucleus paraventricularis wurde eine erhöhte Zahl Kortikotropin-ReleasingFaktor-(CRF-)haltiger Neuronen beschrieben, ein Befund, der den Hyperkortisolismus erklären könnte (Raadsheer et al. 1994). Bei Depressiven wie auch bei Schizophrenen wurde ebenfalls im Hypothalamus eine verminderte Innervation durch das Neuropeptid β-Endorphin, ein endogenes Opioid, festgestellt (Bernstein et al. 2002) sowie eine Reduktion der Immunreaktion von Neuronen mit Stickoxid-(NO-)synthetisierendem Enzym (Bernstein et al. 1998 b). Stickoxid wird u. a. eine Rolle bei der synaptischen Plastizität zugesprochen. Auch die noradrenergen und serotonergen Zellgruppen des Hirnstamms, deren Dysfunktion bei affektiven Störungen seit langem vermutet wird, weisen diskrete neurohistologische Defizite auf: Die Expression des Noradrenalin-synthetisierenden Enzyms Tyrosinhydroxylase ist bei unipolaren nichtsuizidalen Depressiven im Locus coeruleus vermindert, bei bipolaren Patienten jedoch erhöht, wodurch auf biologischer Ebene die Unipolar-bipolar-Dichotomie unterstützt wird (Baumann et al. 1999 a, b). Auch die Ursprungszellen des anderen für die Pathophysiologie wichtigen Transmittersystems des Hirnstamms, nämlich die serotonergen Neurone im dorsalen Raphekern, zeigen numerische Defizite (Baumann et al. 2002). Im vorderen Gyrus cinguli, der ein Teil des limbischen Kortex ist, wurde bei Depressiven eine verminderte Gliazelldichte und reduzierte Neuronengröße beschrieben (Cotter et al. 2001 a). Somit gibt es erste Befunde, die sowohl in den monoaminergen Zellgruppen des Hirnstamms als auch im Hypothalamus und im limbischen Kortex auf feingewebliche Veränderungen bei affektiven Erkrankungen hinweisen.
Putamen, Nucleus accumbens) und des Hippokampus kernspintomografisch (Campbell et al. 2004) und durch neuropathologische Analysen bei unipolar depressiven Patienten mehrfach repliziert werden (Bielau et al. 2005). Hier scheint der limbische Teil der Basalganglien, der Nucleus accumbens, besonders betroffen zu sein. Dass den Basalganglien nicht nur eine Bedeutung bei der Steuerung der Motorik, sondern auch in der neuronalen Modulation der Affekte zukommt, wird auch durch die Beobachtung unterstützt, dass vaskulär bedingte Schädigungen der Basalganglien häufig eine depressive Symptomatik zur Folge haben (Herrmann et al. 1993).
5.6
Zusammenfassung und Ausblick
Neuere Erkenntnisse zur funktionellen Neuroanatomie des Gehirns, insbesondere zu den Stadien der kortikalen Informationsverarbeitung und der Bedeutung des limbischen Systems tragen wesentlich zu einem besseren Verständnis der Hirnbiologie psychischer Erkrankungen bei. Eine besondere Rolle spielen die limbischen Endhirnstrukturen im medialen Temporallappen, die aufgrund ihrer anatomischen Verbindungen eine Vermittlerfunktion zwischen Neokortex und Hirnstamm und somit zwischen höheren kognitiven Prozessen und archaischen Emotionen einnehmen. Teilt man das Hirn vereinfachend in primäre und höhere Areale der sensorischen Informationsverarbeitung ein, dann geht aus den klassischen hirnpathologischen Arbeiten und der neueren hirnstrukturellen Psychoseforschung hervor, dass Schädigungen primärer sensorischer und motorischer Kortexareale Symptome verursachen, die dem Gebiet der Neurologie zugerechnet werden können, dass hingegen Störungen der höheren kortikalen Integrations- und Assoziationsorgane des Frontalhirns, Temporalhirns und des limbischen Systems psychiatrische Syndrome hervorrufen. Eine Pathologie dieser mehr psychiatrierelevanten Hirnbereiche spielt eine zentrale Rolle bei organischen Psychosyndromen (Morbus Alzheimer, symptomatische Psychosen) wie auch bei den bisher so bezeichneten »endogenen« Psychosen. Beim Wernicke-Korsakow-Syndrom sind Strukturen des limbischen Zwischen- und Mittelhirns besonders betroffen, bei affektiven Psychosen scheinen auch limbische Teile der Basalganglien gestört zu sein. Mnestische Störungen, Denkstörungen, abnorme Realitätsinterpretation, sowie die psychosetypische Dissoziation zwischen Kognition und Emotion lassen sich aus der Dysfunktion der höheren Kortexorgane und des limbischen Systems herleiten.
Perspektiven Volumenreduktion der Basalganglien. Weiterhin konnte
ein reduziertes Volumen der Basalganglien (Kaudatum,
Die hirnpathologische Erforschung der Schizophrenien und mehr noch der affektiven Psychosen steht noch im
125 Literatur
Anfangsstadium, hat aber nach dem Scheitern der hirnbiologischen Psychoseforschung in der ersten Hälfte des Jahrhunderts beachtliche Fortschritte erzielt. Die Mehrzahl der Studien berichtete über mäßiggradige, aber statistisch signifikante und replizierbare Substanzverluste makroskopisch gemessener Areale. Detailliertere histologische und zytologische Analysen dieser Areale sowie neuronaler Systeme und Zelltypen, die bisher nur unzureichend oder noch gar nicht untersucht worden sind, aber für die Theorie der Syndrome von Bedeutung sind, sind eine wichtige Aufgabe der Zukunft. Bei Schizophrenen, wahrscheinlich auch bei affektiven Störungen, sind die hirnpathologischen Befunde als Vulnerabilitätsfaktoren zu werten. Gänzlich unbekannt ist, welche anderen nichtmorphologischen biologischen Faktoren (z. B. alters- und stressabhängige) den Krankheitsverlauf der durch eine strukturelle Vorschädigung vulnerabel gewordenen Gehirne psychotischer Patienten bestimmen. Gelänge in dieser Frage ein Durchbruch, dann würde sich die therapeutische Situation entscheidend verbessern.
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Kapitel 5 · Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
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128
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Kapitel 5 · Funktionell-neuroanatomische und neuropathologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
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6 6 Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung P. Falkai, F. Schneider, G. Gründer
6.1 6.1.1
6.1.2
6.2
6.2.1 6.2.2
Strukturelle Bildgebung – 130 Strukturbildgebung in der Psychiatrie: Von der Pneumenzophalografie zur hochauflösenden Magnetresonanztomografie – 130 Bedeutung struktureller Veränderungen bei psychischen Erkrankungen – 134 Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie – 135 Magnetenzephalografie – 136 Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) – 139
6.3
6.3.1 6.3.2 6.3.3
Positronenemissionstomografie und Single-Photon-EmissionsComputertomografie – 145 Untersuchungsparadigmen – 146 Studien spezifischer psychischer Störungen – 148 Ausblick – 152 Literatur
– 152
> > Das vorliegende Kapitel fasst Beiträge aus der Bildgebungsforschung zusammen, die mittlerweile zu einem konsistenten Wissen gereift sind. Hierbei werden Aspekte der strukturellen, aber auch funktionellen Bildgebung berücksichtigt, um dem Leser zu ermöglichen, die Fülle an Literatur, die in den letzten Jahren entstanden ist, bzgl. ihrer Relevanz für die Ätiopathogeneseforschung psychiatrischer Erkrankungen zu bewerten. Selbstverständlich ist Wissenschaft im Fluss, trotzdem wurde versucht, darauf hinzuweisen, welche Befunde gut repliziert werden können und welche Befunde im Fluss sind oder möglicherweise im Folgenden nicht mehr repliziert werden können.
130
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
6.1
Strukturelle Bildgebung P. Falkai
6.1.1
6
Strukturbildgebung in der Psychiatrie: Von der Pneumenzophalografie zur hochauflösenden Magnetresonanztomografie
Der Wunsch des Menschen, psychische Vorgänge am menschlichen Gehirn direkt zu untersuchen, ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst. Erste systematische Untersuchungen der Hirnstruktur wurden durch die Pneumenzephalografie möglich (Jacobi u. Winkler 1927). Aber erst Huber und Mitarbeiter (Huber et al. 1961) führten mit Hilfe dieser Methode systematische Untersuchungen durch. Mit dieser sehr aufwendigen und für den Patienten sehr belastenden Untersuchung gelang es ihnen, nicht nur eine Erweiterung der Seitenventrikel − insbesondere des 3. Ventrikels − nachzuweisen, sondern einen Zusammenhang zwischen klinischem Verlauf und neuroradiologischen Befunden herzustellen. Mit der Einführung der Computertomografie (CT) in die Psychiatrie (Johnstone et al. 1976) wurde ein neues Kapitel der nichtinvasiven strukturellen Bildgebung bei psychiatrischen Krankheitsbildern eröffnet. Ihre Arbeitsgruppe konnte ebenfalls eine Erweiterung der Seitenventrikel bei Patienten mit einer chronischen Schizophrenie bestätigen (Johnstone et al. 1976). Erste Metaanalysen mit dieser Methodik (Raz u. Raz 1990) bestätigten eine für affektive und schizophrene Psychosen im gleichen Maße vorhandene Erweiterung der temporalen und peripheren Liquorräume. Mit der Einführung der strukturellen Kernspintomografie eröffnete sich die Möglichkeit, subkortikale Strukturen und hier insbesondere tempolimbische Areale zu untersuchen. Sie berechtigte die Hoffnung, das morphologische Substrat psychischer Erkrankungen besser lokalisieren zu können (z. B. Andreasen et al. 1986). Die parallel entwickelten Funktionsverfahren wie XenonCT und Positronenemissionstomografie (PET) bestätigten Dysfunktionen in umschriebenen Regionen wie z. B. dem Frontallappen bei schizophrenen Psychosen, und trugen entscheidend zur Aufklärung der Wirkungsweise von Neuroleptika auf das dopaminerge System bei (z. B. Farde et al. 1992). Die Einführung der funktionellen Kernspintomografie (fMRT) schließlich gestattete eine neue Sicht auf die funktionellen Zusammenhänge bei gesunden Probanden, aber auch Menschen mit psychischen Erkrankungen (zur Übersicht s. Schneider u. Fink 2007). Dennoch hatte auch dieses Verfahren seine methodischen Grenzen, z. B. durch die eingeschränkte Darstellbarkeit psychischer Phänomene auf der Grundlage des Blockdesigns. Dies ist zwar für umschriebene Aufgaben kognitiver oder motorischer Art unproblematisch, für chro-
nische psychische Phänomene, die sich nicht auf Abruf aktivieren lassen, jedoch schwierig. Mit der Einführung des Diffusions Tensor Imagings (DTI) gelang es, Faserverbindungen zu untersuchen und festzustellen, ob die Qualität oder Verteilung von Fasersystemen bei psychischen Erkrankungen gestört ist. Die Einführung der Magnetresonanzspektroskopie (MRS) schließlich eröffnete die Möglichkeit, die zellulären Bestandteile einer gegebenen Hirnvolumeneinheit anhand von biochemischen Markern zu charakterisieren. Nach dieser Einführung in zentrale Befunde mit Hilfe des strukturellen MRTs (s-MRT), des fMRT und weitere Funktionsverfahren wie des PET sollen im Folgenden sowohl die Evidenz für die wesentlichen Befunde dargestellt und parallel die Frage erörtert werden, welche Bedeutung sie für das Verständnis der Ätiopathogenese psychischer Erkrankungen haben.
Schizophrenie Durch die mehr als 20-jährige Anwendung der strukturellen Kernspintomografie (s-MRT) in der psychiatrischen Forschung als auch Routinediagnostik verfügen wir besonders auf dem Gebiet der Schizophrenie über eine komfortable Datenlage. Zunächst sollen hier die Befunde anhand der klassischen »Region of interest«-basierten Morphometrie (ROT) dargestellt werden, um sie anschließend mit den hypothesenfreien Messmethoden [z. B. der voxelbasierten Morphometrie (VBM)] abzugleichen.
Umfassende Metaanalyse bei längerem Krankheitsverlauf Eine umfassende Metaanalyse (Wright et al. 2000) führte 58 Studien mit 1588 an einer Schizophrenie leidenden Patienten zusammen. Sie brachte eine 2%ige Reduktion des Gesamthirnvolumens bei einer gleichzeitigen 26%igen Erweiterung des Volumens der Seitenventrikel zutage. Betrachtet man regionsspezifische Befunde, so fand sich eine 6%ige bilaterale Volumenreduktion des Mandelkerns, eine 6%ige Reduktion des linken, eine 5%ige des rechten Hippokampus-Mandelkern-Komplexes sowie eine 7%ige bzw. 5%ige Reduktion des Volumens des Gyrus parahippocampalis. Die hier genannte Metaanalyse berücksichtigte insbesondere Patienten mit einem längeren Krankheitsverlauf.
Metaanalysen bei ersterkrankten Patienten In einer Metaanalyse an ersterkrankten Patienten mit einer Schizophrenie zeigte sich auf der Grundlage von 52 Querschnitts- und 16 Längsschnittsstudien bei insgesamt 465 eingeschlossenen Personen eine Reduktion des Gesamthirn- und des Hippokampusvolumens bei einer Erweiterung der Seitenventrikel (Steen et al. 2006). In einer weiteren Metaanalyse, ebenfalls an Ersterkrankten, die sich aber auf 6 Hirnregionen beschränkte, zeigte sich eine Erweiterung der Seiten- bzw. 3. Ventrikel sowie eine Vo-
131 6.1 · Strukturelle Bildgebung
lumenreduktion des Gesamthirns und des Hippokampus bei unveränderten Volumina der Temporallappen, des Mandelkerns sowie des gesamten intrakranialen Volumens (Vita et al. 2006).
Hippokampusvolumen reduziert Die sowohl bei Erst- als auch Mehrfacherkrankten somit gut replizierte bilaterale Volumenreduktion des Hippokampus wird durch eine gezielte Metaanalyse des Hippokampusvolumens selbst unterstützt (Nelson et al. 1998). Hier fand sich nämlich bei insgesamt 426 Patienten eine bilaterale 4%ige Volumenreduktion des Hippokampus, die durch den Einschluss des Mandelkerns in die Metaanalyse noch verstärkt wurde. Zieht man den hypothesenfreien Untersuchungsansatz der voxelbasierten Morphometrie (VBM) in Betracht, so zeigen sich in einer Metaanalyse von 15 Studien bei 390 eingeschlossenen Patienten Defizite der grauen und weißen Substanz in insgesamt 50 verschiedenen Regionen. Als konsistenteste Befunde erwiesen sich ein relatives Volumendefizit des linken Gyrus temporalis superior sowie des linken Temporallappens (Honea et al. 2005). Im Vergleich der regional basierten mit der voxelbasierten Morphometrie stellt sich hinsichtlich letzterer die Frage, wieso nicht der metaanalytisch gut gesicherte Befund der Ventrikelerweiterungen bzw. bilateralen Hippokampusreduktion ebenfalls nachgewiesen werden kann. Tatsächlich zeigt die voxelbasierte Morphometrie zwar am ehesten Veränderungen im Bereich des Kortex an, vermag dies allerdings nur mit einer geringeren Sensitivität auch im Bereich subkortikaler Strukturen. Für diese sind dann eher deformationsbasierte Verfahren geeignet (Gaser et al. 2001). Da die voxelbasierten Verfahren im Sinne einer Suchstrategie zu werten sind, stellt sich die Frage, inwiefern solche Befunde auch mit regionenspezifischer Morphometrie nachvollzogen werden können.
Hypothese zur gestörten Lateralisierung bekräftigen würde (Shapleske et al. 1999).
Hypothesen zur Ätiopathogenese Hinsichtlich eben dieser strukturellen Veränderungen rückt zurzeit kausal die Kombination aus 2 Prozessen − nämlich zum einen eine gestörte Hirnentwicklung, zum anderen mit Beginn der Prodromalphase der Schizophrenie ein atypisch degenerativer Prozess − als ätiopathogenetische Grundlage in den Fokus der Aufmerksamkeit: Gestörte Hirnentwicklung. Der erste Prozess ist Ausdruck
einer gestörten Hirnentwicklung, der in regionsspezifisch subtil ausgeprägte Malformationen mündet. Dies wird unterstützt durch Befunde einer unterbrochenen frontalen Kortikalisation (z. B. Falkai et al. 2006) oder einer gestörten Gyrifizierung (z. B. Vogeley et al. 2001; Falkai et al. 2006). Letztere ist dahingehend bemerkenswert, dass die Gyrifizierung ca. mit dem ersten Lebensjahr abgeschlossen ist und sich danach nicht mehr verändert. Veränderungen der Gyrifizierung führen zu einer Malkonnektion mit entsprechenden Dysfunktionen, wie das für das Williams-Syndrom oder das DeGeorge-Syndrom nachgewiesen wurde. Atypisch degenerativer Prozess. Der zweite Prozess
scheint mit den Prodromalphasen der Erkrankung, aber spätestens mit Manifestation des Vollbildes zu beginnen und in eine quasi progressive kontinuierliche Reduktion der grauen Substanz zu münden. Interessanterweise betrifft er schwerpunktmäßig frontotemporale Regionen (z. B. Falkai et al. 2004; van Haren et al. 2003). Die Vermutung ist gerechtfertigt, dass es sich hierbei um mindestens 2 unabhängige Prozesse handelt, die im Sinne einer »Double-hit-Hypothese« miteinander in Interaktion treten.
Gyrus-temporalis-superior-Volumenreduktion
»Dismaturationsprozess«. Alternativ böte sich die Hypo-
Betrachtet man nun den Befund einer Volumenreduktion des Gyrus temporalis superior mit VBM, so zeigte ein systematischer Review der Studien zwischen 1994 und 2000 neben einer Erweiterung des Ventrikelsystems eine signifikante Reduktion der grauen Substanz. Letztere war besonders ausgeprägt im Bereich des Temporallappens, des Frontallappens, des Thalamus und des Zerebellums. Im Bereich des Temporallappens waren der Hippokampus und der Gyrus temporalis superior besonders von dieser Volumenreduktion betroffen (Schmitt et al. 2001). Eine Beteiligung des Gyrus temporalis superior unterstützt ebenfalls ein quantitativer Review zum Planum temporale, einer Struktur, die ein zentraler Bestandteil dieser Region ist. Es ergab sich eine deutliche Reduktion der linksgerichteten Asymmetrie des Planum temporale bei schizophrenen Patienten im Vergleich zu Kontrollpersonen, was die seit vielen Jahren von Tim Crow vorgebrachte
these von einer Art Dismaturationsprozess an, der mit der Hirnentwicklung begänne und aufgrund der Defizienz relevanter Proteine die Regenerationsfähigkeit des Gehirns beeinträchtigte (»Pandysmaturations-Hypothese«). Da Hinweise auf einen klassischen neurodegenerativen Prozess mit Zellverlust und einer reaktiven Gliose fehlen, käme eine Reduktion synaptischer Elemente durchaus in Frage. Eine solche Datenlage ließe sich am ehesten mit einer gestörten Synaptogenese in Verbindung bringen.
Diffusionsbildgebung und Magnetresonanzspektroskopie Neben der hier, vor allen Dingen auf Metaanalysen beruhenden Literaturlage bei der strukturellen Bildgebung, sei abschließend auf jüngst erschienene Publikationen im Bereich der Diffusionsbildgebung hingewiesen. Eine systematische Übersicht aus 19 Studien ergab diesbezüglich
6
132
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
allerdings eine noch sehr inkonsistente Datenlage, die unter anderem auf den kleinen Fallzahlen der Untersuchungsstichproben als auch methodischen Unterschieden beruht (Kanaan et al. 2005). Ähnlich stellt sich die Literatur zur Magnetresonanzspektroskopie für die Schizophrenie dar, wobei es hier einige sehr interessante Befunde zum Einfluss der neuroleptischen Medikation gibt (Braus et al. 2001).
Affektive Störungen
6
In einer systematischen Übersicht der jüngsten Veröffentlichungen zu lokalen Hirnvolumenabweichungen im Rahmen affektiver Störungen (Campbell u. McQueen 2006) fand sich bei Patienten mit einer rezidivierenden depressiven Störung eine bilaterale Hippokampusvolumenreduktion. Die Autoren bemängeln allerdings die in der Literatur inkonsistent beschriebenen Veränderungen des Mandelkerns, darüber hinaus gebe es nur wenige Literaturstellen, die Veränderungen des Frontallappens und des Striatums beschrieben. Es wurde explizit darauf hingewiesen, dass das Alter der Patienten, der Zeitpunkt des Krankheitsbeginns, der Verlauf der Erkrankung und die aktuelle psychotrope Medikation wichtige Einflussfaktoren auf regionale Hirnvolumenveränderungen bei Menschen mit affektiven Erkrankungen seien. In einer systematischen Literatursichtung anhand 30 relevanter Publikationen (Hajek et al. 2005) erwiesen sich für Patienten mit bipolaren Störungen Veränderungen im Bereich des Hippokampus, der weißen Substanz, der linken Hemisphäre, des Thalamus als auch des vorderen Zingulums. Darüber hinaus verfestigten sich Hinweise auf vermehrte MRI-Signalhyperintensitäten bei Patienten mit bipolaren Erkrankungen, aber auch ihren erstgradigen Angehörigen. Bereits Personen in den frühen Phasen der Erkrankung wiesen Veränderungen der Ventrikel, der weißen Substanz, des Striatums, des Mandelkerns, des Hippokampus und des subgenualen präfrontalen Kortex auf. Eine Reduktion des Volumens des subgenualen präfrontalen Kortex konnte bei Patienten mit einer familiären bipolaren Erkrankung in 3 von 4 Studien bestätigt werden. Somit scheinen sich volumetrische Veränderungen im Bereich des subgenualen präfrontalen Kortex, des Striatums, der weißen Substanz, möglicherweise auch im Bereich des Hippokampus und Mandelkerns als Vulnerabilitätsfaktoren zu qualifizieren (Hajek et al. 2005). In einer Metaanalyse zu 26 Studien mit 404 Patienten mit einer bipolaren Erkrankung fand sich eine Erweiterung des rechten Seitenventrikels, aber keine Volumenabweichung in einem anderen Areal. Ein hohes Maß an Heterogenität bestand andererseits für verschiedene Areale, darunter dem 3. Ventrikel, im linken subgenualen Anteil des präfrontalen Kortex, im Mandelkern bilateral und dem Thalamus (McDonald et al. 2004).
Hippokampusvolumen bei Depression reduziert Eine weitere Metaanalyse, die sich spezifisch dem Hippokampusvolumen bei Patienten mit Depressionen und bipolaren Störungen widmete, fand unter Berücksichtigung von 12 Studien mit insgesamt 351 Patienten eine Reduktion des Hippokampusvolumens, und zwar links um 8 und rechts um 10%, allerdings nur bei Patienten mit einer Depression und nicht bei solchen mit einer bipolaren Störung. Interessanterweise korrelierte die Anzahl depressiver Episoden signifikant mit der Volumenreduktion des rechten aber nicht linken Hippokampus (Videbech u. Ravnkilde 2004).
Weitere Veränderungen Bei Zusammenfassung der Befunde struktureller Bildgebung bei depressiven Erkrankungen und bipolaren Störungen fällt im Vergleich zur Schizophrenie eine viel dürftigere Datenlage auf, die entsprechend − auch im Rahmen von Metaanalysen − zu einem inhomogeneren Bild führt. Bislang lässt sich lediglich für unipolare Depression der Nachweis einer bilateralen Hippokampusvolumenreduktion führen, der möglicherweise mit der Zahl von Rezidiven korreliert. Eine Region, die als interessanter Kandidat gewertet werden kann, ist der subgenuale präfrontale Kortex. Inwiefern andere kortikale Areale, das Striatum oder Veränderungen des Ventrikelsystems, längerfristig eine stabile Datenlage entwickeln werden, bleibt abzuwarten. In Abgrenzung zu unipolaren Depressionen scheinen bipolare Störungen – zumindest im überwiegenden Teil der Studien – eine Vergrößerung des Mandelkerns aufzuweisen. Veränderungen des Hippokampus sind eher unwahrscheinlich, Veränderungen des Striatums bzw. vorderen Zingulums fraglich. Aber auch bei bipolaren Störungen ist der subgenuale Anteil des präfrontalen Kortex ein heißer Kandidat. Bei affektiven Erkrankungen generell finden sich Veränderungen im Mandelkern und Hippokampus, die beide zentral an der Affektmodulation beteiligt sind. Bemerkenswert ist die Korrelation der Volumenreduktion bei der unipolaren Depression mit der Zahl der Rezidive. Dies wiederum würde am besten zu denjenigen Daten passen, die eine Entkopplung der CRH-Achse bei depressiven Störungen nahelegen (z. B. Holsboer 2000), wonach die Volumenreduktion Folge eines Gewebestresses und durch die kontinuierlich hohe Anwesenheit von Kortisol zu erklären wäre. Einen abweichenden ätiopathogenetischen Ansatz scheinen die Signalhyperintensitäten sowohl bei der unipolaren Depression als auch bei bipolaren Störungen zu signalisieren. Obwohl ihre Bedeutung bislang weitgehend ungeklärt ist, gibt es Hinweise, dass Patienten mit einer überdurchschnittlichen Häufung dieser Signalhyperintensitäten ein deutlich höheres Risiko aufweisen, eine Demenz zu entwickeln. Dies passt durchaus zu einer der gegenwärtigen Diskussionen, derzufolge depressive Syndrome einen Vulnerabilitätsmarker für die spätere Ent-
133 6.1 · Strukturelle Bildgebung
wicklung eines demenzellen Syndroms darstellen können.
Demenzen In einer Metaanalyse über 125 Studien aus dem Zeitraum von 1984–2000 zu 3543 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung fand sich über alle funktionellen und strukturellen Maße, dass der Temporallappen besonders hilfreich zur Differenzierung zwischen einem demenziellen Bild und dem normalem Alterungsprozess ist (Poulin u. Zakzanis 2002). Im Bereich des Temporallappens handelt es sich hierbei schwerpunktmäßig um den Mandelkern, den Hippokampus und den inferioren Anteil des temporalen Kortex. In die gleiche Richtung tendieren strukturelle Maße des vorderen Zingulums. Eine Metaanalyse von 121 Studien zwischen 1984 und 2000 über 3511 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung konnte diesen Befund bestätigen (Zakzanis et al. 2003). Schließlich bestätigte eine Übersichtsarbeit zu Studien mit voxelbasierter Morphometrie nicht nur den Schwerpunkt von Volumenreduktionen im Bereich des Temporallappens für die Alzheimer-Erkrankung, sondern gestattet zudem eine Differenzierung degenerativer Erkrankungen vom frontotemporalen Typ (»frontotemporal lobar degeneration« = FTD; Whitwell u. Jack 2005).
Frontotemporale Demenzen Eine quantitative Metaanalyse zu frontotemporalen Demenzen zwischen den Jahren 1980 und 2005 umfasste 9 funktionelle bzw. strukturelle Studien mit 132 Patienten. Hieraus ergab sich eine spezifische Beeinträchtigung des frontomedialen Netzwerkes, außerdem waren der rechte vordere Anteil der Inselregion und der mediale Thalamus betroffen. Die Autoren schlossen, dass die Datenlage die frontotemporale Demenz im Sinne einer frontomedialen Variante der frontotemporalen lobaren Degeneration zuordnet. Diese Erkrankung scheint speziell Netzwerke zu betreffen, die mit Selbstreflexion, Theory-of-Mind-Fähigkeiten, mildem Verständnis und der Evaluation innerer mentaler Zustände, der Wahrnehmung von Schmerz und Emotionen und der Aufrechterhaltung von Persönlichkeit und Selbstwahrnehmung verbunden sind (Schröter et al. 2006).
Relevanz von Bildgebung bei der Alzheimer-Demenz Die Frage nach der Relevanz von Bildgebung in der Diagnostik der Alzheimer-Erkrankung bearbeiten folgende interessante Arbeiten. So beispielsweise eine umfassende Übersichtsarbeit zu mehr als 400 Publikationen, worin die Autoren unter Anwendung evidenzbasierter Techniken feststellten, dass die große Varianz eingesetzter Methoden zur Untersuchung des Gehirns eine konklusive, systematische Aussage erschwere. Dessen ungeachtet ergab sich aus der Literatursichtung, dass die Atrophie
des Hippokampus Patienten mit der Alzheimer-Erkrankung von gesunden Personen unterscheidet. Eine Evidenz für eine Atrophie von mediotemporalen Strukturen als diagnostischer Marker z. B. in der Untersuchung von Bevölkerungsstichproben ergaben die Daten jedoch nicht (Wahlund et al. 2005). Das Konsensuspapier der British Association for Psychopharmacology (Burns et al. 2006), die für alle gängigen Therapieverfahren Evidenzkriterien recherchiert hat, misst der Bildgebung eine Evidenz vom Grad II in dem Sinne bei, dass sie die Genauigkeit der klinischen Diagnose zu verbessern vermag. Von einer Evidenz zweiten Grades ist auszugehen, wenn in der Literatur mindestens eine methodisch saubere Studie oder eine quasi-experimentelle Untersuchung zu diesem Thema zu finden ist. Den Evidenzgrad I könnten solche Untersuchungen mangels Vorhandenseins randomisierter, kontrollierter Studien nicht erreichen. Dies wiederum würde nämlich bedeuten, dass man im diagnostischen Prozess Probanden ungeachtet der Durchführung bildgebender Untersuchungen randomisiert zuordnete. Dies ist nach dem heutigen Stand der Technik ethisch sicher nicht vertretbar. Populationsbasierte Untersuchung in Rochester. Eine
weitere Studie zum Einfluss von einer zerebrovaskulären Erkrankung auf die Ausbildung demenzieller Syndrome unterstreicht die Bedeutung der Bildgebung: Eine populationsbasierte Untersuchung zwischen den Jahren 1985 und 1989 in Rochester, Minnesota, USA sollte die Beteiligung zerebrovaskulärer Erkrankungen an der Demenz ermitteln. Es fand sich, dass 10% der identifizierten Patienten mit einer Demenz eine Verschlechterung ihres Krankheitsbildes innerhalb von 3 Monaten nach einem Schlaganfall aufwiesen, 11% der mit einer Demenz identifizierten Personen hatten eine bilaterale Läsion der grauen Substanz, die in der Bildgebung als kritisch bewertet wurde. Nur 4% der Patienten wiesen parallel beide Veränderungen auf. ! Das heißt, bei 25% der innerhalb einer Allgemeinbevölkerungsstichprobe identifizierten Personen mit einer Demenz fanden sich relevante vaskuläre und nichtvaskuläre Läsionen, die zur weiteren Progression des Krankheitsbildes beitrugen (Knopman et al. 2002).
Alkoholabhängigkeit In einer sehr sorgfältigen Übersichtsarbeit, die funktionelle und auch strukturelle Bildgebung zusammenfasst, wurden die fronto-zerebellären Netzwerke als kritisch für die Alkoholabhängigkeit bewertet. Eine Schädigung dieser Netzwerke durch chronischen exzessiven Alkoholgenuss führt zur Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten, insbesondere im Bereich der Exekutivfunktionen des
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134
6
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses. Darüber hinaus fanden sich zahlreiche motorische Defizite, schwerpunktmäßig mit ataktischem Bild (Sullivan u. Pfefferbaum 2005). Diese Auffassung bestätigt eine Untersuchung auf Grundlage der strukturell bildgebenden Verfahren, inklusive der voxelbasierten Morphometrie bei Alkoholismus und anderen Substanzabhängigkeiten. Hierin wurde ersichtlich, dass Stimulanzien bzw. der Opiatmissbrauch eher zu einer globalen Veränderung des Gehirns führen, wobei Alkoholabhängigkeit spezifisch den Frontallappen und das Kleinhirn betrifft (Lingford-Hughes et al. 2003). Eine nach wie vor aktuelle Übersichtsarbeit zur neuropathologischen Basis dieser Veränderungen setzt die Volumenreduktion des Frontallappens in Verbindung zu Veränderungen in der weißen, insbesondere aber auch der grauen Substanz. In der grauen Substanz des frontalen Kortex gibt es Hinweise auf eine Reduzierung der Neuronenzahl, aber auch eine Schrumpfung des Neuronenkörpers. Letzteres reflektiert einen Rückzug des neuronalen Dendritenbaums, der eine zentrale Rolle in der zellulären Kommunikation spielt. Darüber hinaus zeigen auch die Neurone des Zerebellums eine besondere Vulnerabilität, was mit nährstoffbedingten Defizienzen in Verbindung zu stehen scheint (Harper und Kril 1990).
kampus links um 6,9% und rechts um 6,6%. Diese Volumenunterschiede waren geringer beim Vergleich von PTSD-Patienten mit Kontrollpersonen, die im gleichen Ausmaß traumatisiert wurden, größer hingegen im Vergleich mit Kontrollen ohne Traumatisierung (Smith 2005). Zwei systematische Reviews verdeutlichen die Veränderungen bei PTSD im Bereich des Hippokampus, des Mandelkerns und verschiedener kortikaler Areale, insbesondere des vorderen Zingulums (Hull 2002; Jatzko et al. 2005). Sala und Arbeitsgruppe diskutierten in einer Übersichtsarbeit die möglichen Ursachen der Hippokampusatrophie bei depressiven Syndromen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen (Sala et al. 2004). Die Autoren folgerten, dass der Hippokampus eine zentrale Rolle in der Stressregulation des Menschen spiele und dabei selbst sehr empfindlich auf die neurotoxischen Effekte wiederholter stressreicher Lebensabschnitte reagiere. Tierexperimentelle Untersuchungen mit Glukokortikoiden am Hippokampus bestätigen diese Auffassung einer erhöhten Vulnerabilität von Hippokampusneuronen auf Glukokortikoide (Sapolsky 2000).
Posttraumatische Belastungsstörungen
6.1.2
In einer Serie von Metaanalysen auf der Basis von Studien mit struktur- und bildgebenden Verfahren bei Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung (»post traumatic stress disorder« = PTSD) fand sich eine bilaterale Volumenreduktion des Hippokampus im Vergleich zu Kontrollpersonen mit und ohne Traumatisierung. Personen ohne posttraumatische Belastungsstörung, die aber ein signifikantes Trauma erlitten hatten, zeigten ihrerseits im Vergleich zu Kontrollpersonen eine bilaterale Verkleinerung des Hippokampus. Des Weiteren fand sich bei Personen mit PTSD eine Volumenreduktion des linken Mandelkerns sowie des vorderen Zingulums bei Personen mit PTSD im Vergleich zu traumatisierten und nichttraumatisierten Kontrollpersonen. Untersuchungspopulationen von Kindern mit PTSD wiesen bei ihnen ein signifikant kleineres Corpus callosum sowie reduzierte Frontallappenvolumina im Vergleich zu Kontrollen nach, wohingegen sich keine Unterschiede im Volumen des Hippokampus ergaben. Die Autoren kamen zu folgenden Schlüssen: 1. Die Hippokampusvolumendifferenzen variieren mit der Schwere der PTSD, 2. Die Volumenreduktion des Hippokampus wird erst mit dem Erwachsenenalter nachweisbar, 3. PTSD führt zu Abnormalitäten in verschiedenen fronto-limbischen Strukturen (Karl et al. 2006). Ein systematischer Review und eine Metaanalyse zu 13 Studien über 215 Patienten fand bei Patienten mit PTSD eine durchschnittliche Volumenreduktion des Hippo-
Bedeutung struktureller Veränderungen bei psychischen Erkrankungen
Obwohl hirnstrukturelle Abweichungen für die Schizophrenie als auch für demenzielle Erkrankungen nach genetischen und neuropsychologischen Befunden zu den am besten replizierten neurobiologischen Resultaten gehören, werden sie von der wissenschaftlichen Gemeinde häufig als Folge der Erkrankungsbilder und somit als irrelevant für die Ätiopathogenese betrachtet. Tatsächlich gibt es für strukturelle, aber auch für funktionelle, genetische und neuropsychologische Befunde gleichermaßen intervenierende Variablen. Die Darstellung einiger wesentlicher intervenierender Variablen zur strukturellen Bildgebung soll im Folgenden die Einordnung der oben genannten Befunde erleichtern. Neben dem Alter und dem Geschlecht sind der sozioökonomische bzw. Bildungsstatus der Probanden sowie ihrer Eltern von Bedeutung. Zudem hat in den letzten Jahren unter molekularen Aspekten der Genotyp als intervenierende Variable an Gewicht gewonnen. So existiert ein beachtlicher Einfluss einzelner Genotypen wie z. B. COMTbzw. 5-HTT-Genotypen auf die Hirnstruktur, aber auch auf die Hirnfunktion bei Gesunden oder Patienten (z. B. Pezawas et al. 2005). Darüber hinaus finden sich zahlreich nichtgenetisch vermittelte umweltbedingte Faktoren, wie z. B. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, die einen additiven Effekt ausüben (z. B. McNeil et al. 2000). Auch der Krankheitsprozess selber beeinflusst z. B. bei
135 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie
schizophrenen Psychosen die Gehirnmorphologie (Pantelis et al. 2005; van Haren et al. 2007), welchen aber noch weitere Noxen wie Alkohol oder Zigarettenkonsum (Gallinat et al. 2006) sowie der Einsatz von Neuroleptika (z. B. Scherk und Falkai 2004) modifizieren. Unter Berücksichtigung all dieser Variablen sollte ein Großteil der Literatur sicherlich anders bewertet werden. In den vorherigen Abschnitten galt es vor allen Dingen, metaanalytisch oder
durch systematische Übersichtsarbeiten offengelegte Befunde herauszuarbeiten. Die substanziellen Fallzahlen widerlegen Vermutungen, es handele sich hierbei um reine Artefakte der Bildgebung (z. B. Marenco u. Weinberger 2000). Zur Vermeidung falscher Schlussfolgerungen ist nichtsdestotrotz ein kritischer Umgang mit allen Befunden aus bildgebenden Verfahren angebracht, die ggf. ganze Forschungsrichtungen in die Irre leiten können.
Fazit Fasst man die Befundlage für die Schizophrenie, für affektive Störungen, Demenzen, die Alkoholabhängigkeit und für posttraumatische Belastungsstörungen zusammen, ergibt sich eine Konvergenz für tempolimbische Strukturen, namentlich den Hippokampus, den Mandelkern, den orbitofrontalen Kortex und das anteriore Zingulum. Die Fokussierung auf solche tempolimbischen Strukturen ist unter funktionellen Aspekten nachvollziehbar, da sie essenziell für die Integration des sensorischen Inputs und den damit verbundenen Abgleich bekannt abgelegter Informationen sind. Differenzielle Analysen des Läsionsmusters bei frontotemporalen Demenzen z. B. belegen, dass hierbei keineswegs nur Teilbereiche der Kognition oder Affektivität, sondern umfassende Prozesse der Selbstwahrnehmung, der Theory-ofMind-Fähigkeiten, des Monitorings innerer Zustände und der Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit betroffen sind (z. B. Schroeter et al. 2006). Metaana-
Ausblick Ist eine bessere klinische Charakterisierung der untersuchten Krankheitsbilder die Antwort auf eine Vielzahl der unzureichend zuzuordnenden Befunde? Die Verbesserung des Phänotyps könnte sicherlich einige anstehende Fragen klären. Trotzdem erscheint der klinische Phänotyp zu weit entfernt von den neurobiologischen Grundlagen, sodass seit vielen Jahren ein sog. intermediärer Phänotyp (sog. Endophänotypen, z. B. Zobel u. Maier 2004) zur Anwendung kommt. Hierbei handelt es sich um biologische Variablen, die eine pathogenetische Relevanz für das zu untersuchende Krankheitsbild haben, eine Heretabilität aufweisen, von Alters- und Krankheitsverlaufseffekten weitgehend unberührt sind und bei erstgradigen Angehörigen Werte zwischen Kontrollpersonen und den Patienten aufweisen. Eine diesbezügliche Verfeinerung des neurobiologischen Phänotyps sollte es uns erlauben, Subsyndrome biologisch besser zu definieren und mit ihren molekularen Grundlagen zu verbinden. Darüber hinaus bedarf es der Kombination verschiedener bildgebender Verfahren, um konsistente Befunde wie die
lysen lassen allerdings interessante, potenziell wegweisende Befunde statistisch gesehen als unbedeutend erscheinen. So sind Strukturen wie der Thalamus oder das Zerebellum bei der Schizophrenie von zentraler Bedeutung, bei affektiven Störungen ergibt sich im Bereich des Hypothalamus eine zunehmend interessante und mit der Endokrinologie sehr gut kompatible Datenlage (z. B. Baumann u. Bogerts 2001) und schließlich sollte bei demenziellen Erkrankungen der phasenhafte Verlauf in Betracht gezogen werden, der zu verschiedenen Zeitpunkten der Erkrankung unterschiedliche Kortikalregionen trifft (Braak et al. 2006). Die Aufdeckung einzelner klinischer Charakteristika wie des Cravings bei der Alkoholabhängigkeit (Heinz et al. 2005) oder dem Defizit bei der PTSD, traumaassoziierte Stimuli zu unterdrücken (Rauch et al. 2006), haben zu einem deutlich besseren Verständnis der Pathophysiologie und somit auch der Behandlungsoptionen dieser Krankheitsbilder geführt.
Volumenreduktion eines bestimmten Areals ätiopathogenetisch aufzuklären. Die Anwendung hochauflösender Strukturverfahren auf der Basis großer Feldstärken gestattet zum einen die reliable Untersuchung kleiner Hirnstrukturen, die ergänzt werden durch MRS- und DTI-Sequenzen. Auf diese Weise können strukturelle Veränderungen bis auf die zelluläre und Faserebene aufgeklärt werden.
6.2
Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie F. Schneider
Unter funktionell bildgebenden Verfahren versteht man allgemein Methoden, die die Aktivierung von Gehirnregionen bei bestimmten Funktionen darstellen können. Diese Funktionen können beispielsweise Motorik (z. B. Handbewegungen), Sensorik (z. B. Berührungen), Kog-
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136
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
nitionen (z. B. Rechenaufgaben) oder Emotionen (z. B. Emotionserkennung) umfassen. Als funktionell bildgebende Methoden stehen im Wesentlichen zur Auswahl die Magnetenzephalografie (MEG), die Magnetresonanztomografie (MRT) und die Positronenemissionstomografie (PET, vgl. Kap. 6.3).
6
Jedes dieser funktionellen Verfahren hat sein spezifisches Profil im Hinblick auf Invasivität sowie räumliche und zeitliche Auflösung der Darstellung (vgl. ⊡ Tab. 6.1). Das Verfahren der Wahl ist deshalb immer in enger Abhängigkeit von der konkreten Fragestellung zu wählen. Zur Abbildung der Hirnaktivität mit einer besonders hohen zeitlichen Auflösung wäre MEG die Methode der Wahl, die PET hingegen bei dem Wunsch nach einer starken quantitativen Aussage. Gemeinsam ist diesen Methoden unter anderem, dass den Probanden standardisierte Aufgaben gegeben werden und die damit korrelierten Änderungen der Aktivität im Gehirn aufgezeichnet werden. Zum Nachweis eines statistisch signifikanten Zusammenhangs zwischen der Aufgabenbearbeitung und der spezifischen Hirnaktivität müssen die Aufgaben in der Regel mit vielen Wiederholungen präsentiert werden. Anschließend wird mit spezieller Software – für fMRT beispielsweise SPM oder BrainVoyager – die Korrelation zwischen der Aufgabenbearbeitung und den Aktivitätsänderungen im Gehirn ermittelt. Das bedeutet, dass die hier dargestellten Verfahren nicht in der Lage sind, kausale Zusammenhänge zwischen neuronalen Aktivierungen und Erleben und Verhalten nachzuweisen, sondern sich auf korrelative Aussagen beschränken. Alle hier dargestellten Verfahren werden sowohl für die Untersuchung gesunder Probanden als auch für die Untersuchung von Patienten unter anderem mit psychischen Erkrankungen eingesetzt. Der klinische Einsatz funktionell bildgebender Methoden in der klinischen Praxis ist in der Psychiatrie und Psychotherapie im Moment nur sehr begrenzt. Erste Ansätze mit klinischer Relevanz richten sich auf die Untersuchung der prognostischen Qualität neuronaler Auffälligkeiten für den Krankheitsverlauf oder für therapeutische Interventionen. ⊡ Tab. 6.1. Übersicht über die spezifischen Profile der zur Verfügung stehenden funktionell bildgebenden Verfahren
6.2.1
Magnetenzephalografie
Jede neuronale Aktivität im Gehirn geht mit Strömen einher, die Magnetfelder induzieren. Magnetenzephalografie ist die Technik, mit der die durch Hirnströme induzierten neuromagnetischen Felder gemessen werden. Da die Hirnströme und die induzierten Magnetfelder einzelner Neurone sehr klein sind, erfordert die Abbildung ihrer Aktivität eine Vielzahl hoch empfindlicher Sensoren. Zur Erfassung der Magnetfelder des ganzen Gehirns sitzen oder liegen die Probanden in einem Ganzkopf-MEG (⊡ Abb. 6.1) und werden vorrangig visuell, taktil oder auditorisch stimuliert. Aufgrund besonderer technischer Beschränkungen der Methode hat sich gezeigt, dass nicht alle Hirnareale und somit nicht alle Funktionen gleich geeignet für die Untersuchung mit MEG sind. ! Insbesondere das auditorische und taktile System lassen sich aber sehr gut erfassen. So kommt die MEG in der Psychiatrie vor allem bei der Untersuchung zur Wahrnehmung von Tönen und Sprache bei psychiatrischen Patienten zum Einsatz. Studie mit schizophrenen Patienten. Es gibt aber im All-
gemeinen eher wenige Studien mit der Methode der MEG bei psychisch Kranken. Beispielhaft sei hier eine neuere Studie von Rockstroh und Mitarbeitern mit schizophrenen Patienten erwähnt (2006). Untersucht hat die Arbeitsgruppe die schnelle Verarbeitung emotionaler vs. neutraler Stimuli. Den Probanden wurden emotionale und neutrale Bilder aus dem International Affective Picture System (Center for the Study of Emotion and Attention 1995) präsentiert. Bei den Patienten mit Schizophrenie zeigten sich geringere Unterschiede in der Veränderung der Hirnaktivität zwischen neutralen und emotionalen Reizen als bei den gesunden Probanden. Die Autoren diskutieren diese Befunde als einen Hinweis auf eine Störung der automatisierten Verarbeitung der emotionalen Bedeutung von Stimuli.
Studien mit Kombination verschiedener bildgebender Methoden In einem Versuch, die Beschränkungen der einzelnen Methoden zu überwinden, werden zunehmend Studien mit einer Kombination verschiedener bildgebender Methoden an einer einheitlichen Stichprobe mit aufeinander abgestimmten Paradigmen durchgeführt.
Verfahren
Räuml. Auflösung
Zeitl. Auflösung
Invasivität
MEG
–
++
0
Kombination von MEG und fMRT. So haben Kircher und
fMRT
+
0
0
PET
++
–
–
Kollegen (2004) MEG und fMRT in einer Untersuchung zur Mismatch Negativity bei schizophrenen Patienten kombiniert. Unter »Mismatch Negativity« versteht man die nachweisenbare Negativierung in der MEG-Aufzeich-
+ = gut; 0 = neutral; - = schlecht
137 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie
⊡ Abb. 6.1a, b. a Proband in einem Ganzkopf-MEG, b schematische Darstellung der Anordnung der Sensoren im Ganzkopf-MEG. (The CTF MEG system from VSM MedTech Ltd.)
a
b
nung, wenn in einer auditorischen Präsentation vieler gleichartiger Töne einzelne Töne abweichen. Die Negativierung ist somit eine Reaktion auf die von der Norm abweichenden Stimuli. Um diese Untersuchung in MEG und fMRT vergleichbar durchführen zu können, hat die Arbeitsgruppe als Tonstimulus die Gradientengeräusche des MR-Scanners verwendet und einzelne dieser Töne in Amplitude oder Dauer von den anderen Tönen abweichen lassen. Diese Tonsequenz wurde im MR-Scanner erzeugt und den Probanden in der MEG-Untersuchung als Aufzeichnung vorgespielt. Kircher und Mitarbeiter konnten in diesem Ansatz zeigen, dass bei dem MismatchParadigma bei Patienten mit Schizophrenie nicht nur eine geringere Aktivierung auftrat, auch die übliche Hemisphärenspezialisierung war aufgehoben (⊡ Abb. 6.2). Die
Autoren deuten die gefundenen Unterschiede unter anderem in der Interaktion zwischen den Hemisphären als Korrelate von sprachbezogenen kognitiven (z. B. verbales Gedächtnis) oder psychopathologischer (Halluzinationen, formale Denkstörungen) Symptome der Schizophrenie. MEG und fMRT lassen sich allerdings nicht technisch miteinander kombinieren, sodass eine Kombination dieser Verfahren immer eine Anwendung paralleler Paradigmen mit beiden Methoden bei einer einheitlichen Stichprobe bedeutet. Unterschiede zwischen den Befunden der fMRT und der MEG können somit nicht nur den spezifischen Profilen der Methode, sondern unter Umständen zufälligen Schwankungen innerhalb der Versuchspersonen zugeschrieben werden.
6
138
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
6
a
b
c
⊡ Abb. 6.2a–d. a Design der Mismatch Negativity Studie von Kircher et al. 2004. Den Probanden wurden gleichförmige Gradientengeräusche präsentiert von denen einzelne in Amplitude oder Dauer abwichen; b bei schizophrenen Patienten (n = 11) zeigt sich als Reaktion
d
auf in der Amplitude abweichende Töne eine verringerte Aktivität verglichen mit Gesunden (c, n = 12); d zeigt die Differenz der Aktivierungen der beiden Gruppen
139 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie
6.2.2
Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)
Die funktionelle Magnetresonanztomografie ist eine spezielle Anwendung der Magnetresonanztomografie, die anderweitig detaillerter dargestellt wird ( Kap. 25; Schneider u. Fink 2007). Die Besonderheit der funktionellen Magnetresonanztomografie besteht darin, dass sie auf der Basis der magnetischen Eigenschaften des Blutes eine Aussage über zerebrale Aktivierungen ohne die Applikation von Kontrastmitteln ermöglicht. Aus diesem Grund ist die funktionelle Magnetresonanztomografie derzeit in vielen Veröffentlichungen zu funktionellen Auffälligkeiten psychischer Störungen die Methode der ersten Wahl. Die fMRT ist ein nichtinvasives Verfahren. Die wenigen vorhandenen Kontraindikationen sind überwiegend aus dem starken Magnetfeld erklärbar. So sollten Probanden mit metallischen Implantaten nicht in diese Untersuchungen eingeschlossen werden, da das Magnetfeld die Implantate im schlimmsten Fall in ihrer Lage verändern kann, aber vor allem Implantate das Magnetfeld verändern, sodass die hier erhobenen Daten in der Regel nicht sinnvoll auswertbar sind. Die möglichen Studienparadigmen sind vielfältig und umfassen im einfachsten Fall nahezu das gesamte Spektrum der etablierten neuropsychologischen Konstrukte.
fMRT verschiedener Störungsbilder fMRT bei Schizophrenie Bei der Schizophrenie handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe von Störungen mit unterschiedlicher Prognose. Das psychopathologische Bild ist bestimmt durch in der Regel mehrere akute Episoden, die durch chronisch residuale Zustände unterschiedlichen Ausmaßes unterbrochen werden. Für fMRT-Studien wie auch für andere funktionell bildgebende Untersuchungen, bedeutet das, dass das Studiendesign nach Möglichkeit immer eine hinsichtlich der aktuellen Phase homogene Patientenstichprobe voraussetzt und das andererseits funktionelle Befunde in aller Regel nur Aussagen über eng umgrenzte Erscheinungsbilder der schizophrenen Störung erlauben. Schizophrene Störungen führen zu Beeinträchtigungen des Affektes, der Wahrnehmung, des Denkens, des Antriebs sowie der Psychomotorik. Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen können ebenfalls betroffen sein. Das bedeutet, dass sich für funktionell bildgebende Untersuchungen eine Vielzahl von Ansatzpunkten für die Auswahl geeigneter Paradigmen ergeben. Aufmerksamkeit. Im Bereich der Aufmerksamkeit haben
beispielsweise Perlstein et al. (2003) Dysfunktionen bei Patienten im Vergleich zu Gesunden in 2 Versionen des Continuous Performance Tests untersucht. Die Patienten
wiesen hier eine auffällige Minderaktivierung des dorsolateralen Präfrontalkortex (DLPFK) auf. Während Gesunde jeweils eine Zunahme der Aktivierung des DLPFK mit Zunahme der Aufgabenschwierigkeit zeigten, war bei den Patienten keine Zunahme der Aktivierung zu beobachten. Nach Perlstein et al. führen somit gesteigerte Anforderungen an Arbeitsgedächtniskapazitäten nur bei Gesunden zu einer Zunahme der Aktivierung des DLPFK, nicht jedoch bei schizophrenen Patienten. Emotionsdiskrimination. Aus der Psychopathologie schi-
zophrener Erkrankungen lässt sich eine besondere Bedeutung negativer Emotionen wie Trauer, Angst und Furcht ableiten. Bei schizophrenen Patienten scheint die Fähigkeit, negative Emotionen expressiv darzustellen oder erfolgreich von neutralen oder positiven Ausdrücken zu diskriminieren, beeinträchtigt. So wiesen verschiedene Studien Beeinträchtigungen schizophrener Patienten bei der Diskriminierung emotionaler Gesichter nach (z. B. Schneider et al. 2006 a). Die neurobiologischen Grundlagen dieser vielfältigen affektiven Auffälligkeiten werden seit einigen Jahren mit zunehmender Häufigkeit untersucht. Paradigmen zur Emotionsdiskrimination werden dabei vielfältig genutzt, um emotionale Prozesse schizophrener Patienten zu untersuchen. Während fMRT-Messungen konnten konsistent Hypoaktivierungen Schizophrener während Aufgaben zur Emotionsdiskrimination vor allem in Bereichen des anterioren zingulären Kortex (Hempel et al. 2003) sowie des Amygdala-Hippokampus-Komplexes (Gur et al. 2002) demonstriert werden. Insbesondere in subkortikalen Bereichen treten allerdings methodisch bedingt unter Umständen Artefakte auf. Methodische Ansätze zur Überwindung dieser Problematik, zum Beispiel durch spezifische Anpassung der Messparamter für unterschiedliche Bereiche des Gehirns, werden mittlerweile erfolgreich eingesetzt (Stöcker et al. 2006) und verbessern somit die Abbildung von funktionellen Auffälligkeiten z. B. in der Amygdala. Auch die Bilder des International Affective Picture System (IAPS 1999) werden inzwischen vielfach zur Induktion von Emotionen genutzt. Eine Untersuchung von Takahashi et al. (2004) beschreibt auf Basis eines Paradigmas mit den Bildern der IAPS eine Minderaktivierung der Amygdala-Hippokampus-Region (⊡ Abb. 6.3) bei schizophrenen Patienten, und dies, obwohl wie bei Schneider et al. (1998) keine signifikanten Unterschiede im subjektiven Erleben zwischen Patienten und Gesunden zu beobachten waren.
fMRT bei affektiven Erkrankungen Auch bei affektiven Erkankungen stehen Beeinträchtigungen des emotionalen Erlebens und Verhaltens im Vordergrund des Krankheitsbildes. Depressive weisen häufig eine beeinträchtigte Produktion und Erkennung emotionaler Gesichtsausdrücke auf. Nach Präsentation
6
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Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
⊡ Abb. 6.3. Regionen mit
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relativer Hypoaktivierung bei 15 schizophrenen Patienten im Vergleich zu 15 gesunden Probanden bei der Induktion von negativen Emotionen. Bei einer Studie von Takahashi et al. (2004) zeigte sich in einer Emotionsinduktion mit unangenehmen Bildern eine Minderaktivierung bei 15 schizophrenen Patienten im Vergleich zu 15 gesunden Probanden. Die Zahlen unter den Abbildungen bezeichnen die z-Koordinaten der Schnittebene nach dem Montreal Neurological Institute (MNI) Gehirn
furchtsamer Gesichter zeigen bereits junge Erkrankte im Vergleich zu gesunden Kindern eine reduzierte Aktivierung der Amygdala (Thomas et al. 2001; ⊡ Abb. 6.4). Die besondere Bedeutung der Amygdala für die Verarbeitung emotionaler Stimuli verdeutlicht ein von Aufmerksamkeit und bewusster Wahrnehmung autonomes Verarbeiten emotionaler Reize durch die Amygdala. Während bei Gesunden zunehmend fröhliche Reize zu einer linearen Aktivitätszunahme im Bereich des bilateralen fusiformen Gyrus und des rechten Putamens führen, zeigen Depressive ein nahezu gegenteiliges Muster: hier führen zunehmend traurige Reize zu zunehmend stärkeren Aktivierungen im rechten fusiformen Gyrus,
linken Putamen, sowie der linken Amygdala (Surguladze et al. 2005). Dieser Befund deutet auf ein mögliches physiologisches Korrelat negativer Kognitionen und sozialer Dysfunktion bei depressiven Patienten hin. Neben medio-temporalen Strukturen finden sich vor allem Auffälligkeiten zingulärer und orbitofrontaler Areale. Die Dysfunktion des anterioren zingulären Kortex ist als Korrelat stimmungsabhängiger Antworttendenzen depressiver Patienten interpretiert worden (George et al. 1995). Patienten weisen zudem eine deutlich verringerte Aktivität im ventralen und subgenualen zingulären Kortex während der Präsentation emotional besetzter Wörter auf. ! Bemerkenswerterweise kommt es im Bereich des anterio-medialen Frontalkortex bei Gesunden während der Präsentation fröhlicher Wörter, bei Depressiven hingegen während der Präsentation trauriger Worte zu einer Aktivitätszunahme (Elliott et al. 1995).
⊡ Abb. 6.4. Hypoaktivierung der linken Amygdala bei Patienten mit Depression bei der Präsentation furchtsamer Gesichter. (Nach Thomas et al. 2001)
Erhöhte Aktivität vor allem rechts-orbitofrontaler Areale sowie des bilateralen anterioren Temporalkortex tritt besonders bei als traurig klassifizierten emotionalen Distraktionsreizen auf. Da Patienten im Vergleich zu Gesunden häufig keine Verhaltensauffälligkeiten bei der Erkennung emotionaler Stimuli aufweisen, scheinen emotional negative Distraktoren bei Depressiven einen höheren kognitiven »Aufwand« zu erfordern, beispielsweise um falsche Antworten zu unterdrücken. Die beobachteten Aktivitätsmuster scheinen somit ein physiologisches Korrelat der häufig berichteten Schwierigkeiten dieser Patienten zu reflektieren, negativ emotionale Stimuli adäquat zu verarbeiten.
141 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie
fMRT therapeutischer Interventionen Zu Beginn wurden funktionelle Bildgebung und damit auch die fMRT vornehmlich zur Charakterisierung einer funktionellen Auffälligkeit zu einem bestimmten Messzeitpunkt eingesetzt. In letzter Zeit werden zunehmend Studiendesigns präsentiert, die durch eine oder mehrere Wiederholungsmessungen eine Beurteilung einer therapeutischen Intervention oder sogar eine differenzielle Beurteilung therapeutischer Interventionen im Längsschnitt erlauben (⊡ Abb. 6.5). Im Vergleich z. B. zu der PET ist die fMRT hier vermutlich besonders geeignet, da sie nichtinvasiv ist und keine Strahlenbelastung mit sich bringt. Wiederholungsmessungen ggf. auch in großer Anzahl und relativ engen zeitlichen Abständen (z. B. 1 Woche) sind somit zumutbar. Alkoholabhängige Patienten. In einem Design mit Prä-
und Post-Messung wurde von Schneider und Mitarbeitern die Wirkung von Verhaltenstherapie und Doxepin bei alkoholabhängigen Patienten untersucht (2001). Die Patienten wurden in einer fMRT-Untersuchung mit einem alkoholischen Duft konfrontiert. Diese Duftreize,
die Craving (Suchtdruck) induzierten, führten zu einer signifikanten Hyperaktivierung der Amygdala und des Zerebellums. Diese Regionen sind beteiligt an dem aktuellen emotionalen Erleben und am emotionalen Gedächtnis (hier: Erinnerung an Konsum von Alkohol mit starker emotionaler Konnotation). In Anschluss an eine 3-wöchige Kombinationstherapie (kognitive Therapie und Gabe von Doxepin) waren bei der erneuten Induktion von Craving diese Hyperaktivierungen nicht mehr nachweisbar (⊡ Abb. 6.6). Dies kann als ein Korrelat des von den Probanden subjektiv geschilderten vermindertem Verlangen nach Alkohol während der Induktion interpretiert werden. Schizophrene Patienten. Auch bei schizophrenen Pati-
enten wurden entsprechende Therapiestudien durchgeführt. So untersuchten beispielsweise Wykes und Kollegen (2002) eine Stichprobe von Patienten mit Schizophrenie vor und nach einem 12-wöchigen kognitiven Training. Es wurden speziell exekutive Funktionen, kognitive Flexibilität, Arbeitsgedächtnis und planerische Funktionen getestet. Dazu wurden 3 Gruppen untersucht: Patienten
⊡ Abb. 6.5. Beispiel für ein mögliches Design einer Therapiestudie. In diesem Beispiel wird die Wirksamkeit eines Pharmakons in Kombination mit Verhaltenstherapie überprüft. Aus ethischen Gründen ist hier eine Kombination aus Plazebo und unspezifischer Therapie nicht indiziert
⊡ Abb. 6.6a, b. Hirnfunktionelle Aktivierungen bei alkoholabhängigen Patienten a vor und b nach einer 3-wöchigen Therapie. Das zum ersten Zeitpunkt stärkere Verlangen nach Alkohol während der Stimulation mit alkoholischen Duftreizen ist von einer Amygdala- und Zerebellumaktivierung begleitet, die zum zweiten Zeitpunkt nicht mehr nachweisbar ist. (Schneider et al. 2001)
a
b
6
142
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
mit Training, Patienten ohne Training und gesunde Personen. Bei der Patientengruppe, die das kognitive Training erhielt, war eine Verbesserung der Leistung insbesondere in Gedächtnistests feststellbar. Funktionell zeigte sich bei den Patienten eine Zunahme der Aktivierung rechts inferior frontal und bilateral okzipital vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt. Da diese Studie mit einer recht geringen Stichprobengrösse von 6 Probanden pro Gruppe durchgeführt wurde, ist eine Replizierung der Untersuchung sicher notwendig. Depressive Patienten. Zur Untersuchung des Effektes von
6
selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern haben Fu et al. (2004) depressive Patienten vor und nach einer medikamentösen Therapie mit einer emotionalen Klassifikationsaufgabe verglichen. Die Aufgabe bestand darin, das Geschlecht von präsentierten Gesichtern zu bestimmen. Diese Gesichter zeigten unterschiedliche Emotionen, sodass dieses Paradigma der Untersuchung impliziter affektiver Verarbeitung diente. Es konnte bereits in früheren Untersuchungen gezeigt werden, dass eine emotionale Verarbeitung schon zu Aktivierungen emotionaler Netzwerke im Gehirn führt, bevor eine explizite Aussage zu der Emotionalität erfolgt. Bei den Patienten in der genannten Studie zeigte sich eine verringerte Aktivierung im Bereich der linken Amygdala, des ventralen Striatums und des frontoparietalen Kortex sowie eine Aktivitätssteigerung links präfrontal. Nach erfolgreicher medikamentöser Therapie korrelierte die affektspezifische Aktivität insbesondere im prägenualen zingulären Kortex und ventralen Striatum mit dem Ausmaß des Behandlungseffektes. Ausgehend von diesen Befunden ist es eine lohnenswerte Frage für zukünftige Untersuchungen, in-
⊡ Abb. 6.7. Aufbau und Datenfluss eines fMRI Brain-ComputerInterface. Die in einem MR-Scanner gemessene hämodynamische Reaktion wird mit einer speziellen Software schnell verarbeitet und mit äußerst geringer Verzögerung dem Probanden visuell präsentiert.
wiefern neuronale Aktivierungsmuster prädiktive Qualität für das Ansprechen auf medikamentöse oder psychotherapeutische Intervention haben kann.
Therapeutische Interventionen mit Neurofeedback Es erscheint somit möglich, zerebrale Korrelate neuropsychiatrischer Erkrankungen therapeutisch zu beeinflussen. Ein recht innovativer Ansatz, der zurzeit von verschiedenen Arbeitsgruppen verfolgt wird, ist auf Basis dieser Erkenntnis die Etablierung von therapeutischen Interventionen mit Neurofeedback. In Analogie zu Biofeedback-Ansätzen wird hier Patienten mit der Methode der fMRT die neuronale Aktivität zurückgemeldet und die Patienten haben die Aufgabe mit mehr oder weniger Hilfestellung seitens des Experimentators oder Therapeuten ihre neuronale Aktivität bewusst zu manipulieren. Der Patient lernt so, Kontrolle auszuüben über unwillkürlich ablaufende, unbewusste körperliche Prozesse in Richtung eines experimentell oder therapeutisch gewünschten Ziels. Während das klassische Biofeedback zum Beispiel mit EEG recht etabliert ist, ist die Übertragung dieses Ansatzes auf die fMRT mithilfe von Echtzeitverarbeitung noch neuartig. Ein in diesem Zusammenhang häufig genannter Begriff ist die Schaffung eines Brain-Computer-Interfaces, also einer Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer, die hier für das Neurofeedback genutzt wird, von der man sich aber für die Zukunft noch vielfältige Anwendungsoptionen z. B. bei Personen mit körperlichen Behinderungen erhofft. Eine ausführliche technische Darstellung dieses methodischen Ansatzes findet sich z. B. bei Weiskopf et al. (2004; ⊡ Abb. 6.7).
Die Aufgabe des Probanden kann darin bestehen, die visuell zurückgemeldete lokale Aktivität hoch- oder herunterzuregulieren. (Nach Weiskopf et al. 2004)
143 6.2 · Magnetresonanzenzephalografie und funktionelle Magnetresonanztomografie
Schwierig bei dieser Vorgehensweise ist immer die Abgrenzung zwischen therapeutischen Effekten und normalen Schwankungen zwischen den Messwiederholungen. Hierfür sollte man, soweit dies ethisch vertretbar ist, eine unbehandelte Kontrollgruppe mit entsprechender Wartezeit zwischen den Wiederholungsmessungen untersuchen.
fMRT in multizentrischen Studien Aufgrund der vielfältigen Ein- und Ausschlusskriterien hinsichtlich Komorbiditäten, Metallen im Körper etc. ist es oft schwierig, an einem einzelnen Zentrum innerhalb einer überschaubaren Zeit eine größere Anzahl an Probanden erfolgreich zu messen. Insbesondere in therapeutischen Studien mit mehreren Therapiearmen werden sehr schnell 50 oder mehr geeignete psychiatrische Patienten benötigt. Nicht zu vergessen sind die beson-ders bei dieser Studienpopulation immer wieder auftretenden Drop-outs während einer Messung und auch, z. B. aufgrund von Rückfällen, zwischen den Messzeitpunkten. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist die Durchführung von multizentrischen fMRT-Studien die es erlauben, aus verschiedenen Zentren zu rekrutieren, an verschiedenen Zentren zu messen und so die notwendige Stichprobengrösse innerhalb einer vertretbaren Zeit von beispielsweise 2 Jahren zu erreichen. Die Voraussetzung hierfür ist eine recht gute Übereinstimmung und Stabilität der Scanner-Ergebnisse, die z. B. mittels Wasserphantomen überprüft werden kann und im Allgemeinen gegeben ist. Automatisierte Qualitätssicherung. Ein Ansatz zur automatisierten Qualitätssicherung bei fMRT-Untersuchungen wurde von Stöcker et al. im Jahr 2005 beschrieben. Die Methode basiert auf einer automatischen Klassifikation der Datenqualität und der Detektion von Artefakten. Entwickelt wurde der Algorithmus anhand von Wasserphantomen, konnte dann aber auch erfolgreich an In-vivo-Daten angewendet werden. Die vorgestellte Vorgehensweise basiert auf Daten, die bereits einen standardisierten Verarbeitungsschritt hinter sich haben (Realignment) und erlaubt deshalb, für Multi-CenterStudien unverzichtbar, auch den automatisierten Vergleich von Daten, die auf Kernspintomografen unterschiedlicher Hersteller erhoben wurden. Diese Methode wurde im Rahmen eines fMRT-Teilprojektes des Kompetenznetzes Schizophrenie entwickelt. Es wurden ersterkrankte schizophrene Patienten über eine Zeitspanne von 2 Jahren therapeutisch begleitet und wiederholt unter Verwendung eines Continuous Performance Tests (CPT) kernspintomografisch untersucht (Schneider et al. 2006 b). Im Rahmen des Kompetenznetzes sollte multizentrisch eine möglichst große und homogene (Ersterkrankte Schizophrene nach Abschluss der Akutbehandlung) Stichprobe rekrutiert werden und anhand der Beobachtung des Erkankungsverlaufs eine Rückfallprädiktion anhand der funktionell magnetresonanztomo-
a
b ⊡ Abb. 6.8a, b. Neuronale Aktivität a bei gesunden Kontrollprobanden und b schizophrenen Patienten in einer Arbeitsgedächtnisaufgabe. Bei den Patienten zeigte sich eine geringere Aktivitätszunahme im Prekuneus bei der Erhöhung der Aufgabenschwierigkeit. (Schneider et al. 2006 b)
grafischen Untersuchungen entwickelt werden. Die in dieser Studie vorgestellten Patienten wiesen vor allem Hypoaktivierungen im Precuneus und Hyperaktivierungen in inferior frontalen Bereichen auf (⊡ Abb. 6.8). Somit konnte in dieser groß angelegten Stichprobe der Hinweis auf eine nicht allgemein vorliegende Minderaktivierung frontaler Areale erhärtet werden.
Ausblick: fMRT und Konnektivität Es ist unstrittig, dass die Vorgänge im Gehirn nicht isoliert zu betrachten sind, sondern immer eine räumliche
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6
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
und zeitliche Interaktion verschiedener Gehirnareale darstellen. Insbesondere bei der Betrachtung der Schizophrenie herrscht zunehmend ein Modell einer Störung der dynamischen Interaktion verschiedener Hirnareale vor. Neue Ansätze mit der fMRT sind Konnektivitätsanalysen und das Diffusion Tensor Imaging (DTI). Man unterscheidet hier effektive und funktionelle Konnektivität. Während die effektive Konnektivität den expliziten Einfluss, den eine Hirnregion auf eine andere hat, beschreibt, versteht man unter funktioneller Konnektivität die beobachtbare Korrelation von Hirnaktivität in unterschiedlichen umschriebenen Hirnregionen (möglich bei fMRT und PET). Diese Untersuchungen zu der Konnektivität verschiedener Hirnareale wurden ursprünglich vor allem bei motorischen und sensorischen Systemen eingesetzt, da hier die interessierenden Bahnen besonders gut zu identifizieren sind. In letzter Zeit werden diese Methoden aber auch zunehmend bei psychischen Störungen eingesetzt. So fanden Schlösser und Kollegen (2006) Unterschiede in der Konnektivität bei schizophrenen Patienten im Vergleich zu gesunden Probanden. Auffällig war unter anderem eine von der Art der eingesetzten Antipsychotika abhängige Veränderung der interhemisphärischen Konnektivität (⊡ Abb. 6.9), so wiesen Patienten mit atypischen Antipsychotika eine verstärkte interhemisphärische Konnektivität auf im Vergleich zu Patienten mit klassichen Neuroleptika.
Die DTI bietet die Möglichkeit, auf Basis der zufälligen Bewegung von Wassermolekülen (= Diffusion) entlang der Nervenfasern Verbindungen zwischen Hirnregionen darzustellen (= Anisotropie). Dieser Ansatz bildet speziell die weiße Substanz des Gehirns ab und erlaubt somit die Darstellung des Verlaufes von Nervernfasern. Die vergleichende Untersuchung von Gesunden und psychiatrischen Patienten kann so Aufschlüsse über spezifische Störungen der Konnektivität liefern. Die Nutzung dieser Methode bietet sich bislang vor allem bei der Betrachtung demenzieller Prozesse an. Die Zerstörung der Nervenfasern infolge demenzieller Prozesse lässt sich hier direkt nachweisen. In letzter Zeit wurde DTI-Untersuchungen z. B. aber auch bei der Schizophrenie eingesetzt. So ergibt sich auf Basis der Beobachtung, dass bei langjährig an Schizophrenie erkrankten Patienten stärkere Auffälligkeiten mittels DTI nachgewiesen werden konnten als bei ersterkrankten Patienten (Price et al. 2005) die Vermutung, dass sich eine Konnektivitätsstörung bei der Schizophrenie zumindest zum Teil erst im Laufe der Erkrankung entwickelt. Es ist aber auf jeden Fall zu beachten, dass bislang erst sehr wenige Studien mit dieser Methode zu psychiatrischen Fragestellungen vorliegen. Besondere Relevanz dürften DTI-Studien durch eine Kombination mit funktionellen Untersuchungen der an dem in Frage stehenden Netzwerk beteiligten Arealen gewinnen.
Fazit Das Forschungsbemühen mit funktionell bildgebenden Methoden in der Psychiatrie, insbesondere der fMRT, ist in den letzten Jahren massiv angestiegen. Im Interesse einer Qualitätssicherung bei dem Einsatz dieses Verfahren haben zahlreiche neurowissenschaftliche Fachgesellschaften, darunter die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) ein Curriculum fMRT herausgegeben (Schneider u. Dietrich 2005). Dieses Curriculum definiert, welche Ausbildung jemand, der selbständig fMRT-Untersuchung durchführen will, durchlaufen haben sollte und sieht nach standardisierten Prüfungen bei zertifizierten Ausbildern eine Bescheinigung über die Qualifikation vor. Für weitere bildgebende Verfahren sollen analoge Curricula in Zukunft folgen. Die hier vorgestellten Methoden sind überwiegend noch nicht sehr lange allgemein für Forschungszwecke verfügbar. Deshalb ist zu beobachten, dass die meisten bis jetzt vorgestellten Studien sehr isolierte und spezifische Fragestellungen untersucht haben. In der Zukunft ist zu erwarten, dass der Einsatz der funktionell bildgebenden Methoden verstärkt der Testung konkreter Störungsmodelle dient und dass auch metho-
denübergreifende Metaanalysen sich verstärkt auf die Entwicklung übergreifender Modelle konzentrieren. In einem derartigen Ansatz haben Phan und Mitarbeiter (2002) versucht, die Ergebnisse aus 55 Studien mit PET und fMRT zum emotionalen Erleben und Verhalten zu integrieren. Als vielfältig bei emotionalen Prozessen involviert, konnte die Arbeitsgruppe vor allem den medialen Präfrontalkortex identifizieren. Möglicherweise ist diese Struktur unabhängig von der spezifischen Aufgabe (Emotionsinduktion, Emotionsdiskrimination, emotionales Gedächtnis) von einer generellen Bedeutung für emotionale Prozesse. In der Zukunft wird sicherlich die kombinierte Untersuchung von funktionellen und strukturellen Befunden, in Zusammenhang mit Konnektivitätsanalysen und/oder genetischen Analysen zunehmen und – so ist zu hoffen – ein besseres Verständnis psychischer Störungen ermöglichen. Es ist im Rahmen dieses Kapitels nicht möglich, den spezifischen Gegebenheiten des Einsatzes der fMRT in speziellen psychiatrischen Fragestellungen den ausreichenden Raum zu geben. Eine ausführlichere Darstellung findet sich beispielsweise bei Schneider u. Fink (2007).
145 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie
DLPFC
DLPFC
VLPFC
VLPFC
THAL
PAR
PAR
CB
CB
Patienten > Kontrolle Patienten < Kontrolle
⊡ Abb. 6.9. Pfadmodell kortikal-subkortikal-zerebellärer Interaktionen während einer Arbeitsgedächtnisaufgabe. Patienten mit Schizophrenie und atypischen Neuroleptika weisen eine verstärkte interhemisphärische Konnektivität (grau) im Vergleich zu Patienten mit typischen Neuroleptika auf. DLPFC: dorsolateral präfrontaler Kortex; VLPFC: ventrolateral präfrontaler Kortex; PAR: parietaler Kortex; CB: Cerebellum; THAL: Thalamus. (Schlösser et al. 2006)
6.3
dung finden, haben in der Regel eine kurze Halbwertszeit (Kohlenstoff-11: 20,4 min, Sauerstoff-15: 2,07 min, Fluor18: 109,7 min). Diese Isotope eignen sich besonders zum Studium natürlicher Systeme, weil ihre stabilen Analoga Grundbausteine nahezu aller Biomoleküle und vieler Pharmaka sind. Während mit Fluor-18 markierte Radioliganden auch in PET-Zentren, die nicht über ein Zyklotron verfügen, appliziert werden können, macht die Verwendung von Tracern, die mit kurzlebigen Isotopen markiert sind, ein Zyklotron am Ort der Applikation notwendig. Demgegenüber ist wegen der langen Halbwertszeit der verwendeten Photonenstrahler (z. B. 13,22 h für Iod-131) für die Anwendung im Rahmen der SPECT ein Teilchenbeschleuniger vor Ort nicht notwendig. Auch dies macht die SPECT logistisch erheblich leichter handhabbar als die PET. Der wesentliche Vorteil, der die nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren vor allen anderen modernen Methoden der funktionellen Bildgebung auszeichnet, ist ihre außerordentlich hohe Sensitivität. So erlauben PET und SPECT die Quantifizierung von Stoffmengen in einer Konzentration von 10-9 M bis 10-12 M (M = Molar; ⊡ Abb. 6.10). Damit sind sie um viele Größenordnungen sensitiver als magnetresonanztomografische Verfahren. So kann Gadolinium mit der MRT lediglich in einer Konzentration von bis zu 10-4 M quantifiziert werden. Die Magnetresonanzspektroskopie (MRS) erlaubt die Bestimmung von GABA oder Glutamin sogar nur in Konzentrationen bis zu 10-3 M. Damit sind nuklearmedizinische Verfahren auf nicht absehbare Zeit die wichtigsten Werkzeuge für die neurochemische und pharmakologische
Positronenemissionstomografie und Single-Photon-EmissionsComputertomografie G. Gründer
Die nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren ermöglichen die Untersuchung biochemischer und physiologischer Prozesse im lebenden Gehirn des Menschen. Dabei hat die Positronenemissionstomografie (PET) gegenüber der Single-Photon-Emissions-Computertomografie (SPECT) die Vorteile der besseren räumlichen Auflösung, der besseren (absoluten) Quantifizierbarkeit sowie der wesentlich breiteren Palette an verfügbaren Radioliganden. Demgegenüber ist die SPECT wegen des geringeren apparativen und logistischen Aufwandes und der demzufolge niedrigeren Kosten breiter verfügbar. Beide Verfahren haben die Verwendung von mit einem radioaktiven Isotop markierten Radiopharmakon (»Tracer«, »Radiotracer«) gemein, die die nichtinvasive Quantifizierung von Proteinen (Rezeptoren, Transporter) bzw. deren Aktivitäten (Enzyme) im lebenden Organismus erlaubt. Radionuklide, die im Rahmen der PET Verwen-
⊡ Abb. 6.10a–f. PET-Untersuchungen gesunder menschlicher Probanden mit 2 Liganden für D2- und D3-Dopaminrezeptoren unterschiedlicher Affinität. Desmethoxyfallyprid (a–c) weist eine Ki von ca. 15 nM auf. Es erlaubt eine reliable Quantifizierung des Zielrezeptors nur im Striatum (b). Demgegenüber ermöglicht das Analogon Fallyprid (Ki = 38 pM, d–f) die Quantifizierung von D2/D3-Rezeptoren selbst in Hirnregionen mit sehr niedriger Rezeptordichte, z. B. im temporalen Kortex (d)
6
146
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
Forschung am Menschen in vivo. Darüber hinaus bieten sich mit den sich entwickelnden Möglichkeiten der Visualisierung und Quantifizierung von Signaltransduktion und Genexpression außerordentlich zukunftsweisende neue Anwendungsfelder dieser Methoden. Im Rahmen dieses Kapitels soll die Darstellung einiger Anwendungen in den Neurowissenschaften im Vordergrund stehen. Eine detailliertere Übersicht über die methodischen Grundlagen der nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren sowie umfangreichere Literaturangaben finden sich in Gründer 2008.
6.3.1
6
Untersuchungsparadigmen
Quantifizierung metabolischer Prozesse Die ersten Anwendungen der PET am Menschen waren die Quantifizierung des Glukosestoffwechsels mit radioaktiv markierter Glukose ([18F]Fluorodesoxyglukose, FDG) und die Messung des Dopaminmetabolismus mit radioaktiv markiertem DOPA (6-[18F]Fluoro-DOPA, 6[18F]FDOPA). Diese Liganden – insbesondere das für die Onkologie besonders wichtige [18F]FDG – stellen noch heute weltweit die am häufigsten verwendeten PET-Tracer dar. [18F]FDG ist ein Glukoseanalogon, das von Zellen aufgenommen wird, die Glukose verbrauchen. In den Zellen wird es durch das Enzym Hexokinase phosphoriliert. Der phosphorilierte Radioligand akkumuliert in allen stoffwechselaktiven Zellen, d. h. v. a. in der Leber, in Tumoren und im Gehirn, und hier vor allem in den Neuronen der grauen Substanz. Er eignet sich damit nicht nur für diagnostische Maßnahmen (z. B. im Rahmen der Demenzdiagnostik), sondern auch für Aktivierungstudien, die keine hohe zeitliche Auflösung erfordern. Die Quantität des Dopaminmetabolismus, gemessen mit 6-[18F]FDOPA, gilt als Maß für die Funktion und Integrität dopaminerger Neurone. 6-[18F]FDOPA wird von den dopaminergen Neuronen im Nucleus caudatus und im Putamen aufgenommen und nach rascher Umsetzung durch das Enzym Dopa-Dekarboxylase als Fluorodopamin gespeichert. Das Ausmaß der striatalen Speicherung des Liganden gilt daher auch als Maß für die Aktivität der Dopa-Dekarboxylase. PET mit 6-[18F]FDOPA wird in erster Linie genutzt, um den Verlust nigrostriataler dopaminerger Neurone im Rahmen eines Morbus Parkinson zu quantifizieren. Mit dieser Methode können sehr frühe und sogar präklinische Krankheitsstadien erkannt werden, wobei der Nucleus caudatus deutlich weniger und erst später betroffen ist als das Putamen. In der Diagnostik von Bewegungsstörungen haben allerdings in den letzten Jahren Liganden für den Dopamintransporter zunehmende Bedeutung erlangt, da die Quantifizierung des Dopamintransporters den Verlust dopaminerger Neurone mit noch höherer Sensitivität anzeigt. Zudem sind
für den Transporter SPECT-Liganden verfügbar, was ihren breiten klinischen Einsatz erheblich erleichtert. 6[18F]FDOPA wurde in den letzten Jahren in verschiedenen Arbeitsgruppen genutzt, um den Dopaminmetabolismus bei verschiedenen neuropsychiatrischen Störungen (schizophrene Störungen, Substanzabhängigkeit) zu quantifizieren (s. unten). Eine modernere Entwicklungslinie stellen Radioliganden für die Monoaminoxydase (MAO) dar. Studien an Rauchern zeigen, dass beide Isoformen der MAO bei diesen in erheblichem Umfang gehemmt werden. Studien zum Monoaminkatabolismus bei psychischen Störungen stellen interessante, bisher in keiner Weise ausgeschöpfte Anwendungsmöglichkeiten dieser Liganden dar.
Quantifizierung von Neurotransmitterrezeptoren und -transportern Bis heute wurden mehrere Hundert Radioliganden für eine Vielzahl von Rezeptoren und Transportern beschrieben. Nur die wenigsten wurden bis zur Anwendung am Menschen weiterentwickelt, und noch weniger wurden in klinischen Studien an psychiatrischen Patientenkollektiven verwendet. Die ersten PET-Liganden für Neurotransmitterrezeptoren waren im Jahre 1983 Liganden für D2-artige Dopaminrezeptoren. Neben Studien an gesunden Probanden, die eine altersabhängige Abnahme der D2-Rezeptordichte zeigten, waren Patienten mit schizophrenen Störungen die ersten Patientengruppen, die mit diesen Liganden untersucht wurden. Während eine einzelne PET-Untersuchung lediglich die Messung des sog. »Bindungspotenzials« (oder Rezeptorverfügbarkeit) erlaubt, sind für die Bestimmung von Rezeptordichte Bmax und -affinität KD mindestens 2 Untersuchungen (mit unterschiedlicher spezifischer Aktivität des Radioliganden) notwendig. Heute gilt jedoch die einfache Quantifizierung von Rezeptorverfügbarkeiten oder -dichten als wenig aufschlussreich, da sie lediglich ein statisches Bild des untersuchten Systems vermitteln. Als aussichtsreicher gelten Untersuchungen mit physiologischer, psychologischer oder pharmakologischer Stimulation, da sie Erkenntnisse über die Ansprechbarkeit des Systems liefern. Von dort ausgehend hat auch die Quantifizierung endogener Neurotransmitterkonzentrationen eine sehr große Bedeutung in der neurobiologischen PET-Forschung erlangt.
Neurotransmitterkonzentrationen Mit PET und SPECT können nicht nur die Dichten spezifischer Target-Moleküle quantifiziert werden. Diese Methoden eignen sich auch, um Neurotransmitterkonzentrationen zumindest semiquantitativ zu messen. So kann ein Rezeptorligand nicht nur dazu verwendet werden, die Dichte dieses Rezeptors zu quantifizieren, sondern auch, um die Kompetition des endogenen Neurotransmitters mit dem Liganden um die Bindung am Rezeptor zu erfassen. Der D2-artige Dopaminrezeptor gilt auch hier als pro-
147 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie
totypisches System, an dem die Prinzipien der wesentlichen Untersuchungsparadigmen, die heute in den Neurowissenschaften zur Anwendung kommen, entwickelt wurden. Erwägungen, dass selektive Radioliganden für Neurotransmitterrezeptoren durch den endogenen Neurotransmitter aus ihrer Bindung an den Rezeptor verdrängt werden können, spielen schon seit Anfang der 1990er Jahre eine wesentliche Rolle bei der Interpretation der Ergebnisse von PET-Studien. Studien mit dem D2/D3-selektiven [11C]Racloprid am Menschen konnten zeigen, dass Stimulanzien wie Amphetamin oder Methylphenidat durch die Erhöhung synaptischer Dopaminkonzentrationen die Bindung des Liganden reduzieren (⊡ Abb. 6.11). Diese Stimulierbarkeit dopaminerger Systeme nimmt mit dem Alter ab. In Studien an Pavianen konnte die striatale Bindung von [11C]Racloprid auch durch Pharmaka, die synaptische Dopaminkonzentrationen auf anderem Wege erhöhen, z. B. Dopaminrückaufnahmehemmer, deutlich reduziert werden (Dewey et al. 1993 a). Umgekehrt führt die Applikation von Substanzen, die synaptische Speichervesikel entleeren und damit das synaptische Dopamin vermindern, wie z. B. Reserpin, zu einer erhöhten [11C]Racloprid-Bindung. Gleiches gilt, wenn man die Dopaminsynthese durch die Gabe von α-Methyl-para-Tyrosin (AMPT) vermindert (Abi-Dargham et al. 2000). Die indirekte Messung der Veränderung synaptischer Transmitterkonzentrationen durch pharmakologische Stimulation führte schließlich in den letzten Jahren auch zu bedeutsamen Einblicken in die Pathophysiologie schizophrener Störungen (s. unten). Fast alle derartigen Untersuchungen (und auch die im folgenden Abschnitt beschriebenen) sind mit BenzamidRadioliganden durchgeführt worden. Viele andere Liganden auch für andere Neurotransmittersysteme sind nicht sensitiv gegenüber Veränderungen synaptischer Transmitterkonzentrationen. Es ist gegenwärtig unklar, welche ⊡ Abb. 6.11a, b. Inzwischen klassisches Untersuchungsparadigma zur Quantifizierung der Dopaminfreisetzung auf einen pharmakologischen Stimulus. a SPECT-Baseline-Untersuchung eines Probanden mit dem D2/D3-selektiven Radioliganden [123I]Iodobenzamid (IBZM), b nach Applikation von Amphetamin. Das Stimulans führt zu einer ausgeprägten Dopaminfreisetzung. Erhöhtes synaptisches Dopamin verdrängt den Radioliganden aus seiner Bindung am Rezeptor. Die Abnahme der Bindung des Radioliganden gilt daher als Maß für die amphetamin-induzierete Dopaminfreisetzung. (Nach Abi-Dargham et al. 1998)
a
Eigenschaften ein Radioligand aufweisen muss, um ihn für derartige Untersuchungsansätze geeignet zu machen.
Neurotransmitterinteraktionen Es sind wahrscheinlich nicht gestörte Funktionen isolierter Neurotransmittersysteme, die psychischen Störungen zugrunde liegen, sondern eher komplexe Dysregulationen verschiedener Systeme. Mit der PET können diese Interaktionen in vivo untersucht werden. Besonders intensiv studiert wurde der Einfluss von serotonergen, cholinergen, GABAergen und glutamatergen Systemen auf die dopaminerge Neurotransmission. Der muskarinische Azetylcholinrezeptorantagonist Scopolamin führt bei gesunden Probanden zu einer signifikanten Reduktion der striatalen [11C]Racloprid-Bindung (Dewey et al. 1993b). Dies wird mit einer Verminderung des exzitatorischen cholinergen Inputs auf hemmende striatale GABAerge Interneurone erklärt, was wiederum zu eine verstärkten Dopaminfreisetzung führt. Der Befund einer Erhöhung der striatalen [11C]Racloprid-Bindung durch GABAerge Substanzen wie Vigabatrin oder Lorazepam ist allerdings nicht unumstritten. Zur Verminderung der striatalen [11C]Racloprid-Bindung durch Glutamatantagonisten s. unten. Diese und andere Untersuchungen wurden auf der Grundlage der Hypothese, dass die Bindung von [11C]Racloprid und anderer Radioliganden direkt durch synaptische Transmitterkonzentrationen beeinflusst wird, interpretiert. Diese zentrale Annahme wurde kürzlich durch eine aufwändige Untersuchungsserie einer japanischen Arbeitsgruppe in Frage gestellt. Hier führte Scopolamin bei Affen nicht zu einer Veränderung striataler Dopaminkonzentrationen, wenn diese durch Mikrodialyse gemessen wurden (Tsukada et al. 2000). Dennoch wurde die striatale [11C]Racloprid-Bindung vermindert, was jedoch auf eine verminderte Affinität des D2-Rezeptors nach Gabe von Scopolamin zurückzuführen war. Dies illustriert, dass die Interpretation derartiger PET-
b
6
148
6
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
Studien spezifischer psychischer Störungen
Studien zahlreichen Einflussgrößen unterliegt, die sorgfältig studiert werden müssen.
6.3.2
Arzneimittelentwicklung
Schizophrene Störungen
PET und SPECT sind zu außerordentlich wertvollen Werkzeugen in der Arzneimittelentwicklung insbesondere von Neuropsychopharmaka geworden. Sie haben zudem wesentliche Erkenntnisse über die Wirkmechanismen dieser Substanzen geliefert. Wenn Radioligand und therapeutische Substanz kompetitiv an der gleichen Zielstruktur (z. B. einem Rezeptor) binden, so liefern diese Methoden direkte Informationen über das Ausmaß der Bindung sowie über die Kinetik des Pharmakons im Zielgewebe bzw. am Zielmolekül (⊡ Abb. 6.12). Zudem können von einem Liganden zu markierende Zielmoleküle (z. B. Amyloid bei Alzheimer-Demenz) als Surrogatmarker für den Erfolg einer Therapie dienen. Als besonders wertvoll hat sich die PET bei der quantitativen Erfassung der Besetzung D2-artiger Dopaminrezeptoren durch Antipsychotika erwiesen. Das Monitoring der antipsychotischen Therapie durch Korrelation von Rezeptorbesetzungen und Dosierungen bzw. Plasmaspiegeln einerseits und klinischen Wirkungen und Nebenwirkungen andererseits hat nicht nur wertvolle Informationen über die Pharmakokinetik dieser Substanzgruppe geliefert, sondern auch ganz wesentlich zum Verständnis ihrer Wirkungsweise beigetragen (Gründer et al. 2003 a). Der Ansatz wurde in den letzten Jahren auch auf andere, insbesondere serotonerge Rezeptorsysteme, ausgedehnt. Er ist heute aus einer rationalen Arzneimittelentwicklung nicht mehr wegzudenken.
Gegenwärtige Konzeptionen zur Neurochemie schizophrener Störungen gehen davon aus, dass ein wesentlicher Anteil ihrer Phänomenologie (d. h. insbesondere Negativsymptome und kognitive Störungen) auf eine Verminderung der dopaminergen Neurotransmission in mesokortikalen dopaminergen Projektionen zurückzuführen ist und dass der hypostasierte Exzess der dopaminergen Neurotransmission in mesolimbischen Projektionen lediglich als Folge dieses basaleren Prozesses zu betrachten ist (Weinberger 1987). PET-Untersuchungen der letzten Jahre konnten dieses Konzept in wesentlichen Teilen stützen. Dabei sind jedoch die in subkortikalen Kerngebieten ablaufenden Veränderungen erheblich besser charakterisiert als die funktionalen Veränderungen im (präfrontalen) Kortex. So konnte gezeigt werden, dass Patienten mit der akuten Exazerbation einer schizophrenen Störung auf einen Amphetaminstimulus mit einer stärkeren Dopaminfreisetzung im Striatum reagieren als gesunde Kontrollprobanden (Abi-Dargham et al. 1998). Mehrere voneinander unabhängige Gruppen konnten zeigen, dass die Dopaminsynthesekapazität – gemessen mit [18F]FDOPA-PET – bei Patienten mit schizophrenen Störungen gesteigert ist (z. B. Reith et al. 1994). Die mehrwöchige Behandlung von Patienten mit einer schizophrenen Störung mit Haloperidol führt zu einer Abnahme des Dopaminmetabolismus (⊡ Abb. 6.13; Gründer et al. 2003).
⊡ Abb. 6.12a-d. PET-Untersuchung eines gesunden Probanden mit [11C]N-Methylspiperon ([11C]NMSP) zur Bestimmung der zeitlichen Dynamik der 5-HT2-Rezeptorbesetzung durch den selektiven 5-HT2Antagonisten M100907. [11C]NMSP bindet nichtselektiv sowohl an D2artige Dopaminrezeptoren als auch an 5-HT2-Rezeptoren (und in geringem Umfang auch an α1-Rezeptoren). Dabei repräsentiert die Bindung im Striatum die Bindung an D2-artige Rezeptoren, die Bindung im Kortex die Bindung an 5-HT2(und α1-)Rezeptoren (a Baseline). Nach der Baseline-Untersuchung wurde der Proband mit einer M100907-Einzeldosis behandelt und seriellen PET-Scans b nach 2, c nach 8 und d nach 24 h unterzogen. Während der gesamten Dauer bleiben die kortikalen 5-HT2-Rezeptoren zu mehr als 80% blockiert. (Nach Gründer et al. 1997)
a
b
2h
8h c
d
24 h
Baseline
149 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie
⊡ Abb. 6.13a, b. PET-Untersuchungen mit dem Liganden 6-[18F]FDOPA bei Patienten mit einer schizophrenen Störung a vor und b nach 4- bis 6-wöchiger Behandlung mit Haloperidol. Dargestellt sind gemittelte Bilder der Dopaminsynthesekapazität bei 9 Patienten. Die subchronische antipsychotische Behandlung führt zu einer Reduktion des Dopaminmetabolismus. (Nach Gründer et al. 2003 b)
a
Präfrontal-subkortikale Dysregulation. In den letzten
Jahren gelang es der Gruppe um Weinberger, in tierexperimentellen Studien den in diesen Untersuchungen belegten Exzess in mesolimbischen dopaminergen Projektionen auf basalere pathophysiologische Prozesse zurückzuführen. So weisen Affen, deren medialer temporaler Kortex neonatal geschädigt wird, im Erwachsenenalter eine im Vergleich zu gesunden Tieren erhöhte Dopaminfreisetzung auf einen Amphetaminstimulus auf (Saunders et al. 1998). Tiere, denen erst im Erwachsenenalter die Läsion gesetzt wird, verhalten sich in dieser Beziehung wie gesunde Tiere. Bei Patienten mit schizophrenen Störungen korreliert die Konzentration von N-Azetylaspartat als Marker für die neuronale Integrität negativ mit der amphetamininduzierten Dopaminfreisetzung, wobei dieser Zusammenhang lediglich im dorsolateralen präfrontalen Kortex besteht (Bertolino et al. 2000). Zuletzt legen die Arbeiten von Abi-Dargham et al. (2002) einen direkten Zusammenhang zwischen kognitiven Störungen und einer verminderten dopaminergen Neurotransmission in mesokortikalen Projektionen nahe. So ist bei Patienten mit einer schizophrenen Störung, nicht jedoch bei gesunden Probanden, die Arbeitsgedächtnisleistung negativ mit der D1-Rezeptorverfügbarkeit im dorsolateralen präfrontalen Kortex korreliert (Abi-Dargham et al. 2002). Die Heraufregulation von D1-Rezeptoren wird hier als kompensatorischer, bei Schizophrenien aber insuffizienter Mechanismus für eine verminderte mesokortikale dopaminerge Neurotransmission betrachtet. Ketaminpsychose. Die Applikation des NMDA-Antago-
nisten Ketamin führt zu einer Psychose, die sich vor allem durch Negativsymptome und kognitive Störungen auszeichnet. Die Ketaminpsychose gilt daher als ein Modell für schizophrene Störungen, das vor allem dadurch be-
b
sonders attraktiv ist, dass es durch ein Transmittersystem modelliert wird, das ganz wesentlich in die Pathophysiologie schizophrener Störungen involviert zu sein scheint. Mehrere Arbeitsgruppen konnten unabhängig voneinander zeigen, dass hohe subanästhetische Dosen von Ketamin zu einer Dopaminfreisetzung im Striatum gesunder Probanden führen. Besonders interessant ist, dass die amphetaminduzierte Dopaminfreisetzung bei gesunden Probanden, denen zusätzlich Ketamin infundiert wird, ein Ausmaß erreicht, das dem bei Patienten mit schizophrenen Störungen entspricht, die lediglich Amphetamin erhalten (Kegeles et al. 2000). Man betrachtet daher die Ketaminstimulation als pharmakologisches Modell für das bei schizophrenen Störungen vermutete glutamaterge Defizit, das sekundär für die oben beschriebenen Störungen der subkortikalen dopaminergen Neurotransmission verantwortlich gemacht wird.
Affektive Störungen Ganz im Zentrum der Studien zu affektiven Störungen stand – entsprechend der immer noch in weiten Teilen akzeptierten »Monoaminhypothese« affektiver Störungen – die monoaminerge Neurotransmission. Hier liegen die meisten Studien zur Funktion serotonerger Systeme vor. Untersucht wurden vor allem 5-HT1A- und 5-HT2-Rezeptoren sowie der Serotonintransporter. Auch die Rolle dopaminerger Systeme bei depressiven Störungen wurde recht gut untersucht. In Ermangelung guter Liganden fehlen Studien zu noradrenergen Systemen fast vollständig. Besonders interessant erscheinen jedoch die jüngst publizierten Untersuchungen zur Aktivität der Monoaminoxidase A (MAO-A). Der in Post-mortem-Untersuchungen an Patienten mit depressiven Störungen und an Suizidopfern erhobene Befund einer erhöhten kortikalen 5-HT2-Rezeptordichte
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6
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
konnte in den vorliegenden PET- und SPECT-Untersuchungen nicht konsistent bestätigt werden. Die Mehrzahl der Studien zeigt Verminderungen oder keine Veränderung der 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit, nur einzelne Studien bestätigten die vermuteten Erhöhungen der Rezeptordichte, die bei reduzierten synaptischen Serotoninkonzentrationen zu erwarten sein sollten. Während eine erniedrigte 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit in mehreren Studien durch eine erst kurz zuvor durchgeführte Behandlung mit serotonergen Antidepressiva erklärt werden kann, zeigen selbst die Studien mit einem medikationsfreien Intervall von mehr als 6 Monaten nicht konsistent Erhöhungen der 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit. Meyer und Mitarbeiter haben nun vorgeschlagen, dass es nicht die Störung an sich ist, die mit der 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit in Verbindung steht, sondern bestimmte psychopathologische Charakteristika (Meyer et al. 2003). Sie fanden eine hochsignifikante positive Korrelation zwischen kortikaler 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit und dysfunktionalen Einstellungen der Patienten; Patienten mit dem höchsten Grad an Pessimismus wiesen die höchste 5-HT2-Rezeptorverfügbarkeit, insbesondere im präfrontalen Kortex (Brodman Area 9) auf. Ähnliche Befunde fand die gleiche Arbeitsgruppe auch hinsichtlich der Verfügbarkeit des Serotonintransporters. Während sich in einem Gruppenvergleich kein Unterschied zwischen depressiven Patienten und gesunden Kontrollen fand, wiesen die Patienten mit den ausgeprägtesten dysfunktionalen Einstellungen die höchste Serotonintransporterverfügbarkeit auf (Meyer et al. 2004). Damit ist nicht nur widerlegt, dass ein bei depressiven Störungen vermutetes serotonerges Defizit auf eine Degeneration serotonerger Neurone zurückzuführen ist; die Befunde legen eher nahe, dass die Überexpression von Serotonintransportern einem solchen Defizit zugrunde liegen könnte. Auch Befunde zur dopaminergen Neurotransmission legen nahe, dass die gestörte Neurochemie bei depressiven Störungen weniger mit der nosologischen Entität »Depression« in Beziehung zu setzen ist als vielmehr mit bestimmten Charakteristika dieser Erkrankungen. So weisen depressive Patienten mit einer motorischen Hemmung eine erhöhte D2-Rezeptorverfügbarkeit im Putamen auf, was nach heutigen Modellen auf verminderte synaptische Dopaminkonzentrationen in dieser Hirnstruktur hinweist (Meyer et al. 2006 a). Besonders interessant erscheint der jüngst publizierte Befund einer erhöhten Verfügbarkeit der MAO-A bei Patienten mit einer depressiven Störung (Meyer et al. 2006 b; ⊡ Abb. 6.14). Für die Autoren könnte dieser Befund die Haupterklärung für ein vermutetes monoaminerges Defizit bei depressiven Störungen sein. Gegen so monokausale und mechanistische Erklärungsmodelle allerdings spricht z. B. der Befund, dass Nikotin zu einer ausgeprägten Hemmung der MAO-A führt.
Suchterkrankungen Substanzabhängigkeiten stellen die Gruppe von Störungen dar, in deren Neurobiologie nuklearmedizinische bildgebende Verfahren in den letzten Jahren besonders tiefe Einblicke ermöglicht haben. Zentraler Mechanismus aller Substanzen, die zu einer Sucht führen können, ist die Erhöhung synaptischer Dopaminkonzentrationen im Belohnungssystem des Gehirns, d. h. insbesondere in temporolimbischen Hirnstrukturen. Während man früher den Neurotransmitter Dopamin lediglich als Vermittler von Belohnung (»reward«) ansah, gilt er heute als Modulator der Bedeutung (»salience«) von Reizen, der auch in Phänomene wie Motivation, die Prädiktion von Belohnung bzw. deren Ausbleibens sowie die Gedächtnisbildung salienter Ereignisse involviert ist. Zudem weiß man heute, dass auch präfrontal-kortikale Strukturen, der insuläre Kortex sowie der Thalamus die langfristigen Substanzwirkungen modulieren. Präklinische Befunde, die zeigen, dass abhängigkeitserzeugende Substanzen zu einer sehr ausgeprägten Dopaminfreisetzung im Nucleus accumbens, einer zentralen Struktur des zerebralen Belohungssystems, führen, konnten durch PET-Studien am Menschen sehr klar bestätigt werden (⊡ Abb. 6.11). So korreliert die durch (dopaminomimetische) Stimulanzien wie Kokain induzierte Dopaminfreisetzung mit dem von gesunden Probanden erlebten »High« nach Applikation der Substanz und dem Ausmaß der Dopamintransporterbesetzung durch die Droge (Volkow et al. 1997). Unabhängig von der missbrauchten Substanz ist bei Patienten mit einer Substanzabhängigkeit die D2-Rezeptorverfügbarkeit im ventralen Striatum vermindert. Gleichzeitig ist bei diesen Patienten – und auch das offenbar unabhängig von der Substanz – die Dopaminfreisetzung auf ein Stimulans deutlich vermindert bzw. sogar aufgehoben (Martinez et al. 2005). Beide Veränderungen zusammen werden als neurobiologisches Substrat einer verminderten Sensitivität gegenüber verstärkenden Substanzen aufgefasst. Dabei scheint das Verlangen nach Alkohol (»Craving«) das subjektiv erlebte Korrelat dieser reduzierten dopaminergen Sensitivität zu sein (Heinz et al. 2004). Zudem weisen Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit eine erhöhte μ-Opiatrezeptorverfügbarkeit auf, die bei jenen Patienten mit dem ausgeprägtesten Craving am deutlichsten ist (⊡ Abb. 6.15; Heinz et al. 2005). Andere Studien weisen auf komplexe Interaktionen auch mit weiteren, insbesondere GABAergen und glutamatergen, Transmittersystemen hin. Die Aktivität dopaminerger Systeme könnte auch einen Teil der Vulnerabilität für Substanzabhängigkeiten darstellen. So erleben gesunde Probanden mit der niedrigsten striatalen D2-Rezeptorverfügbarkeit die stärksten positiven Wirkungen nach Applikation von Methylphenidat. Neueste Befunde deuten an, dass die Söhne alkoholabhängiger Väter ein geringeres Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeit haben, wenn sie eine hohe stria-
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151 6.3 · Positronenemissionstomografie und Single-Photon-Emissions-Computertomografie
Präfrontaler Kortex
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Aktivität [kBq/ml]
Aktivität [kBq/ml]
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Aktivität [kBq/ml]
Aktivität [kBq/ml]
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Temporaler Kortex
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Zeit [min]
Anterior Cingulärer Kortex
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Zeit [min]
⊡ Abb. 6.14. PET-Untersuchungen mit dem Liganden [11C]Harmin, mit dem die Verfügbarkeit der MAO-A quantifiziert werden kann. Typische, die Gesamtkollektive gut repräsentierende Zeit-Aktivitäts-Kurven eines depressiven Patienten (geschlossene Kreise) und eines gesunden Pro-
tale D2-Rezeptorverfügbarkeit aufweisen (Volkow et al. 2006). Studien zur Modulation der D2-Rezeptorverfügbarkeit durch Stress oder die Stellung in der sozialen Hierarchie zeigen, dass sich die Interaktion zwischen biologischer, genetisch determinierter Vulnerabilität und verschiedenen Umweltfaktoren auch mit nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren darstellen lässt. Schließlich wurde die PET in den letzten Jahren auch eingesetzt, um die biologischen Wirkungen von Entwöhnungs- und Anti-Craving-Substanzen zu untersuchen. Dies ist ein sich entwickelndes Feld, das wahrscheinlich in Zukunft erhebliche Bedeutung erlangen wird.
Demenzielle Syndrome Im Unterschied zu allen bisher diskutierten Störungen stellt die PET bei demenziellen Syndromen bisher nicht
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Zeit [min] banden (offene Kreise) in verschiedenen, repräsentativen Hirnregionen. Der Befund illustriert die ubiquitär erhöhte Verfügbarkeit des Enzyms. (Nach Meyer et al. 2006 b)
ausschließlich ein Forschungs-, sondern auch und in erster Linie ein diagnostisches Werkzeug dar. Dabei ist die PET mit [18F]FDG eine klassische Anwendung mit hoher Sensitivität und Spezifität in der Früh- und Differenzialdiagnostik demenzieller Syndrome. So findet sich z. B. bei der Demenz vom Alzheimer-Typ der klassische Befund einer Reduktion des Glukosemetabolismus in parietookzipitalen Hirnregionen. In den letzten Jahren wurden Radioliganden entwickelt, die spezifisch an Amyloid-β-Peptid binden. Unter den verschiedenen Entwicklungsstrategien hat sich die radioaktive Markierung der Farbstoffe Kongorot oder Thioflavin als derzeit am aussichtsreichsten erwiesen. Bei Patienten mit Demenz vom AlzheimerTyp und mit leichter kognitiver Störung (MCI) wurden [18F]FDDNP und [11C]PIB evaluiert. Dabei finden sich erheblich höhere Anreicherungen bei Patienten mit Alzhei-
152
Kapitel 6 · Ätiopathogenetische Beiträge der Bildgebungsforschung
Die Untersuchung der endogenen Genexpression, wie sie in der neuropsychiatrischen Forschung besonders wichtig wäre, wird daher noch viele Jahre experimenteller Vorarbeiten erfordern.
Literatur Zu Abschn. 6.1 a
b
c
d
6
⊡ Abb. 6.15a–d. PET-Untersuchungen von a/c Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit im Vergleich zu b/d gesunden Probanden mit dem Radioliganden [11C]Carfentanil. Dieser Ligand bindet selektiv an μ-Opiatrezeptoren. Sowohl der a transversale als auch der c koronare Schnitt zeigt deutlich die erhöhte μ-Opiatrezeptorverfügbarkeit bei der Patientengruppe im Vergleich zu den gesunden Probanden (b, d). (Nach Heinz et al. 2005)
mer-Demenz, Patienten mit MCI weisen intermediäre Werte auf. Dabei bietet das Amyoid-Imaging eine höhere Trennschärfe zwischen den diagnostischen Gruppen als die PET mit [18F]FDG und die MRT (Small et al. 2006). Diese Methoden wird man in der Zukunft zum Monitoring prophylaktischer und insbesondere pharmakotherapeutischer Maßnahmen nutzen.
6.3.3
Ausblick
Im Zentrum nahezu aller bisher durchgeführten PETbzw. SPECT-Untersuchungen stand die Quantifizierung synaptischer Moleküle und Prozesse. Diese Untersuchungen können jedoch wahrscheinlich nur oberflächliche Phänomene der Neurochemie psychischer Störungen beschreiben. Daher gehen wesentliche Entwicklungen der nächsten Jahre in die Richtung der Beschreibung von Signaltransduktionskaskaden und noch einen Schritt darüber hinaus, zur Quantifizierung der Genexpression. Die existierenden Methoden wurden in der onkologischen Forschung entwickelt. Die in der Onkologie mit großem Erfolg eingesetzten Strategien sind in den Neurowissenschaften allerdings nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten umsetzbar, weil die Blut-Hirn-Schranke einen Übertritt der Radiotracer in das ZNS vielfach verhindert.
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6
7 7 Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen P. Riederer, W. E. Müller, A. Eckert, J. Thome
7.1
Einleitung
– 158
7.2
Grundprinzipien der Neurotransmission – 158
7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5
Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren – 159 Neurotransmitter – 159 Rezeptoren – 162 Neurotransmitterrezeptorsysteme – 164 Signaltransduktion – 170 Transkriptionskopplung – 174
7.4
Neuroanatomische Aspekte – 177
7.5
7.5.3 7.5.4 7.5.5
Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen – 177 Demenz vom Alzheimer-Typ – 179 Depressionen (manisch-depressive Erkrankungen) – 179 Schizophrene Psychosen – 180 Angsterkrankungen – 181 Persönlichkeitseigenschaften – 181
7.6
Probleme der Forschung – 182
7.5.1 7.5.2
Literatur
– 183
> > Die Rolle von Neurotransmittersystemen in der Physiologie der Gehirnfunktionen ist ebenso unbestritten wie deren Beteiligung an pathologischen Veränderungen, die letztlich zu den Symptomen psychischer Krankheiten führen. Neurotransmitterhypothesen psychischer Störungen sind sowohl in der Pathogeneseforschung als auch in der Psychopharmakotherapie Ausgangspunkte der wissenschaftlichen Bemühungen um ein besseres Verständnis der neurobiochemischen Grundlagen psychischer Erkrankungen. Einfache Monotransmitterhypothesen haben adäquateren Gleichgewichtstheorien weichen müssen, die von einer komplizierten Interaktion der verschiedensten Neurotransmitter ausgehen, neuroanatomische Strukturierungen (»funktionelle Systeme«) berücksichtigen und auch Effekte in die Überlegungen miteinbeziehen, die über die reine Synapsenwirkung hinausgehen (Signaltransduktoren, Transkriptionsfaktoren etc.). Die Neurotransmittersysteme des Gehirns sind so komplex, dass bislang nur die Grundzüge ihrer Funktionsweisen bekannt sind. Es wäre vermessen anzunehmen, dass aus der Kenntnis dieser Prozesse ein Verständnis der menschlichen Psyche erwachsen könnte. Die Tatsache, dass Störungen der Neurotransmittersysteme eine Grundlage psychischer Erkrankungen darstellen können, darf nicht dazu führen, hierin die alleinige Ursache psychischer Störungen zu erblicken. Ein solcher einseitiger reduktionistischer und simplifizierender Biologismus wird weder im wissenschaftlichen Sinn dem komplexen System der menschlichen Psyche noch im ärztlichen Sinn den Bedürfnissen psychisch kranker Patienten gerecht. Erst in der interdisziplinären Verbindung mit neuroanatomischen, neuropsychologischen und klassisch-klinischen, psychopathologischen Bemühungen können neurobiochemische Hypothesen wie die Neurotransmittertheorien dazu beitragen, psychische Störungen besser zu verstehen und optimierte therapeutische Strategien zu entwickeln.
158
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
7.1
Einleitung
Die Neurotransmission ist innerhalb der biologischen Psychiatrie in zweierlei Hinsicht von Interesse: Einerseits bietet sie Zugang zu einem tieferen Einblick in die ätiopathogenetischen Bedingungen, die zum Entstehen psychischer Erkrankungen führen, andererseits bildet sie einen wichtigen Ansatzpunkt für pharmakotherapeutische Maßnahmen zur Behandlung dieser Krankheiten.
Informationsverarbeitung im Zentralnervensystem
7
Das menschliche Gehirn besteht schätzungsweise aus über 100 Mrd. Zellen (Neuronen und Gliazellen) mit unterschiedlicher und außerordentlich vielgestaltiger Morphologie, Biochemie und Funktion. Die Hauptaufgabe des Zentralnervensystems (ZNS) besteht in der Rezeption sensorischer Eindrücke, ihrer Speicherung, Auswertung und Analyse, der Generierung von Denkinhalten sowie der Initiation von aktiven Handlungsabläufen und Reaktionen, denen der menschliche Geist auf vielfältige Art und Weise Ausdruck verleihen kann. Grundvoraussetzung für diese komplizierten und komplexen zentralnervösen Prozesse ist die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung. Diese findet an umschriebenen Orten des Neuronengeflechts statt, den Synapsen, wobei jede Nervenzelle etwa 10.000 unterschiedliche Synapsen trägt, sodass jede Nervenzelle von sehr vielen unterschiedlichen Neurotransmittern erreicht, aber auch die Aktivität eines einzelnen Neurons über seine Synapsen auf sehr viele andere Neurone weitergegeben wird. Diese komplexe Verschaltung der einzelnen Neurone gilt schon für den früher angenommenen Fall, dass jedes Neuron an seinen Synapsen nur einen einzigen Transmitter freisetzt (Dale-Prinzip). Die Komplexität wird aber noch dadurch vergrößert, dass viele Neurone nicht nur einen einzigen Transmitter freisetzen, sondern an ihren Synapsen neben einem primären Transmitter auch noch unter bestimmten Bedingungen einen sekundären Transmitter freisetzen können. Diese Nervenzellkonnektionen ermöglichen die interneuronale Kommunikation mittels chemischer Substanzen, den spezifisch an Rezeptoren bindenden Neurotransmittern. Jedes Neuron kann Tausende von Synapsen bilden. Daher wird die Gesamtzahl der Synapsen im ZNS auf mehrere hundert Billionen geschätzt.
Störungen der Informationsverarbeitung Störungen der Informationsverarbeitungsprozesse des ZNS, wie sie in typischer Weise bei psychischen Erkrankungen auftreten, müssen in enger Beziehung zu Alterationen der synaptischen Einheiten als morphologische und funktionelle Elemente der interneuronalen Kommunikation stehen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass
synaptische Veränderungen unbedingt auch ursächlich für die klinischen Erscheinungsformen neuropsychiatrischer Störungen verantwortlich sind. Eine gestörte Neurotransmission kann durchaus auch ein untergeordnetes Phänomen innerhalb einer pathogenetischen Kaskade sein, die ihren Ursprung an ganz anderer Stelle nimmt (z. B. Keimbahn bei hereditären Erkrankungen, extrazerebrale Lokalisation bei sog. exogenen Reaktionstypen etc.). Dennoch stellt das Verständnis der bei neuropsychiatrischen Erkrankungen auftretenden Veränderungen der synaptischen Neurotransmission einen wesentlichen Fortschritt in der Erkenntnis der Ätiopathogenese dieser Krankheiten dar. Darüber hinaus bildet es den Ausgangspunkt für bereits praktizierte und zukünftig mögliche pharmakotherapeutische Behandlungsstrategien.
Grundlagenforschung Die moderne biologische Psychiatrie als Grundlagenwissenschaft hat von der Untersuchung synaptischer Prozesse ihren Ausgang genommen und über die Entwicklung modifizierender Substanzen – Psychopharmaka – erheblichen Einfluss auf die klinisch-psychiatrische Praxis genommen. Derzeit jedoch erweitert sich das Spektrum der Forschungsbemühungen und in das Zentrum des Interesses rücken immer mehr auch intrazelluläre Signaltransduktionsmechanismen diesseits und jenseits der Synapse. Die moderne Molekularbiologie liefert die Werkzeuge zur Erforschung dieser bislang unzugänglichen Bereiche zentralnervöser Funktionssysteme. Hieraus werden sich in den nächsten Jahren vermutlich neue Erkenntnisse hinsichtlich Pathophysiologie, Diagnostik und möglicher Therapiestrategien neuropsychiatrischer Erkrankungen ergeben.
7.2
Grundprinzipien der Neurotransmission
Der Grundaufbau eines Neurons besteht aus dem Zellkörper (Soma), seinen Fortsätzen (Dendriten) sowie dem Axon. Die meist mehrfach vorhandenen Dendriten vermitteln in der Regel afferente Signale (»input«), während das üblicherweise singuläre, oft extrem lange Axon für die Signalefferenz verantwortlich ist (»output«) und an seiner Endigung (Axonterminal) die Information synaptisch auf die nächste Nervenzelle überträgt. Typisches Merkmal der Neurone ist ihre elektrische Erregbarkeit, die ihnen Kommunikation und Informationsverarbeitung erst ermöglicht. Transmembranäre Ionenseparationsvorgänge sorgen dafür, dass Nervenzellen auf ihrer Membraninnenseite negativ geladen sind. Ionenkanäle und Ionenpumpen ermöglichen die Aufrechterhaltung dieses Ruhepotenzials. Neurotransmitter können dieses elektrische Potenzial verändern: Exzitato-
7
159 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
rische Transmitter lösen eine Depolarisation aus; ab einem bestimmten Schwellenwert wird das sog. Aktionspotenzial erreicht. Inhibitorische Transmitter führen im Gegensatz dazu zu einer Hyperpolarisation der Neuronenmembran. Das Aktionspotenzial wandert am Axon entlang und depolarisiert die Plasmamembran an den präsynaptischen Terminalen. Dies wiederum ermöglicht die Freisetzung von Neurotransmittern und damit über deren postsynaptische Rezeptorbindung die Kommunikation mit dem nächsten Neuron (⊡ Abb. 7.1). Rezeptoren besitzen 2 Hauptaufgaben: Bindung und Erkennung des jeweils spezifischen Transmitters, Aktivierung des Effektorneurons. Durch die Transmitter-Rezeptor-Interaktion kommt es zu Konformationsveränderungen des Rezeptors, die in der Regel zu einer Alteration des Ionenstroms führen. Hieraus resultieren Potenzialveränderungen am Effektorneuron. Sogenannte »second-messenger«-gekoppelte Rezeptoren lösen nach Transmitterbindung eine Signaltransduktionskaskade aus, durch die einerseits indirekt ebenfalls Ionenkanäle gesteuert werden können, die aber andererseits auch eine Aktivierung von Transkriptionsfaktoren verursachen kann, die ihrerseits die Expression bestimmter Proteine modulieren.
7.3
Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Man schätzt, dass 50–100 verschiedene Moleküle Neurotransmittereigenschaften besitzen und zur chemischen Signalübertragung an Synapsen beitragen. Klassischerweise erfolgen diese Nervenzellkontakte von einem Axon (präsynaptisch) auf einen Dendriten oder das Soma eines nachgeschalteten Neurons (postsynaptisch): axodendritisch oder axosomatisch. Es kommen aber auch axoaxonische, dendroaxonische und dendrodendritische Synapsen sowie Autorezeptoren vor. Letztere sorgen für »retrograden« Informa-
⊡ Abb. 7.1. Grundprinzipien der Neurotransmission (stark vereinfachtes Schema)
tionsfluss und stellen wichtige Feedback-Mechanismen dar. Darüber hinaus kommen bei einem Neuron auch Kombinationen verschiedener Synapsentypen vor. Die Synapsentransmission erfolgt meist chemisch, d. h. durch Vermittlung von Neurotransmittern. Es gibt allerdings auch eine elektrische Neurotransmission, die ohne Intervention eines Transmitters funktioniert. Die Depolarisationswelle des Aktionspotenzials kann in solchen Fällen über sog. »gap junctions« direkt von Neuron zu Neuron wandern. Zunächst nahm man an, dass solche elektrischen Synapsen relativ selten sind und eher eine Ausnahme darstellen. Gegenwärtig häufen sich jedoch die Hinweise darauf, dass sie im ZNS sehr viel häufiger vorkommen als ursprünglich angenommen. Die Rolle elektrischer Synapsen bei neuropsychiatrischen Erkrankungen ist bislang nicht zuletzt auch aufgrund methodischer Probleme kaum erforscht. In diesem Kapitel soll ausschließlich auf chemische Synapsen mit ihren Neurotransmittern und Rezeptoren näher eingegangen werden.
7.3.1
Neurotransmitter
Ein Neurotransmitter ist definiert als chemische Substanz, die in einem Neuron synthetisiert und von ihm als Antwort auf einen elektrischen Impuls freigesetzt wird. Er wirkt an einem anderen Neuron, indem er dessen elektrische Eigenschaften verändert (de- oder hyperpolarisiert). Die Neurotransmission wird demnach durch folgende wesentliche Faktoren charakterisiert: Synthese des Neurotransmitters in der Zelle, Speicherung, Freisetzung, Rezeptorwirkung, Entfernung aus dem synaptischen Spalt durch Wiederaufnahme bzw. Abbau. In ⊡ Tab. 7.1 werden die wichtigsten Neurotransmitter zusammengefasst. Aminosäuren. Zu den wichtigsten und häufigsten Neuro-
transmittern des ZNS zählen Aminosäuren wie Glutamat (depolarisierend-exzitatorisch) oder Glyzin und GABA (Gamma-Aminobuttersäure, hyperpolarisierend-inhibitorisch). Diese 3 Neurotransmitter kommen schätzungs-
Aktionspotenzial Potenzialveränderungen
160
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 7.1. Eigenschaften genau umschriebener Neurotransmittersysteme
7
Neurotransmitter
Vorstufen
Synthetische Enzyme
Mittel zur Beendigung der Wirkung
Rezeptoren
Agonisten
Antagonisten
Azetylcholin
Cholin; Azetat
Cholin-Azetyltransferase
Azetylcholinesterase
Nikotinisch; muskarinisch M1, M2, M3
Karbamoylcholin; Nikotin (nikotinisch); Muskarin (nikotinisch); Oxotremorin (muskarinisch)
α-Bungarotoxin (nikotinisch); Tubokurarin (nikotinisch); Atropin (muskarinisch); Pirenzepin (M1); Scopolamin (muskarinisch)
Dopamin
Tyrosin
Tyrosinhydroxylase; aromatische L-Aminosäure-Dekarboxylase
Aufnahme; Monoaminoxidase; Aldehyd-dehydrogenase; Katechol-O-Methyltransferase
D1; D2
Apomorphin; 6,7-Dihydroxyaminotetralin (ADTN)
SCH23390 (D1); Domperidon (D2); Sulpirid (D2)
Exzitatorische Aminosäuren (Glutamat, Aspartat)
Glutamin; 2-Oxoglutarat
Glutaminase; Aspertataminound Ornithinaminotransferasen
Aufnahme; Glutaminsynthetase (glial); Oxidation (neuronal)
NMDA; AMPA; KA; L-AP4; ACPD
NMDA; AMPA, Quisqualat (AMPA); KA (KA); L-AP4 (L-AP4); Quisqualat; ACPD (ACPD)
MK801 (NMDA); CPP (NMDA); CNQX (AMPA und KA)
GABA
Glutamat
Glutaminsäuredekarboxylase
Aufnahme; GABA Aminotransferase; BernsteinsäureSemialdehyddehydrogenase
GABAA; GABAB
Muscimol (GABAA); Baclofen (GABAB); Benzodiazepine (modulieren GABAA)
Bicucullin (GABAA)
Glyzin
Serin
Serinhydroxymethyltransferase
Aufnahme
Glyzin
Glyzin
Strychnin
Histamin
Histidin
Histidindekarboxylase
Histaminmethyltransferase; Monoaminoxidase; Aldehyddehydrogenase
H1; H2; H3
2-Methylhistamin (H1); 4-Methylhistamin (H2); Dimaprit (H2); N-Methylhistamin (H3)
Mepyramin (H1); Cimetidin (H2); Ranitidin (H2); Thioperamid (H3)
5-Hydroxytryptamine
Tryptophan
Tryptophan-5Hydroxylase; aromatische L-AminosäureDekarboxylase
Aufnahme; Monoaminoxidase; Aldehyddehydrogenase
5-HT1; Untergruppen; A–D; 5-HT2; 5-HT3
80H-DPAT und Spiroxatrin (5-HT1A); Sumatriptan (5-HT1D); LSD (5-HT1C und 5HT2)
Spiperon (5-HT1A und 5-HT2); Cyanopindolol (5-HT1B); Ketanserin, Mianserin und Mesulergin (5-HT1C und 5-HT2); Ondansetron (5-HT3)
NoradrenaIin/Adrenalin
Tyrosin
Tyrosinhydroxylase; aromatische L-Aminosäure-Decarboxylase; Dopamin-β-Hydroxylase (Noradrenalin) (NMethyltransferase; Adrenalin)
Aufnahme; Monoaminoxidase; Katechol-O-Methyltransferase; Aldehyddehydrogenase
α1; α2; β1; β2
Isoprenalin (β); Methoxamm (α); Clonidin (α2)
Prazosin (α1); Idazoxan (α2); Propranolol (β)
Enkephalin/ Endorphin, Dynorphin
–
Enzyme der Eiweißsynthese
Neuropeptidasen
κ, μ, δ
Enkephaline (δ); β-Endorphin (μ, δ); Dynorphin (κ); Morphin (μ)
Naloxon
Die Informationen sind keineswegs erschöpfend, insbesondere in Anbetracht der Anzahl von Agonisten, Antagonisten und Rezeptoruntergruppen. Die aufgeführten Agonisten sind, soweit möglich, selektiv für die angegebene Rezeptoruntergruppe, ansonsten kann angenommen werden, dass sie nicht selektiv sind. Für jede Rezeptorunterklasse kann angenommen werden, dass der natürliche Agonist wirksam ist. ACPD 1-Aminocyclopentyl-1,3-Dicarboxylat; AMPA α-Amino-3-Hydroxy-5-Methylisoxazol-4-Propionat; CNQX 6-Cyano-7-Nitroquinoxalin-2,3Dion; CPP 3,3(2-Carboxypiperazin-4yl)Propyl-l-Phosphat; KA Kainin (Kainate); LAP4 L-2-Amino-4-Phosphonobutyrat; LSD Lysergsäurediäthylamid; MK801 Dibenzocycloheptenimin; NMDA N-Methyl-D-Aspartat; 80H-DPAT 8-Hydroxy-2-(Dipropyl)Aminotetralin; SCH23390 7-Chloro2,3,4,5-tetrahydro-3-methyl-5-phenyl-1H-3-benzazepin-7-ol.
161 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
weise bei 75–90% aller Neurone des Gehirns und Rückenmarks vor. Allerdings kann aus einer solchen rein quantitativen Analyse nicht auf die physiologische und pathophysiologische Relevanz eines Neurotransmitters geschlossen werden. Eine Störung eines Transmitters, der relativ selten und in niedriger Konzentration vorkommt, kann erhebliche Funktionseinbußen des betroffenen Individuums zur Folge haben. Umgekehrt kann eine massive Reduktion eines bestimmten Transmitters häufig sehr lange toleriert werden, ohne dass es zu krankheitsrelevanten Ausfällen kommt.
mitter gehören zur Gruppe der Monoamine: die Katecholamine Dopamin und Noradrenalin sowie die Indolamine Serotonin und Melatonin. Diese Systeme sind möglicherweise bei schizophrenen bzw. affektiven Psychosen alteriert.
rotransmitters in den synaptischen Spalt. Dabei handelt es sich um einen Ca2+-getriggerten Mechanismus. Die freigesetzten Neurotransmittermoleküle binden dann an prä- und postsynaptische Rezeptoren. Die Neurotransmitterwirkung wird durch enzymatischen Abbau und/ oder Rücktransport in die Nervenendigung (ReuptakeMechanismen) beendet. Ursprünglich bestand in der Neurobiologie das Dogma, dass ein bestimmtes Neuron stets einen spezifischen Neurotransmitter benutzt. Entsprechend wurden cholinerge, dopaminerge, serotoninerge, noradrenerge Neurone etc. unterschieden. Heute weiß man, dass dieses sog. Dale-Gesetz keine universelle Gültigkeit besitzt. Einige Forscher vermuten sogar, dass das Phänomen, dass verschiedene Neurotransmitter in einem einzigen Neuron des ZNS angetroffen werden können, eher die Regel als die Ausnahme ist. Meist findet man als Neurotransmitter eine Aminosäure, ein Monoamin oder Azetylcholin in Kombination mit einem Neuropeptid. Diese Kolokalisation von niedermolekularen Neurotransmittern mit einem Peptid könnte darauf hinweisen, dass Neuropeptide eine wichtige modulierende Rolle neben ihrer Hauptfunktion der Transmission des jeweils anderen »klassischen« Neurotransmitters spielen (z. B. Verlängerung und/oder Verstärkung des Neurotransmittersignals).
Peptide. Eine andere wichtige Gruppe stellen die Peptide
Angriffspunkte für Psychopharmaka
dar. Ganz bestimmte Neuropeptide besitzen spezielle Neurotransmitterfunktionen für spezifische Neuronensubtypen des ZNS. Während kleine Neurotransmittermoleküle enzymatisch synthetisiert werden, erfolgt die Neuropeptidsynthese (wie bei allen Proteinen) durch Gentranskription und Translation. Aus einem Vorläuferprotein entsteht schließlich nach Modifikationsprozessen der aktive Neurotransmitter. Diese molekularbiologischen Prozesse werden nach Entwicklung wichtiger Schlüsseltechniken (z. B. PCR) in letzter Zeit intensiv erforscht. Das Forschungsinteresse hat sich dadurch von der alleinigen Fokussierung der Synapse auf weitere Aspekte wie Genaktivierung und Signaltransduktion ausgeweitet.
Der Neurotransmitterstoffwechsel lässt sich in 5 zentrale Schritte gliedern: 1. Synthese, 2. Speicherung, 3. Freisetzung, 4. Rezeptorwirkung und 5. Elimination.
Azetylcholin. Es ist insbesondere als Transmitter der neu-
romuskulären Erregungsübertragung bekannt, besitzt aber auch in der neuronalen und interneuronalen Informationsübertragung des Gehirns Transmitterfunktion. Insbesondere beim Alzheimer-Syndrom kann es zu massiven Veränderungen des cholinergen Systems kommen. Monoamine. Weitere psychiatrisch relevante Neurotrans-
Jeder dieser Schritte ist (zumindest theoretisch) einer pharmakologischen Beeinflussung zugänglich. Tatsächlich nutzen verschiedene Psychopharmaka diese Modulationsmöglichkeiten des Neurotransmitterstoffwechsels in unterschiedlicher Weise. Dies soll im Folgenden paradigmatisch erläutert werden.
Weitere Transmitter. Weitere Transmitter sind das Gas
NO (Stickoxid), Histamin und Purine (Adenosin).
Neurotransmitterwirkung In der Regel werden die Neurotransmitter im Zellkörper der Neurone synthetisiert. In Vesikeln erfolgt der axonale Transport zu den Nervenendigungen, wo sie für die Freisetzung gespeichert werden (synaptische Vesikel). Zumindest die niedermolekularen Transmitter können zusätzlich aber auch lokal in den Axonendigungen produziert werden. Ermöglicht wird dies durch vesikulären Transport der erforderlichen Enzyme. Erreicht das Aktionspotenzial das Axonterminale, erfolgt als Depolarisationsantwort die Exozytose des Neu-
Aminpräkursoren. Durch Gabe von Aminpräkursoren
kann beispielsweise die Neurotransmittersynthese gesteigert werden. So gelingt es, durch Verabreichung von LDOPA als Vorstufe des Dopamins, die Synthese dieses bei der Parkinson-Erkrankung verminderten Transmitters zu erhöhen. Analog wurde versucht, durch Verabreichung von L-Tryptophan die Serotoninsynthese bei depressiven Patienten zu stimulieren. Im Gegensatz zu den Transmittern Dopamin und Serotonin sind die Präkursoren DOPA und Tryptophan liquorgängig. Da im Gehirn keine Substratsättigung der Tryptophanhydroxylase, einem Schlüsselenzym der Serotoninsynthese, vorliegt, führt die Applikation von L-Tryptophan tatsächlich zu
7
162
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
einer Erhöhung der Serotoninkonzentration. Im Gegensatz zur hochwirksamen L-DOPA-Therapie der Parkinson-Erkrankung besitzt die Tryptophantherapie allerdings nur eine allenfalls milde antidepressive Potenz. Entleerung synaptischer Vesikel. Reserpin führt zu einer
Entleerung synaptischer Vesikel, so dass Noradrenalin, Serotonin und Dopamin durch entsprechende Enzyme rasch metabolisiert werden. Dadurch sinkt die Konzentration dieser Neurotransmitter im Gehirn. Reserpin kann deutliche depressive Symptome hervorrufen. Dies stützt die aminergen Defizithypothesen als Ursache der Depression(en). Modulation der Rezeptorwirkung. Die Rezeptorwirkung
7
verschiedener Neurotransmitter wird durch viele klassische trizyklische Antidepressiva und Neuroleptika modifiziert. Viele Antidepressiva antagonisieren den Histamin-H1-Rezeptor und besitzen ein deutliches anticholinerges Wirkprofil durch Blockade des muskarinischen Azetylcholinrezeptors. Solche Effekte sind nicht immer erwünscht und bedingen teilweise auch das Nebenwirkungsprofil von Antidepressiva. Gleichzeitig kommt es zu einer therapeutisch eher erwünschten gesteigerten Empfindlichkeit der Serotonin- sowie der Noradrenalinrezeptoren. Neuroleptika bewirken u. a. eine Dopaminrezeptorblockade. Moderne sog. atypische Antipsychotika wirken darüber hinaus häufig auch noch an einer Vielzahl nichtdopaminerger Rezeptoren. Verzögerung der Elimination. Auch die Möglichkeit, die
Elimination von Neurotransmittern aus dem synaptischen Spalt zu beeinflussen, wird psychopharmakologisch genutzt. So erhöhen Serotoninwiederaufnahmehemmer die Konzentration dieses Transmitters durch Blockade der entsprechenden Transporter. Klassische trizyklische Antidepressiva besitzen eine solche Wirkung ebenso wie moderne, ausschließlich für diesen Wirkmechanismus konzipierte selektive Serotoninwiederaufnahmeinhibitoren (SSRI). Der Abbau von monoaminergen Neurotransmittern kann darüber hinaus auch durch (spezifische) Hemmung der Monoaminoxidase (MAO) reduziert werden. Dadurch kommt es ebenfalls zu einer Erhöhung der Konzentration der entsprechenden Neurotransmitter. So inhibiert Moclobemid selektiv und reversibel die MAO-A. Dadurch wird der Abbau von Noradrenalin, Adrenalin sowie Serotonin und wohl nur beschränkt auch von Dopamin reduziert. Moclobemid wird daher auch in der Behandlung von Depressionen therapeutisch eingesetzt. Kombination verschiedener Wirkungen. Neuere Thera-
piestrategien beruhen auf einer Kombination verschiedener Rezeptorwirkungen. So greifen beispielsweise moderne noradrenalin- und serotoninspezifische Antide-
pressiva (NaSSA) wie z. B. Mirtazapin gleichzeitig in die beiden entsprechenden Neurotransmittersysteme ein, von denen vermutet wird, dass sie eine wesentliche Rolle bei Depressionen spielen. Darüber hinaus besitzt Mirtazapin eine sehr differenzierte Wirkung auf das serotoninerge System: Der 5-HT1A-Rezeptor wird selektiv aktiviert, während 5-HT2- und 5-HT3-Rezeptoren blockiert werden. Dies mag die antidepressive Effizienz ebenso beeinflussen wie das Nebenwirkungsprofil.
7.3.2
Rezeptoren
Ein Rezeptor ist definiert als ein Protein, das die Wirkung eines spezifischen Neurotransmitters auf das Zielneuron vermittelt (⊡ Tab. 7.2). Neurotransmitter binden spezifisch an bestimmte Stellen des Rezeptorproteins. Diese Bindung führt zu einer Veränderung der physikalischen Eigenschaften des Rezeptors. Das Resultat ist die Umwandlung des ursprünglich extrazellulären Signals (Neurotransmitterbindung) in ein intrazelluläres Signal, das seinerseits wiederum zu Veränderungen des funktionellen Zustands des Zielneurons führt.
Forschung Die Erforschung der Rezeptoren stützte sich viele Jahre auf die Ergebnisse direkter Bindungsstudien mit radioaktiven Liganden in Zellmembranpräparationen. Diese Technik ermöglichte die Identifikation verschiedener Rezeptoren. Außerdem konnte die Affinität bestimmter Substanzen zu diesen Rezeptoren untersucht werden. Moderne molekularbiologische Techniken (Klonierung und In-vitro-Expression) erlauben über die Identifizierung pharmakologischer Subtypen hinaus jetzt auch die weitere genetische Subtypisierung. Die Frage, inwieweit die pharmakologischen und molekularbiologischen
⊡ Tab. 7.2. Rezeptortypen verschiedener Neurotransmitter. (Nach Hyman u. Nestler 1993) Neurotransmitter
Rezeptorsubtypen
Dopamin
D1, D2, D3, D4, D5
Noradrenalin/Adrenalin
α1, α2, β1, β2, β3
Serotonin
5-HT1A, 5-HT1B, 5-HT1C, 5-HT1D, 5-HT2, 5-HT3, 5-HT4, 5-HT6, 5-HT7
Azetylcholin
Muskarinisch (M1, M2, M3, M4), Nikotinisch
Endorphine/Enkephaline
δ, μ, κ
Glutamat
NMDA, AMPA, Kainat, metabotrop
GABA
A, B
163 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Typen miteinander korrespondieren, bleibt bislang häufig unbeantwortet, stellt aber eine wichtige Forschungsaufgabe für die kommenden Jahre dar. Die Verknüpfung und Synthese der Einzelergebnisse molekularbiologischer Forschung mit denen der klassischen Rezeptorbindungsstudien könnte zu beachtlichen Fortschritten in der psychiatrischen Grundlagenforschung hinsichtlich Ätiopathogenese psychischer Krankheiten und ihrer Pharmakotherapie beitragen. Bisher sind die genauen anatomischen und funktionellen Unterschiede der verschiedenen Rezeptorsubtypen weitestgehend unbekannt. Sinn der großen Rezeptorheterogenität scheint es zu sein, den verschiedenen Neuronen unterschiedliche Reizantworten auf denselben Neurotransmitter zu ermöglichen. Unter pharmakotherapeutischen Gesichtspunkten kann die Rezeptorheterogenität zur Entwicklung von neuen Substanzen mit höherer Spezifität genutzt werden, die effektivere und zugleich sicherere (nebenwirkungsärmere) psychopharmakotherapeutische Strategien ermöglichen. Bislang ist es in der Praxis allerdings noch nicht gelungen, aufgrund dieser theoretischen Überlegungen tatsächlich grundsätzlich neue Psychopharmaka mit erheblich gesteigerter Effektivität bei geringem Nebenwirkungsrisiko zu entwickeln. ⊡ Abb. 7.2a, b. Rezeptorgrundtypen; a G-Protein gekoppelter Rezeptor und b Ionophor
a
b
Rezeptorgrundtypen Grundsätzlich können 2 Rezeptorgrundtypen voneinander differenziert werden: Ionophoren und G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (⊡ Abb. 7.2a, b): Die Ionophoren besitzen transmembranäre Ionenkanäle, die durch Neurotransmitterbindung geöffnet werden können. Die transmittergesteuerten Ionenkanäle sind in geöffnetem Zustand je nach Rezeptortyp durchlässig für K+ (Eflux) und Na+ (Influx) sowie Ca2+. Manche Rezeptoren besitzen darüber hinaus regulatorische Bindungsstellen für Zn2+ und Mg2+. Der GABAA-Rezeptor, die meisten Glutamatrezeptoren und der 5-HT3-Rezeptor, ein Serotoninrezeptorsubtyp, sind z. B. Ionophoren. Die meisten anderen Rezeptoren, einschließlich der adrenergen und dopaminergen, besitzen keinen strukturellen Ionenkanal. Daher muss der zelluläre Effekt über intrazelluläre Transduktionsproteine (GProteine) vermittelt werden. Die Bindung des Neurotransmitters an seinen Rezeptor als Prozess, der an der extrazellulären Seite der Nervenzellmembran stattfindet, muss über eine Fortsetzung der Neurotransmitteraktion nach der eigentlichen Rezeptor-
7
164
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
bindung zu einer veränderten neuronalen Funktion führen. Die verschiedenen Wege, wie Neurotransmitterrezeptorinteraktionen ihre unterschiedlichen Effekte am Zielneuron ausüben können, schließen ein komplexes Netzwerk intrazellulärer Messengersysteme (G-Proteine, »second messengers«) und den Prozess der Proteinphosphorylierung ein.
Störungen der Rezeptorphysiologie
7
Unter ätiopathogenetischen Gesichtspunkten kann die Rezeptorphysiologie im Wesentlichen auf 3 verschiedenen Ebenen gestört sein: Es kann zu Veränderungen in der Rezeptordichte kommen. Die Rezeptoraffinität kann verändert sein. Es können Defekte im Bereich der Rezeptoruntereinheiten bestehen, wodurch die Signaltransduktionskaskade gestört wird. Darüber hinaus sind auch alle Kombinationen dieser 3 pathophysiologischen Alterationen denkbar.
7.3.3
Azetylcholinrezeptoren, die insbesondere in der Pathophysiologie der Alzheimer-Demenz eine wichtige Rolle spielen, werden in nikotinische (nAChR) und muskarinische (mAChR) differenziert. Während 5 verschiedene mAChR-Subtypen (M1–M5) unterschieden werden können (Caulfield u. Birdsall 1998), bestehen nikotinische Azetylcholinrezeptoren aus verschiedenen α- und β-Untereinheiten. Je nach der Zusammensetzung dieser Untereinheiten, entstehen funktionell und strukturell unterschiedliche nAChR-Subtypen (Dajas-Bailador u. Wonnacott 2004).
Katecholamine Die wichtigsten Katecholamin-Neurotransmitter sind Dopamin und Noradrenalin. Sie werden enzymatisch aus der Aminosäure Tyrosin synthetisiert. ⊡ Abb. 7.3 stellt die einzelnen Syntheseschritte dar. Tyrosin passiert die Blut-Liquor-Schranke über einen aktiven, energieabhängigen Transportmechanismus. Innerhalb der katecholaminergen Neurone ist die (gesät-
Neurotransmitterrezeptorsysteme
Azetylcholin Azetylcholin war die erste chemische Substanz, die als Neurotransmitter identifiziert wurde. Synthetisiert wird sie durch enzymatische Azetylierung von Cholin mittels Cholinazetyltransferase (ChAT). Die Degradation erfolgt durch enzymatische Spaltung im synaptischen Spalt mittels Azetylcholinesterase (AChE). Freies Cholin wird dann über Transporter in die Präsynapse wiederaufgenommen und steht für die erneute Azetylcholinsynthese zur Verfügung. Die wichtigsten Kerngebiete cholinerger Projektionsneurone liegen im basalen Vorderhirn. Der Verlust cholinerger zum Hippocampus und Kortex projizierender Neurone führt zu Gedächtnisdefiziten. Solche Reduktionen der cholinergen Aktivität wurden beispielsweise bei Alzheimer-Patienten gefunden. Darüber hinaus sind cholinerge Neurone vermutlich an der Vermittlung emotionaler Stimmungszustände zum Kortex beteiligt. So finden sich cholinerge Afferenzen des basalen Vorderhirns aus dem limbischen System. Cholinerge Projektionssysteme. Zu den cholinergen Pro-
jektionssystemen des Gehirns zählt das basale Vorderhirn (mediales Septumband, diagonales Band von Broca, Nucleus basalis Meynert) mit Projektionen zum zerebralen Kortex, Hippocampus und Dienzephalon sowie das laterale Tegmentum des Hirnstamms (dorsaler Pons). Darüber hinaus gibt es noch eine Reihe weiterer lokaler, intrinsischer cholinerger Zirkuits, die insbesondere innerhalb des Neostriatums liegen.
⊡ Abb. 7.3. Katecholaminsynthese
165 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
tigte) Tyrosinhydroxylase (erster Syntheseschritt zu Dopa) das limitierende Schlüsselenzym der Katecholaminsynthese. Alle anderen Enzyme sind nicht substratgesättigt, d. h. ihr Km-Wert übersteigt deutlich die Substratkonzentration, sie liegen praktisch »im Überschuss« vor.
Wirkmechanismus. Dopamin entsteht aus den Vorstufen
Abbau. Die Beendigung der Katecholaminwirkung im synaptischen Spalt erfolgt durch Wiederaufnahme über Transporter. Die Katecholamine werden in Vesikeln gespeichert oder durch Monoaminoxidase (MAO) abgebaut. Die beiden Isoenzyme MAO-A und MAO-B sind in den Mitochondrienmembranen der Präsynapse und Glia lokalisiert. Der extrazelluläre Abbau erfolgt außerdem durch Katecholamin-O-Methyltransferase (COMT). Hauptmetabolite sind Homovanillinsäure (HVS) und 3,4Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC). Besonders zu berücksichtigen ist die Tatsache, dass die Gliazellen, speziell die Astroglia, maßgeblich an dem Abbau der Neurotransmitter und damit an der Modulation der Neurotransmission beteiligt sind. Diese Bedeutung in der Funktion der Glia rückt erst in letzter Zeit in den Blickpunkt des Interesses, nachdem zuvor die Rolle der Glia eher unterschätzt wurde.
Tyrosin und L-DOPA unter Vermittlung der Enzyme Tyrosinhydroxylase (TH) und DOPA-Decarboxylase (AADC). D1-artige Dopaminrezeptoren (D1, D5) stimulieren nach Aktivierung unter Vermittlung des G-Proteins die Adenylatzyklase (AC). Diese ist für die Umwandlung von ATP in cAMP, das die weitere Signaltransduktion übernimmt, verantwortlich. Eine Stimulation der D2-artigen Dopaminrezeptoren (D2, D3, D4) hat eine Inhibition der Adenylatzyklase (AC) zur Folge (D2, D4) oder aber eine Alteration anderer Signaltransduktionsmechanismen (D3). Aktivierung der D2-artigen Dopaminrezeptoren führt zur Modifikation der Aktivität von Ionenkanälen, der Kalziummobilisierung und des Phophatidylinositolumsatzes. Der D2-Rezeptor ist auch präsynaptisch lokalisiert und kann die Freisetzung und Synthese von Dopamin inhibieren (Feedback-Mechanismus). Interessanterweise scheinen kontinuierliche und pulsatile Stimulationen von Dopaminrezeptoren unterschiedliche Effekte hervorzurufen. Einige Untersuchungen deuten darauf hin, dass es physiologischerweise zumindest im nigrostriatalen System einen dualen Dopamineffekt gibt, der einerseits auf einer tonischen und andererseits einer phasischen Aktion beruht (Obeso et al. 1994).
Dopamin (⊡ Abb. 7.4a, b)
L-Dopa
Dopaminerge Kerne. Die wichtigsten dopaminergen
Bemerkenswerterweise besitzt der Dopamin-Vorläufer L-Dopa auch eigene intrinsische NeurotransmitterEigenschaften (Misu et al. 1995). L-Dopa scheint als Neurotransmitter insbesondere für die Blutdruckregulation im Hirnstamm verantwortlich zu sein. Vermutlich wird er über nikotinerge, glutamaterge und GABAerge Mechanismen reguliert und scheint u. a. im Nucleus accumbens freigesetzt zu werden
Kerne des Gehirns sind die Pars compacta der Substantia nigra mit Projektionen zum Striatum, das ventrale Tegmentum mit Projektionen zum frontalen Kortex und Gyrus cinguli sowie zum Nucleus accumbens und zu anderen Teilen des limbischen Systems sowie der Nucleus arcuatus des Hypothalamus, der für die dopaminerge Regulation der Hypophyse mitverantwortlich ist. Dopaminerges System. Eine wichtige Komponente dieses Systems ist das »nigrostriatale System«. Dopaminerge Zellen sind ferner in der Area tegmentalis ventralis (ATV) lokalisiert. Sie liegt in der Mittellinie des Mittelhirnes. Ihre Verbindungen zu den Septumkernen, dem Nucleus accumbens und dem N. amygdalae bilden das »mesolimbische System«. Der mesokortikale Trakt zieht zum frontalen Kortex, Gyrus cinguli, N. piriformis und zum entorhinalen Kortex. Gut erforscht ist auch noch das tuberoinfundibuläre System, das Nucleus infundibularis und Hypophyse verbindet. Die Dopaminrezeptoren werden nach pharmakologischen und molekularbiologischen Aspekten in 2 Hauptgruppen und 5 Rezeptortypen unterteilt: Zur Gruppe der D1-artigen Rezeptoren zählen der D1und der D5-Rezeptor; zur Gruppe der D2-artigen Rezeptoren gehören die D2-, D3- und D4-Rezeptoren.
Abbau. Das im synaptischen Spalt befindliche Dopamin
wird großteils über den Dopamintransporter eliminiert. Mit Hilfe der Enzyme MAO (intra- und extrazellulär) und COMT (extrazellulär) erfolgt die Metabolisierung zu 3,4Dihydroxyphenylessigsäure (DOPAC, intrazellulär) und Homovanillinsäure (HVA, extrazellulär).
Noradrenalin (⊡ Abb. 7.4a, b) Noradrenerge Projektionssysteme. Das wichtigste nor-
adrenerge Projektionssystem des menschlichen Gehirns ist der Locus coeruleus am Boden des 4. Ventrikels am rostralen Teil der Pons. Er besitzt diffuse axonale Projektionen in fast alle Areae des zerebralen Kortex, des Zerebellums, der Hirnstammkerne und des Rückenmarks. Noradrenerg sind darüber hinaus die lateralen Kerne des Tegmentums und andere Regionen der Pons und der Medulla. Ihre Endigungen reichen in das basale Vorderhirn, den Thalamus, den Hypothalamus, den Hirnstamm und in das Rückenmark.
7
166
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
Azetylcholin
Azetylcholin
7
a
Azetylcholin
b ⊡ Abb. 7.4a, b. Mechanismen der neuronalen Signal-TransduktionsTranskriptions-Kopplung. a Divergenz und Konvergenz unterschiedlicher Signalkaskaden. Einige Neurotransmitter und Rezeptoren, die an unterschiedliche G-Proteine und Effektorsysteme gekoppelt sind, können eine gemeinsame Transduktionsendstrecke besitzen. So wird der Transkriptionsfaktor CREB (cAMP »response element binding protein«) nicht nur über die cAMP-abhängige Proteinkinase (PKA) stimuliert, sondern auch durch kalziumabhängige Kinasen (CaM-K) und Kinasen des Ras-Reaktionsweges (RSK-2), der durch bestimmte Wachstumsfaktoren aktiviert wird. Dagegen können Steroidhormone nach Bindung an ihren Rezeptor direkten Einfluss auf die Gentranskription nehmen (PLC Phospholipase C, AC Adenylatzyklase). b Regulation der Gentranskription durch »immediate early genes« (IEG). Second messenger wie cAMP oder Kalzium aktivieren die Transkription von IEG wie
z. B. der Gene c-jun und c-fos. Das Transkript, die entsprechende reife mRNA, wird aus dem Zellkern herausgeschleust. Die korrespondierenden Proteine Jun und Fos werden im Zytoplasma in den Ribosomen synthetisiert und translozieren anschließend in den Zellkern, wo sie selbst erneut als Transkriptionsfaktoren fungieren können, indem sie untereinander oder mit verwandten Proteinen Dimere bilden, die an die AP-1-Sequenz von bestimmten Zielgenen binden. Die Transkriptionsaktivität dieser Zielgene ist abhängig von der Induktion durch lEG-Proteine. Auf diese Weise werden Langzeitveränderungen der synaptischen Regulation induziert wie z. B. die Aktivierung von Tyrosinhydroxylase oder Neuropeptiden. Neben den genannten Second-messenger-Aktivierungswegen kann die Expression von c-Jun auch über die JNK-(c-Jun-NH2-terminale Kinase-) Kaskade stimuliert werden. Weitere Erklärungen sind im Text aufgeführt
167 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Noradrenerges System. Die wichtigsten noradrenergen
Kerne sind der Locus coeruleus (Lc) und das laterale Tegmentum (LT; ⊡ Abb. 7.4a, b). Das noradrenerge System wirkt vorwiegend stimulierend auf die motorischen und psychischen Aktivitäten. Noradrenalin entsteht aus L-Tyrosin. Dieses wird durch die Tyrosinhydroxylase (TH) zu L-DOPA hydroxyliert. L-DOPA wird durch die entsprechende Decarboxylase (AADC) zu Dopamin decarboxyliert, das dann seinerseits durch die Dopamin-β-Hydroxylase (DbH) in Noradrenalin umgewandelt wird. Wirkmechanismus. Postsynaptisch sind verschiedene Noradrenalinrezeptoren identifiziert worden. Stimulation der α1- und β1-Rezeptoren aktiviert die regulatorischen G-Proteine. Durch β1-Rezeptoraktivierung wird, vermittelt durch das Gs-Protein, die Adenylatzyklase-(AC-)Aktivität gesteigert, die ATP in die aktive Form des cAMP umwandelt. cAMP ist dann für die Aktivierung einer aus Proteinkinasen und Phosphorylierungsreaktionen bestehenden Signaltransduktionskaskade verantwortlich. Über die α1-Rezeptoren werden Go- und Gq-Proteine stimuliert, die ihrerseits die Phospholipase C (PLC) aktivieren. Dies hat die Umwandlung von Phosphoinositolbisphosphat (PIP2) in Inositoltriphosphat (IP3) und Diazylglyzerin (DAG) zur Folge, die als Second messenger fungieren. Demgegenüber üben die α2-Rezeptoren, ebenfalls GProtein-vermittelt, inhibitorische Effekte auf die Adenylatzyklase (AC) aus. Insbesondere sorgen so präsynaptisch lokalisierte α2-Rezeptoren vermittels inhibitorischer GiProteine über einen Feedback-Mechanismus für die Hemmung einer weiteren Noradrenalinausschüttung und auch -synthese. Inaktivierung. Die Inaktivierung des Noradrenalins im synaptischen Spalt erfolgt über den präsynaptischen Noradrenalintransporter, der für die Wiederaufnahme des Noradrenalins verantwortlich ist. Noradrenalin kann durch die MAO-A intra- und extraneuronal desaminiert werden. Das letztlich resultierende 3,4-Dihydroxyphenylglykol (DHPG) wird dann durch Katechol-O-Methyltransferase (COMT) zu 3-Methoxy-4-hydroxyphenylglykol (MHPG) metabolisiert.
Teil der Formatio reticularis des Hirnstamms. Beide Kerne projizieren in das gesamte Kleinhirn, der NDR (Nucleus dorsalis raphe) auch in das Rückenmark. Ähnlich wie der Lc innerviert der NVR (Nucleus ventralis raphe) Kortex, Thalamus, Amygdala und über das Zingulum den Hippokampus. Der Hypothalamus und der Cortex entorhinalis sind weitere Ziele serotoninerger Bahnen aus dem NVR. Die enge Verschaltung mit dem limbischen System ist hieraus gut erkennbar. Durch Verbindungen des NVR mit der Substantia nigra und dem Striatum entsteht eine direkte Verknüpfung mit dem extrapyramidalmotorischen System. Serotonin erhöht die Schmerzschwelle und reguliert den Schlafablauf und die Stimmung. Wichtigster Vertreter der Indolamine ist das Serotonin (⊡ Abb. 7.4a, b). Es wird aus Tryptophan synthetisiert. Schlüsselenzym hierbei ist die Tryptophanhydroxylase Typ 2. Serotoninsynthese. Serotonin (5-HT = 5-Hydroxytrypta-
min) wird nach Hydroxylierung und Decarboxylierung aus L-Tryptophan über 5-HTP unter Vermittlung von Tryptophanhydroxylase Typ 2 (TRPH) synthetisiert. Wirkmechanismus. Mit Hilfe molekularbiologischer Me-
thoden konnten verschiedene 5-HT-Rezeptorsubtypen differenziert werden (⊡ Tab. 7.2). Postsynaptisch inhibiert die Stimulation von 5-HT1ARezeptoren über Gi-Proteine die Adenylatzyklase (AC). Aktivierung der 5-HT4,6,7-Rezeptoren führt hingegen zur Aktivierung der AC mit nachfolgendem Anstieg des cAMP (aus ATP). Eine Stimulation der 5-HT2A,C-Rezeptoren führt zu einer Aktivitätssteigerung der Phospholipase C (PLC) mit konsekutivem Anstieg des Inositoltriphosphats (IP3) und Diazylglyzerins (DAG). Der 5-HT3-Rezeptor ist ionenkanalgekoppelt. Seine Aktivierung führt zu einem Kationeneinstrom. Präsynaptisch sorgen 5-HT1A- und 5-HT1B,C-Rezeptoren durch Gi-Protein-vermittelte AC-Inhibition, verminderte cAMP-Produktion und Reduktion der Impulsfrequenz zu einer verminderten Serotoninfreisetzung.
Indolamine Serotoninerge Projektionssysteme. Die serotoninergen
Inaktivierung. Serotonin wird aus dem synaptischen Spalt
Projektionssysteme im Gehirn sind die Hirnstammkerne (v. a. dorsale und mediane Raphe) mit diffusen Projektionen in die meisten Regionen des ZNS. Weiterhin finden sich serotoninerge Zellkörper auch in anderen Regionen der Pons und der Medulla. Ihre Endigungen sind weit verteilt und reichen zum zerebralen Kortex, Thalamus, Zerebellum, Rückenmark und zu den Hirnstammkernen. Die Zellen der serotoninergen Bahnen liegen im ventralen und dorsalen Raphekern (⊡ Abb. 7.4a, b). Sie sind
durch den Serotonintransporter entfernt. Die Metabolisierung zu 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) erfolgt durch MAO-A. Der Serotonintransport ist ein wesentlicher Wirkort verschiedener Antidepressiva, den selektiven Serotoninwiederaufnahmeinhibitoren (SSRI), sowie partiell den NaSSAs und diverser Tri- und Tetrazyklika. Die Epiphyse synthetisiert Melatonin, ein weiteres Indolamin. Bei manchen Tieren spielt es eine wichtige Rolle
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
in der Vermittlung der zirkadianen Rhythmik. Möglicherweise ist eine Störung des Melatoninhaushalts auch an der Entstehung zyklothymer Erkrankungen beteiligt.
ziert werden. Die mGluRs werden in 3 Gruppen unterteilt: Gruppe I (mGluR1, mGluR5), II (mGluR2, mGluR3) und III (mGluR4, mGluR6, mGluR7, mGluR8; Kew u. Kemp 2005).
Glutamat
Glutamatantagonisten. Der NMDA-Rezeptor besitzt ver-
Glutamat ist der wichtigste exzitatorische Neurotransmitter. Typische glutamaterge Neurone sind die Granulazellen des Kleinhirns, die Pyramidenzellen des Hippocampus, kortikale Motoneurone sowie kortikale Neurone, die in die Basalganglien projizieren. Es sind verschiedene Glutamatrezeptoren (⊡ Abb. 7.5) bekannt, die nach ihren jeweils selektiven Agonisten benannt werden. Von besonderer Bedeutung ist der NMDA(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptor. Er ist vermutlich in den Prozess der LTP (»long term potentiation«) involviert. Darunter versteht man das Phänomen, dass bestimmte Neurone (insbesondere im Hippocampus) nach wiederholter Stimulation in der Lage sind, auch nach Ausbleiben dieser Stimulation über einen längeren Zeitraum »autonom weiterzufeuern«. Diese Eigenschaft ist vermutlich für bestimmte Lern- und Gedächtnisvorgänge von erheblicher Bedeutung. Die verschiedenen Glutamatrezeptorfamilien werden derzeit folgendermaßen systematisiert, grundsätzlich werden ionotrope (iGluRs) und metabotrope (mGluRs) Glutamatrezeptoren unterschieden.
schiedene Bindungsstellen (für Glutamat, Glyzin) und einen nichtselektiven Ionenkanal, der für Na+ und Ca2+ durchgängig ist. Innerhalb dieses Ionenkanals befindet sich die PCP-Bindungsstelle (Phenylcyclidin), an die nichtkompetitive Glutamatantagonisten binden (z. B. PCP, Ketamin, Dizocilpin = MK-801). Diese besitzen mit Ausnahme der Aminoadamantane bei ansonst gesunden Personen einen stark psychotomimetischen Effekt. Diese Beobachtung hat zur Entwicklung der Glutamathypothese schizophrener Psychosen beigetragen. Andererseits könnten Glutamatantagonisten wie z. B. Amantadin in Abhängigkeit von ihrer Affinität auch potenziell neuroprotektiv wirken. Es gibt eine weitere Bindungsstelle, an die u. a. Opiate binden: der Sigmarezeptor. Über diesen werden evtl. auch die psychotomimetischen Effekte dieser Stoffe vermittelt. Viele Neuroleptika (z. B. Haloperidol) sind Rezeptorantagonisten.
Die iGluRs können wiederum in die bereits erwähnten NMDA-Rezeptoren (NR1, NR2A, NR2B, NR2C, NR2D, NR3A, NR3B), sowie AMPA- (GluR1, GluR2, GluR3, GluR4) und Kainat-Rezeptoren (GluR5, GluR6, GluR7, KA-1, KA-2) differen-
⊡ Abb. 7.5a, b. Glutamatrezeptor (IP Inositoltriphosphat). (Nach Zilles u. Rehkämper 1994)
Aktivierung des NMDA-Rezeptors. Die glutamaterge Ak-
tivierung des NMDA-Rezeptors erfordert die Erfüllung einer Reihe weiterer Bedingungen, die über die bloße Präsenz von Glutamat hinausgehen. Beispielsweise ist eine Aktivierung des NMDA-Rezeptorkanals ohne Glyzin wohl nicht möglich. Außerdem kann Mg2+ den Kanal blockieren. Diese Blockade kann z. B. durch Depolarisation des Zielneurons über AMPA- oder Kainat-Rezeptoren der Postsynapse aufgehoben werden.
169 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Glutamat und Zelltod. Bei Anoxie oder Hypoglykämie
fällt der energieabhängige Prozess der Glutamatkompartimentierung in der Präsynapse aus. Innerhalb von Minuten wird Glutamat in den synaptischen Spalt ausgeschüttet, und es kommt zu einer Überaktivierung exzitatorischer Rezeptoren. Große Mengen an Ca2+ können in die Zelle einströmen. Ca2+ aktiviert eine Reihe von Enzymen (einschließlich Proteasen) und es kommt über Autodigestion zum Zelltod. Dieser Prozess wird Exzitotoxizität genannt. Einige tierexperimentelle Befunde und erste klinische Daten zeigen, dass Glutamatantagonisten eine neuroprotektive (»anti-exzitatoxische«) Wirkung haben könnten.
und sind damit wesentliche Bestandteile des nigrostriatalen (dopaminerg)-strio-nigralen (GABAergen) Regelkreises. Rezeptortypen. Hinsichtlich der GABA-Rezeptoren wer-
den 2 Haupttypen – GABAA und GABAB – unterschieden. Der GABAA-Rezeptor überwiegt. Er ist für die rasche inhibitorische synaptische Transmission im Gehirn verantwortlich. Als Ionophor besteht er aus mehreren Untereinheiten: einer GABA-bindenden Einheit (β-Einheit), einer Benzodiazepin-bindenden Einheit (α-Einheit), einer aktivierenden γ-Einheit und einem Ionenkanal. Der im ZNS nicht so weit verbreitete GABAB-Rezeptor ist demgegenüber G-Protein-gekoppelt.
GABA und der Benzodiazepinrezeptor (⊡ Abb. 7.6) GABA (Gamma-Aminobuttersäure) ist einer der wichtigsten inhibitorischen Neurotransmitter. Er wird von etwa 30% aller ZNS-Neurone benutzt. GABA wird aus Glutamat unter Vermittlung der Glutamat-Decarboxylase (GAD) synthetisiert. Zur Inaktivierung der Synapseneffekte wird sie durch die mitochondriale GABA-Transaminase inaktiviert bzw. durch den GABA-Transporter wieder in die Präsynapse aufgenommen.
Glyzinsystem Ein weiteres inhibitorisches System ist das Glyzinsystem (nicht identisch mit der Glyzinbindungsstelle des NMDARezeptors). Es ist verglichen mit GABA-Rezeptoren noch wenig erforscht, scheint aber eine wichtige inhibitorische Rolle insbesondere im Hirnstamm und im Rückenmark zu spielen.
Neuropeptide Lokalisation. Anhäufungen GABAerger Neurone sind u. a. in folgenden Regionen zu finden: Thalamus, Basalganglien und Zerebellum. Darüber hinaus gibt es aber auch spezifische kleinere Interneurone des zerebralen Kortex, die GABAerg sind. GABAerge Neuronen projizieren aber auch vom Striatum zur Substantia nigra
⊡ Abb. 7.6. GABAerge Synapse (GABA Gamma-Aminobuttersäure, BZD Benzodiazepin). (Nach Benkert u. Hippius 1996)
Die Neuropeptide stellen eine sehr heterogene Gruppe nicht nur in bezug auf ihre molekulare Struktur, sondern auch hinsichtlich ihrer Verteilung und ihres Wirkmechanismus dar. In letzter Zeit rücken sie verstärkt in das Zentrum des pharmakotherapeutischen Interesses. Die verschiedenen Neuropeptidsysteme stellen möglicher-
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170
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
weise wichtige Angriffspunkte für künftige neuromodulatorisch aktive Psychopharmaka dar. Beispielsweise ist CRF (»corticotropin releasing factor«) ein wichtiger Faktor in der Stressmodulation. Cholezystokinin und Neurotensin sind häufig mit Dopamin kolokalisiert und könnten für die Psychosebehandlung interessant werden.
interferieren, nicht die pharmakologische Selektivität erreichen können wie Psychopharmaka, die nur eine spezifische Unterklasse eines einzigen Rezeptors aktivieren bzw. blockieren. Trotz dieser verringerten pharmakologischen Selektivität gewinnt eine direkte Beeinflussung von Transduktionsmechanismen in den letzten Jahren immer mehr als potenzieller Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka an Bedeutung.
Opioidpeptide
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Am besten untersucht sind die Opioidpeptide. Bisher sind mindestens 18 dieser Peptide bekannt, denen alle ein identischer Aminoterminus gemeinsam ist (Tyr-Gly-GlyPhe, dann Met oder Leu). Zu ihnen zählen beispielsweise Endorphin, Enkephalin und Dynorphin. Als »endogene Analgetika« sind sie an der Schmerzunterdrückung beteiligt. Darüber hinaus scheinen sie Stimmungszustände zu modulieren und sind möglicherweise auch in die Entstehung und Aufrechterhaltung von Suchterkrankungen involviert. Sie entfalten ihre Wirkung über spezifische Opiatrezeptoren, die gleichzeitig auch der Aktionsort exogener Opiate sind. Es werden 3 Klassen unterschieden: μ-, δ- und κ-Rezeptoren.
7.3.4
Signaltransduktion
Die Interaktion eines Neurotransmitters (First messenger) mit seinem spezifischen Rezeptor stellt lediglich den ersten Schritt innerhalb einer sog. Signaltransduktionskaskade dar. Das extrazelluläre Signal (synaptischer Spalt) wird nach Neurotransmitter-Rezeptor-Bindung über spezifische Mechanismen (z. B. sog. G-Proteine) in das Zellinnere (Zytoplasma) transportiert. Hier sind sog. Second messenger (z. B. cAMP) Träger des Signals. Über eine Reihe von weiteren Zwischenstationen wird dann das Signal in den Zellkern transportiert und auf sog. Third messenger (z. B. CREB) übertragen, bei denen es sich meist um Transkriptionsfaktoren handelt. Transkriptionsfaktoren besitzen die Eigenschaft Genexpressionsprozesse beeinflussen zu können. Dies bedeutet, dass das ursprüngliche Signal der Neurotransmitter-Rezeptor-Interaktion kaskadenartig bis in den Zellkern weitergeleitet wird, wo es dann letztlich zu einer Modifikation der Expression bestimmter Gene kommt.
Transduktionsmechanismen Die durch einen Agonisten ausgelöste Konformationsänderung eines Rezeptors kann über eine Reihe unterschiedlicher Transduktionsmechanismen in das rezeptive Neuron der zentralen Synapse weitergegeben werden (⊡ Abb. 7.4a, b). Hierbei können unterschiedliche Rezeptoren unterschiedlicher Transmitter letztlich den gleichen Transduktionsmechanismus benutzen (⊡ Abb. 7.4a, b). Dies bedeutet, dass Psychopharmaka, die mehr oder weniger spezifisch mit einem Transduktionsmechanismus
Vom Rezeptor zum Effektor und Bildung von Second messengern Löst ein Ligand nach Bindung an einen Rezeptor, d. h. einem Transmembranprotein mit Domänen auf der extrazellulären und zytoplasmatischen Seite, eine Reaktion im Zellinnern aus, bezeichnet man dies als Signalübertragung. Die Signaltransduktion ist eine Möglichkeit, das ursprüngliche Signal zu verstärken. Durch die Bindung des Neurotransmitters an die extrazelluläre Domäne des Rezeptors wird die Aktivität der Domäne der zytoplasmatischen Seite beeinflusst, der Rezeptor wird aktiviert. Im Zytosol wird ein biochemisches Signal erzeugt, dessen Amplitude sehr viel größer ist als beim extrazellulären Liganden. In vielen Fällen führt das Signal im Zytosol dazu, dass im Zellinnern die Konzentration einer niedermolekularen Verbindung ansteigt. Diese Moleküle werden als sog. »zweite Boten«(-Stoffe) bezeichnet (»second messenger«) im Gegensatz zum ersten Boten, dem extrazellulären Neurotransmitter. Verglichen mit den ionenkanalgekoppelten Rezeptoren arbeitet die Signalübertragung mit dem Second messenger verhältnismäßig langsam. Man nimmt an, dass auf diese Weise die Langzeitwirkung von Transmittern ermöglicht wird. Man unterscheidet grundsätzlich 2 Arten der Signaltransduktion: 1. Der Rezeptor kann mit einem G-Protein interagieren, das mit der Membran assoziiert ist. In seiner aktiven Form besteht das G-Protein aus einem GDP-gebundenem Trimer. Bei Rezeptoraktivierung wird GDP durch GTP ersetzt, die Untereinheiten des G-Proteins können daraufhin dissoziieren und reagieren mit einem oder mehreren Zielmolekülen. Rezeptoren, die über G-Proteine an ein Effektorsystem gekoppelt sind, werden auch als metabotrope Rezeptoren bezeichnet. 2. Der Rezeptor besitzt in seiner Zytosoldomäne eine Proteinkinase. Nach Bildung des Rezeptor-LigandenKomplexes wird die Kinase aktiviert und phosphoryliert ihre eigene zytoplasmatische Domäne. Diese Autophosphorylierung ermöglicht es dem Rezeptor, mit einem Zielprotein eine Bindung einzugehen und es gleichzeitig zu aktivieren. Das Zielprotein wiederum kann auf neue Substrate in der Zelle einwirken. Die Kinaserezeptoren sind in der Regel Tyrosinkinasen, es gibt jedoch auch einige wenige Serin-/Threoninkinaserezeptoren.
171 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
G-Proteine G-Proteine können Proteine oder Ionenkanäle aktivieren oder hemmen und lösen eine intrazelluläre Signalkaskade aus. Die G-Proteine übertragen Signale von einer Vielzahl von Rezeptoren auf viele verschiedene Moleküle. Viele klassische Neurotransmitter wirken über eine G-Proteinvermittelte Signaltransduktion. Zur Superfamilie der GProtein-gekoppelten Rezeptoren gehören u. a. die Muskarin-, die α- und β-Adrenozeptoren und Untergruppen von glutamatergen Rezeptoren (vgl. auch ⊡ Abb. 7.4a und ⊡ Tab. 7.3).
Effektoren Unter einem Effektor versteht man ein Molekül, das durch ein G-Protein aktiviert oder in selteneren Fällen inhibiert wird. Häufig handelt es sich dabei um ein anderes membranständiges Protein. Der Rezeptor befindet sich demnach »upstream« und der Effektor »downstream« von dem G-Protein. Als Effektormoleküle dienen v. a.: Die Adenylatzyklase (AC), die Guanylatzyklase (GC) und die Phospholipasen A2 (PLA2) und C (PLC). ⊡ Tab. 7.3 gibt einen Überblick über die Effektoren, die mit verschiedenen Typen von G-Proteinen gekoppelt
⊡ Tab. 7.3. G-Proteinklassen unterscheiden sich durch ihre Effektoren und werden durch eine Vielzahl von Transmembranrezeptoren aktiviert G-Protein
Effektor
Second messenger
Beispiele für Rezeptoren
Gs
Aktiviert Adenylatzyklase
cAMP ↑
β-Adrenozeptor
Golf
Aktiviert Adenylatzyklase
cAMP ↑
Olfaktorische Rezeptoren
Gi
Hemmt Adenylatzyklase, öffnet K+Kanäle
cAMP ↓
M2-Azetylcholinrezeptor
Go
Schließt Ca2+-Kanäle
Membranpotenzial ↑, Membranpotenzial ↓
α2-Adrenozeptor, GABABRezeptor
Gt (Transducin)
Stimuliert die cGMPPhosphodiesterase
cGMP ↓
Rhodopsinrezeptor
Gq
Aktiviert Phospholipase Cβ
InsP3, DAG ↑
M1-Azetylcholinrezeptor, 5-HT2-Rezeptor
InsP3 Inositolbiphosphat; DAG Diacylglyzerol.
sind. Einige G-Proteine wirken auf viele Effektoren ein, die ihrerseits wiederum viele unterschiedliche Übertragungswege aktivieren. Klassische G-Proteine der Neurotransmission sind Gs und Gi: Gs aktiviert Adenylatzyklase und erhöht somit die cAMP-Konzentration, Gi hemmt umgekehrt die Adenylatzyklase und erniedrigt die cAMP-Konzentration. Es handelt sich also bei den Second messengern um Mitglieder der wichtigen Klasse der zyklischen Nukleotide. Ein weiteres klassisches G-Protein ist Gq: Es aktiviert Phospholipase C (PLC) und fördert somit die Bildung einer weiteren bedeutenden Gruppe von Second messengern, die aus kleinen Lipidmolekülen bestehen wie Inositoltrisphosphat (InsP3) und Diacylglyzerol (DAG), die aus dem Membranphospholipid (Phosphatidylinositol-4,5Biphosphat, PIP2) gebildet werden. G-Proteine oder ihre Second messenger können auch direkt auf Kalium- oder Kalziumionenkanäle wirken und diese öffnen oder schließen. Bei der Aktivierung von PLC kommt es infolge der Bildung von InsP3 zur intrazellulären Freisetzung von Kalziumionen aus dem endoplasmatischen Retikulum und wahrscheinlich über Bildung weiterer Abbauprodukte des Inositolphosphatmetabolismus (z. B. InsP4) zur Öffnung von Kalziumkanälen in der Zytoplasmamembran. Die intrazelluläre Kalziumkonzentration wird heute ebenfalls als wichtiger Second messenger der zentralen Neurotransmission angesehen. Weitergabe des Signals von Second messengern Die gebildeten Second messenger aktivieren nun ebenfalls eine Signalkaskade, an der v. a. Kinasen, Phosphatasen und Proteasen beteiligt sind. Die Substrate dieser Enzyme befinden sich entweder in der Zellmembran, dem Zytoplasma oder im Zellkern. Eine genauere Charakterisierung der zytosolischen Kinasen erfolgt im anschließenden Kapitel. cAMP aktiviert die Proteinkinase A (PKA). Bei ansteigender
cAMP-Konzentration bindet cAMP an die regulatorische Untereinheit von PKA. Dadurch wird die katalytische Untereinheit von PKA freigesetzt. Diese kann in den Zellkern wandern und phosphoryliert dort z. B. CREB (Bindungsprotein des cAMP-Response-Elements) und löst somit einen Transkriptionsprozess aus. CREB. CREB ist eines der wesentlichen Substrate der PKA
im Zellkern (⊡ Abb. 7.5). Daneben werden Proteine von ihr phosphoryliert einschließlich spannungsabhängiger Kanäle in der Zellmembran (z. B. Na+-Kanäle, Ca2+-abhängige K+-Kanäle, L-Type-Ca2+-Kanäle), Rezeptoren (z. B. GABAA-Rezeptoren, Non-NMDA-Glutamat-Rezeptoren, β-Adrenozeptoren), Na+-K+-ATPase, Synapsin I und II, Tyrosinhydroxylase, das in die Synthese der Katecholamine involviert ist. Aber auch die Expression von induzierbaren Transkriptionsfaktoren wie c-Fos werden durch CREB aktiviert. Auf diese Weise ist cAMP an der
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172
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
Kontrolle des Ionenstromes durch die Zellmembran, an der Neurotransmitterfreisetzung und der Funktion des Katecholaminsystems sowie an der neuronalen Genregulation beteiligt. Über Phosphodiesterasen wird cAMP zu 5β-Adenosin-Monophosphat inaktiviert. Somit wird die Wirkung beendet.
⊡ Tab. 7.4. Regulation und Zielgene bzw. Zielproteine von Transkriptionsfaktoren Transkriptionsfaktor
Aktivierende Kinase
Beispiele für das Zielgen bzw. Zielprotein
CREB
Proteinkinase A (PKA)
Somatostatin
Calcium-CalmodulinKinase (CaM-Kinase)
Tyrosinhydroxylase
RSK-2 (gehört zur Gruppe der Ser/ThrKinasen)
c-Fos
Fos-regulierende Kinase (FRK)
Tyrosinhydroxylase
cGMP aktiviert die Proteinkinase G (PKG). Es existieren 2
unterschiedliche Formen der PKG, einmal in löslicher Form (Typ I) und einmal in membrangebundener Form (Typ II). Typ I ist die häufigste Form und kommt auch im Gehirn – hauptsächlich im Zerebellum – vor. Bestimmte Phosphodiesterasen werden durch cGMP aktiviert oder inhibiert. Dies erlaubt eine Interaktion zwischen dem cAMP- und dem cGMP-System. So reduziert cGMP die Effekte von cAMP, indem es dessen Wirkung durch Phosphodiesteraseaktivierung beendet.
7 Diacylglyzerol (DAG) aktiviert Proteinkinase C (PKC). PKC
stellt eine Enzymfamilie dar. PKC-Isoenzyme können kalziumabhängig sein (z. B. PKC α, β und γ). Inaktive PKC kommt im Zytoplasma vor. Nach Ansteigen der intrazellulären Kalziumkonzentration transloziert PKC in die Zellmembran und bindet dort an Phospholipide. Diese Bindung ist kalziumabhängig und wird durch DAG stimuliert (Voraussetzung für die volle Enzymaktivität). Die Stimulation der PKC wird durch den Abbau der DAG und möglicherweise durch Resynthese zu PIP2 beendet. Phorbolester (z. B. Phorbol-12-Myristat-13-Acetat) können den Effekt von DAG permanent nachahmen, allerdings mit größerer Potenz und niedrigerer Metabolisierungsrate. Viele wichtige neuronale Proteine sind Substrate der PKC: spannungsabhängiger Na+-Kanal, Ca2+-abhängige K+-Kanäle, GABAA- und NMDA-Rezeptor, »growth-associated protein 43« (GAP-43 auch als Neuromodulin oder Protein B-50 bezeichnet). Dieses Protein (GAP-43) kommt hauptsächlich in Nervendigungen im adulten Gehirn vor und scheint in Plastizitäts- und Transmitterfreisetzungsprozesse involviert zu sein. Kalzium und Calmodulin aktivieren die Kalzium-Calmodulin-Kinase. Die meisten Second-messenger-Funktionen
von Kalzium setzen seine Interaktion mit einem intrazellulären kalziumbindenden Protein, dem Calmodulin, voraus. In verschiedenen neuronalen Zellen wurden neben Calmodulin noch andere kalziumbindende Proteine nachgewiesen: Parvalbumin, Calbindin oder Calretinin. Im Gegensatz zu Calmodulin ist deren exakte Funktion jedoch noch weitgehend ungeklärt. Calmodulin besteht aus einer einzelnen Polypeptidkette und besitzt 4 Bindungsstellen für Kalzium. Wenn die 4 Positionen mit Kalzium besetzt sind, ist das Protein aktiviert. Der Kalzium-Calmodulin-Komplex (CaM) reguliert direkt viele wichtige Enzyme (⊡ Tab. 7.4). Neben diesen Enzymen stimuliert CaM über eine CaM-Kinase-Kinase
c-Fosa
Synapsin I BDNF (»brain derived neurotrophic factor«)
IGF-I NGF
c-Juna
c-Jun NH2-terminale Kinase (JNK)
Fas-Ligand (CD95) Zyklooxygenase TNF-α, TNF-β, IL-2
NFκB
a
IκB-Kinase (phosphoryliert Inhibitor, der somit NFκB für Translokation in den Zellkern freigibt)
IL-1, IL-2, IL-6, IL-8 TNF-α
Dimerisierungsparameter bestimmen maßgeblich, welcher Promotor aktiviert wird.
(CaMKK) die Wirkung von 5 Proteinkinasen. Die wichtigste davon ist die Kalzium-Calmodulin-abhängige Proteinkinase II (CaMK II). CaMK II ist in zentralen Neuronen angereichert, v. a. auf der postsynaptischen Seite. Substrate sind z. B. Tyrosin- und Tryptophanhydroxylase, Phospholipase A2, Adenylatzyklase, CREB, Calcineurin und Neurofilamentproteine. Deshalb ist CaM in ähnlicher Weise wie cAMP in Prozesse der synaptischen Neurotransmission involviert, sowohl auf prä- als auch auf postsynaptischer Seite. CaMK II kann im aktivierten Zustand durch Autophosphorylierung in einen stimulationsunabhängigen Zustand übergehen, welcher in LTP-(»long term potentiation«-) und Plastizitätsprozesse involviert zu sein scheint.
Rezeptortyrosinkinasen Rezeptortyrosinkinasen lösen intrazelluläre Phosphorylierungskaskaden aus (⊡ Abb. 7.5 b). Die Rezeptoren von Wachstumshormonen werden nach ihren Liganden benannt. Bei diesen handelt es sich in der Regel um kleine Polypeptide, die auch Zytokine genannt werden und die das Wachstum bestimmter Zelltypen stimulieren. Zu den Zytokinen gehören z. B. der epidermale Wachstumsfaktor (EGF/»epidermal growth factor«), der von Blutplättchen sezernierte Wachstumsfaktor (PDGF/»platelet derived growth factor«), der Nervenwachstumsfaktor (NGF/»nerve growth factor«) und Insulin.
173 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Die Bindung neurotropher Faktoren und Zytokine spielt eine sehr wichtige Rolle in der Entwicklung, Differenzierung, Funktion und Degeneration von Nervenzellen und in der Kommunikation neuronaler Netzwerke untereinander.
geschleust und phosphoryliert Transkriptionsfaktoren (ELK1 und c-Myc). ERK kann außerdem im Zytosol RSK, eine Serin-/Threonin-Kinase, aktivieren, welche dann in den Kern transloziert und dort den Transkriptionsfaktor CREB phosphoryliert (⊡ Abb. 7.4 a).
Struktur und Einteilung. Die Rezeptortyrosinkinasen haben eine allgemeine charakteristische Struktur: Als integrale Membranproteine durchqueren sie einmal die Membran und haben eine extrazelluläre N-terminale und eine intrazelluläre C-terminale Proteindomäne. Sie können aus einer einzigen Polypeptidkette (z. B. EGF) oder aus einem Dimer (z. B. Insulin) bestehen. Die Rezeptoren wirken alle auf die gleiche Weise. Sie sind Proteinkinasen, die Phosphatgruppen auf Proteine übertragen. Nach ihrer Lokalisation unterscheidet man grundsätzlich 2 Gruppen von Proteinkinasen: 1. Rezeptorproteinkinasen in der Membran und 2. zytosolische Proteinkinasen, die sich frei im Zytosol bewegen können.
Weitere Reaktionswege. Die durch die Aktivierung von
Zu jeder Gruppe gehören 2 Typen von Kinasen, die danach eingeteilt werden, welche Aminosäure am Zielprotein durch sie phosphoryliert wird. Bei den Rezeptoren überwiegen die Tyrosinkinasen, dagegen handelt es sich bei den zytosolischen Kinasen meist um Serin-/Threoninkinasen. Zu jeder Kinase gibt es eine für die entsprechenden Aminosäuren spezifische Phosphatase, die die Phosphorylierung und somit die Aktivierung rückgängig machen kann. Wirkungsweise. Bindet ein Ligand an den Tyrosinkinase-
rezeptor kommt es entweder intrazellulär zur Bildung von Second messengern (v. a. Lipide, die durch die Effektorsysteme PLC, PLA2 oder PI-Kinasen aktiviert werden) oder es kommt zu einer Proteinkinasesignalkaskade, die Second-messenger-unabhängig ist. Dabei aktiviert jede Kinase die nächste, indem sie diese phosphoryliert. Die letzte Kinase phosphoryliert in der Regel Transkriptionsfaktoren, die den Phänotyp von Zellen verändern können. Ras-Reaktionsweg. Der Reaktionsweg, der bisher am bes-
ten charakterisiert wurde, wird von Rezeptortyrosinkinasen ausgelöst und aktiviert Kinasen im Zytosol: der RasReaktionsweg (⊡ Abb. 7.4 a). Das Ras-Protein ist ein membrangebundenes Protein, dessen Aufgabe es ist, an der Zelloberfläche ausgelöste Proliferationssignale in das Zellinnere zu übertragen. Bei der Transduktionskaskade wird das Signal vom Rezeptor über einen Adaptor zu Ras weitergeleitet, das wiederum zu einer Reihe von Serin-/ Threonin-Phosphorylierungen führt. Schließlich wird das Endglied des aktivierten MAP-Kinase-(mitogenaktivierte Proteinkinase-)Reaktionswegs ERK (»extracellular signal-related kinase«, ERK1 und ERK2) in den Kern ein-
Rezeptortyrosinkinasen initiierten Signalwege können außerdem mit der apoptotischen Maschinerie interagieren und Apoptose hemmen (⊡ Abb. 7.7). Hierzu gehört z. B. der PI3K/Akt-Signalweg, der durch diverse neurotrophe Faktoren, wie z. B. Nervenwachstumsfaktor (NGF), »brain-derived neurotrophic factor« (BDNF), »glial cell line-derived neurotrophic factor« (GDNF) und »insulinlike growth factor-I« (IGF-I) aktiviert werden kann. Aktive PI3K (Phosphatidylinositol-3-Kinase) bewirkt die Phosphorylierung von Akt, das wiederum phosphoryliert, und inaktiviert das pro-apoptotische Bad und Caspase-9 (⊡ Abb. 7.7). Durch ein ausreichendes Angebot an neurotrophen Faktoren wird außerdem die Aktivität von c-Jun-NH2-terminale Kinase (JNK) und damit ein Signal zur verstärkten Expression pro-apoptotischer Bcl-2-Proteine unterdrückt (Yuan u. Yankner 2000). Andere antiapoptotische Signale, die u. a. durch Akt und MAP-Kinasen gesteuert werden, basieren z. B. auf der Aktivierung von CREB und NFkB (s. oben; ⊡ Tab. 7.4), die die Transkription anti-apoptotischer Proteine induzieren können (Mattson 2000). Die Schlüsselmoleküle der neuronalen Apoptose sind eine ganze Reihe von Proteasen, die sog. Caspasen, die der Zelle den Todesstoß versetzen, indem sie lebenswichtige Proteine zerstören. Die Aktivierung der Caspasen erfolgt nach dem Schneeballprinzip: Caspasen zerschneiden andere Caspasen und aktivieren dadurch deren proteolytische Funktion. Inzwischen sind 14 Mitglieder der Caspase-Familie bekannt. Die Caspasen lassen sich funktionell in Initiator- und Effektor-Caspasen unterteilen. Erstere – auch »Upstream-Caspasen« genannt (z. B. Caspase-8; vgl. ⊡ Abb. 7.7) – werden auf ein membranäres Signal hin aktiviert und aktivieren Caspasen der 2. Gruppe – auch als »Downstream-Caspasen« bezeichnet –, die prinzipiell für die Spaltung von Struktur- und Regulatorproteinen verantwortlich sind (z. B. Caspase-3; ⊡ Abb. 7.7). Bei der extrinsischen Apoptose wird durch die Aktivierung von sog. Todesrezeptoren auf der Zelloberfläche, wie z. B. TNF(Tumornekrosefaktor α)- oder Fas-Rezeptoren, Zelltod induziert (⊡ Abb. 7.7). Der intrinsische (mitochondriale) Apoptoseweg wird durch Stressoren wie z. B. UV-Strahlung, freie Sauerstoffradikale/oxidativen Stress oder z. B. Wachstumsfaktorentzug hervorgerufen. Er wird reguliert durch Proteine der Bcl2-Familie. Einige Proteine dieser Familie, z. B. Bcl2, BclXL, hemmen den Apoptoseprozess, andere hingegen fördern ihn, z. B. Bax, Bak, Bid, Bad. Interessanterweise besteht auch ein Crosstalk zwischen beiden Kaskaden, so
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
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⊡ Abb. 7.7. Apoptotische Signalwege. Bei der Oligomerisierung des Todesrezeptors durch spezifische Todesliganden werden Adaptormoleküle rekrutiert, die in die Aktivierung des JNK-Singnalweges und der Caspasen -8 und -2 involviert sind. Diese können nachfolgend Caspase-3 aktivieren. Durch die Bindung von neurotrophen Faktoren
kann aktivierte Caspase-8 bzw. -2 neben der direkten Aktivierung von Caspase-3 auch indirekt über die Spaltung von Bid zu truncated Bid, welches die Einlagerung von Bax in die äußere mitochondrilae Membran aktiviert, zur Stimulation des intrinsischen Weges führen. In den letzten Jahren gewinnt die Untersuchung der Fehlregulation apoptotischer Mechanismen bei der Schädigung von Nervenzellen zunehmend Beachtung, und eine Beteiligung bei der Pathogenese von neurodegenerativen Erkrankungen, wie z. B. Alzheimer-Demenz und Morbus Parkinson, wird derzeit diskutiert.
7.3.5
Transkriptionskopplung
Die phänotypische Vielfalt beruht größtenteils auf Unterschieden in der Expression proteinkodierter Gene, also solcher, die von der RNA-Polymerase II transkribiert werden. Hierbei wird eine RNA-Kette synthetisiert, die
an ihre Rezeptoren werden intrazellulär protektive Mechanismen über PI3K/Akt und MAP-Kinasen (MEK, ERK) induziert. Dadurch werden proapoptotische Faktoren (JNK, BAX, Bad) und die Caspase-9 gehemmt. Weitere Erläuterungen sind im Text aufgeführt
einem bestimmten Strangabschnitt einer DNA-Doppelhelix entspricht. Bevor ein Gen zur Expression gekommen ist, sind die folgenden Schritte der Reihe nach notwendig: die strukturelle Aktivierung des Gens, die Initiation der Transkription, die Prozessierung des Transkripts, der Transport des Transkripts ins Zytoplasma, die Translation der mRNA. Die Signal-Transduktions-Transkriptions-Kopplung umfasst demnach alle Teilschritte, die von der neuronalen Erregung zur Gentranskription erfolgen. Hierbei wird die Information des ersten Reizes – wie die synaptische Stimulation durch Neurotransmitter aber auch die humorale Stimulation z. B. durch Wachstumsfaktoren – in einen von der DNA gespeicherten Molekülkode umgewandelt (⊡ Abb. 7.7).
175 7.3 · Die Neurotransmitter und ihre Rezeptoren
Die Transkription beginnt, wenn die RNA-Polymerase an einen besonderen DNA-Bereich am Anfang des Gens, den Promotor bindet. Der Promotor schließt das erste Basenpaar ein, das in RNA transkribiert wird, den sog. Startpunkt. Sequenzen, die sich vor dem Startpunkt befinden, bezeichnet man als stromaufwärts (»upstream«) gelegen. Mit der RNA-Polymerase II können sehr viele Faktoren zusammenarbeiten. Sie lassen sich in 3 Hauptgruppen einteilen: Allgemeine Transkriptionsfaktoren. Diese Faktoren sind
an allen Promotoren zur Einleitung der RNA-Synthese notwendig, legen die Initiationsstelle fest und bilden zusammen mit der RNA-Polymerase den basalen Transkriptionsapparat. Upstream-Faktoren. Diese sind DNA-bindende Proteine,
die bestimmte DNA-Sequenzen upstream vom Startpunkt erkennen. Die Aktivität der Faktoren wird nicht reguliert, sie sind ubiquitär, wirken auf jeden Promotor mit passender Bindungsstelle und erhöhen die Effizienz des Transkriptionsstarts. Wenn ein Promotor nur Elemente enthält, die von allgemeinen und Upstream-Faktoren erkannt werden, ist er für die Transkription konstitutiver Gene (»housekeepinggene«) verantwortlich. Somit kann der Promotor in jedem Zelltyp die Transkription seines Gens in Gang setzen.
⊡ Abb. 7.8. Regulation der Aktivität von Transkriptionsfaktoren z. B. durch Modifikation, durch Bindung eines Liganden oder durch Bindung eines Inhibitors
Induzierbare Faktoren. Diese binden ebenfalls an be-
stimmte DNA-Sequenzen upstream vom Startpunkt. Sie besitzen eine regulatorische Funktion. Sie werden zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Geweben synthetisiert oder aktiviert und sind zuständig für die Kontrolle sich zeitlich oder räumlich ändernder Transkriptionsmuster. Somit lässt sich die Aktivierung von Transkriptionsfaktoren und die Expression ihrer Zielgene als eine Plastizität auf der Ebene der Genexpression begreifen. Die DNA-Sequenzen, an die sie binden, werden auch als Response-Elemente bezeichnet. Mehrere große Familien an Transkriptionsfaktoren konnten identifiziert werden, deren Einteilung sich auf die strukturellen Merkmale der Sequenzmotive bezieht, die für die DNA-Bindung notwendig sind (z. B. Zinkfingermotiv, Leucin-Reißverschluss, Steroidrezeptoren).
Aktivitätsregulierung von Transkriptionsfaktoren ! Wichtig ist es, zu verstehen, dass die Bindung eines Transkriptionsfaktors an die genregulatorische DNA-Sequenz mit einer Erhöhung oder Suppression der Transkription dieses Gens einhergeht. Wie in ⊡ Abb. 7.8 schematisch verdeutlicht, kann die Aktivität eines induzierbaren Transkriptionsfaktors auf verschiedene Weise reguliert werden:
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Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
Die Aktivität wird durch Modifikation des Faktors kontrolliert (Beispiel: AP-1, ein Heterodimer aus den Untereinheiten c-Jun und c-Fos, wird aktiv, wenn Jun phosphoryliert wird); durch Ligandenbindung wird der Faktor aktiviert (Beispiel: Steroidrezeptor); der inaktive Faktor ist an die Kernhülle und an das endoplasmatische Retikulum gebunden. Bei Mangel an Sterolen (z. B. Cholesterin) wird die aktive zytosolische Domäne abgespalten, die dann im Kern als Transkriptionsfaktor fungiert; der Faktor wird durch Verfügbarkeitsänderung aktiviert (z. B. NFkB wird durch das inhibitorische Protein I-kB im Zytoplasma zurückgehalten. Bei Phosphorylierung des Inhibitors wird NFkB frei).
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CREB. Wie schon erwähnt ist CREB ein Transkriptionsfaktor, der z. B. über die Bildung von cAMP und PKAAktivierung aktiviert wird. Aktiviertes CREB, d. h. phosphoryliertes CREB (»cAMP response element binding protein«), bindet an CRE (»cAMP response element«), eine kurze DNA-Sequenz bestehend aus nur 8 Nukleotiden (5bTGACGTCA-3b), und erhöht somit die Transkription des »downstream«-gelegenen Gens. CREB ist wesentlich an der Umsetzung des synaptischen Stimulationssignals im Langzeitgedächtnis beteiligt. Zielgene von CREB sind Gene, die für Transkriptionsfaktoren (z. B. c-Fos) sowie für andere Proteine kodieren (⊡ Tab. 7.4).
Kaskade von Transkriptionsfaktoren Transkriptionsfaktoren wirken oftmals in einer Kaskade. So induziert CREB und eine Reihe weiterer Transkriptionsfaktoren die Gruppe der »immediate-early genes« (IEG). Dazu gehören c-fos, fosB, c-Jun, JunB, JunD u. a. Die Produkte dieser IEG sind selbst wiederum Transkriptionsfaktoren (induzierbare Transkriptionsfaktoren wie z. B. c-Jun, c-Fos, JunB, FosB), denen eine bedeutende Rolle in der neuronalen Genregulation zukommt, da sie die Genexpression verstärken und spezifizieren. Jun und Fos, die zur AP-1-(»activator protein-1«-)Familie gehören, sind der Klasse der Leucin-ReißverschlussTranskriptionsfaktoren zuzuordnen. Sie neigen dazu, mit sich selbst oder mit anderen Transkriptionsfaktoren (z. B. JunB, JunD, AFT-4, NFAT) Homo- bzw Heterodimere (z. B. AP-1 bestehend aus einer c-Jun- und einer c-FosUntereinheit) zu bilden. Die Fähigkeit zur Dimerisierung ist von entscheidener Bedeutung für die Interaktion dieser Faktoren mit der DNA. Die Dimerisierungspartner bestimmen maßgeblich, welcher Promotor aktiviert wird. Der bloße Nachweis der Expression eines Transkriptionsfaktors sagt demnach noch nichts Genaues über seinen funktionalen Zustand aus. Wie der Name schon sagt, werden IEG sehr rasch exprimiert. Schon nach 30 min werden sie als Antwort auf einen adäquaten Reiz hin exprimiert, während im Ruhezustand der Zelle, also in Abwesenheit
eines Stimulus, nur sehr niedrige Spiegel an Fos und Jun vorliegen. Viele Stimuli, die Second messenger generieren (z. B. cAMP, Kalzium), können über die Aktivierung von CREB oder anderer Transkriptionsfaktoren sehr rasch die Expression von Fos induzieren (⊡ Abb. 7.4 b), indem sie an den c-fos-Promotor binden. Von daher können c-fos und andere IEG als wichtige Marker des neuronalen Aktivierungsgrads fungieren. Dimere. Fos vermag alleine nicht an DNA zu binden, wahrscheinlich weil es – im Gegensatz zu Jun – keine Homodimere bilden kann. Das Jun-Fos-Heterodimer indes bindet mit der gleichen Sequenzspezifität an DNA wie das Jun-Jun-Homodimer. Die Affinität des Heterodimers für die AP-1-Zielsequenz ist allerdings etwa 10-mal so hoch wie die des Jun-Homodimers. Der Nachweis der c-FosExpression wird demnach auch als Nachweis der Aktivität von AP-1 angesehen und allgemein akzeptiert. Ähnlich CRE stimuliert die aktivierte AP-1-Bindungsstelle die Transkription des downstream-gelegenen Gens. Der Mechanismus der Aktivierung und Wirkungsweise von Fos und Jun sind in ⊡ Abb. 7.4 b und ⊡ Tab. 7.4 zusammengefasst. Ein anderes Beispiel ist die Dimerisierung von Fos oder Jun mit ATF-Proteinen, die zur Bindung an die CREDNA-Sequenz führt. Induzierbarkeit. Die Induzierbarkeit von c-Jun und c-Fos
ist verschieden. Allgemein kann man sagen, dass c-Fos ein Mediator der synaptisch-regulierten Genexpression ist, währen c-Jun überwiegend degenerativ-regenerative und immunologische Signale vermittelt (die Involvierung von c-Jun, das über JNK aktiviert wurde, in neurodegenerativen Prozessen wird z. B. bei der Alzheimer-Demenz diskutiert; vgl. ⊡ Tab. 7.4 und ⊡ Abb. 7.7). Im Hinblick auf psychische Erkrankungen bedeutet dies, dass ihre neurobiochemischen Grundlagen nicht notwendigerweise auf Neurotransmitter und ihre Rezeptoren beschränkt sein müssen, sondern auch im Bereich transsynaptischer Prozesse (z. B. Signaltransduktionskaskaden) liegen können (Duman et al. 1999). Umgekehrt bedeutet dies, dass die Wirkung von Psychopharmaka nicht auf den synaptischen Spalt beschränkt ist. Vielmehr beeinflussen Medikamente, die mit der Neurotransmission interagieren, auch nachfolgende intrazelluläre Signalprozesse, einschließlich der Genexpression (Thome et al. 2000). Interessanterweise scheinen beispielsweise Antidepressiva insbesondere solche Gene zu beeinflussen, die in die Aufrechterhaltung neuronaler Plastizität involviert sind (Thome et al. 2002). Neben der erwähnten cAMP-PKA-CREB Signaltransduktionskaskade, die insbesondere bei serotoninergen und noradrenergen Neuronen eine wichtige Rolle spielt, gibt es eine Vielzahl weiterer solcher Kaskaden: Beispielhaft wären die MAPK-, p38K-, und JNK-Kaskaden zu nennen (Thome 2005).
177 7.5 · Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen
7.4
Neuroanatomische Aspekte
Regelkreise und Gleichgewichtshypothesen Unter physiologischen Bedingungen wird ein ungestörtes Funktionieren des Gehirns durch ein komplexes Ineinandergreifen der verschiedenen Neurotransmittersysteme und eine komplizierte Interaktion der einzelnen zentralnervösen Funktionssysteme gewährleistet (»Symphonie der Synapsen«). Vermutlich haben neuroanatomische oder neurobiochemische Störungen in einem Neurotransmittersystem bzw. in einer zerebralen Funktionseinheit immer auch Alterationen in anderen Systemen zur Folge. Daher kann die Physiologie ebenso wie die Pathophysiologie des ZNS nur dann zufriedenstellend erfasst werden, wenn Modelle zur Anwendung kommen, die die Verschaltungen und Interaktionen zentralnervöser Strukturen und Transmittersysteme berücksichtigen. Die verschiedenen Transmittersysteme befinden sich in einer fein abgestimmten Balance, die mit einer Waage mit multiplen Gleichgewichten zwischen multiplen Transmittern und Modulatoren verglichen werden kann. Unterschiedliche Einzeleffekte können zu ähnlichen Nettoeffekten führen. Darüber hinaus müssen zeitliche Veränderungen und die Fähigkeit zur neuronalen Plastizität berücksichtigt werden. Solche komplexen, sich aus multiplen Faktoren zusammensetzende Modelle werden den realen Verhältnissen dennoch sicher eher gerecht als einfache Monotransmittermodelle. Gleichzeitig muss die neuroanatomische Strukturierung des Gehirns mit seinen verschiedenen, miteinander interagierenden und unterschiedlich vulnerablen Funktionssystemen beachtet werden (⊡ Abb. 7.9). Für die am besten untersuchten Neurotransmitter (Dopamin, Noradrenalin, Serotonin, Azetylcholin) soll
⊡ Abb. 7.9. Regelkreisläufe, sog. »Loops« im Kortex (SM Supplementäres Motorfeld, PR Prämotorisches Rindenfeld, MR Motorische Rinde, GP Gyrus postcentralis, GTS Gyrus temporalis superior, GTI Gyrus temporalis inferior, GC Gyrus cinguli, CH hippocampaler Kortex, CE entorhinaler Kortex, SNc Substantia nigra, pars compacta, SNr Substantia nigra, pars reticulata, MGP medialer Globus pallidus, LGP lateraler Globus pallidus, NST Nucleus subthalamicus, VLO/VLM Thalamus ventralis lateralis, pars oralis/medialis, MD pm Thalamus medialis dorsalis, pars medialis)
kurz und stark vereinfacht ihre anatomische Lokalisation im ZNS dargestellt werden (⊡ Abb. 7.10).
7.5
Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen
Die Erkenntnis, dass ein Dopamindefizit in der Substantia nigra im Wesentlichen für das klinische Bild des Parkinson-Syndroms verantwortlich ist und pharmakotherapeutische Interventionen, die auf eine Erhöhung der dopaminergen Aktivität abzielen, zu einer Reduktion der klinischen Symptomatik führen, hat die Vorstellung, dass auch andere neuropsychiatrische Erkrankungen durch Neurotransmitter- und/oder Rezeptorveränderungen bedingt sind, entscheidend geprägt (Birkmayer u. Riederer 1986, S. 56 ff.).
Mono-Neurotransmittertheorien Allerdings konnte bislang keine psychische Krankheit identifiziert werden, bei der in ähnlicher Weise, wie z. B. bei neurologischen Erkrankungen, ein umschriebenes Transmitterdefizit im Zentrum der pathophysiologischen Alterationen steht. Dennoch wurden gerade für Psychoseerkrankungen Neurotransmitterhypothesen aufgestellt, die heute in ihrer klassischen Form kaum mehr aufrechtzuerhalten sind. Die Simplizität der Mono-Neurotransmittertheorien hat jedoch dazu geführt, dass sie bis heute, sicher auch unter pharmazeutisch-marktstrategischen Aspekten, propagiert werden, obgleich sie große Schwächen besitzen und insbesondere nicht die komplexe Ätiopathogenese und Klinik psychischer Erkrankungen erklären können.
7
178
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
7
⊡ Abb. 7.10. Die wichtigsten noradrenergen, serotoninergen und dopaminergen Projektionsbahnen im menschlichen Gehirn. (Nach Nieuwenhuys 1985)
Gleichgewichtstheorien Sehr viel geeigneter und realitätsnäher sind sog. Gleichgewichtstheorien, die von Störungen im interagierenden System der Neurotransmitter ausgehen. Neurotransmittertheorien haben die pharmakopsychiatrische Forschung maßgeblich stimuliert, und die Effektivität von antidopaminergen oder serotoninergen Substanzen in der Behandlung von schizophrenen bzw.
affektiven Psychoseerkrankungen zeigt, dass diese Theorien zumindest einen Teilaspekt der pathologischen Grundlagen dieser Krankheitsbilder abdecken. Eine besondere Schwierigkeit in der psychiatrischen Grundlagenwissenschaft stellt das weitgehende Fehlen zufriedenstellender Tiermodelle für neuropsychiatrische Erkrankungen dar. Daher müssen sich alle Hypothesen auf mehr oder weniger indirekte Hinweise und Post-mortem-Gehirnbefunde stützen.
179 7.5 · Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen
7.5.1
Demenz vom Alzheimer-Typ
In Gehirnen von Patienten, die an einer Demenz vom Alzheimer-Typ litten, wurde in Post-mortem-Studien ein Azetylcholindefizit im basalen Vorderhirn gefunden. Azetylcholin ist, auch im Tiermodell, ein für Lern- und Gedächtnisvorgänge besonders wichtiger Neurotransmitter (Blokland 1995). In Post-mortem-Hirngewebe von Demenzpatienten wurden folgende Reduktionen festgestellt: ChAT um 50–85% in verschiedenen Kortexarealen und im Hippocampus, die Muskarinrezeptorbindung im frontalen Kortex um 18%, die Serotoninkonzentration im Hippocampus und Striatum um 21–37%, die Noradrenalinkonzentraton im Putamen sowie frontalen und temporalen Kortex um 18–36%, die Dopaminkonzentration im temporalen Kortex und Hippocampus um 18–27%, die »somatostatinartige« Immunreaktivität im frontalen, temporalen und parietalen Kortex um 28–42%. Diese Zahlen zeigen, dass serotoninerge und noradrenerge Projektionen bei Demenz vom Alzheimer-Typ ebenfalls betroffen sind, allerdings in einem sehr viel geringeren Maße als cholinerge Neurone (Reinikainen et al. 1990). Dies hat dazu geführt, dass neben vielen anderen Therapieversuchen auch verschiedene Cholinesteraseinhibitoren in der Psychopharmakotherapie des AlzheimerSyndroms zur Anwendung kommen.
7.5.2
Depressionen (manisch-depressive Erkrankungen)
Bei depressiven Erkrankungen sollen in erster Linie Veränderungen in Noradrenalin- und Serotoninsystemen vorkommen.
Noradrenalinhypothese Die Noradrenalinhypothese wurde bereits in den 1960er Jahren intensiv diskutiert (Schildkraut 1965). Noradrenalinhypoaktivität führt generell zu niedrigem Blutdruck, langsamem Puls, schlaffer Körperhaltung, Verlust von Initiative, Verlangsamung von Entscheidungs- und Entschlussfähigkeit, vorzeitiger Ermüdbarkeit, apathischer Stimmungslage.
Serotoninhypothese Die Serotoninhypothese (Coppen 1967) kann sich auf folgende Befunde stützen: Serotoninmetabolite sollen im Liquor von depressiven Patienten verändert sein. In Postmortem-Studien wurden Veränderungen der Serotonin-
metaboliten in Gehirnen von Suizidopfern gefunden, auch wurde eine veränderte 5-HT2-Rezeptordichte im frontalen Kortex für diese Gruppe beschrieben (Mann et al. 2001). Antidepressive Psychopharmaka greifen in den Serotoninstoffwechsel ein. Theoretisch könnte bei Patienten mit Depressionen an verschiedenen Stellen der Synthese, des Metabolismus und der Rezeptoraktivierung des Serotonins ein Defekt vorliegen. Diskutiert werden: Alterationen der Tryptophankonzentrationen im Plasma, eine Veränderung des Tryptophantransports und metabolismus im Gehirn, Veränderungen der Tryptophanhydroxylase- und Tryptophandekarboxylaseaktivitäten, Störungen der Serotoninspeicherung, -freisetzung und -wiederaufnahme, eine veränderte MAO-Aktivität sowie Funktionsstörungen im Bereich der Serotoninrezeptoren und postsynaptischer Effektorsysteme. Klinische Symptome. Das serotoninerge System ist vermutlich an der Regulation der affektiven Kontrolle beteiligt. Serotoninerge Hypoaktivität ist assoziiert mit schlechtem Schlaf, körperlicher Inaktivität, Introversion und reduziertem Aktivitätsbedürfnis. Gelernte Hilflosigkeit. Im Tiermodell der »gelernten Hilf-
losigkeit«, das von einigen Wissenschaftlern als, wenn auch suboptimales, Tiermodell der Depression akzeptiert wird, wurde ein Anstieg der endogenen, kaliumabhängigen Serotoninfreisetzung im Hippocampus beobachtet. Keine Unterschiede fanden sich hingegen in der Azetylcholin-, Dopamin- und Noradrenalinausschüttung. Diese Befunde legen nahe, dass präsynaptische 5-HT-Mechanismen bei der Entstehung von »Depressionen«, zumindest im Modell der »gelernten Hilflosigkeit«, eine gewisse Rolle spielen (Edwards et al. 1992). Multiple Imbalance. Die Tatsache, dass immer häufiger
selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) zur Behandlung depressiver Syndrome erfolgreich eingesetzt werden, zeigt, dass die serotoninerge Neurotransmission in das pathogenetische Geschehen involviert sein muss. Allerdings werden auch unter SSRI-Behandlung therapieresistente Depressionen immer wieder beobachtet. Dies zeigt, dass auch im Falle depressiver Erkrankungen eine Mono-Transmitterhypothese nicht das gesamte pathophysiologische Spektrum dieser Krankheitsgruppe erfassen und erklären kann. Psychoseerkrankungen mit depressiver Symptomatik sind wahrscheinlich durch eine Imbalance multipler neuronaler Systeme bedingt (Birkmayer et al. 1972; Fritze et al. 1992) bzw. durch Störungen der Signaltransduktionskaskade (Akin et al. 2005).
7
180
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
7.5.3
7
Schizophrene Psychosen
Unter dem Begriff der schizophrenen Psychosen wird eine Gruppe heterogener Erkrankungen mit recht unterschiedlicher Ätiopathogenese, Verlauf und Prognose subsummiert. Die Tatsache, dass es bislang kein allgemein anerkanntes, auf biologischen Kriterien fußendes Einteilungsprinzip gibt, das sog. »nosologische Entitäten« fassbar und eine differenzierte Diagnostik möglich machen würde, erschwert die Erforschung dieses Symptomkomplexes ungemein. Während im Bereich der degenerativen Hirnerkrankungen ein stetiger Erkenntniszuwachs zu verzeichnen ist, bleibt die Schizophrenieforschung seit Jahrzehnten trotz erheblicher wissenschaftlicher Bemühungen und enormer Anstrengung in weiten Bereichen fruchtlos und frustran. Dennoch wurden einige Theorien zur Entstehung schizophrener Psychosen aufgestellt, die von einer gestörten Neurotransmission ausgehen. Im Zentrum des Interesses stehen dabei das dopaminerge und glutamaterge System. Die Dopamin- und die Glutamathypothese haben die biologische Erforschung schizophrener Erkrankungen ungemein stimuliert und stellen einen wichtigen Ausgangspunkt auch aktueller Forschungsbemühungen dar, wenngleich sie auch viele Fragen hinsichtlich der Entstehung dieser häufig sehr destruierenden und therapieresistenten Krankheiten offen lassen.
Vieles deutet darauf hin, dass bei schizophrenen Psychosen nicht nur dopaminerge Neurone, sondern auch andere Monoaminsysteme betroffen sind (Hsiao et al. 1993).
Glutamathypothese Die Glutamathypothese geht demgegenüber von einer glutamatergen Unterfunktion insbesondere in kortikostriatalen Projektionssystemen aus. Sie stützt sich auf folgende direkte und indirekte Befunde: Hirnregionen, die in besonderem Maße bei schizophrenen Psychosen alteriert sein sollen, wie der frontale Kortex, der Hippocampus und die Regio entorhinalis, besitzen relativ viele glutamaterge Neurone. Die bei einigen schizophrenen Patienten gefundene kortikale Atrophie und der frontale Hypometabolismus wären mit einer glutamatergen Unterfunktion gut vereinbar. Phencyclidin (PCP) löst »schizophrenoide Modellpsychosen« aus. Es gibt Hinweise, dass Glutamat im Liquor von Schizophreniepatienten erniedrigt sein könnte (Kim et al. 1980). Es wurden Veränderungen zentraler Glutamatrezeptoren bei schizophrenen Psychosen beschrieben (Bleich et al. 2001). Die Glutamatfreisetzung aus Synaptosomen des frontalen und temporalen Kortex könnte bei Schizophrenien vermindert sein (Sherman et al. 1991). Ein generell anomaler Metabolismus exzitatorischer Aminosäuren könnte viele bei Schizophrenie zu findende Phänomene erklären (Tsai et al. 1995).
Dopaminhypothese
Kombination mehrerer Störungen
Die Dopaminhypothese geht davon aus, dass schizophrenen Psychosen eine »dopaminerge Hyperaktivität« zugrunde liegt. Sie stützt sich dabei auf eher indirekte Hinweise wie die antipsychotischen Effekte von Dopaminantagonisten (Neuroleptika), biochemische Befunde an Post-mortem-Hirngewebe sowie Rezeptorbindungsstudien. Neuerdings ist es aber auch möglich, mit modernen bildgebenden Verfahren die dopaminerge Aktivität in vivo darzustellen. So zeigten sich in einer Positronenemissionstomografie-(PET-)Studie tatsächlich Unterschiede in der Verteilung von Dopaminrezeptoren bei Patienten, die unter schizophrenen Psychosen litten, und gesunden Kontrollprobanden. Im Patientenkollektiv wurde in vivo eine signifikante Dopamin-D2-RezeptorVerminderung im anterioren Zingulum gefunden (Suhara et al. 2002). Wahrscheinlich sind insbesondere dopaminerge Strukturen in den mesokortikalen und mesolimbischen Systemen für die antipsychotische Wirksamkeit von dopaminantagonistischen Neuroleptika verantwortlich. Dagegen dürfte die Dopaminrezeptorblockade im Striatum für die extrapyramidalmotorischen und die im tuberoinfundibulären System für die endokrinologischen Nebenwirkungen verantwortlich sein. Die alleinige Beteiligung dopaminerger Neurotransmittersysteme an der Entstehung schizophrener Psychosen gilt mittlerweile allerdings als sehr unwahrscheinlich.
Einige Autoren versuchen auch, die Dopamin- und die Glutamathypothese miteinander zu verknüpfen und interpretieren schizophrene Psychosen als sog. Neurotransmitterimbalancesyndrom. So könnten beispielsweise sowohl eine dopaminerge Hyperaktivität als auch eine glutamaterge Hypoaktivität in einem zentralnervösen Feedback-System über »Arousal-Modulation« dazu beitragen, dass die striatale Kontrolle über die thalamische Filterfunktion sensorischer Inputs aus der Außenwelt reduziert wird und es somit gleichsam zu einer kortikalen »Informationsüberflutung« kommt (Kornhuber et al. 1990; Carlsson 1995; Carlsson et al. 2001). Solche Hypothesen gehen davon aus, dass sowohl neurobiochemische (Glutamat und Dopamin) als auch neuroanatomische Veränderungen (kortiko-striato-thalamo-kortikaler Regelkreis) in der Pathophysiologie schizophrener Psychosen von Bedeutung sind. Neuere Ansätze gehen davon aus, dass Neurotransmitterveränderungen bei schizophrenen Psychosen lediglich ein Epiphänomen darstellen, dem pathogenetische Faktoren zugrunde liegen. Beispielsweise wäre es denkbar, dass die Neurotransmitterveränderungen lediglich eine veränderte neuronale Entwicklung reflektieren, die basierend z. B. auf einer Virus- bzw. genetisch bzw. mikrotraumatisch bedingten Störung durch biochemische Alterationen in neurotro-
181 7.5 · Klassische Neurotransmittermodelle neuropsychiatrischer Erkrankungen
phen Systemen verursacht wird (Thome et al. 1998; Hattori et al. 2002).
Impulskontrollstörungen, Sexualdelinquenz, Belastungsreaktionen; Thome u. Riederer 1995).
Modell der drei Grunddimensionen 7.5.4
Angsterkrankungen
GABA ist an der Steuerung und Verarbeitung von Angsterleben maßgeblich beteiligt. Eine gesteigerte GABAFunktion mildert Angstzustände, während sie durch eine Abnahme der GABAergen Aktivität verstärkt werden. Zusätzlich jedoch scheinen auch Serotonin und Noradrenalin involviert zu sein. Angstinduzierte Verhaltensreaktionen lassen sich im Tiermodell durch Benzodiazepine, die den inhibitorischen Effekt von GABA im ZNS verstärken, in erheblichem Maß modulieren. Gleichzeitig profitieren Patienten mit Angsterkrankung von trizyklischen Antidepressiva, die insbesondere das serotoninerge und noradrenerge Neurotransmittersystem modulieren. Bislang ist unklar, inwieweit sich die verschiedenen Angsterkrankungen (Agoraphobie, Panikattacken, einfache Phobie, soziale Phobie, generalisierte Angststörung) neurobiochemisch, d. h. hinsichtlich potenzieller Alterationen in den Neurotransmittersystemen, unterscheiden. Die Tatsache, dass diese Störungen auf pharmakotherapeutische Maßnahmen (Trizyklika, Benzodiazepine) ansprechen, legt die Vermutung nahe, dass diesen Erkrankungen eine gestörte Neurotransmission zugrunde liegt. Aufgrund des teilweise sehr unterschiedlichen Ansprechens auf verschiedene Psychopharmaka kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei den unterschiedlichen Angsterkrankungen um verschiedene nosologische Entitäten handelt.
7.5.5
Persönlichkeitseigenschaften
Nicht nur psychische Erkrankungen, sondern auch die Persönlichkeitseigenschaften und charakteristische Verhaltensweisen gesunder Personen stehen in engem Zusammenhang mit dem Neurotransmittersystem des Gehirns. Dabei wird keine Aussage darüber gemacht, inwieweit diese Eigenschaften biologisch determiniert, »vererbt« bzw. erworben, »erlernt« sind. Sowohl die genetische Ausstattung als auch prägende Ereignisse im späteren Leben dürften auf das Neurotransmittersystem des Gehirns, eines Organs, das sich durch ein hohes Maß an Plastizität und Variabilität auszeichnet, erheblichen Einfluss haben (Birkmayer u. Riederer 1986). Insofern das Neurotransmittersystem zumindest teilweise neurobiochemisches Substrat von Persönlichkeitseigenschaften ist, spielt es auch da eine wichtige Rolle, wo Persönlichkeitseigenschaften in pathologischer Weise alteriert sind bzw. eine Prädisposition für bestimmte psychische Erkrankungen darstellen (Suchterkrankungen,
Eines der frühesten Modelle, das bestimmte Neurotransmittersysteme spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen zuordnet, wurde in ersten Ansätzen von Birkmayer et al. (1972), Birkmayer u. Riederer (1986) und später von Cloninger (Übersicht: Cloninger et al. 1993) entwickelt. Dieses Modell hat im Laufe der Zeit einige Modifikationen erfahren. In seiner ursprünglichen Form geht Cloninger davon aus, dass sich alle Persönlichkeitsmerkmale auf 3 »Grunddimensionen« abbilden lassen: »Novelty seeking«, das Bedürfnis nach Neuem (Explorationsverhalten, Neugierde), »Harm avoidance«, Vermeidungsverhalten gegenüber negativen Stimuli und »Reward dependence«, Abhängigkeit von positiven äußeren Stimuli (Belohnung). Dem Novelty seeking wird die dopaminerge, der Harm avoidance die serotoninerge und der Reward dependence die noradrenerge Aktivität zugeordnet. Interessanterweise scheinen moderne testpsychologische und molekularbiologische Studien zu zeigen, dass diese Hypothese Cloningers, die in ihrer verallgemeinernden, vereinfachenden und verabsolutierenden ursprünglichen Form sicher nicht akzeptiert werden kann, zumindest in bestimmten Teilbereichen oder unter bestimmten Bedingungen nicht ganz unzutreffend ist. So scheint vermehrtes Novelty seeking und Sensation seeking bei alkoholkranken Patienten mit Veränderungen des dopaminergen Systems einherzugehen. Mit zunehmendem Wissen um die molekulargenetischen Grundlagen der Neurotransmission kann aber auch deren Rolle für Persönlichkeitsmerkmale zunehmend besser erforscht und wissenschaftlich erfasst werden. Dabei muss aber stets die Komplexität sowohl dieser molekulargenetischen Prozessse als auch eines neuropsychiatrischen bzw. psychopathologischen »Konstrukts« wie dem des »Persönlichkeitsmerkmals« berücksichtigt werden. Ein weiterer wichtiger Faktor sind die Gen-Umwelt-Interaktionen. Schließlich erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass ein einzelnes Gen, bzw. eine einzelne Genvariante »Persönlichkeit« determiniert. Trotz dieser Schwierigkeiten ist es aber in letzter Zeit gelungen, einige Genvarianten zu identifizieren, welche möglicherweise die Neurotransmission in einem solchen Maße unterschiedlich beeinflussen, dass unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale oder zumindest Tendenzen hierzu resultieren können. Hierbei scheinen insbesondere Gene, die für den Serotonintransporter sowie verschiedene dopaminerge und serotoninerge Rezeptoren codieren, eine wichtige Rolle zu spielen (Reif u. Lesch 2003).
7
182
Kapitel 7 · Störungen der Neurotransmission und Signaltransduktion als Grundlage psychischer Erkrankungen
Unzureichende Modellvorstellungen Die Vorstellung, dass Persönlichkeitseigenschaften durch Neurotransmittersysteme mitdeterminiert werden, stellt einen interessanten Ausgangspunkt für die neurobiochemische und molekulare Erforschung psychischer Störungen dar. Hierzu kommen zunehmend moderne molekularbiologische Methoden und Techniken zum Einsatz. Andererseits muss konstatiert werden, dass keine solche Modellvorstellung dem tatsächlichen Geschehen im menschlichen Gehirn auch nur annähernd gerecht wird. Die Persönlichkeitseigenschaften und differenzierten Verhaltensweisen des Menschen sind viel zu komplex und variabel, das Wissen über die Physiologie des Gehirns immer noch so bruchstückhaft, als dass die Persönlichkeit und das Verhalten des Menschen in absehbarer Zeit durch die Neurowissenschaften schlüssig erklärt werden könnten.
7 7.6
Probleme der Forschung
Obwohl es einige Befunde gibt, die nahelegen, dass Störungen der Neurotransmission eine Grundlage psychischer Erkrankungen darstellen können, und obwohl gerade das Bindungsverhalten vieler Psychopharmaka dafür spricht, dass dem so sein könnte, muss dennoch stets bedacht werden, dass ein direkter Nachweis, der einen kausalen Zusammenhang unmittelbar und zweifelsfrei beweist, bislang nicht geführt werden konnte. Die Erforschung von Störungen der Neurotransmission stößt auf eine Reihe von Schwierigkeiten, die bislang noch nicht zufriedenstellend gelöst werden konnten.
In-vivo-Untersuchungen Aussagen über den Zustand des Neurotransmittersystems in vivo sind extrem schwierig. Zwar existieren Tracer, die mit Hilfe von SPECT- oder PET-Techniken ( Kap. 25) die Darstellung bestimmter Rezeptoren im Gehirn des lebenden Menschen ermöglichen, allerdings ist die Auflösung dieser bildgebenden Verfahren nicht fein genug, um die vermuteten subtilen Veränderungen bei psychisch Kranken zweifelsfrei nachzuweisen. Hinzu kommt, dass Patienten häufig bereits medikamentös behandelt werden und auffallende Unterschiede zu Kontrollpersonen auf eine solche Psychopharmakotherapie zurückzuführen sind, dass es sich also mithin um sekundäre Veränderungen handelt, die keine Aussagen über die primären ätiopathogenetischen Ursachen zulassen. Ein längeres Absetzen der Therapie oder gar ein Verzicht darauf verbietet sich in der Regel aus ethischen Gründen. Die Untersuchung von Liquor, Blut oder Urin birgt die Schwierigkeit, dass unklar bleibt, woher Neurotransmitter und/oder deren Metaboliten stammen. Der Metabolismus muss nicht auf das Gehirn beschränkt sein, sondern kann auch aus anderen zentral- oder peripherner-
vösen Geweben stammen oder sogar aus nichtneuronalen Geweben. Außerdem lassen solche Untersuchungen keine Aussagen über die hirnanatomische Lokalisation zu.
Post-mortem-Untersuchungen Post-mortem-Untersuchungen erlauben demgegenüber zwar neurohistopathologische Aussagen, allerdings können auch hier Medikamenteneffekte ebensowenig ausgeschlossen werden wie Veränderungen aufgrund einer Alteration des Metabolismus in der Agonie. Auch hier kann es zu Verfälschungen der Ergebnisse kommen, die klare Rückschlüsse auf den Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung erschweren. Darüber hinaus beeinflussen Variablen wie Post-mortem-Zeit, Lagerungsdauer und Präparation die Messergebnisse. Dennoch haben Post-mortem-Untersuchungen wesentlich zum Fortschritt in der neuropsychiatrischen Forschung beigetragen: Trotz der erwähnten Probleme und Schwierigkeiten, die Gruppenbildung und Vergleichbarkeit limitieren, ist es dennoch möglich, valide und wertvolle Messergebnisse zu generieren. Die so gewonnenen Forschungsergebnisse stellen nach wie vor den Eckpfeiler der Hypothesenbildung für Zellkulturexperimente und Tierversuche dar.
Entwicklung neuer Modelle Es besteht die Hoffnung, dass mit zunehmendem Einsatz modernster Techniken die Rolle der Neurotransmission bei psychischen Erkrankungen immer eingehender erforscht werden kann und neue, eindeutigere ätiopathogenetische Erkenntnisse gewonnen werden können. Die Entwicklung brauchbarer Tiermodelle wäre in dieser Beziehung auch sehr hilfreich. Naturgemäß bestehen hier aber nur geringe Möglichkeiten, da selbst die Tiermodelle für ein relativ gut determiniertes psychiatrisches Krankheitsbild wie die Demenz eher unbefriedigend sind. Die Neurotransmitterforschung hat die Pharmakotherapie von ZNS-Erkrankungen revolutioniert. Die nächste Herausforderung wird darin bestehen, die bereits erreichten Fortschritte in diesem Bereich mit Hilfe genetischer Techniken und molekularer Methoden zu erweitern. Dabei zielen die modernen Forschungsansätze längst nicht mehr nur auf Neurotransmitter und ihre Rezeptoren ab. Vielmehr gilt es, die neuropsychiatrischen Erkrankungen zugrunde liegenden zellbiologischen Vorgänge im Bereich von Signaltransduktionskaskaden und Genexpressionsprozessen im ZNS besser zu verstehen, um sie dann möglichst direkt beeinflussen und modifizieren zu können.
183 Literatur
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7
8 8 Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen R. Rupprecht, N. Müller 8.1 8.1.1 8.1.2
8.1.3
8.1.4
8.1.5
8.1.6
Psychoneuroendokrinologische Grundlagen – 186 Begriffsbestimmung und historische Aspekte der Psychoneuroendokrinologie – 186 Das hypothalamisch-hypophysär-adrenale (HHA)-System bei psychischen Erkrankungen – 186 Das hypothalamisch-hypophysärthyreoidale(HHT)-System bei psychischen Erkrankungen – 190 Das hypothalamisch-hypophysärsomatotrope(HHS)-System bei psychischen Erkrankungen – 191 Das hypothalamisch-hypophysär-gonadale (HHG)-System bei psychischen Erkrankungen – 191 Das psychopharmakologische Potenzial von neuroaktiven Steroiden – 192
8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7 8.2.8 8.2.9 8.2.10 8.2.11 8.2.12 8.2.13 8.2.14
Psychoneuroimmunologische Grundlagen – 194 Begriffsbestimmung Psychoneuroimmunologie und historische Aspekte – 194 Immunologische Grundlagen und das immunologische Gedächtnis – 195 Methodische Aspekte der Psychoneuroimmunologie – 196 Neuroendokrines System und Immunsystem – 197 Das Zytokinsystem – 197 Interaktion von Zytokinen und Neurotransmittern – 198 Blut-Hirn-Schranke – 199 Immungenetik und psychische Störungen – 199 Zelluläres Immunsystem und psychische Störungen – 201 Psychische Störungen bei Autoimmunerkrankungen – 201 Schizophrenie und Immunsystem – 201 Depression und Immunsystem – 202 Immunologische Effekte von Psychopharmaka – 203 Ausblick – 204 Literatur
– 204
> > Psychische Erkrankungen weisen eine komplexe Pathophysiologie auf, die bis heute nur ansatzweise geklärt ist. Neben Veränderungen von Neurotransmittersystemen und Rezeptoren als deren Effektorsysteme, die dann auf nachgeschaltete Signaltransduktionsprozesse einwirken, mehren sich Hinweise, dass neuroendokrinologische und immunologische Mechanismen eine wichtige Rolle in der Pathophysiologie psychischer Erkrankungen spielen. Mittlerweile gibt es auch erste Ansätze, die versuchen, derartige Mechanismen im Sinne von neuartigen Therapiestrategien nutzbar zu machen.
186
Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
8.1
Psychoneuroendokrinologische Grundlagen R. Rupprecht
8.1.1
Begriffsbestimmung und historische Aspekte der Psychoneuroendokrinologie
Endokrines Psychosyndrom. Die systematische Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Psyche und Endokrinium geht bereits auf Manfred Bleuler zurück. Einen wichtigen Anstoß hierfür lieferte die Erkenntnis, daß es bei einer Reihe endokrinologischer Erkrankungen zu einer Psychose vom sog. exogenen Reaktionstyp kommt. Insbesondere sind bei endokrinologischen Erkrankungen Störungen der Affektivität und des Antriebs zu verzeichnen, welche von Bleuler unter dem Begriff des endokrinen Psychosyndroms zusammengefasst wurden.
8
Endokrinologische Psychiatrie. Bleuler entwickelte auch
den Begriff der endokrinologischen Psychiatrie und verstand darunter die Beschreibung der psychischen Störungen bei endokrinologischen Erkrankungen und umgekehrt, die Lehre, inwieweit psychische und endokrinologische Vorgänge zusammenhängen sowie die Lehre, inwieweit sich Persönlichkeit und psychische Erkrankungen durch das Endokrinium betreffende Behandlungen beeinflussen lassen und umgekehrt. Anfang dieses Jahrhunderts wurden nicht zuletzt von Emil Kraepelin und Sigmund Freud an die endokrinologische Psychiatrie hochgespannte Erwartungen hinsichtlich der Kausalität und Therapierbarkeit psychischer Erkrankungen gerichtet. Wenn auch solche Erwartungen durch die Psychoneuroendokrinologie aus heutiger Sicht nicht erfüllt werden konnten, so vermag diese doch wichtige Einblicke in die Pathophysiologie von Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankungen zu geben. Ferner lassen sich auch in bestimmten Fällen therapeutische Strategien aus psychoneuroendokrinologischen Konzepten ableiten.
8.1.2
tropin(ACTH)-Sekretion, welches seinerseits die Ausschüttung von Kortisol aus der Nebennierenrinde bewirkt. Kortikosteroide ihrerseits hemmen im Sinne eines negativen Rückkopplungsprozesses die Produktion und Freisetzung von ACTH und CRH durch Interaktion mit hypophysären, hypothalamischen und vermutlich auch hippocampalen Glukokortikoid- und Mineralokortikoidrezeptoren. Weiterhin üben eine Vielzahl von Neurotransmittern und Immunopeptiden hemmende (z. B. GABA) und stimulierende (z. B. Interleukine und Interferon) Einflüsse auf den verschiedenen Ebenen des HHA-Systems aus (Holsboer u. Barden 1996; Holsboer 2000). Somit darf die Regulation des HHA-Systems keinesfalls isoliert betrachtet werden, vielmehr ist die Rolle des HHA-Systems als Mediator zwischen Neurotransmitter- und Immunsystem hervorzuheben.
Veränderte Regulation des HHA-Systems bei Depression Am besten dokumentiert sind Veränderungen der Regulation des HHA-Systems bei depressiven Patienten. Etwa
Das hypothalamisch-hypophysäradrenale(HHA)-System bei psychischen Erkrankungen
Das HHA-System stellt das wichtigste stressadaptive System dar, welches Anforderungen, die von innen oder von außen auf den Organismus einwirken, begegnet. Es unterliegt einem komplexen Regulationsgefüge, das gleichermaßen von zentralnervösen wie peripheren Faktoren beeinflusst wird (⊡ Abb. 8.1). Das hypothalamische Kortikotropin-Releasinghormon (CRH) stimuliert zusammen mit Vasopressin die hypophysäre Adrenokortiko-
⊡ Abb. 8.1. Regulation des HHA-Systems (BBB Blut-Hirn-Schranke,
POMC Proopiomelanokortin, IL Interleukin, IFN Interferon, TNF Tumornekrosefaktor, MR Mineralokortikoidrezeptor, GR Glukokortikoidrezeptor, CCK Cholezystokinin, VIP vasointestinales Polypeptid, ANP atriales natriuretisches Peptid)
187 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen
60 der depressiven Patienten mit einer »major depressive episode« nach DSM-III-R weisen Veränderungen der CRH-, ACTH-, oder Kortisolsekretion auf. Eine Reihe von Untersuchungen beschrieb erhöhte Kortisolspiegel bei depressiven Patienten (Holsboer u. Barden 1996; Rupprecht u. Lesch 1989), wobei detaillierte Analysen des 24 hProfils eine erhöhte Frequenz der ACTH-Peaks sowie eine erhöhte Amplitude der Kortisol-Peaks erbrachten (Linkowski et al. 1987), die sich nach klinischer Remission der Depression zurückbildeten (ebd.).
Hyperplasie der Nebennierenrinde Während die Erhöhung der Kortisolspiegel während depressiver Phasen relativ eindeutig ist, sind die Veränderungen der ACTH-Sekretion weniger eindrucksvoll. Ein verstärktes Ansprechen der Kortisolsekretion der Nebennierenrinde bei depressiven Patienten erbrachte Hinweise
⊡ Abb. 8.2. Veränderungen der Aktivität des HHASystems bei Depressionen
⊡ Abb. 8.3. Aktivität des HHA-Systems bei Patienten mit CushingSyndrom im Vergleich zu depressiven Patienten
auf eine leichte funktionelle Hyperplasie der Nebennierenrinde (Holsboer u. Barden 1996), die sich im Verlauf einer depressiven Erkrankung allmählich entwickelt (⊡ Abb. 8.2 und 8.3). Ferner wurde eine Vergrößerung der Nebennieren bei depressiven Patienten computertomografisch nachgewiesen, was ebenfalls für eine derartige funktionelle Hyperplasie spricht (Holsboer u. Barden 1996). Patienten mit Cushing-Syndrom weisen ebenfalls eine Überaktivität des HHA-Systems (⊡ Abb. 8.3) sowie eine Reihe von psychopathologischen Symptomen auf, die denen depressiver Patienten durchaus ähnlich sind (Starkmann u. Schteingart 1981; ⊡ Tab. 8.1). Anders als beim Cushing-Syndrom, welches meist durch einen Tumor im Bereich der Hypophyse oder der Nebenniere bedingt ist, wird als Ursache der erhöhten Sekretion von ACTH und Kortisol bei depressiven Patienten eine vermehrte Sekretion von hypothalamischem CRH vermutet. Hierfür spricht
8
188
Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 8.1. Häufigkeit psychopathologischer Symptome bei Patienten mit Cushing-Syndrom. (Nach Starkman u. Schteingart 1981)
8
Symptom
%
Müdigkeit
100
Symptom
%
tik zwischen Patienten mit normalem und abnormem DST-Ergebnis. Daher sind metabolische Veränderungen alleine nicht geeignet, die Ursache der unzureichenden Kortisolsuppression durch Dexamethason bei depressiven Patienten zu erklären.
Schuldgefühle
37
CRH-Stimulationstests. Sie haben eine besondere Bedeu-
Energieverlust
97
Gesteigerter Appetit
34
Irritierbarkeit
86
Vermehrtes Träumen
31
Gedächtniseinbußen
83
Früherwachen
29
Depressivität
77
Formale Denkstörung
28
tung für das Verständnis der Physiologie und Pathophysiologie des HHA-Systems bei Depressionen. Untersuchungen mit humanem (Holsboer et al. 1984) oder bovinem CRH (Gold et al. 1986) erbrachten eine deutlich verminderte ACTH-Antwort bei unbeeinträchtigter Kortisolstimulation bei depressiven Patienten. Nach Blockade des endogenen Kortisols durch den 11β-HydroxylaseHemmer Metyrapon war jedoch die ACTH-Sekretion nach CRH-Stimulation bei depressiven Patienten normal (Bardeleben et al. 1988). Diese Befunde zeigen, dass eine erhöhte adrenale Kortisolsekretion bei depressiven Patienten zumindest teilweise die abgeschwächte ACTH-Antwort auf CRH-Stimulation bedingt. Andere Mechanismen, z. B. eine differenzielle Metabolisierung und Speicherung der Produkte des hypophysären ACTH-Vorläuferpeptids Proopiomelanocortin (POMC) sind in diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung (Rupprecht et al. 1989 a).
Libidoverlust
69
Appetitverlust
20
Einschlafstörung
69
Hyperaktivität
11
Angst
66
Wahrnehmungsstörung
11
Konzentrationsstörung
66
Beschleunigte Sprache
9
Weinen
63
Inhaltliche (paranoide)
9
Unruhe
60
Denkstörung
Sozialer Rückzug
46
Depersonalisation
3
Hoffnungslosigkeit
43
Derealisation
3
auch eine Hypersekretion von CRH im Liquor cerebrospinalis depressiver Patienten (Nemeroff et al. 1984). Dexamethason-Suppressionstest. Während die Gabe von
1–2 mg Dexamethason um 23 Uhr zu einer kompletten Suppression der Kortisolspiegel am darauffolgenden Tag bei gesunden Probanden führt, findet man bei depressiven Patienten in etwa 50 der Fälle eine unzureichende Suppression des Kortisols (Rupprecht u. Lesch 1989). Anfänglich wurde dieser sog. Dexamethason-Suppressionstest (DST) als hochspezifisch für bestimmte Depressionsformen angesehen (Carroll 1982), mittlerweile jedoch lässt sich eine differenzialdiagnostische Spezifität dieses Tests aufgrund einer Reihe von intervenierenden Variablen nicht mehr aufrechterhalten (Rupprecht u. Lesch 1989). Am ehesten scheint der DST als sog. »state marker« geeignet zu sein. So konnten einige Untersuchungen zeigen, dass sich der DST im Verlauf einer klinischen Befindlichkeitsverbesserung normalisiert, während ein weiter bestehendes pathologisches Testergebnis häufig einem klinischen Rückfall vorausging (Holsboer et al. 1982). Eine wesentliche Rolle für das DST-Ergebnis spielt auch der Metabolismus der Testsubstanz. Erniedrigte Dexamethasonplasmaspiegel bei Patienten mit abnormem DST-Ergebnis wurden mehrfach beschrieben (Holsboer et al. 1986; Rupprecht u. Lesch 1989). Diese sind auf eine beschleunigte Elimination oral gegebenen Dexamethasons bei diesen Patienten zurückzuführen (Holsboer et al. 1986). Bei intravenöser Gabe fanden sich jedoch keine Unterschiede in der Dexamethasonpharmakokine-
Dexamethason-CRH-Test. Im Rahmen von Untersu-
chungen mit kombinierter Gabe von Dexamethason (DEX) und CRH (DEX-CRH-Test) blockiert die Vorbehandlung mit 1,5 mg Dexamethason den CRH-induzierten ACTH-Anstieg bei gesunden Probanden vollständig, während es bei depressiven Patienten paradoxerweise zu einer Verstärkung der ACTH-Ausschüttung kommt (Holsboer et al. 1987). Im Zuge einer klinischen Remission normalisiert sich diese überschießende Sekretion jedoch wieder (ebd.). Allerdings scheint dies nicht nur ein »state marker« zu sein, da sich bei einem Teil gesunder Angehöriger ersten Grades von depressiven Patienten auffällige Ergebnisse im DEX-CRH-Test fanden (Krieg et al. 1990). Dies weist auf eine genetisch bedingte erhöhte Vulnerabilität im Zusammenhang mit einer abnormen neuroendokrinen Regulation bei solchen sog. »Hochrisikoprobanden« hin. Eine persistierende Kortisolhypersekretion trotz klinischer Remission ist ein Indikator für ein erhöhtes Rückfallrisiko während der nächsten Monate (Zobel et al. 1999). Pathophysiologisch ist das Phänomen des paradoxen DEX-CRH-Testergebnisses bei depressiven Patienten bislang unklar. Am ehesten spielen jedoch subtile Veränderungen im Bereich hippocampaler und/oder hypophysärer Steroidrezeptoren sowie des CRH-Vasopressin-Synergismus eine Rolle. Steroidresistenz. Studien zur Veränderung der Reagibili-
tät verschiedener endokriner Systeme auf Glukokortikoide (Rupprecht et al. 1989 b) deuten im Zusammenhang mit der klinischen Beobachtung, dass depressive Pa-
189 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen
tienten trotz des teilweise nicht unerheblichen Hyperkortisolismus keine somatischen Cushing-Symptome aufweisen, auf eine leichte Steroidresistenz in vivo hin, die vermutlich über eine Dysfunktion von Steroidrezeptoren vermittelt wird (Rupprecht et al. 1991 a). Weitere Hinweise für eine Steroidresistenz und eine mögliche Dysfunktion des Glukokortikoidrezeptors auch auf zellulärer Ebene ergaben sich aufgrund von In-vitroUntersuchungen an Lymphozyten. Der Zusatz von Glukokortikoiden in vitro ist in der Lage, die mitogeninduzierte Lymphozytenproliferation dosisabhängig zu hemmen. Eine verminderte Hemmbarkeit derselben nach In-vitro-Zusatz von Dexamethason bei Personen mit pathologischem DST-Ausfall sowie eine verminderte Reagibilität der Lymphozytenproliferation auf In-vivo-Manipulation des HHA-Systems (Rupprecht et al. 1991) wurde bei depressiven Patienten beobachtet. Die bislang vorliegenden Studien zur Pharmakologie des Glukokortikoidrezeptors bei depressiven Patienten erbrachten eine verminderte Dichte an Glukokortikoidbindungsstellen in Lymphozyten, eine verminderte »down-regulation« nach oraler Dexamethasongabe assoziiert mit pathologischem DST-Ausfall oder keine signifikanten Befunde (Rupprecht u. Lesch 1989). Neuere Untersuchungen sprechen hingegen für eine verminderte Plastizität, d. h. eine beeinträchtigte Regulations- und Adaptationsfähigkeit des Glukokortikoidrezeptors (Rupprecht et al. 1991). Dies zeigt sich darin, dass im Gegensatz zu gesunden Probanden bei depressiven Patienten keine Hochregulation der Glukokortikoidbindungsstellen in Lymphozyten nach Metyrapongabe erfolgt.
Effekte antidepressiver Pharmakotherapie Nach einer erfolgreichen Therapie depressiver Patienten mit Antidepressiva kommt es häufig zu einer Normalisierung verschiedener Parameter des HHA-Systems. Dabei muss jedoch offen bleiben, inwieweit diese Normalisierung eine Konsequenz der klinischen Besserung oder einen Effekt der antidepressiven Behandlung per se darstellt. Neuere tierexperimentelle Untersuchungen sprechen jedoch dafür, dass Antidepressiva die Aktivität des HHA-Systems verringern können, da eine Verminderung der CRH-Expression im Hypothalamus sowie Veränderungen der Steroidrezeptorexpression nach längerfristiger Gabe von Antidepressiva beobachtet wurden (Brady et al. 1991; Holsboer u. Barden 1996). Ferner bewirkte die Gabe von Antidepressiva bei transgenen Mäusen, bei denen durch Inkorporation einer Antisense-RNA gegen den Glukokortikoid-Rezeptor eine Überfunktion des HHA-Systems erzeugt worden war, eine Abschwächung dieser Überaktivität über eine Hochregulation von Glukokortikoidrezeptoren (Holsboer u. Barden 1996). Weiterhin wurde bereits nach kurzzeitigem Zusatz von Antidepressiva eine vermehrte Expression des Glukokortikoidrezeptors in zellulären Sytemen beschrie-
ben (ebd.). Inwieweit diese Beobachtungen tatsächlich mit der Neuroendokrinologie depressiver Patienten in Beziehung stehen und ob den Interaktionen zwischen Antidepressiva und HHA-System ein ätiologisch bedeutsamer Stellenwert zukommt, bedarf jedoch noch vertiefender Untersuchungen.
Hemmung der Kortisolsynthese Eine Senkung der Kortisolspiegel ist auch durch den Einsatz von Inhibitoren der Kortisolsynthese möglich. In letzter Zeit fanden sich vermehrt Hinweise, dass eine Hemmung der Kortisolsynthese zu einer deutlichen Verbesserung der klinischen Symptomatik bei depressiven Patienten führen kann und somit möglicherweise eine alternative Behandlungsstrategie bei depressiven Störungen darstellt (Murphy et al. 1991; Wolkowitz et al. 1993). Eine Hemmung der Kortisolsynthese durch Metyrapon wird über die Inhibition der 11β-Hydroxylase, welche die Umwandlung von 11-Deoxykortisol in Kortisol katalysiert, erreicht. In einer plazebokontrollierten Studie wurde kürzlich eine deutliche Verbesserung der klinischen Symtomatik nach gleichzeitiger Gabe von Metyrapon und einer niedrigen Dosis Hydrokortison zur Kortisolsubstitution bei depressiven Patienten beschrieben (O’Dwyer et al. 1995). ! Die Kombination von Metyrapon mit anderen Inhibitoren der Kortisolsynthese, z. B. Ketoconazol oder Aminoglutethimid, war sogar bei depressiven Patienten, welche gegenüber der Behandlung mit herkömmlichen Antidepressiva therapieresistent waren, wirksam (Ghadirian et al. 1995). Ferner wurde durch zusätzliche Gabe von Metyrapon ein beschleunigtes Ansprechen auf serotonerge Antidepressiva erreicht (Jahn et al. 2004). Die der antidepressiven Wirkung von Metyrapon zugrunde liegenden Mechanismen sind allerdings bislang noch weitgehend unbekannt. Eine Möglichkeit wäre, dass die Gabe von Metyrapon über die Hemmung der Kortisolsynthese zu einer Hochregulation von Glukokortikoidrezeptoren führt, ein Effekt, der auch nach längerfristiger Gabe von Antidepressiva beobachtet wird (Holsboer u. Barden 1996). Eine weitere These ist, dass es durch die Hemmung der Kortisolsynthese kompensatorisch zu einer vermehrten Ansammlung von Kortisolvorstufen kommt. Deren Umwandlung in verschiedene neuroaktive Steroide könnte neben einer Hemmung der Kortisolsynthese ebenfalls zur antidepressiven Wirkung von Metyrapon beitragen.
Veränderte Aktivität des HHA-Systems bei anderen psychischen Erkrankungen Neben den bei depressiven Patienten erhobenen Befunden wurden gelegentlich Veränderungen der Aktivität des HHA-Systems auch bei anderen psychischen Erkran-
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190
Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
kungen, z. B. Schizophrenie, Manie, Alkoholismus, demenziellen Erkrankungen, Anorexia nervosa oder Angsterkrankungen, beobachtet. So nahmen z. B. Patienten mit Panikstörung eine Mittelstellung im DEXCRH-Test zwischen gesunden Probanden und depressiven Patienten ein (Schreiber et al. 1996). Bemerkenswert ist, dass es bei Patienten mit Panikstörung zu keiner Überaktivität des HHA-Systems während laktatinduzierter Panikattacken kommt. Hierbei spielt möglicherweise ein Anstieg von endogenem atrialen natriuretischen Peptid (ANP) eine Rolle (Kellner et al. 1995).
Neuere neuroendokrinologische Therapieansätze
8
Die Hyperaktivität des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems während depressiver Episoden führte zu Interventionsstrategien zur Reduktion dieser Hyperaktivität seitens der pharmazeutischen Industrie. Die Entwicklung von selektiven Kortikotropin-Releasinghormon(CRH)-Rezeptor-1-Antagonisten stellt einen derartigen Therapieansatz dar. Bislang wurde ein CRH-1-Rezeptor-Antagonist (R121919) bei depressiven Patienten klinisch in einer offenen Studie bei depressiven Patienten angewendet und es wurde eine gute Verträglichkeit bei gleichzeitiger Reduktion des Schweregrads der Depression und der Angstsymptomatik beschrieben (Zobel et al. 2000). Die Substanz R121919 wurde aufgrund von Leberwerterhöhungen bei einzelnen Probanden zurückgezogen. Insofern bleibt das Ergebnis von plazebokontrollierten Doppelblindstudien mit weiteren non-peptidergen CRH1-Rezeptorantagonisten abzuwarten, bevor das therapeutische Potenzial dieser neuartigen Substanzklasse hinreichend beurteilt werden kann (Rupprecht et al. 2004). Eine weitere Strategie, die derzeit in klinischen Prüfungen verfolgt wird, ist die Entwicklung von Glukokortikoidrezeptor-Antagonisten. Diese bewirken eine Blockade der Wirkung von Kortisol am Glukokortikoidrezeptor. Fallberichte, offene Studien sowie erste plazebokontrollierte Studien liegen zum gemischten Glukokortikoid-Progesteron-Rezeptorantagonisten RU 486 vor. Es gibt Hinweise dafür, dass RU 486 insbesondere bei Patienten mit psychotischer Depression eine sinnvolle therapeutische Option darstellen könnte (Belanoff et al. 2002; Rupprecht et al. 2004). Aufgrund möglicher gynäkologischer Nebenwirkungen derartiger gemischter Antagonisten werden derzeit auch selektive Glukokortikoidrezeptorantagonisten entwickelt und klinisch als Add-on-Gabe bei schweren Depressionen geprüft. Das Ergebnis entsprechender plazebokontrollierter Doppelblindstudien bleibt abzuwarten, bevor definitive Aussagen zum klinischen Potenzial dieser Medikamente gemacht werden können. Derartige Substanzen sollen zunächst bei schwer depressiven Pa-
tienten mit ausgeprägter Hyperkortisolämie geprüft werden; publizierte Ergebnisse aus diesen Studien liegen bislang noch nicht vor. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Störungen neuroendokriner Funktionsabläufe bei depressiven Patienten zu neuartigen pharmakologischen Therapieansätzen geführt haben, die in den nächsten Jahren weiter verfolgt werden sollten.
8.1.3
Das hypothalamisch-hypophysärthyreoidale(HHT)-System bei psychischen Erkrankungen
Veränderte Regulation des HHT-Systems bei Depression Hinsichtlich der Regulation des HHT-Systems wurden die meisten Auffälligkeiten ebenfalls bei depressiven Erkrankungen gefunden. Im 24 h-Profil wurden bei depressiven Patienten erniedrigte TSH-Konzentrationen angesichts normaler T4-Spiegel beschrieben (Unden et al. 1986).
Low-T3-Syndrom Auffällig ist, dass bei depressiven Patienten gelegentlich ein sog. »Low-T3-Syndrom« besteht, welches durch erniedrigte T3- bei erhöhten »reverse T3«-Konzentrationen gekennzeichnet ist (Linnoila et al. 1983; Rupprecht u. Lesch 1989). ! In therapeutischer Hinsicht hat sich der Einsatz von T3 als Augmentationstherapie zu Standardantidepressiva in diesem Zusammenhang in mehreren Studien als wirksam erwiesen (Earle 1970; Rupprecht u. Lesch 1989). Ferner wurden auch mit einer Hochdosistherapie mit T4 therapeutische Erfolge bei bipolaren Depressionen erzielt (Bauer et al. 1998). Insofern zählt die Augmentation mit Schilddrüsenhormonen nach wie vor zu den experimentellen pharmakologischen Therapieansätzen. Ein Low-T3-Syndrom kann jedoch auch durch Glukokortikoide induziert werden und ist somit möglicherweise durch die erhöhte Aktivität des HHA-Systems bei depressiven Patienten bedingt (Rupprecht et al. 1989). Ferner wird auch TSH durch Glukokortikoide supprimiert. Bei depressiven Patienten ist jedoch die Supprimierbarkeit von TSH durch das Glukokortikoid Dexamethason analog zu den Befunden innerhalb des HHA-Systems deutlich abgeschwächt (ebd.). Somit ist die verminderte Reagibilität auf Glukokortikoide bei depressiven Patienten nicht auf das HHA-System beschränkt, sondern betrifft auch andere endokrine Achsen. Auch diese Befunde sind mit einer generellen Dysfunktion des
191 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen
Glukokortikoidrezeptors bei depressiven Patienten vereinbar. TRH-Stimulationstest. In Stimulationstests mit Thyreo-
tropin-Releasinghormon (TRH) fand man relativ häufig eine abgeschwächte Stimulierbarkeit von TSH und Prolaktin bei depressiven Erkrankungen. Diese Veränderungen sind jedoch nicht so häufig und nicht so stark ausgeprägt wie die Regulationsstörungen innerhalb des HHA-Systems und sind auch auch nicht so konsistent reproduzierbar (Loosen u. Prange 1982; Lesch u. Rupprecht 1989). Wie die Veränderungen der Aktivität des HHASystems dürfen auch die Veränderungen des HHT-Systems keinesfalls als spezifisch für depressive Störungen angesehen werden. So findet man eine verminderte Aktivität des HHT-Systems nicht nur bei depressiven, sondern auch bei schizophrenen Patienten (Rao et al. 1995) oder bei Essstörungen (Hudson u. Hudson 1984).
Veränderte Aktivität des HHS-Systems bei anderen psychischen Störungen Eine Unterfunktion des HHS-Systems besteht jedoch nicht nur bei depressiven Erkrankungen. Mit steigendem Alter nimmt die Aktivität des HHS-Systems generell ab (Steiger 1995). Ferner wurde eine abgeschwächte GHStimulation nach Gabe von GHRH auch bei Patienten mit Demenz vom Alzheimer-Typ gefunden (Lesch et al. 1990). Eine gesteigerte Antwort von GH auf Stimulation mit Apomorphin hingegen wurde bei postpartalen Psychosen beobachtet und im Sinne einer Überfunktion des dopaminergen Systems interpretiert (Checkley et al. 1992). Therapeutische Ansätze zur Korrektur der Aktivität des HHS-Aktivität bei psychischen Erkrankungen gibt es bislang nicht, da keine geeigneten oral wirksamen Pharmaka zur Verfügung stehen.
8.1.5 8.1.4
Das hypothalamisch-hypophysärsomatotrope(HHS)-System bei psychischen Erkrankungen
Veränderte Regulation des HHS-Systems bei Depression Die Regulation des HHS-Systems weist bei depressiven Patienten ebenfalls Veränderungen auf. Untersuchungen des 24 h-Profils ergaben jedoch inkonsistente Befunde (Linkowski et al. 1987; Voderholzer et al. 1993). Eine Reihe von Stimulationsstests mit Desmethylimipramin (Neuhauser u. Laakmann 1988), Clonidin (Lesch u. Rupprecht 1989) und Growth-hormone-Releasinghormon (GHRH; Lesch u. Rupprecht 1989) erbrachten Hinweise für eine verminderte Responsivität von Wachstumshormon (Growth hormone/GH) bei depressiven Patienten. Möglicherweise spielen erhöhte Konzentrationen von »Insulinlike growth factor-1« (IGF-1) in diesem Zusammenhang eine Rolle (Lesch et al. 1988). Allerdings war die abgeschwächte Stimulierbarkeit von GH nach Gabe von GHRH nicht so konsistent reproduzierbar wie die verminderte ACTH-Antwort nach CRH-Stimulation (Steiger et al. 1994). Schlafstörungen. Relativ häufig kommen bei depressiven
Patienten Störungen der Schlafarchitektur mit einer Verminderung des Tiefschlafanteils und einer verkürzten REM-Latenz vor (Steiger 1995). Da GHRH tiefschlaffördernd wirkt, CRH dagegen den Tiefschlaf unterdrückt, spielt möglicherweise eine Störung der Balance zwischen der Aktivität des HHS- und des HHA-Systems mit einer Unterfunktion des HHS- und einer Überfunktion des HHA-Systems für die Genese der Schlafstörung von depressiven Patienten eine Rolle (ebd.).
Das hypothalamisch-hypophysärgonadale(HHG)-System bei psychischen Erkrankungen
Im Vergleich zu anderen endokrinen Systemen wurde das HHG-System bei depressiven Erkrankungen weniger häufig untersucht. Studien zur basalen Sekretion von gonadalen Steroiden erbrachten keine ausgeprägten Veränderungen (Rupprecht u. Lesch 1989). Auch die Stimulationsuntersuchungen mit Gonadotropin-Releasinghormon (GnRH) wiesen weniger Auffälligkeiten auf als die Stimulationstests anderer endokriner Achsen (Rupprecht u. Lesch 1989; Lesch u. Rupprecht 1989).
Psychische Störungen der Postpartalzeit Auffallend ist jedoch das in der Postpartalzeit gehäufte Auftreten von depressiven Verstimmungen sowie von psychotischen Episoden (Brockington u. Meakin 1994). In dieser Zeitspanne kommt es zu einem rapiden Abfall der Östrogen- und Progesteronsekretion innerhalb weniger Tage. Somit scheint ein plötzlicher Abfall gonadaler Steroide einen Risikofaktor für das Auftreten psychischer Störungen darzustellen. 17β-Estradiol wurde erfolgreich zur Behandlung postpartaler Depressionen als Augmentation einer Therapie mit Standardantidepressiva in einer offenen Studie eingesetzt (Gregoire et al. 1996). Kontrollierte Doppelblindstudien sowie Untersuchungen zur therapeutischen Wirksamkeit bei anderen Depressionsformen stehen bislang jedoch noch aus.
Weibliche Sexualhormone und Psychose Aufgrund epidemiologischer Untersuchungen besteht ein zeitlicher Zusammenhang zwischen psychotischer Symptomatik und Veränderungen der Sexualhormonsekretion bei der Frau. So vermutet man, dass Östrogene am höheren Erkrankungsalter der Frau an Schizophrenie
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
dahingehend beteiligt sind, dass ihnen möglicherweise eine schützende Wirkung zukommt. Auch das erhöhte Erkrankungsrisiko von Frauen nach der Menopause sowie die Korrelation psychiatrischer Krankenhausaufenthalte schizophrener Patientinnen mit dem Verlauf des Menstruationszyklus sprechen für diese Theorie (Häfner u. Nowotny 1995). Ferner wirken Östrogene in vitro über membranäre Mechanismen neuroprotektiv (Behl et al. 1997), sie könnten daher möglicherweise ein therapeutisches Potenzial bei demenziellen Erkrankungen besitzen. Erste Studien deuten darauf hin, dass Östrogene u. U. zu einem beschleunigten Ansprechen auf Antipsychotika bei schizophrenen Patientinnen beitragen könnten und somit auch zu einer Dosiseinsparung solcher Medikamente führen könnten (Kulkarni et al. 2001). Die bisherigen Laborergebnisse sprechen jedoch dafür, das weit weniger über den Östrogenrezeptor wirksame 17α-Estradiol statt des üblicherweise verwendeten 17β-Estradiols einzusetzen, da beide Östrogene vergleichbar neuroprotektiv wirken (ebd.), aber mit 17α-Estradiol weniger Nebenwirkungen zu erwarten sind.
8.1.6
Das psychopharmakologische Potenzial von neuroaktiven Steroiden
Theoretische Grundlagen der Steroidhormonwirkung Das klassische Modell der Steroidhormonwirkung geht davon aus, dass Steroide durch passive Diffusion in das Zellinnere gelangen und dort an spezifische intrazelluläre Rezeptorproteine binden. Die Hormonbindung bewirkt eine Konformationsänderung der Rezeptoren durch Abdissoziation von umgebenden Proteinen, sog. Heatshock-Proteinen. Die Hormonrezeptorkomplexe translozieren in den Zellkern und binden dort als Dimere an sog. Response-Elemente, welche spezifische Erkennungssequenzen auf den Promotoren steroidregulierter Gene darstellen (Evans 1988). Steroidrezeptoren beeinflussen somit entscheidend die Genexpression, indem sie als Transkriptionsfaktoren wirken (ebd.). Definition neuroaktiver Steroide. In den letzten Jahren
fanden sich jedoch vermehrt Hinweise, dass bestimmte Steroide auch die neuronale Erregbarkeit über membranäre Prozesse durch Interaktionen mit entsprechenden Neurotransmitterrezeptoren modulieren können (Paul u. Purdy 1992; Rupprecht 2003). Für Steroide mit diesen speziellen Eigenschaften wurde die Bezeichnung »neuroaktive Steroide« eingeführt (Paul u. Purdy 1992). Während die Wirkungen von Steroiden auf genomischer Ebene Zeiträume von Minuten bis Stunden beanspruchen, die letztendlich von der Geschwindigkeit der Proteinbiosyn-
these bestimmt werden, spielt sich die modulatorische Wirkung neuroaktiver Steroide im Bereich von Millisekunden bis Sekunden ab. Somit stellen genomische und nongenomische Wirkungen von Steroiden im ZNS die molekulare Basis für ein breites Wirkungsspektrum dieser Steroide für neuronale Funktionen und Plastizität dar. Neurosteroide. Verschiedene neuroaktive Steroide können vom Gehirn selbst ohne Zuhilfenahme peripherer endokriner Organe synthetisiert werden (Baulieu 1991). Solche Steroide, die vom Gehirn aus Cholesterol produziert werden, werden auch als Neurosteroide bezeichnet (ebd.).
Modulation neuronaler Exzitabilität Im Jahr 1986 wurde das erste Mal gezeigt, dass die neuroaktiven Steroide Allotetrahydroprogesteron (THP) und Allotetrahydrodeoxykortikosteron (THDOC; ⊡ Abb. 8.4) die neuronale Exzitabilität über eine Interaktion mit dem GABAA-/Benzodiazepinrezeptorkomplex modulieren können (Paul u. Purdy 1992). Der GABAA-Rezeptor weist eine relativ komplexe molekulare Struktur auf. Er besteht aus einer Reihe von Untereinheiten, die letztendlich einen Ionenkanal bilden, durch welchen ein Chloridionenstrom in das Zellinnere fliesst (Rupprecht 2003). Am GABAA-Rezeptor greifen Agonisten an, z. B. GABA und Muscimol, jedoch auch Modulatoren, wie z. B. Benzodiazepine und Barbiturate. Die neuroaktiven Steroide THP und THDOC sind in der Lage, t-Butylbicylophosphorothionat (TBPS) vom Chloridionenkanal mit einer höheren Affinität als Barbiturate zu verdrängen und den GABA-induzierten Chloridionenstrom zu verstärken (Paul u. Purdy 1992). Somit stellen diese neuroaktiven Steroide effektive positive allosterische Modulatoren des GABAA-Rezeptors dar, indem sie die Anzahl und die Dauer der Öffnungen des Ionenkanals verlängern (ebd.). Während 3α-reduzierte neuroaktive Steroide wie THP und THDOC als positive allosterische Modulatoren des GABAA-Rezeptors gelten, besitzen Dehydroepiandrosteron-(DHEA-)Sulfat und Pregnenolon-Sulfat funktionellantagonistische Eigenschaften (ebd.). Somit üben endogene 3α-reduzierte neuroaktive Steroide möglicherweise funktionell bedeutsame positiv-allosterische Wirkungen am GABAA-/Benzodiazepinrezeptorkomplex aus, die sich vielleicht auch therapeutisch nutzen lassen. Bis vor kurzem ging man noch davon aus, dass Steroide entweder die Genexpression über Steroidrezeptoren im Sinne des klassischen Modells der Steroidwirkung regulieren oder aber die neuronale Exzitabilität über eine Modulation von Ionenkanälen verändern (ebd.). Dieses Modell konnte jedoch dahingehend modifiziert werden, dass 3α,5α-reduzierte neuroaktive Steroide sowohl die neuronale Exzitabilität beeinflussen als auch die Genex-
193 8.1 · Psychoneuroendokrinologische Grundlagen
⊡ Abb. 8.4. Biosynthese und Metabolismus von neuroaktiven Steroiden
pression über den Progesteronrezeptor nach intrazellulärer Oxidation regulieren (Rupprecht 2003; ⊡ Abb. 8.5). Es findet somit ein intrazelluläres Wechselspiel zwischen genomischen und nongenomischen Steroideffekten statt, bei dem die Expression der beteiligten Rezeptoren und deren Untereinheiten sowie der entsprechenden Enzyme eine wichtige Rolle spielt (vgl. ⊡ Abb. 8.5).
Anästhetische Eigenschaften Vor über 50 Jahren wurden mögliche anästhetische Wirkungen von 3α-reduzierten neuroaktiven Steroiden erstmals beschrieben. Im Tierexperiment bewirkte die intrazerebroventrikuläre Gabe von Progesteron und einigen seiner GABA-aktiven Metaboliten eine Verminderung der Schmerzschwelle (Paul u. Purdy 1992). Auch eine kli-
⊡ Abb. 8.5. Wirkungsweise von Steroiden im ZNS (SRE steroidresponsives Element, HSP 90 Heat shock Protein 90)
nische Studie konnte zeigen, dass durch Infusion einer Pregnanolonemulsion Anästhesie erzeugt wird.
Antikonvulsive Potenz Weiterhin besitzen die natürlich vorkommenden 3α-reduzierten neuroaktiven Steroide antikonvulsive Eigenschaften (Paul u. Purdy 1992; Rupprecht 2003). Darauf aufbauend wird gegenwärtig versucht, synthetische Analoga zu entwickeln, die als Antiepileptika eingesetzt werden könnten. Für eine mögliche antiepileptische Potenz solcher Steroide spricht auch, dass während eines Alkoholentzugssyndroms eine erhöhte Krampfanfälligkeit besteht und während eines solchen Entzugssyndroms erniedrigte Konzentrationen von endogenen 3α-reduzierten neuroaktiven Steroiden gemessen wurden (Rupprecht 2003).
8
194
Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Sonstige therapeutische Optionen 3α,5α−reduzierte neuroaktive Steroide. Die funktionell-
8
agonistische Wirkung von 3α, 5α-reduzierten neuroaktiven Steroiden am GABAA-Rezeptor lässt Spekulationen über mögliche anxiolytische Wirkungen bei Angsterkrankungen, z. B. der Panikstörung oder der generalisierten Angststörung, zu. Eine weitere Einsatzmöglichkeit ließe sich auch für Schlafstörungen diskutieren. Schlaf-EEGUntersuchungen nach Gabe von Progesteron als Vorläufermolekül erbrachten beim Tier (Lancel et al. 1996) und beim Menschen (Friess et al. 1997) ein Schlaf-EEG-Profil mit einer Zunahme von »non rapid eye movement«(Non-REM-)Schlaf, einer Abnahme der EEG-Aktivität im Deltafrequenzbereich sowie einer Zunahme der EEGAktivität im Betafrequenzbereich ähnlich der von Benzodiazepinen und weisen daher in diese Richtung. Mittlerweile gibt es Neuentwicklungen von Anxiolytika, die darauf abzielen, die Konzentrationen endogener 3α,5αreduzierter neuroaktiver Steroide zu erhöhen. Eine derartige Substanz mit rascher anxiolytischer Wirkung ist derzeit in der klinischen Entwicklung für die Behandlung von Angsterkrankungen.
siven Störungen im Alter. Allerdings ist bei der Bewertung der ersten Studien über erniedrigte DHEA-Konzentrationen bei demenziellen Erkrankungen Vorsicht angebracht (ebd.), da in größeren epidemiologischen Untersuchungen weder Zusammenhänge zwischen dem Vorliegen einer demenziellen Erkrankung noch zwischen Messungen der kognitiven Leistungsfähigkeit bei einer älteren Normalbevölkerung (ebd.) und den Konzentrationen von DHEA gefunden wurden.
Fazit Neuroaktive Steroide besitzen eine Vielzahl bislang therapeutisch noch weitgehend ungenutzter psychopharmakologischer Eigenschaften, deren klinische Wertigkeit und Indikationsgebiet in entsprechenden klinischen Studien künftig weiter untersucht werden müssen. Die Physiologie und Pathophysiologie von neuroaktiven Steroiden schaffen die Grundlage für deren möglichen Einsatz in der Therapie neuropsychiatrischer Krankheitsbilder und tragen zum weiteren Verständnis von deren biologischen Determinanten bei.
Pregnenolon. In tierexperimentellen Verhaltensuntersu-
chungen wurde eine Verbesserung der Gedächtnisleistungen nach intrazerebroventrikulärer Gabe von Pregnenolon beschrieben. Diese Verbesserung kognitiver Funktionen sind möglicherweise den N-Methyl-D-Aspartat-(NMDA)rezeptoragonistischen Eigenschaften von Pregnenolonsulfat zuzuschreiben, da NMDA-Rezeptorantagonisten kognitive Funktionen beeinträchtigen können (Rupprecht 2003). Erste klinische Untersuchungen zum Einfluss einer oralen Gabe von Pregnenolon auf den Schlaf des Menschen wiesen auf eine inverse GABA-agonistische Wirkung hin (ebd.). Allerdings gibt es bislang noch keine klinischen Untersuchungen bezüglich gedächtnisfördernder Eigenschaften von Pregnenolon beim Menschen. DHEA. Da DHEA-Sulfat und Pregnenolonsulfat am GABAA-Rezeptor auf zellulärer Ebene ähnlich wirken, sind gedächtnisfördernde Eigenschaften auch nach Gabe von DHEA zu erwarten. Im Tierexperiment wurden gedächtnisfördernde Effekte bereits bei Nagetieren nachgewiesen (Flood et al. 1988). Eine klinische Schlafstudie konnte eine Zunahme von REM-Schlaf nach oraler Gabe von DHEA bei männlichen Probanden zeigen (Friess et al. 1995), welche mit potenziellen gedächtnisfördernden Effekten vereinbar wäre. DHEA-Konzentrationen nehmen mit dem Alter ab und verminderte Konzentrationen von DHEA wurden bei Patienten mit demenziellen Erkrankungen, z. B. der senilen Demenz vom Alzheimer Typ und der Multiinfarktdemenz (Rupprecht 1997), beobachtetet. Daher eröffnet eine zusätzliche Gabe von DHEA u. U. therapeutische Möglichkeiten bei Patienten mit kognitiven Defiziten, z. B. demenziellen Erkrankungen oder depres-
8.2
Psychoneuroimmunologische Grundlagen N. Müller
8.2.1
Begriffsbestimmung Psychoneuroimmunologie und historische Aspekte
Psychoneuroimmunologie ist ein Fachgebiet, das sich in den letzten Jahren sehr rasch entwickelt und die gegenseitige Beeinflussung von Nerven- und Immunsystem sowie die Auswirkungen auf das Verhalten und das Befinden zum Gegenstand hat. Das Spektrum dieses Gebietes reicht von In-vitro-Studien von Gewebe und Lymphozyten bis zu Untersuchungen von Stresseinflüssen, Stressverarbeitung und Persönlichkeitseigenschaften auf die Funktion des Immunsystems und der Rolle psychischer Faktoren bei Infektions- und Tumorerkrankungen einschließlich der Effekte psychotherapeutischer Interventionen. Fragen der Verhaltensmedizin und tierexperimentelle Untersuchungen, z. B. die Konditionierung einer Immunantwort, gehören ebenso zu diesem Gebiet. Es lässt sich also eine ganze Bandbreite von Forschungsrichtungen subsumieren.
Interaktion von Immunsystem und ZNS Zahlreiche Interaktionen des Immunsystems mit dem ZNS wurden in den letzten Jahren beschrieben. Dabei hat
195 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen
das hohe Interesse der Forschung auf diesem Gebiet prinzipiell 2 Gründe: Einflüsse des ZNS (einschließlich des neuroendokrinen Systems) wie psychische Prozesse und psychopathologische Auffälligkeiten modulieren mittels der Aktivität des Immunsystems die Vulnerabilität zu somatischen Erkrankungen, z. B. Infektionen. (Direkte oder indirekte) Beeinträchtigungen des Immunsystems prädisponieren wahrscheinlich für psychische Erkrankungen, speziell für Psychosen. Die Hypothese, Immunprozesse seien an der Pathogenese psychischer Erkrankungen beteiligt, wird seit langem diskutiert. Ersten Anlass dazu gaben Befunde von Immunauffälligkeiten – besonders ausgeprägt bei katatonen Schizophrenien –, die von verschiedenen Autoren bereits lange vor Beginn der Neuroleptikaära im Blut und im Liquor schizophrener Patienten erhoben wurden (Bruce u. Peebles 1903; Dameshek 1930; Lehmann-Facius 1939). In den 1950er Jahren wurden Serumbestandteile Schizophrener mit autoaggressiven Eigenschaften gegen Hirngewebe beschrieben. Knight (1982) versuchte, die zentrale Rolle des Dopaminsystems mit der Autoimmunhypothese der Schizophrenie in Einklang zu bringen, indem er postulierte, dass dopaminrezeptorstimulierende Autoantikörper an der Pathogenese schizophrener Erkrankungen beteiligt seien. Dank moderner Methodik ist die Immunologie nun in der Lage, die verschiedenen in ihren Funktionen inzwischen besser bekannten Subgruppen des zellulären Immunsystems, aber auch die Komponenten des humoralen Immunsystems wie Zytokine, Antikörper, Akute-PhaseProteine etc. differenziert zu bestimmen und dadurch den funktionellen Zusammenhang der Immunparameter und deren Einflüsse auf die Immunpathologie darzustellen.
8.2.2
Immunologische Grundlagen und das immunologische Gedächtnis
Zellvermittelte Immunität Die Lymphozyten sind für die Immunabwehr von zentraler Bedeutung. Es werden 2 Grundtypen von Lymphozyten unterschieden, die B- und die T-Zellen. Die T-Lymphozyten erfahren ihre Ausreifung und Prägung in der Thymusrinde, ehe sie in die anderen lymphatischen Organe (Tonsillen, Lymphfollikel, Lymphknoten und Milz) auswandern. Ein Teil der aktivierten T-Zellen treten bei der Immunantwort selbst in zytolytische Zell-Zell-Interaktionen ein, wie sie z. B. bei Transplantatabstoßung oder bei Graft-versus-Host-Reaktionen nach Knochenmarktransplantationen auftreten. Die TLymphozyten werden deshalb als Träger der zellvermittelten Immunität bezeichnet. Zur Aktivierung benötigen T-Lymphozyten das entsprechende spezifische Antigen,
das zusammen mit einem Histokompatibilitätsantigen (HLA-Antigen) auf der Oberfläche einer »akzessorischen« Zelle (z. B. Makrophagen/Monozyten) der T-Zelle präsentiert wird. Zusätzlich benötigen T-Zellen zur Aktivierung und Proliferation noch ein weiteres, nicht-antigenspezifisches Signal von der akzessorischen Zelle.
Immunologisches Gedächtnis Eine wesentliche Funktion des Immunsystems ist die Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst. Nicht-SelbstMoleküle funktionieren als Antigene. Die T-Gedächtniszellen (»memory cells«) merken sich die spezifischen Antigene. Bei einem Zweitkontakt mit einem Antigen wird durch sie eine starke spezifische Immunantwort ausgelöst. Natürliche Killerzellen (NK-Zellen) töten Zellen nicht spezifisch und unterliegen keiner strengen HLARestriktion. HLA-System. Das HLA-System hilft bei der Selbst-/Nicht-
selbst-Unterscheidung und ist eng gekoppelt mit der Funktion des Immunsystems, indem es entscheidet, welche spezifischen Teile (Peptide) eines Antigens nach der Prozessierung in der Zelle den T-Lymphozyten präsentiert werden. Vom HLA-System hängt entscheidend die Immunantwort ab. Es umfasst etwa ein Tausendstel des menschlichen Genoms und beinhaltet eine Reihe eng gekoppelter Loci auf dem kurzen Arm des Chromosom 6. Eine Reihe von genetischen Erkrankungen des Nervensystems, z. B. multiple Sklerose (MS) und Narkolepsie, sind mit HLA-Genen gekoppelt.
Oberflächenmarkierung und Zytokinsekretion Die Zellen des Immunsystems sind durch ihre Oberflächenmarkermoleküle und durch das Muster der Zytokine, das sie sezernieren, definiert. So stellt der CD3-Marker das Kennzeichen für die Gesamtzahl der T-Lymphozyten dar. T-Lymphozyten lassen sich in mehrere Subpopulationen unterteilen, die mit Hilfe monoklonaler Antikörper definiert werden können und die funktionell unterschiedlich sind. Die wichtigsten Subpopulationen sind die T-Helfer/Inducer-Zellen (CD4+), die eine Immunantwort induzieren und die zytotoxischen T-Zellen/T-Suppressorzellen (CD8+), die eine ausgelöste Immunantwort des Organismus regulieren, aber auch zytotoxisch wirken und Zellen lysieren. CD16+/56+ ist der Marker für NK-Zellen, CD5+/ CD19+ für die B-Lymphozyten. Die antigenpräsentierenden Zellen (z. B. Makrophagen oder bestimmte Typen von Lymphozyten) schütten z. B. aktivierende Zytokine aus und aktivieren B- und T-Lymphozyten. NK-Zellen werden primär durch Interferon-γ aktiviert. B-Lymphozyten proliferieren zu Plasmazellen, die Antikörper produzieren. CD4+- und CD8+-Zellen, die wiederum durch CD3+-TLymphozyten aktiviert werden, befinden sich normaler-
8
196
Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
8 ⊡ Abb. 8.6. Übersicht über das zelluläre Immunsystem und die von Lymphozyten ausgeschütteten aktivierenden und hemmenden Zytokine
weise in einem funktionellen Gleichgewicht. Die Differenzierung in T-Helfer-1- und T-Helfer-2-Lymphozyten (ebenfalls definiert durch das Zytokinmuster, das sie ausschütten) scheint bei chronisch entzündlichen Erkrankungen von Relevanz zu sein (⊡ Abb. 8.6). Das eine schnelle Immunantwort einleitende und v. a. aus Elementen des zellulären Immunsystems bestehende T-Helfer-1-System wird bei akuten Entzündungen aktiv. Charakteristische Zytokine sind INF-g, IL-2 und IL-12. Das T-Helfer-2-System wird bei chronisch-entzündlichen Prozessen, aber auch allergischen Reaktionen aktiviert. Wichtige Zytokine, die eine Aktivierung des T-Helfer-2Systems widerspiegeln, sind IL-4 und IL-13, z. T. auch IL6. Beide Regulationssysteme stehen normalerweise in einem funktionellen Gleichgewicht.
T-Gedächtniszellen Neben dem ZNS ist das Immunsystem das einzige menschliche Organsystem, das über ein Gedächtnis verfügt. Diese Funktion nehmen die T-Gedächtniszellen + (CD45 ) wahr. Sie »merken« sich das Antigen, mit dem sie in Berührung gekommen sind, und Klone von T-Gedächtniszellen proliferieren schnell, wenn sie dieses Antigen wiedererkennen. Einer der historischen Ausgangspunkte der Psychoneuroimmunologie war eine Immunkonditionierung im Tierversuch: Bei Mäusen und Ratten ist es möglich, eine durch Cyclophosphamid (unkonditionierter Stimulus) vermittelte Immunsuppression durch gleichzeitige Gabe von Saccharin (konditionierter Stimulus) zu konditionie-
ren. Welche Elemente des Immunsystems in diese konditionierte Immunantwort involviert sind, ist bisher nicht geklärt (Ader et al. 1991). Möglicherweise spielen dabei neben den T-Memory-Zellen andere immunologische Gedächtnisfunktionen eine Rolle.
8.2.3
Methodische Aspekte der Psychoneuroimmunologie
Es ist bekannt, dass Untersuchungen des menschlichen Immunsystems eine Reihe methodischer Probleme mit sich bringen, denn verschiedene Komponenten des Immunsystems werden durch Variablen beeinflusst, die bei Humanuntersuchung nur schwer kontrollierbar sind und möglicherweise mit zu divergierenden Befunden beitragen. Dazu gehören Alter, Schlaf, Alkohol- und Drogenkonsum, Pharmaka, Ernährungsgewohnheiten, Tagesrhythmus, Stress, Rauchen und körperliches Training ebenso wie Infektionen, Tumoren etc. ! Auch klinische Krankheitsfaktoren wie Akuität, Verlauf, Erkrankungsschwere oder Psychopathologie scheinen eine Rolle zu spielen. Das zeigt, dass das Immunsystem sehr empfindlich auf verschiedenste Einflüsse reagiert, andererseits aber dank seiner hohen Komplexität und Variabilität in der Lage ist, eine funktionelle Homöostase aufrecht zu erhalten.
197 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen
8.2.4
Neuroendokrines System und Immunsystem
Über die Interaktion von ZNS, endokrinem System und Immunsystem ist inzwischen vieles bekannt. Zytokine kommunizieren mit im ZNS exprimierten Rezeptoren und beeinflussen verschiedene Funktionen, z. B. aktiviert IL-1 einerseits die ACTH-Ausschüttung und induziert andererseits Schlaf. Glukokortikoide hemmen die Zytokinproduktion und supprimieren die Immunantwort in vivo. Von Androgenen wurden supprimierende Effekte auf die Immunantwort beobachtet, während Thyroxin, GH und Insulin sie stimulieren. Östrogene supprimieren in höheren Dosen die zelluläre Immunantwort, während niedrigere Dosen eine stimulatorische Wirkung haben. Die erhöhte Rate von Autoimmunerkrankungen wie Sklerodermie, rheumatoide Arthritis oder systemischer Lupus erythematodes bei Frauen weist auf eine mögliche Beteiligung von Sexualhormonen an einer Immundysregulation hin.
Wechselwirkungen von Immunsystem und Endokrinium Bereits seit längerer Zeit ist bekannt, dass nicht nur das Immunsystem durch das hormonelle System beeinflusst wird, sondern auch Immuneinflüsse das endokrine System steuern können und periphere Immunprozesse auch Auswirkungen auf das ZNS im Sinne eines afferenten Geschehens haben. So konnte gezeigt werden, dass nach einer Antigeninjektion bei Versuchstieren das Maximum der Antikörperproduktion von einem Anstieg der Glukokortikoidkonzentration im Blut auf das 2- bis 3fache begleitet ist und eine immunsuppressive Wirkung erzielt wird; gleichzeitig erreicht auch die Feuerungsrate hypothalamischer Nuclei ihr Maximum (Besedovsky et al. 1986). Aufgrund dieser Befunde wird postuliert, dass die immunmodulatorische Wirkung von Kortisol einer der wichtigsten physiologischen Effekte dieses Hormons sei. Andererseits weisen Befunde darauf hin, dass eine Überstimulation der HPA-Achse durch Ausschüttung von CRF-stimulierenden Zytokinen zu einer Immunsuppression wie z. B. verringerter Effektivität von Hepatitisoder Grippeimpfung führt (Pennisi 1997). Weiterhin fand sich, dass in Lymphozyten des peripheren Immunsystems Hormone produziert werden, so ACTH, β-Endorphine, TSH, GH und Prolaktin. Das Immunsystem scheint also z. T. auch Funktionen des endokrinen Systems wahrzunehmen. Es scheint, dass Peptidsignale des Immunsystems und des endokrinen Systems z. T. gemeinsame Funktionen haben und dass Funktionen und Signale des Immunsystems und des endokrinen Systems vielfach Parallelen aufweisen.
8.2.5
Das Zytokinsystem
Zytokine vermitteln Informationen zwischen Zellen des peripheren Immunsystems und des ZNS. Sie werden z. T. aktiv durch die Blut-Hirn-Schranke transportiert, jedoch auch im ZNS von aktivierten Astrozyten und Mikroglia gebildet. IL-1, IL-2, IL-6 und TNF-α sind die wichtigsten aktivierenden Zytokine, von welchen verschiedene Funktionen im ZNS bekannt sind. Befunde der letzten Jahre zeigen, dass Zytokinwirkungen auch für psychische Erkrankungen von Bedeutung sind. Seit längerer Zeit ist die enge Verbindung von ZNS, endokrinem System und Immunsystem bekannt. Zytokine im ZNS sind dabei an verschiedenen Regulationsmechanismen beteiligt. Dazu gehören: die Initiierung eines Immunprozesses im ZNS bei entzündlichen Erkrankungen, die Regulation der Blut-Hirn-Schranke, die Regulierung der Hormone der HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse, differenzielle stimulatorische und hemmende Effekte auf die dopaminerge, serotonerge, noradrenerge und cholinerge Neurotransmission.
Stimulierung von Zellen des ZNS durch Zytokine Es existieren verschiedene Wege, ZNS-Zellen durch Zytokine zu aktivieren. Erstens werden zumindest einige Zytokine wie IL-1, IL-2, IL-6 und TNF-α über aktive Transportmechanismen aus dem Blut in das ZNS transportiert; zum zweiten sezernieren Gliazellen nach Aktivierung durch antigene Reize Zytokine; schließlich konnte nachgewiesen werden, dass die Zytokinsekretion im ZNS auch durch Stimulation mit Neurotransmittern ausgelöst werden kann. Es zeigte sich, dass Noradrenalin dosisabhängig die IL-6-Produktion in Astrozyten stimuliert (Norris u. Benveniste 1993). ! Da IL-6 funktionell eng mit anderen Zytokinen wie IL-1, IL-2 und TNF-α verknüpft ist, weist dieser Befund darauf hin, dass die Kaskade der Zytokine möglicherweise auch durch Neurotransmitter angeregt werden kann. Hier könnte eine wichtige Verbindung zwischen (Auto-)Immunerkrankungen, Infektionsanfälligkeit, Befinden und psychischen Erkrankungen liegen. Darüber hinaus dringen Zytokine natürlich auch durch eine gestörte Blut-Hirn-Schranke in das ZNS ein.
Zytokinproduktion Sowohl Astrozyten als auch Mikrogliazellen sind nach Aktivierung in der Lage, Zytokine zu produzieren und auszuschütten. Interessanterweise unterscheiden sich die Wege, auf denen beide Zellarten zur Bildung von Zytoki-
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
nen angeregt werden, sowie das sezernierte Zytokinmuster. Dies legt unterschiedliche Funktionen dieser Zelltypen für die Immunantwort im ZNS nahe. Viren stimulieren Mikroglia zur Zytokinproduktion. Auf diese Weise wird – zusammen mit der Expression von zellulären Oberflächenstrukturen – bei viralen Infektionen eine Immunreaktion im ZNS eingeleitet (Liebermann et al. 1989).
Wirkmechanismus
8
Da sich Zytokinrezeptoren auf Neuronen befinden, liegt nahe, dass Zytokine direkt auf neuronale Funktionen wirken. IL-1-enthaltende Neurone wurden in verschiedenen Arealen des ZNS einschließlich Hypothalamus und Hippocampus gefunden. Der Nachweis von IL-2-RezeptormRNA (der genetischen Information für den IL-2-Rezeptor) in Neuronen – mehr als in Mikroglia und Astrozyten – spricht dafür, dass auch IL-2 direkt auf Neuronen wirkt. Andererseits konnte im Tierversuch nachgewiesen werden, dass über den N. vagus Reize, die vom Immunsystem ausgehen, z. B. von IL-1, direkt an kritische ZNS-Regionen geleitet werden, ohne dass IL-1 in das ZNS wandert. Der N. vagus stellt offensichtlich eine Verbindung dar, die Informationen des Immunsystems weitergibt. Auch die physiologische Entwicklung des ZNS kann durch eine Über- oder Unterproduktion von Zytokinen erheblich beeinträchtigt werden (Merill 1992), denn Zytokine haben auch Funktionen als Wachstumsfaktoren im ZNS. Hier besteht möglicherweise eine Verbindung zwischen einer prä- oder perinatalen Schädigung, z. B. durch ein Geburtstrauma oder eine pränatale Virusinfektion, und einer Störung der Hirnreifung, wie sie bei schizophrenen Erkrankungen postuliert wird.
8.2.6
Interaktion von Zytokinen und Neurotransmittern
Besondere Bedeutung für psychische Erkrankungen dürften die Zytokineffekte auf Neurotransmitter des Katecholaminsystems haben. IL-1 stimuliert die Katecholaminausschüttung in peripheren Körperregionen, aber auch im ZNS, besonders ausgeprägt im Hirnstamm und im Hypothalamus. Hier wurden nach intraventrikulärer, aber auch peripherer Gabe von IL-1-Erhöhungen von Noradrenalin, von Serotonin und von deren Abbauprodukten gefunden (Zalcman et al. 1994).
Interleukin-2 und dopaminerge Neurotransmission Untersuchungen belegen, dass die Stimulation der dopaminergen Neurotransmission ein wichtiger neuromodulatorischer Effekt von IL-2 ist. In vitro stimuliert IL-2 die Dopaminausschüttung (Lapchak 1992). Da dies bei phy-
siologischen Konzentrationen von IL-2 geschieht, wird eine wichtige physiologische Rolle von IL-2 für den Dopaminstoffwechsel im ZNS postuliert (Alonso et al. 1993). Periphere Gabe von IL-2 führte im Tierversuch zu erhöhtem Noradrenalinstoffwechsel im Hippocampus und erhöhtem Dopaminstoffwechsel im präfrontalen Kortex. Eine besonders hohe Dichte der IL-2-Rezeptoren in der Pyramidenzellschicht des Hippocampus weist darauf hin, dass IL-2 vermutlich an der Regulation der Neurotransmission der Pyramidenbahnen im Hippocampus beteiligt ist (Plata-Salaman 1991). Im Tierversuch zeigte sich auch, dass IL-2 selektiv die Azetylcholinfreisetzung im Hippocampus und im frontalen Kortex (Araujo et al. 1989) hemmt. Entsprechend fanden sich nach längerer IL-2-Gabe im Tierversuch ein Neuronenuntergang, degenerative Veränderungen im Hippocampus sowie eine deutliche Einschränkung der Gedächtnisfunktion (Nemni et al. 1992). Die Stimulation von Dopamin und die Hemmung von Azetylcholin scheinen 2 wesentliche ZNS-Effekte von IL-2 zu sein. Eine regulatorische Rolle der Zytokine für die Gedächtnisfunktion ist bisher wenig beachtet. Die Beteiligung von IL-2 an der Regulation striataler dopaminerger Funktionen könnte die beschriebenen motorischen Effekte (auf die Körperhaltung) von IL-2 erklären. Darüber hinaus ist auch ein sedierender Effekt von IL-2 beschrieben. Diese Effekte von IL-2 sind vermutlich v. a. über den Locus coeruleus und über den Nucleus caudatus vermittelt (Nisticò u. De Sarro 1991).
Interleukin-6 und Katecholaminsekretion IL-6 kann in vitro Neurone zur Sekretion von Dopamin, evtl. auch anderen Katecholaminen stimulieren. Im Tierversuch erhöht die periphere Gabe von IL-6 den Dopamin- und Serotonin-Turnover im Hippocampus und frontalen Kortex, ohne den Noradrenalinstoffwechsel zu beeinflussen (Zalcman et al. 1994). Umgekehrt kann Noradrenalin die IL-6-Produktion in aktivierten Astrozyten stimulieren (Norris u. Benveniste 1993).
TNF-α und Katecholaminsystem Auch TNF-α beeinflusst die Neurotransmitterbalance, wobei diese Einflüsse von der Dauer der TNF-α-Gabe abzuhängen scheinen. Während akute TNF-α-Gabe einen über ZNS-Mechanismen vermittelten stimulatorischen Effekt auf das Katecholaminsystem hat, wirkt chronische TNF-α-Gabe inaktivierend auf die Katecholaminsekretion (Soliven u. Albert 1992). Bei demenziellen Prozessen, aber auch bei den HIV-assoziierten kognitiven Einschränkungen, wird TNF-α eine Schlüsselrolle zugeschrieben. Systematische Untersuchungen zu Wirkungen von chronischer im Gegensatz zu akuter Zytokingabe – für psychiatrische Fragestellungen von hoher Relevanz – stehen für die meisten Zytokine allerdings noch aus (⊡ Tab. 8.2).
8
199 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen
⊡ Tab. 8.2. Vermutete Funktion, Lokalisation, biologische Effekte und Bedeutung ausgewählter Zytokine im ZNS Funktion im peripheren Immunsystem
Funktion im ZNS
Lokalisation von Rezeptoren im ZNS
Produktion im ZNS
Neurotransmittereffekte
Einfluss auf psychische Funktionen
IL-1
Pleiotrope Aktivierung; Proliferation von T- und B-Zellen, zytolytische Aktivität von NK-Zellen ↑
Stimulation der HPAAchse; Fieber, Schlaf
Hippocampus; Hypothalamus; Hirnstamm
Astrozyten; Mikroglia
Serotonin, Dopamin, Noradrenalin ↑; neurodendokrine Stimulation
Schlaf, Antrieb, Stress, »Krankheitsgefühl«
IL-2
Aktivierung von T-, T-Helfer-, NK- und B-Zellen; Zytokinproduktion ↑, z. B. IL-6 in Helferzellen
Schrankenstörung; Dopamin-metabolismus
Pyramidenzellschicht des Hippocampus; Locus coeruleus
Astrozyten; Mikroglia
Dopamin; Noradrenalin; Azetylcholin
Gedächtnis, Kognition
IL-6
Entzündungsmediator, B-Zell-Stimulation, Antikörpersynthese und AkutePhase-Proteine ↑; Synergismus mit IL-1
Schrankenstörung; intrathekale IgG-Produktion
Hippocampus; präfrontaler Kortex
Astrozyten; Mikroglia
Noradrenalin; Serotonin; Dopamin
Stress?
TNF-α
Endogenes Pyrogen; Ausschüttung von IL-1, Aktivierung von Makrophagen, Zytotoxizität
Zytotoxisch; Demyelinisation; Fieber
Ubiquitär?
Astrozyten; Mikroglia
Akut: Katecholamine ↑
Kognition?
8.2.7
Blut-Hirn-Schranke
»Unspezifische« Liquorauffälligkeiten, z. B. Blut-HirnSchrankenstörungen, finden sich regelmäßig bei etwa 20–30% der psychiatrischen Patienten. Untersuchungen der Psychiatrischen Universitätsklinik München an Schizophrenen ergaben eine Blut-Hirn-Schrankenstörung bei 27% und eine intrathekale IgG-Bildung bei 15% der Patienten. ! Der Liquor-IgG-Gehalt zeigte signifikante Korrelationen mit der Psychopathologie, nämlich v. a. der schizophrenen Negativsymptomatik (Müller u. Ackenheil 1995 a). Erhöhte Immunglobuline und Schrankenstörung sind Teil eines Immunprozesses, dessen Bedeutung bisher im Einzelnen unklar ist. Die Korrelationen von Psychopathologie und IgG-Gehalt weist auf enge Zusammenhänge zwischen Immunprozess und Erkrankung hin. Eine Schrankenstörung ist mit der Aktivierung von Astrozyten verbunden, denn die kapillären Endothelzellen, die die Blut-Liquor-Schranke bilden, sind fast vollständig von Astrozyten umgeben, welche die Blut-LiquorSchranke über die Endothelialzellen der kleinen Gefäße modulieren (Benveniste 1992). Eine Störung führt vermutlich wiederum zu einer sekundären Aktivierung der Zytokinkaskade im ZNS.
Der physiologische Sinn liegt darin, dass Antigene durch einen Immunprozess im ZNS unschädlich gemacht werden. So zeigen z. B. Infektionen mit Herpesviren, die Gliazellen nicht aktivieren können, klinisch weitaus ungünstigere Verläufe als Infektionen mit Herpesviren, die Astrozyten in die Immunantwort einbeziehen (Lewandowski et al. 1994). Durch die bidirektionale Verbindung kann ein zunächst lokal im ZNS ablaufender Prozess nach Öffnung der Blut-Hirn-Schranke das periphere Immunsystem aktivieren, was zur Aktivierung eines Immunprozesses, aber auch zur Aktivierung gegenregulatorischer Prozesse und damit letztlich zur klinischen Kontrolle eines entzündlichen ZNS-Prozesses führen kann (⊡ Abb. 8.7).
8.2.8
Immungenetik und psychische Störungen
HLA-System und Schizophrenie Seit Mitte der 1970er Jahre gibt es eine Fülle von Untersuchungen, die die Assoziation von HLA-Klasse-I-Antigenen (HLA-A, -B, -C) und Schizophrenie untersuchten. Wenn Immunauffälligkeiten eine Rolle in der Pathogenese der Schizophrenie spielen, würde man Assoziationen zwischen dem HLA-System und Schizophrenie erwarten. Die Ergebnisse der HLA-Klasse-I-Untersuchungen sind
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
8 ⊡ Abb. 8.7. Funktion der Blut-Hirn-Schranke und des Zytokinnetzwerks im ZNS. Unter anderem mittels der Expression von Adhäsionsmolekülen (VLA-4, LFA-1) penetrieren Lymphozyten die Gefäßwand und erkennen die auf Gliazellen exprimierten Oberflächenmoleküle
I-CAM und V-CAM. Zytokine werden von Astrozyten und Mikrogliazellen ausgeschüttet. Möglicherweise modulieren penetrierende Lymphozyten die Zytokinausschüttung der Gliazellen
allerdings inkonsistent, eine Reihe beschriebener Assoziationen konnte nicht repliziert werden. Assoziationen von HLA-A9, -A10, -A28 und -A29 mit Schizophrenie wurden allerdings von mehreren Untersuchern beobachtet (Tiwari u. Terasaki 1986). Andererseits können eine Reihe methodischer Faktoren für die Variabilität der Ergebnisse verantwortlich sein, z. B. ethnische und lokale Unterschiede, Einflüsse im »linkage desequilibrium«, Diagnosekriterien oder zu kleine Untersuchungsgruppen. Bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen konnten deutlichere Assoziationen mit dem HLA-Klasse-IISystem (HLA-DR, -DQ, -DP) als mit dem Klasse-I-System gefunden werden. Bei Schizophrenen beschäftigen sich nur wenige Studien mit dem Klasse-II-System. In einer deutschen Studie fand sich ein leichter Anstieg von HLADQB1 *0602, der auch in einer weiteren kleinen amerikanischen Studie beschrieben wurde. Dies ist besonders interessant, da HLA-DQB1 *0602 auch mit Narkolepsie und MS assoziiert ist, also möglicherweise ein gemeinsames Vulnerabilitätsgen für mehrere ZNS-Erkrankungen darstellt (Großkopf et al. 1998).
HLA-System und affektive Störungen Auch bei affektiven Erkrankungen sind in der Literatur zahlreiche Assoziationen mit Klasse-I-Antigenen beschrieben, die ebenfalls nur z. T. repliziert werden konnten.
Problematik der HLA-Serologie Aus heutiger Sicht müssen die serologischen HLA-Untersuchungen der damaligen Zeit besonders kritisch gesehen werden, denn die HLA-Untersuchungen mit Antikörpern erbrachten vielfach falsch-positive und falsch-negative Befunde. Seit HLA-Untersuchungen mit molekulargenetischen Methoden durchgeführt werden, lassen sich validere und reliablere Analysen durchführen. Allerdings macht die Fülle der bekannten HLA-Gene die Untersuchung sehr großer Stichproben erforderlich. Nach einem Boom von HLA-Untersuchungen bis Mitte der 1980er Jahre flaute das Interesse am HLA-System ab. Mit verbesserten Labormethoden, dem heute verfügbaren Wissen über die funktionelle Bedeutung des HLA-Systems für die Immunantwort und der Erkenntnis, dass ein Schizophrenie-Suszeptibilitätsgen auf dem kurzen Arm des Chromosoms 6 zumindest in der Nähe der HLA-Region liegt (Schwab et al. 1995), können weitere HLA-Untersuchungen bei solchen psychischen Störungen, denen eine genetische Vulnerabilität zugrundeliegt, heute durchaus wieder vielversprechend sein.
201 8.2 · Psychoneuroimmunologische Grundlagen
8.2.9
Zelluläres Immunsystem und psychische Störungen
Mit der Entwicklung moderner immunologischer Methodik trat zunächst die zelluläre Immunologie in den Mittelpunkt des Interesses. Analysen des zellulären Immunsystems bei psychischen Erkrankungen gehen davon aus, dass sich Veränderungen im ZNS in der Zusammensetzung verschiedener funktioneller Gruppen von Lymphozyten im Blut widerspiegeln. Methodisch lehnt sich die psychoneuroimmunologische Forschung dabei an neurologische ZNS-Erkrankungen an, wie z. B. der MS, bei der sich Veränderungen in der Zusammensetzung der Lymphozytenpopulationen im Blut feststellen lassen. Heute geht man davon aus, dass zur Aufrechterhaltung oder gesunden Homöostase bestimmte Lymphozytenpopulationen permanent durch das ZNS »patroullieren« und in geringem Ausmaß ein ständiger Austausch von Lymphozyten zwischen ZNS und Blut stattfindet. Durch Signale von ZNS-Zellen – vermutlich zunächst der Präsentation eines Antigens, z. B. durch Mikrogliazellen und der folgenden Antigenerkennung durch Lymphozyten – kommt es zu einer Invasion, verbunden mit der raschen Vermehrung bestimmter Zellklone, die wahrscheinlich über das periphere Blut transportiert werden. Dieser Vorgang ist mit einer erhöhten Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke verbunden, wobei den Adhäsionsmolekülen eine Schlüsselrolle zuzukommen scheint (Hampel et al. 1996).
Lymphozytenpopulation und Zytokinproduktion Die verschiedenen funktionellen Gruppen von Lymphozyten unterscheiden sich in ihrer Zytokinproduktion. Moderne immunologische Methoden machen es möglich, auch mittels der Analyse weniger Liquorzellen Rückschlüsse auf Veränderungen in der Zytokinproduktion oder in der Zusammensetzung der Lymphozytenpopulation zu ziehen. Bisher wurden bei psychiatrischen Patienten neben den NK-Zellen v. a. Gesamt-T-Lymphozyten (CD3+), THelfer/Inducer-Zellen (CD4+) und T-Suppressorzellen/ zytotoxische T-Zellen (CD8+) untersucht; die Befunde werden in Abschn. 8.2.10 und 8.2.11 dargestellt.
8.2.10
Psychische Störungen bei Autoimmunerkrankungen
Dass Psychosen Folge von Immunprozessen sein können, zeigt das Auftreten psychotischer Phänomene bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen wie Lupus erythematodes, Sklerodermie, Sjögren-Syndrom und Antiphospholipidsyndrom (Kurtz u. Müller 1994), bei denen sich ZNS-Immunprozesse nachweisen lassen.
Aus klinischer Sicht zeigen sich Parallelen zwischen Autoimmunerkrankungen und insbesondere Schizophrenien und affektiven Störungen. Dazu gehören der häufig frühe Erkrankungsbeginn, die genetische Vulnerabilität und der schub- bzw. phasenhafte Verlauf. Parallelen zwischen MS und dem gehäuften Auftreten sowohl schizophreniformer Syndrome (Stevens 1988) als auch affektiver Störungen (Berrios u. Quemada 1990) bei MS wurden v. a. gezogen, um auf eine mögliche Immunpathogenese bzw. ähnliche pathogenetische Mechanismen dieser Störungen aufmerksam zu machen.
8.2.11
Schizophrenie und Immunsystem
Lymphozytenstatus bei schizophrenen Störungen Die Befunde zu Untersuchungen des zellulären Immunsystems bei Schizophrenen sind nicht einheitlich (Müller u. Ackenheil 1995 b). Erhöhungen der CD4+-T-Lymphozyten wurden allerdings von einer ganzen Reihe von Untersuchern gefunden (Henneberg et al. 1990; Müller et al. 1991). Zusätzlich wurden auch Erhöhungen der Gesamtzahl der T-Lymphozyten (CD3+) (DeLisi et al. 1982) beschrieben, deren Anstieg wohl v. a. auf die höhere Zahl der CD4+-Zellen zurückzuführen ist. Darüber hinaus wurden vermehrte CD5+-B-Zellen beobachtet (McAllister et al. 1989). Diese Befunde wurden als Hinweis auf eine Aktivierung des Immunsystems gewertet. Allerdings ist dabei zu beachten, dass die Patienten vielfach unter Neuroleptikabehandlung standen, die deutliche Effekte auf das Immunsystem hat. Vermutlich bringt die Neuroleptikabehandlung eine Vermehrung bestimmter Subgruppen von CD4+-Zellen und von B-Zellen mit sich.
Zytokine und Schizophrenie ! In letzter Zeit rücken die Zytokine stärker in den Vordergrund der immunologischen Forschung bei psychischen Erkrankungen. Die Hypothese, dass eine überschießende IL-2-Produktion eine wichtige Rolle in der Pathogenese der Schizophrenie spielt, wird u. a. von dem Befund gestützt, dass IL-2 dosisabhängig schizophrenieähnliche Symptome auslösen kann (Denicoff et al. 1987). Untersuchungen der IL-2-Produktion nach In-vitroStimulation von Lymphozyten schizophrener Patienten zeigten weitgehend übereinstimmend eine Verminderung der IL-2-Produktion (Hornberg et al. 1995). Es wurde beschrieben, dass sich die IL-2-Produktion umgekehrt proportional zur Ausprägung der Negativsymptomatik verhält, d.h. je niedriger die IL-2-Produktion, desto stärker die Negativsymptomatik. Darüber hinaus scheint die IL-2-Produktion auch zum Erkrankungszeitpunkt in Be-
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zug zu stehen (Ganguli et al. 1995). Auch der Befund einer verminderten Hemmbarkeit der Lymphozytenproliferation in mehreren In-vitro-Assays bei Schizophrenen ist durch eine verringerte IL-2-Produktion erklärbar (Müller et al. 1987). Untersuchungen der löslichen IL-2-Rezeptoren (sIL2R) im Serum Schizophrener zeigten übereinstimmend eine Erhöhung der sIL-2R (Ganguli u. Rabin 1989; Rapaport et al. 1989). Hohe sIL-2R-Werte waren mit einer schlechteren Prognose assoziiert (Hornberg et al. 1995). Da die biologische Funktion der sIL-2R vermutlich v. a. eine IL-2-antagonistische Wirkung ist und sIL-2R parallel zu IL-2 hochreguliert werden, sind diese Befunde mit einer Dysregulation von IL-2 vereinbar. Allerdings sprechen neuere Befunde dafür, dass die Neuroleptikabehandlung zu der Erhöhung von sIL-2R beiträgt. Liquordiagnostik. Für Aufsehen sorgten jüngst 2 Studien,
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in denen IL-2-Liquorbestimmungen vorgenommen wurden. Eine Studie beschrieb gegenüber Kontrollen erhöhte IL-2-Spiegel im Liquor unbehandelter schizophrener Patienten (Licinio et al. 1993). Die andere Studie fand bei einem methodisch sorgfältig angelegten Design, dass IL-2 im Liquor der einzige Prädiktor für einen schizophrenen Rückfall nach dem Absetzen von Haloperidol war. Keinen signifikanten Prädiktoreffekt hatten 5HIAA und HVA im Liquor sowie psychopathologische Variablen wie Ängstlichkeit. Erst nach Herausnahme der Variablen IL-2 aus dem mathematischen Berechnungsmodell der logistischen Regression hatten auch die Katecholaminabbauprodukte sowie das Frühsymptom Angst einen signifikanten Prädiktoreffekt (McAllister et al. 1995). Dass Serum-IL-2-Spiegel keine prädiktive Aussage erlaubten, zeigt, dass zentrale IL-2-Effekte im Serum vermutlich durch periphere Prozesse maskiert sind. Entsprechend zeigten IL-2-Untersuchungen im Serum auch keine Erhöhung bei schizophrenen Patienten.
Stimulation katecholaminerger Neurotransmitter Eine Reihe von Befunden spricht dafür, dass eine erhöhte Ausschüttung aktivierender Zytokine im ZNS bei Schizophrenen vorliegt, die mit einer Stimulation des katecholaminergen Neurotransmittersystems verbunden ist. Möglicherweise wird das periphere Immunsystem zunächst nicht adäquat aktiviert, so dass eine Gegenregulation im peripheren Immunsystem und – damit verbunden – eine Kommunikation ZNS/peripheres Immunsystem nicht ausreichend möglich ist. Das könnte mit einem Defekt in der Antigenerkennung oder -präsentation zusammenhängen. Durch Neuroleptikatherapie kommt es offenbar zu einer Aktivierung des peripheren Immunsystems und möglicherweise damit zu einer Gegenregulation der Zytokinausschüttung im ZNS.
Inwieweit also die aufgeführten Befunde zu IL-2 und sIL-2R durch eine antipsychotische Medikation der Patienten bzw. durch eine sehr kurze Absetzperiode erklärt werden können, müssen weitere Untersuchungen zeigen.
8.2.12
Depression und Immunsystem
Interleukin-6 und depressive Störungen Auch bei depressiven Störungen rücken in der letzten Zeit die Veränderungen im Zytokinsystem in den Mittelpunkt des Interesses. Maes (1995) vertritt die Ansicht, eine IL-6-Hypersekretion spiele besonders bei depressiven Störungen eine Rolle. Er fand bei depressiven Patienten sowohl erhöhte Serumspiegel von IL-6 als auch von IL-6R sowie andere Zeichen einer Immunaktivierung, insbesondere der Akute-Phase-Proteine, die durch IL-6 stimuliert werden. Der parallele Anstieg von IL-6 und sIL-6R bei depressiver Störung, die sich als Komplex zusammenlagern und möglicherweise über Assoziation mit einem signalübertragenden Protein die biologische Aktivität von IL-6 steigern, unterstreicht die wichtige Rolle von IL-6. Bei depressiven Patienten wurde auch eine signifikante Korrelation von hohen IL-6-Werten mit Kortisolplasmaspiegeln beschrieben (Maes et al. 1995), der bei der bekannten stimulatorischen Wirkung von IL-6 auf die HPA-Achse zu erwarten war, wobei allerdings eine Suppression von IL-6 im peripheren Immunsystem als Gegenregulation zu erwarten wäre. Die Korrelation der in vitro erhöhten IL-6-Produktion aus Lymphozyten depressiver Patienten mit bei diesen Patienten erniedrigten Tryptophanplasmaspiegeln wird von den Autoren in Zusammenhang mit dem Einfluss von IL-6 auf den Serotoninmetabolismus gesehen (Maes et al. 1995). Die Serotoninsynthese im ZNS wird zumindest teilweise durch die Tryptophanverfügbarkeit im Blut gesteuert, so dass erniedrigte Tryptophanblutspiegel zu einer verminderten Serotoninsynthese im ZNS führen können. Major depression. Bei Patienten mit Major depression
fanden sich aber auch erhöhte sIL-2R- und IL-1-Konzentrationen (Maes 1995). Inwieweit also IL-6 bei depressiven Störungen eine Schlüsselrolle zukommt, kann erst durch weitere Untersuchungen geklärt werden. Bei einer Untergruppe depressiver Patienten scheinen auch Autoantikörper nachweisbar zu sein, so wurden »Antibrain-Antikörper« im Serum von 2 von 11 Patienten mit einer affektiven Erkrankung festgestellt (DeLisi et al. 1985). An der Psychiatrischen Universitätsklinik München erhobene Befunde von Anti-DNA-Autoantikörpern im Liquor einer depressiven Patientin mit Sklerodermie (Müller et al. 1992) weisen ebenfalls darauf hin, dass
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Autoantikörper bei der Ausbildung depressiver Symptome eine Rolle spielen können.
Zelluläres Immunsystem und depressive Erkrankungen Die Befunde zum zellulären Immunsystem sind auch bei depressiven Störungen uneinheitlich. Die überwiegende Mehrzahl der Untersucher fand aber ebenfalls Zeichen einer Aktivierung des peripheren Immunsystems, wie die Erhöhung von CD4+-Zellen. Noch häufiger wird eine Erhöhung des CD4+/CD8+-Verhältnisses beschrieben (Syvälathi et al. 1985), während ein kleinerer Teil keine Veränderungen oder sogar eine Verminderung von CD4+-Zellen fand (Denney et al. 1988). In einer Studie fand sich ein interessanter Hinweis auf eine positive Korrelation der Hamilton-Depressionsskala mit der CD4+Zellzahl: je schwerer die Depression, desto höher die CD4+-Zellzahl (Levy et al. 1991). Einen ähnlichen Befund konnten Irwin et al. (1987) erheben, die eine positive Korrelation der Hamilton-Depressionsskalawerte mit der CD4+-Zellzahl beschrieben.
8.2.13
Immunologische Effekte von Psychopharmaka
Neuroleptika Wenn eine gesteigerte Konzentration aktivierender Zytokine im ZNS eine Rolle bei der Schizophrenie spielt, würde man einen hemmenden Effekt auf diese Zytokine unter Neuroleptikabehandlung erwarten. Bereits frühe Studien haben auf immunsuppressive Effekte von Neuroleptika hingewiesen (Baker et al. 1977), andere Untersuchungen haben keine Suppression des Immunsystems gefunden. Allerdings ist der Begriff immunsuppressiv vage – diese Effekte müssen näher spezifiziert werden. Einige In-vitroStudien beobachteten sogar eine immunaktivierende Funktion von Neuroleptika (Zarrabi et al. 1979). Die widersprüchlichen Ergebnisse legen nahe, dass In-vitro- und In-vivo-Effekte, aber auch Kurzzeit- und Langzeiteffekte unterschieden werden müssen. Es scheint, dass eine Kurzzeitbehandlung oder Einzeldosis von Neuroleptika keinen nachweisbaren Effekt bei Ex-vivo-Untersuchungen hat (McAllister et al. 1989 b), aber dies schließt keinesfalls immunmodulatorische Effekte im Rahmen einer längerzeitigen Neuroleptikabehandlung unter naturalistischen Bedingungen aus.
Hemmung aktivierender Zytokine Da sich das Immunsystem aus komplexen Regulationsmechanismen zusammensetzt, müssen die Effekte der verschiedenen Komponenten spezifiziert werden. Inzwischen liegen eine Reihe von Untersuchungen vor, die auf hemmende Effekte auf aktivierende Zytokine unter Neuroleptikabehandlung hinweisen. Übereinstimmend er-
wies sich, dass eine antipsychotische Neuroleptikabehandlung mit niedrigen Spiegeln von löslichem IL-6Rezeptor und hohen Spiegeln von löslichem IL-2-Rezeptor assoziiert ist (Pollmächer et al. 1995; Maes et al. 1996; Müller et al. 1997). Da lösliche IL-2-Rezeptoren Effekte auf das T-Helfer1-System widerspiegeln, die löslichen IL-6-Rezeptoren allerdings eher die Aktivität des monozytären Systems bzw. des TH-2-Systems, liegt es nahe, die Neuroleptikaeffekte als differenzielle Effekte auf das TH-1- und das TH2-System zu interpretieren. Es sieht so aus, als würde das TH-1-System aktiviert, das monozytäre- bzw. TH-2-System eher herunterreguliert.
Wirkmechanismen unterschiedlicher Neuroleptika Hemmende Effekte von Chlorpromazin, weniger ausgeprägt auch von anderen Neuroleptika (Haloperidol, Fluphenazin) auf die TNF-α-Produktion wurde in Tierversuchen ebenfalls beobachtet (Bertini et al. 1993). Chlorpromazin schützt auch vor toxischen Effekten von IL-1 und vor Endotoxin-induzierten toxischen TNF-Effekten bei Mäusen. Clozapin. Spezielle Aufmerksamkeit in Hinblick auf immunologische Effekte wurde dem Clozapin zuteil, denn immunologische Effekte wurden für das erhöhte Agranulozytoserisiko von Clozapin verantwortlich gemacht. Es ließ sich zeigen, dass Clozapin einen hemmenden Effekt auf den »granulocyte-macrophage colony-stimulating factor« (GM-CSF) aufweist (Sperner-Unterweger et al. 1993). Ex-vivo-Untersuchungen, Tier- und In-vitro-Untersuchungen zeigen, dass Neuroleptika hemmende Effekte auf die Produktion und/oder Ausschüttung aktivierender Zytokine haben.
Antidepressiva Im Gegensatz zu Neuroleptika wurden die immunologischen Effekte von Antidepressiva kaum untersucht (Miller u. Lackner 1989). Es liegen lediglich einige Befunde zum Zusammenhang von Serotonin- und Immunsystem sowie zu immunologischen Effekten serotonerg wirksamer Pharmaka vor. Da sich auch bei Depressionen Hinweise auf eine Überproduktion aktivierender Zytokine v. a. des monozytären Systems fanden, würde man auch von Antidepressiva hemmende Effekte auf Monozytenzytokine erwarten. In Tierversuchen ließen sich modulatorische, überwiegend inhibierende Effekte von Serotonin-wiederaufnahmehemmenden Pharmaka auf aktivierende Immunparameter nachweisen (Zhu et al. 1994). Auch auf Akute-Phase-Proteine ließen sich im Tierversuch hemmende Effekte von selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern nachweisen (Song u. Leonard 1994).
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Bei depressiven Patienten zeigte sich eine Verminderung von IL-6 während der Behandlung mit dem Serotoninwiederaufnahmehemmer Fluoxetin (Sluzewska et al. 1995). Diese allerdings vorläufigen Ergebnisse weisen auch auf hemmende Effekte von Antidepressiva hin, allerdings sind insgesamt die immunologische Wirkung und die Effekte auf die Zytokinproduktion bisher nicht ausreichend gut untersucht.
8.2.14
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Ausblick
Dank rascher Fortschritte der Kenntnisse der funktionellen Zusammenhänge zwischen Immunprozessen und Neurotransmittern können nun ältere Befunde besser eingeordnet werden. Die bei einem Teil der Patienten auftretenden Störungen der Blut-Liquor-Schranke oder die autochthone IgG-Produktion sind Indikatoren für einen Immunprozess im ZNS bzw. einer Interaktion ZNS/peripheres Immunsystem. Ein an der Funktion des Zytokinnetzwerks im ZNS orientiertes Modell kann erklären, wie ein autochthoner Prozess unter Einbeziehung von Überträgermolekülen des Immunsystems zunächst weitgehend unabhängig von peripheren Immunprozessen einen Krankheitsprozess einleitet, welcher möglicherweise erst in einem zweiten Schritt einen peripheren Immunprozess in Gang setzt, durch dessen Eigendynamik es dann zu einer Chronifizierung des Krankheitsbildes kommen kann (Müller u. Ackenheil 1998). Auch Mechanismen des zellulären Immunsystems können nun besser eingeordnet werden, da eine differenziertere funktionelle Analyse durch genauere Kenntnis der Funktion von Subgruppen von Lymphozyten und durch methodische Fortschritte möglich ist. Kein anderes Gebiet der Medizin bringt derzeit so rasche Fortschritte wie die Immunologie. Aufgrund der leichteren Zugänglichkeit, der für viele Erkrankungen vorhandenen Tiermodelle und der Bedeutung des peripheren Immunsystems für z. B. Infektiologie, Tumorimmunologie und Transplantationsmedizin, ist der Kenntnisstand der peripheren Immunologie gegenüber dem der Neuroimmunologie und erst recht der Psychoneuroimmunologie wesentlich entwickelter. So ist die Bedeutung einer Reihe neu entdeckter Zytokine, die z. T. auch im ZNS exprimiert werden, für Vorgänge im ZNS und speziell für neuronale Vorgänge bisher völlig unbekannt. Ein Modell der Immunpathogenese psychischer Störungen muss Zytokinwirkungen im ZNS ebenso wie Funktionen des peripheren zellulären Immunsystems und der Blut-Hirn-Schranke berücksichtigen. Die Immungenetik kann zu einer erhöhten Suszeptibilität beitragen. Ein solches Modell bietet nicht nur einen faszinierenden Denkansatz – auch eine zunehmende Zahl von Befunden stützen die Annahme, dass Zytokine, mögli-
cherweise über den Weg ihres regulatorischen Einflusses auf Neurotransmitter, eine wesentliche Rolle in der Pathogenese psychischer Erkrankungen spielen. Immunologische Effekte von Psychopharmaka stellen möglicherweise nicht allein eine Nebenwirkung dar, sondern einen Teil der therapeutischen Effizienz. Dies kann weitreichende Auswirkungen auf eine zukünftige Immunpsychopharmakologie haben (Müller 1995).
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Kapitel 8 · Neuroendokrinologische und psychoneuroimmunologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
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8
9 9 Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen U. Hegerl, S. Karch , C. Mulert
9.1
Elektrophysiologie und psychische Störungen
9.4
9.4.2
Epileptische neuronale Aktivität und psychische Störungen – 218 Psychische Störungen bei nichtkonvulsiven, einfachen und komplexen fokalen Anfällen – 218 Periiktuale psychische Störungen – 220
9.5
Vegetativ-autonome Funktionen – 221
– 210 9.4.1
9.2 9.2.1
9.2.2
P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen – 211 Bedeutung der P300-Reduktion für pathophysiologische Modelle der Schizophrenie – 212 P300 und schizophrene Psychopathologie – 214
Literatur 9.3 9.3.1 9.3.2
Akustisch evozierte Potenziale und affektive Störungen – 216 LAAEP und zentrales serotonerges System – 216 LAAEP und Medikation mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) – 217
– 223
210
Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
9.1
Elektrophysiologie und psychische Störungen
Schwere psychische Erkrankungen wie affektive oder schizophrene Störungen erfassen alle Lebensbereiche der erkrankten Person und gehen mit vielfältigen psychischen und biologischen Veränderungen einher. Es ist nicht verwunderlich, dass Parameter wie das EEG und die ereigniskorrelierten Potenziale (EKP), die in sensibler Weise funktionelle Aspekte des Zentralnervensystems (ZNS) abbilden, in vielfacher Hinsicht bei diesen Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollen modifiziert sind. Wichtiger und mühsamer als der Nachweis derartiger neurophysiologischer Veränderungen ist deshalb der Weg zu ihrer weiteren Charakterisierung, z. B. hinsichtlich ihrer pathogenetischen oder klinischen Bedeutung. Auf diesem Weg stellt sich immer von neuem eine Reihe von Fragen, die in der folgenden Übersicht zusammengestellt sind. Diese Fragen, die zentrale Prüfsteine der biologisch-psychiatrischen und damit auch der neurophysiologischen Forschung sind, sollen hinsichtlich einiger Punkte in nachfolgender Übersicht erläutert werden.
9 Charakterisierung biologischer Merkmale bei psychiatrischen Patienten Wie entsteht das Merkmal? genetisch festgelegt erworben – vor Erkrankungsbeginn – nach Erkrankungsbeginn Womit steht das Merkmal in Zusammenhang? mit Grunderkrankung oder zeitstabilen Erkrankungsaspekten (Trait-Marker) mit zustandsabhängigen Krankheitsaspekten z. B. Psychopathologie oder Erkrankungsepisode (State-Marker) Wie ist der konditionale Aspekt des Zusammenhangs zwischen Merkmal und Erkrankung? Merkmal ist – notwendig und hinreichend (pathognomonisches Merkmal) – hinreichend aber nicht notwendig (spezifisches Merkmal) – notwendig aber nicht hinreichend (z. B. starker Vulnerabilitätsmarker) – weder notwendig noch hinreichend (z. B. schwacher Vulnerabilitätsmarker) Wie ist der kausale Aspekt des Zusammenhangs? Merkmal ist – kausaler Faktor der Erkrankung – Folge der Erkrankung direkt indirekt – Epiphänomen
Genetische vs. erworbene Anteile biologischer Merkmale Zu der Frage, ob ein Merkmal genetisch festgelegt oder erworben ist, sei angemerkt, dass die erworbenen und genetischen Anteile an einem Merkmal nicht in einem reziproken Verhältnis stehen müssen. Denkbar wäre, dass ein Merkmal Folge bestimmter ubiquitärer Umweltfaktoren ist, die jedoch nur bei einer bestimmten genetischen Disposition wirksam werden. Theoretisch wäre hier ein klarer Erbgang bei einem gleichzeitig eindeutig erworbenen Merkmal möglich.
Relation von Merkmal und psychischer Störung Bezüglich des konditionalen Aspekts des Zusammenhangs zwischen Merkmal und psychischer Störung ist festzustellen, dass sich im Bereich der biologischen Psyhiatrie bisher weder pathognomonische Merkmale noch starke Vulnerabilitätsmarker für die zentralen psychischen Erkrankungen (s. Übersicht) finden ließen. Als Grund für diese relative Erfolglosigkeit wird die pathophysiologische und -genetische Heterogenität dieser Erkrankungen angeführt. Für spezifische biologische Merkmale gibt es einige wenige Beispiele. Genannt sei der auf dem Chromosom 14 gelegene Gendefekt, der mit dem Auftreten einer Unterform der präsenilen Demenz vom Alzheimer-Typ einhergeht. Dieser Gendefekt liegt nur bei sehr wenigen Patienten mit Alzheimer-Erkrankung vor, jedoch alle Personen mit diesem Gendefekt erkranken ab einem bestimmten Alter. Neurophysiologische Beispiele für schwache Vulnerabilitätsmarker, die mit der Erkrankung korrelieren, aber nicht bei allen erkrankten Personen aufzufinden sind und andererseits auch bei nichterkrankten Personen anzutreffen sind, werden weiter unten vorgestellt. Merkmale, die eine kausale Rolle im Pathomechanismus spielen, wären von größtem Interesse, da sie einen unmittelbaren Ansatzpunkt für therapeutische Überlegungen liefern könnten. Der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs ist jedoch schwierig, da meist aufwendige Längsschnittuntersuchungen nicht zu umgehen sind. Hinzu kommt, dass bei einem hoch-rekursiven System wie dem ZNS die Trennung von Ursache und Folge oft künstlich und willkürlich sein kann, da innerhalb des pathologischen Prozesses die Folge selbst wieder zur Ursache wird. Die Vigilanzregulationsstörung mit nächtlicher Überaktivität, wie sie bei Manie auftritt, könnte Folge des Krankheitszustandes sein, könnte diesen mit verursachen, könnte aber auch Teil einer Konstellation sich gegenseitig bedingender und stabilisierender zentralnervöser Dysfunktionen sein, in der Ursache und Folge nicht mehr zu trennen sind. Eindeutiger ist die Situation bei genetischen Merkmalen, die zwar ein Epiphänomen, jedoch nicht Folge der Erkrankung sind.
211 9.2 · P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen
Neurophysiologische Aspekte psychischer Erkrankungen Das EEG und in vermehrtem Maße die ereigniskorrelierten Potenziale (EKP) haben das psychiatrische Interesse dadurch geweckt, dass sich korrelative Beziehungen zu psychischen, insbesondere kognitiven Funktionen nachweisen ließen. Eine Forschungslinie beschäftigte sich deshalb mit der Frage, ob EEG/EKP-Parameter als Indikatoren umschriebener kognitiver Prozesse und damit auch kognitiver Dysfunktionen bei psychiatrischen Patienten geeignet sind. Eine zweite, anders gewichtete Forschungslinie sah die Untersuchung von EEG/EKP-Veränderungen bei psychiatrischen Patienten als einen Weg zur Klärung pathophysiologischer Prozesse bei psychischen Störungen an. Dieser zweite Weg war lange Zeit dadurch behindert, dass eine Erklärungslücke zwischen den von der Kopfhaut abgeleiteten EEG/EKP und den zugrundeliegenden mikro- und makroanatomischen Strukturen und Prozessen bestand. Diese Erklärungslücke beginnt sich in den letzten Jahren zu schließen, so dass die neurophysiologische Forschung zunehmend wieder Anschluss an andere biologisch-psychiatrische Forschungsbereiche, wie die Neurochemie oder Neuropathologie, findet. Durch Fortschritte in der Ableitetechnik ist seit einigen Jahren die simultane Erfassung von EEG und funktioneller Magnetresonanztomografie möglich. Dies stellt einen Königsweg zur Untersuchung der Hirnfunktion bei psychischen Störungen dar, da sich beide Verfahren hinsichtlich der räumlich-zeitlichen Auflösung und anderer Aspekte ergänzen.
9.2
P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen
Das in Verbindung mit schizophrenen Störungen am intensivsten untersuchte EKP ist die P300, oder auch P3, die Mitte der 1960er Jahre erstmals beschrieben wurde. Dabei handelt es sich um ein evoziertes Potenzial, das nach seltenen, unerwarteten Reizen, die aufgabenrelevant sind, auftritt. Gesichert ist, dass die P300-Amplitude bei schizophrenen Patienten gegenüber gesunden Kontrollprobanden reduziert ist. Dies gilt für akut erkrankte, remittierte, medizierte und unmedizierte Patienten (z. B. Rao et al. 1995; Ford et al. 1994 b; Laurent et al. 1993; Eikmeier et al. 1991; Blackwood et al. 1991 a). Wiederholt, wenn auch in weniger konsistenter Weise, wurde eine Verlängerung der P300-Latenz beobachtet. Diese Befunde wurden für visuell und akustisch evozierte Potenziale (VEP, AEP) gefunden, wobei die Veränderungen der akustischen P300 überzeugender sind (Ford et al.1994) und weniger von der Psychopathologie abzuhängen scheinen als die der visuellen P300.
Eine Amplitudenminderung der P300 ist weder ein hinreichendes noch notwendiges Merkmal einer schizophrenen Störung. Verkleinerte P300-Amplituden finden sich z. B. auch bei Demenzen und, in geringerer Ausprägung, bei affektiven Störungen. Zudem weisen nicht alle schizophrenen Patienten eine verkleinerte P300 auf, sondern vermutlich nur eine Untergruppe, wie weiter unten ausgeführt wird.
P300 als Trait-Merkmal schizophrener Patienten Die bei schizophrenen Patienten gefundene P300-Reduktion – insbesondere für die akustische Modalität – ist nicht nur Ausdruck des momentanen psychopathologischen Zustands, sondern überwiegend als ein TraitMerkmal anzusehen. Dieser für die Interpretation der P300-Befunde bei schizophrenen Patienten wichtige Aspekt wird durch die folgenden Argumente gestützt. Erstens fanden Schreiber et al. (1996) bei Kindern (Alter 7–17 Jahre) schizophrener Eltern im Vergleich zu gematchten Kontrollen in 2 Studien mit akustischem Oddball-Paradigma eine signifikant verlängerte P300-Latenz, in einer dritten Untersuchung mit einem selektiven Hörparadigma eine lediglich tendenziell verlängerte P300-Latenz und eine verkleinerte P300-Amplitude. Diese Veränderungen waren allerdings normal verteilt, so dass sich kein Hinweis auf eine Extremgruppe, die möglicherweise später manifest schizophren erkranken könnte, ergab. Auch scheinen diese P300-Veränderungen eher mit einer allgemeinen Disposition zu Verhaltensauffälligkeiten als spezifisch mit schizophrenen Störungen in Verbindung zu stehen. Mit dieser Interpretation stimmen auch die Ergebnisse von Friedman und Squire-Wheeler (1994) überein. Diese Arbeitsgruppe fand in einer prospektiven High-risk-Studie zwar keine verkleinerte P300 (visuelle und akustische Paradigmen) bei Kindern schizophrener Eltern und auch keinen Zusammenhang zwischen der P300-Reduktion bei den Jugendlichen und dem Auftreten von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis im jungen Erwachsenenalter, dagegen bestand ein deutlicher Zusammenhang zwischen kleiner P300 im Jugendalter und dem späteren Auftreten von Persönlichkeitsauffälligkeiten (»global personality functioning scale«) im jungen Erwachsenenalter. Eine P300-Reduktion ließ sich demnach im Sinne eines Trait-Merkmals lange vor dem Auftreten manifester Verhaltensauffälligkeiten nachweisen, sie stand jedoch in keiner spezifischen Beziehung zur psychischen Erkrankung der Eltern. Zudem wurden kleinere P300-Amplituden (AEP) auch bei klinisch unauffälligen Geschwistern von Schizophrenen gefunden (Saitoh et al. 1984). Ähnliches wurde für Verwandte schizophrener Patienten berichtet, wobei jedoch Alterseffekte nicht kontrolliert wurden (Kidogami et al. 1992; Roxborough et al. 1993).
9
212
Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Und letztlich wird die Reduktion der P300-Amplitude (AEP) nicht durch klinische Besserung oder neuroleptische Medikation beeinflusst (Blackwood et al. 1987; Ford et al. 1994 b; Juckel et al. 1996 b) und ist auch bei gut remittierten Schizophrenen nachweisbar (Rao et al. 1995). Hinzuweisen ist jedoch auch auf widersprüchliche Befunde, so z. B. auf Verlaufsuntersuchungen, in denen eine Normalisierung der P300 bei klinischer Besserung beobachtet wurde (Asato et al. 1996; Iwasaki et al. 1996).
P300 als schwacher Vulnerabilitätsmarker
9
Diese Argumente sprechen dafür, dass die P300-Amplitudenminderung bei schizophrenen Patienten einen bereits prämorbid vorhandenen Trait entsprechend einem »schwachen Vulnerabilitätsmarker« (s. Übersicht oben) darstellt. Nicht zu entscheiden ist beim gegenwärtigen Kenntnisstand, ob von einem erworbenen oder genetisch festgelegten Trait auszugehen ist. Die P300 käme als genetischer Trait infrage, da diese Komponente teilweise genetisch festgelegt ist und insbesondere die P300-Latenz (AEP) bei monozygoten Zwillingen eine hohe Konkordanz aufweist. Von Interesse ist auch die Beobachtung, dass die P300-Amplitude und P300-Latenz bei Kontrollpersonen und Schizophrenen normalverteilt sind (Hegerl et al. 1995), während bei nichtschizophrenen Angehörigen von Schizophrenen eine bimodale Verteilung gefunden wurde. Dies wäre bei einem genetischen Trait-Marker zu erwarten (Blackwood et al. 1991).
9.2.1
Bedeutung der P300-Reduktion für pathophysiologische Modelle der Schizophrenie
Von den möglichen pathogenetischen Faktoren schizophrener Störungen, die gegenwärtig diskutiert werden, lassen sich vor allem Hirnentwicklungsstörungen mit den P300-Ergebnissen in Verbindung bringen.
P300-Amplitudenreduktion als Folge einer kortikalen Fehlanlage Da die regelrechte laminäre und kolumnäre kortikale Organisation wichtig für die Elektrogenese der P300 ist und nur eine Untergruppe schizophrener Patienten eine verkleinerte P300 aufweist, liegt die Vermutung nahe, dass eine P300-Reduktion eine Untergruppe schizophrener Patienten mit strukturellen kortikalen Auffälligkeiten charakterisiert. Folgende Befunde und Überlegungen stützen diese Interpretation: Strukturelle kortikale Auffälligkeiten wie Volumenminderung, verminderte Neuronenzahl und neuronale Dysorganisation in kortikolimbischen Strukturen sind bei schizophrenen Patienten beschrieben
und u. a. als Ausdruck einer Hirnentwicklungsstörung interpretiert worden. Derartige Veränderungen betreffen auch Strukturen wie den Gyrus temporalis superior (Barta et al. 1997), die an der Generierung der P300 beteiligt sind. Sie können deshalb die Elektrogenese der P300 beeinflussen und mit kleinen P300Amplituden einhergehen. Die P300-Amplitudenreduktion bei schizophrenen Patienten ist nicht lediglich ein Mittelungsartefakt, der sich nur aus einer erhöhten Latenzvariabilität oder dem intermittierenden Fehlen der Einzelantworten ergibt, sondern resultiert zumindest teilweise aus einer generellen Reduktion der Einzelpotenziale (Ford et al. 1994 a). Dies wäre mit einem neuroanatomischen kortikalen Erklärungsmodell der P300-Reduktion vereinbar. Diskutiert wird, ob Patienten mit einer Hirnentwicklungsstörung einer schizophrenen Kerngruppe entsprechen, die durch schlechte prämorbide Anpassung mit kognitiven Störungen, frühen und schleichenden Erkrankungsbeginn, chronisch-progredienten Verlauf, Negativsymptomatik, Neigung zu Spätdyskinesien, schlechte Prognose und Häufung bei Männern charakterisiert ist.
Eine Reihe von Studien stützt die Annahme, dass schizophrene Patienten mit kleiner P300 dieser Kerngruppe entsprechen. In einer Untersuchung an 89 ambulanten stabilisierten Patienten wies die Untergruppe mit kleiner P300 vermehrte Residualsymptomatik (überwiegend Denkstörungen), häufiger Geburtskomplikationen, eine tendenziell schlechtere prämorbide Anpassung, ein Überwiegen männlicher Patienten und ein erhöhtes Spätdyskinesierisiko auf. Zwölf der 16 Patienten, die zum Ableitezeitpunkt Zeichen einer Spätdyskinesie aufwiesen, waren in der Gruppe mit kleiner P300. Noch bemerkenswerter ist, dass die 8 Patienten, die erst später während der 2-jährigen prospektiven Verlaufsbeobachtung Spätdyskinesien entwickelten, bereits vor dem Auftreten der Spätdyskinesien eine signifikant kleinere P300 aufwiesen (⊡ Abb. 9.1; Hegerl et al. 1995). Über eine schlechte Prognose der Patienten mit P300Auffälligkeiten wurde auch von anderen Autoren berichtet. Eine kleine P300 (AEP) prädizierte ein schlechtes Ansprechen auf Neuroleptika hinsichtlich der Positivsymptomatik und eine große P300-Latenz ein schlechtes Ansprechen hinsichtlich der Negativsymptomatik (Ford et al. 1994 b). In eine ähnliche Richtung weisen die Arbeiten von Strik et al. (1996, 1993 a, b). Basierend auf Leonhard’s Unterscheidung zwischen systematischer und unsystematischer Schizophrenie einerseits und zykloiden Psychosen
9
213 9.2 · P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen
⊡ Abb. 9.1. Gemittelte Potenziale der 8 schizophrenen Patienten, die während der 2-jährigen Verlaufsuntersuchung Spätdyskinesien entwickelten, verglichen mit denen einer hinsichtlich Alter, Geschlecht, Medikation und Psychopathologie gematchten Patientengruppe, die keine Spätdyskinesien entwickelte. Die nur nach den seltenen Tönen auftretende P300 war bei den Patienten, die später eine Spätdyskinesie entwickelten, erniedrigt
andererseits (Leonhard 1986) wurde gefunden, dass letztere, die weitgehend »akuten vorübergehenden psychotischen Störungen« (ICD-10: F23) mit einer guten Therapieresponse und Langzeitprognose entsprechen, nicht mit einer P300-Reduktion assoziiert sind, im Gegensatz zu Schizophrenien nach Leonhard (1986). In einer weiteren Studie an 29 remittierten Patienten mit zykloiden Psychosen wurden sogar größere P300-Amplituden bei diesen Patienten als bei gesunden Kontrollpersonen gefunden. Weiter ist es in Studien mit ambulanten und remittierten schizophrenen Patienten ein recht konsistentes Ergebnis, dass Patienten mit kleiner P300 vermehrt Residualsymptomatik aufweisen, überwiegend in Form von Negativsymptomatik und Denkstörungen (⊡ Tab. 9.1). Dieser Zusammenhang ist nicht Ausdruck zustandsabhängiger Einflüsse der Residualsymptomatik auf die P300, sondern des ungünstigeren Krankheitsverlaufs der Patienten mit kleiner P300.
⊡ Tab. 9.1. Zusammenhänge zwischen den P300b-Amplituden und der Psychopathologie bei stabilisierten schizophrenen Patienten [BPRS: Brief Psychiatric Rating Scale (Overall u. Gorham 1962); SANS: Scale for the Assessment of Negative Symptoms (Andreasen 1981)] Veröffentlichung
Negativsymptomatik
Positivsymptomatik
Pfefferbaum et al. 1989 (n = 18)
r = –0,57 p<0,05 BPRS
n. s.
EIkmeier u. Lodemann 1993 (n = 15)
r = –0,54 p<0,05 SANS
n. s.
Strik et al. 1993 (n = 18)
r = –0,58 p<0,01 SANS
n. s.
Juckel et al. 1996 a
r = –0,22
n. s.
(n = 88)
p<0,05 BPRS
Kortikale Volumetrie und P300 Die Möglichkeit, durch kortikale Volumetrie direkt den Zusammenhang zwischen P300-Amplitude und kortikalen Auffälligkeiten zu untersuchen, wurde bisher nur wenig genutzt. Die Arbeitsgruppe um McCarley fand eine verkleinerte P300 (AEP) bei schizophrenen Patienten, die zudem im Seitenvergleich bei Rechtshändern linkshemisphäral besonders ausgeprägt war (O’Donnell et al. 1995; McCarley et al. 1989). Es wurde ein deutlicher und spezifischer Zusammenhang zwischen der P300-Reduktion und P300-Asymmetrie einerseits und der Volumenreduktion der grauen Substanz im Gyrus temporalis supe-
r = Korrelationskoeffizient p = Wahrscheinlichkeit n. s. = nicht signifikant
rior (primärer akustischer Kortex und Planum temporale) andererseits gefunden. Von Interesse ist, dass das Ausmaß der Denkstörungen (Shenton et al. 1992) und der akustischen Halluzinationen (Barta et al. 1990) mit der Reduktion des linken Gyrus temporalis superior korreliert sind. Auch von Ford et al. (1996) wurde bei schizophrenen Patienten eine Vo-
214
Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
lumenminderung der grauen Substanz im Frontal- und Temporalbereich gefunden, die signifikant mit der P300Amplitude in Beziehung stand. Die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen der Ausprägung der P300 und der Größe des Corpus callosum (CC) bestätigte sich hingegen nicht (Frodl et al. 2001). Allerdings scheinen posterior gelegene Subregionen des CC mit evozierten Potenzialen assoziiert zu sein, die mit dem Oddball-Paradigma hervorgerufen wurden (Frodl et al. 2001). Dies wurde als Hinweis dafür gewertet, dass der interhemisphärische Informationsaustausch bei Patienten im Vergleich zu Gesunden verändert ist.
Die Literatur weist hier jedoch keine einheitlichen Ergebnisse auf (⊡ Tab. 9.2). Dies dürfte durch Unterschiede in der Schwere und Art der Akutsymptomatik zu erklären sein. So ist zu erwarten, dass es bei schwerer Akutsymptomatik mit deutlicher Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und Kooperationsfähigkeit der Patienten im Oddball-Paradigma zu einer Amplitudenabnahme der P300 kommt. Hierfür spricht z. B. die Beobachtung von Iwasaki et al. (1996), dass bei katatonen schizophrenen Patienten die P300-Amplitude verkleinert ist, negativ mit der Akutsymptomatik korreliert ist und sich nach Abklingen der Akutsymptomatik wieder normalisiert.
! Insgesamt wird die Annahme, dass bei schizophrenen Patienten mit kleiner P300 eine möglicherweise hirnentwicklungsbedingte kortikale Fehlanlage vorliegt, durch diese Argumente gestützt.
Methodische Probleme
9.2.2
9
P300 und schizophrene Psychopathologie
Für die Beurteilung des Zusammenhangs zwischen P300 und Psychopathologie ist es entscheidend, stabilisierte Patienten getrennt von akut psychotischen Patienten zu betrachten. P300 bei stabilisierten schizophrenen Psychosen. Bei der
Untersuchung stabilisierter, meist ambulanter Patienten wurde weitgehend übereinstimmend eine negative Korrelation zwischen der Residualsymptomatik in Form von formalen Denkstörungen und Negativsymptomatik einerseits und der P300-Amplitude andererseits gefunden (vgl. ⊡ Tab. 9.1). Diese Korrelation dürfte jedoch nicht über zustandsabhängige Effekte der Residualsymptomatik auf die P300 zustande kommen, sondern Ausdruck des ungünstigeren Krankheitsverlaufes der Patientengruppe mit kleiner P300 sein. Hierfür spricht, dass in einer Untersuchung an 56 schizophrenen Patienten, die nach etwa 9 Monaten erneut untersucht worden sind, die intraindividuellen Änderungen der Psychopathologie nicht mit entsprechenden Änderungen der P300-Amplitude korrelierten (Juckel et al. 1996 b).
Ein Teil der Inkonsistenzen dürfte auch auf methodische Probleme zurückzuführen sein. Die P300 setzt sich aus Subkomponenten, der mehr frontal betonten P300a und der zentroparietal betonten P300b zusammen, die unterschiedliche funktionelle Bedeutung haben und sich bei Ableitung von der Kopfhaut z. T. überlappen. Zudem ist die Reliabilität der P300-Parameter gering. Dipolquellenanalyse. In einer Untersuchung an gesunden Probanden konnte gezeigt werden, dass bei Vielkanalab-
⊡ Tab. 9.2. Zusammenhänge zwischen den P300b-Amplituden und der Psychopathologie bei schizophrenen Patienten mit akutem Erkrankungsschub [PANSS: Positive and Negative Syndrome Scale (Kay et al. 1987); SAPS: Scale for the Assessment of Positive Symptoms (Andreasen 1984); PSAS: Psychiatric Symptom Assessment Scale (Bigelow u. Berthot 1989)] Veröffentlichung
Negativsymptomatik
Shenton et al. 1989;
n. s.
Positivsymptomatik r = 0,61
McCarley et al. 1989
p<0,05
(n = 11)
SAPS
Bougerol et al. 1996
n. s.
(n = 50)
r = 0,33 p<0,05 PANSS
Frodl-Bauch et al. 1998
n. s.
(n = 18)
r = 0,59 p<0,05 PANSS
P300 bei akuter Schizophrenie. Die P300-Komponente ist jedoch nicht ein reines Trait-Merkmal, sondern steht auch in einem zustandsabhängigen Zusammenhang mit der aktuellen Psychopathologie. Dies wird deutlich bei Betrachtung akut psychotischer Patienten. Hier wurden im Gegensatz zu Untersuchungen an stabilisierten Patienten positive Korrelationen zwischen P300-Amplituden und der Schwere der Positivsymptomatik gefunden (Shenton et al. 1989; McCarley et al. 1989; Bougerol et al. 1996; Frodl-Bauch et al. 1999).
Laurent et al. 1993
n. s.
(n = 88)
r = –0,67 p<0,05 SAPS
Egan et al. 1994 (n = 16)
n. s.
r = –0,59 p<0,05 PSAS
r = Korrelationskoeffizient p = Wahrscheinlichkeit n. s. = nicht signifikant
215 9.2 · P300 bei Patienten mit schizophrenen Störungen
leitungen durch spezielle Verfahren der Datenanalyse (Dipolquellenanalyse) sich überlappende Subkomponenten der P300 getrennt werden können und die Reliabilität der P300-Amplitude deutlich verbessert werden kann (Hegerl u. Frodl-Bauch 1997; Kap. 24). Unter Verwendung der Dipolquellenanalyse ergab sich in einer Untersuchung von Frodl-Bauch et al. (1999) ein differenziertes Bild hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen P300-Parametern und Positiv- vs. Negativsymptomatik. Positivsymptomatik war positiv mit der P300-Amplitude der temporobasalen Dipole, die der klassischen P300b-Aktivität entspricht, korreliert, Negativsymptomatik war dagegen positiv mit der P300-Amplitude der temporosuperioren Dipole, die der mehr frontal betonten P300a entspricht, korreliert. Diese Ergebnisse belegen, dass der Positiv- und Negativsymptomatik unterschiedliche neurophysiologische und neurochemische Dysfunktionen zugrunde liegen. Als Spekulation sei erwähnt, dass eine transiente NMDARezeptor-Überaktivität während des akut-psychotischen Zustands die positive Korrelation zwischen der P300Aktivität der temporobasalen Dipole und der Positivsymptomatik erklären könnte. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch, dass Negativsymptomatik mit einer cholinergen Überaktivität in Verbindung gebracht wurde (Tandon et al. 1992). Da eine verstärkte cholinerge Neurotransmission zu größeren P300-Amplituden führt (Meador 1995; Dierks et al. 1994), könnte die positive Korrelation zwischen Negativsymptomatik und temporosuperiorer Dipol-P300 möglicherweise über die cholinerge Aktivität vermittelt sein. LORETA. Ein neues Verfahren zur Lokalisation hirnelektrischer Aktivität stellt die LORETA (Low Resolution Electromagnetic Tomography) dar (Pascual-Marqui et al.
1994; Pascual-Marqui et al. 1999). Bei der LORETA handelt es sich um ein Verfahren, bei dem kein Vorwissen über die Zahl und Lokalisation von Aktivierungen gemacht werden muss. In einer Reihe von Validierungsstudien mit simultaner EEG-fMRT-Messung konnte eine gute Lokalisationsgenauigkeit nachgewiesen werden (Mulert et al. 2004 a; Mulert et al. 2005). Das Verfahren erlaubt aufgrund der verwendeten »smoothness constraint« jedoch nur eine relativ niedrige räumliche Auflösung im Bereich von 1-2 cm. Im Gegensatz zu vielen anderen Software-Paketen zur Lokalisation hirnelektrischer Tätigkeit, handelt es sich bei LORETA um ein kostenloses Programmpaket, das aus dem Internet heruntergeladen werden kann (http://www.unizh.ch/keyinst/NewLORETA/ LORETA01.htm). Hinsichtlich des P300-Potentials konnten alle wesentlichen, aus invasiven intrakraniellen Mes-
sungen bekannten Aktivierungsorte mit dieser Methode wieder gefunden werden, so u. a. die temporo-parietale Junktion, der Gyrus cinguli, die Insel und der laterale frontale Kortex (Mulert et al. 2004 b). Mittels LORETA konnten die P300-Amplitudendefizite psychiatrischer Patienten (beispielsweise an einer Schizophrenie erkrankter Patienten) auch neuroanatomisch zugeordnet werden: Minderaktivierungen sind insbesondere linksseitig in mesio-temporalen und inferior-parietalen Regionen lokalisiert (Pae et al. 2003). sLORETA. Neuentwicklungen der LORETA-Methode ha-
ben in der letzten Zeit zu einer weiteren Optimierung geführt: die sogenannte sLORETA kann in der (experimentellen) Idealsituation rauschfreie Daten komplett fehlerfrei lokalisieren und in reale Verhältnisse zumeist mit recht geringem Fehler verrechnen (Pascual-Marqui 2002; Wagner et al. 2004; Soufflet u. Boeijinga 2005).
Fazit Die Befunde weisen darauf hin, dass eine kleine P300 als ein »schwacher Vulnerabilitätsmarker« eine Untergruppe schizophrener Patienten charakterisiert, bei der möglicherweise eine Hirnentwicklungsstörung pathogenetischer Faktor ist. Diese Untergruppe ist nach vorliegenden Daten durch eine schlechte prämorbide Anpassung, ein erhöhtes Spätdyskinesierisiko, vermehrte Residualsymptomatik und eine schlechte Prognose gekennzeichnet. Der korrelative Zusammenhang zwischen Psychopathologie und P300 muss differenziert betrachtet werden. Aus der schlechteren Prognose und vermehrter Residualsymptomatik der Patienten mit kleiner P300 ergibt sich bei stabilisierten Patienten eine negative Korrelation zwischen P300 und Psychopa-
thologie (Residualsymptomatik). Bei akut psychotischen Patienten dagegen findet sich eine positive Korrelation zwischen P300 und Psychopathologie. Bei schweren psychotischen Syndromen mit deutlicher Beeinträchtigung der Konzentration und Aufmerksamkeit ist jedoch wiederum mit einer Abnahme der P300 zu rechnen. Für die Beurteilung des Zusammenhangs zwischen Psychopathologie und P300 erweist sich deshalb eine getrennte Betrachtung der remittierten vs. akut-psychotischen Patienten als wichtig. Für die neurophysiologische Differenzierung der Positiv- vs. Negativsymptomatik ist die Trennung der P300-Subkomponenten, z. B. mittels der Dipolquellenanalyse, entscheidend.
9
216
Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
9.3
Akustisch evozierte Potenziale und affektive Störungen
Empirische Daten und theoretische Überlegungen liefern einige Evidenz dafür, dass die Abhängigkeit der Amplitude sensorisch evozierter Potenziale von der Stimulusintensität durch die serotonerge Neurotransmission beeinflusst wird und bei Patienten mit affektiven Störungen Aussagen über die individuelle serotonerge Dysfunktion und das klinische Ansprechen auf Serotoninagonisten erlaubt. Am ausführlichsten wurde in diesem Zusammenhang die Lautstärkeabhängigkeit der akustisch evozierten Potentiale (LAAEP) untersucht.
9.3.1
LAAEP und zentrales serotonerges System
N1/P2-Komponente und Lautstärkeabhängigkeit
9
Die akustisch evozierte N1/P2-Komponente ist eine stabile, kortikal generierte Komponente der akustisch evozierten Potenziale. Diese Komponente tritt mit einer Latenz von etwa 100 ms nach der Präsentation von Tönen auf und zeigt sich in deutlicher Abhängigkeit von der Lautstärke des Stimulus. Hierbei ist jedoch eine ausgeprägte interindividuelle Variabilität zu beobachten. Während bei einigen Patienten eine Zunahme der Lautstärke zu einer deutlichen Amplitudenvergrößerung dieser Komponente führt, ist dies bei anderen Personen nicht oder nur weniger der Fall. Um diese Lautstärkeabhängigkeit zu parametrisieren, werden die Amplitudenwerte zu den verschiedenen Lautstärken aufgetragen und eine Regressionsgerade angepasst. Die Steilheit dieser Regressionsgeraden hat die Einheit mV/10dB und kann als Parameter für die Lautstärkeabhängigkeit verwendet werden. Generiert wird die N1/P2-Komponente von kortikalen Strukturen, wobei überwiegend der primäre akustische Kortex im oberen Temporalbereich sowie sekundäre akustische Areale im oberen und lateralen Temporalbereich beteiligt sind. Dipolquellenanalyse der N1/P2-Komponente. Durch spe-
zielle Analyseverfahren der mit Vielkanalableitungen gemessenen N1/P2-Komponenten (Dipolquellenanalyse) können sich überlappende Subkomponenten der N1/P2Komponente getrennt und zumindest teilweise ihren generierenden kortikalen Strukturen zugeordnet werden (Hegerl et al. 1994). So ist es möglich geworden, die LAAEP des primären akustischen Kortex zumindest teilweise getrennt von der sekundärer akustischer Areale zu untersuchen. Dies ist bedeutsam, da sich die LAAEP primärer und sekundärer akustischer Kortizes unterscheiden (Pineda et al. 1991). Zudem weist nur der primäre akustische Kortex eine sehr hohe serotonerge Innerva-
⊡ Abb. 9.2. Dipolquellenanalyse der gemittelten akustisch evozierten N1/P2-Komponente gesunder Probanden. Mit 2 Dipolen pro Hemisphäre kann mehr als 98% der Varianz der Skalppotenziale (32 Kanäle) im Zeitbereich der N1/P2-Komponente erklärt werden (RV Residual variance). Ein Großteil der Varianz wird durch die tangentialen Dipole erklärt, die überwiegend evozierte Aktivität im Bereich des oberen Temporallappens, in dem auch der primäre akustische Kortex liegt, abbilden. Die Aktivität der radialen Dipole, die Aktivität sekundärer akustischer Areale im lateralen Temporallappenbereich widerspiegeln, weist eine zeitliche Verzögerung zur Aktivität der tangentialen Dipole auf
tion auf, nicht dagegen sekundäre akustische Kortizes. Ein enger Zusammenhang zur serotonergen Neurotransmission ist deshalb nur für die LAAEP des tangentialen Dipols, welcher Aktivität v. a. des primären akustischen Kortex abbildet, anzunehmen (⊡ Abb. 9.2).
Sensorische kortikale Verarbeitung und serotonerges System Eine Vielzahl von theoretischen und empirischen Argumenten weisen nun darauf hin, dass die sensorische kortikale Verarbeitung durch das serotonerge System moduliert wird, wobei eine niedrige serotonerge Neurotransmission z. B. infolge einer geringen Feuerrate der serotonergen Neurone im Hirnstamm, mit einer starken LAAEP des primären akustischen Kortex einhergeht und umgekehrt (Hegerl u. Juckel 1993; ⊡ Abb. 9.3). Einige dieser Argumente seien kurz aufgeführt: Das serotonerge System ist aufgrund seiner stabilen und regelmäßigen Feuerrate und seines intrakortikalen Innervationsmusters sehr gut zu einer tonischen Voraktivierung und Modulierung der sensorischen kortikalen Verarbeitung geeignet. Für visuell evozierte Potenziale wurde gefunden, dass eine starke Intensitätsabhängigkeit mit niedrigen Serotoninmetabolitenkonzentrationen im Liquor einhergeht (von Knorring et al. 1980; von Knorring u. Perris 1981).
217 9.3 · Akustisch evozierte Potenziale und affektive Störungen
Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI, Zimelidin) und andere Substanzen mit serotoninagonistischer Wirkung (Alkohol, Lithium) reduzieren die Intensitätsabhängigkeit sensorisch evozierter Potenziale (Knorring 1982; Hegerl et al. 1996; Buchsbaum et al. 1971; Hubbard et al. 1980). Intraindividuelle Änderungen der Serotoninkonzentration im Vollblut weisen eine negative Korrelation mit entsprechenden Änderungen der LAAEP auf (Hegerl et al. 1991). a
b
Persönlichkeitsmerkmale wie »Sensation Seeking«, Impulsivität und antisoziale Tendenzen, die mit einer niedrigen zentralen serotonergen Funktion in Verbindung gebracht werden, weisen in konsistenter Weise eine positive Beziehung zur LAAEP auf (Hegerl et al. 1995 a, b; Juckel et al. 1995; Carrillo-de-la-Pena 1992). Bei depressiven, mit SSRI behandelten Patienten korreliert die LAAEP negativ sowohl mit der Schwere der serotoninbezogenen Nebenwirkungen (n = 24) als auch den Plasmaspiegeln des SSRI (Paroxetin, n = 24; Hegerl et al. 1998). Chronischer Ecstasy-Konsum kann zur Schädigung des zentralen serotonergen Systems führen. Übereinstimmend hiermit wurde in 2 unabhängigen Studien eine größere LAAEP bei dieser Patientengruppe gefunden, verglichen mit gesunden Kontrollen oder Cannabis-Konsumenten (Croft et al. 2001; Tuchtenhagen et al. 2000). In Untersuchungen an sich frei bewegenden Katzen konnte gezeigt werden, dass die systemische Applikation des Serotoninantagonisten Ketanserin (5-HT2Rezeptorantagonist) zu einer Zunahme der Lautstärkeabhängigkeit der über dem primären akustischen Kortex epidural abgeleiteten AEP führt (Juckel et al. 1997; s. a. Juckel et al. 1999). Auch wenn wegen der Komplexität des serotonergen Systems und der Interaktionen zwischen den verschieden neuromodulatorischen Systemen keine sehr hohe Spezifität für den Zusammenhang zwischen LAAEP und serotonerger Neurotransmission angenommen werden kann, so weisen diese Argumente doch darauf hin, dass die LAAEP Informationen über den Funktionszustand des zentralen serotonergen Systems liefert, deren klinische Relevanz im Folgenden dargestellt wird.
9.3.2
⊡ Abb. 9.3 a, b. Modell des Zusammenhangs zwischen zentraler serotonerger Aktivität und der Lautstärkeabhängigkeit der Reizantwort des primären akustischen Kortex: Durch die serotonerge Neurotransmission wird die Funktion des akustischen Kortex moduliert. Eine starke serotonerge Neurotransmission z. B. in Folge einer hohen Feuerrate (a) der serotonergen Neurone in den Raphekernen im Hirnstamm geht mit einer geringen Lautstärkeabhängigkeit der vom akustischen Kortex generierten evozierten Potenziale einher und umgekehrt (b)
LAAEP und Medikation mit selektiven SerotoninWiederaufnahmehemmern (SSRI)
Naheliegend ist die Frage, ob eine starke LAAEP, die auf eine niedrige zentrale serotonerge Neurotransmission hinweist, Personen kennzeichnet, die gut auf eine Behandlung mit Serotoninagonisten ansprechen. Es gibt eine Reihe von Hinweisen, dass dieses einfache Konzept zumindest teilweise tragfähig ist. Von Bruneau et al. (1989) wurden Kinder mit autistischen Störungen untersucht. Die Autoren fanden, dass die Kinder, die vor Beginn einer Medikation mit dem Serotoninagonisten Fenfluramin eine starke LAAEP aufwiesen, am meisten von der Behandlung profitierten. Ebenso wurde von Paige et al. (1994) berichtet, dass depressive Patienten, die gut auf SSRI ansprachen, vor Medikationsbeginn eine starke LAAEP aufwiesen. Die
9
218
Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
gleiche Arbeitsgruppe fand jedoch in einer weiteren Studie, dass die LAAEP auch das individuelle Ansprechen auf Bupropion, einem noradrenergen Antidepressivum prädiziert (Paige et al. 1995). Dies unterstreicht die Prädiktorqualität der LAAEP, stellt jedoch die Spezifität hinsichtlich serotonerger Antidepressiva in Frage. In einer Untersuchung der psychiatrischen Universitätsklinik München unter Verwendung der Dipolquellenanalyse konnten die von Paige et al. 1994 vorgelegten Ergebnisse bestätigt werden. Depressive Patienten, die auf eine Behandlung mit SSRI (Sertralin, Paroxetin) ansprachen, waren vor Medikationsbeginn durch eine stärkere LAAEP gekennzeichnet. Bei einer Unterteilung am Median sprachen Patienten mit großer LAAEP zu 60% und die mit kleiner LAAEP nur zu 21% auf die Behandlung mit SSRI an (Gallinat et al. 2000). ! Die Untersuchung der LAAEP könnte nach diesen Ergebnissen dem Kliniker einen Hinweis darauf geben, ob ein bestimmter Patient mit einer depressiven Störung auf einen SSRI respondiert oder nicht.
9 Fazit Die bisherigen Studien weisen darauf hin, dass bei Patienten mit affektiven Störungen eine starke LAAEP eine niedrige zentrale serotonerge Aktivität und ein gutes Ansprechen auf Serotoninagonisten wie SSRI anzeigt. Dieser Parameter könnte dem Kliniker Zusatzinformationen für die Therapieplanung liefern. Forschungsbedarf besteht zu der Frage, ob Patienten mit einer geringen LAAEP, die auf Serotoninagonisten eher nicht ansprechen, für alternative Therapieansätze geeignet oder generelle Nonresponder sind.
durch intermittierendes Feuern, über Bahnung und gegenregulatorische, inhibitorische Prozesse zu weitreichenden Gleichgewichtsverschiebungen im zentralnervösen Funktionsgefüge führen kann. Außerdem kann es durch Übererregung zu neuronaler Schädigung und Zelluntergang kommen. Derartige Veränderungen könnten die Grundlage für die bei einzelnen Patienten mit Epilepsie zu beobachtenden Persönlichkeitsveränderungen sein oder die Vulnerabilität hinsichtlich einer psychotischen Dekompensation erhöhen.
Problematik der Erfassung epileptischer Erregungssteigerung bei psychischen Störungen Schwierig ist die Abschätzung der Häufigkeit, mit der epileptische Erregungssteigerung bei psychischen Störungen eine Rolle spielt. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass umschriebene, von tiefergelegenen, z. B. limbischen Strukturen ausgehende epileptische Erregungssteigerung oft nicht an der Kopfhaut ableitbar ist. Es ist bekannt, dass mit Tiefenelektroden abgeleitete hippocampale Spitze-Welle-(SW-)Komplexe an der Kopfhaut häufig nicht mehr in Erscheinung treten oder sich lediglich als rhythmisierte θ-Aktivität ohne Spikes darstellen. Das gleiche gilt für hochamplitudige Spikes im Bereich der Amygdala oder des Nucleus accumbens. Fehlende epilepsietypische Aktivität im EEG schließt deshalb eine tiefergelegene epileptische Erregungssteigerung als pathogenetischen Faktor bei psychischen Störungen nicht aus. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch daran, dass Antiepileptika wie Carbamazepin oder Valproat sich einen festen Platz in der Akutbehandlung und Prophylaxe affektiver Störungen erworben haben. Ungeklärt ist, ob die Wirksamkeit dieser Substanzen bei diesen psychischen Störungen an ihre antiepileptischen Effekte oder an andere Wirkungen geknüpft ist.
9.4.1 9.4
Epileptische neuronale Aktivität und psychische Störungen
In ⊡ Abb. 9.4 sind verschiedene mögliche Kausalzusammenhänge zwischen epileptischer neuronaler Aktivität und psychischen Störungen dargestellt. Psychische Symptome treten bei bis zu 50–60% der Patienten mit einer Epilepsie auf (Marsh u. Rao 2002). Dabei können psychische Veränderungen unmittelbarer Ausdruck einer epileptischen neuronalen Aktivität sein; psychische Beeinträchtigungen und epileptische neuronale Aktivität können aber auch beide Ergebnis eines gemeinsamen dritten Faktors, z. B. einer strukturellen Schädigung, sein. Ferner können psychische Veränderungen auch sekundäre Folge eines epileptischen Herdes sein, der
Psychische Störungen bei nichtkonvulsiven, einfachen und komplexen fokalen Anfällen
Einfache, nichtkonvulsive fokale Anfälle können als Aura einem generalisierten, tonisch-klonischen Anfall vorausgehen, aber auch isoliert auftreten. Sie können mit zahlreichen psychischen Phänomen, wie plötzlicher intensiver Angst, Ärger, Glücksgefühl, illusionären Verkennungen, Halluzinationen, dysmnestischen Störungen (Déjà-vu- oder Jamais-vu-Erlebnissen), aphasischen Störungen und Derealisationserlebnissen einhergehen. Bei isoliertem Auftreten werfen Anfälle mit derartigen psychischen Phänomenen eine Reihe die Psychiatrie betreffende differenzialdiagnostische Fragen auf. Die Koppelung von umschriebener epileptischer Erregungsstei-
219 9.4 · Epileptische neuronale Aktivität und psychische Störungen
⊡ Abb. 9.4. Mögliche Kausalzusammenhänge zwischen epileptischer neuroelektrischer Aktivität und psychiatrischer Symptomatik
gerung und psychischen Symptomen kann aber auch Einblicke in die Pathomechanismen psychischer Störungen, z. B. der Panikstörung, ermöglichen.
Panikstörung Unbestritten ist, dass im Rahmen einfacher, nichtkonvulsiver Anfälle eine Symptomatik auftreten kann, die den Kriterien einer Panikattacke nach ICD-10 entspricht (Young et al. 1995; Weilburg et al. 1995). Cave Das alleinige Auftreten von Angst oder Panik ohne weitere auf eine Epilepsie hinweisende Symptome kann zur Fehldiagnose einer Panikstörung führen (Young et al. 1995, Weilburg et al. 1995, Sazgar et al. 2003) wie auch umgekehrt Panikstörungen als Epilepsie verkannt werden können (Genton et al. 1995).
Genauere Zahlen darüber, wie häufig bei Patienten, die sich mit Angstanfällen in ärztliche Behandlung begeben, nichtkonvulsive fokale Anfälle eine pathogenetische Rolle spielen, liegen nicht vor. Gerade neuere Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, dass die Bedeutung epileptischer neuronaler Aktivität für die Pathogenese von Panikstörungen möglicherweise bisher unterschätzt worden ist. So werden iktual auftretende plötzliche Angst oder Panikattacken bei etwa einem Drittel der Patienten mit fokalen Epilepsien beobachtet, womit es sich um ein häufiges psychisches Symptom bei fokalen Krampfanfällen handelt. In tierexperimentellen Untersuchungen und in umfangreichen Untersuchungen beim Menschen konnte eine angsterzeugende Wirkung durch kurzzeitige elektrische Stimulation limbischer Strukturen belegt werden.
Neben komplexen visuellen und akustischen Halluzinationen, Vertrautheits- und Fremdheitsgefühlen und bildlichen Erinnerungsfragmenten war das bei weitem häufigste evozierte Symptom eine plötzliche Angst von großer Intensität und Lebendigkeit, häufig in Verbindung mit aufsteigenden epigastrischen Sensationen und anderen Symptomen, die einer Panikattacke nach ICD-10 entsprechen. Die Symptomatik konnte am ehesten durch Reizung des Corpus amygdaloideum und des Hippocampus erzeugt werden. In Kasuistiken, aber auch in Studien mit größeren Fallzahlen, wurde bei Patienten mit Panikattacken ohne bekannte Epilepsie über eine Häufung epilepsietypischer EEG-Veränderungen berichtet (Jabourian et al. 1992; Weilburg et al. 1995). Beispielsweise untersuchten Jabourian et al. (1992) 300 ambulante Patienten mit Angststörungen oder Depression, bei denen keine Epilepsie bekannt war. Ein Vergleich des 24 h-EEG von je 150 medikationsfreien Patienten mit einer DSM-III-R-Diagnose einer Panikstörung und 150 Patienten mit depressiver Störung ohne paroxysmale Angst ergab, dass epilepsietypische Auffälligkeiten (temporale, aber auch generalisierte SW-Aktivität, meist gruppiert über wenige Sekunden) in der Gruppe mit Panikstörungen 4-mal häufiger (80 %) als in der Vergleichsgruppe (20 %) auftraten. Nur bei 3 Patienten konnten mittels MRT strukturelle Auffälligkeiten (Zyste im Bereich der Insel, temporale und parietale Angiome, parietaler Infarkt) gefunden werden. Ob die bei manchen Patienten mit Panikstörungen zu beobachtenden unspezifischen EEG-Veränderungen in Form von temporaler θ- und δ-Aktivität (Edlund et al. 1987; Stein u. Uhde 1989) Ausdruck einer gesteigerten neuronalen Erregbarkeit mit fehlender Darstellung der Spitzen an der Kopfhaut ist, bleibt unklar.
9
220
9
Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Durch stereotaktisch platzierte Tiefenelektroden konnte ein Angstsyndrom mit akustischen Halluzinationen in Form von Liedern als ein Status epilepticus mit rechts-temporaler epileptischer neuronaler Aktivität eingeordnet werden (Wieser 1980). Auch in anderen Untersuchungen wurde bei Patienten mit Angstanfällen zeitgleich hypersynchrone Aktivität im Bereich des mediobasalen Schläfenlappens gefunden (z. B. Trimble 1988). Bei Patienten mit fokalen Krampfanfällen konnte durch MRT-Volumetrie eine signifikant stärkere Atrophie des Corpus amygdaloideum in der Gruppe mit iktualer Angst und begleitenden viszerosensorischen Symptomen als bei Patienten ohne Angstsymptome gefunden werden (Cendes et al. 1994). In die gleiche Richtung weisen Berichte über vermehrte kernspintomografisch gemessene atrophische Veränderungen im Bereich der limbischen Strukturen bei Patienten mit Panikstörungen (z. B. Fontaine et al. 1990). Auch können Veränderungen im mediotemporobasalen Bereich mit einer der Panikstörung nach ICD-10 entsprechenden Symptomatik einhergehen (Sazgar et al. 2003). Schließlich konnten in PET- und SPECT-Untersuchungen bei unbehandelten Patienten mit Panikstörungen ohne computertomografisch nachweisbare strukturelle Läsionen oder Epilepsieanamnese im panikfreien Intervall Auffälligkeiten der Sauerstoff- und Glukoseutilisation im Bereich hippocampaler Strukturen festgestellt werden (Nordahl et al. 1990; Reiman et al. 1986). In einer Untersuchung der Allgemeinbevölkerung (1.630 Personen) wurde ein Zusammenhang zwischen den Lebenszeitdiagnosen Epilepsie und Panikattacken gefunden (Pariente et al. 1991). Da sich zu einem hohen Prozentsatz fokale epileptische Aktivität nicht eindeutig im Oberflächen-EEG abbildet, ist es zzt. nicht möglich zu beurteilen, wie oft epileptische Aktivität ein pathogenetischer Faktor bei Patienten mit Panikstörungen ist. ! Die obigen Argumente sollten jedoch Anlass sein, bei jedem Patienten mit Panikstörung eine gründliche EEG-Diagnostik inklusive Provokationsmethoden wie Schlafentzug, Photostimulation und Hyperventilation durchzuführen. Bei atypischer Symptomatik der Panikstörung mit plötzlichem Beginn, raschem Abklingen, kurzer Dauer (meist eher Sekunden bis wenige Minuten) und stereotypem Wiederauftreten der Beschwerden sollte in jedem Fall an ein epileptisches Geschehen gedacht und eine mehrkanalige 24 h-EEG-Aufzeichnung mit temporalen Elektroden veranlasst werden (Überblick bei Gallinat u. Hegerl 1999).
Differenzialdiagnostische Überlegungen Wenn die unter den einfachen fokalen Anfällen beschriebenen Symptome mit Bewusstseinsstörungen einhergehen, wird von komplex-fokalen Anfällen gesprochen. Wegen der Bewusstseinsstörungen dürfte die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu psychiatrischen Diagnosen oft leichter fallen. Meist besteht auch eine retrograde Amnesie. Für den Kliniker ist es wichtig zu wissen, dass der nichtkonvulsive fokale oder generalisierte Status epilepticus eine wichtige Differenzialdiagnose des Delirs ist. Insbesondere beim nicht seltenen nichtkonvulsiven generalisierten Status epilepticus ermöglicht das EEG in den meisten Fällen die klare Diagnosestellung.
9.4.2
Periiktuale psychische Störungen
Präiktuale Symptome bei Epilepsie Präiktual ist wiederholt über eine Dysphorie und über Spannungszustände bei Patienten mit bekannter Epilepsie berichtet worden (Boylan 2002). Diese Zustände werden im Gegensatz zur Aura nicht mit zeitgleicher epileptischer neuronaler Aktivität in Verbindung gebracht.
Postiktualer Dämmerzustand Nicht selten ist der postiktuale Dämmerzustand, der meist Stunden, jedoch auch einige Tage anhalten kann. Nach ICD-10 wäre ein Delir zu diagnostizieren. Er tritt häufiger nach schweren und generalisierten als nach fokalen Anfällen auf. Neben dem Verwirrtheitszustand können Wahn, Halluzinationen und andere Verhaltensauffälligkeiten auftreten. Im EEG sind fast immer Zeichen einer globalen Funktionsstörung im Sinne einer Allgemeinveränderung mit erhöhtem Anteil langsamer Frequenzen anzutreffen. Dieser EEG-Befund zusammen mit dem vorausgegangenen Anfallsgeschehen erlaubt meist die diagnostische Einordnung.
Post- und interiktuale Psychosen Post- und interiktuale schizophreniforme und affektive Psychosen sind seltener als die postiktualen Verwirrtheitszustände und hinsichtlich ihres Bezugs zur epileptischen Aktivität schwieriger zu klassifizieren. Akute, postiktuale Psychosen ohne Bewusstseinsstörungen können sich nach einem schweren Anfall, z. T. nach Abklingen eines postiktualen Verwirrtheitszustandes oder auch nach einem symptomfreien Intervall von einigen Tagen entwickeln und klingen meist innerhalb weniger Tage wieder ab. Hier können Wahnsymptomatik, Halluzinationen und Affektschwankungen im Vordergrund stehen. Anhaltende interiktuale Psychosen, meist in Form einer schizophreniformen Psychose, treten bei Patienten mit Epilepsien möglicherweise gehäuft auf, obwohl dies
221 9.5 · Vegetativ-autonome Funktionen
kontrovers diskutiert wird (Überblick bei Schmitz 1992). Es gibt Hinweise sowohl darauf, dass häufige und schwere epileptische Anfälle das Auftreten derartiger Psychosen begünstigen können, als auch darauf, dass die Psychosen gerade bei erfolgreicher pharmakologischer Unterdrückung der Anfälle auftreten (Alternativpsychosen) und typischerweise durch einen Anfall beendet werden. EEG-Veränderungen. Entsprechend uneinheitlich sind
auch die EEG-Veränderungen. Das EEG kann während der Psychose im Vergleich zum nichtpsychotischen Zustand unverändert, pathologisiert oder auch normalisiert sein (»forcierte Normalisierung«). Mit »forcierter Normalisierung« wurde von Landolt (1955) der Rückgang oder das Verschwinden von EEG-Auffälligkeiten in Form temporaler Foci in Verbindung mit dem Wiederauftreten einer postiktualen Psychose bezeichnet. Das Phänomen der forcierten Normalisierung ist gut belegt, jedoch als seltenes Ereignis anzusehen. Diskutiert wird, ob z. B. infolge einer antiepileptischen Medikation die vom epileptischen Herd ausgehende Erregungsausbreitung in Hirnstrukturen gelenkt wird, die psychotische Symptomatik verursachen, jedoch ohne an der Kopfhaut messbare epileptische EEG-Aktivität.
9.5
Vegetativ-autonome Funktionen
Neben den neurophysiologischen Untersuchungen des zentralen Nervensystems gibt es im Bereich der Psychophysiologie auch Verfahren, um das autonome Nervensystem und körperliche Veränderungen, die in Zusammenhang mit psychischen Ereignissen auftreten, zu untersuchen. Dabei gehören die Messung der Hauttemperatur und des Hautwiderstandes zu den am häufigsten benutzten Methoden zur Objektivierung emotional-vegetativer Erregung (Birbaumer u. Schmidt 2002). Aus psychiatrischer Sicht beanspruchen wegen des Auftretens von vegetativen Funktionsstörungen insbesondere die affektiven Erkrankungen einschließlich der Angst-, Panik- und Zwangssyndrome und die schizophrenen Psychosen bevorzugtes Interesse, wenn es um Untersuchungsverfahren des ANS geht (Rechlin 1998). Ziel der Einbeziehung psychophysiologischer Parameter war die Hoffnung, zur Validierung nosologischer Einheiten in der Psychiatrie beizutragen (Rechlin 1998). Die autonomen Parameter haben sich allerdings als unspezifisch erwiesen. ⊡ Tab. 9.3 gibt eine Übersicht über Verfahren, mit denen autonom-vegetative Parameter erfasst werden können.
Elektrodermale Aktivität (EDA) Zur Messung der elektrodermalen Aktivität wird mit Hilfe von Elektroden ein schwacher, nicht spürbarer elek-
trischer Strom an der Haut angelegt; gemessen wird die zwischen 2 Elektroden aufgebaute Spannung. Die Hautleitfähigkeit und Hautwiderstand werden vor allem durch die Aktivität der Schweißdrüsen bestimmt: eine höhere Aktivität führt zu einer höheren elektrischen Hautleitfähigkeit. Klinische Studien gaben Hinweise darauf, dass schizophrene Patienten ein erhöhtes autonomes Grundniveau der EDA (tonisch) und geringere Responsivität (phasisch) zeigen: die Hyporeaktivität der EDA wird als Indikator für veränderte Informationsverarbeitungsprozesse dieser Patienten angesehen. Andere Studien ergaben, dass eine erhöhte phasische und tonische EDA assoziiert waren mit der Symptomschwere (Zahn u. Pickar 2005) vor allem der Ausprägung der Negativsymptomatik (Schell et al. 2005). Weitere Studien untersuchten z. B. den Zusammenhang zwischen elektrodermaler Aktivität und Persönlichkeitsfaktoren (Herpertz et al. 2001) und posttraumatischer Belastungsstörung (Rothbaum et al. 2001). Von besonderem Interesse sind Störungen, an deren Entstehung das Serotoninsystem beteiligt ist, da die EDA unter zentraler serotonerger Kontrolle steht. Entsprechend der Annahme einer serotonergen Dysfunktion bei Suizidalität erwies sich die Hautleitfähigkeit bei akut suizidalen Depressiven im Vergleich zu nicht-suizidalen depressiven Patienten als reduziert (Straub et al. 2003). Patienten mit endogener Depression zeigten im Vergleich zu psychogen Depressiven häufig einen phasische Hyporeaktivität (Wolfersdorf et al. 1996).
Herzfrequenzvariation (HRV) Autonome, kardiovaskuläre Tätigkeit kann mithilfe der Herzfrequenzvariation erfasst werden. Dabei wird die zeitliche Variabilität der Herzfrequenz unter Ruhebedingungen und vertiefter Atmung bestimmt. In vielen Studien findet man eine im Vergleich zu gesunden Personen erhöhte Herzrate und geringer ausgeprägte Modulation der kardialen Aktivität bei depressiven Patienten (Agelink et al. 2002). Die bei depressiven Patienten erhöhte kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität (Musselman et al. 1998) ist möglicherweise eine Folge davon. Eine geringe Herzratenvariabilität tritt nicht bei allen Patienten auf, ist unspezifisch und kommt auch bei einer Reihe weiterer psychischer Erkrankungen vor, z. B. in der akuten Psychose (Valkonen-Korhonen et al. 2003) oder bei Angsterkrankungen (Yeragani et al. 1993).
Pupillometrie Die Pupillometrie umfasst verschiedene Verfahren zur Messung des Pupillendurchmessers. Ziel ist die objektive Erfassung von emotionalen Reaktionen (Hess 1972). Neben emotionalen haben vielfältige kognitive Faktoren Einfluss auf die Pupillengröße z. B. mentale Beanspruchung und Aufmerksamkeit. Oszillationen der Pupillen-
9
222
Kapitel 9 · Neurophysiologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 9.3. Übersicht über Verfahren zur Erfassung autonom-vegetativer Parameter
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Methode
Einflussfaktoren (Beispiele)
Wirkung (Beispiele)
Befund/Anwendung (Beispiele)
Elektrodermale Aktivität (EDA)
– Anlegen eines schwachen, nicht spürbaren Stromes an der Haut – Messung der zwischen 2 Elektroden aufgebauten Spannung
– Starke psychische Anspannung – Emotionen
Nach emotionalem Reiz sinkt der Hautwiderstand, gleichzeitig Zunahme der Spontanfluktuationen bzw. Variabilität
– Messung der Angstreaktion bei Verhaltensstörungen – Lügendetektor
Herzfrequenzvariation (HRV)
Erfassung der zeitlichen Variation der Herzaktivität unter Ruhebedingungen und bei vertiefter Atmung
Wechsel von psychischen und physischen Anforderungen
– Anstieg der Herzfrequenz bei Stress – Abnahme der Pulsfrequenz bei Entspannung
– Ausmaß der Beanspruchung – Erfassung der kardialen parasympathischen Aktivität z. B. in depressiven Episoden und bei Angst- und Panikerkrankungen
Pupillometrie
Messung des Pupillendurchmessers
– Mentale Beanspruchung – Emotionale Reaktionen
– Pupillenerweiterung bei Freude, Schreck, Stress und Schmerz – Pupillenverengung bei Müdigkeit und Desinteresse
– Erfassung der zentralen Aktivität von Patienten (z. B. Alkoholiker; Patienten mit Essoder Angststörungen)
Flimmerverschmelzungsfrequenz (CFF)
Bestimmung der Frequenz, bei der flimmerndes Licht als konstant wahrgenommen wird (optische Fusionsschwelle)
– Schläfrigkeit/ Vigilanz – Stress
Niedrige Schwelle bei Schläfrigkeit
Einfluss von Psychopharmaka auf zentralnervöse Aktivität
weite reflektieren zentrale Aktivität und können bei psychiatrischen Patienten, z. B. Patienten mit Alkoholabhängigkeit, verändert sein (Grunberger et al. 1994, 1998). Pupillometrie wird heute vor allem in der Arbeitsmedizin und Medienforschung verwendet.
Flimmerverschmelzungsfrequenz (CFF) Die optische Fusionsschwelle wird als Indikator für zentralnervöse Aktivität angesehen. Veränderungen der CFF gelten als Indikator für Veränderungen der ZNSAktivität (Curran 1990). Sie wird extensiv genutzt, um kognitive Nebenwirkungen von Medikamenten in klinischen Studien zu untersuchen (Schmitt et al. 2002).
Fazit Die Messung von EEG/EKP ist nach wie vor das empfindlichste und direkteste Verfahren zur Untersuchung der kortikalen neuronalen Massenaktivität beim Menschen. Diese hohe Empfindlichkeit bedeutet gleichzeitig eine ausgeprägte Zustandsabhängigkeit der EEG/EKP-Aktivität, die erwünscht sein kann, wenn es um neurophysiologische Korrelate der aktuellen Psychopathologie geht, die jedoch sorgfältig kontrolliert werden muss, wenn nach zeitstabilen neurophysiologischen Grundlagen psychischer Störungen gesucht wird.
Bisher zeichnet sich zwar kein geschlossenes neurophysiologisches Modell psychischer Erkrankungen ab, die neurophysiologischen Befunde liefern jedoch wichtige Informationen zum besseren Verständnis pathophysiologischer Prozesse, die mit anderen Verfahren nicht gewonnen werden können und die vielversprechende klinische Anwendungsperspektiven eröffnen.
223 Literatur
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10 10 Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen G. Schüßler, A. Brunnauer
10.1
Definition und Abgrenzung – 228
10.2 Biopsychosoziales Modell – 228 10.2.1 Theoretische Grundlagen – 228 10.2.2 Grundlagen der Emotionspsychologie – 230 10.3 Neuropsychologische Grundlagen – 232 10.3.1 Modellvorstellungen der Informationsverarbeitung – 232 10.3.2 Neuropsychologie psychischer Erkrankungen – 236 10.3.3 Prädiktive Bedeutung neuropsychologischer Befunde – 238 10.4
Seelische Entwicklung des Menschen und Entwicklungspsychopathologie – 239 10.4.1 Das transaktionale Entwicklungsmodell – 239 10.4.2 Frühe Kindheit – 242
10.4.3 10.4.4 10.4.5 10.4.6
Bindungstheorie und ihre Bedeutung – 243 Kindheit und Jugend – 244 Erwachsenenzeit und Alter – 245 Entwicklungspsychopathologie (»developmental psychopathology«) – 246
10.5 Psychopathologische Modelle – 251 10.5.1 Verhaltens- und Kognitionsmodell – 252 10.5.2 Das psychodynamisch-psychoanalytische Krankheitsmodell – 254 10.5.3 Weiterentwicklung des psychodynamischen Konfliktmodells – 256 10.5.4 Ich- und Objektbeziehungspsychologie – 257 10.5.5 Das humanistisch-existenzielle Modell – 258 10.5.6 Sozial-interaktionelle Modelle – 259 Literatur – 260
> > Das kognitiv-behaviorale, psychodynamische, humanistisch-existenzielle und sozial-interpersonelle Modell beleuchten jeweils mit unterschiedlichem Zugang die Entstehung und Behandlung seelischer Störungen. In einem biopsychosozialen Modell lassen sich diese Theorien integrieren und mit dem biologisch-medizinischen Ansatz in Einklang bringen (»nature and nurture«). Die Neuropsychologie beschreibt die wesentlichen kognitiven Grundlagen psychischer Prozesse. Die Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie stellen die notwendigen Voraussetzungen bereit, um die Entstehung seelischer Störungen zu verstehen und zu erklären.
228
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Die Auseinandersetzung mit seelischen Störungen erfordert sowohl das »Erklären« (Empirie), als auch das »Verstehen« (Hermeneutik). »Durch Hineinversetzen in Seelisches verstehen wir genetisch, wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht. Durch objektive Verknüpfung mehrerer Tatbestände zur Regelmäßigkeit aufgrund wiederholter Erfahrungen erklären wir kausal« (Jaspers 1946).
Der Versuch, seelische Störungen zu erklären und zu verstehen, erfordert eine Fülle unterschiedlicher Konzepte aus dem medizinisch-biologischen, psychologischen und sozialen Bereich.
10.1
10
Definition und Abgrenzung
Eine seelische Störung zeigt sich in psychischen und/oder biologischen Funktionsstörungen, die von der jeweiligen Gesellschaft als Störung anerkannt werden. Um seelische Störungen in ihrer Entstehung und ihrem Verlauf zu verstehen und angemessene Behandlungsschritte durchführen zu können, ist ein umfassendes Verständnis des Krankheitszustandes und der Erkrankung notwendig. Dieses darf nicht auf rein biologische Überlegungen beschränkt bleiben, vielmehr müssen unterschiedliche Ebenen berücksichtigt werden, da Gesundheit, Krankheitszustand und Krankheit relativ und multifaktoriell sind. Prädispositionen, Krankheitsbeginn, Aufrechterhaltung und Folgen einer Erkrankung haben jeweils soziale, psychische und biologische Anteile. Dies gilt auch für körperliche Erkrankungen (Schüßler 2005). Besonders bei psychischen Störungen geht es aber nicht um ein entweder »biologisch bedingt« oder »psychosozial verursacht«, sondern um das jeweilige Gewicht, welches den biologischen und psychosozialen Faktoren von Erkrankung zu Erkrankung und von Patient zu Patient zukommt. Als medizinisches Fachgebiet befasst sich die Psychiatrie und Psychotherapie mit seelischen Störungen, sowohl die biologische als auch psychologisch-psychotherapeutische und soziale Therapie umfassend. Die Klinische Psychologie beschäftigt sich ebenfalls mit der Erforschung und Behandlung abweichenden Verhaltens, ihr Schwerpunkt ist die psychologische Sichtweise und Diagnostik (Testpsychologie). Die Psychotherapie setzt in den meisten Ländern eine über die klinische Psychologie hinausgehende Ausbildung und Tätigkeit voraus (Lexikon der Psychologie Bd. 2 2001). Neuropsychologie gilt als Teilgebiet der Neurowissenschaften mit der Aufgabe, die psychischen Funktionen zu beschreiben und zu messen, bezüglich der Lokalisation und dem Ausmaß einer Schädigung (Lexikon der Psychologie Bd. 3 2001). In diesem Kapitel werden ausgehend vom biopsychosozialen Modell zuerst die Grundzüge der Neuropsychologie dargestellt. Es folgen die psychische Entwicklung und die
»auf Abwege geratene seelische Entwicklung« als Grundlage der wichtigsten psychopathologischen Modelle mit ihrem jeweiligen Verständnis von seelischer Störung und Psychotherapie.
10.2
Biopsychosoziales Modell
Das vereinfachende, linearkausale Denken (aus A folgt B) der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts lebt bis heute in der Medizin weiter. In diesem Krankheitsmodell werden Krankheiten als »eine räumlich lokalisierbare Störung in einem technischen Betrieb, der zwar eine sehr komplexe, aber aufgrund des technischen Vorbildes doch überschaubare Struktur besitzt verstanden. Aus diesem allgemeinen Modell lassen sich Diagnosen für konkrete Krankheiten und spezielle Spielregeln für den Umgang mit Kurzschlüssen, Rohrbrüchen, Transportproblemen oder ähnlichen technischen Fragen ableiten. […] Für Ärzte hat das Erklärungsmodell der Maschine […] die Anziehungskraft klarer einfacher Deutungsund Handlungsanweisung«,
mit deren Hilfe sich Krankheiten als Betriebsstörung deuten lassen (Uexküll u. Wesiack 1996). Derartige linearkausale Beschreibungen werden aber den komplexen biopsychosozialen Zusammenhängen bei der Entstehung von Krankheit bzw. Aufrechterhaltung von Gesundheit nicht gerecht. Da »die Theorie bestimmt, was wir beobachten« (Albert Einstein) ist eine Besinnung auf die theoretischen Grundlagen unverzichtbar. Leider wird die tägliche Praxis allzu oft von Anschauungen bestimmt, wie sie der »monistische Materialismus« vertritt: Seelisches ist eine Ergänzung des Körperlichen und kann nicht auf das Körperliche ein- und zurückwirken. Auch der Begriff »biologische Psychiatrie« lädt zu dieser Einbahnstraße ein, in der nur Biologisches das Psychische bestimmt und nicht ebenso umgekehrt. Unabhängig von grundsätzlichen philosophischen Überlegungen ist die biopsychosoziale Grundannahme, dass es zu jedem seelischen Vorgang einen entsprechenden neurophysiologischen Ablauf gibt und umgekehrt, heute weitgehend gesichert. All unser innerpsychisches Erleben – Emotion, Kognition und Handlung – gründet auf komplexen zentralnervösen Prozessen (zur Übersicht Kandel 1999). In welcher Art und Weise sich dabei Fühlen und Denken mit Körperlichem verflechten, bedarf noch der Klärung.
10.2.1
Theoretische Grundlagen
Die Ergebnisse der Quantentheorie verdeutlichen, dass die Natur nicht aus isolierten Grundbausteinen besteht, sondern aus einem komplexen Gewebe, in dem alle Teile (inklusive dem Beobachter) zusammenwirken. Aufbauend auf der Systemtheorie (Bertalanffy 1968) beschrieb in
229 10.2 · Biopsychosoziales Modell
den 1970er Jahren G. Engel das biopsychosoziale Modell (Engel 1977, 1980). Diese Systemtheorie postuliert folgende Grundaussagen (in Anlehnung an Maturana 1982): Ganzheit und Wechselwirkung: Jeder Einzelne ist mit der Gesamtheit so verbunden, dass seine Veränderung eine Veränderung der Gesamtheit bewirkt. Lebende Systeme sind selbstregulierend und selbsterhaltend, selbstregulierende Prozesse gewährleisten ein Gleichgewicht (Homöostase) und die Anpassung an die Umwelt. Lebende Systeme sind zielorientiert. Lebende Systeme sind immer offen und befinden sich im Austausch mit der Umgebung. Dieses Modell trägt der Multikausalität und den vielfältigen Wechselwirkungen Rechnung; es geht von unterschiedlich beobachtbaren Ebenen aus, die sich gegenseitig beeinflussen. Jede Ebene stellt ein dynamisch organisiertes System dar, ein System mit seinen eigenen Qualitäten und Beziehungen. Jedes System benötigt eigene Erfassungskriterien – eine eigene Forschungssprache –, um eine Beschreibung dieses Systems zu ermöglichen. Jede höhere Ebene gewinnt neue Qualitäten, die nicht aus der Aufsummierung der unteren Ebene erklärbar sind – (Emergenz). Wie das Zusammenfügen von Stiel und Kopf zum Hammer neue Eigenschaften entstehen lässt (nämlich den Hammer) so lässt das Zusammenwirken von Milliarden von Neuronen neue, nicht aus dem einzelnen Neuron ableitbare Eigenschaften, wie z. B. Bewusstsein, aufleben (Edelmann u. Tononi 2000). Die Ebenen des biopsychosozialen Modells stehen in Wechselwirkung; das jeweilige Subsystem verfügt über eine gewisse Autonomie und wird gleichzeitig auch von dem übergeordneten Subsystem mitbestimmt. Es handelt sich um eine hierarchische Verbindung von Systemen, die gemäß kybernetischen Grundsätzen der Regulation, Rückmeldung und Gegenregulation verbunden sind.
⊡ Abb. 10.2. Integratives Modell der Depression
⊡ Abb. 10.1. Rückwirkende (transaktionale) Verursachung
Bei der Entstehung und im Verlauf einer Erkrankung sind Einflüsse der sozialen Gemeinschaft, der Familie und individuelle Verhaltensmuster ebenso von Bedeutung wie entsprechende molekulare oder organpathologische Gegebenheiten (⊡ Abb. 10.1). Jedes individuelle System (Person) ist maßgeblich geprägt durch seine individuelle Sozialisation (Ontogenese), die sich im Rahmen der biologisch-genetisch vorgegebenen Entwicklungsmöglichkeiten vollzieht (Phylogenese). Der angebliche Gegensatz zwischen Biologie und Umwelt (»nature or nurture«) ist damit hinfällig, da die Umwelt immer nur auf biologisch-genetischen Programmen aufbauen kann und beide nur in ihrer Wechselwirkung zu verstehen sind (Plomin et al. 2001). Diese bidirektionale biopsychosoziale sequenzielle Wechselwirkung findet sich im Modell zur Entstehung der Depression wieder und lässt nun unterschiedliche therapeutische Wege (medikamentöse Behandlung, Psychotherapie) verstehen (⊡ Abb. 10.2).
10
230
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Psycho- und Pharmakotherapie führen – soweit bisher erkennbar – zwar zur vergleichbaren Besserung depressiver Symptome, jedoch durch unterschiedliche Aktivierungsmuster. Psychotherapie führt im fMRI zu Topdown-Veränderungen des frontalen Metabolismus und Verstärkung des ventralen und limbischen Regionalmetabolismus. Im Gegensatz dazu vermindern Antidepressiva (SSRI) die Aktivität in (para-)hippocampalen Gebieten und im Cingulum (Roffmann et al. 2005).
Differenzierte Betrachtung psychopathogenetischer Faktoren
10
Das biopsychosoziale Modell ermöglicht ein differenziertes Verständnis: Bei vorliegender extremer Belastung kann jede beliebige Person erkranken (z. B. posttraumatische Belastungsstörung). Die gleiche Herausforderung kann zu verschiedenartigen Störungen führen, je nach individueller Gegebenheit und Entwicklung (z. B. können Trennungserlebnisse zu depressiven Störungen oder Angststörungen führen). Verschiedenartige Herausforderungen können zur gleichen Krankheit führen (depressive Störungen können durch unterschiedliche psychosoziale Belastungen ausgelöst werden). Gewisse Menschen neigen eher dazu zu erkranken als andere (z. B. Angehörige der Unterschicht). Psychische Störungen sind historisch und kulturell geprägt (z. B. Rückgang der Konversionsstörungen im westlichen Kulturraum seit 1900; Shorter 1994). Wechselwirkungen biologischer und psychosozialer Faktoren. Im biopsychosozialen Bedingungsgefüge lassen
sich die Wechselwirkungen von biologischen und psychosozialen Faktoren darstellen: Biologisch-genetische und psychosoziale Faktoren können in einem Falle die Erkrankung ursächlich bedingen, in einem anderen Fall den Verlauf der Erkrankung bestimmen oder – als dritte Möglichkeit – als Folge der individuellen psychischen Erkrankung erscheinen.
zwischen dem Organismus und seiner Umgebung, sie vermitteln zwischen sich ändernden Situationen und den Verhaltensantworten (Scherer 1990). Emotionen sind grundlegende Informationsverarbeitungsschemata, die – sowohl angeboren wie individuell geprägt – dem Lebewesen innerhalb kürzester Zeit eine Bedeutungsbewertung ermöglichen und damit seine Handlungen leiten. Die Emotionsverarbeitung ist bereits bei Nichtsäugetieren und niedrigen Säugetieren angelegt, hier ermöglichen Schlüsselreize instinktives, reflexähnliches emotionales Antworten. Beim Menschen können emotionale Informationen, also Informationen, die emotionale Weiterverarbeitung auslösen, aus der äußeren Umgebung, aus dem eigenen Körperinterozeptiv und aus Kognitionen (Vorstellungen und Erinnerungen) entstehen (Frijda 1996). Emotionen haben eine Funktion nach innen, sie motivieren und steuern das Erleben und Verhalten (»weil ich mich freue..., weil ich ärgerlich bin ...«), sie besitzen eine soziale Funktion, d. h. sie regulieren unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und wirken auf unsere Kognitionen (Denken und Vorstellungen, s. oben) ein. Unter Emotion (Affekt) verstehen wir den Prozess, der die Motorik, Physiologie, das Denken und das kommunikative Handeln geordnet ansteuert. Emotionen (Affekte) sind Gefühle im Sinne des inneren Erlebens verbunden mit Ausdrucksbewegungen, physiologischen Reaktionen und manifestem Verhalten. Sie entstehen, wenn ein Individuum eine persönliche bedeutsame Situation/Ereignis wahrnimmt (z. B. Nachricht über einen Unfall). Emotionen bestehen aus 6 Komponenten, die in nachfolgender Übersicht dargestellt sind.
Die 6 Komponenten des Affektsystems am Beispiel des Ärgers 1. Körperliche Seite der Emotion: (ärgerlicher Gesichtsausdruck, Muskelanspannung) 2. Physiologische Komponente (RR-Anstieg, Pulserhöhung, Hormonausschüttung) 3. Motivationale Komponente (Handlungsbereitschaft in Willkürmorotik, z. B. Faust ballen) Erlebte, seelische Seite der Emotion:
10.2.2
Grundlagen der Emotionspsychologie
Emotionen stehen seit jeher im Mittelpunkt psychiatrischen Interesses und Arbeitens. Sie sind der Kern der wichtigsten seelischen Störungen: u. a. Depression, Angst, Zwang. Das Emotionssystem ist ein Anpassungssystem, das zwischen der Umwelt und dem Organismus vermittelt und älter ist als das kognitive System, das beim Menschen überwiegend auf die soziale Außenwelt ausgerichtet ist (Krause 1998). Emotionen entstehen an der Schnittstelle
4. Die Wahrnehmung der körperlichen Korrelate (»ich fühle die Anspannung der Muskeln«) 5. Die Bennenung und Erklärung der Wahrnehmungen (»das, was ich fühle, ist Ärger«) 6. Die Wahrnehmung der situativen Bedeutung, erlebtes Gefühl, Wahrnehmung der Bedeutungsstruktur (»ich bin ärgerlich aufgrund der Zurückweisung«)
Emotionen sind somit multikomponentiell, die Komponenten können – aber müssen nicht – zugleich und zu-
231 10.2 · Biopsychosoziales Modell
sammen vorkommen. So gibt es Emotionen, die aus einem gefühlsmäßigen Erleben ohne wesentliche physiologische Komponenten bestehen, wie auch emotionale Reaktionen des Körpers ohne ein gefühltes Erleben vorkommen (Frijda 1996). Der komplexe Prozess der Emotionsentstehung und -wahrnehmung kann vielfältig gestört sein, z. B. als Unfähigkeit Trauer oder Ärger wahrzunehmen, d. h. die körperliche Seite der Emotionen zu benennen. Im Rahmen der persönlichen Entwicklung wird die Fähigkeit zu einer differenzierten Affektsteuerung erworben, d. h. die Fähigkeit, mit den unterschiedlichsten Gefühlen umzugehen, also z. B. sich nicht vom Ärger wegreißen zu lassen, sondern sich selbst einzuschränken. Die Störungen der emotionalen Organisation sind in nachfolgender Übersicht aufgelistet.
Störungen der emotionalen Organisation Fixierung kindlicher Emotionsmuster Emotionen als Dauersignale im Bewusstsein (dauerhafte Traurigkeit)
Emotionale Skotome, sie entgehen der Selbstwahrnehmung systematisch (z. B. Wut)
Emotionsabwehr durch kognitive und Abwehrprozesse, aber auch durch andere Emotionen (Aggression als Mittel der Angstabwehr, vice versa insbesondere Schamgefühl) Gestörte Intensitätsregulation bis hin zur desintegrierten Emotionsreaktion (Struktur der Störung)
Wie werden nun emotionale Stimuli verarbeitet und wie lösen sie Emotionen aus? Es ist die alte Frage: »Schlägt unser Herz, weil wir ängstlich sind, oder fühlen wir uns ängstlich, weil unser Herz schlägt?« Auf diese Frage antworteten die Forschungsergebnisse mit »sowohl als auch«.
⊡ Abb. 10.3. Netzwerk der Emotionen
Die grobe Wahrnehmung ruft sehr schnell direkte emotionale Reaktionen (in der Regel unbewusst) hervor. Als nächster Schritt erfolgt eine verfeinerte Wahrnehmungsaufarbeitung und eine motivationale Verarbeitung, insbesondere im Bereich der Amygdala und des frontalen Kortex. Es schließt sich an die emotionale Reaktion und deren kognitive Bearbeitung (u. a. im Hirnstamm, Hypothalamus, Hippocampus und basalen Vorderhirn) an und letztlich erst als höchste Leistung und Eigenschaft die emotionale Repräsentanz mit den gefühlten Emotionen (somatosensorischer Kortex und präfrontaler Kortex; Adolphs 2003). Entscheiden wir aufgrund von kognitiven Prozessen oder aufgrund von emotionalen Prozessen bzw. beeinflussen die kognitiven die emotionalen und/oder umgekehrt (s. beispielsweise die Theorie von Lazarus mit »Primary Appraisal«)? Die neurobiologische Forschung bahnt eine Klärung an (⊡ Abb. 10.3): Entscheidungen werden kognitiv und emotional getroffen, beide Wege verlaufen parallel, manche Entscheidungen werden jedoch nur mittels des emotionalen Weges (bewusst oder unbewusst) getroffen. Diese »rein« emotionalen Entscheidungen (Bauchgefühl) sind oft sinnvoll und von hohem Nutzen (Damasio 2003). Die grundlegenden Emotionen sind allen Menschen angeboren, ihr Ausdruck findet sich in allen Kulturen gleich im Bereich des mimischen Emotionsausdrucks (»Ausdruckssprache des Gesichts«). Selbstverständlich bilden sich in der Entwicklung weitere komplexe Emotionen in dem jeweiligen individuell-kulturellen Rahmen aus. Eine Kultur stellt soziale Normen auf wann jemand bestimmte Emotionen (z. B. Ärger oder Trauer) zeigen darf oder nicht, bzw. wann gewisse Emotionen sogar erwartet werden. Emotionen zeigen sich sowohl als kurzzeitige Affekte (Wut), als Hintergrundemotionen (nach Damasio 2003) oder als Stimmungen. Hintergrundemotionen sind länger dauernde Emotionen wie Anspannung, Entspannung,
10
232
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Nervosität, Mutlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Vorfreude und manifestieren sich wie alle Emotionen in körperlichen Veränderungen, jedoch nicht so deutlich im Gesichtsausdruck (Damasio 2003). Langanhaltende Emotionen werden als Stimmungen bzw. Verstimmungen (z. B. Depressionen) bezeichnet. Auch diese weisen dieselben körperlichen Reaktionen, die typisch für Emotionen sind, auf: Veränderungen im autonomen Nervensystem, Veränderung des endokrinen Systems und muskuloskelettale Veränderungen.
10.3
10
Neuropsychologische Grundlagen
Betrachtet man die Entwicklung der Psychiatrie und Psychotherapie, so fällt auf, dass dieses Fach mehr als andere Disziplinen von philosophischen und wissenschaftstheoretischen Diskussionen geprägt war, wie etwa Fragen nach der Leib-Seele-Problematik oder dem Beitrag von Anlage und Umwelt. Bereits Kraepelin (1913) sah Störungen der Aufmerksamkeit als wesentlich für die Entstehung psychotischen Krankheitsgeschehens an. Er war zudem einer der Pioniere, der als Schüler Wundts Methoden der experimentellen Psychologie in die Psychiatrie einführte. Unter seiner Leitung fand das von Wilhelm Griesinger entwickelte interdisziplinäre Konzept zur Erforschung psychischer Störungen seine Institutionalisierung in der Gründung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie. Ausgehend von diesen frühen Ansätzen werden in jüngster Zeit zunehmend Methoden der neurokognitiven Funktionsbeschreibung in die Psychiatrieforschung implementiert, von denen man sich in Ergänzung zu herkömmlichen Beschreibungsebenen psychopathologischer Symptomatik, eindeutigere Verbindungen zu neurobiologischen Befunden psychischer Erkrankungen verspricht. Der Fokus liegt hierbei mehr auf Symptom-, als auf Syndrom- oder Diagnoseebene (Hohwy u. Rosenberg 2005; Martin 2002; Kandel 1998).
10.3.1
Modellvorstellungen der Informationsverarbeitung
Eine zentrale Aufgabe der Neuropsychologie ist die Objektivierung und Beschreibung kognitiver und affektiver Funktionsstörungen als Folge struktureller und/oder funktioneller Hirnschädigungen. Nach Keefe (1995) sollte sich die Neuropsychologie in der Psychiatrie vor allem den in folgender Übersicht dargestellten Aufgabengebieten zuwenden.
Beitrag der Neuropsychologie für die Psychiatrie Entwicklung von Störungsmodellen unter Berücksichtigung funktioneller und neuroanatomischer Aspekte zur Optimierung der diagnostischen Klassifikation Beschreibung der Zusammenhänge zwischen kognitiven Störungen und psychischen Symptomen Identifikation kognitiver Prädiktoren für den Krankheitsverlauf und das Rehabilitationspotenzial Entwicklung individueller kognitiver Behandlungsstrategien
Modellen der Informationsverarbeitung ist gemein, dass sie Verhalten als komplexen Informationsfluss durch ein System verschiedener Verarbeitungsstufen beschreiben. Befunde aus den Neurowissenschaften stützen die Annahme unterschiedlicher funktioneller Subsysteme, die von distribuierten zerebralen Strukturen generiert werden (u. a. Squire 2004; Posner u. Petersen 1990). Neben dem Prinzip der funktionellen Spezialisierung verschiedener Hirnregionen sind zentrale Merkmale die parallele Verarbeitung von Informationen und die Tatsache, dass Funktionen auch durch die Interaktion verschiedener Hirnregionen entstehen (Ramnani et al. 2004). Im Folgenden werden Kernbereiche kognitiver Funktionssysteme mit den entsprechenden anatomischen Netzwerken näher beschrieben. Es darf hierbei jedoch nicht übersehen werden, dass der Erklärungsabstand zwischen psychologischen Funktionen und anatomischen Strukturen teilweise noch sehr groß ist. Dennoch ist es sinnvoll, mithilfe lokaler, biologisch begründbarer Theorien, Modelle psychischer Erkrankungen und deren Auswirkungen auf mentale Prozesse zu konzipieren, und hiervon Behandlungsstrategien abzuleiten.
Aufmerksamkeit Defizite im Aufmerksamkeitsbereich gehören neben Störungen von Gedächtnisfunktionen zu den häufigsten Beeinträchtigungen nach Hirnerkrankungen unterschiedlicher Genese und können bei den Betroffenen Einschränkungen in vielen Lebensbereichen zur Folge haben (Green 1996; Green et al. 2004; Hofer et al. 2005). Auch vor dem Hintergrund der prognostischen Bewertung des funktionalen Outcome, wie etwa die berufliche (Re)Integration, kommt der differenzierten Beschreibung und Behandlung dieser Funktionen eine wichtige Bedeutung zu. Der Begriff »Aufmerksamkeit« stellt ein zentrales Konzept in vielen klassischen Theorien der Informationsverarbeitung dar. Neben der Aufrechterhaltung eines Aktivitätsniveaus ist ein wichtiges Prinzip von Aufmerksamkeitsprozessen das der Selektion. Als biologische
233 10.3 · Neuropsychologische Grundlagen
Notwendigkeit begrenzter neuronaler Verarbeitungskapazitäten muss aus der Fülle einströmender sensorischer und intrapsychischer Informationen eine Auswahl getroffen werden. Sowohl Informationsreduktion als auch Informationsintegration sind somit wesentliche Merkmale von Aufmerksamkeitsprozessen. Aufmerksamkeitsfunktionen stellen jedoch keine isolierten Leistungen dar, sondern sind an einer Vielzahl von Prozessen innerhalb der Verarbeitungsstufen beteiligt, wie Wahrnehmung, Gedächtnis oder Planen und sind deshalb sowohl konzeptuell als auch funktionell nur schwer von anderen Prozessen der Informationsverarbeitung abgrenzbar. ⊡ Tab. 10.1 gibt einen Überblick zu in der Neuropsychologie diskutierten Aufmerksamkeitskomponenten und ihren zugrunde liegenden neuronalen Netzwerken. Intensitätsaspekte der Aufmerksamkeit betreffen die Aufmerksamkeitsaktivierung (Alertness) und Daueraufmerksamkeit/Vigilanz; zudem werden Selektivitätsaspekte der Aufmerksamkeit unterschieden, wie sie beim Fokussieren der Aufmerksamkeit auf relevante Merkmale (selektive Aufmerksamkeit), beim gleichzeitigen Beachten mehrerer Informationsströme (geteilte Aufmerksamkeit) oder der Impulskontrolle unter Zeitdruck (exekutive Aufmerksamkeit) gefordert sind.
Gedächtnis Die Persönlichkeit eines Menschen ist maßgeblich durch die Fähigkeit bestimmt, Informationen zu speichern und auf bereits erlangtes Wissen und erworbene Erfahrungen zurückgreifen zu können. Störungen der Lern- und Merkfähigkeit stellen somit Beeinträchtigungen bei zahlreichen Aktivitäten des alltäglichen Lebens dar. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bezweifelten die meisten Gedächtnisforscher, dass spezielle Gedächtnisfunktionen jemals bestimmten Hirnregionen zugeordnet werden könnten.
Gängige Taxonomien zu Gedächtnissystemen treffen zum einen eine Unterscheidung anhand der zeitlichen Dimension der Speicherung zwischen Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis. Darüber hinaus unterteilt man die Gedächtnissysteme auch nach inhaltlichen Gesichtspunkten. Das explizite Gedächtnis umfasst episodische Informationen und semantische Gedächtnisinhalte, während das implizite Gedächtnis alle Fähigkeiten und Erinnerungen umfasst, wie etwas zu tun ist, ohne dass in der Regel ein bewusster Vorgang damit verbunden ist. Es handelt sich im Wesentlichen um motorische und wahrnehmungsbezogene Fähigkeiten, die mit dem prozeduralen Gedächtnis und Priming-Phänomenen in Verbindung gebracht werden (⊡ Tab. 10.2). Sensorische oder intern generierte Informationen werden kurzfristig in Netzwerken des Parietal- und Frontallappens gehalten. Die weitere Bewertung setzt sich in Strukturen des limbischen Systems fort, wo Bindungsund Assoziationsprozesse vorgenommen werden. Implizites und explizites Gedächtnis können bei gewissen Störungen dissoziieren. So zeigen Patienten mit einem Korsakow-Syndrom (z. B. infolge eines chronischen Alkoholismus) Schädigungen im Bereich des frontalen Kortex und Hippocampus. Aufgrund dieser Schädigungen sind sie nicht in der Lage, sich bewusst an Ereignisse zu erinnern (explizites Gedächtnis), zeigen aber auf implizite Art und Weise, dass sie über eine Erinnerung an das Ereignis verfügen (Squire 1992; Schüßler 2002). Gedächtnisstörungen aufgrund von Funktionsstörungen des frontalen Systems sind zudem von solchen des medialen Systems unterscheidbar. Patienten mit Frontallappenläsionen zeigen meist keine Einbußen im Bereich der Lernleistungen jedoch bei Aufgaben mit hohen Anforderungen an umfassende Such- und Abrufprozesse, wie etwa bei freien Reproduktionsaufgaben (Shimamura 1995).
⊡ Tab. 10.1. Aufmerksamkeitssysteme. (Mod. nach Fernandez-Duque u. Posner 2001) Komponenten
Aufgaben
Netzwerke/Strukturen
Aufmerksamkeitsaktivierung (Alertness)
Reaktionszeitaufgaben in der visuellen oder akustischen Modalität gemessen
Hirnstammanteil der Formatio reticularis, rechter Frontallappen und rechter Parietallappen, intralaminare und retikuläre Thalamuskerne, Gyrus cinguli (anteriore Anteile)
Daueraufmerksamkeit und Vigilanz
Reaktionsbereitschaft über einen längeren Zeitraum (Daueraufmerksamkeit) oder zusätzlich unter Monotoniebedingungen (Vigilanz)
Noradrenerger Teil der Formatio reticularis, intralaminare Thalamuskerne, cholinerger Teil des basalen Vorderhirns, rechter präfrontaler und parietaler Kortex
Selektive Aufmerksamkeit
Fokussieren der Aufmerksamkeit auf relevante Merkmale
Parietallappen, temporo-parietaler Übergangsbereich, superiore Colliculi, frontales Augenfeld
Geteilte Aufmerksamkeit
Gleichzeitige Beachtung einer visuellen und auditiven Aufgabe
präfrontaler Kortex (bilateral), anteriore Abschnitte des Cingulum
Exekutive Aufmerksamkeit
Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus, Reaktionshemmung, Ausblenden von interferierenden Reizen
Präfrontaler Kortex (bilateral), anteriore Abschnitte des Cingulums, Basalganglien
10
234
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 10.2. Gedächtnissysteme (Mod. nach Calabrese u. Markowitsch 2003) Komponenten
Aufgaben
Netzwerke/Strukturen
Episodisches Gedächtnis
Persönliche Erlebnisse abrufen, z. B. der erste Tanzkurs – räumlich-zeitliche Zuordnung ist möglich
Limbisches System, Neokortex – v. a. Übergangsgebiet frontotemporaler Kortex rechts
Semantisches Gedächtnis (Wissenssystem)
Faktenwissen abrufen, z. B. mathematisches Wissen; kein zeitlich-kontextueller Bezug
Limbisches System, Neokortex – v. a. Übergangsgebiet frontotemporaler Kortex links
Perzeptuelles Gedächtnis
Bezieht sich auf Bekanntheit von Reizen, z. B. eine Frucht als Apfel erkennen, weil man schon viele Äpfel gesehen hat
Unimodaler und polymodaler Kortex
Priming (Bahnung)
Assoziationen herstellen – unbewusst
Zerebraler Kortex (v. a. Gebiete um die primären sensorischen Felder)
Prozedurales Gedächtnis
Automatisiertes Handeln – z. B. Fahrrad fahren, Auto fahren etc. – unbewusst
Basalganglien und Zerebellum
Lernen
10
Lernen ist mit der Veränderung neuronaler Netzwerke verbunden. Bereits einmalige künstliche Reizungen von Nervenbahnen führen zu einer Sensibilisierung der beteiligten Synapsen und einer Schwächung nichtbeteiligter Neuronenverbindungen (Kandel et al. 1995). Die neurobiologischen Lernvorgänge bestehen in assoziativem und nichtassoziativem Lernen. Beim assoziativen Lernen handelt es sich um das klassische und operante Konditionieren, das nichtassoziative Lernen besteht aus Habituation und Sensitivierung. Bei diesen Formen werden Reiztypen ein- oder mehrfach präsentiert und es kommt zu einer Reizgewöhnung mit Unterdrückung der synaptischen Signalübertragung (Habituation) oder einer Empfindlichkeitssteigerung (Sensitivierung). Die assoziativen Lernformen erlauben es, zwischen Beziehungen, die in der Umwelt verlässlich und vorhersagbar auftreten und solchen, die rein zufällig entstehen, zu unterscheiden. Dieses Erkennen von Zusammenhängen ermöglicht Adaptations- und Überlebensleistungen. So führt immer wiederkehrendes Schmerzerleben zu einem »Schmerzgedächtnis« mit entsprechenden Veränderungen im somatosensorischen Kortex. Diese Bahnung lässt verstehen, warum chronische Schmerzpatienten niedrigere Wahrnehmungs- und Schmerzschwellen besitzen als gesunde Kontrollpersonen oder Patienten mit episodischen Schmerzzuständen (Flor u. Birbaumer 1994). Ebenso wie bei pharmakologischen Behandlungsmaßnahmen ist davon auszugehen, dass psychotherapeutische Prozesse auch zu neurobiologischen Veränderungen im Gehirn führen (Kandel 1998, 1999).
dächtnisses hängt eng mit Exekutivfunktionen zusammen. Kommt es zu Störungen des exekutiven Funktionssystems, wird das Verhalten unkontrolliert, enthemmt und unzusammenhängend. Bei einer Vielzahl psychischer Erkrankungen, wie schizophrenen und affektiven Psychosen (Bogerts 2002; Schneider et al. 2002), Angsterkrankungen (Wiedemann 2002) oder der Borderline- und antisozialen Persönlichkeitsstörung (Kunert et al. 2002), sind Störungen exekutiver Funktionen oftmals beobachtbar. Exekutive Dysfunktionen werden oft im Zusammenhang mit Störungen des Frontalhirns beobachtet, dürfen jedoch nicht mit präfrontalen Funktionen gleichgesetzt werden. Nicht nur aufgrund des Volumens dieser Hirnstruktur, sondern auch wegen der ausgeprägten rezipro-
⊡ Tab. 10.3. Einteilung exekutiver Funktionen Komponenten
Aufgaben
Aufmerksamkeit und Inhibition
Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf relevante Informationen sowie Hemmung irrelevanter Handlungsintentionen
Ablauforganisation
Erstellung eines Ablaufschemas für komplexe Handlungen mit raschem Wechsel zwischen den beteiligten Komponenten
Planen
Mentale Sequenzierung von Handlungsschritten zur Zielerreichung
Überwachen
Überwachung von Handlungsschritten und Abgleich der handlungsleitenden Zielintentionen mit dem aktuellen Stand der Handlung
Kodieren
Protokollierung der externen Ereignisse und internen Prozesse im Arbeitsgedächtnis
Exekutive Funktionen Die Prozesse, die mit exekutiven Funktionen beschrieben werden, sind sehr heterogen und stellen Metaprozesse dar, die den Ablauf kognitiver Prozesse steuern und optimieren (⊡ Tab. 10.3). Auch das Konstrukt des Arbeitsge-
235 10.3 · Neuropsychologische Grundlagen
ken Faserverbindungen mit anderen kortikalen und subkortikalen Strukturen, gibt es kaum eine Hirnerkrankung, bei der nicht auch exekutive Funktionen betroffen sein können. Auch wenn anatomische Deutungen von Frontalhirnsymptomen auf Störungen spezieller anatomischer Strukturen hinweisen (Grafman u. Litvan 1999), scheint eine Zuordnung spezifischer exekutiver Funktionen zu neuroanatomischen Strukturen oder Netzwerken eher fraglich zu sein. Shimamura (1995) sieht eine zentrale Funktion der frontalen Region in der inhibitorischen Kontrolle unterschiedlicher Aspekte mentaler Funktionen. Somit generieren nicht unterschiedliche frontale Bereiche unterschiedliche kognitive Funktionen, sondern sie üben inhibitorischen Einfluss auf unterschiedliche kortikale Regionen aus, die spezifische Funktionen generieren. Exekutivfunktionen entstehen somit vermutlich als Eigenschaften der Gesamtheit oder der Interaktion zwischen verschiedenen Funktionssystemen des Gehirns.
Emotion und Kognition Gefühle und Empfindungen (Affekte) sowie Denken und Vorstellungen (Kognitionen) sind neurobiologisch eng miteinander verknüpft. Es bestehen eine Vielzahl reziproker neuronaler Verbindungen zwischen dem hypothalamolimbischen System und höheren kortikalen Zentren mit einer wechselseitigen Beeinflussung von Kognition und Emotion. Aufgrund der Verflechtung und wechselseitigen Beeinflussung kann man nicht von einem Primat der Kognitionen oder einem Primat der Emotionen sprechen, denn Kognitionen können sowohl Affekte auslösen (z. B. löst eine positive Nachricht eine entsprechende Stimmungslage aus) als auch umgekehrt die Stimmungen das Denken mitbeeinflussen (⊡ Abb. 10.4). Trotz dieser wechselseitigen Abhängigkeiten weisen Untersuchungen mit
modernen bildgebenden Verfahren auf neuronale Strukturen hin, die zu einem gewissen Grad eine Spezialisierung für verschiedene emotionale Prozesse aufweisen. Für jede Untersuchung ist eine Klassifikation der Emotionen (Primär-/Sekundäraffekte) und ein Verständnis der Entwicklung der Emotionen unerlässlich (⊡ Abb. 10.4) Anhand einer Metaanalyse von mehr als 55 Aktivierungsstudien an gesunden Probanden nahmen Phan et al. (2004) eine Differenzierung neuroanatomischer Strukturen vor, die bei der Verarbeitung emotionaler Prozesse beteiligt sind (⊡ Tab. 10.4). Eine direkte Zuordnung der verschiedenen Störungen emotionalen Verhaltens zu den hier beschriebenen neuronalen Strukturen ist vor dem Hintergrund des funktionellen Charakters psychischer Erkrankungen, bei der nicht einzelne Module, sondern subkortikale und kortikale Netzwerke betroffen sind, nur begrenzt möglich.
⊡ Tab. 10.4. Emotionen und neuronale Korrelate (Nach Phan et al. 2004) Strukturen/ Netzwerke
Emotionale Prozesse
Medialer präfrontaler Kortex
Allgemein bei der Verarbeitung emotionaler Prozesse involviert (unspezifisch)
Amygdala
Vor allem angstbesetzte Eindrücke aber auch allgemein aversive und appetitive Emotionen
Area subcallosa
Wahrnehmung trauriger Stimmungen und trauriger Gesichtsausdrücke
Anteriorer Gyrus cinguli und Insula
Verarbeitung emotionaler Eindrücke, die mehr mit kognitiven Anforderungen verbunden sind
Primäraffekte Zufriedenheit
Interesse
Unbehagen Ärger
Freude
Überraschung
Wut Ekel
erste 6 Monate Trauer
Angst
zunehmendes Selbst-Bewusstsein
Verlegenheit Neid Empathie
Erwerb und Bewahrung von Standards und Regeln
Verlegenheit Stolz Scham Schuld
⊡ Abb. 10.4. Entwicklung der Emotionen in den ersten Lebensjahren
zweite Hälfte des 2. Lebensjahres
3. Lebensjahr
10
236
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Fazit In verschiedenen Untersuchungen wurde der Einfluss emotionaler Zustände auf die Informationsverarbeitung untersucht. Dabei konnte ein Aufmerksamkeitsund Gedächtnisbias sowohl von depressiven Patienten als auch Patienten mit Angststörungen belegt werden (Zindel et al. 1993). So fokussieren diese Patienten mehr und öfter auf angstbesetzte Inhalte einer Information als gesunde Kontrollpersonen mit Folgen für die Evaluation der Information, das Urteilsvermögen
10.3.2
10
Neuropsychologie psychischer Erkrankungen
Bei psychischen Erkrankungen ist das Gehirn zumeist in seinen Netzwerkeigenschaften beeinträchtigt. Psychische Erkrankungen können vor diesem Hintergrund als dysfunktionale neuronale Kommunikation zwischen verschiedenen neuronalen Funktionskreisen verstanden werden (Andreasen 1997). Es sind bei diesen Erkrankungen nicht einzelne neuronale Module betroffen, sondern Netzwerke mit einer Vielzahl reziproker Verbindungen zu kortikalen und subkortikalen Strukturen. Neuropsychologische Diagnostik in diesem Bereich muss folglich mehr auf die relationale Ausprägung von Funktionsbeeinträchtigungen fokussieren, da weitaus seltener als bei neurologischen Erkrankungen mit selektiven Ausfällen zu rechnen ist. Gerade mit dem gut evaluierten Methodeninventar der Neuropsychologie lassen sich Profile in psychischen Funktionen differenziert beschreiben und Annahmen über Interaktionen der beteiligten Systeme generieren, die Aufschluss über Organisation und Verlauf der Erkrankung sowie die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die berufliche und soziale (Re)Integration geben können.
Schizophrene Störungen Hirnmorphologische Befunde. Es wurde schon früh ver-
mutet, dass Veränderungen höherer assoziativer kortikaler Bereiche mit schizophrenen Erkrankungen zusammenhängen. Die am besten dokumentierten morphologischen Veränderungen bestehen in einer Erweiterung der Seitenventrikel und des 3. Ventrikels, pathologischen Veränderungen der kortikalen Sulci sowie im dorsolateralen Frontalkortex und limbischen System. Vor allem frontale und limbische Regionen sowie thalamische Kerne sind besonders betroffen. Die Anomalien der kortikalen Zytoarchitektur sowie die reduzierte frontale und temporale Strukturasymmetrie deuten auf eine früh erworbene, pränatale Entwicklungsstörung als wichtigen
und den Abruf der Ereignisse aus dem Gedächtnis. Untersuchungen bei schizophrenen Patienten weisen auf Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von emotionalen Stimuli hin (u. a. Schneider et al. 2006). Bildgebungsbefunde belegen bei Anforderungen an kognitiv-emotionale Verarbeitungsprozesse eine verminderte Aktivierung im Bereich des cingulären und des präfrontalen Kortex von schizophrenen Patienten im Vergleich zu Gesunden (Habel et al. 2005).
ätiologischen Teilfaktor hin (Übersicht in Kap. 5 sowie Bogerts 2002). Unterschiedliche Netzwerkstörungen führen zu unterschiedlichen Symptomen und tragen damit zur klinischen Heterogenität bei. Neuropsychologische Störungen. Seit den ersten klini-
schen Beschreibungen Kraepelins (1913) hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass kognitive Störungen bei schizophrenen Patienten keine sekundär verursachten Epiphänomene darstellen, die ausschließlich durch motivationale Aspekte oder Interferenzphänomene positiver Symptomatik erklärt werden können. Bei hoher interindividueller Variabilität der Leistungsprofile stellen bei 60–80% der Patienten kognitive Einbußen ein zentrales Merkmal der Erkrankung dar (Heinrichs u. Zakzanis 1998), die auch nach weitgehender Remission der psychopathologischen Symptomatik weiterhin bestehen bleiben können (Hoff et al. 1999) und Auswirkungen auf alltagsrelevante Bereiche, wie etwa die Fahrtüchtigkeit, haben (Übersichten in Laux 2002; Brunnauer et al. 2004). Kognitive Beeinträchtigungen treten bereits vor Beginn der klinischen Symptomatik auf und sind oftmals auch bei nichtpsychotischen Angehörigen ersten Grades von schizophrenen Patienten nachweisbar (Sitskoorn 2004). Vor allem das Vorhandensein verbaler Gedächtnisdefizite scheint einen gewissen prädiktiven Wert für die Entwicklung einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis zu haben (Lencz et al. 2006). Spezifität. Schizophrene Patienten weisen in der Mehrheit der Fälle vor dem Hintergrund einer allgemein reduzierten kognitiven Leistungsfähigkeit Einbußen vor allem in den Bereichen selektive Aufmerksamkeit, explizites Gedächtnis, exekutive Funktionen und Wortflüssigkeit auf. In Abgrenzung zu nichtpsychotischen affektiven Erkrankungen konnten selektive Leistungsdefizite in erster Linie für exekutive Funktionen, das Arbeitsgedächtnis sowie in den Bereichen visuelles und verbales Gedächtnis gezeigt werden (⊡ Abb. 10.5).
10
237 10.3 · Neuropsychologische Grundlagen
⊡ Abb. 10.5. Neuropsychologische Testprofile von Schizophrenen und nichtpsychotischen Depressiven. (Nach Rund et al. 2005)
Affektive Störungen Hirnmorphologische Befunde. Auch wenn hirnorgani-
sche Auffälligkeiten nicht zwingend notwendig mit neuropsychologischen Einbußen einhergehen müssen, so weisen die Befunde neurokognitiver Messungen doch auf eine Beteiligung vor allem linkspräfrontaler Areale bei affektiven Erkrankungen hin. Bildgebende Verfahren belegen zudem Veränderungen im Bereich der Amygdala, den Basalganglien sowie dem cingulären Kortex, die in einem frontostriatalen Netzwerk verbunden sind (Übersicht in Schneider et al. 2002). Linksseitige präfrontale Dysfunktionen scheinen sich bei depressiven Patienten im Verlauf der Symptomverbesserung zu normalisieren und weisen damit auf ein zustandsabhängiges Merkmal der Erkrankung hin. Neuropsychologische Störungen. Während depressiver
Episoden sind neuropsychologische Funktionsbeeinträchtigungen häufig zu beobachten. Bei einem Teil der Patienten persistieren diese Einbußen auch nach weitgehender klinischer Remission (Veiel 1997). Die Ergebnisse von Studien, die sich auf die Ausprägung kognitiver Defizite nach Remission der psychopathologischen Symptomatik beziehen, sind uneinheitlich. Dies mag durch die unterschiedliche Gewichtung verschiedener Moderatorvariablen, wie z. B. Alter der Patienten, Subtypen der Depression oder Dauer der Erkrankung, bedingt sein.
neuropsychologischen Profil (Mansell et al. 2005). Exekutive Dysfunktionen und explizite Gedächtniseinbußen scheinen ebenso wie bei schizophrenen Erkrankungen ein potenzieller Trait-Marker bipolarer Erkrankungen zu sein (Savitz et al. 2005).
Demenzielle Syndrome Hirnmorphologische Befunde. Demenzsyndrome sind
die Folge einer Vielzahl unterschiedlicher Ätiologien mit verschiedenen Symptomkomplexen. Gängige ätiologische Unterscheidungen differenzieren u. a. zwischen kortikalen und subkortikalen Demenzen sowie den Mischtypen (kortikal/subkortikal). Bei der Alzheimer-Demenz
⊡ Tab. 10.5. Neuropsychologische Beeinträchtigungen bei Depression und Manie. (Mod. nach Beblo 2004) Funktionen
Depression
Manie
– Wahrnehmung
(↓)
(↓)
– Konstruktion
(↓)
?
– Reaktionsgeschwindigkeit
↓
(↓)
– Konzentration
↓
↓
– Kurzzeitgedächtnis
(↓)
↓
Spezifität. Ein Überblick zu neueren Befunden (⊡ Tab. 10.5)
– Arbeitsgedächtnis
↓
↓
weist darauf hin, dass bei depressiven Patienten vor dem Hintergrund allgemeiner neuropsychologischer Auffälligkeiten im Vergleich zur Manie vorrangig eine Beeinträchtigung im Bereich exekutiver Funktionen und hierbei vor allem bei Anforderungen an die kognitive Flexibilität zu beobachten ist. Depressionen im Rahmen bipolarer Erkrankungen führen zu ähnlichen, jedoch stärker ausgeprägten kognitiven Beeinträchtigungen wie unipolare Depressionen und unterscheiden sich nicht im
– Verbales Lernen
↓
?
– Kognitive Flexibilität
↓↓
(↓)
– Reaktionsinhibition
↓
↓↓
– Planen/Problemlösen
↓
↓
Visuoräumliche Funktionen
Aufmerksamkeit
Gedächtnis
Exekutive Funktionen
↓↓ ↓ (↓) ?
Ausgeprägt beeinträchtigt Beeinträchtigt Hinweise auf geringgradige Defizite keine oder unklare Datenlage
238
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
beobachtet man, meist ausgehend vom limbischen System, neurodegenerative Veränderungen in temporoparietalen Assoziationsgebieten. Die frontotemporale Demenz zeichnet sich in erster Linie durch eine Atrophie des vorderen und unteren Temporallappens sowie frontaler (orbitobasale, ventromediale, dorsolaterale) Strukturen aus. Dabei können bei dieser Erkrankungsform sowohl kortikale als auch subkortikale Areale betroffen sein. Die Gruppe der vaskulären Demenzen ist klinisch eine äußerst heterogene Gruppe, deren einzige Gemeinsamkeit eine Störung der Durchblutungsverhältnisse im ZNS darstellt. Lokalisationsabhängig kann eine Vielzahl motorischer, kognitiver und affektiver Funktionen betroffen sein. Häufig lassen sich bei Patienten mit vaskulären Demenzen auch neurodegenerative Veränderungen nachweisen. Neuropsychologische Störungen. Ein differenzialdiag-
10
nostischer Beitrag der Neuropsychologie kann nur für gering- bis mittelgradige Demenzstadien erwartet werden, da neurodegenerative Veränderungen immer größere Teile des Gehirns erfassen, bis hin zu schwersten Beeinträchtigungen aller kognitiver Funktionen. Bei der Alzheimer-Demenz (AD) etwa, zeichnen sich die Stadien der Erkrankung durch eine progrediente Verschlechterung der kognitiven Leistungen aus. Frühe Zeichen kognitiver Auffälligkeiten sind meist diskrete Gedächtnis- und leichte Wortfindungsstörungen sowie Beeinträchtigungen im Bereich der Aufmerksamkeitsteilung. Im leichten Demenzstadium kommen v. a. visuokonstruktive Einbußen sowie Planungsdefizite hinzu (Übersicht in Jahn 2002). Die Frontotemporale Demenz (FTD) ist in den Anfangsstadien vor allem durch Veränderungen der Persönlichkeit gekennzeichnet. Die klinischen Merkmale der vaskulären Demenz (VD) hängen stark vom Ort, der Anzahl, der Größe und der Ursache vaskulärer Läsionen ab. Spezifität. Bemühungen, charakteristische neuropsycho-
logische Befundprofile darzustellen (⊡ Tab. 10.6), können vor dem Hintergrund unterschiedlicher Stadien der Erkrankungen sowie Mischformen der Krankheitsbilder lediglich strukturierenden Charakter haben. Im Vergleich zur AD zeigen sich bei Patienten mit subkortikaler VD bei vergleichbarer Schwere der Erkrankung eine relative Dominanz exekutiver Beeinträchtigungen und bessere Leistungen bei Anforderungen an die verbale Merkfähigkeit (Looi u. Sachdev 1999; Traykov et al. 2002). Die differenzialdiagnostische Abgrenzung anhand kognitiver Parameter gegenüber anderen Demenzformen ist äußerst schwierig. Jenner und Benke (2002) kommen in ihrer Übersicht zu dem Ergebnis, dass das kognitive Profil von FTD-Patienten im Vergleich mit Gesunden wenig spezifisch ist. Eine Abgrenzung gegenüber Patienten mit AD gelingt in frühen und mittleren Erkrankungsstadien ebenfalls oft nicht befriedigend. Am ehesten scheinen
⊡ Tab. 10.6. Neuropsychologische Beeinträchtigungen bei demenziellem Syndrom. (Mod. nach Kessler u. Kalbe 2000) Funktionen
AlzheimerDemenz
Vaskuläre Demenz
Frontotemporale Demenz
Orientierung
↓
Lokalisationsabhängig
(↓)
Aufmerksamkeit/ Konzentration
↓
↓
↓
Lernen/ Gedächtnis
↓↓
↓
(↓)
Exekutive Funktionen
↓↓
Lokalisationsabhängig
↓↓
Sprache
↓
Lokalisationsabhängig
zu Beginn (↓)
↓↓ Ausgeprägt beeinträchtigt ↓ Beeinträchtigt (↓) Wenig/selten beeinträchtigt
noch relative Unterschiede in mnestischen und exekutiven Funktionen.
10.3.3
Prädiktive Bedeutung neuropsychologischer Befunde
Zunehmend stellt sich bei der Behandlung die Frage nach sogenannten patientenrelevanten Endpunkten. Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei dem kognitiven Status der Patienten zu, da dieser weit mehr als etwa soziodemografische Faktoren oder die psychopathologische Symptomatik einen wesentlichen Prädiktor für den Erfolg psychosozialer und beruflicher Rehabilitationsbemühungen darstellt (Green 1996; Green et al. 2000, 2004). Anhand einer Meta-Analyse von 37 Studien konnten die Autoren den Zusammenhang spezifischer kognitiver Leistungen mit psychosozialen Verhaltensparametern bei schizophrenen Partienten belegen. Insbesondere verbale Gedächtnisleistungen wiesen die mit am häufigsten replizierten Zusammenhänge mit molaren Verhaltensparametern auf (⊡ Abb. 10.6). Zusammenhänge mit Vigilanzleistungen zeigen sich speziell bei Aufgaben mit Anforderungen an die soziale Problemlösefähigkeit und den Erwerb sozialer Fertigkeiten. Korrelationen mit exekutiven Funktionen bilden sich vor allem mit Beurteilungskriterien in komplexen Arbeitsabläufen ab. Einen wichtigen Faktor für den Erfolg psychosozialer Rehabilitationsbemühungen schizophrener Patienten stellt das Lernpotenzial dar, d. h. die Fähigkeit eines Patienten, von kognitiven Behandlungsprogrammen zu profitieren (Fizdon et al. 2006). Auch bei bipolar erkrankten Patienten weisen Untersuchungsergebnisse in die gleiche Richtung; so ist der
239 10.4 · Seelische Entwicklung des Menschen und Entwicklungspsychopathologie
Kognition Kognitive Flexibilität
Outcome Alltagsaktivitäten/ Soziale Netzwerke Soziale Problemlösefähigkeit
Mittelfristige Behaltensleistung
Kurzzeit-/ Arbeitsgedächtnis Vigilanz
Verbale Flüssigkeit
Erwerb psychosozialer Fertigkeiten
Alltagsaktivitäten/ Soziale Netzwerke
⊡ Abb. 10.6. Zusammenhänge zwischen neuropsychologischen Funktionen und funktionellem Outcome. (Mod. nach Green et al. 2004)
Erfolg der Arbeitsintegration bei dieser Patientengruppe primär durch kognitive Ressourcen bestimmt (Zarate et al. 2000). Zusammenhänge mit der Remission, dem Verlauf sowie der Ansprechbarkeit auf eine antidepressive Behandlung von Depressionen bei älteren Patienten zeigen sich vor allem mit exekutiven Funktionen. Dysfunktionen in diesem Bereich erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls und erneuten Auftretens depressiver Symptome (Alexopoulos 2005; Potter et al. 2004). Aus diesem kurzen Überblick wird die zentrale Rolle kognitiver Fähigkeiten für den Langzeitverlauf und die Prognose neuropsychiatrischer Erkrankungen deutlich.
10.4
Seelische Entwicklung des Menschen und Entwicklungspsychopathologie
10.4.1
Das transaktionale Entwicklungsmodell
Die bisherige Entwicklungspsychologie war in ihrem Verständnis der Entwicklung auf Kindheit und Jugend begrenzt. Entwicklung galt als eine Veränderungsreihe mit mehreren Schritten in Richtung auf einen Endzustand, der gegenüber dem Ausgangszustand höherwertig war. Diese Vorstellung ging von dem biologischen Konzept der Reifung, der gengesteuerten Entfaltung biologischer Strukturen und Funktionen aus. Diese Entwicklungskonzeption wird jedoch einer lebenslangen Entwicklung über das Erwachsenenalter hinaus bis ins höhere Alter nicht gerecht. Entwicklung in einem umfassenden Sinn meint das Zusammenspiel von Anlage und Entwicklungsbedin-
gungen; Veränderungen sind während des ganzen Lebens grundsätzlich möglich und werden hervorgerufen durch wechselnde Anforderungen, Erfahrungen und Lebensbedingungen. Psychologische Entwicklungsvariablen zeigen damit keinen End- oder Reifezustand. Seelische Entwicklung ist kein auf Entfaltung angelegter Plan des Werdens, vielmehr werden der Mensch selbst und seine Umwelt als Gestalter der Entwicklung angesehen. In diesem systemischen transaktionalen (interaktionalen) Entwicklungskonzept stehen das Entwicklungssubjekt (Kind, älterer Mensch), die Bezugspersonen (Mutter, Vater, soziales Umfeld) und die biologische Disposition in Wechselwirkung (Sameroff 1975; Ford u. Lerner 1992; ⊡ Abb. 10.7). In diesem transaktionalen Netzwerk ist beschreibbar, wie das Kind (der alte Mensch) durch seine familiäre und gesellschaftliche Umwelt geformt wird und wie es (er) auf die Familie und die gesellschaftliche Umwelt rückwirkt und sie beeinflusst (⊡ Abb. 10.8). Die Bedeutung eines negativen elterlichen Erziehungsstils als Vermittler zwischen psychischen Symptomen der Eltern und Kinder konnte in prospektiven Untersuchungen gesichert werden (Johnson et al. 2002). Als ungünstiges Erziehungsverhalten wurden bestimmt: harte Bestrafung des Kindes, unklare Regeln, wenig verbrachte Zeit mit dem Kind, geringe mütterliche Zuneigung, besitzergreifendes Verhalten, schulderzeugendes Verhalten zur Kontrolle, häufiger, lauter Streit mit dem Vater, geringe Kontrolle des Ärgers gegenüber dem Kind, geringe Kommunikation mit dem Kind, geringe Beaufsichtigung des Kindes, verbaler Missbrauch des Kindes. Bei Eltern mit psychischen Störungen fand sich ein größeres Ausmaß an fehlangepasstem elterlichen Erziehungsverhalten. Für beide Elterngruppen (mit und ohne psychische Störung) gilt jedoch ein hochsignifikanter Zusammenhang: Je mehr negative Erziehung die Kinder erlebt hatten, umso mehr psychische Störungen zeigten sie als Jugendliche. Der elterliche Erziehungsstil unterliegt in seiner Ausrichtung gerade auch historisch-kulturellen Zeitströmungen (z. B. autoritär vs. permissiv). Diese prototypischen Erziehungsstile haben Auswirkungen auf das Verhalten der Jugendlichen (Baumrind 1991).
⊡ Abb. 10.7. Transaktionales Modell der Mutter-(Bezugsperson-) Kind-Interaktion. (Schüßler u. Bertl-Schüßler 1989)
10
240
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
⊡ Abb. 10.8. Günstige und ungünstige Interaktionszirkel ausgehend vom Erziehungsstil der Eltern
Autoritäre Eltern → Die Jugendlichen sind abhängiger, passiver, gefügiger. Permissive Eltern → Die Jugendlichen sind weniger reif und verantwortungsbewusst und stärker abhängig von Peereinflüssen. Indifferente Eltern → Die Jugendlichen sind impulsiver und experimentieren früher mit Alkohol und Drogen. Autoritative Eltern → Die Jugendlichen sind verantwortungsbewusst, selbstsicher und psychosozial kompetent.
10
Risikofaktoren psychischer und physischer Entwicklung Biologische und psychosoziale Risikofaktoren ergänzen sich und stehen in wechselseitiger Beziehung; insbesondere bei gemeinsamen Vorkommen entstehen Störungen der psychischen und physischen Entwicklung (Werner u. Smith 1982). Störungen entstehen in einem komplizierten Wechselgeflecht, indem die biologische Grundausstattung des Kindes, das Verhalten der Bezugspersonen (Mutter, Vater und andere) sowie die sozialen Umweltverhältnisse interagieren. Ein derartiges Modell bewahrt vor einseitigen Schuldzuweisungen zu Lasten der Eltern oder anderer Bezugspersonen. Das transaktionale Entwicklungsmodell beschreibt Entwicklung und Störungen als gelungene Passung und Passungsprobleme: Die Erwartungen und Forderungen der Umwelt gehen nicht konform mit den individuellen Fähigkeiten, der Motivation, dem Entwicklungsstand und der biologischen Disposition des Kindes (des alten Menschen). Entwicklungsprobleme bestehen aus einer Diskrepanz zwischen Entwicklungszielen und Entwicklungspotenzialen eines Individuums sowie den Entwicklungsanforderungen und Entwicklungsangeboten der Umwelt. Die Entwicklungsstörungen manifestieren sich je nach Lebensperiode, z. B. als Schulschwierigkeiten, Eheprobleme, Eltern-Kind-Probleme oder Berufsprobleme bis hin zu seelischen Störungen. Biologisch »irritierbare« Säuglinge verursachen bei Müttern mehr Ängste, Enttäuschungen bis hin zu Ablehnungen als ruhige, freundliche Säuglinge. Trotz der intu-
itiv vorhandenen Verhaltensanpassung der Betreuungspersonen an die Bedürfnisse des Säuglings, was sowohl für Väter als auch für Mütter gilt (Papousek u. Papousek 1987), ist die frühkindliche Kommunikation individuell unterschiedlich störbar, insbesondere durch Verunsicherungen von Seiten des Kindes und durch seelische Auffälligkeiten der Eltern. Werden Mütter therapeutisch geschult derartige irritierbare Kinder besser zu verstehen und zu behandeln, wird die Beziehung Mutter-Kind positiver und die Kinder der Therapiegruppe entwickeln sich günstiger, während in der Kontrollgruppe die Kinder überwiegend unsicher gebunden und in der Entwicklung benachteiligt blieben (van den Boom 1995). Kindesmisshandlung. Als ein besonders gravierendes »Passungsproblem« kann die Kindesmisshandlung verstanden werden. Die Kindesmisshandlung wurde bisher ausschließlich zurückgeführt auf soziale und pathologische Auffälligkeiten der Eltern (z. B. ungünstige Sozialisationsbedingungen, beengte Wohnverhältnisse, psychopathologische Auffälligkeiten wie Alkoholismus usw.). Zunehmend wird aber deutlich, dass es bevorzugt schwierige Kinder sind, die häufiger Opfer von Misshandlungen werden. Diese Kinder neigen als Säuglinge zum Schreien, sind leicht irritierbar und lassen sich nicht beruhigen. Später sind Ungehorsam und antisoziale Verhaltensweisen häufiger. Es sind nicht selten zu früh geborene Kinder, Kinder mit leichten zerebralen Schäden und anderen Anomalien, für die man als Außenstehender eher Rücksicht und Mitleid erwartet, die aber tatsächlich besondere Schwierigkeiten machen, mit denen belastete (und meist psychosozial auffällige) Eltern nicht fertig werden (Engfer 2002).
Individuelle Temperamentsunterschiede Unterschiedliche biologische Dispositionen im Bereich des Erlebens und Verhaltens zeigen sich in Temperamentsunterschieden, die bereits mit der Geburt feststellbar sind. Der Begriff »Temperament« umfasst Verhaltensweisen im Zusammenhang mit affektiver Expressivität, motorischer Aktivität und Sensitivität gegenüber Stimuli. Temperamentseigenschaften sind stabil, insbesondere die Faktoren der Emotionalität (wie Furcht und
241 10.4 · Seelische Entwicklung des Menschen und Entwicklungspsychopathologiepathologie
Angst, Schüchternheit oder Kontaktfreudigkeit; Plomin et al. 2001). Bei Kindern mit schwierigem Temperament finden sich häufig Lern- und Verhaltensstörungen, im Gegensatz zu Kindern, die von den Bezugspersonen als einfach eingeschätzt werden. Kinder mit leicht zu handhabendem Temperament und hohem Aktivitätsniveau scheinen sogar gegen ungünstige Bedingungen geschützt zu sein (protektive Faktoren). Schwierige Temperamentsmerkmale, wie häufiges Weinen, hohe Reizbarkeit, starke Rückzugsreaktionen, erschweren den Eltern ihre Aufgaben und treten in Wechselwirkung mit: elterlichen Persönlichkeitsmerkmalen (mangelndes Selbstvertrauen), den eigenen ungünstigen Beziehungserfahrungen der Eltern in ihrer Herkunftsfamilie (negative eigene Erfahrungen mit den Eltern oder Bezugspersonen prägen den Erziehungsstil), der ehelichen Beziehung (eine belastete Paarbeziehung führt zur Beeinträchtigung des Erziehungsverhaltens) und den sozialen Umweltbedingungen (ungünstige Arbeitsbedingungen verschlechtern die Eltern-KindBeziehung, Eltern mit geringer sozialer Unterstützung sind weniger geduldig, schlechte soziale Bedingungen wirken sich ungünstig auf das Elternverhalten aus).
Fazit Die Annahme eines interaktiven und multidimensionalen Entwicklungsprozesses – und damit auch der Entstehung von Psychopathologie – bedeutet den Verzicht auf reduktionistisches, unikausales Denken (»die Mutter … der Vater …«). Psychopathologische Entwicklungen sind in diesem komplexen Gefüge weniger in einzelnen Erlebnissen oder Ereignissen begründet, sondern vielmehr auf lange Zeit bestehende Beziehungsmuster zurückzuführen: Eine ausgeglichene, ruhige Mutter, die ein motorisch sehr unruhiges Kind gut ertragen kann, wird die Entwicklung des Kindes fördern und stützen; ist die Mutter dagegen selbst unsicher und unruhig, wird sie auf die verstärkte Unruhe des Kindes selbst mit Unruhe bis hin zur Ablehnung reagieren.
Lebenslange Entwicklung Dieses transaktionale Modell gilt für eine kontinuierliche lebenslange Entwicklung. Entwicklung umfasst die gesamte Lebensspanne (»life-span-development«) und beinhaltet über das gesamte Leben hinweg Wachstum (Gewinn) neuer adaptiver Kapazitäten und Niedergang (Verlust) bestehender Fähigkeiten. Entwicklung bedeutet nicht nur Gewinn oder nur Verlust. Neue Funktionen
können alte ersetzen, Entwicklung ist immer auch Spezialisierung unter Vernachlässigung alternativer Optionen. Störungen entstehen aufgrund der missglückten Lösung einer psychosozialen Aufgabe oder aufgrund eines missglückten Übergangs von einer Entwicklungsaufgabe zur anderen, so z. B. Trennung von den Eltern oder Ausscheiden aus dem Berufsleben (Baltes et al. 1980).
Fluide und kristalline Intelligenz – Beispiel einer lebenslangen Entwicklung Das höhere Lebensalter ist zwar gekennzeichnet durch eine Fülle von Verlusten im biologischen und sozialen Bereich, gleichzeitig ist aber auch im Alter z. B. Wachstum im Bereich der sozialen Intelligenz, des Lebenswissens und der Lebensweisheit (kristalline Intelligenz) möglich (Baltes u. Baltes 1990). Die fluide Intelligenz – v. a. die Geschwindigkeit der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen – nimmt ab dem frühen Erwachsenenalter ab, während die kristalline Intelligenz bis ins hohe Alter erhalten bleibt, ja sogar noch wachsen kann. So verbesserten sich 10% der 60-Jährigen über einen 7-jährigen Zeitraum noch in ihrer Intelligenzleistung, während die Mehrzahl stabil verblieb und 20–40% Verluste erlebten (Schaie 1996). Aber auch im Bereich der fluiden Intelligenz bestehen noch Entwicklungsmöglichkeiten, denn bis ins höhere Alter ist die fluide Intelligenz trainierbar – wenn auch nur bis zu einer gewissen Funktionsgrenze. So gilt für die wichtigsten psychischen Funktionen, dass Entwicklungsförderung möglich ist, jedoch in ihren Möglichkeiten biologisch begrenzt. Schwierigkeiten in spezifischen Entwicklungsgebieten können auch durch Kompensationsprozesse ausgeglichen werden.
Modell der lebenslangen Entwicklung nach Erikson Diese Sichtweise der Entwicklung über die ganze Lebensspanne hinweg erfordert eine verstärkte Berücksichtigung psychosozialer Entwicklungsschritte, die sich in entsprechenden Veränderungen des Verhaltens, Wertens, Urteilens und Erlebens niederschlagen. Jedes Lebensalter bietet spezifische Veränderungen, die neue Erfahrungsmöglichkeiten, neue Interaktionen und damit auch Störungen der Entwicklung hervorrufen können. Das erste Modell der lebenslangen Entwicklung wurde von Erikson (1950) aufgestellt. Wenn auch empirische Belege für dieses Modell fehlen, so war es wichtige Grundlage für weitere Konzepte. Erikson unterschied 8 Entwicklungsabschnitte, in denen er spezifische Herausforderungen beschrieb. Das Nichtbewältigen dieser Herausforderungen hat Störungen zur Folge. Folgende Entwicklungsabschnitte sind zu nennen: Vertrauen vs. Misstrauen (1. Lebensjahr), Autonomie vs. Scham und Zweifel (3. Lebensjahr), Initiative vs. Schuldgefühle (4. und 5. Lebensjahr),
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242
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Wertsinn vs. Minderwertigkeit (mittlere Kindheit), Identität vs. Rollendiffusion (Adoleszenz), Intimität vs. Isolation (Beginn des Erwachsenenalters), Generativität vs. Stagnation (mittleres Erwachsenenalter), Ich-Integrität vs. Verzweiflung (spätes Erwachsenenalter). Eine Übersicht der wichtigsten Lebensabschnitte, Entwicklungsschritte und der dazugehörigen Anforderungen gibt ⊡ Tab. 10.7. Im Folgenden werden die Grundzüge der wichtigsten Entwicklungsabschnitte skizziert. ⊡ Tab. 10.7. Lebensabschnitte und ihre Anforderungen Frühe Kindheit
– Entwicklung von »Urvertrauen« – Entwicklung der sozialen Beziehungsmuster und Bindungen – Symbolische/verbale Fähigkeiten – Sensomotorische Reifung – Präkonzeptuelles Denken, Theory of mind
Späte Kindheit
– Erwerb des geschlechtsspezifischen Verhaltens – Selbstkontrolle – Aufbau von Werten, Normen und Gewissen
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– Grundformen der persönlichen Identität – Fähigkeit zu lesen, rechnen und schreiben – Zunahme der sozialen Fähigkeiten Frühe Adoleszenz
– Aufbau der Geschlechtsidentität – Ausbau der eigenen Identität – Formale intellektuelle Operationen – Erweiterung der sozialen Bindung (Peergroups)
Späte Adoleszenz
Kommunikation von Neugeborenem und Säugling Der Säugling ist fähig zu lernen und implizite Gedächtnisspuren anzulegen. Darüber hinaus verfügt das Neugeborene bereits über verschiedene präverbale Kommunikationsweisen, die eine zielgerichtete Interaktion mit den ersten Bezugspersonen ermöglichen (Stern 1985). Das Neugeborene bevorzugt jene menschliche Stimme (besonders die der Mutter), die alle Qualitäten besitzt, um stimulierend und beruhigend zugleich zu wirken. Es ist fähig, Geräusche zu lokalisieren, was sehr früh schon auf eine intersensorische (amodale) Koordination schließen lässt. Affektive Austauschprozesse zwischen Mutter und Kind bilden die Basis der Kommunikation. Das Neugeborene ist bereits zu einfachen Nachahmungsbewegungen in der Lage. Mit der Reifung des visuellen Kortex erscheint um die 6. Woche das soziale »Widerlächeln«. In der Folgezeit intensiviert sich das Interesse am menschlichen Gesicht.
2. Hälfte des ersten Lebensjahres
– Geschlechtlichkeit und Körperveränderungen
Im Alter von 6 Monaten ist der Säugling physiologisch stabiler geworden. Mit der gereiften Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften sind wachsende Koordinations- und Informationsleistungen möglich. Mit 6–7 Monaten ist das Kind eindeutig in der Lage, Personen von Gegenständen zu unterscheiden. Das Kind kann eine fröhliche oder traurige Stimme dem entsprechenden Gesichtsausdruck zuordnen, sein Ausdrucksverhalten wird differenzierter. Zwischen 8 und 10 Monaten beginnen die meisten Kinder mit den ersten Formen der Fortbewegung (Lokomotion) und erreichen Objektpermanenz, d. h. sie sind in der Lage, Objekte, auch wenn sie versteckt werden, zu verfolgen. Objektpermanenz meint die Fähigkeit, das Weiterbestehen von Objekten – unabhängig von der eigenen Wahrnehmung – zu erkennen.
– Aufbau eines eigenen Lebensweges, – Partnersuche/-wahl, Trennung von Eltern – Familiengründung, Kinder – Anpassung an die Kinderentwicklung (Kleinkind, Jugendlicher) – Berufliche Belastungen – Erwachsenwerden der Kinder – Trennung von Kindern, erweiterte Familien – Aufgabenfindung für Partnerschaft/Ehe – Sorge und Hilfe für die ältere Generation – Beruf und Berentung
Alter
Die frühe Kindheit (»infancy«) umspannt die Zeit von der Geburt (einschließlich der vorgeburtlichen Phase) bis zum Ende des 2. oder 3. Lebensjahres. Die Ergebnisse der Kleinkindforschung zeigen den Säugling und das Kleinkind in einem völlig veränderten Licht: Bereits der Säugling erscheint als aktives, kompetentes und interagierendes Wesen mit differenzierter Wahrnehmungsfunktion zum Erkennen der Umwelt. Grundgegebenheiten der frühesten Kindheit sind Aktivität, die Bereitschaft zur sozialen Interaktion (insbesondere emotional) und die wachsende Fähigkeit zur Selbstregulation.
– Erwerb einer stabilen Identität
– Lebens- und Berufsfindung
Mittleres/ spätes Erwachsenenalter
Frühe Kindheit
– Ablösung von Eltern
– Abstraktes Denken Frühes Erwachsenenalter
10.4.2
– Aufrechterhalten von Beziehungen, Partnerschaften angesichts zunehmender Behinderungen – Auseinandersetzung mit dem Tod von Angehörigen, Partnern – Lebensrückschau, Integration
Achtmonatsangst. Viele Kinder entwickeln die sog. »Achtmonatsangst« oder Fremdenangst. Das »Fremdeln« hat seine Wurzeln einerseits in den zunehmenden kognitiven Fähigkeiten des Kindes (Gedächtnis, Objektperma-
243 10.4 · Seelische Entwicklung des Menschen und Entwicklungspsychopathologie
nenz) und in seinen wachsenden Handlungsmöglichkeiten sowie andererseits in der zunehmenden emotionalen Bindung. Es besteht nun eine intensive Bindung zur wichtigsten Bezugsperson (meist die Mutter). Die ersten Ansätze einer kognitiven vorsprachlichen Kategorisierung, z. B. Unterscheidung zwischen Esswaren und Tieren, entstehen. In der vorsprachlichen Zeit sind Gefühle die wichtigste Ausdrucks- und Kommunikationsform. Gefühle dienen der eigenen Verhaltenssteuerung und besitzen gleichzeitig adaptive Funktion. Etwa mit einem Jahr beginnen die meisten Kinder frei zu laufen, diese neuen Erkundungs- und Explorationsmöglichkeiten treiben die kognitive Entwicklung weiter voran. Das Kind beginnt, einfache Aufforderungen zu verstehen.
2. Lebensjahr Im Alter von 18–24 Monaten erfolgen deutliche Umbrüche. Das Kind beginnt zu sprechen und entwickelt innere Vorstellungen von der Welt und seiner Beziehung zur Welt. Während Kinder sich bereits früh für einen auf ihre Nase gemalten Fleck interessieren, können sie nun zwischen dem 15. und 21. Monat diesen Fleck auf der Nase im Spiegelbild der eigenen Nase zuordnen: Sie besitzen eine Vorstellung von sich selbst und können die Veränderungen ihres Selbstbildes erkennen. Dies geht Hand in Hand mit dem Spracherwerb (Symbolisierungsfähigkeit). Diese Entwicklung des Selbst äußert sich in der wachsenden Tendenz, sich selbst zu behaupten (Trotz), einem verstärkten Bewusstsein für Empfindungen des eigenen Körpers und dem Ausbau eines eigenen Körperbildes. Mit der Sprachentwicklung, der Symbolisierungfähigkeit und dem Erlernen sozialen Verhaltens werden soziokulturelle Einflüsse immer ausgeprägter.
10.4.3
Bindungstheorie und ihre Bedeutung
Der englische Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby begründete in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Bindungstheorie. Die wesentlichen empirischen Untersuchungen wurden von M. Ainsworth durchgeführt (zur Übersicht Seiffge-Krenke 2004). Bowlby sieht jeden Menschen mit mehreren Verhaltenssystemen ausgestattet, die seine Anpassung und sein Überleben gewährleisten. Das Bindungsverhalten trägt dafür Sorge, dass die Pflegeperson die Fürsorge für das unreife und hilflose Kind aufrechterhält, indem es das Kind an den Erwachsenen bindet (»attachment«) und beim Erwachsenen Fürsorgeverhalten hervorruft (»bonding maternal behaviour«). Das Bindungssystem ist biologisch verankert. So tritt bei allen Kindern im Rahmen der Trennung eine erhöhte Herztätigkeit auf, hingegen konnte nur bei unsicher gebundenen Kindern eine erhöhte Kortisolaus-
schüttung nachgewiesen werden. Das Bindungsverhalten entwickelt sich in unterschiedlichen Mustern (Bindungsqualitäten), je nach dem Entwicklungsstand des Kindes und gemäß seinen spezifischen Erfahrungen mit Bezugspersonen. Bindung äußert sich im Suchen und Bewahren von Nähe, indem das Kind die Bezugsperson aufsucht oder sich in deren Reichweite aufhält. Das Fehlen der Bezugsperson löst im Kind Trennungsangst und Protest aus, wie z. B. Schreien, Weinen oder Schlagen. Gelungene Bindung führt zu Sicherheit und einem Gefühl des Schutzes vor Gefahren. Bindung in diesem Sinne entsteht ab dem 7./8. Monat, wenn die Fähigkeiten zur Lokomotion und Objektpermanenz gegeben sind. Das Bindungssystem ist Voraussetzung für das Erkundungssystem. Nur wenn ein Kind bindungssicher ist, wagt es sich weiter fort und erkundet seine Umwelt. »Overprotection«. Im Laufe der Entwicklung werden die
Bindungserfahrungen verinnerlicht, es ensteht ein »inneres Arbeitsmodell« der Bindungsqualitäten. Dieses für neue Erfahrungen grundsätzlich offene System leitet das Erleben und Erfahren von zukünftigen Beziehungen. Aber auch ein zuviel an Bindung – »over protection« – kann für die Entwicklung ungünstig sein. Levy (1932) verwandte erstmals diesen Begriff, um damit die übermäßige Nähe der versorgenden Bezugsperson zu ihrem Kind bei gleichzeitiger untergründiger Aggression zu beschreiben. Overprotection meint den übermäßigen Kontakt der Mutter, die Infantilisierung des Kindes mit der Verhinderung von selbständigem Verhalten und mit einem Übermaß an mütterlicher Kontrolle.
Prüfen der Qualität der Bindungsbeziehung Die Bindungsbeziehung kann in einer standardisierten Testsituation dem »Fremden-Situations-Test« im ersten und zweiten Lebensjahr ermittelt werden. In einem nichtvertrauten, übersichtlichen Raum mit 2 Stühlen und einer Matte mit Spielzeug wird Mutter und Kind Zeit zum Eingewöhnen gegeben. Stufenweise werden dann »Belastungen« durchgeführt: Eine fremde Person nimmt erst mit der Mutter dann mit dem Kind Kontakt auf, danach verlässt die Mutter kurz den Raum, das Kind ist mit dem Fremden zusammen, später verlässt die Mutter den Raum und das Kind ist kurzfristig ganz alleine, bevor die Mutter wieder zurückkommt. Anhand der Beobachtungen dieser Situation können die Reaktionen der Kinder in 4 Bindungsqualitäten eingeteilt werden. 1. Sicher gebunden (Typ A): Kinder sind kurzzeitig beunruhigt über die Trennung von der Mutter, beginnen dann zu spielen und wenden sich der zurückkehrenden Mutter zu. 2. Unsicher-vermeidend (Typ B): Kinder zeigen wenig offene Beunruhigung über die Trennung, vermeiden Nähe und Kontakt zur zurückgekehrten Mutter.
10
244
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
3. Unsicher-ambivalent (Typ C): Trennung verängstigt die Kinder sehr (z. B. Protest), nach der Rückkehr lassen sie sich nur langsam von der Mutter beruhigen. 4. Desorganisiert/desorientiert (Typ D): Trennung ruft seltsames, ja bizzarres Verhalten hervor, es wechseln verschiedene Bindungsverhalten. In Langzeituntersuchungen zeigt das Bindungsverhalten ab dem 2. Lebensjahr eine erstaunliche Stabilität und vermag das Auftreten von Verhaltensproblemen in der Vorschulzeit vorherzusagen. Die Qualität der Bindungsbeziehung kann sich aber durch Lebensereignisse oder kompensierende Beziehungen ändern. Insbesondere kritische Lebensereignisse (ernsthafte Krankheiten, Scheidungen, Sterbefälle) sind für die weitere Entwicklung des Bindungsverhaltens wesentlich. Der kontinuierliche Einfluss von Bezugspersonen auf das Bindungsverhalten bestätigt die Sichtweise der Entwicklung als einen fortlaufenden Prozess.
»Vererbungsmodus« der Beziehungserfahrung
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Interne Bindungsmodelle sind der Niederschlag der erlebten kognitiven und emotionalen Beziehungserfahrungen mit den wesentlichen Bezugspersonen und bestimmen die Erwartungs- und Handlungsmuster der zukünftigen Beziehungsgestaltung. Kinder, die in ihrer Herkunftsfamilie ein wenig freundliches, stützendes bis hin zu feindseligem Elternverhalten erlebt hatten, zeigten als Erwachsene ihrerseits Verhaltensauffälligkeiten mit Eheproblemen und gingen erneut weniger einfühlsam mit ihren Kindern um. Auch diese Kinder zeigten wieder, wie ihre Eltern, häufiger Merkmale einer auffälligen Entwicklung. Dieser mehrgenerationale psychosoziale »Vererbungsmodus« muss jedoch nicht zwangsläufig zur Übertragung der Beziehungserfahrung auf die nächste Generation führen: Neben ungünstigen Bedingungen der frühen Eltern-Kind-Beziehung können schützende (protektive) Einflüsse im Lebensumfeld der Kinder ausgleichende Möglichkeiten eröffnen. Diese kompensierenden Erfahrungen sind sowohl in der Kindheit (Kontakt zu einer Bezugsperson) als auch in der Schule (positive Beziehungserfahrungen in der Schule), aber auch in späteren Lebensabschnitten (z. B. verlässliche und befriedigende Partnerbeziehung) möglich und führen zu einer Durchbrechung des generationsübergreifenden Zyklus der negativen Beziehungserfahrungen.
Sichere und unsichere Bindung Gebundene Kinder entwickeln ein sicheres Bild von der Welt und von ihren Interaktionen mit der Welt, indem sie auf eine Vertrauensperson aufbauen und ein positives Bild von sich selbst erwerben. Sicher gebundene Kinder zeigen im weiteren Verlauf ein gutes Sozialverhalten, mehr Phantasie, ein höheres Selbstwertgefühl und bessere kognitive Leistungen. Die Mehrzahl der Kinder weist eine Form der sicheren Bindung zur Mutter auf, wobei
kulturspezifische Sozialisationseffekte zu berücksichtigen sind. In den wenigen Untersuchungen mit Vätern zeigen sich gleiche Bindungsarten, allerdings kann das Kind zu Vater und Mutter unterschiedliche Bindungsqualitäten aufbauen. Unsichere Bindung ist kein psychopathologisches Zeichen an und für sich, sondern ist als Risikofaktor für die zukünftige Entwicklung zu werten. In den vorliegenden Untersuchungen sind unsicher gebundene Kinder im Folgezeitraum (2–6 Jahren) erheblich beeinträchtigt, v. a. im Sozialverhalten und der Impulskontrolle. Kinder, die in Multiproblemfamilien (depressive Mütter, Misshandlung usw.) aufwachsen, zeigen einen hohen Anteil unsicherer Bindungen. Heimkinder mit 2 Jahren zeigen mehr als Vergleichskinder ein unsicheres Bindungsverhalten. Dieses Bindungsverhalten und die sozialen Probleme bestehen bei den Heimkindern bis ins Schulalter weiter, während die kognitive Entwicklung keinen Rückstand zu den Vergleichskindern aufweist (Tizard u. Hodges 1978).
10.4.4
Kindheit und Jugend
Kindheit Die Kindheit reicht vom 4. bis zum 11./12. Lebensjahr und ist nicht durch spezifische Veränderungen, sondern im Wesentlichen kulturell definiert (Ariés 1975). In den westlichen Gesellschaften handelt es sich um einen umschriebenen Lebensabschnitt, in dem das Kind bestimmte Aufgaben zu bewältigen hat (z. B. die Schule), aber noch unter dem Schutz und in der Abhängigkeit der Erwachsenen steht. Die Schule mit ihren soziokulturellen Normen und ihrer Arbeitsstruktur prägt das Kind in hohem Maße. Die Übernahme von sozialen Rollen ist ein wesentlicher Teil der Entwicklung. Mit der Schule und dem Kontakt zu Gleichaltrigen schreitet die Entwicklung des Sozialverhaltens und der sozialen Kompetenz fort. Mit Eintritt in die Kindheit erwächst den Kindern die Fähigkeit, sich selbst und anderen mentale Zustände (Wissen, Glauben, Wollen, Fühlen usw.) zuzuschreiben. Dies wird als »Theory of mind« (Premack u. Wodruff 1978) oder im psychodynamischen Sinne als »Mentalization« (Fonagy u. Target 1998) bezeichnet; als Theorie, da die Zuschreibung mentaler Zustände Verhaltensvorhersagen und -erklärungen erlaubt. Dies ist Grundlage für alle sozialen Interaktionen. Weiters kommt es in diesem Alter zu einer Zunahme der exekutiven Funktionen, also von Prozessen der Verhaltens- und Emotionskontrolle, die notwendig sind, kognitive und soziale Handlungen durchführen zu können.
Jugendalter Im Jugendalter vollziehen sich eingebettet in den jeweiligen soziokulturellen Kontext im Lebenszyklus vielfäl-
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tige biologische und soziale Veränderungen. Konflikte erwachsen aus der Zwischenposition des »Noch-nicht-Erwachsenseins« und »Nicht-mehr-Kindseins«. Die körperliche Hauptveränderung liegt im Bereich der Geschlechtsreifung mit der hormonellen Umstellung. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine erhebliche Vorverlagerung dieser biologischen Reifung (Akzeleration) vollzogen. Andererseits verschiebt sich in den Industrieländern die soziale Lehr- und Lernzeit immer weiter nach hinten und vergrößert die Kluft zwischen biologischem und sozialem Erwachsensein. Die Sexualität entfaltet sich als Zusammenspiel von biologischen Faktoren, Erfahrungen und sozialen Normen. Eine stabile sexuelle Identität entsteht. Im Mittelpunkt der psychosozialen Entwicklung des Jugendlichen steht der Aufbau einer persönlichen, unverwechselbaren Individualität (Identität) und eines stabilen Selbst. Der Identitäts- und Selbstentwicklung in der Jugendzeit entspricht neurobiologisch die fortschreitende Gehirnentwicklung (vor allem frontaler Kortex), die erst mit 15–18 Jahren ihren Abschluss findet (Thompson u. Nelson 2001).
Modell des Selbst nach James Das Selbst gliedert sich in das Selbstwertgefühl (»self esteem«, affektive Komponente), in das Wissen um das eigene Selbst und die Selbstwahrnehmung (kognitive Komponente). Der Begriff des Selbst geht auf W. James (1890) zurück, der zwischen Ich, dem Erkennenden, und »me« (Selbst), dem Erkannten, unterscheidet. Der Begriff »Selbst« bezieht sich auf die gesamte Person einschließlich des Körpers. Selbst meint die Person als Subjekt; Selbstrepräsentanzen sind unbewusste, vorbewusste und bewusste Vorstellungen des körperlichen und seelischen Selbst. Das persönliche Selbst (die persönliche Identität) erfasst den biologischen Hintergrund eines Menschen, das soziale Selbst (soziale Identität) entspricht dem Bild in sozialen Beziehungen. Die gegenwärtige Sicht von sich selbst wird als Realselbst, das, was man sein möchte, als Idealselbst benannt. Jede Identität ist verbunden mit der Frage: »In Beziehung zu welchen Menschen und Aufga-
⊡ Abb. 10.9. Entwicklung des Selbst-(Identitäts-)Systems
ben?«, d. h. es gibt eine Fülle von verschiedenen Teilidentitäten (Rollen), die im konfliktfreien Fall als zusammengehörige Selbstidentität erscheinen (z. B. Geschlechtsidentität, Identität als Vater, körperliche Identität, soziale Identität, Identität als Arzt u. a.). Bevor derartige kognitive Selbstrepräsentanzen entstehen, wird ein früher emotionaler prärepräsentativer Selbstkern gebildet. Eine gelungene Identitätsbildung mit hinreichender Kontinuität führt zu einem spannungsfreien Zustand mit Wohlbefinden und Sicherheitsgefühl, ebenso wie gelungener Selbstwertregulation (⊡ Abb. 10.9). Während die Adoleszens lange als Entwicklungsabschnitt voller Unruhe, Unsicherheiten und Störungen angesehen wurde, zeigen Untersuchungen, dass sich das Selbstkonzept Jugendlicher, ihre Identität, nicht dramatisch verändert, sondern eher langsam und über lange Zeiträume stabil bleibt (Oerter u. Montada 2002).
10.4.5
Erwachsenenzeit und Alter
In der Erwachsenenzeit vollziehen sich die endgültige Loslösung von der Ursprungsfamilie, der Aufbau einer eigenen Beziehung (Familie) und die Berufsfindung und -ausübung. Die grundlegende Bedeutung der Arbeit für den Erwachsenen zeigt sich in der erhöhten Morbiditätsund Mortalitätsrate Arbeitsloser. Partnerschaft und Familie beginnen mit dem Aufbau einer Partnerbeziehung und reichen über die Geburt und Erziehung der Kinder, der Trennung der Kinder von der Familie hin zur Familienneuorientierung und der Auseinandersetzung mit dem Tod des Partners. Diese in unserer Gesellschaft und Kultur gültigen Lebensformen haben sich im letzten Jahrhundert erheblich gewandelt (Ehe ohne Kinder, Permanenz der Ehe, Ehemann als primärer Verdiener, eheliche sexuelle Exklusivität, Homosexualität usw.). Ein wachsender Anteil der Erwachsenen und Alten lebt alleine (»Singles«). In Familien vollziehen sich von ihrer Gründung bis zu ihrer Auflösung tiefgreifende Umstrukturierungen. Die Kinder beeinflussen ihre Eltern enorm. Das Elternpaar muss in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Entwicklungs-
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Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
stand des Kindes ganz unterschiedliche Adaptationen vornehmen. Die Quantität und Qualität der Eltern-KindBeziehung verändert sich im Laufe der Entwicklung erheblich. Es besteht eine enge positive und/oder negative Wechselwirkung zwischen Eltern-Kind-Beziehungen und Paarbeziehungen. ! Die meisten Familien bewältigen die Herausforderungen und Belastungen in den verschiedenen Phasen der Familienentwicklung recht gut, was angesichts geringer außerfamiliärer Ressourcen und Unterstützung eine bemerkenswerte Leistung ist. Die Bedeutung dieser sozialen Umbrüche für die Entstehung von seelischen Störungen kann noch nicht abgeschätzt werden, auch wenn sich eine Zunahme seelischer Störungen weltweit abzeichnet. Trotz aller Änderungen in unserer Kultur ist die Familie nach wie vor der wesentliche soziale Rückhalt. Die Familie gewährt Unterstützung bei Belastungen und Erkrankungen. Ebensooft sind aber Familie und Partnerschaft das wesentliche Spannungsund Konfliktfeld, in dem seelische Erkrankungen entstehen.
Wandel des Familienbildes und dessen Folgen
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Die Dauerhaftigkeit der Familien hat durch die seit Jahrzehnten stetig ansteigende Scheidungsrate erheblich abgenommen. Auch wenn Scheidung und Trennung häufigere Anzeichen des Familienwandels sind, so stellt die Scheidung unverändert für alle Betroffenen eine außerordentliche Belastung dar. Oft lassen sich schon zu Beginn der Ehe stabile von instabilen Partnerschaften unterscheiden. Besondere Risikofaktoren sind eine kurze Bekanntschaftsdauer, starke Diskrepanzen zwischen den Partnern hinsichtlich der Beziehungsgestaltung u. a. Wie bei allen Belastungen ist der Prozess der Bewältigung abhängig von den persönlichen und sozialen Möglichkeiten der Betroffenen. Für Erwachsene ergeben sich nach einer Scheidung meist ökonomische und soziale Probleme; Hinweise auf eine erhöhte Mortalität und Morbidität im körperlichen und seelischen Bereich bestehen. Ein Teil der Scheidungskinder zeigen nach der Scheidung häufiger Störungen im Verhaltensbereich (z. B. aggressives Verhalten), in der Beziehung zu Mutter bzw. Vater und Störungen der Schulleistung. Auch langfristige Folgen der Scheidung für Kinder (z. B. Drogenmissbrauch, geringere Lebenszufriedenheit u. a.) werden beschrieben.
Alter Der Entwicklungsabschnitt des Alters gewinnt für unsere Gesellschaft aufgrund der gestiegenen und noch steigenden Lebenserwartung (2/3 aller Menschen in den Industrieländern werden älter als 70 Jahre) und den daraus folgenden sozialen und psychologischen Herausforde-
rungen immer mehr an Bedeutung. Der Prozess des Alterns ist ohne die biologischen und soziokulturellen Voraussetzungen, mit denen eine Gesellschaft dem Alter entgegentritt, nicht verstehbar. Alter und Alterserkrankungen gelten nicht mehr als unwiederbringliches Schicksal, sondern zeigen wie andere Entwicklungsabschnitte Möglichkeiten zur Kompensation und Rehabilitation. ! Altern ist kein »krankhafter« Prozess, sondern bedeutet eine breite Spanne von unterschiedlichen, auch biologischen Entwicklungsverläufen. Ältere Menschen sind keine Problemgruppe an und für sich; es gibt eine große Gruppe medizinisch und psychosozial gesunder älterer Menschen. Die Altersforschung beschreibt eine Vielfalt von Verläufen: Die hohe interindividuelle Differenz, also unterschiedliche Altersschicksale, führt weg von dem Begriff des »normalen Alterns« hin zu dem Begriff des »differenziellen Alterns«. Die Gefahr der eingeschränkten Mobilität für den geistigen und körperlichen Bereich ist im Alter groß: Was nicht genützt und geübt wird, geht verloren (»use it or loose it«); es gilt auszubauen, was ältere Menschen können, und Bereiche der Kompensation zu nutzen. Die Annahme eigener Endlichkeit und der Partnerverlust sind die schwierigsten Entwicklungsaufgaben für ältere Menschen. Die Trauerreaktion bei Verwitweten zeigt große interindividuelle Unterschiede. Generell sind Männer stärker betroffen als Frauen und zeigen höhere körperliche und seelische Erkrankungsraten nach dem Verlust des Lebenspartners (Stroebe u. Stroebe 1983).
10.4.6
Entwicklungspsychopathologie (»developmental psychopathology«)
Die Entwicklungspsychopathologie entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten als eigenständige Disziplin (Rutter 1985). Sie befasst sich mit der Genese psychopathologischer Symptome im Verlaufe normaler und gestörter Entwicklung und beschreibt den Einfluss von psychosozialen Belastungen für die Entwicklung. Dies erfordert ausreichende Kenntnis über die in bestimmten Lebensabschnitten sich vollziehenden Entwicklungsschritte (biologisch, kognitiv, affektiv und sozial). Der früher vorherrschende retrospektive Zugang zu Kindheitsentwicklungen wird seit einigen Jahrzehnten durch prospektive Untersuchungen ergänzt. Damit ist es möglich, wichtige Erkenntnisse zu sichern, aber auch manche Theorie zu widerlegen. Zu unterscheiden sind: individuelle Risiken (genetisch-biologische, erworbene biologische wie perinatale Komplikationen, Mangelernährung und Umweltrisiken),
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psychologische Risiken (Temperamentsmerkmale, Persönlichkeitseigenschaften), psychosoziale Risiken (psychische Störungen eines Elternteils, Streitbeziehungen in der Familie, Delinquenz, soziale Probleme, Migration).
Grundzüge der Entwicklungspsychopathologie Der individuelle Entwicklungsprozess ist ein Bedingungsgefüge, das sich im Zusammenspiel von Risikofaktoren und protektiven Faktoren ergibt. Entwicklung vollzieht sich in einem Spannungsbogen von Kontinuität (der Stabilität von einzelnen Merkmalen über eine lange Zeit hinweg) und Diskontinuität (dem Austausch von alten Formen durch neue). Kontinuitätsannahmen, die einen direkten Zusammenhang zwischen Erlebnissen der frühen Kindheit, der Persönlichkeits- und der Problementwicklungen des Erwachsenenalters herstellen, werden einer differenzierten Betrachtung nicht mehr gerecht: Das Modell einer fortlaufenden Entwicklung, die zwischen Kontinuität und Diskontinuität pendelt, löst derartige einfache Modelle wie z. B. das sog. psychoanalytische »Fixation-Regressions-Modell« ab.
Entstehung von Entwicklungsstörungen Die Entstehung von psychopathologischen Auffälligkeiten ist nicht nur auf eine »sensitive Periode oder Phase« (der Phase, in der gewisse Verhaltens- oder Charakterbildungen geprägt werden) in der Kindheit begrenzt. Störungen entstehen in der Regel in einer fortlaufenden Entwicklung, in der nicht nur die frühesten Jahre Bedeutung besitzen. Auch die nachfolgenden Entwicklungsabschnitte, wie die spätere Kindheit und Pubertät, können konfliktbegründend, -verstärkend oder -kompensierend wirken. Daraus folgt, dass heute wirksame Verhaltensmuster zwar aus der Vergangenheit erwachsen, die Entstehung dieser Auffälligkeiten meist nicht auf spezielle Entwicklungsphasen eingegrenzt ist. Dies schmälert nicht die Bedeutung verschiedener Entwicklungsabschnitte, wie z. B. in der frühen Kindheit. Vorsicht ist aber geboten, einem Entwicklungszeitraum spezifische Konflikte oder psychopathologische Folgeerscheinungen zuzuordnen (z. B. die Annahme, Trennungserlebnisse im ersten Lebensjahr führen regelhaft zur Depression). Bereits Anna Freud (1965) entwarf ein Konzept der »Entwicklungslinien«, mit der Annahme einer fortlaufenden lebenslangen Entwicklung einschließlich zeitlich begrenzter besonderer Reifungsschritte. Entsprechend dieser Annahme gibt es Zeiträume besonderer Entwicklungsaufgaben und Verletzbarkeit, aber keine Entwicklungsphasen, in denen das Verhalten unveränderbar geprägt wird. So stellt Rutter (1985) aufgrund verschiedener Studien fest, dass Kinder auf Trennungen am empfindlichsten im Alter von 6 Monaten bis 4 Jahren reagieren, während Säuglinge noch nicht die Fähigkeit zur hochselektiven
Beziehung (Bindung) entwickelt haben und ältere Kinder aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten auch längere Trennungen bewältigen können. Schwere Belastungen in Kindheit und Jugend können (Rutter 1996) unmittelbar zu Störungen führen, die dann weiter andauern, zu Verhaltensmustern führen, die dann erst Jahre später zu einer Störung beitragen (Langzeitfolgen), zu einer Veränderung der persönlichen kognitivaffektiven Bewertung und Bewältigung (Selbstwertgefühl, Bewältigung- und Abwehrmechanismen) führen und zu ungünstigen sozialen Entwicklungen beitragen, die wiederum die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung fördern. Nicht alle Ausfälle und Defizite, die sich in längeren Zeiträumen entwickeln, sind jedoch kompensierbar. So zeigen die Beispiele wilder Kinder und die Findelhausuntersuchungen (Spitz 1945), dass Menschen während der Säuglings- und Kleinkindzeit eine enge Beziehung benötigen. Fehlt diese, sind die Folgen eine erhöhte Sterblichkeit oder dramatische, sozial-emotional-kognitive Defizite (Spitz 1954). Bei früher Adoption können dies Kinder aufholen, je später sie in eine günstige Entwicklungsumgebung verbracht werden, desto mehr Defizite verbleiben: Motorische und kognitive Fähigkeiten können noch mehr nachreifen als emotional-soziale, es verbleibt ein infantiles Verhalten mit ständigem Streben nach Kontakt und Beachtung, Trotz und aggressivem Verhalten mit (auto-)erotischen Verhaltensweisen (Schenk-Danzinger 1980).
Vulnerabilitäts-Resilienz-Modell Vulnerabilität meint die besondere Empfindsamkeit eines Individuums gegenüber Belastungen (⊡ Tab. 10.8). ⊡ Tab. 10.8. Grundbegriffe des Risiko-Vulnerabilitäts-Modells: Unterschiedliche Bedingungen, Bereiche und Folgen einer erhöhten seelischen Verletzbarkeit Vulnerabilität
Wahrscheinlichkeit, seelisch zu erkranken, ergibt sich aus dem Verhältnis von Verletzlichkeiten (Vulnerabilitäten) und protektiven Faktoren (Persönlichkeit und Ressourcen)
Ereignisspezifische Vulnerabilität
Erhöhte Verletzbarkeit gegenüber gewissen Belastungen, z. B. Trennungen
Funktionsspezifische Vulnerabilität
Beeinträchtigung umschriebener angeborener oder erworbener Leistungs- und Funktionssymptome, z. B. Störung der Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung bei Schizophrenien
Störungsspezifische Vulnerabilität
Spezifische psychische Dispositionen führen zu einer spezifischen seelischen Störung
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Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Im Gegensatz dazu bezeichnet Resilienz bzw. Resistenz (Widerstandskraft) eine erfolgreiche Bewältigung auch unter Risikobedingungen. Im Vulnerabilitäts-Resilienz-Modell führen Risikofaktoren zu einer erhöhten Labilisierung und Verminderung der Belastungsfähigkeit des Individuums und können damit im Verlaufe der Entwicklung Störungen hervorrufen. Fehlende Bewältigung zeigt sich, wenn der Verlust eines Elternteils nicht nur zu vorübergehenden, sondern zu lang anhaltenden Beeinträchtigungen des Kindes führt. Das Aufwachsen mit psychisch kranken Eltern ist ebenso ein Risikofaktor wie eine chronische Erkrankung der Eltern oder des Kindes selbst. So ist die Häufigkeit seelischer Störungen bei Kindern mit chronischen Erkrankungen etwa doppelt so hoch wie bei gesunden Kindern. Obwohl Scheidung, Trennung oder der Tod eines Elternteils nicht zwangsläufig zu ungünstigen Entwicklungen führen, sind sie grundsätzlich Risikofaktoren. Verlusterlebnisse erhöhen i. Allg. nur bei mangelhafter Bewältigung die Vulnerabilität einer Person in Hinsicht auf spätere Verlustereignisse.
⊡ Tab. 10.9. Pathogene und protektive psychosoziale Faktoren in der Entstehung und im Verlauf von seelischen Störungen. (Zur Übersicht Egle et al. 2000) Pathogene psychosoziale Faktoren
Protektive psychosoziale Faktoren
1. Biografische Belastungen mit geringen persönlichen Ressourcen
1. Günstige biografische Entwicklung mit guten persönlichen Ressourcen
2 Belastende Lebensereignisse und gewisse Bewältigungsressourcen
2. Günstige Bewältigungsmöglichkeiten bei Lebensereignissen
3. Niedriger sozioökonomischer Status
3. Günstige sozioökonomische Bedingungen
4. Geringe soziale Unterstützung
4. Gute soziale Unterstützung
5. Chronische interpersonelle Belastung
5 Stabile interpersonelle Belastung
6. Chronische körperliche Erkrankung, Gesundheitsfehlverhalten
6. Körperliche Gesundheit und aktives Gesundheitsverhalten
Biologische Risikofaktoren psychopathologischer Entwicklung
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Biologische Risikofaktoren besitzen erhebliche Bedeutung für die weitere psychologische Entwicklung des Kindes und der Familie. Als biologische Risikokinder gelten Kinder mit verfrühter und/oder schwieriger Geburt, vermindertem Apgar-Wert und klinischen Auffälligkeiten unmittelbar nach der Geburt, sowie Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft gesundheitlich belastet waren. Diese Faktoren erlauben im Einzelnen noch keine Prognose für den weiteren Entwicklungsverlauf; erst eine Häufung biologischer Risiken führt im Wechselspiel mit psychosozialen Risiken zu Entwicklungsauffälligkeiten oder Störungen. So gewinnen in Familien mit deutlichen Problemen und Störungen (z. B. fehlende Unterstützung, Alkoholismus) biologische Risikofaktoren eine größere Tragweite, während gute soziale Bindung und Unterstützung der Eltern sich als Risikopuffer ausweisen. Unter günstigen psychosozialen Bedingungen können sich Kinder mit vielen biologischen Risikofaktoren sogar normal entwickeln. Treten hingegen, wie beschrieben, biologische und psychosoziale Belastungen gemeinsam auf, so ist die Entwicklungsprognose eher ungünstig (⊡ Tab. 10.9).
Risiko- versus Schutzfaktoren Erste deutschsprachige Untersuchungen zum »Risikomodell« der Entstehung seelischer Störungen gehen auf Dührssen (1984) und Meyer-Probst u. Teichmann (Rostocker Längsschnittstudie 1984) zurück. Fasst man die bis heute vorliegenden Querschnitt- und Längsschnittstudien zur Erfassung von Risikofaktoren zusammen, ergibt sich ein Kenntnisstand, der viele bisherige Einzelbefunde bestätigt. Väter und Mütter besitzen unterschiedliche
Funktionen bezüglich der Entwicklung von Kindern: Väter fördern die Selbständigkeit des Kindes, akzentuieren das Geschlecht und Körper des Kindes und betonen Spielund Freizeitaktivitäten. Väter erfüllen sowohl protektive Aufgaben (z. B. Pufferfunktion bei depressiver Mutter (Tannenbaum u. Forehand 1999), tragen aber auch zur Symptombelastung bei. Es bestehen engere Beziehungen zwischen der Störung der Väter und externalisierenden Störungen ihrer Kinder (wie Delinquenz, Aggression und antisoziales Verhalten) als zu internalisierenden Störungen ihrer Kinder (wie Depression und Ängstlichkeit). Risikofaktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit von psychischen Störungen oder Erkrankungen, Schutzfaktoren mindern die Auswirkungen von Risikofaktoren, sie stärken die psychische Widerstandskraft (Resilienz). Schutzfaktoren können bei risikobehafteten Kindern und Jugendlichen (Rutter 1985) das Risiko abschwächen, negative Folgereaktionen vermindern, das Selbstwertgefühl stabilisieren und günstige soziale Rahmenbedingungen ermöglichen. Resilienz meint die Fähigkeit, sich unter schwierigen Lebensumständen gesund zu entwickeln oder sich aus einem Störungszustand eigenständig zu erholen (⊡ Abb. 10.10). Die Untersuchungen zu protektiven Faktoren konnten die Ergebnisse der bahnbrechenden Kauai-Studie (Werner u. Smith 1982) bestätigen: Auf der Hawaii-Insel Kauai wurde ein Geburtenjahrgang (n = 698) über 30 Jahre hinweg verfolgt, wobei das Hauptaugenmerk den entwicklungsrelevanten Risiko- und Schutzfaktoren galt. Ein Drittel der Kinder wurde aufgrund unterschiedlicher biologischer und psychosozialer Bedingungen als »Risikokinder« angesehen. Im Langzeitverlauf wurde nun be-
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grenzt, sondern können in allen Altersstufen Auswirkungen zeigen, bzw. in allen Altersstufen durch positive Erfahrungen kompensiert werden. Entscheidend ist die gegenseitige Beeinflussung von Risiko- und Schutzfaktoren. Ein Risikofaktor alleine erhöht die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Störungen noch nicht wesentlich, bereits zwei Risikofaktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit jedoch um das 4fache (Uhlich 1988).
Traumatisierende Lebensereignisse und ihre Folgen ⊡ Abb. 10.10. Vulnerabilität und Resilienz in der Entstehung von seelischen Störungen
obachtet, welche dieser Kinder durch welche Schutzfaktoren zu gesunden Erwachsenen heranreifen konnten. ! Risiko- und Schutzfaktoren stehen in direkter Verzahnung. Je mehr Risikofaktoren bestehen, desto mehr Schutzfaktoren werden als Gegengewicht benötigt. Generell besteht bei Jungen eine erhöhte Vulnerabilität im Kindesalter, bei Mädchen mit Beginn der Pubertät. Als wichtige gesicherte biografische Risikofaktoren für das Auftreten seelischer Störungen gelten: niedriger sozioökonomischer Status, schlechte Schulbildung der Eltern, schlechte Wohnverhältnisse; psychische Störung (einschließlich Kriminalität/Dissozialität) der Mutter und/oder des Vaters, schwere körperliche Erkrankung der Mutter und/oder des Vaters, chronische emotionale Spannung in der Familie, Verlust der Mutter, häufig wechselnde Bezugspersonen, alleinerziehende Mutter ohne hinreichendes soziales Netz; geringer Altersabstand der Geschwister (geringer als 18 Monate). Gesicherte biografische Schutzfaktoren dagegen sind (Egle u. Hoffmann 2000): robustes und aktives Temperament und überdurchschnittliche Intelligenz mit stabilem Selbstwertgefühl, dauerhafte und gute Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson, gute soziale Unterstützung und Einbindung durch Hilfs- und Ersatzeltern sowie fördernde Einrichtungen (Gruppen, Schule u. a.), Mädchen sind stabiler als Jungen. Belastende und schützende Ereignisse sind nicht auf gewisse Entwicklungsabschnitte (z. B. Kleinkindzeit) be-
Allgemeine Risikobedingungen zeigen einen fließenden Übergang zur Kindesmisshandlung, d. h. der gewaltsamen psychischen und physischen Beeinträchtigung von Kindern durch Eltern und Erziehungsberechtigte, von der in der Praxis folgende, in der Regel kombiniert auftretende Formen unterschieden werden: Vernachlässigung (»neglect«): dauerhaftes und deutliches Missachten der grundlegenden kindlichen Bedürfnisse, emotionaler Missbrauch (»emotional abuse«): wiederholtes Drohen, Abwerten, Kritisieren, Einsperren u. a., körperliche Misshandlung (»child abuse«): häufige und nachhaltige körperliche Bestrafung, sexueller Missbrauch (»sexual abuse«): Beteiligung noch nicht ausgereifter Kinder/Jugendlicher an sexuellen Akten. Viele der bisher genannten Risikofaktoren gehen einher mit Vernachlässigung oder sind Ausdruck davon: unzureichende Ernährung, Pflege, Förderung und Versorgung bzw. Beaufsichtigung von Kindern. Die schwere Misshandlung im Kindes-/Jugendalter wird als Trauma diagnostiziert. Nur ein Teil traumatisierter Kinder/ Jugendlicher entwickelt im Erwachsenenalter psychische Störungen.
Vernachlässigung Was unter »Vernachlässigung« verstanden wird, unterliegt soziokulturellen Maßstäben. Auch wenn man von einem engen Vernachlässigungsbegriff ausgeht, treten Vernachlässigungen wesentlich häufiger als Misshandlungen auf. Vernachlässigung findet sich gehäuft bei ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen, aber auch bei Kindern, deren Eltern seelisch krank sind. Vernachlässigte Kinder zeigen erhebliche Rückstände in ihrer kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung (→ strukturelle Störung).
Emotionale Misshandlung Vernachlässigung und emotionaler Missbrauch gehen oft Hand in Hand. Die emotionale (psychische) Misshandlung besteht aus Handlungen oder Unterlassungen, die
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Kinder ängstigen, überfordern oder ihnen ein Gefühl der Wertlosigkeit vermitteln, sowie die seelisch-körperliche Entwicklung beeinträchtigen. Die wichtigsten Formen sind ständiges Ausschimpfen und Drohen, Abwerten, Kritisieren, Einsperren, Kommunikationsentzug usw. (Garbarino et al. 1986). Diese Form der Misshandlung ist wenig spektakulär und wird oft übersehen. Auch im Bereich der seelischen Misshandlung ist die Grenze zwischen soziokulturell üblichem und schädigendem elterlichen Verhalten oft schwer zu ziehen; umso ungenauer sind Aussagen zur Häufigkeit der emotionalen Misshandlung, obwohl emotionale Deprivation von allen Formen die häufigste sein dürfte (Egle et al. 2000) und meist mit Vernachlässigung und/oder körperlicher Gewalt verbunden ist. Kinder, deren Mütter auf die emotionalen Signale der Kinder nicht eingingen (sie passiv ablehnten und nicht beachteten, aber hinreichend körperlich versorgten), erschienen in der Säuglingszeit noch relativ robust und kompetent. Im zweiten Lebensjahr zeigten sie einen erheblichen Abfall ihrer kognitiven und motorischen Leistungen, überwiegend waren sie unsicher gebunden. Mit 4 Jahren waren die Kinder aggressiv, unruhig, zeigten psychomotorische Auffälligkeiten und selbstzerstörerisches Verhalten (Erikson et al. 1989).
rühren und Betasten der Genitalien des Kindes, Masturbationshandlungen vor dem Kind, versuchte oder vollzogene orale, anale oder vaginale Vergewaltigung).
Körperliche Misshandlung
Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs. Die Häufigkeit des sexuellen Missbrauches ist schwierig zu bestimmen, da die polizeilichen Kriminalstatistiken einen anderen Blickwinkel eröffnen als die ausführlichen Untersuchungen von Stichproben. Die genaue Häufigkeit ist grundsätzlich schwer zu ermitteln, da gerade beim innerfamiliären sexuellen Missbrauch oft Angaben unterbleiben; der Missbrauch wird aus Scham oder Furcht verschwiegen. Geht man von einem engeren Missbrauchsbegriff aus, so zeigen internationale Studien, dass etwa bei 10% der Frauen und etwas über 2% der Männer Missbrauchserfahrungen bestehen und dass ein Drittel bis die Hälfte dieser Frauen schweren Missbrauch durchlitt. Diese Prävalenzraten gelten nicht nur für jüngere Frauen, sondern auch für ältere Geburtsjahrgänge; es ist davon auszugehen, dass auch in früheren Jahrzehnten Missbrauch häufig vorkam.
Als körperliche Misshandlungen gelten alle gewaltsamen Handlungen, die beim Kind zu Verletzungen führen können. Körperliche Misshandlung tritt, wie auch die anderen Misshandlungsformen, meist in Verbindung mit anderen ungünstigen psychosozialen Entwicklungsbedingungen auf (belastete ökonomische Situation, zerrüttete Elternehen, alleinerziehende Mutter usw.). Diese Entwicklungs- und Familienbedingungen führen in Langzeituntersuchungen der betroffenen Kinder zu erhöhter Aggressionsbereitschaft, Drogen- und Alkoholmissbrauch und anderen gravierenden emotionalen Störungen.
Sexueller Missbrauch Die Bedeutung und Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs in der Entstehung seelischer Erkrankungen wurde erst in den letzten Jahren zunehmend anerkannt. Freud wies 1896 erstmals auf die Bedeutung des sexuellen Missbrauches für die Entstehung von Neurosen hin, widerrief aber diese »Verführungstheorie« nicht zuletzt unter dem Druck der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Sexueller Missbrauch meint die Benutzung noch nicht ausgereifter Kinder und Jugendlicher für sexuelle Aktivitäten, deren Tragweite sie noch nicht erfassen können. Die Art der sexuellen Übergriffe ist vielfältig und reicht von leichteren Formen des sexuellen Missbrauchs (Exhibitionismus, anzügliche Bemerkungen, Beobachten eines nackten Kindes usw.) bis hin zu schweren Missbrauchshandlungen (Be-
Cave Mit unterschiedlichen Definitionen öffnet sich ein weiter Übergangsbereich. Den wirklichen Opfern wird jedoch geschadet, wenn bereits »harmlose« Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen wie z. B. anzügliche Blicke als Missbrauch verstanden werden. Eine derartig weite Definition von Missbrauch (»Instrumentalisierung von Mädchen und Frauen für die sexuellen Bedürfnisse von Männern«) führt zu extremen und verzerrten Missbrauchsprävalenzen von 70–80%!
»Narrowly defined sexual abuse«. Für die klinische und
wissenschaftliche Praxis hat sich die Definition des »narrowly defined sexual abuse« (Russel 1986) bewährt: Das Opfer ist zur Zeit des Missbrauchs unter 18 Jahre. Es kam zu körperlich sexuellem Kontakt oder zum Versuch dazu. Der Täter war 5 Jahre älter als sein Opfer und/oder der sexuelle Kontakt war ungewollt.
Opfer und Täter. Die Täter sind in der Regel dem Kind meist bekannt, entstammen der eigenen Familie oder sind Freunde der Familie. Der sexuelle Missbrauch findet also meist im sozialen Nahraum eines Kindes statt. Obwohl Missbrauch in allen sozialen Schichten anzutreffen ist, sind Kinder aus belasteten Familien (psychische Vernachlässigung oder emotionaler Missbrauch, Alkoholoder Drogenmissbrauch, Gewalt, schwierige soziale Verhältnisse) stärker missbrauchsgefährdet. Immerhin werden etwa 2–3% der Mädchen von ihrem leiblichen Vater missbraucht; das Risiko, von einem Stief-
251 10.5 · Psychopathologische Modelle
oder Pflegevater missbraucht zu werden, liegt deutlich höher. Opfer von sexuellem Missbrauch sind in über 90% der Fälle Mädchen, Jungen werden meist von Männern homosexuell missbraucht. Sexueller Missbrauch geschieht in allen Altersgruppen – vom Säugling bis zur erwachsenen Frau, am häufigsten betroffen sind Mädchen zwischen 6 und 14 Jahren. Bei vielen Fällen bleibt der sexuelle Missbrauch auf eine einmalige Tat beschränkt, viele Missbrauchserfahrungen erstrecken sich jedoch über Monate und Jahre. Je näher der Bekanntschaftsgrad zwischen Opfer und Täter, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu langandauernden und schwerwiegenden Formen des sexuellen Missbrauchs kommt. Folgen des sexuellen Missbrauchs. Kurzzeitfolgen des
Missbrauchs sind Reaktionen, die innerhalb von bis zu 2 Jahren nach dem Missbrauch auftreten. Es handelt sich um emotionale Symptome wie Angst, Schuld- und Schamgefühle, aggressives und antisoziales Verhalten. Aber auch depressive Verstimmungen bis hin zur Suizidalität treten auf. Im körperlichen Beschwerdebereich finden sich Schlafstörungen, verändertes Essverhalten, Kopf- und Bauchschmerzen. Auch altersunangemessene sexuelle Verhaltensweisen können eine Folge des sexuellen Missbrauchs sein. Es bestehen somit weder eindeutige körperliche noch psychische Symptome, die auf einen Missbrauch hinweisen. Die längerfristigen Folgen des (sexuellen) Missbrauchs können bisher nur retrospektiv mittels eines Vergleichs von Missbrauchten vs. Nichtmissbrauchten abgebildet werden. Regelhaft findet sich eine höhere Symptombelastung mit Angst, Depression, Aggression und sexuellen Störungen. Es zeigen sich jedoch nicht bei allen Missbrauchsopfern psychopathologische Auffälligkeiten; in den meisten Studien weisen nur etwa die Hälfte der Missbrauchsopfer psychische Beeinträchtigungen auf: Je länger und intensiver der Missbrauch war, je enger die Beziehung zwischen Täter und Opfer war und je weniger das Opfer Unterstützung bei der Enthüllung und Bewältigung des Missbrauchs erfuhr, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für eine spätere Symptombelastung. Selbst frühe und extreme Einschränkungen der Entwicklung können aber kompensiert werden.
Psychische Auffälligkeiten als Folge von Misshandlung Alle Formen der Misshandlung sind nicht zwangsläufig mit der Entstehung von Psychopathologie verknüpft. Zumindest finden sich bei manchen Betroffenen keine seelischen Störungen. Anna Freud (1951) berichtet eindringlich über 6 Waisenkinder aus Konzentrationslagern, die im ersten Lebensjahr ihre Eltern verloren hatten; bei die-
sen Kindern hatte die Gruppenbildung eine schützende Funktion, die zu überleben half. Zu den Folgen von lang andauerndem und schwerem Kindesmissbrauch und Misshandlungen liegen ähnliche Fallstudien vor. Spezifische Folgen sexuellen Missbrauchs. Bei seelischen
Erkrankungen findet sich ein gehäuftes Vorkommen von körperlichen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch in der Vergangenheit. Dies gilt für Depressionen, Angstund Essstörungen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch, sexuellen Funktionsstörungen, Persönlichkeits- oder Anpassungsstörungen. Sexueller Missbrauch ist jedoch nicht spezifisch für ein seelisches Störungsbild – vielleicht mit Ausnahme der chronischen Unterleibsschmerzen, der Selbstbeschädigung (Artefakterkrankung) und einiger dissoziativer Störungen (Mullen et al. 1993; Egle et al. 2000). Ein einfacher Zusammenhang »sexueller Missbrauch führt zu Essstörungen« kann somit nicht hergestellt werden – für eine Untergruppe von Patienten mit Essstörungen kann der sexuelle Missbrauch jedoch ein wichtiger Faktor im Bedingungsgefüge sein. Meist ist (sexueller) Missbrauch Teil eines Risikofaktorenbündels (gestörte Familienverhältnisse, sexuelle und/oder körperliche Misshandlungen, fehlende soziale Unterstützung). Eine derartige Bündelung erhöht die Wahrscheinlichkeit von psychopathologischen Symptomen im Erwachsenenalter und ist entscheidender als der alleinige Missbrauch (Rind 1998).
10.5
Psychopathologische Modelle
Geschichtlich entwickelten sich 4 grundlegende Modelle (Paradigmen; Kuhn 1973), die darauf hinzielen, seelische Störungen psychosozial zu erklären und zu verstehen. Auf das medizinisch-biologische Modell wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Die Modelle, das kognitiv-behaviorale Modell, das psychodynamische Modell, das humanistisch-existenzielle Modell und das sozial-interaktionelle Modell, geben uns Leitlinien für die psychotherapeutische Behandlung seelischer Störungen in die Hand. Da diese Modelle von unterschiedlichen Grundannahmen ausgehen, widersprechen sie einander teilweise. Zunehmend werden aber Konvergenzen deutlich: Die Verhaltenstherapie befasst sich mehr und mehr mit der Beziehung (Interaktion), während tiefenpsychologischanalytische Therapeuten Verhalten stärker berücksichtigen. Das Verständnis seelischer Störungen ist umso vollständiger, je mehr die unterschiedlichen Ansätze einbezogen werden.
10
252
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
10.5.1
Verhaltens- und Kognitionsmodell
Der Großteil unseres erworbenen Verhaltens ist konstruktiv und adaptiv, es hilft dem Menschen, die an ihn gestellten Aufgaben zu erfüllen und ein produktives Leben zu führen. Ebenso können jedoch ungünstige Verhaltensweisen gelernt werden. In der Lerntheorie werden seelische Störungen als Folge unerwünschter oder fehlender Lernprozesse angesehen. Vier grundlegende lerntheoretische Mechanismen sind von Bedeutung: Klassisches Konditionieren (CC). Bei genügend häufiger
10
gleichzeitiger Darbietung eines neutralen Reizes mit einem Stimulus, der reflexartige physiologische Reaktionen auslöst (UCS), gelingt es dem neutralen Reiz alleine, die physiologische Reaktion hervorzurufen. Der neutrale Reiz wird zum konditionierten Stimulus (CS). In seinem klassischen Versuch gelang es Pawlov (1849–1936), die Speichelsekretion, die reflektorisch beim Fressen im Mund des Hundes auftritt (UCS), durch einen Glockenton auszulösen (CS). Konditionierte Stimuli können sich ausbreiten (Generalisierung), so dass nicht nur der Glockenton sondern z. B. alle hellen Töne die Reaktion auslösen. In der Regel verschwindet die Konditionierung wieder (Extinktion), kann aber manchmal sogar stärker werden. In Experimenten gelang es, unterschiedlichste autonome Funktionen bis hin zum Immunsystem zu konditionieren (Ader u. Cohen 1975). Verfehlte Lernvorgänge und daraus erfolgende Symptomentstehung wurden erstmals in dem klassischen Versuch von Watson u. Rayner (1920) nachgewiesen: Spiel mit dem Kaninchen → erschrecken mit einem Gong → Angst vor Kaninchen → Generalisierung der Angst auf alles Fellartige, Bauschige → Weiterbestehen der Konditionierung über einen Monat hinaus. Während das übliche klassische Konditionieren viele Darbietungen benötigt, erfordert die überlebenswichtige Angstkonditionierung meist jedoch nur einige Erfahrungen um wirksam zu werden und ist sehr schwer löschbar (Le Doux 1998). Operantes (instrumentelles) Konditionieren. Verhalten
kann durch positive oder negative Verstärkung (direkte Belohnung oder Bestrafung) beeinflusst werden. Operantes Konditionieren gilt für den Bereich des willkürlichen Nervensystems (motorisches und verbales Verhalten). Verhaltensforscher gehen davon aus, dass vielfältige menschliche Verhaltensweisen durch operante Konditionierung erworben werden und sich seelische Störungen auch infolge von Verstärkungen entwickeln (z. B. Alkohol- und Drogenmissbrauch; Skinner 1989). Andererseits können gestörte Verhaltensweisen durch operantes Konditionieren (Ignorieren ungewöhnlicher Verhaltensweisen bei schizophrenen Patienten
oder konsequente Belohnung des angemessenen Verhaltens) verändert werden (Braginsky et al. 1969). Soziales Lernen. Soziales Lernen wird auch als Imitationsund Beobachtungslernen bezeichnet. Am häufigsten werden durch soziales Lernen komplexe Fähigkeiten, meist soziale Fertigkeiten bis hin zu einem neuen Sozialverhalten, erlangt. Eine Fülle von alltäglichen Erlebens- und Verhaltensweisen werden angeeignet; im Experiment konnte auch aggressives Verhalten durch soziales Lernen erworben werden (Bandura 1976). Einsichtiges Lernen. Komplexes kognitives Lernen findet sich bereits im Tierreich (z. B. Aufbau kognitiver Landkarten). Konzeptuelles und einsichtiges Lernen ist bei höheren Tieren zu finden. Kognitiv und emotional einsichtiges Lernen (und dessen Überlieferung) ist für den Aufbau sozialer Kulturen unverzichtbar.
Verhaltenstherapie Die Verhaltenstherapie gründet auf diesen lerntheoretischen Prinzipien. Zweifelsfrei konnten experimentelle Untersuchungen belegen, dass einzelne psychische Störungen durch Lernprozesse entstehen können. Der Nachweis jedoch, dass psychopathologische Symptome in der Regel durch gestörtes Lernen erworben werden, steht aus. Zwar können Phobien im Tierexperiment durch klassisches Konditionieren hervorgerufen werden, phobische Patienten erinnern sich jedoch nicht in allen Fällen an ein Konditionierungsereignis. Des Weiteren hat die Art des Stimulus bzw. die Situation einen deutlichen Einfluss auf den Prozess der Konditionierung und es bestehen erhebliche interindividuelle Unterschiede in der Konditionierbarkeit. Darüber hinaus werden die Grundpfeiler der Lerntheorie (Reiz, Reaktion und Verstärkung) von neueren Lernexperimenten selbst infrage gestellt (Rescorla 1988). Die Lerntheorie hat die Entwicklung der Verhaltenstherapie angeregt und gefördert. Ob jedoch die Verhaltenstherapie eine direkte Anwendung der Lerntheorie ist, bleibt umstritten (Westmayer u. Hoffmann 1977). Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Verhaltenstheorie eine heuristische (Hilfe gebend, anleitend) Funktion für die Fundierung der verhaltenstherapeutischen Praxis besitzt (Perrez u. Zbinden 1996). Grundsätzlich sprechen aber alle psychotherapeutischen Schulen dem »therapeutischen Lernen« eine entscheidende Bedeutung für den psychotherapeutischen Prozess zu (Strupp 1986).
Kognitive Psychologie Die kognitive Psychologie versucht, die grundlegenden Mechanismen des menschlichen Denkens zu beschreiben, ihre Funktionsweise zu entschlüsseln und Zusammenhänge von bestimmten Denk- und Verhaltensstörun-
253 10.5 · Psychopathologische Modelle
gen aufzuzeigen. Ausgehend von der Untersuchungsmethode der Introspektion (Wundt 1832–1920) und der Psychophysik (Fechner 1801–1889) entstand die Kognitive Psychologie ab 1950 (»cognitive psychology«, Neisser 1967; zur Übersicht Anderson 1996). Angeregt von den Entwicklungen der Informationstheorie, der künstlichen Intelligenz und der Linguistik, wuchs die Notwendigkeit, kognitive Prozesse beim Menschen zu verstehen. Die Inhalte der Kognitiven Psychologie sind die Prozesse der Informationsverarbeitung, der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit, der Wissensrepräsentation und des Gedächtnisses, des Problemlösens und des logischen Denkens sowie der Sprache und des Sprachverständnisses. Mehr und mehr Bedeutung gewinnen »soziale Kognition«, also die Art und Weise der bewussten Vorstellungen über die soziale Welt, v. a. über die Beziehungen (Silbereisen u. Zinnecker 1999). Soziale Kognitionen werden in Schemata von Beziehungen abgespeichert und bestimmen als Modelle das soziale Handeln. Zur tiefenpsychologisch-analytischen Objektbeziehungspsychologie mit ihren Repräsentanzen bestehen weite Überschneidungsbereiche. Die Objektbeziehungspsychologie schließt jedoch die unbewussten Anteile mit ein. Kognitive Prozesse lassen sich unterscheiden in automatische Prozesse, die keine Aufmerksamkeit erfordern, und kontrollierte Prozesse, die Aufmerksamkeit beanspruchen. Viele Aspekte des motorischen Handelns (z. B. Auto fahren) und des Sprachverstehens laufen automatisch ab. Handlungen und Wissen organisieren sich in Strukturen, die sich veränderten Umweltbedingungen und Erfahrungen anpassen können. Diese Strukturen beinhalten Pläne und Schemata. Schemata sind umfassende Organisationseinheiten von Wahrnehmung, Denken und Handeln.
Entwicklung kognitiver Fähigkeiten nach Piaget Die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten wurde erstmals – und in vielen Bereichen auch heute noch gültig – von J. Piaget (1896–1980) beschrieben: Vom Kleinkind ausgehend lässt sich der Erwerb der kognitiven Fähigkeiten in 4 Stufen einteilen: Im 1. Lebensjahr, der sensomotorischen Stufe, entwickeln Kinder erste Schemata über die Welt; In der 2., der präoperationalen Stufe (2.–7. Lebensjahr), wächst die Fähigkeit des Kindes zu internalem Denken über die Welt, systematisches Denken fehlt hingegen noch; In dem Zeitraum zwischen dem 7. und 11. Lebensjahr entwickelt sich in der konkret-operationalen Stufe die Fähigkeit, mentale Operationen zu systematisieren;
Die Fähigkeit, abstrakt zu denken, vollendet sich in der 4., der abstrakt-operationalen Stufe vom 11.–15. Lebensjahr (zur Übersicht und Kritik s. Resch 1996).
Kognitiv-behaviorale Therapie Aufbauend auf der Lerntheorie und der Kognitiven Psychologie entwickelte sich die Kognitiv-Behaviorale Therapie (KBT), die Lernprozesse und die nicht »sichtbaren« kognitiven Prozesse als ursächlich sowohl für das normale als auch gestörte Erleben und Verhalten ansieht. Der Schwerpunkt liegt dabei mehr auf den inneren Gedankenprozessen (Kognitionen, Attributionen) als auf den Verhaltensprozessen. Kognitive Theorie und Attributionstheorie gehen von gemeinsamen Grundannahmen aus: Kognitionen beeinflussen Verhalten und Emotionen, irrationale Kognitionen/Attributionen führen zu Störungen, irrationale Kognitionen können verändert werden und damit verändern sich die jeweiligen Störungen. Gestörtes Erleben und Verhalten wird als Folge »fehlangepasster Annahmen oder Einstellungsprozessen« (Ellis 1962), »negativer Gedanken« (Beck 1967; Meichenbaum 1977) oder »unlogischer Denkprozesse« (Beck 1967) angesehen (⊡ Tab. 10.10). Attributionstheorie. Ein weiteres Ursachenbündel be-
schreibt die aus der Sozialforschung stammende Attributionstheorie: Menschen erklären Dinge und Vorgänge, indem sie ihnen üblicherweise bestimmte Ursachen zuschreiben (attribuieren). Diese kausalen Attributionen beeinflussen das Denken über andere Menschen – einschließlich des Eindrucks von der eigenen Person. Gegenstand sind die »naiven« Theorien, mithilfe derer Menschen ihre Lebensereignisse und ihr Leben verstehen, erklären und vorhersagen (Heider 1958).
⊡ Tab. 10.10. Drei Grundannahmen des kognitiven Modells zur Erklärung gestörten seelischen Verhaltens Fehlangepasste Annahmen
Grundlegende irrationale Annahmen führen zu unangepasstem Verhalten, z. B. »ich muss erfolgreich sein um wertvoll zu sein" oder "Menschen haben keinen Einfluss auf ihr Leben«
Negative automatische Gedanken
Negative Gedanken in Bezug zur eigenen Person, Umwelt und Zukunft (kognitive Triade der Depression); negative selbstbezogene Behauptungen (»warum immer nur mir?«)
Unlogische Denkprozese
Selektive Wahrnehmung (z. B. nur das Negative sehen), Überbewertung und Übergeneralisierung (ein Ereignis führt zu umfassenden Schlussfolgerungen)
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Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
Theorie der »erlernten Hilflosigkeit«. Klinische Bedeu-
Definition der Psychodynamik
tung erlangt hat die Theorie der »erlernten Hilflosigkeit« (Seligman 1979): Ein Organismus, der nicht kontrollierbaren Belastungen (z. B. elektrischen Schlägen) ausgesetzt ist, bildet die Erwartung, dass auch zukünftige Ereignisse von ihm nicht kontrolliert oder gesteuert werden können (Erwartung der Nichtkontrollierbarkeit), und diese Antizipation führt dann zu Hilflosigkeit. Die Bedeutung dieses Konzepts für die Entstehung von depressiven Störungen ist empirisch noch nicht hinreichend geklärt. Noch unklarer ist die Frage, wie sich unterschiedliche Attributionsstile entwickeln, eine Frage, die auch generell für die kognitiven Theorien gilt.
Psychodynamisches Denken hat das Verständnis und die Therapie von seelischen Störungen tiefgreifend geprägt. Bereits vor Freud hatten Dichter, Philosophen und Wissenschaftler die Bedeutung des Unbewussten erkannt. Sigmund Freuds (1856–1939) Pioniertat war der Entwurf einer Theorie des Unbewussten, um normales und gestörtes Erleben und Verhalten zu verstehen. Der psychodynamische Gesichtspunkt besagt, dass unser Handeln und Fühlen von unbewussten inneren Motiven gesteuert wird: Verhalten ist damit nicht nur von außen bestimmt, sondern ebenso von inneren Wünschen, Fantasien und Gefühlen. Diese sind überwiegend nicht bewusst, vom Betroffenen nicht wahrnehmbar. Alle diese Prozesse, die dem Bewusstsein verschlossen sind, die aber das konkrete Leben mitgestalten, werden als Psychodynamik bezeichnet. In der klinischen Tätigkeit wird das psychodynamische Modell unverändert am breitesten angewandt (Hoffmann u. Schüßler 1999). Über diese Grundannahme hinaus haben sich die verschiedenen tiefenpsychologischen und psychoanalytischen Schulen theoretisch und klinisch sehr unterschiedlich weiterentwickelt. Es existiert kein Rahmengerüst für eine umfassende psychoanalytische Theorie und Praxis. Freud selbst revidierte während seines Lebens seine Vorstellungen und Erkenntnisse mehrfach.
Empirie kognitiver Theorien
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Empirische Befunde bestätigen die kognitiven Theorien bisher in folgenden Bereichen: Depressive Patienten erinnern sich bevorzugt an negative Ereignisse und negative Beschreibungen ihrer eigenen Person. Depressive zeigen Defizite im Bereich des Gedächtnisses und beim Problemlösen. Die Stimmung depressiver Patienten verbessert sich, wenn ihnen einfache bewältigbare Aufgaben gestellt werden, gleichzeitig nehmen depressionsfördernde Gedanken ab. Bei Angststörungen sind folgende Ergebnisse gesichert: Angstpatienten wenden ihre Aufmerksamkeit bevorzugt bedrohlichen Informationen und Reizen zu, bedrohliche Gedächtnisinhalte sind eher aktivierbar und mehrdeutiges Reizmaterial wird bevorzugt als gefährlich interpretiert. Angstreaktionen sind durch angstbesetzte Reize selbst dann auszulösen, wenn die Angstauslöser nicht bewusst wahrgenommen werden können (Ehlers u. Lüer 1996). Die ursächliche Bedeutung der Veränderung depressiver Kognition im Rahmen der kognitiven Therapie in der Behandlung der Depression konnte jedoch nicht bestärkt werden; auch bei Gabe von Antidepressiva (oder anderer Therapieformen) verändern sich depressive Kognitionen, die depressiven Kognitionen sind Teil des depressiven Zustands.
10.5.2
Das psychodynamischpsychoanalytische Krankheitsmodell
In ihrer nun über 100-jährigen Geschichte hat die Tiefenpsychologie und Psychoanalyse ein reiches Wissen über die Entstehung von Konflikten und Störungen und deren Behandlung erarbeitet. Psychoanalyse und Tiefenpsychologie sind dabei Oberbegriffe einer Vielzahl von Schulen und Richtungen, die in ihrer Arbeitsweise psychodynamische Vorgänge – also die Existenz unbewusster Prozesse – anerkennen.
Grundlagen einer psychodynamischen Neurosenlehre und Psychotherapie 1. Psychologie des Unbewussten 2. Die Konflikt- und Objektpsychologie mit dem biografischen Gesichtspunkt (alles Verhalten ist Teil einer biographischen Reihe und stammt aus sozialen Interaktionen) 3. Die Bedeutung von Übertragung und Gegenübertragung 4. Die hilfreiche Beziehung als Grundlage des therapeutischen Prozesses
»Klassische Theorie« Freuds Freud ging anfangs von angeborenen Trieben aus, wobei er 2 biologische Grundtendenzen beschrieb: 1. Die Selbsterhaltung (Ich-Triebe) und 2. die Libido (sexuelle Energie) mit all ihren Schattierungen des Begehrens, der Liebe, der Eifersucht und der zärtlichen Sehnsucht. Diese Libido bestimmt das Verhalten und Erleben des Menschen von Geburt an entscheidend. Die frühkindlichen Entwicklungsphasen und die damit verbundenen Konflikte wurden als orale, anale, ödipale oder genitale Phase bekannt. Misslungene Entwicklungen wurden in-
255 10.5 · Psychopathologische Modelle
terpretiert als Fixierungen, dem Festhalten an infantilen Konflikten. Die Grundannahme dieses »Fixations-Regressions-Modells«, dass Fixierungen auf einer gewissen Stufe mit bestimmten Neurose- und Charakterformationen einhergehen, z. B. eine orale Fixierung mit einer depressiven Störung, kann heute nicht mehr aufrecht erhalten werden. Dies schmälert die Bedeutung der konflikthaften Entwicklungsthemen jedoch nicht. Über das Libidomodell hinausgehend werden heute unterschiedliche Motivationssysteme als Quelle unterschiedlicher Konfliktbereiche beschrieben (Arbeitskreis OPD 2006). Es gibt grundlegende Themen der menschlichen Konflikthaftigkeit, wie z. B. Individuation vs. Abhängigkeit, die im Laufe der Entwicklung eines Menschen immer wieder erscheinen. Dies entspricht dem bereits von Anna Freud (1965) entworfenen Konzept einer kontinuierlichen, lebenslangen Entwicklung, den »Entwicklungslinien«: Immer wiederkehrende konflikthafte Erfahrungen führen zu pathologischen Erlebens- und Interaktionsmustern, die als zeitlich überdauernde konflikthafte Erlebens- und Verhaltensweisen (neurotisches Erleben) erkennbar sind.
Dreiinstanzenmodell Zum weiteren Verständnis auch des Gesunden, führte Freud psychische Strukturen (Instanzen) ein, denen er spezifische Aufgaben und Eigenschaften zuschrieb. Das klassische Dreiinstanzenmodell umfasst Es, Ich und Über-Ich. Es. Das Es ist Quelle aller Antriebe und steht unter Herrschaft des Lustprinzips. Das Es arbeitet im Wesentlichen unbewusst und enthält alle vorbewussten und verdrängten Inhalte, also Vorstellungen und Gefühle, die unser Wachdenken stören (sei es, dass sie belastend sind oder verboten erscheinen) und die aus dem Bewusstsein verbannt werden. Diese ins Es verdrängten Inhalte behalten ihre Wirksamkeit und müssen ständig in Schach gehalten werden. Verdrängte Erlebnisinhalte erscheinen nicht nur in einer neurotischen Symptombildung, sondern auch im täglichen Leben eines jeden Menschen z. B. in Fehlhandlungen oder Träumen. Ich. Das Ich arbeitet gemäß dem Realitätsprinzip in der Auseinandersetzung mit den Trieben. Das Ich bedient sich der Abwehrmechanismen, die der Vermeidung von Angst und Unlust auslösenden Vorstellungen und Gefühlen dienen. Die grundlegenden Beschreibungen der Abwehrmechanismen gehen auf Anna Freud (1936) zurück. Abwehrmechanismen sind Überlebens- und Anpassungsleistungen des Menschen; erst der fehlende oder übermäßige Einsatz von Abwehr führt zu Störungen. Grundsätzlich kann jedes Verhalten im Sinne der Abwehr eingesetzt werden (⊡ Tab. 10.11).
Über-Ich. Das Über-Ich entwickelt sich als innerseelischer
Niederschlag der Gebote und Verbote, die wir im Laufe unserer Entwicklung erfahren. Inhalt und Gestalt nimmt das Über-Ich aus den Erfahrungen des Ichs im Umgang mit den Konflikten durch die Identifikation mit den Werten der Eltern und der Gesellschaft an. Das Über-Ich enthält dementsprechend Verbote, Einschränkungen und Strafimpulse, wobei es nicht zwischen Wunschgedanken oder Tat unterscheidet. Freud selbst hat das Über-Ich mit dem Gewissen gleichgesetzt. Bewusste und unbewusste Konflikte. Laut Freud erwach-
sen Spannungen, Konflikte und neurotische Symptome aus den äußeren Anforderungen, die an Menschen gestellt werden und den inneren Spannungen zwischen Es, Ich und Über-Ich. Widerstrebende innerseelische und zwischenmenschliche Interessen sind ein Grundbestand des menschlichen Lebens. Grundsätzlich meint Konflikt das Aufeinandertreffen entgegengesetzter Verhaltensund Erlebenstendenzen (Motivation, Bedürfnisse, Wünsche). Konflikte können der bewussten Wahrnehmung zugänglich aber auch unbewusst sein, psychodynamisch (unbewusst) wirksame Konflikte sind von bewussten »dysfunktionalen« Konflikten der Kognitionspsychologie zu unterscheiden. Ursächlich für die Entstehung seelisch unbewusster Störungen sind Konflikte, die nicht bewältigt und integriert werden können. Das Unbewusste (Freud: Trieb und Verdrängtes) hat eine erhebliche Erweiterung erfahren: Teile der symbolisch-deklarativen und emotional-prozeduralen Verarbeitungsprozesse sind dauerhaft unbewusst (Schüßler 2002).
Beispiel Eine Mutter wünscht sich, dass ihr 4-jähriger Sohn mittags schlafen solle. Der Sohn ist jedoch recht munter und möchte nicht schlafen. Diese Mutter beginnt nun, mit sich selbst zu ringen, ob sie ihre Bedürfnisse über die des Kindes stellen solle, also ihrem Bedürfnis nach Ruhe und Erholung nachgehen und das Kind mit Gewalt ins Bett bringen solle (innerer bewusster Konflikt). Um einen inneren unbewussten Konflikt handelt es sich dann, wenn bei der Mutter Ängste und Schuldgefühle auftreten, die sie sich nicht erklären kann. Den Gewissensanforderungen, eine ideale Mutter zu sein, stehen unbewusste Gefühle entgegen, wie z. B. »ich möchte, dass mein Kind von mir alles bekommt« vs. »der soll es so hart haben wie ich in meiner Kindheit«. Der innere unbewusste Konflikt besteht also aus gegensätzlichen Antrieben, Vorstellungen und Gefühlen, die sich im Leben eines Menschen immer wiederholen. Die Wiederbelebung der verinnerlichten ungelösten Konfliktmuster erfolgt in »auslösenden Situationen«; in solchen Situationen wird der Konflikt wiederbelebt (Versuchung vs. Versagung).
10
256
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 10.11. Diagnostik der Ich-Funktionen. (In Anlehnung an Bellak u. Goldsmith 1984)
10
Realitätsprüfung (Wahrnehmung)
Die Fähigkeit, innere und äußere Reize adäquat zu beurteilen
Urteilen
Fähigkeit, das eigene Tun und Handeln vorauseilend zu antizipieren und zu beurteilen
Sinn für Realität, Welt und Selbst
Das adäquate innere Erleben der äußeren/inneren Welt mit Aufrechterhaltung von Ich-Grenzen
Regulierung und Kontrolle von Impulsen
Fähigkeit, Gefühle und Antriebe zu steuern
Fähigkeit zu Objektbeziehungen
Die Fähigkeit, Kontakte aufzubauen und Beziehungen aufrechtzuerhalten und wechselseitig zu gestalten
Adaptative Prozesse
Die Fähigkeit, sich mittels Denken und Probehandeln an die äußere Notwendigkeit anzupassen bzw. sie umzugestalten
Adaptative Regression am Dienste des Ichs
Die Fähigkeit, sich regressiven Zuständen kontrolliert hinzugeben
Defensive Funktionen
Adäquater Einsatz von Abwehrmechanismen
Reizschutz
Die Fähigkeit, innere und äußere Reize zu kontrollieren
Autonomes Funktionieren
Die wesentlichen Prozesse, wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denken, Sprechen und Motorik sind in ihrer Entwicklung und Ausübung nicht durch Konflikte beeinträchtigt
Synthetischintegrative Funktion
Die Fähigkeit, die unterschiedlichen konflikthaften Forderungen von Über-Ich, Ich und Es in Einklang zu bringen
Meisterhaft und kompetent
Das Ausmaß und die Fähigkeit, mit Situationen umzugehen und Hindernisse zu überwinden
Es ist jedoch nicht die objektive Schwere und Wertigkeit einer Belastung (»life event«) gemeint, sondern der subjektive Bedeutungsinhalt, der die persönlich ungelösten Konflikte wiederbelebt. Ist eine Lösung des Konflikts nicht möglich, kommt es zur Symptombildung als unzureichender, jedoch bestmöglicher Lösung. Primärer und sekundärer Krankheitsgewinn. Die entste-
henden neurotischen Symptome stellen eine missglückte Konfliktlösung dar. Die Entlastung von der Konfliktspannung wird als »primärer Krankheitsgewinn« bezeichnet. Demgegenüber resultiert der »sekundäre Krankheitsgewinn« aus dem objektiven Vorteil durch Symptome, z. B. der verstärkten Zuwendung des Ehepartners, der Krankschreibung oder der Rente.
⊡ Abb. 10.11. Psychodynamisches Konfliktmodell zur Erklärung einer neurotischen Störung. (Aus Schüßler 2005)
Kompromissbildung. »Kompromissbildung« meint den
Versuch des Ichs zwischen allen Seiten, den Wünschen und der äußeren Realität einen Kompromiss, eine Lösung herbeizuführen. In die Kompromissbildung gehen also sowohl der konflikthafte Wunsch als auch die Abwehr ein (⊡ Abb. 10.11).
10.5.3
Weiterentwicklung des psychodynamischen Konfliktmodells
Die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (Arbeitskreis OPD 1996, 2006) stellt den Versuch dar, die klassische Konfliktdynamik dem heutigen Kenntnisstand und den klinischen Bedürfnissen anzupassen. Vor dem Hintergrund der bisherigen psychoanalytischen Forschung sowie der Erkenntnisse der Neurobiologie und Kleinkindforschung sind in der Operationalen Psychodynamischen Diagnostik wesentliche Konfliktfelder definiert. Als Grundeinheit benutzt dieses Modell die konflikthafte Interaktionserfahrung eines Menschen: Individuation vs. Abhängigkeit, Kontrolle vs. Unterwerfung, Versorgung vs. Autarkie, Selbstwertkonflikt, Schuldkonflikt, ödipaler Konflikt, Identitätskonflikt. Auf traditionelle psychoanalytische Termini wird aufgrund der engen Bindung an entwicklungspsychologische Annahmen und aufgrund schulenspezifischer Fehldeutigkeit verzichtet. Diese zeitlich überdauernden unbewussten Konflikte entstehen vor dem Hintergrund der
257 10.5 · Psychopathologische Modelle
basalen Motivationssysteme als Niederschlag der konflikthaften interaktionellen Beziehungserfahrungen. Diese Beziehungserfahrungen bedingen Erlebnismuster eines Menschen, die in entsprechenden Situationen immer wieder zu ähnlichen Verhaltensmustern führen, ohne dass dies dem Menschen bewusst wäre. Diese »inneren unbewussten zeitlich überdauernden Konflikte« lassen sich erschließen im Erleben und Verhalten des Menschen, in der Übertragung und Gegenübertragung sowie durch leitende Affekte, d.h. im Vordergrund stehen Gefühle, wie z. B. Ärger und Wut bei einer narzisstischen Kränkung. Eine Wiederbelebung der konflikthaften Beziehungen und Bedürfniserfahrung löst Angst aus und verursacht damit komplexe Abwehrmaßnahmen, die bei Misslingen zu neurotischen Störungen führen. Klinisch bedeutsam sind 4 Grundformen der Angst: 1. Trennungsangst, d. h. die Angst vor Verlust der versorgenden Bezugsperson, 2. Angst vor Liebesverlust, d. h. die Angst vor Verlust der Liebe und Zuneigung, 3. Angst vor Strafe und 4. Angst vor Verletzung, d. h. die Angst vor Zerstörung oder Verlust der körperlichen Integrität.
10.5.4
Ich- und Objektbeziehungspsychologie
Eine wesentliche Erweiterung erfuhr das klassische psychodynamische Modell mit der Ich-Psychologie. In dieser wird das Ich als unabhängige und stärkere Kraft gesehen und die Entwicklung der Ich-Funktionen als unabhängig von Trieben (Konflikten) angenommen. Mittels dieser Ich-Funktionen stellt das Ich den Kontakt zur Realität her und gewährleistet Anpassung. Ich-Funktionen umfassen Gedächtnis und Wahrnehmung. Es besteht ein breiter Überschneidungsbereich zu den Ergebnissen der Kognitionspsychologie (⊡ Tab. 10.12).
⊡ Tab. 10.12. Grundbegriffe der Objektbeziehungspsychologie Ich
Zentrale Organisationseinheit des Seelischen
Selbst
Gesamtheit der Vorstellungen einer Person von sich selbst: Realselbst, Idealselbst, Selbstwert, Selbstidentität
Charakterstruktur
Typologische Beschreibung von charakterlichen Erlebens-/Verhaltensweisen mit einem Kontinuum vom Gesunden bis zur Charakterneurose oder Neurosenstruktur
Struktur des Ich, des Selbst und der Objektbeziehungen
Entwicklung und Störungen des Selbst in den Beziehungen zu Objekten
Begriff des Objekts nach Balint Zunehmend Anerkennung fand jenseits einer triebtheoretischen Betrachtung des Weiteren das grundlegende Bedürfnis des Menschen nach zwischenmenschlich tragenden Beziehungen. Dieses Bedürfnis beschrieb Balint bei Säuglingen als primäre »Objektliebe«. Der Begriff Objekt meint dabei nicht mehr die Sichtweise Freuds (der Bezugspartner als Ziel der Triebregung), vielmehr wird die Gesamtheit der in Realität und Phantasie sich darstellenden Beziehungen eines Menschen angesprochen: Die interpersonellen Beziehungen eines Menschen werden verinnerlicht und wandeln sich in psychische Strukturen (internalisierte Objekte). Endpunkt dieser Entwicklung ist der Aufbau eines intakten Selbst. Störungen zeigen sich in Defekten des Selbstsystems (Selbstwert, -identität und -repräsentanzen als Summe der inneren Bilder von sich selbst). Die innere Welt der Objekt- und Selbstrepräsentanzen bestimmt die Beziehung eines Menschen zu seiner Außenwelt. Störungen dieser Entwicklung werden als »strukturelle Ich-Störungen« bezeichnet.
Psychische Struktur Psychische Struktur meint die für den Einzelnen typische Disposition des Erlebens und Verhaltens. Der Begriff Struktur zeigt eine breite Überschneidung zu Begriffen wie Identität, Charakter oder Persönlichkeit (⊡ Tab. 10.12). Psychische Strukturen gründen sich auf angeborene Persönlichkeitsdispositionen, werden aber während der Kindheit und Jugend geformt und unterliegen im Verlauf des Lebens mehr oder weniger großen Veränderungen – obwohl der Eindruck von Konstanz überwiegt. Die Objektbeziehungsstruktur, also die Struktur des Ichs, des Selbst und der Beziehungen, muss abgegrenzt werden von traditionellen Begriffen wie Charakterstruktur oder Neurosenstruktur.
Modell des Entwicklungsschadens In Ergänzung des Modells vom Entwicklungskonflikt geht die Objektbeziehungspsychologie vom Modell des Entwicklungsschadens aus. Es geht hierbei um die Auswirkungen der Nichtberücksichtigung kindlicher Grundbedürfnisse für die Entwicklung des Selbst, der Ich-Funktionen und der Objektbeziehungen. Diese Entwicklungsbedingungen verhindern eine hinreichende Reifung und führen zu strukturellen Ich-Störungen, also Defiziten in der Entwicklung des Ichs und des Selbst. Die Konzepte des dynamischen Konflikts und des strukturellen Entwicklungsschadens sind keine gegensätzlichen, sondern sich ergänzende Vorstellungen (⊡ Abb. 10.12). Misslungenen Objektbeziehungserfahrungen werden bei der Enstehung schwerer Persönlichkeitsstörungen (wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung) eine wichtige Rolle zugeschrieben.
10
258
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
bietet erhebliche Schwierigkeiten. Es überrascht daher nicht, dass psychodynamische Theorien bisher nur zum Teil wissenschaftlich überprüft wurden und die überwiegende Zahl der Ergebnisse aus Einzelfall- und Therapiestudien besteht. Das psychodynamische Theorie- und Praxisgerüst ist zur Weiterentwicklung aufgerufen. Notwendige Schritte sind die Einarbeitung der Erkenntnisse von Grenzgebieten, wie z. B. der Entwicklungs-, Emotions- und Sozialpsychologie und die verbesserte empirische Überprüfung.
⊡ Abb. 10.12. Struktur und Konflikt in der Entstehung seelischer
10.5.5
Das humanistisch-existenzielle Modell
Störungen
Konflikt und Struktur stellen in diesem Verständnis Pole einer klinischen Ergänzungsreihe dar. Zeitüberdauernde unbewusste Konflikte sind an bestimmte Ichstrukturelle Voraussetzungen geknüpft, ohne die ein solcher Konfliktprozess nicht möglich ist. Bestehen hingegen deutliche Ich-strukturelle Störungen, überwiegen Störungen der Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, der Abwehr, der Objektwahrnehmung, der Kommunikation und Bindung (Arbeitskreis OPD 2006).
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Ich-struktuelle Störungen. Die Entstehung Ich-struktu-
reller Störungen ist nicht auf die frühe Kindheit begrenzt. Derartige Störungen können ebenso zurückgehen auf angeborene körperliche Behinderungen und Eigenarten oder können Folge einer langen Entwicklungsgeschichte von Ablehnung, Missachtung, Verlusterfahrung und Kränkungen sein. Entwicklung vollzieht sich also auch in diesem Bereich in Entwicklungslinien und -reihen, die ein Leben lang weiterwirken. Unterschiedliche Entwicklungsbedingungen und -linien können letztendlich zu einer Störung führen. Dies sei am Beispiel der Selbstwertstörung dargelegt: Selbstwertstörungen können völlig unterschiedliche Entwicklungsbedingungen haben: Ein Kind kann sehr früh seine Mutter verlieren (Beziehungsverlust), die Mutter kann nicht in der Lage sein, auf die Bedürfnisse im Sinne einer wechselseitigen Stimulierung und Pflege einzugehen (fehlende Bedürfnisbefriedigung, fehlende Bindung), die Mutter ist nicht in der Lage, das Selbstwerterleben des Kindes zu fördern (Selbstwertaufbau) oder dem Kind wird in der Schule vermittelt, dass es den Normen und Ansprüchen der Eltern in keiner Weise genügt (Selbstwertminderung). Das psychodynamische Modell weist neben seiner Bewährung in der klinischen Praxis aber auch Lücken und Begrenzungen auf. Unbewusste Prozesse zu untersuchen,
Die humanistische Psychologie, die mit ihren Begründern (Rogers, Horney, Maslow u. a.) untrennbar verbunden ist, geht von einem phänomenologisch-subjektivistischen Zugang aus. Dabei wird die Person als Ganzes in ihrer übergreifenden Zielorientierung, in ihrer jeweiligen Individualität erfasst. Mehr als in den anderen Modellen wird hierbei die Bedeutung der persönlichen Fähigkeiten und Potenziale (Ressourcen) betont. Die humanistische Grundannahme besagt, dass der Mensch von Natur aus gut ist und über eine Fülle von meist ungenutzten Fähigkeiten verfügt. Entwicklung dient dem Ziel der Selbstverwirklichung, der Selbsterfüllung und dem persönlichen Wachstum. Abgegrenzt von den anderen Modellen ist das Verständnis von seelischer Störung und Gesundheit. Das humanistische Modell verfügt über keine eigene Krankheitslehre, in der seelische Störungen auf gewisse Bedingungen zurückgeführt werden, vielmehr werden die Schwierigkeiten bei der Bewältigung von aktuellen Lebensproblemen als ursächlich angesehen. Damit ist die Grenze zwischen »psychisch gesund« und »psychisch krank« nur in dem Maße gegeben, indem eine Person in der Lage ist, diese Schwierigkeiten im Rahmen eines Anpassungsprozesses zu bewältigen. Rogers Theorie der Entstehung psychischer Störungen.
Gemäß den Vorstellungen von Rogers (1902–1987) beginnen psychische Störungen in der Kindheit und sind Folge eines nicht erfüllten grundlegenden Bedürfnisses nach positiver Wertschätzung durch die Bezugspersonen. Derartige Menschen sind unfähig, sich selbst anzunehmen und zu einer positiven Selbstbewertung zu gelangen. Ständige Selbsttäuschung und eine fehlende Selbstverwirklichung sind die Folge und führen in Krisensituationen zu psychischen Schwierigkeiten. Das humanistische Modell ist noch weniger als andere Theorien kein einheitliches Gebäude, sondern umfasst unterschiedliche Konzeptionen und Schulen, die z. T. in ihren Grundannahmen nicht übereinstimmen (z. B. Gesprächspsychotherapie vs. Gestalttherapie). Das idealisti-
259 10.5 · Psychopathologische Modelle
sche und optimistische Bild des Menschen, das alle individuell und sozial schädigenden Verhaltensweisen als Ergebnis falscher Sozialisation betrachtet, wird von anderer Seite immer wieder problematisiert und kritisiert.
Existenzialistisches Modell Die existenzialistische Sicht der Persönlichkeit und ihr Verständnis psychischer Störungen gehen von den Ideen der europäischen Existenzphilosophen wie Karl Jaspers (1883–1969) oder Jean-Paul Sartre (1905–1980) aus. Auch im existenzialistischen Modell werden psychische Störungen auf Selbsttäuschungen zurückgeführt. Diese Selbsttäuschung besteht in einer Flucht vor der Verantwortung, das eigene Leben sinnvoll zu gestalten und persönliche Verwirklichung zu suchen. Die Selbsttäuschung führt zu einem nicht authentischen Leben mit Gefühlen der Angst, Entfremdung und Depression. Emotionale Belastungen, Verwirrungen und Konflikte führen dann zu existenziellen Krisen. Selbstakzeptanz, Sinn des Lebens und persönliche Entscheidungsfreiheit sind für ein unbeeinträchtigtes Erleben und Verhalten notwendig. Diese Aspekte sind jedoch der empirischen Forschung nur bedingt zugänglich, und oft werden empirische Methoden von den Vertretern dieses Modells als unzureichend abgelehnt. Über ihre grundsätzliche Dimension hinaus haben diese Modelle daher bislang wenig zu einem differenziellen Verständnis seelischer Störungen beigetragen.
10.5.6
Sozial-interaktionelle Modelle
Aus der sozial-interaktionellen Sicht entwickeln sich Erleben und Verhalten sowie Störungen durch soziale Ursachen und zwischenmenschliche Konflikte.
Bedeutung soziokultureller Faktoren für die Entstehung psychischer Störungen Allgemein besteht über dieses Modell hinaus weitgehend Übereinstimmung bezüglich der Bedeutung soziokultureller Faktoren für die Entstehung seelischer Störungen: Die Häufigkeit psychischer Störungen in unteren sozioökonomischen Schichten ist etwa 3-mal höher als in oberen (Dohrenwend et al. 1992). Ebenso führen gesellschaftliche Umbrüche, soziale Isolation oder Arbeitslosigkeit bis hin zu wirtschaftlichen Notsituationen zu einem vermehrten Auftreten seelischer Störungen. Soziokulturelle Traditionen beeinflussen oft auch die Art psychischer Störungen, so findet sich Alkoholismus in Gemeinschaften, die Trinken tolerieren (Westeuropäer), häufiger als in Kulturen, die es ablehnen (Islam). Historische und spezifische soziokulturelle Bedingungen begünstigen auch die Entstehung von Erkrankungen. So ist die Bulimia nervosa eine Störung, die an den Überfluss von Nahrung gebunden ist und erst seit den
60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts in den westlichen Ländern Verbreitung gefunden hat.
Antipsychiatrische Bewegung Die Extremposition des sozialen Modells – weit über diese gut belegten Ergebnisse hinaus – wird vertreten von Theoretikern wie Szaz (1961): Psychische Störungen werden als das Werk der Gesellschaft angesehen. Szaz vertritt die Position, dass es meist nur Lebensprobleme sind, die zu Krankheiten abgestempelt werden (diagnostisches Etikett), und diese führen dann zu entsprechenden Reaktionsweisen und zur Aufrechterhaltung von »Störungen«. Dem widersprechen gesicherte Befunde, dass gewisse Störungen von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren, die schweren psychischen Erkrankungen – wie die Schizophrenie – in allen Kulturen jedoch mit vergleichbarer Häufigkeit auftreten. Obwohl in ihrer Einseitigkeit und Ausschließlichkeit nicht richtig, hat diese »antipsychiatrische Bewegung« dazu geführt, dass die soziale Seite und die soziale Verantwortung in der Psychiatrie größere Bedeutung gewonnen haben.
Systemtheorie und Familienmodell Über diese grundsätzlichen Positionen hinaus haben zwei Ansätze des soziokulturellen Modells – die Familienund die Interaktionstheorie – klinische Bedeutung gewonnen. Mit dem Aufkommen der allgemeinen Systemtheorie (Bertalanffy 1968) wurden systemische Grundgedanken auch auf das Familiensystem angewandt. Störungen eines Individuums sind in diesem Modell Folge der Störung des Familiensystems. Die Behandlung darf daher nicht bei der Behandlung des Individuums stehenbleiben, sondern muss das System, also die Familie, miteinbeziehen. Das »Familienmodell« versucht zu erklären, wie eine Familie funktioniert (Aufgabenerfüllung, Rollenverhalten, Kommunikation, Emotionalität, affektive Beziehungsaufnahme, Kontrolle sowie Werte und Normen; ⊡ Tab. 10.13) und in welchen Bereichen die Organisation der familiären Funktion versagt und Störungen auftreten (zur Übersicht Cierpka 2003). Die Familientheorie (und Therapie) hat wichtige Beiträge geleistet. Aber auch die Familie ist eingebunden in übergreifende soziale Kontexte, und eine zu sehr auf die Familie orientierte Sichtweise birgt die Gefahr, andere mitbestimmende Faktoren zu vernachlässigen. Der systemische (Therapie-)Ansatz ist eine Betrachtungsweise, die Menschen (Organisationen u. a.) und deren Verhalten in einen systemischen Kontext stellt. Mit dem radikalen (und sozialen) systemischen Konstruktivismus gibt es keine »wahren« sondern nur passende Ereignisse und gemeinsam auszuhandelnde Realitätssichten. Eine psychopathologische Klassifikation wird daher meist (außer zur Verständigung) abgelehnt und
10
260
Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 10.13. Dimensionen zur Beschreibung von Familiensystemen. (In Anlehnung an Cierpka 2003) Aufgabenerfüllung
Die Familie muss die wesentlichen Aufgaben ihrer Mitglieder gewährleisten (materielle Versorgung, Entwicklung, Bewältigung von Krisen)
Rollenverhalten
Zuweisung und Übernahme von wiederholten Verhaltensmustern (Rolle)
Kommunikation
Wege des gegenseitigen Informationsaustausches
Emotionalität
Ausmaß und Qualität des gegenseitigen Interesses
Affektive Beziehungsaufnahme
Geschlossenheit und Offenheit der Familie, Zusammenhalt und individuelle Autonomie
Kontrolle
Aufrechterhaltung und Flexibilität der Familie (Rigidität)
Werte und Normen
Wertvorstellungen der Familie beeinflussen alle anderen Bereiche
hingezielt auf eine »Typologie störender Beziehungsmuster«. Die Schwierigkeiten, Verbindungen zu anderen Theorien und Sichtweisen herzustellen, sind augenscheinlich (Schlippe u. Schweitzer 2003).
10
Interpersonelles Modell Auch im »interpersonellen Modell« wird nicht die einzelne Person, sondern deren Beziehungsstruktur als Grundeinheit des Erlebens und Verhaltens angesehen. Interpersonelle Theorien sind in der Psychiatrie erstmals von H. S. Sullivan (1953) eingeführt worden. Für Sullivan bedeutete Psychiatrie das Studium der interpersonellen Beziehungen, die sowohl real als auch symbolisch bestehen. Gegenstand ist die interpersonelle Situation, ohne die sich eine Störung nicht entfalten kann. Psychische Krankheiten sind in diesem Verständnis Prozesse von gestörten, ja oft selbstvernichtenden Transaktionen (transaktionales Modell, s. oben).
Komplementäre Verhaltensantworten Die interpersonelle Persönlichkeitsforschung (Leary 1957) hat mehrere Grundannahmen erarbeitet (Kiesler 1983): Die interpersonellen Handlungen einer Person rufen beim Bezugspartner komplementäre Verhaltensantworten hervor, die dann zu einer Wiederholung der ursprünglichen Handlung der Person führen. Komplementäres Verhalten organisiert sich in den unterschiedlichsten Mischungen von 2 grundlegenden Verhaltenssystemen, der Achse Kontrolle vs. Unterwerfung und der Achse Liebe vs. Hass (⊡ Abb. 10.13). So ruft dominantes Verhalten, komplementär unterwürfiges, sich unterordnendes Verhalten hervor oder im antikomplementären Sinne ein kompetitives, dominantes Entgegenhalten. Die kühle kontrollierende Art eines
⊡ Abb. 10.13. Schema des »interpersonellen Kreismodells«.
Zwangspatienten führt bei seinem Interaktionspartner zu komplementären Reaktionen, dieser wird entweder dagegenhalten und kontrollieren oder sich vorsichtig zurückziehen und entziehen.
Verhalten als transaktionales Netzwerk Menschliches Verhalten wird als transaktionales Netzwerk verstanden, in dem der Auslöser die Folge beeinflusst und umgekehrt. Die Kommunikation erfolgt dabei sowohl mittels Inhalts- wie auch mittels Beziehungsebene. Im interpersonellen Modell werden die Beziehungsauffälligkeiten als der Kern und Ursprung einer seelischen Problematik oder Störung verstanden. Interpersonelle Bedingungen werden für das Zustandekommen und den Verlauf als verantwortlich angesehen. Ein wichtiger Einwand gegen eine zu betont »interpersonelle« Sichtweise ist jedoch, dass interpersonelle Auffälligkeiten auch als Folge (Phänomene) psychischer Störungen verstanden werden können. Psychische Störungen werden in der Regel von interpersonellen Schwierigkeiten begleitet, diese wirken aber nicht immer ursächlich oder verlaufsbestimmend.
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Kapitel 10 · Psychologische Grundlagen psychischer Erkrankungen
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10
11 11 Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen W. Rössler
11.1
Historischer Rückblick – 266
11.2
Art und Umfang psychischer Störungen in Europa – 267
11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5
Forschungsparadigma Schizophrenie – 267 Was sagt uns die Epidemiologie? – 268 Kulturelle Einflüsse – 268 Sozioökonomische Einflussfaktoren – 269 Einflüsse der näheren sozialen Umwelt – 270 Kritische Lebensereignisse – 271
11.4 Stigma psychischer Erkrankungen – 271 11.4.1 Psychisch krank – das Bild in der Öffentlichkeit – 271 11.4.2 Die Einstellung professioneller Helfer – 272 11.4.3 Die Sicht der Betroffenen – 273 11.4.4 Aktivitäten gegen Stigmatisierung und Diskriminierung – 273 Literatur
– 274
> > Die Sozialpsychiatrie befasst sich mit den sozialen Einflussfaktoren auf die Entstehung und den Verlauf psychischer Erkrankungen ( Kap. 3 und Kap. 12) sowie der langfristigen Betreuung und Behandlung chronisch oder schwerer psychischer Erkrankungen ( Kap. 35–39). Der psychiatriewissenschaftliche Diskurs der 50er und 60er Jahre war in dieser Beziehung ganz vorwiegend geprägt von psycho- und soziodynamischen Diskussionen. So wurde damals aber auch anerkannt, dass psychischen Erkrankungen wie auch immer geartete, gestörte biologische Funktionen zugrunde liegen. Die Gesamtheit aller möglichen biologischen Einflussvariablen wurde allerdings mit dem Begriff »konstitutionell« abgewertet. Dieses Schicksal droht heute dem Begriff »psychosozial«. Psychosoziale Einflussfaktoren verkommen im wissenschaftlichen Diskurs zu einer häufig nicht näher beschriebenen Randvariable. Bei aller Anerkennung der enormen Wissensfortschritte der biologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen darf dabei nicht übersehen werden, dass die sozialwissenschaftliche Forschung über einen breiten Wissensbestand psychosozialer Einflussfaktoren auf Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankungen verfügt. Biologie und soziale Lebenswelt stellen kein Gegensatzpaar dar, sondern stehen in wechselnder Interaktion miteinander. Grundlage der meisten ätiologischen und Verlaufstheorien ist das sogenannte Vulnerabilitäts-Stress-Modell. Diesem Modell liegt die Annahme einer wie auch immer gearteten biologischen Vulnerabilität unterschiedlichen Ausmaßes zugrunde, die bei Hinzutreten kurz- oder längerfristig wirksamer sozialer Stressoren oder anderer Umgebungsfaktoren zur Auslösung der Erkrankung bzw. zu einer Verschlechterung im Verlauf einer psychischen Erkrankung führt. In der Weiterentwicklung des Vulnerabilitäts-Stress-Modells postuliert das Interaktions-EntwicklungsModell eine aktive wechselseitige Beeinflussung von Umgebung und betroffenem Individuum. Chronische psychische Erkrankungen haben enorme Auswirkungen nicht nur auf die Betroffenen selbst, sondern auch auf die Angehörigen wie auch auf die Gesellschaft insgesamt. Die Betroffenen selbst leiden zunächst einmal vor allem unter den quälenden Symptomen ihrer psychischen Erkrankung. Durch die Erkrankung wird aber auch ihr Selbstbewusstsein wesentlich beeinträchtigt, weil sie oft nicht in der Lage sind, ihre sozialen Rollen in Gesellschaft, Beruf und Familie zu erfüllen (Rössler et al. 2005). Dies liegt aber nicht nur an der Behinderung aufgrund ihrer psychischen Erkrankung sondern auch, weil psychisch Kranke in unseren Gesellschaften stigmatisiert und diskriminiert werden (Rössler 2005).
266
Kapitel 11 · Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen
11.1
Historischer Rückblick
Abgeschiedene Anstalten versus »gemeindenahe Versorgung«
11
Schon die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts vermutete schädliche Einflüsse der sozialen Lebenswelt auf die Entstehung und den Verlauf seelischer Erkrankung. Menschen mit »verwirrten Sinnen« und »entordneter Vernunft« sollten aus dem vermeintlich pathogenen Milieu ihres Lebensfelds herausgenommen werden, um in dem idealen Milieu einer psychiatrischen Anstalt die »verlorene Ordnung ihres Lebens und ihres Geistes« wieder zu finden. Die Isolation in der Stille und Ruhe geographisch von den städtischen Ballungsräumen abgeschiedener Anstalten schien die angemessene Behandlungsmethode, um den Kranken von möglichst allen pathogenen Einflüssen fernzuhalten. Ein völlig entgegengesetztes Grundsatzprogramm der Versorgung psychisch Kranker vertrat Wilhelm Griesinger (Rössler 1992). Er forderte so genannte Stadtasyle für die kurzfristige Behandlung akut Erkrankter im Verbund mit den allgemeinen Stadtkrankenhäusern. Er wies darauf hin, dass die Beschränkung auf einen kurzen stationären Aufenthalt nur im intensiven Zusammenspiel zwischen stationärer Einrichtung und dem normalen Lebensfeld des Kranken gelingen kann. Den allergrößten Teil der stationär Behandelten hielt er für entlassfähig, wenn auch manche eines beschützten Rahmens bedürften. Die von ihm vorgeschlagenen Versorgungsmaßnahmen sind heute weltweit unter dem Begriff »gemeindenahe Versorgung« umgesetzt worden.
Verwendung unterschiedlicher Begriffe Obwohl also bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine intensive Debatte über soziale Einflussfaktoren auf Entstehung und Verlauf und die daraus abzuleitenden Behandlungsund Betreuungsmaßnahmen in Gang gekommen war, gab es noch nicht den dazu gehörigen Begriff »soziale Psychiatrie« oder »Sozialpsychiatrie«, unter denen wir heute diese Diskussion führen würden. Der Begriff »soziale Psychiatrie« mit eigenständigen Inhalten entstand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts (wir folgen hier und nachfolgend den Ausführungen von Priebe u. Schmiedebach 1997). Außerhalb des engeren Feldes der Psychiatrie gab es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Zahl von Ärzten, welche unter dem Stichwort »soziale Medizin« die Auswirkungen von Industrialisierung und Urbanisierung auf die Gesundheit intensiv diskutierten. In der weiteren Entwicklung wurde der Begriff »soziale Medizin« durch den Begriff »soziale Hygiene« ersetzt. »Soziale Hygiene« beschäftigte sich mit den Wechselwirkungen häufig vorkommender Krankheitsgruppen wie Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und Krebskrankheiten und sozialen Lebensverhältnissen als begünstigende, vermittelnde oder beeinflussende Faktoren.
Der Begriff »sozial« erhielt zu dieser Zeit zwei auch noch heute gültige Konnotationen, und zwar einerseits im Sinne eines humanitären Ansatzes und einer ethischen Verpflichtung, andererseits im Sinne sozioökonomischer Lebensbedingungen. Es war vor allem das zweite Bedeutungsfeld, also die sozioökonomischen Lebensbedingungen, auf die sich die neu aufkommende »soziale Psychiatrie« mit vorwiegend ambulanten, sozialpsychiatrischen Betreuungskonzepten Anfang des 20. Jahrhunderts richtete ( Kap. 39). Es soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass viele Psychiater der damaligen Zeit unter dem Begriff »soziale Psychiatrie« vorwiegend ihre rassenhygienischen Vorstellungen thematisierten. Ihre sozialpsychiatrischen Vorstellungen richteten sich auf soziale Kontrolle und Selektion der »schwer degenerierten Geisteskranken, Idioten und Epileptiker«. Die praktischen Maßnahmen, die damit verbunden waren, waren Eheverbot oder Eheerschwerung, Sterilisation, Kastration und Euthanasie. Die entsetzlichen Folgen der Rassenhygiene sind weithin bekannt. So ermordeten die Nationalsozialisten zirka 260.000 psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen, die in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht waren, und begründeten dies mit der Notwendigkeit der Rassenhygiene (Schmiedebach u. Priebe 2004). Während also in Deutschland die soziale Psychiatrie mehr und mehr unter den Einfluss der Erbbiologie und der Rassenhygiene geriet, nahm die Entwicklung der »Social Psychiatry« in den USA einen anderen Weg. Vor allem war die amerikanische Entwicklung sehr viel mehr mit einer wissenschaftlichen Profilierung verknüpft, die sozialwissenschaftliche, soziologische und kulturanthropologische Konzepte miteinander zu integrieren versuchten. Es ist offensichtlich, dass in den deutschsprachigen Ländern als Folge der Untaten der Nationalsozialisten der Begriff »soziale Psychiatrie« nach dem zweiten Weltkrieg desavouiert war. Allerdings waren aber die damit verknüpften Versorgungsvorstellungen keineswegs hinfällig. In der Nachkriegszeit standen deshalb in deutschsprachigen Ländern ersatzweise die Begriffe der Resozialisierung und Rehabilitation im Vordergrund. Erst in den 60er Jahren mit dem Aufkommen der Bestrebungen, die veralterten psychiatrischen Versorgungsstrukturen zu reformieren, wurde der Begriff reaktiviert. Aber in Abgrenzung zu dem desavouierten Begriff »soziale Psychiatrie« wurde vorwiegend der Begriff »Sozialpsychiatrie« verwendet. ! In den deutschsprachigen Ländern ist es aber im Unterschied zum angloamerikanischen Sprachraum auch in den letzten Jahrzehnten fast nicht gelungen, Sozialpsychiatrie als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Die Zahl der (wenigen) Lehrstühle für Sozialpsychiatrie im deutschsprachigen Raum ist deshalb weiterhin rück-
267 11.3 · Forschungsparadigma Schizophrenie
läufig, während im angloamerikanischen Sprachraum an allen Universitäten »Social Psychiatry« ein weithin akzeptierter Pfeiler der akademischen Psychiatrie ist.
Arbeits- und Forschungsfelder Die Sozialpsychiatrie hat sich weltweit über die Auseinandersetzungen mit praktischen Versorgungsfragen hinaus zu einer breit gefächerten Disziplin mit vielfältigen Arbeits- und Forschungsfeldern entwickelt. Neben der klassischen Versorgungsforschung, die sich mit der Entwicklung und Bewertung von Versorgungsinstitutionen beschäftigt, ist die Ursachen- und Verlaufsforschung ebenfalls zu einem wichtigen Arbeitsgebiet der Sozialpsychiatrie geworden. Ausgangspunkt vieler sozialpsychiatrischer Forschungsfelder ist v. a. die psychiatrische Epidemiologie. Sie beschäftigt sich nicht nur damit, Art und Häufigkeit psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung zu erfassen, sondern versucht, soziale Einflussfaktoren sowohl auf die Entstehung wie auf den Verlauf psychischer Störungen zu identifizieren. Die sozialpsychiatrische Forschung ist aufgrund der Komplexität des Forschungsfeldes zwangsläufig multidisziplinär. In Analogie zur biologisch orientierten psychiatrischen Forschung, die neben Medizinern Biologen, Chemiker und Pharmakologen beschäftigt, benötigt die sozialpsychiatrische Forschung Sozialwissenschaftler insbesondere Psychologen und Soziologen wie auch Biometriker, die die komplexen sozialen Verhältnisse mittels moderner statistischer Verfahren abbilden helfen.
11.2
Art und Umfang psychischer Störungen in Europa
Eine kürzliche Übersicht über 27 Studien, die sich mit Art und Umfang psychischer Störungen in Europa beschäftigen, hat gezeigt, dass psychische Störungen von enormer gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind. Wir können davon ausgehen, dass in Europa im Verlauf eines Jahres rund 27% der Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren unter einer diagnostizierbaren psychischen Störung leiden. 68% dieser Fälle wiesen nur eine Diagnose auf, 18% jedoch zwei und 14% drei oder mehr psychiatrische Diagnosen. In Zahlen ausgedrückt heißt dies, dass fast 83 Mio. Menschen pro Jahr in Europa unter einer oder mehreren psychischen Störungen leiden. Die größten Anteile betreffen Menschen mit Depressionen und spezifischen Phobien mit 18,4 resp. 18,5 Mio. Menschen. Eine Alkoholabhängigkeit besteht bei 7,2 Mio. Menschen, während eine Abhängigkeit von illegalen Substanzen bei 2 Mio. Menschen vorliegt. Unter besonders schwerwiegenden Erkrankungen wie psychotische Störungen leiden ca. 3,7 Mio. Menschen (Wittchen u. Jacobi 2005). Die Mehrheit der analysierten Studien konnte zeigen, dass nahezu alle psychischen Störungen mit einem sub-
stanziellen Grad an Behinderung und einer erheblichen Reduktion von Lebensqualität verbunden sind sowie dass die Behinderung resp. die reduzierte Lebensqualität bei Komorbidität mehrerer psychischer Erkrankungen zunimmt. Außerdem sind viele psychische Störungen mit einem erhöhten Sterberisiko, hauptsächlich durch Suizid, verbunden. Auch sind die meisten psychischen Störungen mit einer erheblichen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit verbunden. Gemessen an den verlorenen Arbeitstagen weisen Menschen mit psychischen Störungen 3-mal mehr Abwesenheitstage als Menschen ohne psychische Störungen (aber anderen Erkrankungen) auf. Nicht zuletzt muss man sich die enormen Belastungen für Angehörige vergegenwärtigen. Neben dem emotionalen Stress, der zeitlichen und finanziellen Belastung, der Zurückstellung eigener Interessen, der Störungen eines »normalen« Familienlebens sind Angehörige selbst beträchtlichen somatischen und psychischen Gesundheitsrisiken mit der Folge einer erhöhten Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen ausgesetzt (z. B. Rössler et al. 2005). In einer eigenen Studie hat sich v. a. die gestörte Beziehung zwischen den Betroffenen und ihren Angehörigen als Belastungsfaktor erwiesen (Lauber et al. 2003a). Es ist mittlerweile klar, dass nur ein Bruchteil aller von einer psychischen Störung betroffenen Menschen psychiatrisch/psychotherapeutische Behandlung erhalten. So wissen wir aus einer Analyse von Bijl et al. (2003), dass je nach Diagnose nur zwischen 13 und 20% aller Betroffenen mit einer psychischen Störung irgendeine Art der Behandlung während der letzten 12 Monate erhalten haben. Es konnte aber auch gezeigt werden, dass die Behandlungsraten stark korrelieren mit der Schwere der Erkrankung. Die Behandlungsraten sind jedoch schwer gesamteuropäisch zu betrachten, insofern als natürlich das Gesundheits- und Versorgungssystem die Rate der Behandlungen wegen psychischer Erkrankungen wesentlich mitbeeinflusst. In den Niederlanden werden z. B. der Großteil der Betroffenen im Rahmen der primärärztlichen Versorgung betreut (74%), und 48,5% erhalten spezialisierte Behandlung, wohingegen sich in Deutschland 70% in spezialisierter Behandlung befinden und nur 39% in hausärztlicher Behandlung (Bijl et al. 2003).
11.3
Forschungsparadigma Schizophrenie
Es gibt wohl keine andere psychische Erkrankung, die mehr Forschungsaktivitäten seit ihrer »Entdeckung« vor mehr als 100 Jahren stimuliert hat als die Schizophrenie. Trotzdem besteht das »Rätsel Schizophrenie« weiter. Dies hat vermutlich damit zu tun, dass kein einzelner Faktor hinreicht, um die Krankheit auszulösen bzw. um den Verlauf der Erkrankung zu modifizieren. Die Schizophrenie ist damit zu einem Forschungsparadigma für komplexe
11
268
Kapitel 11 · Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen
psychische Erkrankungen geworden. Anhand dieses Krankheitsbildes soll nachfolgend der sozialwissenschaftliche bzw. sozialpsychiatrische Kenntnisstand auf die Auslösung und den Verlauf einer psychischen Erkrankung paradigmatisch dargestellt werden.
11.3.1
11
Was sagt uns die Epidemiologie?
Ein Argument, das bisher gegen einen signifikanten Einfluss von Umweltfaktoren auf die Auslösung einer Schizophrenie gesprochen hat, scheint überholt zu sein, nämlich die geringe geografische Variation im Hinblick auf das Erkrankungsrisiko der Schizophrenie. Eine Übersichtsarbeit (McGrath 2005) konnte eine beträchtliche Variationsbreite der Schizophrenieinzidenz zwischen 7,7 und 43,0 pro 100.000 Einwohner der Bevölkerung über verschiedene Studien hinweg aufzeigen. Wenngleich ein Anteil dieser Variation immer noch auf unterschiedliche Messmethoden zurückzuführen ist, bestehen kaum noch Zweifel, dass unterschiedliche Lebensbedingungen zu dieser Varianz des Erkrankungsrisikos beitragen. McGrath bezeichnet den bisherigen epidemiologischen Wissensstand als Mythos der Schizophrenieforschung, dem zwei Glaubensgrundsätze zugrunde liegen, nämlich, dass die Schizophrenie eine »außergewöhnliche« Erkrankung sei im Vergleich zu allen anderen Erkrankungen, wie auch eine »demokratische« Erkrankung. »Außergewöhnlich« in dem Sinne, dass es wohl kaum eine andere (psychische oder somatische) Erkrankung gibt, die keine Variation weltweit aufzeigen würde. »Demokratisch« in dem Sinn, dass die Schizophrenie jeden Menschen gleichermaßen treffen kann, unabhängig von irgendwelchen sozialen Einflüssen. Inzwischen ist aber klar, dass es ganz verschiedenartige soziale Einflussfaktoren für das Schizophrenierisiko gibt, die nachfolgend diskutiert werden sollen.
11.3.2
Kulturelle Einflüsse
Der Einfluss der Kultur auf die Schizophrenie hat schon seit jeher erhebliches Interesse auf sich gezogen. So wurde in verschiedenen Untersuchungen deutlich (Pfeiffer 1994), dass es zu kulturspezifischen Ausprägungen der Erkrankung kommt. Kulturvergleichende Untersuchungen lassen auch seit langem vermuten, dass Inzidenz und Prävalenz der Schizophrenie in Entwicklungsländern im Vergleich zu Industrieländern niedriger zu sein scheinen (Torrey 1980).
Migrationsstudien Der Einfluss der Umwelt auf das Erkrankungsrisiko wird durch verschiedene Migrationsstudien gestützt. So weisen eine Reihe von Studien eine im Vergleich zur Allge-
meinbevölkerung gut dokumentierte erhöhte Inzidenzrate für schizophrene Erkrankungen von Immigranten auf, z. B. von Surinamesen in Holland (Selten et al. 1997), afrikanischen Flüchtlingen in Schweden (Johansson et al. 1998), griechischen Migranten in Belgien (Charalabaki et al. 1995), skandinavischen Migranten in Dänemark (Mortensen et al. 1997) und vor allem von Immigranten aus Trinidad und Jamaika in Großbritannien (z. B. Davies et al. 1995). Wenngleich der Einfluss solcher ungünstiger Umweltbedingungen auf das Erkrankungsrisiko plausibel erscheint, müssen andere konfundierende Faktoren in Betracht gezogen werden. Der gewichtigste und seit vielen Jahren erhobene Einwand gegen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko in einer fremden und potenziell »feindlichen« Umgebung ist, dass Selektionsprozesse in der Ursprungsbevölkerung die Migration steuern, d. h. dass z. B. prämorbid belastete oder psychisch auffällige Menschen eher bereit sind auszuwandern (wiederum mit einem erheblichen Krankheitsrisiko für ihre Nachfahren). Ødegaard (1932) z. B. konnte in einer klassischen Studie ein zweifach erhöhtes Erkrankungsrisiko norwegischer Emigranten belegen. Die Studien von Häfner (1980) belegen hingegen das Gegenteil, nämlich dass die Inzidenzrate von an Schizophrenie erkrankten Türken in Deutschland im Vergleich zur deutschen Bevölkerung erniedrigt ist. Dies erklärt sich vermutlich damit, dass bei der Auswahl von Gastarbeitern für Deutschland besonders strenge Kriterien an deren (auch psychische) Gesundheit angelegt wurden. In zahlreichen neueren englischen epidemiologischen Untersuchungen (Übersicht bei Fearon u. Morgan 2006) findet sich trotz erhöhtem Krankheitsrisko für Immigranten aus Trinidad und Jamaika der zweiten Generation jedoch kein erhöhtes Erkrankungsrisiko in der Ursprungsbevölkerung. Die Ergebnisse sind inzwischen so robust, dass für diese Bevölkerungsgruppe in Großbritannien die Umwelt einen gesicherten Risikofaktor darstellt. Auch für andere Migrantengruppen gibt es gute Belege, dass die Umwelt ein Risikofaktor für das Erkrankungsrisiko ist. Die vorgenannte holländische Untersuchung fand für Zuwanderer nach Holland aus den ehemaligen Kolonien Surinam und den Holländischen Antillen ein 4fach erhöhtes Erkrankungsrisiko im Vergleich zur holländischen Allgemeinbevölkerung (Selten et al. 1997). Selektionsprozesse in der Ursprungsbevölkerung spielen für dieses Untersuchungsergebnis keine wesentliche Rolle, da große Teile der Ursprungsbevölkerung von der Wanderungsbewegung nach Holland erfasst worden waren. Wenn wir uns fragen, welche ungünstigen Lebensbedingungen genau denn das Erkrankungsrisiko von Migranten erhöhen, ist die Datenlage noch nicht überwältigend. Doch gibt es vereinzelte Studien (vgl. Fearon u. Morgan 2006), die darauf hinweisen, dass v. a. soziale Exklusion, Isolation, Arbeitslosigkeit sowie Stigmatisierung
269 11.3 · Forschungsparadigma Schizophrenie
und Diskriminierung als Umweltfaktoren zu dem Erkrankungsrisiko beitragen können. Migranten sind diesen Risiken in erhöhtem Maße ausgesetzt.
Verlaufsstudien Verschiedene Studien der Weltgesundheitsorganisation (Sartorius et al. 1972; WHO 1974, 1975) belegen zunächst einmal, dass der Verlauf der schizophrenen Erkrankung in Entwicklungsländern im Vergleich zu Industrieländern deutlich unterschiedlich ist. Schizophreniekranke in Entwicklungsländern, die bei Erkrankungsbeginn eine ähnliche Symptomatologie wie Patienten in Industrieländern aufwiesen, zeigten einen weniger chronischen Verlauf der Erkrankung, weniger Rückfälle und eine bessere soziale Anpassung (Sartorius et al. 1987; Jablensky et al. 1992). Neben dem Einflussfaktor Entwicklungs- versus Industrieländer konnten noch weitere signifikante psychosoziale Einflussfaktoren namentlich Familienstand und soziales Netzwerk identifiziert werden (Sartorius et al. 1996), die Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen. Die Erklärung für diese Verlaufsunterschiede in Industrie- und Entwicklungsländern wird dabei in den überschaubareren sozialen Interaktionsmustern in weniger komplexen Gesellschaften im Vergleich zu den komplexen, konfliktträchtigen und schwer überschaubaren Anforderungen moderner Industriegesellschaften gesucht. Alternativ muss auch diskutiert werden, ob in Entwicklungsländern weniger Anforderungen an Autonomie und Konkurrenzverhalten vulnerabler Individuen gestellt werden und gleichzeitig ein Leben in kleineren, stabileren und längerfristig angelegten sozialen Netzwerken ermöglicht wird.
11.3.3
Sozioökonomische Einflussfaktoren
Die Diskussion um sozioökonomische Einflüsse auf Entstehung und Verlauf der Schizophrenie wurden durch die von Faris und Dunham (1939) bahnbrechenden epidemiologischen Untersuchungen über die ökologische Verteilung der Schizophrenie in Chicago im Jahr 1935 initiiert. Sie fanden die höchsten Raten ersthospitalisierter Schizophreniekranker in den Slumquartieren Chicagos. Diese Verteilungsmuster wurden in verschiedenen Städten und Ländern bestätigt, so z. B. auch von Häfner und Reimann (1970) in Mannheim. Die Mannheimer Ergebnisse erwiesen sich auch im Verlauf von 15 Jahren im Wesentlichen als stabil (Weyerer u. Häfner 1989). Die ökologische Ungleichverteilung geht einher mit Häufigkeitsunterschieden Schizophreniekranker in den verschiedenen sozialen Schichten. Zahlreiche Untersuchungen fanden Schizophreniekranke in den unteren sozialen Schichten überrepräsentiert. In einer Übersichtsarbeit von Dohrenwend und Dohrenwend (1969) zeigten 5
von 7 Untersuchungen sowie in einer Übersichtsarbeit von Eaton (1974) 15 von 17 Studien dieses Ergebnis. Die Erklärung hierfür wurde vorrangig in einer verstärkten sozialen Isolation der Betroffenen bzw. einem Mangel an sozialer Unterstützung in unteren sozialen Schichten gesucht. Während zu Zeiten der Reformbewegung in den 1960er und 1970er Jahren soziale Ursachen der Schizophrenie auf der Grundlage der zuletzt genannten Befunde belegt zu sein schienen, gilt diese Interpretation heute als widerlegt. Hauptsächlich diskutiert werden heute die These des sozialen Abstiegs bzw. der sozialen Selektion. Sozialer Abstieg bezieht sich auf die sozialen Konsequenzen nach Erkrankungsbeginn und soziale Selektion auf den fehlenden sozialen Aufstieg bereits vor Erkrankungsbeginn (Häfner 1992). Der soziale Abstieg Schizophreniekranker ist hinreichend belegt. Marneros et al. (1991) fanden z. B. in ihrer Langzeitstudie einen beruflichen Abstieg von 71 der von ihnen untersuchten Schizophreniekranken. Dieser war meistens verbunden mit einem Abstieg in untere soziale Schichten. Dieser Abstieg ist dann auch wiederum häufig mit einem Umzug in Wohnviertel mit vielfältigen sozialen Problemen verknüpft. Die dort häufig herrschende Anonymität kommt unter Umständen auch Schizophreniekranken mit Störungen der Kommunikation entgegen. Nicht zuletzt sollte auch bedacht werden, dass in der Regel in urbanen Quartieren mehr Versorgungsangebote bereitgehalten werden, was die Attraktivität dieser Quartiere für Betroffene erhöhen kann. Schwieriger zu belegen ist die These der sozialen Selektion. Prämorbide Veränderungen der Persönlichkeit sind hier vermutlich von ausschlaggebender Bedeutung. Malmberg et al. (1998) konnten an einer Kohorte schwedischer Rekruten aus den Jahren 1969/70, die in den nachfolgenden 15 Jahren an einer Schizophrenie erkrankten, deutliche Defizite in der prämorbiden sozialen Anpassung aufzeigen. Wohlbekannt ist auch der sogenannte Leistungsknick im Vorfeld der Erkrankung. Ødegaard (1971) fand auf der Basis der norwegischen Fallregisterdaten bei erstmals stationär behandelten Schizophreniekranken niedrig qualifizierte Berufsgruppen deutlich überrepräsentiert. Goldberg und Morrison (1963) konnten in einer Kontrollgruppenuntersuchung aufzeigen, dass ersthospitalisierte Schizophreniekranke im Vergleich zu ihren Vätern in weniger qualifizierten Berufen beschäftigt waren. Aber auch für diese Befunde bieten sich alternative Erklärungen an. Die größte deutsche epidemiologische Studie Ersterkrankter konnte zeigen, dass ca. 4,5 Jahre zwischen dem Auftreten der ersten psychotischen Symptome überhaupt und etwa 2 Jahre zwischen dem Auftreten der ersten psychotischen Symptome und ersten psychiatrischen Hospitalisation vergehen (Häfner et al. 1998). Dies legt die Interpretation nahe, dass die im Vorfeld der
11
270
Kapitel 11 · Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen
Erkrankung dokumentierten sozialen Auffälligkeiten bereits frühe Zeichen des sozialen Abstiegs darstellen. Die Zusammenhänge zwischen (städtischer) Lebenswelt und Erkrankungsrisiko üben bis heute eine große Faszination aus. So analysierten Torrey et al. (1997) archivierte Zensusdaten des Jahres 1980 aus den USA. Sie fanden ein 1,6fach erhöhtes Psychoserisiko in städtischen Regionen. Marcelis et al. (1998) untersuchten mittels des nationalen psychiatrischen Fallregisters in Holland die Zusammenhänge von (städtischer) Geburt und Erkrankungsrisiko. Sie berichten mäßige aber signifikante Zusammenhänge zwischen städtischem Geburtsort und erhöhter Inzidenzrate. Auch Mortensen et al. (1999) fanden bei der Analyse des zentralen psychiatrischen Fallregisters in Dänemark ein 2,4fach erhöhtes Risiko für in der Hauptstadt geborene Schizophreniekranke. Gleichzeitig identifizierten sie ein mehr als 9fach erhöhtes relatives Risiko für Betroffene mit familiärer Belastung.
11.3.4
Einflüsse der näheren sozialen Umwelt
Frühkindliche Umgebung
11
In der sozialwissenschaftlichen Theorienbildung der 60er und 70er Jahre spielte der mutmaßliche Einfluss der frühkindlichen Umgebung auf das Erkrankungsrisiko eine besondere Rolle. Gemäß Bateson (1972; Bateson et al. 1956) sind schizophrene Denk- und Affektstörungen das Resultat einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung. Besondere Bekanntheit in diesem Zusammenhang erzielte die sogenannte Double-bind-Theorie. Danach führen sich widersprechende Botschaften in der Kommunikation von Eltern mit ihren Kindern zwangsläufig zu schizophrenen Reaktionen der betroffenen Individuen. Nach Wynne und Singer (1966) oder Lidz (1975) führen hingegen besonders geartete Konflikte der Eltern die betroffenen Kinder in die Schizophrenie. Die Hauptschwäche dieser früheren Erklärungsansätze liegt darin, dass sie – neben einer überschießenden Theorienbildung ohne hinreichende empirische Belege – beobachtete Phänomene in den betroffenen Familien nicht nach Ursache und Folge der Erkrankung zu differenzieren vermögen. Dies erlauben hingegen prospektive Studien. Tatsächlich hat es in den vergangenen Jahren einige Arbeiten zu dem Thema einer frühkindlichen Belastung und einem erhöhten Psychoserisiko gegeben. So identifizierten von 5 Langzeitstudien mit Risikopersonen zwei dieser Untersuchungen ungünstige Familienverhältnisse als zusätzlichen Risikofaktor, an einer Schizophrenie zu erkranken (Cornblatt u. Obuchowski 1997). In der Kopenhagener Risikostudie erwiesen sich neben Geburtskomplikationen instabile frühkindliche Familienverhältnisse als besonderes Risikomerkmal (Cannon u. Mednick 1993; Cannon et al. 1994). In der finnischen Adoptionsstudie erkrankten fast ausschließ-
lich genetisch belastete Individuen, aber wiederum vorwiegend diejenigen, die in schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen waren (Tienari et al. 1989, 1994). In den letzten Jahren gibt es auch eine wachsende Literatur, die Missbrauch in Kindheit und Jugend als Risikofaktor für den Ausbruch einer schizophrenen Erkrankung gefunden haben (Janssen et al. 2004). Wenn es auch insgesamt relativ gut gesicherte Zusammenhänge zwischen Missbrauch in Kindheit und Jugend und psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter gibt, wird dieser Zusammenhang mit schizophrenen Erkrankungen noch kontrovers diskutiert (Spataro et al. 2004). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es kumulativ immer mehr Hinweise darauf gibt, dass mit ungünstigen Lebensbedingungen und mit Traumatisierungen in Kindheit und Jugend der Einfluss auf das Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, zunimmt. Je mehr dieser ungünstigen Lebensumstände zusammenkommen, desto größer wird das Risiko (Wicks et al. 2005).
Familienatmosphäre Nahezu parallel zur vorgenannten sozialwissenschaftlichen Theorienbildung im Hinblick auf ungünstige frühkindliche Familieneinflüsse für das Erkrankungsrisiko entwickelte sich ein empirischer Forschungszweig, der sich mit den familiären Einflüssen v. a. auf den Verlauf der schizophrenen Erkrankung beschäftigte. Ausgangspunkt dieses Forschungsschwerpunktes, der unter dem Begriff »expressed emotion« bekannt wurde, war die Beobachtung, dass aus stationärer Behandlung in die Familie entlassene Schizophreniekranke ein erhöhtes Rückfallrisiko aufwiesen (Brown 1959). In der danach von Brown et al. (1962) initiierten Studie erlitten 76% der Betroffenen, die in einer von Kritik und Feindseligkeit geprägten Familienatmosphäre lebten, einen Rückfall. Im Vergleich dazu hatten nur 26%, die wenig Kritik und Feindseligkeit in der Familie erlebten, einen Rückfall. In den nachfolgenden Jahren wurden zahlreiche empirische Untersuchungen zu einer einen Rückfall begünstigenden Familienatmosphäre durchgeführt, die überwiegend die Ergebnisse der Ausgangsstudie bestätigten. Bebbington (1995) konnte in einer Metaanalyse belegen, dass eine günstige Familienatmosphäre eine stärkere rückfallpräventive Wirkung als Medikamente besitzt. Wenngleich die Forschungsergebnisse bezüglich des Einflusses der Familienatmosphäre auf den Verlauf der schizophrenen Erkrankung relativ robust sind, darf nicht übersehen werden, dass die Familienatmosphäre auch Ausdruck des Verlaufs der Erkrankung ist. Kritik und Feindseligkeit äußern sich vorzugsweise in Familien, die mit einem ungünstigen Verlauf der Erkrankung konfrontiert sind. Wie viele der vorgenannten Forschungsergebnisse stehen damit auch diese Resultate unter dem Vorbehalt, Ursachen und Konsequenzen nicht immer eindeutig auseinanderhalten zu können.
271 11.4 · Stigma psychischer Erkrankungen
11.3.5
Kritische Lebensereignisse
Der Frage, inwieweit schwierige Lebenssituationen eine Rolle für die Auslösung psychischer Störungen im allgemeinen ( Kap. 12) und im speziellen für die Auslösung einer Schizophrenie spielen, wurde in verschiedenen Untersuchungen nachgegangen. Steinberg und Durell (1968) konnten in den der Einberufung in die Armee nachfolgenden Monaten eine signifikante Erhöhung der Erkrankung an Schizophrenie aufzeigen. Die wegweisende Studie für diesen Forschungsansatz wurde jedoch von Brown und Birley (1968) durchgeführt, die eine signifikant erhöhte Zahl kritischer Lebensereignisse vorwiegend in den 3 Wochen vor Ausbruch der Erkrankungen fanden. In den nachfolgenden Jahren analysierten eine Reihe von Studien unter unterschiedlichen kulturellen Rahmenbedingungen diese Fragestellung, jedoch ohne eindeutiges Ergebnis (Bebbington 1995). Wenn also bis heute keine sicheren Aussagen hierzu möglich sind, steht dies vor allem mit der Komplexität des Forschungsgegenstandes im Zusammenhang. Als eine Vielzahl methodischer Schwierigkeiten seien einige wenige erwähnt: Zum einen gibt es kaum eine verbindliche Definition kritischer Lebensereignisse. Kritische Lebensereignisse gewinnen nur im persönlichen Kontext an Bedeutung. Zudem ist aus der Sozialpsychologie bekannt, dass bei rückblickenden Erklärungsversuchen, z. B. was die schizophrene Erkrankung ausgelöst haben könnte, möglichen psychosozialen Belastungsfaktoren subjektiv viel Platz eingeräumt wird. Zuletzt ist zu erwägen, dass eine mögliche Häufung kritischer Lebensereignisse kurz vor Krankheitsbeginn bereits Folge der sich anbahnenden Erkrankung sein könnte.
macht hatten, als säumige Schuldner oder als vom Teufel Besessene in gemeinsamen Zucht- und Tollhäusern verwahrt, wenn sie nicht die Teufelsaustreibung mit ihrem Leben bezahlen mussten. Das Zeitalter der Aufklärung befreite die psychisch Kranken von ihren Ketten und anerkannte, dass es sich um kranke Menschen handle. Wenngleich die Versorgung psychisch Kranker im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Irrungen und Wirrungen durchlief, fand die Verfolgung psychisch Kranker ihren traurigen Höhepunkt während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft in Deutschland mit der Ermordung und Zwangssterilisierung Hundertausender Menschen (s. oben). Das Stigma psychischer Erkrankungen ist bis heute ein brennendes Thema. In der Allgemeinbevölkerung herrscht nicht nur Unkenntnis über Art und Umfang psychischer Erkrankungen vor, sondern weit verbreitet ist auch Furcht und Angst vor psychisch Kranken – allerdings mit weniger traumatischen Folgen für die Betroffenen als im Mittelalter, aber modernen Sozialstaaten nichts desto weniger unwürdig. Die Diskriminierung psychisch Kranker ist allgegenwärtig, sei es in der Sozialversicherung, in der Rehabilitation, eigentlich bei allen Bemühungen, psychisch Kranken ihren Platz in Gesellschaft, Beruf und Familie zu sichern.
11.4.1
Psychisch krank – das Bild in der Öffentlichkeit
Die Stigmaforschung hat sich in zahlreichen Untersuchungen dem öffentlichen Bild psychisch Kranker gewidmet. Dementsprechend breit gestreut sind die Fragestellungen und Untersuchungsansätze. Bekanntheitsgrad. Die vielleicht einfachste Fragestellung
11.4
Stigma psychischer Erkrankungen
Wenn wir uns mit den sozialen Einflüssen auf Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankungen auseinandersetzen, kommen wir nicht umhin, uns auch in diesem Zusammenhang mit Stigma und Diskriminierung zu beschäftigen. Wie kaum eine andere Erkrankung unterliegen psychische Erkrankungen negativen Werturteilen einer breiteren Öffentlichkeit. Soziale Ausgrenzung und Benachteiligung sind die häufigsten Folgen für die Betroffenen. Die Stigmatisierung psychisch Kranker hat historisch betrachtet eine lange Tradition. Bis in die vorklassische Zeit reicht die Vorstellung von psychischen Erkrankungen als eine Art der Besessenheit. Im späten Mittelalter galten Armut und psychische Erkrankung als Strafe Gottes. Logischerweise wurden die, die sich schuldig ge-
richtet sich auf den öffentlichen Bekanntheitsgrad psychischer Erkrankung. Die Ergebnisse hierzu sind nicht ganz konsistent über verschiedene Länder hinweg. So scheint in England die Schizophrenie mit 74% die bekannteste Erkrankung zu sein (Wolff et al. 1996), während in den USA bei insgesamt niedrigem Kenntnisstand gleichermaßen affektive Störungen genannt werden (Phelan et al. 2000). In Australien erkannten 84% eine Schizophrenie und 72% eine Depression aufgrund einer Fallbeschreibung (Jorm et al. 1997). Für diese divergierenden Ergebnisse mögen teilweise kulturelle Unterschiede verantwortlich sein. Aktive Benennung schwieriger. Gleichermaßen wichtig
sind allerdings die Unterschiede im gewählten Untersuchungsansatz. Es macht einen Unterschied, ob die Befragten aktiv Krankheitsbilder benennen sollen, oder ob ihnen Listen oder Beschreibungen vorgelegt werden. In einer Schweizer Untersuchung wurden den Befragten
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272
Kapitel 11 · Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen
jeweils eine Depressions- oder eine SchizophrenieVignette vorgelegt. Nahezu 40% erkannten die Depression und 74% die Schizophrenie. Allerdings wurden auch von rund 60% die Depressions-Vignette und von rund 26% die Schizophrenie-Vignette nicht als Krankheit sondern als Krise bezeichnet. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass diejenigen, die eine positive Haltung gegenüber Psychopharmaka haben, die Vignetten korrekter identifizierten, während diejenigen, die eine positive Haltung gegenüber der Gemeindepsychiatrie haben, die Fallbeschreibung eher als Krise bezeichneten. Letztgenannte Gruppe zeichnet sich auch durch ein größeres Interesse an Psychiatriethemen in den Medien aus (Lauber et al. 2003 b). Laienkonzepte zu den Ursachen. Laienkonzepte zu den
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Ursachen psychischer Erkrankung lassen sich in der Regel dichotomisieren in einerseits biologische und andererseits psychosoziale Ursachen. Insbesondere im Hinblick auf Depressionen ist sich die Öffentlichkeit international mehrheitlich darüber einig, dass die Ursachen hierfür überwiegend im psychosozialen Bereich zu suchen sind (Priest et al. 1996; Angermeyer u. Matschinger 1999). Auch in der Schweiz sucht die Mehrheit die Ursachen einer Depression im psychosozialen Bereich, insbesondere werden für eine Depression Beziehungsschwierigkeiten, berufsbedingter Stress oder auch traumatische Erlebnisse verantwortlich gemacht. Nicht so eindeutig sind die Ergebnisse im Hinblick auf die Schizophrenie. Thompson et al. (2002) und Gaebel und Müller-Spahn (2002) berichten, dass im Fall von Schizophrenie am häufigsten biologische Ursachen genannt werden. Werden hingegen Fallbeschreibungen vorgegeben, dominieren psychosoziale Erklärungsversuche (Matschinger u. Angermeyer 1996). Auch in der Schweizer Bevölkerungsstichprobe nannte ein gewichtiger Teil der Befragten psychosoziale Ursachen als Gründe für die Schizophrenie. Behandlungsempfehlungen. Die Krankheitsvorstellun-
gen wirken sich zwangsläufig auf die von der Allgemeinbevölkerung vorgeschlagenen Behandlungsmaßnahmen aus. In der Schweizer Untersuchung ist die am häufigsten genannte Empfehlung die Inanspruchnahme eines Psychologen (68%) gefolgt vom Hausarzt (57%) und dem Psychiater (51%). Je nachdem, ob das Störungsbild als Krankheit oder als Krise wahrgenommen wird, ändern sich die Präferenzen: Psychologen werden vorzugsweise im Krisenfall, Hausärzte und Psychiater vorzugsweise im Krankheitsfall zur Inanspruchnahme empfohlen (Nordt et al. 2002). Wichtig im Zusammenhang mit Behandlungsempfehlungen ist, dass persönliche Hilfen z. B. durch Ärzte, Psychologen oder andere Berufsgruppen eine ganz überragende Bedeutung für die Allgemeinbevölkerung zu haben scheinen. Deutlich weniger werden in
diesem Zusammenhang Psychopharmaka empfohlen, und zwar zwischen 10% und 20% je nach Medikamentengruppe. Psychopharmaka gehören auch zu den Hilfeansätzen, die auf die meiste Ablehnung stoßen. Tendenziell ähnliche Ergebnisse wurden in einer Reihe internationaler Untersuchungen gefunden (z. B. Althaus et al. 2002; Angermeyer u. Matschinger 1994). Soziale Distanz. Es gibt eine Reihe von Erhebungsinstrumenten, die auf ganz unterschiedlichen Wegen und Ansätzen die öffentliche Meinung zu psychisch Kranken und in Institutionen, in denen psychisch Kranke betreut werden, erheben. Natürlich werden damit auch jeweils unterschiedliche Aspekte der Stigmatisierung erfasst. Eines der beliebtesten Maße ist die sog. »soziale Distanz«. Damit wird die Bereitschaft erfasst, mit einer bestimmten Person in eine Beziehung einzutreten. Vorgegeben werden verschiedene Beziehungssituationen, die im Grad der sozialen Nähe variieren, so z. B. die Akzeptanz einer psychisch kranken Person als Arbeitskollegen, als Untermieter, als befreundete Person, als Mitglied der eigenen Familie oder als Babysitter für die eigenen Kinder. Naturgemäß steigt die Ablehnung mit dem Ausmaß der sozialen Intimität. Generell ein hohes Maß an Ablehnung findet sich insbesondere bei Suchterkrankungen und bei der Schizophrenie, weniger ausgeprägt ist die Ablehnung von Personen mit Depressionen oder Angsterkrankungen (Angermeyer u. Matschinger 1997). Folgende Einflussfaktoren vergrößern die soziale Distanz gegenüber psychisch Kranken: Schizophreniekranke, die Meinung, es handle sich um eine Krankheit (also nicht »nur« um eine Krise), negative Gefühle gegenüber psychisch Kranken (z. B. bedrohlich, gefährlich, unberechenbar etc.), Akzeptanz von psychiatrischer Behandlung.
Eine geringere soziale Distanz oder positiver formuliert eine größere Bereitschaft zur sozialen Nähe findet sich generell, wenn die Befragten eine positive Einstellung gegenüber der Gemeindepsychiatrie oder gegenüber der Laienhilfe haben, bei Interesse an psychiatrischen Themen in den Medien und bei vorbestehendem Kontakt mit psychisch Kranken. Insbesondere der Kontakt mit psychisch Kranken wirkt sich positiv auf die Akzeptanz psychisch Kranker aus, wie sich in vielen Studien immer wieder gezeigt hat.
11.4.2
Die Einstellung professioneller Helfer
Während sich für viele Jahre die Aufmerksamkeit der Stigmaforschung nahezu ausschließlich auf die Öffentlichkeit richtete, findet zunehmend eine andere Gruppe,
273 11.4 · Stigma psychischer Erkrankungen
nämlich die professionellen Helfer, das Interesse der Forschung. Dies ist eigentlich auch nicht verwunderlich, insofern als die Betroffenen selbst häufig diesbezügliche Vorwürfe gegenüber professionellen Helfern äußern. Sind es doch auch diese, insbesondere die Psychiater, die über Zwangsbehandlung und -einweisung zu entscheiden haben. Entgegen dem in den Medien oft vermittelten Bild ist die Öffentlichkeit im Übrigen weniger besorgt, dass psychisch kranke Menschen zu Unrecht ihrer freiheitlichen Rechte beraubt werden könnten, als vielmehr, dass psychisch Kranken ob ihrer vermuteten Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit zu viele Freiheiten eingeräumt werden könnten. In der vorgenannten Schweizer Untersuchung äußerten je nach Sprachregion zwischen 68 und 78%, dass sie eine Zwangseinweisung im Falle einer psychischen Erkrankung befürworten. Der Anteil der Befürworter steigt bei denen, die psychisch Kranke für gefährlich und unberechenbar halten (Lauber et al. 2002). Allerdings gibt es auch weniger augenfällige, für das einzelne Individuum allerdings unter Umständen nicht weniger dramatische Einschränkungen, z. B. den Entzug des Führerscheins oder des Wahlrechts im Falle einer psychischen Erkrankung. Auch hier finden sich jeweils viele Befürworter in der Schweizer Bevölkerung unterschiedlich ausgeprägt nach den verschiedenen Sprachregionen, und zwar zwischen 59 und 75% im Hinblick auf den Führerscheinentzug, zwischen 18 und 33% in Bezug auf das Wahlrecht und zwischen 26 und 39% im Hinblick auf die Befürwortung einer Schwangerschaftsunterbrechung bei einer ehemals psychisch kranken Frau (Lauber et al. 2000). Die unterschiedlichen Zahlen je nach Sprachregion machen deutlich, dass kulturelle Einflüsse Art und Ausmaß der Stigmatisierung und Diskriminierung nicht unerheblich mitbestimmen. Der Vergleich der Einstellung von niedergelassenen Psychiatern mit der Allgemeinbevölkerung zeigt zunächst einmal, dass die Psychiater nahezu einhellig (98,9%) das Instrument der Zwangseinweisung befürworten. Anderen Restriktionen stehen sie hingegen sehr ablehnend gegenüber. Der Führerscheinentzug wird nur von 6,7%, der Schwangerschaftsabbruch von 5,6% und der Stimmrechtsentzug von 1,1% befürwortet (Zogg et al. 2003). Ähnlich positiv und signifikant besser als die Allgemeinbevölkerung stehen die befragten Psychiater der Gemeindepsychiatrie gegenüber (Lauber et al. 2004). Gleichermaßen wie die Bevölkerung stimmen sie allerdings der Aussage zu, dass psychiatrische Versorgungseinrichtungen die Nachbarschaft, in der sie lokalisiert sind, abwerten. Des Weiteren irritiert, dass sich die Psychiater keineswegs im Ausmaß ihrer sozialen Distanz gegenüber psychisch Kranken von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden. In gleichem Umfang stößt bei ihnen die Vorstellung, ehemals psychisch Kranke als Babysitter zu beschäftigen oder psychisch Kranke als Familienmitglied zu haben, auf entschiedene Ablehnung. Auch die Befragung
institutionell tätiger Psychiater erbringt kein besseres Bild (Nordt et al. 2006). In Institutionen tätige Psychiater in der Schweiz zeigen eine signifikant schlechtere Einstellung gegenüber psychisch Kranken, und zwar nicht nur im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sondern auch innerhalb der beteiligten Berufsgruppen wie z. B. Pflegepersonen oder Ergotherapeuten.
11.4.3
Die Sicht der Betroffenen
Alle Überlegungen zur Stigmatisierung sind letztlich nur auf ein Ziel gerichtet, nämlich die Situation der Betroffenen zu verbessern. Deswegen ist es auch unerlässlich, die Sichtweisen der psychisch Kranken und ihrer Angehörigen zu kennen. Deren Sichtweisen haben Schulze und Angermeyer (2003) in sog. Fokusgruppen ergründet. Sie ermittelten 4 Bewertungsdimensionen, nämlich: 1. Stigmatisierung in interpersonellen Interaktionen, 2. verzerrte Darstellung psychisch Kranker in der Öffentlichkeit, 3. reduzierter Zugang zu sozialen Rollen und 4. strukturelle Diskriminierung, z. B. in der Gesetzgebung oder in Bezug auf die Versorgungsqualität. Ähnliche Erfahrungen machen Angehörige, wenn auch mit einer anderen Schwerpunktsetzung (Angermeyer et al. 2003). Nicht zuletzt ist es die befürchtete Stigmatisierung, die Angehörige gegenüber der unter professionellen Helfern befürworteten Früherkennung von Psychosen skeptisch sein lässt (Lauber et al. 2001). Wir haben die Erfahrungen von Betroffenen bezüglich subjektiv erlebter Diskriminierung und Abwertung mit den Aussagen der Allgemeinbevölkerung verglichen im Hinblick darauf, ob psychisch Kranke ihrer Ansicht nach diskriminiert oder abgewertet werden (Graf et al. 2004). Die Ergebnisse zeigten, dass die Mehrheit der Betroffenen wie auch die Allgemeinbevölkerung glauben, dass psychisch Kranke in erheblichem Ausmaß Diskriminierung und Abwertung ausgesetzt sind. Betroffene erwarten diesbezüglich mehr Schwierigkeiten schon allein aufgrund ihres Status als Psychiatriepatienten und insbesondere bei der Arbeitssuche. Eine weiterführende Analyse machte deutlich, dass die von den Betroffenen geäußerten Befürchtungen im Hinblick auf Diskriminierung und Abwertung zu einer signifikanten Verschlechterung ihrer Lebensqualität führen.
11.4.4
Aktivitäten gegen Stigmatisierung und Diskriminierung
Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen. Das öffentliche Bild vom psychisch Kranken ist vor dem Hintergrund eines insgesamt niedrigen Wissensstands nach wie
11
274
11
Kapitel 11 · Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen
vor von schwerwiegenden Vorurteilen geprägt. Die Öffentlichkeit ist sich aber bewusst, dass psychisch Kranke im gesellschaftlichen Kontext vielfach abgewertet und benachteiligt werden. Bei oberflächlicher Bereitschaft, psychisch Kranke in den Alltag zu integrieren, z. B. als Arbeitskollegen, werden diese im persönlichen Umfeld weitgehend abgelehnt. Diese Ablehnung ist nicht für alle Krankheitsbilder gleichermaßen ausgeprägt; bei an Schizophrenie Erkrankten ist sie besonders groß. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit spielen psychosoziale Auslöser für psychische Störungen eine überragende Rolle. Die Wahrnehmung einer psychischen Störung als Krise erleichtert offensichtlich die Akzeptanz eines Störungsbildes. Umgekehrt schafft die Wahrnehmung, dass es sich bei gewissen Symptomen um eine Krankheit im engeren Sinn handelt, Distanz zu den Betroffenen. Je weniger ein Krankheitsbild als psychosoziale Krise und je mehr es als Krankheit wahrgenommen wird, desto eher wird die Behandlung bei einem Psychiater empfohlen. Psychologen und Hausärzte werden im Falle psychosozialer Krisen bevorzugt. In allen Fällen werden personale Hilfen empfohlen, während Psychopharmaka weitgehend auf Ablehnung stoßen. Die Stigmatisierung psychisch Kranker beschränkt sich allerdings nicht auf eine »unwissende« Allgemeinheit, sondern reicht weit hinein in das Feld der professionellen Betreuung. Psychiater sind zwar weniger restriktiv in ihrer Haltung gegenüber psychisch Kranken und befürworten verstärkt die gemeindepsychiatrische Integration im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Jedoch weisen sie überwiegend ein ähnliches Profil auf wie die Allgemeinbevölkerung, insbesondere wünschen auch sie mehrheitlich keine psychisch Kranken in ihrem persönlichen Umfeld. Möglicherweise haben Psychiater, die im klinisch-institutionellen Setting verankert sind, sogar eine signifikant schlechtere Einstellung gegenüber psychisch Kranken als ihre anderweitig engagierten Berufskollegen. Damit wird Stigmatisierung und Diskriminierung für viele der Betroffenen zu einer Art »zweiter Krankheit«, welche sie in die Isolation treibt und die ihnen vollends die (möglicherweise schon durch die Krankheit reduzierten) Chancen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nimmt. Im vergangenen Jahrzehnt wurden weltweit eine Reihe von Aktivitäten gegen die Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch Kranker gestartet. Der wichtigste Meilenstein in diesem Zusammenhang ist das 1996 von dem Weltverband für Psychiatrie lancierte Programm (»Fighting Stigma and Discrimination because of Schizophrenia – Open the doors«), an dem mittlerweile weit über 20 Länder beteiligt sind, so auch Deutschland, Österreich und die Schweiz. In vielen Ländern sind inzwischen Bevölkerungsumfragen oder Patientenbefragungen durchgeführt und einige konkrete Projekte erfolgreich
gestartet worden, z. B. Kultur- und Medienprojekte (Baumann et al. 2003), Polizeiprojekte (Pinfold et al. 2003) oder Schulprojekte (Meise et al. 2000). Ein anderes wichtiges Programm ist die englische Kampagne »Changing minds« des Royal College of Psychiatrists, das allerdings auf viele unterschiedliche psychiatrische Krankheitsbilder gerichtet ist. Viele der erzielten Ergebnisse sind ermutigend, unklar bleibt hingegen, ob die Änderungen der Haltungen, Meinungen und Urteile anhalten und ob sie bzw. wie sie handlungsrelevant werden. In einem nächsten Schritt müssen auch die Betroffenen selbst mehr in diese Aktivitäten involviert werden, denn es wäre ein Paradoxon, die Folgen von Stigmatisierungsprozessen anzuklagen und gleichzeitig die Betroffenen in diesem Zustand zu belassen. Auch hier gilt es zunächst einmal, an unserem eigenen, ärztlichen Hilfeverständnis anzusetzen. Ein zentraler Begriff stellt hier das »Empowerment« der Patienten dar. Empowerment stellt die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Patienten in den Vordergrund, nicht seine Defizite und sein Nichtkönnen. Patienten wollen mitbestimmen. Verschiedene Studien (z. B. Calsyn et al. 2000) konnten zeigen, dass Patienten, die aus verschiedenen Möglichkeiten auswählen können, sich bezüglich ihrer Symptome deutlich besser entwickeln als solche, die nur eine Behandlungsmöglichkeit hatten. Professionelle Helfer sind Teil des sozialen Netzes der Betroffenen. Es sind die sozialen Netze, die die Lebensqualität chronisch psychisch Kranker positiv beeinflussen (Rössler et al. 1999). Und es sind die sozialen Netze, die am wirksamsten Stigmatisierung verhindern können (Müller et al. 2006).
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11
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Kapitel 11 · Sozialpsychiatrische Aspekte psychischer Erkrankungen
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12 12 Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen A. M. Möller-Leimkühler
12.1 12.1.1 12.2 12.2.1 12.2.2
12.2.3
12.3 12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.3.5 12.4 12.4.1
Soziologische Forschung in der Psychiatrie 278 Historische Entwicklung – 278
12.4.2
Geschlechtsspezifische Verteilungen gesundheitlicher Störungen und ihre Erklärungen – 290
Soziale Ungleichheit – 278 Schichtbegriff – 278 Empirische Ergebnisse zum Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und psychischen Erkrankungen – 278 Erklärungsmodelle: Soziale Verursachung oder soziale Selektion? – 280
12.5 12.5.1 12.5.2 12.5.3
Patientenzufriedenheit – 294 Der zufriedene Patient – 294 Marketingmodell von Zufriedenheit – 295 Zufriedenheit als multidimensionales Konstrukt – 295
12.6 12.6.1 12.6.2
Lebensqualität – 296 Begriffsbestimmung – 296 Objektive und subjektive Lebensqualität – 297 Subjektive Lebensqualität psychiatrischer Patienten – 298
Soziogenetisches Stressmodell – 281 Entwicklung zum soziogenetischen Modell – 281 Lebensereignisse als soziale Stressoren – 281 Chronische Belastungen als soziale Stressoren – 283 Personale Ressourcen als Mediatoren – 285 Soziale Ressourcen als Mediatoren – 286 Geschlecht als sozialer Prädiktor psychischer Erkrankungen – 289 Geschlechtsrolle und Geschlechtsrollenmodelle – 289
12.6.3
12.7 12.7.1 12.7.2 12.7.3
Arzt-Patient-Beziehung – 298 Strukturelle Asymmetrie – 299 Interaktionsdefizite – 300 Rollenwandel: Abbau der Expertendominanz? – 300 Literatur – 302
> > Die gegenwärtige Psychiatrie geht von multifaktoriellen Modellen der Genese psychischer Erkrankungen aus. Daraus entsteht die Notwendigkeit unterschiedlicher, sich ergänzender Zugänge zum Gegenstand, um dessen biologischen, psychologischen und soziologischen Aspekten gerecht zu werden. Die Anwendung soziologischer Theorien und Methoden auf Probleme der Psychiatrie ist umfassend: Sie beinhaltet nicht nur psychosoziale Aspekte der Prädisposition, Manifestation, des Verlaufs und Ausgangs psychischer Erkrankungen, sondern auch Aspekte des Behandlungsund Wissenschaftssystems Psychiatrie sowie der gesellschaftlichen Stigmatisierung psychisch Kranker. Die vorliegende Themenauswahl ist daher zwangsläufig selektiv.
278
Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
12.1
Soziologische Forschung in der Psychiatrie
12.1.1
Historische Entwicklung
Die Entwicklung soziologischer Forschung in der Psychiatrie begann in den 1930er Jahren mit Studien zur Epidemiologie und zum abweichenden Verhalten, stagnierte dann etwa 20 Jahre, steigerte sich in den 1950er und 1960er Jahren, um im Zusammenhang gesellschaftlicher Psychiatriekritik in den 70er Jahren einen Höhepunkt zu erreichen und dann wieder abzunehmen.
12
12.2
Soziale Ungleichheit
12.2.1
Schichtbegriff
Der Schichtbegriff bezeichnet eine homogene Bevölkerungsgruppe, deren Mitglieder sich durch gemeinsame Statusmerkmale von anderen Bevölkerungsgruppen innerhalb einer vertikal differenzierten Sozialstruktur unterscheiden. Schichtzugehörigkeit (analog dazu »social class« oder »socioeconomic status«/SES) verweist auf die objektive und subjektive Situation der Vergesellschaftung und bedeutet damit Teilnahme an bestimmten sozialen Erfahrungen, Lebenschancen und -risiken. Die zentralen Statusmerkmale Beruf, Bildung und Einkommen können als einzelne Kriterien in Form von Rangdaten operational erfasst oder zu (gewichteten) Schichtindizes kombiniert werden. Je nach Differenzierungsgrad der Operationalisierung, wobei die Berufstätigkeit immer vorrangiger Indikator ist, lassen sich 3 (Ober-, Mittel-, Unterschicht) oder 5 Schichten voneinander unterscheiden (Oberschicht und obere Mittelschicht, mittlere Mittelschicht, untere Mittelschicht, obere Unterschicht und untere Unterschicht).
Grenzen der Schichtungsmodelle Fortschreitende gesellschaftliche Differenzierung und Pluralisierung der Lebenslagen begrenzen allerdings die Gültigkeit von Schichtungsmodellen sozialer Ungleichheit. Schichtungsmodelle gehen von einer Kovariation der Statuskriterien Beruf, Bildung und Einkommen aus, so dass sie statusinkonsistente Lebenslagen nicht erfassen, die zunehmend wichtiger werden (z. B. hoher Bildungsgrad in Kombination mit niedrigem Einkommen und umgekehrt). Es ist davon auszugehen, dass horizontale Ungleichheiten wie Geschlecht, Alter, Generationszugehörigkeit, soziale Sicherheit oder Wohnumwelt weitere Differenzierungen schaffen, die dazu führen, dass die jeweilige Schichtzugehörigkeit nicht mehr homogene, sondern heterogen strukturierte Lebenslagen umfasst. Aus diesen und anderen, hier nicht weiter zu verfolgenden
Gründen erscheint eine mehrdimensionale Analyse sozialer Ungleichheit sinnvoll, obwohl die klassischen Statusindikatoren »berufliche Stellung« und »Ausbildungsniveau« weiterhin ihren zentralen Stellenwert behalten dürften. Dies allerdings als Variable, die nach neueren Ergebnissen der Medizinsoziologie unabhängig voneinander mit dem Auftreten von Krankheiten assoziiert sind.
12.2.2
Empirische Ergebnisse zum Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und psychischen Erkrankungen
Der traditionsreichste soziologische Aspekt psychischer Erkrankungen ist ihre Verteilung in der Bevölkerung, die gleichermaßen von Medizinsoziologen und Sozialepidemiologen untersucht worden ist. Wichtige Impulse zur Entwicklung der psychiatrischen Epidemiologie gingen in den 30er Jahren von Soziologen aus, die den Zusammenhang von »abweichenden« Bereichen der Gesellschaft wie Armut, Unterprivilegierung und andere Indikatoren schlechten Lebensstandards mit dem Auftreten von psychischen Störungen untersuchten. Als richtungsweisende Pionierarbeiten sind die Chicago-Studie von Faris u. Dunham (1939), die New-Haven-Studie von Hollinghead u. Redlich (1958) sowie die Midtown-Manhattan-Studie von Srole et al. (1962) zu nennen.
Hollingshead-Index Faris und Dunham fanden einerseits die höchsten Einweisungsraten für schizophrene Psychosen in den zentralen Stadtbezirken, deren Bewohner den unteren sozialen Schichten angehörten, andererseits eine uncharakteristische Verteilung der Einweisungsraten für affektive Psychosen. Hollingshead und Redlich konnten diesen Zusammenhang anhand eines »index of social position« (Hollingshead-Index aus den Faktoren »berufliche Stellung« und »Ausbildung«) bestätigen: Je niedriger die soziale Schicht, desto schwerer die psychische Erkrankung (⊡ Tab. 12.1 und 12.2) und desto länger der stationäre Aufenthalt.
⊡ Tab. 12.1. Verteilung von Neurosen und Psychosen im System sozialer Schichtung. (Nach Hollingshead u. Redlich 1958) Soziale Schicht
Neurosen (in %)
Psychosen (in %)
I
52,6
47,4
II
67,2
32,8
III
44,2
55,8
IV
23,1
76,9
V
8,4
91,6
279 12.2 · Soziale Ungleichheit
⊡ Tab. 12.2. Häufigkeit verschiedener Arten von (behandelten) Psychosen nach Sozialschichten (pro 100.000 Einwohner, alters- und geschlechtskorrigiert). (Nach Hollingshead u. Redlich 1958) Krankheitsarten
Sozialschicht I–II
III
IV
V
Affektive Psychosen
40
41
68
Alkohol- und Suchtpsychosen
15
29
32
116
9
24
46
254
111
168
300
895
21
32
60
175
Organische Psychosen Schizophrene Psychosen Alterspsychosen
105
Anhand des Hollingshead-Index wurden 5 Schichten bestimmt, denen eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung von New Haven (5%) zugeteilt wurde: Schicht I (3% der Haushalte): Besitzer und Vorstandsmitglieder industrieller Unternehmen, Beamte des gehobenen Dienstes, Vertreter »freier« akademischer Berufe; Spitzeneinkommen, Alteingesessene mit ererbtem Vermögen, beste Wohngegend; Schicht II (8,4%): Vertreter des mittleren Managements, kleinere Unternehmer, angestellte Akademiker; Schicht III (20,4%): technische und Verwaltungsangestellte, kleine Gewerbetreibende, qualifizierte Handwerker; Schicht IV (49,8%): gelernte und angelernte Arbeiter, Verkäufer; konsolidierte Einwanderer; Schicht V (18,4%): angelernte und ungelernte Arbeiter, häufig unabgeschlossene Elementarschulausbildung, häufig Einwanderer aus Süd- und Osteuropa, Slumgegend. Bedenkt man, dass es sich hier um die behandelte Prävalenz handelt, dürfte die wahre Psychoserate für Unterschichtangehörige noch höher liegen, da diese seltener eine behandelnde Institution aufsuchen und dies auch nur bei schwereren Krankheitssymptomen.
Inverse Relation von sozialer Schicht und psychischen Störungen Der Befund der signifikant höheren Fallrate der schweren psychischen Störungen wie Schizophrenie, Substanzmissbrauch, Persönlichkeitsstörungen und Depression in den niedrigen sozialen Schichten ist trotz des bedeutenden methodologischen Fortschritts in der psychiatrischen Epidemiologie (Veränderung der Diagnosekonzepte und Standardisierung der Diagnoseinstrumente) – und nicht zuletzt trotz Veränderungen sozioökonomischer Strukturen – in klinischen und Feldstudien bis heute bemerkenswert konsistent geblieben. Allerdings steht der Aspekt der Schichtzugehörigkeit nicht mehr im Zentrum des Interesses.
Die inverse Relation zwischen Sozialschicht und psychischen Störungen ist repräsentativ für die städtische und kleinstädtische Bevölkerung – im folgenden an 2 neueren Studien verdeutlicht –, nicht aber für überwiegend ländliche Gemeinden, wo die üblichen Schichtkriterien und ihre Bewertung nicht greifen. Als Beispiel für die spezifische Sozialstruktur einer ländlichen Gemeinde in Südtirol, in der sich aufgrund der besonderen Lebensbedingungen kein gravierendes soziales Gefälle herausbilden konnte, sei auf die Studie von Hinterhuber (1982) verwiesen.
Mannheimer-Kohorten-Feldstudie In der repräsentativen Mannheimer-Kohorten-Feldstudie (Schepank 1987, 1990) verteilen sich die psychogenen Erkrankungen (Psychoneurosen, Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, funktionelle und psychosomatische Störungen), die insgesamt mit einer Punktprävalenz von 26% bei 600 untersuchten Probanden diagnostiziert wurden, entsprechend der inversen Relation folgendermaßen: Oberschicht und obere Mittelschicht: 19,1%; untere Mittelschicht: 20%; obere Unterschicht: 34,2%; untere Unterschicht: 50,1%. Dieser Schichtgradient findet sich ebenfalls in der Oberbayerischen Verlaufsuntersuchung (Fichter 1990), die eine kleinstädtisch-ländliche Region repräsentiert. Die Gesamtprävalenzrate (7-Tage-Punktprävalenz) ist am höchsten in der untersten sozialen Schicht, differenziert sich aber nach Art der Erkrankung (⊡ Abb. 12.1a, b). Während psychisch Gesunde und psychosomatisch Erkrankte in den beiden oberen Sozialschichten überrepräsentiert sind, rangieren die nichtpsychosomatisch Erkrankten (Alkoholabhängige) in den unteren 3 Schichten. Hinsichtlich der Prävalenz affektiver Erkrankungen zeigten sich keine schichtspezifischen Unterschiede. Während die Schizophrenien überproportional in den unteren Schichten vertreten sind, zeigen sich für psychosomatische Erkrankungen keine ganz eindeutigen Befunde.
Internationale Studien Der inverse Zusammenhang zwischen niedrigem Sozialstatus und schweren psychischen Störungen ist ebenfalls in neueren amerikanischen Studien, insbesondere der Epidemiological Catchment Area-Studien (Holzer et al. 1986), der Israel-Studie von Dohrenwend (vgl. Dohrenwend 1990) sowie dem National Comorbidity Survey (Kessler et al. 1994) repliziert worden.
12
280
Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
⊡ Abb. 12.1. a Psychiatrische Morbidität nach sozialer Klassse. b psychosomatische und nichtpsychosomatische psychische Erkrankungen in ihrer Häufigkeit in Abhängigkeit von der sozialen Schicht. Statistischer Vergleich innerhalb desselben Querschnitts (*p<0,5, **p<0,1). (Aus Fichter 1990)
a
12 b
12.2.3
Erklärungsmodelle: Soziale Verursachung oder soziale Selektion?
Zwei konkurrierende klassische Modelle sind seit Jahrzehnten in der Diskussion um die Erklärung der schichtspezifischen Prävalenz psychischer Erkrankungen: das Modell der sozialen Verursachung und das Modell der sozialen Selektion.
hörige unterer Sozialschichten eher psychisch gestört, weil sie größeren Belastungen und ungünstigeren Lebensumständen ausgesetzt sind als Angehörige höherer Schichten. Nach Ergebnissen von Dohrenwend et al. (1992; Dohrenwend 2000) sowie Ritscher et al. (2001) trifft dieses Modell insbesondere auf depressive Erkrankungen bei Frauen sowie auf Substanzmissbrauch und Persönlichkeitsstörungen bei Männern zu. Modell der sozialen Selektion. Demgegenüber postuliert
Modell der sozialen Verursachung. Gemäß der These der
sozialen Verursachung (»social stress«), mit der Faris u. Dunham ihre Ergebnisse zu erklären suchten, sind Ange-
die Selektions- oder Drifthypothese, dass der Krankheitsprozess zu einem sozialen Abstieg führt, bzw. dass psychisch Kranke aus unteren Schichten in diesen verblei-
281 12.3 · Soziogenetisches Stressmodell
ben, während andere sozial aufsteigen. Im Unterschied zur These der sozialen Verursachung, die empirisch schwer zu überprüfen ist, ist die Gültigkeit der Drifthypothese inzwischen eindeutiger für das Überwiegen der schizophrenen Psychosen in unteren Sozialschichten belegt: Der frühe Krankheitsbeginn kann die persönliche und soziale Entwicklung des Betroffenen bereits vor Abschluss der beruflichen Ausbildung derart behindern, dass ein sozialer Aufstieg nicht möglich ist bzw. ein sozialer Abstieg auch im Vergleich zur sozialen Position des Vaters unvermeidlich erscheint (Häfner 1998). Auch die häufige Inkongruenz zwischen Ausbildungsund Beschäftigungsniveau bei schizophrenen Patienten kann im Kontext der Drifthypothese interpretiert werden. Trotzdem lässt sich auch für diese Patientengruppe nicht ausschließen, dass pathogenetische Effekte eines niedrigen sozioökonomischen Status den Krankheitsverlauf zusätzlich ungünstig beeinflussen.
12.3
Soziogenetisches Stressmodell
12.3.1
Entwicklung zum soziogenetischen Modell
Das empirische Interesse hinsichtlich der Verursachungshypothese hat etwa seit den 80er Jahren zu einer Verschiebung des Forschungsschwerpunkts geführt: Der sozioökonomische Status als bedeutsamer ätiologischer Faktor geriet aus dem Blickfeld zugunsten des Stressparadigmas, das die unmittelbare Umwelt eines Individuums nach Risiko- und Schutzfaktoren untersucht (vgl. Angermeyer u. Klusmann 1987). Mikrosoziale Konzepte sind in einem soziogenetischen Modell unverzichtbar, erstens, weil das Schichtkonzept rein deskriptiv ist und kein eigenes Erklärungspotenzial hat, und zweitens, weil sie in einer hypothetischen Kausalkette makrosoziale und psychologische Variablen vermitteln. Waren die früheren Arbeiten noch darum bemüht, Stressoren als Effekte der sozialen Schicht zu konzipieren (beispielsweise Merkmale der Berufstätigkeit und des Arbeitsplatzes, besondere Anfälligkeit Unterschichtangehöriger für negative Wirkungen von Lebensereignissen), wird das Stresskonzept zunehmend vom Schichtkonzept abgekoppelt und als individuelle Belastung bzw. Überforderung definiert. Bei der Fokussierung auf mikrosoziale Konzepte muss jedoch berücksichtigt werden, dass soziale Stressoren sowie persönliche und soziale Ressourcen, die Krankheitsprozesse beeinflussen, durch den sozioökonomischen Status wesentlich mitbestimmt werden. So verfügen Personen mit höherem sozioökonomischen Status über bessere persönliche Ressourcen, etwa einem höheren Grad an wahrgenommener Kontrolle und höherem Selbstwertgefühl, mit denen Risikofaktoren ver-
mieden oder in ihren Wirkungen reduziert werden können. Dadurch, dass soziale Stressoren auch als Folgen gesellschaftlicher Stratifikation und Organisation konzipiert werden, die nur durch kollektive und politische Handlungen beeinflussbar sind (s. unten, Modell von Pearlin), kann eine weitere Überstrapazierung individueller Bewältigungsversuche in der Therapie und eine weitere Demoralisierung des Patienten vermieden werden. Persistierender Forschungsbedarf. Insgesamt haben For-
schungen zum soziogenetischen Modell hinreichend Belege für die substantielle Bedeutung sozialer Bedingungen für das Auftreten psychischer Störungen geliefert. Dennoch bleibt hier ein großer Forschungsbedarf, etwa hinsichtlich einer multidimensionalen Ungleichheitsanalyse (Konfigurationen sozialer Stressoren) bestehen, zumal im Unterschied zu den USA diese Thematik hierzulande nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dies gilt nicht nur für die Psychiatrie. Merkmale der sozialen Ungleichheit werden meist wie Alter und Geschlecht als Kontrollvariable verwendet und stehen selten im Zentrum einer Studie. Dies lässt den Eindruck entstehen, als gäbe es keine offenen Fragen mehr zum Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Erkrankung. Die Feststellung der Existenz dieses Zusammenhangs ist jedoch nicht identisch mit seiner Erklärung.
12.3.2
Lebensereignisse als soziale Stressoren
Im soziogenetischen Stressparadigma werden Stressoren entweder als kritische Lebensereignisse (»life-change events«) oder als chronische Belastungen (»environmental demands«) konzeptualisiert. Begriff. Im Unterschied zu chronischen Belastungen, die
eine Anpassung über einen längeren Zeitraum erfordern, sind Lebensereignisse akute Veränderungen in der Umwelt eines Individuums, die schnelle und weitreichende Anpassungsleistungen verlangen (wie Tod oder schwere Erkrankung eines nahestehenden Menschen, Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes, Schwangerschaft und Geburt).
Lebensereignisse und psychische Störungen Während die theoretische Fundierung des Life-eventKonzeptes trotz fast 30 Jahre währender Forschung defizitär geblieben ist, ist ein empirischer Zusammenhang sowohl mit somatischen und psychosomatischen, v. a. aber mit psychischen Störungen dokumentiert. Die Varianzausbeute blieb allerdings mit 1 bis max. 9% erklärter Varianz hinter den Erwartungen zurück. Holmes u. Rahe (1967) hatten ursprünglich angenommen, dass die Gesamtzahl aller verändernden Ereignisse,
12
282
Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
unabhängig von ihrer Beschaffenheit und ihrer individuellen Bedeutung, in einem definierten Zeitraum die Wiederanpassungsfähigkeit eines Individuums übersteigt und damit eine Vulnerabilität für Erkrankungen verursacht. Diese Annahme wurde bald modifiziert und differenziert, indem Lebensereignisse nach bestimmten Eigenschaften unterschieden (exits/entrances, bedrohliche und Verlustereignisse, erwünschte und unerwünschte Ereignisse) und innerhalb ihres biographischen Kontextes gesehen wurden. Brown u. Harris gehen in ihren Depressionsstudien davon aus, dass nur bei einer bereits vorliegenden Vulnerabilität schwerwiegende negative Lebensereignisse, die wenig vorhersehbar und wenig kontrollierbar sind, eine psychische Störung auslösen können (1978). Trotz der kaum zu lösenden Schwierigkeit, auszuschließen, dass Lebensereignisse nicht Ursache, sondern Folge der Erkrankung sind, wird inzwischen die Auffassung vertreten, dass ein oder mehrere kritische Lebensereignisse innerhalb eines Zeitraumes von 6–12 Monaten vor Ausbruch einer Erkrankung, deren Beginn zeitlich determiniert werden kann, als Auslöser für diese Erkrankung angesehen werden können.
So wird insbesondere im Vorfeld von Depressionen und Angststörungen von Verlusterlebnissen berichtet (⊡ Tab. 12.3).
Grenzen des Kausalmodells Das ursprüngliche einfache Kausalmodell konnte bereits in den früheren Lebensereignisstudien nicht empirisch bestätigt werden, so dass komplexere Modelle erforderlich wurden, die prädisponierende und moderierende Faktoren wie persönliche Ressourcen und soziale Unterstützung miteinbeziehen (⊡ Abb. 12.2). Die Mehrzahl der Studien, die im Vergleich zu Normalpopulationen bei psychiatrischen Patienten konsistent eine positive Korrelation zwischen Lebensereignissen und psychischen Erkrankungen finden, sind Fallkontrollstudien. Dies schränkt möglicherweise die Gültigkeit der Befunde ein, da psychiatrische Patienten sich kurz nach Beginn ihrer Erkrankung besonders gut an vorhergehende Ereignisse erinnern, nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst eine kausale Erklärung suchen. Longitudinalstudien, in denen Lebensereignisse als Verlaufsfaktoren untersucht werden, sind aus finanziellen und methodischen Gründen (z. B. Ausschluss krank-
⊡ Tab. 12.3. Lebensereignisse bei behandelten und unbehandelten Fällen mit Angststörungen und Depressionen sowie einer Kontrollgruppe. (Nach Wittchen 1987)
12
Stationär behandelte Patienten
Fälle
Neurotische Depression
Angststörungen
Neurotische Depression
Angststörungen
Patienten
Kontrollgruppe
Patienten
Kontrollgruppe
Patienten
Kontrollgruppe
Patienten
Kontrollgruppe
Lebensbedingungen 50,5
33,5
56,0b
28,0
51,5b
28,0
50,2a
29,5
– nur positive
9,5
12,0
14,0
7,0
7,0a
2,0
7,0
4,0
– nur kritische
21,3b
7,0
28,5b
7,0
20,0b
7,0
13,5b
4,5
– nicht krankheitsbezogen
9,6
14,3
10,5
13,1
5,0
4,0
4,0
9,1
– nicht krankheitsbezogen, kritische
3,1
2,1
1,0
1,4
3,3
4,0
0,4
1,0
– gesamt
9,5a
7,0
10,0b
8,0
9,7
6,7
10,0a
6,7
– kritische
4,1a
2,0
5,8a
2,5
5,0
2,5
4,1a
2,4
– gesamt
34,0a
25,0
46,0b
18,0
34,0b
12,0
38,5a
19,0
– schwere
17,1b
2,0
24,0b
3,0
17,0b
9,2
9,5a
2,0
– gesamt
15,5b
5,5
26,0b
4,0
28,5b
6,0
11,0
6,0
– schwere
9,0
3,0
18,0
1,1
10,0b
4,0
1,0
2,0
– nicht krankheitsbezogen
2,3a
1,0
2,6
2,9
3,9a
1,0
1,0
1,0
– gesamt
Lebensereignisse
Chronische Belastungen
Verlustereignisse
a
p<0,05; b p<0,01
283 12.3 · Soziogenetisches Stressmodell
⊡ Abb. 12.2. Überblick über Annahmen der Lebensereignisforschung. (Aus Wittchen 1988)
heitsabhängiger Ereignisse!) eher selten. Sie bestätigen sowohl die auslösende Rolle von Verlustereignissen im Vorfeld der depressiven Erkrankung, weisen einen höheren »life event score« für Patienten mit wiederholten Krankheitsmanifestationen nach und belegen die Effekte chronischer Belastungen, die für den Krankheitsverlauf noch bedeutsamer zu sein scheinen als einzelne Lebensereignisse (⊡ Abb. 12.3).
12.3.3
Chronische Belastungen als soziale Stressoren
Im Unterschied zu Lebensereignissen sind Ursachen und Wirkungen chronischer Belastungen (»strain«) weniger gut untersucht. Chronische Belastungen sind v. a. Belastungen, die aus institutionalisierten Rollenkontexten erwachsen; ihnen wird deshalb eine zentrale, den Stellenwert von Lebensereignissen relativierende Bedeutung beigemessen, weil soziale Rollen konstitutiv sind für die
objektive und subjektive Vergesellschaftung eines Individuums. Insofern stellt z. B. das Belastungs-Überforderungs-Modell von Pearlin (⊡ Abb. 12.4) ein differenzierteres Brückenkonzept zwischen der makro- und der mikrosozialen Dimension dar als das Life-event-Konzept.
Ursachen chronischer Rollenbelastungen Chronische Rollenbelastungen können aus unglücklichen Partnerschaften, einem gespannten Verhältnis zu Familienmitgliedern und Vorgesetzten, dauerhaften Überoder Unterforderungen am Arbeitsplatz oder dauerhaften finanziellen Schwierigkeiten resultieren. Nach Pearlin (1989) lassen sich verschiedene Arten von Rollenstress unterscheiden: Rollenüberforderung, interpersonale Konflikte in komplementären Rollensets (Eltern-Kind, Arbeiter-Vorgesetzter) und intrapersonale Rollenkonflikte (schwer vereinbare Anforderungen aus multiplen Rollen, z. B. Berufsund Familienrolle).
12
284
Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
⊡ Abb. 12.3. Belastende Lebensereignisse und Lebensbedingungen, Outcome-Typus (IMPS). (Aus Wittchen 1988)
⊡ Abb. 12.4. Modell des
12
Belastungs-ÜberforderungsProzesses. (Nach Pearlin 1987; Hurrelmann 1991)
Wie für Lebensereignisse ist auch für chronische Belastungen ein signifikanter Zusammenhang mit Depressivität, Aggressivität, psychosomatischen Beschwerden und Alkoholmissbrauch nachgewiesen (u. a. Wheaton 1991; Wittchen u. Zerssen 1988; ⊡ Abb. 12.4), wobei auch hier die bereits oben diskutierte Problematik einer kausalen Interpretation berücksichtigt werden muss.
Interaktion von chronischen Belastungen und kritischen Lebensereignissen Die Frage, welcher der alternativen Konzeptionen von sozialem Stress nun die größere Erklärungskraft zukommt, kann empirisch nicht eindeutig beantwortet werden. Weiterführender als diese Überlegung erscheint dagegen die Frage, wie chronische Belastungen und kritische
285 12.3 · Soziogenetisches Stressmodell
Lebensereignisse interagieren und welche kumulativen Effekte sie haben, da sie in der Lebenspraxis komplex miteinander verwoben sind (Pearlin 1989; Thoits 1995). Dabei kommt es v. a. darauf an, Lebensereignisse und Belastungen nicht als isolierte Faktoren, sondern im zeitlichen und sozialen Zusammenhang ihrer Bedingungen, Folgen und subjektiven Bedeutung zu sehen, so beispielsweise als Cluster bzw. Kombinationen von Stressoren, als Wechselwirkungen von Stressoren (»carry-over« effects), d. h. Mechanismen der Übertragung von Stress zwischen Personen, Rollenbereichen und Lebensphasen oder als soziale Wertvorstellungen, die die subjektive Bedeutung von Stressoren beeinflussen.
Lebensereignisse und chronische Belastungen in unteren sozialen Schichten Eine kritische Sicht der Epidemiologie von sozialem Stress ergibt, dass entgegen einer verbreiteten Auffassung, Personen unterer sozialer Schichten nicht mehr unerwünschte Lebensereignisse erleben als andere (Turner et al. 1995). (Solche Ergebnisse können durch die Art der erhobenen Lebensereignisse verzerrt werden; fragt man etwa nach der Anzahl von Ereignissen innerhalb des sozialen Netzwerks, muss man berücksichtigen, dass Personen mit multiplen Rollen und größeren Netzwerken logischerweise mehr netzwerkbezogene Ereignisse angeben als Personen mit weniger Kontakten.) Im Unterschied dazu ist jedoch eine konsistente und inverse Beziehung zwischen unteren Schichten und chronischen Belastungen nachgewiesen (u. a. McLeod u. Kessler 1990), die das erhöhte Risiko für Distress und bestimmte o. g. Erkrankungen mit erklären dürfte. Als Ursache für die häufigeren belastenden Lebenserfahrungen wird eine spezifische Vulnerabilität Unterschichtangehöriger angenommen, die sich – abhängig von Ereignissen – wiederum nach sozialen Mustern verteilt: Danach erscheinen Frauen vulnerabler für »Netzwerkereignisse« (negative Ereignisse, die nahestehenden Menschen zustoßen), Männer vulnerabler für finanzielle und berufsbezogene Ereignisse (u. a. Conger et al. 1993). Diese differenzielle Vulnerabilität von Männern und Frauen ist nicht verwunderlich, reflektiert sie doch die traditionellen gesellschaftlich zugeschriebenen Rollenerwartungen an die Geschlechter, die in unteren Schichten noch ausgeprägter repräsentiert werden. Offensichtlich bleibt aber der Anteil berufstätiger Frauen in den unteren Sozialschichten, die ebenfalls eine erwerbsbezogene Vulnerabilität aufweisen müssten, hier unberücksichtigt.
12.3.4 Personale Ressourcen als Mediatoren Kognitiv-transaktionales Bewältigungsmodell Unter der Vielzahl sehr heterogener, weil aus unterschiedlichen theoretischen Richtungen stammender Konzepte
der Stressbewältigung, gilt als zentraler Ansatz das kognitiv-transaktionale Bewältigungsmodell von Lazarus und Folkman (1984). Danach umfasst Bewältigung (Coping) alle kognitiven und aktionalen Versuche, sich mit externen und/oder internen Anforderungen, welche die alltägliche Anpassungskompetenz einer Person übersteigen, auseinanderzusetzen mit dem Ziel, sie zu meistern, zu tolerieren, zu mildern oder zu vermeiden. Im Unterschied zum einfachen Reiz-Reaktions-Schema früherer Stresstheorien geht der transaktionale Ansatz davon aus, dass die subjektive Einschätzung stärker als die objektiven Merkmale einer Situation darüber entscheidet, ob diese als belastend bewertet wird oder nicht; dass Bewältigung ein mehrstufiger Bewertungsprozess ist, wobei der primären Bewertung der Situation eine sekundäre Bewertung folgt, in der die verfügbaren Copingressourcen und deren Konsequenzen eingeschätzt werden; dass der Austausch zwischen Person und Umwelt das Bewältigungsgeschehen stärker beeinflusst als Persönlichkeitsdispositionen; dass Bewältigung unabhängig von ihrem Erfolg betrachtet werden muss. Bewältigungsprozesse sind unabhängig von der Situation als bewusst und zielgerichtet definiert: Entweder wird versucht, die Belastungssituation instrumentell zu verändern oder das Problem kognitiv so umzudeuten, dass es subjektiv weniger bedrohlich erscheint (Regulation von Distress). Entsprechend dieser Funktionen lassen sich Copingstrategien als problemorientiert (z. B. Informationssuche, zielgerichtetes Handeln, aktive Anpassung, Vermeidung) oder emotionsorientiert (z. B. positive Umdeutung, Gefühlskontrolle, Aggression, Alkoholkonsum) unterscheiden.
Copingressourcen Copingressourcen bezeichnen ein persönliches oder soziales Potenzial (soziale Unterstützung, s. unten), das die Wahl der Copingstrategien steuert und damit die Effektivität der Bewältigung fördert – oder diese als Vulnerabilitätsfaktoren behindert. Personale Ressourcen sind überwiegend anhand von Konzepten untersucht worden, die allesamt Aspekte eines positiven Selbstkonzepts formulieren – wie »locus of control«, »sense of mastery«, »selfesteem«, »learned helplessness«, »self-efficacy«, »hardiness« – und sich deshalb inhaltlich stark überschneiden. In einer Fülle von Studien konnten beispielsweise für die Ressourcen »Selbstwert« und »interne Kontrollüberzeugung« sowohl direkte Effekte als auch Puffereffekte, also die signifikante Reduktion psychischer und physischer Stresssymptome in einer Belastungssituation, nachgewiesen werden.
12
286
Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
! Personen mit hohem Selbstwertgefühl und interner Kontrollüberzeugung sind emotional stabiler und neigen stärker zu aktivem problemorientiertem Coping als Personen mit niedrigerem Selbstwert und einem Gefühl externer Fremdbestimmung. Letztere bevorzugen passive, vermeidende, hauptsächlich emotionsorientierte Copingformen.
Bewältigung als individualistisches Konstrukt Da die Bewältigungsforschung von einem genuin klinisch-psychologischen Interesse ausging, ist Bewältigung als individualistisches Konstrukt gefasst, in dem personale Anteile überschätzt, soziale Zwänge dagegen unterschätzt werden. Individuelles Bewältigungsgeschehen hat immer einen interaktiven und sozial-normativen Bezug (Pearlin u. Schooler 1978). Dieser impliziert gesellschaftliche Werte und Normen, die die Regeln des Umgangs mit belastenden Situationen festlegen (z. B. für Übergänge im Lebenslauf, Gefühlsnormen), lebensgeschichtliche und aktuelle lebensweltliche Faktoren sowie sozialstrukturelle Faktoren, die über statusgebundene Optionen bestimmen (Leistungs-, Belohnungs-, Zugehörigkeitsoptionen). Diese komplexen sozialen Zusammenhänge beeinflussen den gesamten Bewältigungsprozess von der subjektiven Einschätzung der Belastungssituation über die Verfügbarkeit personaler und sozialer Ressourcen, über die eingesetzten Bewältigungsstrategien bis hin zu ihren sozialen Konsequenzen.
12
Soziale Verteilung von Copingressourcen Studien zum Zusammenhang von Copingressourcen und sozialstrukturellen Faktoren belegen eine soziale Ungleichverteilung von Ressourcen (u. a. Syme 1989; Mirowsky u. Ross 1988): Angehörige unterer Schichten, Frauen, Minoritäten und Unverheiratete haben deutlich schlechtere Copingressourcen (z. B. Selbstwertgefühl, interne Kontrollüberzeugung) und ineffektivere Copingstrategien. Unterschichtangehörige weisen eine geringere Rollenflexibilität auf, haben eher traditionelle und fatalistische Orientierungen, eine größere Autoritätsgläubigkeit und positionsgebundene Interaktionsstile. Geschlecht, Bildung und Einkommen sind entscheidende sozialstrukturelle Faktoren, die sich u.a. über subjektive Kontrollüberzeugung und wahrgenommene Unterstützung auf die psychische Gesundheit auswirken. Die Ausprägung dieser Ressourcen konnte in einer Studie von Ross und Mirowsky (1989) das immer wieder gefundene soziale Verteilungsmuster depressiver Störungen erklären. Diese nehmen zu, wenn der Betroffene sozioökonomisch schlechter gestellt, weiblich und unverheiratet ist.
12.3.5
Soziale Ressourcen als Mediatoren
Eine Fülle medizinsoziologischer, psychosomatischer und sozialepidemiologischer Forschung weist darauf hin, dass die sozialen Beziehungen eines Individuums die wichtigste Determinante seiner Lebenserwartung, seiner physischen und psychischen Gesundheit sowie seines allgemeinen Wohlbefindens sind. Dies belegt eine soziologische Theorietradition, die mit Durkheim und Simmel davon ausgeht, dass soziale Beziehungen einem menschlichen Grundbedürfnis entsprechen und damit eine basale Voraussetzung für Gesundheit darstellen (direkter Effekt). Umgekehrt ist soziale Isolation als Risikofaktor für eine Vielzahl von Erkrankungen und für Suizidalität nachgewiesen.
Soziale Unterstützung vs. soziales Netzwerk Soziale Beziehungen, auf einfachster Ebene als Familienstand erfasst, können als soziale Unterstützung und/ oder als soziales Netzwerk konzeptualisiert werden, wobei soziale Unterstützung eine Funktion des sozialen Netzwerks darstellt und nicht mit diesem identisch ist, wie die häufig metaphorische Verwendung des Netzwerkbegriffs und seine Vermischung mit dem der sozialen Unterstützung vermuten ließe. Die Beschaffenheit des sozialen Netzwerks kann zwar als Indikator für die soziale Integration eines Individuums gelten, nicht aber als Indikator für soziale Unterstützung.
Begriff des sozialen Netzwerks Der Begriff »soziales Netzwerk«, in den 1950er Jahren von Sozialanthropologen geprägt zur Beschreibung der interaktiven Vernetzung von Gemeindestrukturen, bezeichnet ein Geflecht sozialer Beziehungen entweder aus der Perspektive eines Individuums (egozentriert) oder als System komplexer sozialer Strukturen (makroorientiert). Der Begriff hat sich in der Soziologie zu einem komplexen analytischen Forschungsinstrument entwickelt, anhand dessen zwar die strukturelle Beschaffenheit unterschiedlicher Netzwerktypen beschrieben werden kann, dessen theoretische Fundierung allerdings hinter der mathematischen Verfeinerung zurückgeblieben ist. Die Anwendung solch komplexer Strukturmodelle erscheint auch deshalb in der angewandten psychiatrischen Forschung wenig sinnvoll, da ab einem bestimmten quantitativen Differenzierungsgrad nicht mehr auf funktionelle Eigenschaften geschlossen werden kann. Ein egozentriertes Netzwerk lässt sich anhand folgender Kriterien strukturell beschreiben: Anzahl der Beziehungspersonen, Zusammensetzung (Familien, Verwandte, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen etc.), Häufigkeit der Kontakte,
287 12.3 · Soziogenetisches Stressmodell
Grad der Segmentierung, d. h. Verteilung der Kontakte über verschiedene Lebensbereiche und deren Überlappung, geographische Erreichbarkeit der Netzwerkmitglieder, Dichte des Netzwerks, d. h. Grad der wechselseitigen Kontakte (Vernetzung), Homogenität bzw. Heterogenität der Netzwerkmitglieder bezüglich Alter, soziale Schicht etc., Qualität der Beziehungen (uniplex, d. h. nur eine Funktion erfüllend; multiplex, d.h. mehr als eine Funktion erfüllend). Es gibt keine Norm dafür, wie diese Kriterien optimal beschaffen sein müssten, damit ein soziales Netzwerk objektiv und subjektiv als Unterstützungsnetzwerk bezeichnet werden dürfte. Ein gewisser Konsens besteht darin, dass kleine, dichte, multiplexe Beziehungsnetze mit einem hohen Familienanteil bei Dauerbelastungen zwar kontinuierliche und umfassende Unterstützung leisten. Gleichzeitig weisen sie aber ein hohes Maß an sozialer Kontrolle und Sanktionsmacht auf, so dass das Unterstützungspotenzial durch ein gewisses Spannungspotenzial relativiert wird. Weniger dicht geknüpfte größere Netzwerke sind dagegen kaum kontrollierend und fremdbestimmend, aber in Dauer, Breite und Intensität ihrer Unterstützungsleistungen begrenzt.
Soziale Netzwerke schizophrener Patienten Im Vergleich zu den eben genannten Netzwerktypen unterscheiden sich die sozialen Netzwerke schizophrener Patienten signifikant in allen o. g. Merkmalen (zusammenfassend Angermeyer 1989), so dass sie – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt als soziale Ressource dienen können. Sie unterscheiden sich durch einen geringeren Umfang im Vergleich zu den Netzwerken gesunder Kontrollpersonen, alkoholabhängiger und depressiver Patienten, durch einen dominierenden Anteil an Familienangehörigen und durch wenig selbsterworbene außerfamiliale Beziehungen, durch wenig multiplexe Beziehungen, durch häufig asymmetrische und wenig reziproke Beziehungen (Patienten leben oft in einseitiger Abhängigkeit von zentralen Bezugspersonen), durch häufig kurzlebige und störanfällige Beziehungen, durch weniger soziale Unterstützung, durch einen mit längerer Krankheitsdauer steigenden Anteil von Mitpatienten oder von Angehörigen anderer sozialer Randgruppen. Diese quantitativen und qualitativen Beziehungsdefizite, die sich bereits zum Zeitpunkt der Erstmanifestation feststellen lassen und sich im Krankheitsverlauf verschärfen,
sind weder nur als bedeutsamer Faktor für die Entstehung und den Verlauf der schizophrenen Erkrankung, noch nur als ihre Folge zu sehen. Sie sind als interaktives Produkt aus dem Beziehungsverhalten der Kranken (sozialer Rückzug als Symptom und Selbstschutzstrategie), der Reaktion der Umwelt auf die psychische Erkrankung und den aktuellen Lebensbedingungen schizophrener Patienten zu verstehen. Hier wird deutlich, dass ein soziales Netzwerk sowohl den Charakter einer objektiven Sozialstruktur hat, die individuelles (Problemlöse-)Verhalten fördert oder behindert, als auch eine dynamische subjektiv konstruierte Realität darstellt, die durch Interaktionen reproduziert oder verändert werden kann.
Konzept der Expressed Emotions Forschungsergebnisse zum Konzept der »Expressed Emotions« (Vaughn u. Leff 1985) verweisen in diesem Zusammenhang auf die besondere Bedeutung, die qualitativen Merkmalen enger sozialer Beziehungen für den Verlauf psychischer Erkrankungen zukommt. So hat sich das emotionale Klima (EE) in den Familien Schizophrener in zahlreichen Studien als ein präziserer Prädiktor für den Krankheitsverlauf erwiesen als jede andere Patientenvariable. Es entscheidet darüber, ob der Patient innerhalb eines Jahres nach stationärer Therapie einen Rückfall erleidet oder nicht. Bei Angehörigen, die als hoch emotional (high-EE) eingestuft werden (sowohl feindselig-kritische als auch überprotektive Haltung), findet sich eine mittlere Rückfallrate von 54%, bei niedrig emotionalen Angehörigen (low-EE; tolerante, aber auch resignative Haltung) sinkt sie auf 16% (Hahlweg et al. 1993). Es sind bei schizophrenen Patienten jedoch nicht nur negative oder positive Merkmale sozialer Beziehungen verlaufssteuernd, sondern auch ihr Fehlen bzw. die soziale Isolation, welche zu einer Verlängerung der jeweiligen Episode, zu einer erhöhten Rezidivhäufigkeit und zu einem chronifizierten Verlauf beiträgt (z. B. Pietzcker u. Gaebel 1987). Ähnliche Ergebnisse liegen für den Verlauf depressiver Erkrankungen vor: Depressive, die zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung Defizite an engen Bezugspersonen angeben, sind länger depressiv, haben häufiger depressive Episoden und neigen zur Chronifizierung (zusammenfassend Laireiter 1993).
Konzept der sozialen Unterstützung Das Konzept des sozialen Netzwerks als Ressource für Belastungsbewältigung ist weit weniger untersucht als das der sozialen Unterstützung. Logischerweise stellt ersteres die objektiven Voraussetzungen für soziale Unterstützung bereit, wobei der Einfluss struktureller und qualitativer Netzwerkmerkmale auf das Vorhandensein und die Inanspruchnahme sozialer Unterstützung noch ungeklärt ist. Das Konzept der sozialen Unterstützung hat im Wesentlichen als subjektive Wahrnehmung Eingang in die
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288
Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
Forschung gefunden, als generalisiertes Gefühl sozioemotionalen Rückhalts (von wichtigen Bezugspersonen geliebt und anerkannt zu werden sowie bei Bedarf emotionale, kognitive und instrumentelle Hilfe zu erhalten). Dabei bleibt unklar, ob die erwartete Unterstützung in einer Krisensituation tatsächlich erhalten wird. Der Begriff der erhaltenen oder aktuellen Unterstützung steht dagegen erst am Beginn einer adäquaten Erforschung, nicht zuletzt aufgrund der Notwendigkeit einer aufwendigen Methodik. Einige Befunde deuten darauf hin, dass die subjektive Überzeugung, unterstützt zu sein, einen stärkeren positiven Effekt auf psychische Outcome-Variablen hat als die tatsächlich erhaltene soziale Unterstützung (DunkelSchetter u. Bennett 1990), was manche Autoren als Beleg dafür nehmen, soziale Unterstützung als Persönlichkeitsdisposition zu interpretieren. Auch wenn Persönlichkeitsdispositionen zweifellos eine wichtige Rolle bei der Einschätzung sozialer Ressourcen spielen (Urvertrauen, Optimismus, optimistischer Fehlschluss bei antizipierten Belastungen), bleibt soziale Unterstützung doch eine »Transaktionsvariable« (Schwarzer u. Leppin 1990), in die Merkmale des sozialen Netzwerks, Art und Quelle der Unterstützung, Art und Dauer der Belastung sowie Merkmale der bevorzugten Copingstrategien eingehen.
Haupt- und Puffereffekte
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Modelle der Wirkung sozialer Netzwerke und sozialer Unterstützung unterscheiden Haupt- und Puffereffekte. Meist wird die Auffassung vertreten, dass Indikatoren für soziale Integration Haupteffekte und Maße für soziale
⊡ Abb. 12.5. Heuristisches Modell der Zusammenhänge zwischen sozialem Rückhalt und Gesundheit. (Aus Schwarzer u. Leppin 1990)
Unterstützung sowohl Haupt- als auch Puffereffekte haben. Als Beispiel für ein komplexes Kausalmodell sozialer Ressourcen sei auf Schwarzer u. Leppin (1990) verwiesen, deren Modell die wichtigsten Variablen und ihre Verknüpfung enthält (⊡ Abb. 12.5)
Familie als soziale Ressource Die Unterstützungsforschung belegt die zentrale Bedeutung des Ehepartners und der Familie als klassische Institutionen sozialen Rückhalts. Allein der Familienstand als grober Indikator sozialer Unterstützung gibt Aufschluss über deren protektive Wirkung: So haben Verheiratete generell deutlich niedrigere Morbiditäts- und Mortalitätsraten als Unverheiratete, was noch mehr für Männer als für Frauen gilt. Nach spezifizierteren Untersuchungen von Brown et al. (1975) ist der Einfluss von Lebensereignissen als Auslöser für eine Depression bei Frauen dann signifikant geringer, wenn diese über eine vertraute und enge Beziehung (»confidant«) verfügen. Die Familie wurde bis etwa Ende der 70er Jahre nicht nur von der Psychiatrie und Psychologie, sondern auch von der Medizinsoziologie als schwarzes Schaf und pathogener Faktor gesehen, bis sie als soziale Ressource im Rahmen der Unterstützungs- und Netzwerkforschung wiederentdeckt wurde. Mit der Psychiatriereform und dem Ausbau gemeindepsychiatrischer Angebote ist die Bedeutung der Familie zunehmend gestiegen. Zahlreiche Studien belegen die Funktionalität der Familie bei Pflegeleistungen und Krankheitsbewältigung hinsichtlich emotionaler und instrumenteller Unterstützung bei der Normalisierung des Alltags und der Reorganisation personaler und sozialer Identität.
289 12.4 · Geschlecht als sozialer Prädiktor psychischer Erkrankungen
Die Familie als soziale Ressource ist jedoch u. a. aus folgenden Gründen nicht unbegrenzt belastbar (vgl. Leimkühler 1987, 1988): Das Unterstützungspotenzial der Familie bedeutet oft eine Überforderung einzelner Familienmitglieder, meist der Mütter und Töchter. Je nach Stigmatisierungsgrad der Krankheit verschließen sich außerfamiliale Unterstützungsmöglichkeiten für den Kranken und seine Familie (z. B. Schizophrenie, Morbus Huntington). Die Familie kompensiert eher mangelnde Unterstützung aus dem außerfamilialen Netzwerk, als dass dieses die Familie kompensatorisch unterstützt. Das Hilfesuchverhalten von Familien wird durch Privatheitsideologien gesteuert. Je schwerer die Krankheit, je höher ihr Stigmatisierungsgrad und je kontinuierlicher Hilfe gebraucht wird, desto weniger wird Hilfe bei Freunden und Nachbarn gesucht. Das Unterstützungspotenzial der Familie wird sich infolge arbeitsmarktbedingter und demographischer Entwicklungen zwangsläufig reduzieren. Die vielfältigen Belastungen, die das Leben mit einem psychisch Kranken mit sich bringen, sind inzwischen gut dokumentiert (Boye et al. 2001; Baronet 1999; Jungbauer et al. 2001; Magliano et al. 1998), während der komplexe Zusammenhang zwischen Belastung, Bewältigung und Krankheitsverlauf sowie seine Determinanten weiterer Forschung bedürfen. Erste Ergebnisse einer umfassenden Verlaufsstudie (Möller-Leimkühler 2005, 2006) verweisen darauf, dass die eigenen Ressourcen/Dispositionen der Angehörigen (EE-Status, Kontrollüberzeugungen, Neurotizismus, generalisierte Stressverarbeitungsmuster) die Belastungswahrnehmung stärker beeinflussen als der Zustand des Patienten und im weiteren Krankheitsverlauf an Bedeutung gewinnen. Konsequenzen für die psychiatrische Angehörigenarbeit liegen darin, dass diese angehörigenzentriert und längerfristig angelegt sein muss und bereits bei der Ersthospitalisierung des Patienten angeboten werden sollte, um der Entwicklung von Hilflosigkeit und Depression bei den Angehörigen entgegenzuwirken.
Fazit Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung üben in allen Phasen der Krankheitsentwicklung sowohl einen protektiven wie belastenden Einfluss aus. Stärker berücksichtigt werden müssten die vielfältigen Belastungen der Angehörigen psychisch Kranker und ihr eigenes Erkrankungsrisiko. Es erscheint dringend erforderlich, von professioneller Seite die Kooperation mit den Angehörigen zu verbessern und Interventionsangebote anzubieten, um die wichtigste soziale Ressource für den Patienten zu stärken.
12.4
Geschlecht als sozialer Prädiktor psychischer Erkrankungen
12.4.1
Geschlechtsrolle und Geschlechtsrollenmodelle
Geschlecht als soziale Kategorie. Das Geschlecht ist wie
das Alter nicht nur eine biologische, sondern auch eine soziale Kategorie, ein grundlegendes Prinzip gesellschaftlicher Organisation. Das in unserer Gesellschaft trotz Chancenangleichung weiterhin hierarchische Geschlechterverhältnis hat sich auf der Basis polarer Rollenzuschreibungen durch die gesellschaftlich organisierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und ihre unterschiedliche soziale Bewertung konstituiert. Es wird in der Sozialisation im Kindes- und Jugendalter vermittelt und reproduziert sich über die Verankerung in sozialen Institutionen.
Geschlechtsrolle Auch wenn das biologische Geschlecht (»sex«) Aspekte geschlechtsspezifischen Verhaltens bedingen mag, legt es dennoch nicht das gesamte geschlechtsspezifische Verhaltensrepertoire fest. Trotzdem dient die Geschlechtszugehörigkeit als Bezugspunkt für soziale Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit qua Geschlechtsrolle (»gender«). Diese umfasst die kulturell vorherrschenden Erwartungen und sozialen Normen, die festlegen, welche Fähigkeiten, Persönlichkeitseigenschaften, Einstellungen und Verhaltensweisen für eine Frau und für einen Mann typisch, angemessen und sozial erwünscht sind.
Eindimensionales Geschlechtsrollenmodell Im traditionellen eindimensionalen Geschlechtsrollenmodell, das bis in die 70er Jahre auch in den Sozialwissenschaften dominierte, wird davon ausgegangen, dass Maskulinität und Femininität sich einander ausschließen und jeweils Merkmale einer gelungenen männlichen und weiblichen Geschlechtsrollenidentität (-orientierung) darstellen. Dies haben Ergebnisse der Stereotypenforschung bestätigt, wonach weibliche und männliche Rollenerwartungen als gegensätzliche Pole einer Dimension identifiziert wurden: Expressivität als weibliches Rollenstereotyp (mit den Eigenschaften passiv, angepasst, nachgiebig, vorsichtig, ängstlich, harmonisierend, abhängig, emotional, wenig selbstsicher) und Instrumentalität als männliches Rollenstereotyp (mit den Eigenschaften aggressiv, aktiv, rational, ehrgeizig, zielorientiert, durchsetzungsfähig, unabhängig, selbstsicher, abenteuerfreudig, entscheidungsfreudig). Diese Rollenerwartungen sind nicht nur ein Maßstab für Fremdbeurteilungen, sondern auch für Selbstbeurtei-
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Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
lungen, da sie in die Selbstkonzepte der Individuen eingehen.
12.4.2
Geschlechtsspezifische Verteilungen gesundheitlicher Störungen und ihre Erklärungen
Modell der psychischen Androgynie
12
Im Unterschied zum eindimensionalen Geschlechtsrollenmodell werden im Modell der psychischen Androgynie (Bem 1974) Maskulinität und Femininität als zwei voneinander unabhängige Dimensionen definiert, die nicht mehr auf das biologische Geschlecht bezogen werden. So kann eine Person unabhängig von ihrem Geschlecht sowohl männliche als auch weibliche Attribute aufweisen und wird je nach Ausprägungsgrad 4 Typen der Geschlechtsrollenidentität zugeordnet: dem maskulinen oder femininen Typ, dem androgynen oder undifferenzierten Typ. Das Modell der psychischen Androgynie hat den Vorteil, dass es traditionelle Geschlechtsrollenidentitäten und ihre »Abweichungen« umfasst sowie der sozialen Definition geschlechtsspezifischer Eigenschaften und dem sozialen Wandel der Geschlechtsrollen gerecht wird. Damit stellt es ein für geschlechtsspezifische Untersuchungen wichtiges – bisher noch zu selten systematisch eingesetztes – Analyseinstrument dar, mit dem zwischen biologischem und sozialem Geschlecht differenziert werden kann. Dies ist eine basale Voraussetzung für Aussagen, die über das bloße Konstatieren von Geschlechtsdifferenzen hinausgehen. Die bisher vorliegenden Daten lassen darauf schließen, dass psychisch androgyne Personen, Männer und Frauen, einen größeren Verhaltensspielraum haben als Personen mit einseitigen Ausprägungen, erfolgreicher handeln können und über ein höheres Selbstwertgefühl verfügen, das entscheidend durch den Grad der Instrumentalität bedingt ist (zusammenfassend Bierhoff-Alfermann 1989). Eine instrumentelle Orientierung korreliert negativ mit Angst und Depression, sie wirkt als Puffer bei der Bewältigung von Stress und hat positive Effekte auf das Problemlöseverhalten. Andererseits werden den Veränderungen der Geschlechtsrollenidentität (Wandel der Frauenrolle) auch gesundheitsschädigende Wirkungen zugeschrieben. So wird beispielsweise der überproportionale Anstieg des Alkoholismus bei Frauen häufig damit erklärt, dass die Auflösung traditioneller Weiblichkeitsnormen einen Risikofaktor darstelle, ohne dass diese Hypothese empirisch belegt wäre. Neuere Untersuchungen hierzu bestätigen eher das Gegenteil: Nicht hohe Instrumentalität/Maskulinität, sondern hohe Expressivität/Femininität erweist sich als Risikofaktor für Alkoholabhängigkeit bei Frauen (Möller-Leimkühler et al. 2002, 2006).
Insgesamt zeigen epidemiologische Daten, soweit sie gesicherte Aussagen zulassen, dass Frauen weder gesünder noch psychisch oder somatisch kränker sind als Männer, sondern dass sie unterschiedliche Häufigkeiten für verschiedene Krankheiten aufweisen. Frauen geben signifikant häufiger als Männer psychische, psychosomatische und vegetative Beschwerden an, die von der Frauengesundheitsforschung auch als »Frauensyndrom« bezeichnet werden. Im Vergleich zu Männern sind Frauen von psychischen Erkrankungen wie Depressionen (ausgenommen die bipolare Depression), Neurosen und Angsterkrankungen doppelt so häufig betroffen (The Women and Health Commitee 1991), bei der Agoraphobie wird sogar ein Frauenanteil von 80 angegeben. Bei der Alkoholabhängigkeit, die bis vor etwa 15 Jahren noch ausschließlich eine Domäne der Männer war, liegt die Relation Männer:Frauen mittlerweile bei 2–3:1. Umgekehrt verteilt sich die Medikamentenabhängigkeit mit einer Häufigkeitsrelation von 1:3. Der Anteil der Männer überwiegt außer beim Alkoholismus bei den Persönlichkeitsstörungen. Schizophrene Psychosen sind bei beiden Geschlechtern gleich verteilt, wobei sich Geschlechtsunterschiede im Ersterkrankungsalter (Männer erkranken 3–4 Jahre früher) und im Krankheitsverlauf zeigen (Frauen haben in den ersten Jahren einen günstigeren Verlauf; Häfner et al. 1991 a). Neuere epidemiologische Daten verweisen auf bedeutsame Veränderungen in der psychischen Morbidität von Männern: Nachgewiesen ist eine zunehmende Depressionsrate bei jungen Männern (Cavanagh u. Shajahan 1999; Klerman u. Weissman 1989) sowie eine deutlich angestiegene subjektive Stressrate (Dickstein et al. 1991). Die signifikant höhere Suizidrate (bis zu 4-mal höher als die von Frauen) hat sich insbesondere bei jungen und alten Männern weiter erhöht (Hawton 2000; McClure 2000) und kann zusammen mit der hohen Alkoholismusrate als Indikator für einen hohen Anteil an unbehandelten Depressionen gelten.
Ursachen der geschlechtsspezifischen Prävalenzunterschiede psychischer Störungen Als Ursachen für geschlechtsspezifische Prävalenzunterschiede bei psychischen Störungen und deren Veränderungen müssen neben methodologischen grundsätzlich biologische, psychische und soziale Faktoren angenommen werden, die erst im Ansatz untersucht sind; u. a. fehlt es an einer der Frauengesundheitsforschung entsprechenden Männergesundheitsforschung. Bisher liegen keine gesicherten Hinweise darauf vor, dass es eine geschlechtsspezifische biologische Vulnerabilität für bestimmte Erkrankungen gibt, allenfalls wird eine durch
291 12.4 · Geschlecht als sozialer Prädiktor psychischer Erkrankungen
den Schutzfaktor Östrogen bedingte höhere Vulnerabilitätsschwelle für schizophrene Frauen angenommen, die für das spätere Ersterkrankungsalter verantwortlich sein könnte (Häfner et al. 1991 b). ! Demgegenüber bestätigen Forschungsergebnisse in den letzten 15 Jahren zunehmend, dass Geschlechtsunterschiede in Gesundheit und Krankheit weitgehend auf unterschiedliche soziale Rollen und damit zusammenhängende Risikound Protektivfaktoren zurückgeführt werden können. Auch wenn diesen bei eher genetisch verursachten Erkrankungen nur eine Auslöserfunktion zukommt, spielen sie doch für den Krankheitsverlauf eine wichtige Rolle.
Soziale Lebenslage Geschlechtsspezifische Risiken der Lebenslage und ihre subjektive Verarbeitung sind für Männer hauptsächlich hinsichtlich des Zusammenhangs kardiovaskulärer Erkrankungen und Erwerbsleben nachgewiesen, für Frauen hinsichtlich des Zusammenhangs psychischer Störungen und Familien-/Berufsorientierung. In dieser »geschlechtstypischen« Fokussierung zeigt sich bereits ein Geschlechterbias: Dadurch, dass soziogenetische Faktoren in der Depressionsforschung hauptsächlich an weiblichen Populationen untersucht wurden, lassen sich über deren Bedeutung für Vulnerabilität und Belastung bei Männern keine Aussagen machen. Risikofaktoren für Frauen. Im weiblichen Lebensverlauf
haben sich aufgrund der gestiegenen Erwerbsbeteiligung von Frauen und der damit verbundenen Wahlmöglichkeiten von Lebensformen verschiedene Risikolagen ausdifferenziert, so dass nicht mehr von einer in sich homogen strukturierten Gruppe von Frauen ausgegangen werden kann. Nach bisherigen empirischen Ergebnissen sind v. a. verheiratete Frauen zwischen 25 und 45 Jahren mit geringer Schulbildung, die unteren Sozialschichten angehören, mehrere Kinder haben und nicht berufstätig sind, stark gefährdet. Mütter mit niedrigem Sozialstatus und zunehmender Kinderzahl sind bezogen auf Bildung, Belastung, Bewältigung und sozialer Unterstützung überproportional benachteiligt. Damit haben sich die Ideale einer weiblichen Normalbiographie, Ehefrau, Mutter und Hausfrau zu sein, zumindest für Frauen unterer Schichten als spezifische Risikofaktoren für Depression erwiesen (Paykel 1991). In den Studien von Brown und Mitarbeitern (1986) erweist sich mit noch größerer Konsistenz das Fehlen einer Vertrauensbeziehung als depressionsfördernd. Dies korrespondiert – krankheitsunspezifisch – mit der Lebenssituation alleinerziehender Mütter und Väter, deren Gruppe aufgrund erhöhter Scheidungsraten und der Zunahme nichtehelich geborener Kinder in den letzten Jahrzehnten
deutlich angewachsen ist. Unabhängig davon, ob diese Lebensform bewusst gewählt oder erlitten wurde, sind Alleinerziehende überproportional in den untersten Einkommensgruppen vertreten und benachteiligt hinsichtlich der Erwerbssituation, der wirtschaftlichen und Wohnsituation, der Kinderbetreuung und der gesellschaftlichen Teilhabe. Erwerbstätigkeit als protektiver Faktor. Als ein mit der
sozialen Lage verknüpfter Protektivfaktor ist die Erwerbstätigkeit – auch von Müttern – zu sehen. Auch wenn diese in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion häufig problematisiert wird, weil sie pathogene Rollenkonflikte und Überforderung mit sich bringe, weisen empirische Daten relativ konsistent nach, dass sich die Mehrfachbelastung von Frauen durch Familie und Beruf (multiple Rollen) nicht zwangsläufig negativ auswirkt, sondern mit besserer Gesundheit, höherer Lebenszufriedenheit und besseren Copingstrategien korreliert. Allerdings zeigt sich hier, dass Merkmale der jeweiligen Erwerbstätigkeit, Einstellungen des Partners sowie sein Engagement bei der Kinderbetreuung eine moderierende Rolle spielen. Risikofaktoren für Männer. Arbeitslosigkeit, insbesondere
Langzeitarbeitslosigkeit, ist für beide Geschlechter ein Risikofaktor, führt aber bei Männern aufgrund ihrer primär auf Erwerbstätigkeit ausgerichteten Geschlechtsrolle zu ausgeprägteren physischen und psychischen Störungen, signifikant häufiger zu Alkoholmissbrauch und Suizid (Heikkinen et al. 1994; Qin et al. 2003). Daten aus Osteuropa belegen besonders deutlich die geschlechtsspezifische Ausprägung des Zusammenhangs von Arbeitslosigkeit und Gesundheit (Kopp et al. 2000). Ein weiterer sozioökonomischer Risikofaktor sind berufliche Gratifikationskrisen (Siegrist 1996), die durch ein Ungleichgewicht zwischen geringer Belohnung und hoher Verausgabung hervorgerufen werden und bei Männern nicht nur das Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen, sondern auch das Risiko einer Alkoholabhängigkeit und anderer psychischer Störungen erhöhen (Head et al. 2004; Stansfeld et al. 1999). Es ist ein bekanntes Phänomen, dass die Ehe bei Männern mit besserer Gesundheit und reduzierter Mortalität korreliert. Umgekehrt ergibt sich im Falle einer Scheidung/Trennung eine höhere psychische Morbidität bei den betroffenen Männern und ein 2,5-mal höheres Suizidrisiko im Vergleich zu verheirateten Männern (Matthews u. Gump 2002).
Geschlechtsrollentypischer Blick der Experten Trotz einer gewissen Entideologisierung der Geschlechterstereotype können Männlichkeits- und Weiblichkeitsklischees weiterhin als Einflussfaktoren ärztlichen Diagnostizier- und Entscheidungsverhaltens identifiziert wer-
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Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
den. Studien aus den 1970er und 1980er Jahren konnten experimentell nachweisen, dass psychische Störungen bei Männern und Frauen unterschiedlich bewertet werden, da sie auf impliziten Normvorstellungen psychischer Gesundheit beruhen, die am Stereotyp des Mannes bzw. am Grad der Geschlechtsrollenanpassung ausgerichtet sind. Geschlechterstereotype in der ärztlichen Diagnostik. Ge-
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schlechterstereotype finden sich in standardisierten Diagnoseinstrumenten wie Persönlichkeitstests und werden durch unkritische, eindimensionale Klassifizierung weiter festgeschrieben, so z. B. im häufig benutzten Freiburger Persönlichkeitsinventar (Fahrenberg et al. 1978): In der Skala M = Maskulinität werden typisch »männliche« und typisch »weibliche« Selbstbeurteilungen erfasst, die in hoher Ausprägung als männlich (aktiv, unternehmungslustig, selbstbewusst, zuversichtlich, einsatzbereit, wenige körperliche Beschwerden, wenige psychosomatische Beschwerden etc.) und in niedriger Auswertung als weiblich klassifiziert werden (zurückhaltend, niedergedrückte Stimmung, wenig Zuversicht und Selbstvertrauen, körperliche Beschwerden, psychosomatische Allgemeinbeschwerden etc.). Entsprechend beinhalten typische Fragebögen zur Beurteilung von Depressionen, Ängstlichkeit oder zum Ausmaß psychosomatischer Beschwerden überwiegend Items, die die »weiblichen« Symptombilder abfragen. Dagegen werden Aggressivität und Wut sowie »männliche« Symptome von Angst und Depression, die sich eher kognitiv und somatisch äußern, weniger berücksichtigt. Dass Symptome je nach Erkrankung offensichtlich unterschiedliche geschlechtsspezifische Ausprägungen aufweisen und diagnosespezifische Fragebögen nach der Häufigkeit der geschilderten Symptome konstruiert werden, mag erklären, warum beispielsweise in Depressionsfragebögen die »weiblichen« Symptome überwiegen. Bei der häufigen Anwendung o. g. Fragebögen in epidemiologischen Studien besteht demnach die Gefahr, dass die diesbezügliche Morbidität von Frauen überschätzt, die von Männern dagegen unterschätzt wird. Dies ist ein wichtiges Argument der Artefakttheorie der Depression, das auch dem Konzept der »male depression« zugrunde liegt (Rutz 1999; Möller-Leimkühler et al. 2004). Therapeutische Konsequenz. Der mangelnden Berück-
sichtigung »männlicher« Symptome bei depressiven Erkrankungen entsprechen Daten, die eine systematische Unterdiagnostizierung und Unterbehandlung dieser Störungen bei Männern belegen (Wittchen et al. 1999). Werden »männliche« externalisierende Symptome wie Aggressivität, Irritabilität, antisoziales Verhalten etc. miterfasst, so ergibt sich beispielsweise bei 18-jährigen Männern ein Depressionsrisiko von 22% (Möller-Leimkühler et al. 2007). Systematische diagnostische Verzerrungen kön-
nen auch dadurch entstehen, dass identische Symptome bei Männern und Frauen infolge ähnlicher geschlechtsspezifischer Krankheitskonzepte bei Betroffenen und Experten (»gender-bias«) unterschiedlich interpretiert werden: So wird in der somatischen Medizin bei gleichen Symptomen wie Rücken-, Bauch-, Kopfschmerzen oder Erschöpfung bei Männern eher somatisch diagnostiziert und therapiert, bei Frauen eher psychisch und psychosomatisch (Conen u. Kuster 1988). Nach Befunden einer groß angelegten amerikanischen Studie (Safran et al. 1997) wird bei gleichem Symptomprofil Frauen 3-mal häufiger als Männern eine Reduktion der Aktivitäten verordnet. Die Tatsache, dass Frauen 3-mal häufiger als Männer Psychopharmaka erhalten, kann ebenfalls in diesem Zusammenhang gedeutet werden, um so mehr, als ein Drittel aller Verordnungen von Antidepressiva mit Diagnosen begründet werden, die nicht in den primären Indikationsbereich (Depression) dieser Präparate fallen (Krause-Girth 1989). Medizinische Versorgung von Frauen. Studien aus den
USA liefern empirische Belege für eine generelle Benachteiligung von Frauen insbesondere unterer Schichtzugehörigkeit in der somatischen Medizin. In der Psychiatrie ist diese Frage bisher nur selten Forschungsgegenstand gewesen, da implizit von einer Gleichbehandlung der Geschlechter ausgegangen wird. Dennoch verweisen die exemplarisch skizzierten Befunde Aspekte der Benachteiligung von Frauen auch in der Psychiatrie: Ambulant behandelte depressive Frauen wurden seltener als depressive Männer nach ihren sexuellen Problemen und nach ihren Behandlungswünschen gefragt und erhielten seltener Gruppentherapie (Olfson et al. 2001). In einer Untersuchung von Perkins u. Rowland (1991) unterschieden sich chronisch kranke Frauen im Vergleich zu Männern desselben gesundheitlichen Status deutlich in der Quantität und Qualität der ihnen zukommenden gemeindepsychiatrischen Aktivitäten. Alter und Geschlecht erwiesen sich ebenfalls als Prädiktoren für die Verlegung von Patienten in Dauerwohnheime (Leimkühler 1989). Hier zeigte sich, dass bei gleicher Diagnose der stationäre Aufenthalt für Frauen seltener als für Männer verlängert werden konnte, dass bei gleicher Diagnose Frauen seltener eine adäquate Therapie angeboten werden konnte, dass sie seltener in mehreren Heimen angemeldet waren und dass sie seltener in Heime verlegt wurden, die mehr Selbstbestimmung zuließen/ erforderten.
Geschlechtsrolle als Risikofaktor Dieser Erklärungsansatz beinhaltet 3 Aspekte: Geschlechtsrollenspezifisches Krankheitsverhalten, geschlechtsrollenspezifische Belastungen und geschlechtsrollenbedingte Bewältigungsdefizite.
293 12.4 · Geschlecht als sozialer Prädiktor psychischer Erkrankungen
Geschlechtsrollenspezifisches Krankheitsverhalten. Da
die subjektiven Gesundheits- und Krankheitskonzepte von Männern und Frauen mit den traditionellen bipolaren Geschlechterrollen korrespondieren, unterscheiden sie sich in dieser Hinsicht nicht von denen der Experten. ! Bei Frauen stehen psychische Aspekte emotionaler Befindlichkeit und sozialen Wohlbefindens im Vordergrund, für Männer bedeutet Gesundheit in erster Linie Leistungsfähigkeit und körperliche Funktionsfähigkeit. Aus diesen geschlechtsrollenkonformen Konstruktionen resultiert ein spezifisches Gesundheits-, Hilfesuch- und Inanspruchnahmeverhalten, das einerseits zu einer Überrepräsentation von Frauen in nahezu allen medizinischen und psychosozialen Versorgungsinstitutionen führt, andererseits zu einem definitären Hilfesuch- und Inanspruchnahmeverhalten bei Männern, das ihrem objektiven Behandlungsbedarf nicht entspricht (Möller-Leimkühler 2000. Die Ursachen für die überproportionale Inanspruchnahme durch Frauen können nicht allein auf die (sozial akzeptierte, weil rollenkonforme) größere Krankheitsbereitschaft und Klagsamkeit von Frauen oder auf gelernte Hilflosigkeit zurückgeführt werden, sondern sind Ausdruck einer tatsächlich höheren Krankheitsbelastung (Mirowsky u. Ross 1995). Höhere Stressbelastung von Frauen. Weibliches Rollen-
verhalten schließt die Sorge um das Wohlergehen für andere (Partner, Kinder, Eltern) ein, so dass beispielsweise 2/3 aller Krankheitsepisoden in der Familie und 80% aller Pflegeleistungen von Frauen erbracht werden (Grunow 1983). Um ihre eigenen Leiden zu kurieren, sind Frauen stärker als Männer auf medizinische Institutionen angewiesen, da sie selbst von ihren Familien wenig Unterstützung erhalten. Mit einem geschlechtsspezifischen Blick auf Forschungen zur sozialen Unterstützung stösst man auf ein selten thematisiertes »Geschlechterparadox« (Nestmann u. Schmerl 1990): Bei nachgewiesenen positiven Effekten von sozialer Unterstützung auf das physische und psychische Wohlbefinden und dem konsistenten Befund, dass Frauen über mehr soziale Unterstützung verfügen als Männer, müssten Frauen erwartungsgemäß weniger Krankheitsbelastungen aufweisen als dies bekanntlich der Fall ist. Erklärt wurde dieses Paradoxon mit Annahmen darüber, dass Frauen ihre sozialen Ressourcen nicht adäquat nutzen würden, dass soziale Unterstützung für Männer effektiver sei, dass Frauen offener über ihre Beschwerden sprechen und dass Vorteile sozialer Unterstützung durch weibliche Defizite konterkariert würden. Diese Annahmen konnten empirisch überwiegend nicht bestätigt werden. Dagegen hat sich die Hypothese bewährt, dass die höhere Inanspruchnahme von sozialer Unterstützung bei Frauen einem höheren Bedarf ent-
spricht, der in enger Beziehung zu ihren komplexeren Rollenanforderungen steht, der jedoch nicht hinreichend gedeckt wird. Soziale Be- und Überlastung (einseitige soziale Unterstützungsleistungen in Ehe, Familie, Kinderziehung, Alten- und Krankenpflege) besteht also nicht trotz besserer Netzwerke, sondern diese werden von Frauen dazu benötigt, einerseits die Belastungen, andererseits die mangelnde Unterstützung aus ihren primären Beziehungen (»support-gap«) zu kompensieren. Defizite weiblicher Sozialisation. Eine Vielzahl empiri-
scher Befunde belegt die Hypothese, dass traditionelle weibliche Sozialisation als Lerngeschichte von Angst und Anpassung die Ausbildung effektiver Bewältigungsstrategien verhindert. Im Gegensatz zu Männern bevorzugen Frauen emotionale, nach innen gerichtete und selbstwertabträgliche Problemlösungsmuster. Nicht nur solche sozialisatorischen Defizite können als unspezifischer Risikofaktor gelten, auch der Wandel der Frauenrolle kann trotz Indiviualisierungsgewinn pathogen wirken: Dadurch, dass gesellschaftliche Autonomieanforderungen an Frauen gestiegen sind, sich die traditionellen Rollenvorstellungen aber nicht aufgelöst haben und Frauen weiterhin strukturell benachteiligt sind, entsteht ein hohes Belastungs- und Konfliktpotenzial. Ob zunehmende Handlungschancen objektiv existieren, subjektiv erkannt und auch genutzt werden, hängt von verfügbaren Optionen ab, die ihrerseits wiederum an strukturelle Bedingungen (z. B. Bildung) gebunden und über soziale Faktoren wie Milieu oder Stellung im Lebenszyklus vermittelt sind. Defizite männlicher Sozialisation. Die traditionelle männ-
liche Geschlechtsrolle, charakterisiert durch Leistungsund Erfolgsorientierung, erfordert die Bewältigung von Gefahren, Bedrohungen und Schwierigkeiten, ohne dass damit verbundene Ängste und Probleme wahrgenommen bzw. zugegeben werden dürfen. Hilfesuche ist im Männlichkeitsstereotyp nicht vorgesehen, da sie Inkompetenz und Abhängigkeit, Aufgabe von Autonomie und Selbstkontrolle signalisiert. Da Emotionalität streng kodiert ist (sozial akzeptiert sind Aggressivität, Ärger oder Feindseligkeit, nicht akzeptiert sind »weibliche« Gefühle wie Schwäche, Unsicherheit, Hilflosigkeit, Traurigkeit), kommt es zu einer dauerhaften Unterdrückung von Emotionalität. Traditionelle männliche Sozialisation produziert damit eine emotionale Hemmung, die schon früh eingeübt wird und mit zunehmendem Alter ebenfalls zunimmt. Emotionale Gehemmtheit bei Männern ist anhand von Experimenten und Selbstbeurteilungen vielfach nachgewiesen worden (Grossman u. Wood 1993) und hat zahlreiche psychosomatische Auswirkungen (Traue 1998). Insgesamt drängt sich der Verdacht auf, dass die subjektiven wie objektiven
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Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
Kosten für Schäden und Defizite traditioneller Maskulinität inzwischen wesentlich höher liegen als deren Nutzen (Hollstein 1999). Hypothetisch lässt sich ein Zusammenhang annehmen zwischen der steigenden Depressionsund Suizidrate bei jungen Männern und Identitätsproblemen, die durch den Wandel der männlichen Geschlechtsrolle bedingt sind.
nikaufenthalt zufrieden, obwohl sich die Hälfte von ihnen mehr Informationen gewünscht hätte. Zusammenfassend haben sich als wichtigste Zufriedenheitsquelle die psychosozialen vor den materiellen und professionellen Versorgungsaspekten herausgestellt (⊡ Abb. 12.6).
Kriterien der Patientenzufriedenheit Perspektiven der geschlechtsspezifischen Verteilung psychischer Störungen. Aufgrund des Wandels der Ge-
schlechterrollen im Zusammenhang mit makrosozialen Veränderungen, die wiederum geschlechtsrollenspezifisch verarbeitet werden, ist davon auszugehen, dass sich die bekannten geschlechtsspezifischen Häufigkeitsrelationen psychischer Störungen langsam verschieben werden, wie dies am Beispiel der Alkoholabhängigkeit und Depression bereits abzulesen ist. Als ätiologische Faktoren werden in der Literatur u. a. die zunehmende Urbanisierung, größere geografische und soziale Mobilität, erhöhte Sozialisationsanforderungen, Veränderungen der Familienstrukturen und der Geschlechterrollen diskutiert.
12.5
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Patientenzufriedenheit
Das Konzept »Patientenzufriedenheit« ist ein eigenständiges Evaluationskriterium im Rahmen der Qualitätssicherung, mit dem die subjektive Bewertung der Qualität medizinischer Versorgung erfasst werden soll. Verschiedene Gründe, insbesondere gesundheitspolitische und ökonomische, dürften die Entwicklung einer konsumentenorientierten Zufriedenheitsforschung im Medizinssystem entscheidend bestimmt haben. Ob das Konstrukt »Zufriedenheit« als Qualitätsindikator tatsächlich brauchbar ist, wird sich erst dann entscheiden, wenn empirische Studien nach soziologischen und sozialpsychologischen Erkenntnissen konzipiert werden.
12.5.1
Wichtiger als die professionellen Leistungen selbst ist den Patienten die Art und Weise, wie diese Leistungen erbracht werd7en, ob ihre Erwartungen erfüllt werden, ob sie sich individuell behandelt fühlen, sich relativ autonom bewegen können und an Entscheidungen beteiligt werden, ob positive Beziehungen zum Pflegepersonal bestehen und ob die Arzt-Patient-Kommunikation als positiv erlebt wird. Die Einschätzung der professionellen Leistungen durch den Patienten ist offenbar wesentlich davon beeinflusst, wie er die affektive Verhaltenskomponente von Arzt und Pflegepersonal wahrnimmt.
Zufriedener vs. unzufriedener Patient Wodurch unterscheidet sich der zufriedene Patient vom unzufriedenen Patienten? Aus Korrelationsstudien lässt sich auf diese Frage keine Antwort ableiten, da keine konsistenten Einflussfaktoren auf die Zufriedenheit gefunden wurden. Unter den am häufigsten untersuchten soziodemographischen Einflussfaktoren findet sich eine Korrelation bei Alter und Geschlecht, wonach ältere und weibliche Patienten zufriedener sind als jüngere und männliche. Gründe dafür dürften weniger in einer besseren Behandlung älterer und weiblicher Patienten liegen als vielmehr in sozialen alters- und geschlechtsspezifischen Verhaltenserwartungen und entsprechenden subjektiven Verhaltensbereitschaften. Hinsichtlich klinischer Variablen korreliert eher die psychotische Symptomatik als die Diagnose mit Unzufriedenheit. Studien, in denen der Behandlungserfolg mit erhoben wurde, verweisen auf einen Zusammenhang zwischen selbst- und fremdeingeschätztem Behandlungserfolg und Zufriedenheitsgrad.
Der zufriedene Patient
Wenn Patienten nach ihrer globalen Zufriedenheit mit der medizinischen (einschließlich der psychiatrischen) Versorgung/Behandlung gefragt werden, ergibt sich regelmäßig der Befund einer hohen Zufriedenheit. Unabhängig von objektiven Versorgungsmerkmalen, Diagnose und Gesundheitssystem liegen die Zufriedenheitsraten kaum unter 90% (zusammenfassend Gruyters u. Priebe 1994; Leimkühler 1995; Leimkühler u. Müller 1996). Wird differenzierter nach einzelnen Aspekten der materiellen, professionellen und psychosozialen Versorgung gefragt, zeigen sich durchaus Differenzen zur Gesamtzufriedenheit: So sind z. B. Patienten insgesamt mit ihrem Kli-
⊡ Abb. 12.6. Optimale psychiatrische Versorgung aus Sicht der Patienten. (Nach Hansson et al. 1993)
295 12.5 · Patientenzufriedenheit
12.5.2
Marketingmodell von Zufriedenheit
Ebenso stimmen Patienten- und Expertenbewertungen aufgrund unterschiedlicher Erfahrungs- und Prioritätenstrukturen häufig nicht überein.
Problematik der Zufriedenheitsstudien Bisherige Studien zur Patientenzufriedenheit gehen von einem Zufriedenheitsbegriff aus, der entweder als selbstevident vorausgesetzt wird oder als Konsumentenzufriedenheit verstanden wird: Konsumentenzufriedenheit wird definiert als die Übereinstimmung zwischen Konsumentenerwartung und Motivbefriedigung bei Produkten oder Dienstleistungen und gilt als Grundlage der Kundenbindung an die Marke oder Unternehmung. Ausgehend von der Prämisse, dass Zufriedenheitsangaben des Patienten tatsächlich auf subjektive Zufriedenheit mit einer objektiv guten Versorgung schließen lassen, basieren viele Studien auf einfachen Zufriedenheitsmessungen, ohne dass Befragungsmethoden und -zeitpunkte, Behandlungssettings und Befragungspopulationen kontrolliert worden wären. So erfüllen die meisten Studien eher eine Legitimationsfunktion als die eigentliche Zielsetzung, klinische Versorgung stärker an den Bedürfnissen der Patienten auszurichten.
Grenzen medizinischer Zufriedenheitsforschung Die Grenzen bisheriger Zufriedenheitsforschung in der Medizin sind v. a. durch den reduzierten Zufriedenheitsbegriff gesteckt. Auch wenn sich die Übertragung von Marketingkonzepten auf ein sich wandelndes Gesundheitswesen zunächst anzubieten scheint, müssen doch die Voraussetzungen für eine solche Übertragung geprüft werden, die z. T. aufgrund anderer Marktmechanismen im Gesundheitswesen nicht gegeben sind. So kann die hohe Patientenzufriedenheit schwerlich als Konsumentenzufriedenheit interpretiert werden. Während sich diese noch zielgerichtet beeinflussen lässt, zeigt sich in der soziologischen Zufriedenheitsforschung, dass eine Verbesserung objektiver Bedingungen nicht zu einer höheren Zufriedenheit führt.
12.5.3 Mangelnde Untersuchung objektiver Zufriedenheitsparameter Diese Zielsetzung würde erfordern, dass Patientenbefragungen in ein umfassendes Evaluationsprogramm integriert und Zufriedenheitsitems systematisch zu objektiven Behandlungsaspekten in Beziehung gesetzt werden. Meist wird z. B. die Frage, ob der Arzt genug Zeit für den Patienten gehabt habe, nicht ergänzt durch die objektiv gemessene, mit dem Patienten verbrachte Zeit. Für eine Qualitätsbestimmung resultiert hieraus wenig Nutzen. Nach Kelstrup et al. (1993) ist eine optimale, das Patientenurteil einschließende Evaluation psychiatrischer Behandlung erst dann gegeben, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: Beschreibung der aktuellen Behandlungsstruktur und Behandlungsprinzipien, Definition der Therapieziele für verschiedene Patientengruppen, Erfassung der relevanten Variablen und Indikatoren für eine qualitativ hochwertige Behandlung, Vergleich der aktuellen Behandlungspraxis mit den definierten Zielen, Anpassung der Ziele an die Realität und Verbesserung der Behandlungsqualität. Wie wichtig der Vergleich subjektiver Einschätzungen mit den objektiven Tatbeständen ist, belegt der vielfach bestätigte Befund aus der soziologischen Zufriedenheitsforschung, dass beide Dimensionen kaum miteinander korrelieren (s. unten). So zeigt beispielsweise ein Blick auf die Visitenforschung, dass Patienten systematisch die Gesprächsdauer mit dem Arzt überschätzen (Siegrist 1976).
Zufriedenheit als multidimensionales Konstrukt
Im Unterschied zur eindimensionalen Konsumentenzufriedenheit ist die Zufriedenheit von Patienten aus sozialwissenschaftlicher Sicht mehr als eine bloße Funktion von Erwartung und Bewertung. Soziologische Emotionstheorien, soziologische Studien zur Lebenszufriedenheit und Konzepte aus der Wohlbefindensforschung und Sozialpsychologie, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann (zusammenfassend Leimkühler u. Müller 1996), liefern komplexe Ansätze zur Zufriedenheitsbildung. Zufriedenheit wird als ein kognitiver Prozess gefasst, der durch folgende Elemente zustande kommt: durch die Einschätzung der eigenen Situation, durch das Abwägen positiver und negativer Gegebenheiten, durch den Vergleich der aktuellen Situation mit angestrebten Zielen (Erwartungen, Anspruchsniveau), durch die Bewertung der Situation nach internen und sozialen Vergleichsnormen.
Sozialwissenschaftliche Modelle Als Beispiele für sozialwissenschaftliche Modelle der Zufriedenheitsbildung seien das Modell des angepassten Anspruchsniveaus von Campbell et al. (1976) und ein Prozessmodell aus der Arbeitszufriedenheitsforschung von Bruggemann (1974) genannt. Modell des angepassten Anspruchniveaus. Dieses Modell
geht davon aus, dass sich in der subjektiven Zufriedenheit die Differenz zwischen Anspruchsniveau und wahrgenommener Situation spiegelt, wobei sich das Anspruchs-
12
296
Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
niveau im Laufe der Zeit den jeweiligen objektiven Verhältnissen anpasst. Kurzfristige Veränderungen einer Situation wirken sich zwar kurzfristig auf den Grad der Zufriedenheit aus, längerfristig erfolgt aber eine Anpassung an die veränderte Situation im Sinne einer Normalisierung, so dass Anspruchsniveau und objektive Umstände sich wieder im Gleichgewicht befinden. Prozessmodell von Bruggemann. Hier werden verschie-
dene Formen von Zufriedenheit konzipiert, die aufgrund unterschiedlicher psychischer Verarbeitungsmechanismen der Soll-Ist-Differenzen entstehen. So lassen sich 3 verschiedene Ausprägungen unterscheiden: 1. die progressive und stabilisierte Zufriedenheit (die tatsächlich Zufriedenen), 2. die resignative oder Pseudozufriedenheit (die »eigentlich« Unzufriedenen, die aber auf Befragen angeben, dass sie zufrieden seien) sowie 3. die fixierte und konstruktive Unzufriedenheit (die tatsächlich Unzufriedenen). In entsprechenden empirischen Untersuchungen stellen die resigniert Zufriedenen, die ihr Anspruchsniveau auf Dauer erheblich reduziert haben, regelmäßig eine relevante Gruppe dar. Auf die Bedeutung von Zufriedenheit als Anpassungsprozess verweisen auch Befunde aus der Psychiatrie, die einen signifikanten Zusammenhang von Lebenszufriedenheit und sozialer Adaptation finden, und zwar unabhängig von objektiven Bedingungen (Franklin et al. 1986).
12
Cave Nach sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen ist Zufriedenheit ein komplexer psychosozialer Regulationsund Adaptationsprozess, der weniger durch objektive als durch subjektive Faktoren gesteuert wird. Daher müssen Zufriedenheitsmessungen in der medizinischen Evaluationsforschung, sofern sie dies nicht berücksichtigen, zu Missverständnissen führen: Möglicherweise werden statt objektiver Qualitätsmerkmale nur Anpassungsleistungen der Patienten erfasst – und diese sind, gemessen an der Zufriedenheitsrate, hoch.
12.6
Lebensqualität
Wie das Konzept der Patientenzufriedenheit ist das der Lebensqualität als ein weiteres subjektives Qualitätskriterium Ausdruck der zunehmenden Patientenorientierung in der Medizin. Es soll u. a. dazu dienen, zwischen Therapiealternativen besser entscheiden zu können, die Wirksamkeit einer Therapie nachzuweisen, Nebenwirkungen von Psychopharmaka zu erfassen sowie deren Kosten-
Nutzen-Analysen zu ergänzen. Lebensqualität soll Ziel von Rehabilitationsmaßnahmen und Kriterium für individuell angepasste Behandlungsstrategien sein. Gegenwärtig kann das Konzept Lebensqualität solchen vielfältigen Planungs- und Entscheidungsfunktionen noch nicht entsprechen, da die Lebensqualitätsforschung insbesondere in der Psychiatrie bis jetzt noch von keinem konsensfähigen Erkenntnisstand ausgehen kann.
12.6.1
Begriffsbestimmung
Lebensqualität ist ein zentraler gesellschaftlicher und individueller Wert. Aufgrund seiner Ambiguität ist der Begriff allerdings zu einem Schlagwort degeneriert, dessen Verwendung in Politik, Touristik und Werbung keinerlei Grenzen gesetzt zu sein scheint. Trotz deutlicher Skepsis gegenüber dieser alltagssprachlichen Inflation wird »Lebensqualität« weiterhin als wissenschaftlicher Terminus für eine neue Forschungsrichtung in Medizin und Gesundheitsforschung benutzt.
Entwicklung des Begriffs der Lebensqualität Ursprünglich stammt der Begriff aus der sozialwissenschaftlichen Wohlfahrtsforschung und diente dazu, anhand von makrosoziologisch definierten Sozialindikatoren Wohlfahrtsdefizite in unterprivilegierten Gruppen, Regionen und Lebensbereichen zu identifizieren. Eine weitere Verwendung des Begriffs findet sich in der Gesundheitsökonomie; hier wurde die rein quantitativ-ökonomische Nutzenbetrachtung von therapeutischen Maßnahmen ergänzt durch das Konzept der »qualitätsangepassten Lebensjahre«. Mitte der 1970er Jahre ist der Lebensqualitätsbegriff als subjektives Bewertungskriterium in die klinische Evaluationsforschung eingegangen. Anfang der 1980er Jahre ist er mit relativ pragmatischen Interessen in der Psychiatrie übernommen und zuerst bei Enthospitalisierungsmaßnahmen angewendet worden (Helmchen 1990).
Problematik der Begriffsbestimmung Nach einem Vorschlag der WHO (1995) lässt sich Lebensqualität allgemein definieren »as individuals’ perception of their position in life in the context of the culture and value systems in which they live and in relation of their goals, expectations, standards and concerns«.
Damit Lebensqualität in der Praxis ein therapie- und entscheidungsrelevantes Kriterium sein kann, muss der Begriff über ein Ziel definiert und über durch Erkrankung und Behandlung veränderliche Komponenten operationalisiert werden. Trotz einer langjährigen Diskussion über Theorie und Messung der Lebensqualität gibt es keine Einigung über eine angemessene operationale Defini-
297 12.6 · Lebensqualität
⊡ Tab. 12.4. Aspekte des Konstrukts Lebensqualität. (Aus Siegrist 1990) Handlungsvermögen
Befinden
Physisch
Mobilität, Alltagsaktivitäten
Symptome, Schmerzerfahrung
Psychisch
Konzentration, Gedächtnis, Vitalität, Regenerationsfähigkeit
Positive Stimmung (Freude, Hoffnung), negative Stimmung (Depression, Angst)
Sozial
Soziale Kompetenz (Soziabilität, Empathie), Rollenerfüllung (formell/informell)
Zugehörigkeit, Intimität, Anerkennung, Gefühl der Wirksamkeit
tion. Nach jetzigem Forschungsstand besteht lediglich ein allgemeiner Konsens darin, dass Lebensqualität eine subjektive Größe ist, ein multidimensionales Konstrukt ist mit einer physischen, psychischen und sozialen Dimension in Bezug auf Befindlichkeit und Handlungsvermögen in verschiedenen Lebensbereichen (⊡ Tab. 12.4) und sowohl positive als auch negative Bewertungen beinhaltet.
12.6.2
Objektive und subjektive Lebensqualität
Lebensqualität umfasst als übergeordnetes, komplexes Konstrukt sowohl objektive als auch subjektive Indikatoren, die sich wechselseitig beeinflussen.
Objektive Indikatoren Mit objektiven Indikatoren sind objektiv beobachtbare Lebensbedingungen gemeint wie Gesundheitszustand, Wohnsituation, sozioökonomische Lage, Arbeitsbedingungen, soziale Integration. Würde Lebensqualität rein objektiv bestimmt, müssten objektive soziale bzw. gesundheits- und krankheitsspezifische Standards festgelegt werden, die als Maßstab für die individuell zu bestimmende Lebensqualität fungieren, da subjektive Gewichtungen hier außer Acht bleiben. Die Grenzen eines solchen objektivistischen Ansatzes wurden bereits von der Sozialindikatorenforschung aufgezeigt. Ebenso hat sich das alleinige Arzturteil, durch das die Lebensqualität von Patienten anfänglich definiert wurde, als nicht hinreichend erwiesen: So beurteilen Ärzte die Lebensqualität von Patienten aufgrund ihrer Erkrankung häufig negativer, durch die Therapie aber deutlich positiver beeinflusst als die Patienten selbst (Jachuk et al. 1982). Nicht nur die Problematik von Selbst- und Fremdwahrnehmung schränkt die Brauchbarkeit objektiver Be-
dingungen als einziges Lebensqualitätsmaß ein, sondern auch die geringe Korrelation von objektiven und subjektiven Indikatoren. In der soziologischen Lebensqualitätsforschung konnten nicht mehr als 10% gemeinsame Varianz zwischen objektiven Lebensumständen und subjektivem Wohlbefinden nachgewiesen werden (Glatzer 1991); soziodemographische Variablen wie Geschlecht, Alter, Rasse, Einkommen, Bildung und Beruf erklären gemeinsam nur 8–17% der Varianz von Lebenszufriedenheit (Inglehart 1989). Diese geringe Validität objektiver Faktoren für die subjektiv empfundene Lebensqualität zeigt sich auch auf der individuellen Ebene und ist in der Stadtsoziologie wie Arbeitssoziologie nachgewiesen worden: Danach sind z. B. 80% einer Stichprobe von Arbeitnehmern mit Arbeitsbedingungen zufrieden, die von Beobachtern objektiv als schlecht klassifiziert würden (Büssing 1983). Insgesamt verweisen diese Ergebnisse auf die entscheidende moderierende Bedeutung der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung.
Subjektive Indikatoren Subjektive Indikatoren der Lebensqualität repräsentieren die subjektive Bewertung der objektiven Bedingungen und werden über subjektives Wohlbefinden (»wellbeing«) oder Zufriedenheit operationalisiert. In die subjektive Lebensqualität gehen ein: Persönlichkeitsfaktoren sowie emotionale, kognitive und soziale Faktoren wie Attributionsstile, Einstellungen, Lebenspläne, die aktuelle Stimmungslage, soziale Ressourcen, Bewältigungsstrategien, Selbstwertgefühl und krankheitsspezifische Faktoren wie Symptome, symptombedingte Einschränkungen, Erfahrungen mit der Erkrankung, subjektive Krankheitstheorien. Als Vergleichsmaßstab für die subjektive Bewertung werden in verschiedenen Modellen zur Lebensqualität, die jedoch noch kaum empirisch überprüft sind, subjektive Präferenzen, der Grad der Bedürfnisbefriedigung sowie soziale und biografische Vergleichsprozesse angenommen.
Subjektive vs. objektive Einschätzung der Lebensqualität Zunehmend wird Lebensqualität in der Medizin wie auch in der Soziologie und Psychologie als subjektive Lebensqualität verstanden, d. h. als subjektive Einschätzung objektiver Lebensbedingungen, Befindlichkeit und Funktionsfähigkeit. Da aber das subjektive Urteil über die Lebenssituation aufgrund interner und externer Einflussfaktoren eine veränderliche Größe ist, kann Lebensqualität weder allein durch objektive Indikatoren noch allein über subjektives Wohlbefinden definiert werden: Gutes Funktionieren im Alltag ist nicht zwangsläufig gekoppelt
12
298
Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 12.5. Typen von Lebensqualität (Nach Zapf 1984) Subjektives Wohlbefinden Gut Objektive Lebensbedingungen
Nicht gut
Gut
Well-being
Dissonanz
Nicht gut
Adaptation
Deprivation
mit Wohlbefinden, und umgekehrt kann Wohlbefinden auch trotz großer gesundheitlicher Einschränkungen empfunden werden, weil diese Defizite möglicherweise in anderen Lebensbereichen kompensiert werden können. Die Beziehungen zwischen objektiven Bedingungen und Wohlbefinden sind komplex und können im einfachsten Fall anhand der vier Lebensqualitätstypen »well-being«, »Dissonanz«, »Adaption« und »Deprivation« klassifiziert werden (⊡ Tab. 12.5). Eine Kombination objektiver und subjektiver Indikatoren ist insbesondere in der Psychiatrie für eine valide Erfassung der Lebensqualität erforderlich, wie gleich zu zeigen sein wird.
12.6.3
12
Subjektive Lebensqualität psychiatrischer Patienten
Im Unterschied zu somatisch Kranken können psychisch Kranke ihre Lebensqualität nicht unabhängig von ihrer Erkrankung wahrnehmen, da die psychische Befindlichkeit (insbesondere das Selbstwertgefühl) ein zentrales Element subjektiver Lebensqualität ist. Die besondere Schwierigkeit, die Lebensqualität psychisch Kranker zu erfassen, liegt darin, dass Lebensqualität einerseits als Folge einer zu verändernden Symptomatik verstanden wird, dass aber andererseits die Symptomatik ein wichtiger Bestandteil der subjektiven Wahrnehmung ist. Dies ist ein psychiatriespezifisches methodologisches Problem der Konfundierung, das sich in verschiedenen Lebensqualitätsskalen wiederfindet, die nicht klar zwischen Symptomatik, sozialer Anpassung sowie Selbstund Fremdwahrnehmung unterscheiden. In der für schizophrene Patienten entwickelten Quality of Life Scale (Heinrichs et al. 1984) ist beispielsweise die Konfundierung mit der Negativsymptomatik offensichtlich, so dass Lebensqualität hier kein neues Konzept, sondern nur ein neues Etikett für die Symptomerfassung darstellt. So relevant die Selbstbeurteilung der Lebensqualität grundsätzlich ist, so erscheint aus diesen Gründen zumindest für bestimmte Patientengruppen eine zusätzliche Fremdbeurteilung von Psychopathologie und objektiven Lebensbedingungen erforderlich. Aus der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbeurteilungsdaten lassen sich
dann Schlussfolgerungen über die Validität der Lebensqualität im Einzelfall ableiten. Aus empirischen Studien zur Lebensqualität psychisch Kranker (hauptsächlich Schizophrener und Depressiver) können folgende relativ konsistent bestätigte Ergebnisse zusammengefasst werden (als Übersichten vgl. Lauer 1996; Röder-Wanner u. Priebe 1995; Priebe et al. 1996): Im Vergleich zu gesunden Vergleichspersonen und somatisch Kranken erleben psychiatrische Patienten eine geringere Lebensqualität, und zwar unabhängig von der Diagnose. Patienten in gemeindepsychiatrischen Behandlungssettings berichten über eine bessere Lebensqualität als stationäre Langzeitpatienten. Psychopathologische Variablen, insbesondere Angst und Depression, korellieren mit einer subjektiv schlechteren Lebensqualität, auch bei nichtpsychiatrischen Stichproben. Unterschiedliche neuroleptische und antidepressive Substanzen haben einen unterschiedlichen Einfluss auf die Lebensqualität psychiatrischer Patienten. Wie neuere Vergleichsstudien zeigen, wird die Lebensqualität durch die Nebenwirkungen sog. atypischer Neuroleptika weniger beeinträchtigt als durch die der »klassischen« Neuroleptika. Perspektiven der psychiatrischen Lebensqualitätsforschung. In den vergangenen Jahren ist eine erhebliche
Dynamik in der psychiatrischen Lebensqualitätsforschung zu verzeichnen. Neben der vertiefenden Analyse obiger Fragestellungen bleiben weiterhin konzeptionelle und methodische Fragen zu klären (z. B. die Problematik, Lebensqualität über Zufriedenheitsskalen zu messen; s. oben.). Dabei müssten die ohnehin dominierenden psychometrischen Ansätze stärker durch qualitative Ansätze aus der Sozialforschung ergänzt werden: Da subjektive Lebensqualität durch interpretative Wahrnehmungen in sozialen Lebenswelten entsteht, ist der Zugang über standardisierte Indikatoren nur begrenzt sinnvoll.
12.7
Arzt-Patient-Beziehung
Die Arzt-Patient-Beziehung ist seit den 1950er Jahren, beginnend mit den klassischen Arbeiten von Parsons (1951), einer der ersten Schwerpunkte der medizinischen Soziologie. Obwohl die Arzt-Patient-Beziehung gut untersucht ist und zum klassischen Wissensbestand gehört, wird sie durch die Ergebnisse von Patientenbefragungen, Diskussionen zur Qualitätssicherung ärztlichen Handelns und durch neue Leitideen von Dienstleistung und Konsumentenverhalten erneut zu einem aktuellen Thema.
299 12.7 · Arzt-Patient-Beziehung
12.7.1
Strukturelle Asymmetrie
Aus soziologischer Sicht bildet die Arzt-Patient-Beziehung aufgrund der komplementären Rollenverteilung eine asymmetrische soziale Struktur, die durch soziale Kontrollfunktionen des Arztes gekennzeichnet ist und auf Expertenmacht (professionelle Kompetenz des Arztes), Definitionsmacht (Behandlungsrecht, Diagnosestellung, Krankschreibung) und Steuerungsmacht (Definition von Beginn, Verlauf und Ende des Kontaktes) beruht. Diese strukturelle Asymmetrie wird durch institutionelle und soziokulturelle Einflussfaktoren gemildert oder verschärft. Hinzu kommen individuelle Einflussfaktoren des Arztes/des Patienten wie Einstellungen, Persönlichkeitsmerkmale und Übertragungs-/Gegenübertragungsphänomene sowie krankheitsspezifische Faktoren.
Institutionelle Einflussfaktoren Innerhalb der ambulanten Versorgung haben Patienten in der Regel mehr Wahlmöglichkeiten und Verhandlungsspielräume als innerhalb der stationären Versorgung. Je größer die Wettbewerbssituation unter den niedergelassenen Ärzten und je stärker der Druck zum »clientining« (Patienten finden, Patienten binden) ist, desto größer sind die Einflusschancen des Patienten. Umgekehrt reduziert eine bürokratisch/staatlich geregelte ambulante Versorgung mit der beruflichen Autonomie des Arztes auch seine Patientenzentrierung, indem sie eine unpersönliche Dienstleistungsmentalität fördert (vgl. Siegrist 1995). Der organisatorisch-institutionelle Rahmen der Krankenhausversorgung bedingt trotz des Organisationsziels »Patientenversorgung« eine starke Ausprägung der Asymmetrie, da Patienten hier vielfältigen Reglementierungen und »Vereinnahmungen« ausgesetzt sind, v. a.: ständige Erreichbarkeit, ständige Störbarkeit, Wartezeiten, kurzfristige Umdispositionen von Maßnahmen, fehlende Wahlmöglichkeiten des Personals, Unpersönlichkeit der Beziehungsformen und Kontaktbegrenzung, sehr begrenzte Einflussnahme auf das Geschehen (Siegrist 1996).
Der Patient in der institutionellen Krankenversorgung Die soziale Organisation der institutionellen Aufgaben, medizinische Diagnose- und Therapieprogramme durchzuführen sowie persönliche Versorgungsbedürfnisse der Patienten sicherzustellen, ist hierarchisch strukturiert
und verfestigt die statusniedrige Position des Patienten. Diese wird bestimmt durch spezifische Verhaltens- und Gefühlsnormen wie Anpassungserwartungen an die vielfältigen Beschränkungen der Selbstbestimmung, Erwartungen an die Kontrolle negativer Affekte sowie Erwartungen an Dankbarkeit und Anerkennung dem Personal gegenüber, unabhängig von der Effektivität der Behandlung. Die institutionellen Vereinnahmungen des Patienten können eine psychosoziale Entwurzelung sowie eine relative Entpersönlichung und Infantilisierung und mit zunehmender Behandlungsdauer den sog. Hospitalismus bewirken. In den frühen soziologischen Untersuchungen amerikanischer psychiatrischer Anstalten, den »totalen Institutionen« (Goffman) – mittlerweile psychiatriehistorisch geworden – sind deren institutionelle Zwänge, Interaktionsrituale und inhumane Auswirkungen auf Personal und »Insassen« ausführlich analysiert worden (Stanton u. Schwartz 1954; besonders Goffman 1972). Aufgrund der Fortschritte der Psychopharmakotherapie und der Klinifizierung der Großkrankenhäuser hat sich der »Alltag in der Anstalt« (Fengler u. Fengler 1980) jedoch entscheidend verändert, und selbst auf psychiatrischen Akutstationen herrscht nicht nur Ordnung, sondern sogar »ein bisschen Chaos« (Floeth 1991), wie die genannten neueren soziologischen Feldstudien nachweisen.
Soziokulturelle Einflussfaktoren Die soziale Distanz zwischen Arzt und Patient wird beeinflusst durch soziokulturelle Faktoren wie Schichtzugehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit, Alter und Geschlecht (zu Geschlecht Abschn. 12.4.2). Nach Bernstein (1972) lässt sich das kulturell vermittelte soziale Handeln anhand schichtspezifischer Sprachcodes unterscheiden. Während Ärzte in der Regel den mittelschichttypischen elaborierten Sprachcode benutzen, ist für Patienten der unteren Schichten der restringierte Sprachcode typisch, der Fähigkeiten zur Abstraktion, flexiblen Interaktion und Verbalisierung von Absichten und Bedürfnissen einschränkt. Medizinsoziologische Untersuchungen haben empirisch belegt, dass mit sinkender Schichtzugehörigkeit Patienten von sich aus weniger Fragen stellen und Erwartungen äußern und von ihren Ärzten seltener freiwillig informiert werden (vgl. zusammenfassend Siegrist 1995). Die Schichtzugehörigkeit beeinflusst nicht nur über die Sprachcodes, sondern auch über damit verbundene Denkmuster wie schichtspezifische Wertvorstellungen und Krankheitseinstellungen die Kommunikation zwischen Arzt und Patient und die daraus resultierenden Diagnose- und Therapieentscheidungen des Arztes, wie frühere Arbeiten zur Frage der sozialen Selektion nachweisen konnten.
12
300
Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
12.7.2
Interaktionsdefizite
Folgen der strukturellen Asymmetrie der Arzt-PatientBeziehung zeigen sich v. a. in dem immer wieder in Befragungen bestätigten Informationsdefizit der Patienten. Es ist davon auszugehen, dass Patienten infolge kognitiver und emotionaler Verunsicherungen durch die Erkrankung ausgeprägte Informationsbedürfnisse haben, auch wenn sie diese aus soziokulturellen, psychologischen oder organisatorischen Gründen nicht artikulieren können oder wollen (vgl. Raspe 1983).
Informationsaustausch in der ärztlichen Visite
12
Zahlreiche medizinsoziologische und soziolinguistische Untersuchungen der ärztlichen Visite kommen zu dem Ergebnis, dass, obwohl die Visite primär der Kommunikation mit dem Patienten dienen soll, etwa die Hälfte des gesamten Gesprächumfangs auf den Arzt entfällt, während der Patient im Durchschnitt pro Visite nur eine einzige Frage stellt. Dies mag nur z. T. daran liegen, dass die Visite eine strukturell überladene Arbeitsaufgabe ist, der Arzt unter Zeit- und Entscheidungsdruck steht und am ehesten beim Gespräch mit dem Patienten sparen kann (Siegrist 1995). Das typische dreiteilige Kommunikationsschema: »Arzt fragt, Patient antwortet – Arzt schätzt ein – nächste Frage« (Mishler 1984) kann auch als Versuch gesehen werden, Unsicherheiten durch Kontrollbestrebungen zu bewältigen. Unter den strukturell schwierigen Bedingungen der Visite im Allgemeinkrankenhaus wurden vier den Informationsbedürfnissen des Patienten ausweichende Kommunikationsstrategien (»asymmetrische Verbalhandlungen«) identifiziert, die zweifellos die Funktion hatten, den Arzt emotional zu entlasten, seine Unsicherheit zu verbergen und kritische Informationen zurückzuhalten, ohne dadurch mit der Expertenrolle in Konflikt zu geraten (Siegrist 1978): Nichtbeachten, Übergehen von Patienteninitiativen, Adressaten- oder Themenwechsel, Verschieben der Antwort vom (gefragten) Inhalt zum Beziehungsaspekt der Kommunikation, Mitteilung funktionaler Unsicherheit (Vorenthalten von Befunden, die dem Arzt bereits bekannt waren).
Gründe mangelnder Zufriedenheit von Patienten mit der ärztlichen Kommunikation Empirische Untersuchungen zum Kommunikationsverhalten von Nervenärzten und psychisch Kranken liegen nicht vor, doch ist zu vermuten, dass hier die Kommunikationsprobleme und Unsicherheiten noch ausgeprägter sind. In Patientenbefragungen (z. B. Oksaar 1995) zeigt sich immer wieder, dass Patienten unzufrieden sind, weil ihr Arzt
zu wenig Zeit hat und/oder zu wenig mit ihnen kommuniziert (jeweils über 90%), nicht genügend zuhört, sie unkonzentriert und oberflächlich behandelt, zu schnell oder zu leise spricht, Fachausdrücke verwendet und sie entmutigt, Fragen zu stellen (jeweils 80%), sie nicht ernst zu nehmen scheint, u. a. durch eine zu familiäre, umgangssprachliche oder sozial diskriminierende Ausdrucksweise (jeweils über 70%), er zu unpersönlich und abweisend ist, ihnen nicht alles Wichtige mitteilt, etwa Medikamente verschreibt, ohne auf Wirkung und Nebenwirkungen hinzuweisen (jeweils über 60%).
Non-Compliance Unzufriedenheiten des Patienten mit dem Verhalten des Arztes münden nicht selten in mangelnde Kooperationsbereitschaft. Non-Compliance wird durchgängig bei einem Drittel bis etwa der Hälfte der Patienten festgestellt und ist insbesondere in der Psychiatrie ein großes Problem, weil Medikamentenverordnungen komplexer, Behandlungszeiten länger und Nebenwirkungen größer sind. Außer Arztmerkmalen und Merkmalen des Patienten wie subjektive Krankheitstheorien und Kontrollbedürfnisse (vgl. Linden 1993) sind Defizite in der ArztPatient-Interaktion, die zu Erwartungsenttäuschungen des Patienten führen, eine entscheidende Bedingung für Non-Compliance. Compliance kann u. a. dadurch positiv beeinflusst werden, dass der Patient besser informiert wird und dass der Arzt auf dessen subjektive Erwartungen, Befürchtungen und Bedürfnisse eingeht.
12.7.3
Rollenwandel: Abbau der Expertendominanz?
Mit dem Aufschwung biomedizinischer Forschung ist seit den 60er Jahren ein verstärktes Interesse der Öffentlichkeit und der Wissenschaft an der Ethik ärztlichen Handelns und medizinischer Forschung zu verzeichnen. Verantwortlich dafür sind einerseits die Zunahme chronischer Erkrankungen sowie die ständig fortschreitende Technisierung und Spezialisierung der Medizin, die Handlungsnormen erfordern, welche über die tradierte paternalistische Standes- und Tugendethik der Mediziner hinausgehen. Andererseits spielen gesamtgesellschaftliche Individualisierungsprozesse eine wichtige Rolle, weil sie Werte wie individuelle Autonomie und Selbstbestimmung sowie einen neuen Kontrollbedarf institutioneller Entscheidungsprozesse in den Vordergrund rücken.
Patientenrechte in der Psychiatrie In der Psychiatrie wurden erst 1977 in der »Erklärung von Hawaii« die wichtigsten Persönlichkeitsrechte von Pa-
301 12.7 · Arzt-Patient-Beziehung
tienten fixiert, wobei das Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben zentral ist. Für das ärztliche Handeln folgen daraus die Pflicht zur Sorgfalt, die Pflicht zur Aufklärung, die Pflicht zur Verschwiegenheit und die Pflicht zur Einholung der Patienteneinwilligung für Therapiemaßnahmen. Für die Arzt-Patient-Beziehung folgt daraus – zumindest normativ – ein Wandel der klassischen Rollenverteilung: Der Arzt verliert auf der Interaktionsebene seine Expertendominanz, da sein Behandlungsrecht den Persönlichkeitsrechten des Patienten nachgeordnet ist. Der Patient ist nicht länger passiver Empfänger ärztlicher Leistungen, der durch die Krankenrolle aus seiner Verantwortlichkeit entlassen ist, sondern entscheidet selbstverantwortlich mit über therapeutische Maßnahmen. Die Partizipation des Patienten bei Entscheidungsprozessen setzt natürlich voraus, dass ihm entsprechende Entscheidungshilfen in Form ausreichender Information an die Hand gegeben werden. Als idealtypisch für eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient gilt das Modell des »Shared-Decision-Making«, das das Mittelfeld zwischen der traditionellen paternalistischen Entscheidung und der informierten Patientenentscheidung abdeckt. »Shared-Decision-Making« führt nicht nur über eine verbesserte Compliance zu einer höheren Effizienz therapeutischer Maßnahmen, sondern auch zu einer höheren subjektiven Kontrollüberzeugung beim Patienten (Hamann et al. 2003).
Fehlende Übertragbarkeit der Dienstleistungsideologie auf Arzt-Patient-Interaktion Zur Definition der neuen Arzt-Patient-Beziehung dient die vielbemühte Übertragung der Dienstleistungs- und Konsumentenideologie aus Industrie und Verwaltung. Diese Analogie erweist sich allerdings nicht nur als inadäquat, sondern sogar als kontraproduktiv, weil die spezifischen Bedingungen personenbezogener Dienstleistungen verfehlt werden (vgl. Badura 1996): So ist das Ergebnis einer personenbezogenen ärztlichen Dienstleistung kein Produkt, sondern eine folgenreiche, komplexe Intervention in die psychophysische Integrität und das unmittelbare soziale Umfeld eines Menschen. Im Unterschied zur Zielerreichung bei sachbezogenen Dienstleistungen ist ein medizinischer Behandlungserfolg nur unter der Bedingung erwartbar, dass der Eigenbeitrag des Patienten und die Mitarbeit seiner Angehörigen berücksichtigt werden; der »Konsument« ist also Kooperationspartner innerhalb der Dienstleistung.
Konsequenzen für die Qualitätssicherung Welche Konsequenzen können aus diesen Überlegungen für die Qualitätssicherung ärztlichen Handelns abgeleitet werden?
Wenn das aus der industriellen Fertigung stammende Konzept der Qualitätssicherung sich auf die Entwicklung objektiver Standards, Leitlinien und deren Kontrolle beschränkt, reicht dies für eine bessere Patientenversorgung nicht aus. Objektive Standards sollen dem Arzt rationale Entscheidungsvorgaben auf der Basis von Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit an die Hand geben und beschränken sich deshalb auf den technischen Ablauf von Diagnose und Therapie. Dies allein sichert noch keine gute Behandlungsqualität, noch ändert sich dadurch grundsätzlich die Tatsache, dass ärztliche Entscheidungen immer Entscheidungen unter Unsicherheitsbedingungen bleiben (vgl. Linden u. Priebe 1990). Gute Behandlungsqualität ist empirisch begründet erst dann erreichbar, wenn instrumentelle Maßnahmen durch sozioemotionale Unterstützung vorbereitet, begleitet und nachbereitet werden: durch Informationen und Deutungshilfen, durch Zuwendung und Verständnis, durch soziale Anerkennung, durch Einbeziehung wichtiger Bezugspersonen (vgl. Badura 1996). Dies erfordert eine Verbesserung der kommunikativen Kompetenz des Arztes, aber auch eine kritische Erkundung der Patientenbedürfnisse und -erwartungen.
Stärker patientenorientierte Arzt-Patient-Beziehung Gute Behandlungsqualität heißt Patientenorientierung, d. h. Berücksichtigung der Subjektivität des Patienten und der sozioemotionalen (affektiven, kommunikativen) Komponente ärztlichen Handelns. Patientenorientierung basiert auf einem veränderten Selbstverständnis des Arztes und setzt sich um in die Förderung von Partizipation und Empowerment des Patienten mit dem Ziel, seine (erlernte) Hilflosigkeit zu überwinden, sein Selbsthilfepotenzial und damit längerfristig seine Resilienz zu stärken. Zusammengefasst ergibt sich die Notwendigkeit einer stärker patientenorientierten Arzt-Patient-Beziehung aus den Bedürfnissen der Patienten nach mehr Gespräch, Information und Partizipation, der Schwierigkeit des Arztes, Therapieentscheidungen zu treffen aus einer immer größer werdenen Menge objektiver Befunddaten ohne subjektive Urteile des Patienten, der Abhängigkeit des Behandlungserfolgs von der Kooperation des Patienten, der Einsicht in die Wirksamkeit ärztlicher Zuwendung und Empathie, wie sie durch die Psychotherapieforschung belegt worden ist und nicht zuletzt aus der vielfach nachgewiesenen positiven Wirkung sozialer Unterstützung.
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Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
Fazit Die Psychiatrie ist eine »interdisziplinäre Wissenschaft, die sich verschiedener Zugänge zu ihrem Gegenstand bedienen muß« (Häfner 1983). Aufgrund dieses Gegenstandes und ihres gesellschaftlichen Auftrags konstituiert sich ein besonderes Verhältnis der Psychiatrie zu ihren medizinisch-naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen. Die Ausführungen zu ausgewählten soziologischen Aspekten psychischer Erkrankungen zeigen zweierlei: Erstens, wieviel sozialwissenschaftliche Erkenntnisse bereits in den psychiatrischen Wissens-
Literatur
12
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bestand eingegangen sind, und zweitens, wieviel Bedarf an sozialwissenschaftlicher Expertise weiterhin besteht, die in interdisziplinärer Zusammenarbeit noch intensiver genutzt werden sollte. Die gegenwärtige Dominanz des biologischen Paradigmas darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Bedarf an qualifizierter Forschung und Praxis im Gebiet der psychiatrischen Soziologie besteht. Die große Herausforderung liegt für beide Disziplinen darin, die wechselseitige Beeinflussung biomedizinischer und psychosozialer Faktoren anhand biopsychosozialer Modelle zu untersuchen.
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Kapitel 12 · Soziologische und sozialpsychologische Aspekte psychischer Erkrankungen
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13 13 Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen M. Schmidt-Degenhard
13.1
Philosophische Voraussetzungen der anthropologischen Psychiatrie – 306 13.1.1 Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie – 306
13.4
Die Bedeutung des Einzelfalls für Forschung und Praxis der anthropologischen Psychiatrie – 313
13.5 13.2
Das Verhältnis zwischen klinischsymptomatologischer Psychiatrie und ihrer phänomenologisch-anthropologischen Auslegung – 308 13.2.1 Krankheit und Kranksein – 308 13.2.2 Die Problematik der psychiatrischen Exploration – 308 Zur Methodologie der anthropologischen Psychiatrie – 309 13.3.1 Der phänomenologische Ansatz – 309 13.3.2 Hermeneutische Ansätze – 311
Integration anthropologischer Ansätze am Beispiel der psychotischen Depression (Melancholie) – 313 13.5.1 Melancholiekonzeption Tellenbachs – 314 13.5.2 Melancholie als Verfehlen der Geschichtlichkeit des Menschen (Feldmann) – 315 13.6
Die Relevanz der anthropologischen Ansätze für die gegenwärtige Psychiatrie – 315
13.3
Literatur
– 316
306
Kapitel 13 · Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen
13.1
Philosophische Voraussetzungen der anthropologischen Psychiatrie
Das Aufzeigen anthropologischer Aspekte seelischen Andersseins ist das Ziel der anthropologischen Psychiatrie, die in der deutschsprachigen Psychopathologie auf eine jahrzehntelange Forschungstradition zurückblicken kann (Passie 1995). Die historische Begründung dieser Richtung ist mit den Namen von L. Binswanger, V. E. von Gebsattel und E. Straus verknüpft; stellvertretend für die Kontinuität dieses Forschens seit dem 2. Weltkrieg seien hier die Arbeiten Tellenbachs, von Baeyers und Zutts sowie bis in die jüngste Gegenwart von Blankenburg genannt.
13.1.1
Phänomenologischanthropologische Psychiatrie
Das in seinen theoretischen Ausgangspunkten durchaus differente Spektrum dieser anthropologischen Ansätze konvergiert in dem Bemühen, über die Deskription der klinisch beobachtbaren Erlebens- und Verhaltensauffälligkeiten hinaus das sich im Symptombild ausdrückende und seine Existenzweise bestimmende Selbst- und Weltverhältnis des Kranken zu erfassen. Das Erfahrungs- und Forschungsfeld dieser sog. phänomenologisch-anthropologischen Psychiatrie lässt sich in problemgeschichtlicher wie systematischer Hinsicht nur in seiner Verschränkung mit den unterschiedlichen, die einzelnen Fragestellungen vorgebenden philosophischen Konzeptionen vom Wesen des Menschen verstehen (Tellenbach 1987).
13
Psychiatrie und Philosophie »Anthropologisch« bezeichnet dabei nicht nur den Gegenstand dieses Forschens, also den Menschen, sondern auch das Bemühen, einen der Eigenart der »menschlichen Natur« (Kunz 1963) angemessenen Logos des wissenschaftlichen Vorgehens zu finden. Hier zeigt sich ein thematischer Wechselbezug zwischen Philosophie und Psychiatrie, wobei die erstere für den Gang ihres Denkens auf bestimmte klinisch-psychiatrische Erfahrungstatsachen angewiesen ist, während andererseits der Psychopathologie das Erfordernis einer selbstkritischen philosophischen Besinnung ihrer Grundbegriffe deutlich wird (Blankenburg 1979; Frick 1993).
Einflüsse philosophischer Schulen Hervorzuheben sind insbesondere die Einflüsse der phänomenologischen Bewegung in der Nachfolge Husserls, der Lebensphilosophie (Bergson), der philosophischen Hermeneutik (Dilthey, Gadamer) und der philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner) sowie der Daseinsanalytik Heideggers.
Anthropologische Forschung in der Psychiatrie vollzieht sich also in einem wechselseitigen Begründungsverhältnis von lebensweltlich verankerter qualitativ-natürlicher Erfahrung und übergreifendem konzeptuellem Entwurf, wobei der methodologischen Reflexion auf den Gang des Erkennens und seiner Voraussetzungen eine zentrale Bedeutung zukommt. Psychische Erkrankungen als regelhafte Abwandlungen des Daseins. In solcher Perspektive erscheinen die unter-
schiedlichen psychopathologischen Phänomene als regelhafte Abwandlungen menschlichen Sich-Befindens, Erlebens und Verhaltens, die sich annäherungsweise aus der Wesensart des Menschen ableiten lassen. Die Erforschung dieser Regelhaftigkeit von psychiatrisch relevanten Abwandlungen menschlichen Daseins setzt aber eine Kenntnis der grundlegenden Bedingungen des subjektiven und intersubjektiven Erstellens von Welt, insbesondere der alltäglichen Erfahrungswelt voraus: Dieses geschieht als das bewusste Sich-Vollziehen eines jeweils einzigartigen »Ich«, dessen Weltentwurf und -erfahrung mit einem einheitlich erlebten zeitlichen Sich-Erstrecken einhergeht, aus dem die individuelle biografisch-historische Sinngestalt erwächst (Wienbruch 1996). Dieses personale Werden ist aber immer auch der biologischen Gesetzlichkeit des Organismus unterworfen, das Ich bleibt stets an einen Körper als seinen Leib gebunden. Exzentrische Positionalität nach Plessner. Für Plessner erweist sich diese exzentrisch gelebte Verschränkung von Körper-Haben und Leib-Sein als ein Schlüsselprinzip philosophischer Anthropologie, da sie die im biologischen Rahmen verbleibende und diesen gleichzeitig hin zum lebensgeschichtlichen Existenzvollzug sprengende »Doppelnatur des Menschen« ständig konkretisiert. Die im Theorem der exzentrischen Positionalität des Menschen zusammengefasste expressive Vollzugsdynamik dieser Selbstdistanz lässt sich als ein durchgehendes Strukturprinzip menschlicher Konstitution von den elementaren Gründen des Sich-Bewegens und Empfindens bis hin zu den höchsten Kulturschöpfungen aufweisen. Menschliches Dasein entfaltet sich solchermaßen zwischen den Grundbestimmungen naturaler Kreatürlichkeit (animale Ursituation im Sinne von E. Straus 1963) und der Möglichkeit schöpferischer Selbst- und Weltkonstituierung. Die Reflexion auf die Leibgegebenheit des Menschen und ihre krankheitswertigen Abwandlungen gehört zu den klassischen Themen der anthropologischen Psychiatrie. Klinische Phänomene wie Hypochondrie, Dysmorphophobie oder Herzphobie erscheinen hier als in der Conditio humana mit der Unverfügbarkeit und zugleich Kontingenz des Leiblichen begründet und erweisen sich als Einschränkungen des Transzendierens der eigenen Leiblichkeit und des Zugehens auf Welt (Fuchs 2000).
307 13.1 · Philosophische Voraussetzungen der anthropologischen Psychiatrie
Die anthropologische Psychiatrie muss daher versuchen, der Einheitlichkeit des Sich-Vollziehens eines Ich in seiner spannungsvollen Leib- und Kulturgebundenheit gerecht zu werden, und dabei berücksichtigen, dass seelisches Kranksein immer in einem konstitutiven Wechselbezug zwischen der biologisch-organismischen Bestimmtheit des Menschen einerseits und den Ereignissen und Widerfahrnissen seiner Geschichtlichkeit andererseits untersucht und behandelt werden muss. Konzeption des Endon nach Tellenbach. Einflüsse der
philosophischen Anthropologie Plessners finden sich insbesondere in Tellenbachs Konzeption des Endon als einem eigengesetzlichen intermediären Seinsbereich zwischen Mechanismus und Bedeutung bzw. biologischer Notwendigkeit und existenzieller Freiheit; dieses Endon, für Tellenbach ein Ausdruck des menschlichen Geworfenseins im Sinne von Heidegger, sei als die psychophysisch neutrale Ursprungsregion psychotischer Abwandlungen des Personseins anzusehen (Tellenbach 1961, 1983). Strukturdynamische Theorie Janzariks. Zu den aus der
Psychiatrie heraus entwickelten anthropologischen Konzeptionen gehört auch die unter anderen ideengeschichtlichen Prämissen stehende strukturdynamische Theorie
Janzariks (1988, 2004), deren integrativer Grundansatz die psychopathologischen Phänomene in ihrer (dynamischen) neurobiologischen Fundierung und (strukturell gebunden) biografischen Bedeutsamkeit durch die Annahme eines Kohärenzprinzips zu vermitteln versucht. Dabei gilt die besondere Aufmerksamkeit Janzariks der das aktuelle Erlebnisfeld weit übergreifenden imaginativen Matrix des Seelischen. Als zentrale Größe erweist sich in diesem durch eine streng-abstrakte Begrifflichkeit geprägten Verstehensmodell die lebensgeschichtlich gewordene Gesamtpersönlichkeit mit ihrem individuellen Wertgefüge.
Fazit Für das mehrdimensionale Gesamtgefüge der Psychiatrie als einer interdisziplinär konzipierten Wissenschaftskomplexion ergibt sich daher die bleibende Notwendigkeit einer Ergänzung der empirisch-kausalanalytischen Forschung durch eine an den aufgezeigten anthropologischen Prämissen orientierte Betrachtungsweise, deren nicht rein metrisch erfassbarer Erfahrungsbereich einer eigenen erkenntniskritischen und methodologischen Reflexion bedarf (⊡ Tab. 13.1).
⊡ Tab. 13.1. Forschungsansätze und Themen der anthropologischen Psychiatrie 1
Phänomenologische Ansätze
1.1 Transzendental-phänomenologische Analyse
Aufklärung der (transzendental-)konstitutiven Störungsmuster psychotischen Erlebens (z. B. Binswanger 1960,1965; Blankenburg 1958,1971; Müller-Suur 1988)
1.2 Phänomenologie der Intersubjektivität und der Lebensweltbezogenheit
Abwandlungen der sozialen Perspektivität und der Begegnungsstruktur im Wahn (z. B. Baeyer 1979; Hofer 1968; Feldmann 1995); Situagenese endogener Psychosen (Tellenbach 1983; Schmidt-Degenhard 1995 b)
2
Hermeneutische Ansätze (Interpretative Psychopathologie)
2.1 Sinn-Verstehen psychotischer Erlebnisweisen
Untersuchungen der Sinnintention und Repräsentationalität (Mimesis) im Wahn (Feldmann 1989,1991); Sinnhorizonte und imaginative Aspekte in psychotischen Erlebniswelten (Müller-Suur 1954; Schmidt-Degenhard 1993)
2.2 Daseinsanalytische Forschung
Strukturell-normative Deskription und existenzielle Deutung eines individuellen Weltentwurfs im biografischen Sinnzusammenhang; Beschreibung der spezifischen existenzialen Strukturmomente psychotischer Daseinsverfassungen: Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Gestimmtheit, Eigentlichkeit (Binswanger 1933, 1957, 1965, 1994)
3
Anthropologische Konzeptionen
3.1 Endon
Als psychophysisch-neutraler eigengesetzlicher Seinsbereich und Ursprungsregion der »endogenen« Psychosen (z. B. Melancholie): Ausdruck der kreatürlichen »Geworfenheit« (Heidegger) des Menschen (Tellenbach 1961, 1983)
3.2 Zur Anthropologie der »animalen Ursituation«
Biologisch-organismische Determinanten menschlichen Daseins (Erwin Straus 1956, 1960, 1963)
3.3 »Konstruktiv-synthetisches« Verstehen der Welterfahrung Seelisch-Kranker
Melancholie, Depersonalisation, Zwangssyndrome (von Gebsattel 1954)
3.4 Strukturdynamische Konzeption der Persönlichkeit
Ganzheitlicher Verstehensansatz psychopathologischer Phänomene in ihrer neurobiologischen Fundierung und biografischen Bedeutsamkeit (Janzarik 1988)
13
308
Kapitel 13 · Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen
13.2
Das Verhältnis zwischen klinisch-symptomatologischer Psychiatrie und ihrer phänomenologischanthropologischen Auslegung
13.2.1
Krankheit und Kranksein
zum Ausgangspunkt eines die Erlebniswelt des anderen erhellenden Verstehensprozesses werden kann (SchmidtDegenhard 1993; Feldmann u. Schmidt-Degenhard 2000).
13.2.2
Als eine vorrangige Frage erweist sich die methodische und ontische Klärung des Verhältnisses zwischen klinisch-symptomatologischer Empirie und ihrer anthropologischen Auslegung, dem die Unterscheidung zwischen der Krankheit und dem individuellen Kranksein eines kranken Menschen zugrunde liegt. Die Diagnose einer psychischen Erkrankung wird heute zumeist anhand eines operationalisierten Kriterieninventars gestellt, wobei als epistemische Voraussetzung eine irgendwie korrespondierende Beziehung zwischen der psychopathologischen Symptomatik und den dazugehörenden (hypothetischen) somatischen Krankheitsprozessen angenommen wird (Kraus 1991). Klinische Psychiatrie stößt also eo ipso immer auf das Fundamentalproblem des Leib-Seele-Verhältnisses. Die psychotischen, etwa schizophrenen Symptome, beziehen sich nun aber – neben ihrem morbusverweisenden Zeichencharakter – indirekt als ein Phänomen auch auf den kranken Menschen: In der klinischen Symptomatik, die demnach einen gestalthaften Charakter besitzt, erscheint also beides, sowohl die schizophrene Krankheit als auch der schizophrene Mensch.
»Schizophren« als determinierendes und modifizierendes Prädikat
13
Müller-Suur (1958) hat daher aus logisch-analytischer Sicht 2 unterschiedliche prädikative Bestimmungen von »psychotisch« bzw. »schizophren« unterschieden: Im klinisch-symptomatologischen Sinn wird »schizophren« als determinierendes Prädikat auf die angenommenen Krankheitsprozesse bezogen, während »schizophren« in der phänomenologisch-anthropologischen Forschung als modifizierendes Prädikat des Menschen selbst erscheint: »… Man spricht vom ‚Schizophrenenǥ in dieser modifizierenden Bedeutung so, wie man z. B. von der inneren Größe eines Menschen im Unterschied zu seiner messbaren äußeren Größe sprechen kann«. Entscheidend ist nun, dass dieses modifizierende Prädikat »schizophren« nur durch den in der zwischenmenschlichen Begegnung erwachsenden Eindruck des durch die schizophrene Symptomatik in seinem inneren Wesen irgendwie veränderten Menschen erfasst werden kann. Müller-Suur beschreibt diese Erfahrung des Psychiaters als das Phänomen des Eindrucks von etwas bestimmtem Unverständlichem. Auf Seiten des Begegnenden ist hier also eine innere Haltung der empathischen Bereitschaft zum Sich-beeindrucken-Lassen gefordert, die dann
Die Problematik der psychiatrischen Exploration
Psychiatrische Erfahrung in diesem Sinn kann sich daher nicht auf den rein äußerlich beobachtenden Objektbezug beschränken, sondern schließt die klärende Reflexion der eigenen Selbsterfahrung im Berührtwerden durch das Gegenüber des seelisch kranken Menschen ein. Der situative Rahmen einer solchen interpersonalen Erfahrung und der Ursprung der sich hieraus ergebenden ärztlich-wissenschaftlichen Einstellung ist die dialogisch konfigurierte psychiatrische Exploration, die sich als ein offenes Feld zwischen Betroffensein und Verstehen mit dem Ziel intersubjektiver Verständigung entfaltet (Schmidt-Degenhard 1997, 2004). Anthropologische Forschung bezieht ihre so gewonnenen Erfahrungsgrundlagen also aus den Mitteilungen der Kranken über ihr Erleben, das sich entweder im explorativen Gespräch oder aus der schriftlichen Selbstschilderung der Betroffenen erschließt. Zu bedenken bleibt dabei aber, dass diese Erlebnismitteilungen neben der erfahrenen Unmittelbarkeit des Geschilderten stets auch bereits eine diesbezügliche Reflexion des Kranken beinhalten. Der auf das Selbst- und Weltverhältnis des Patienten verweisende Eindruck seines psychotischen Anders-Seins bleibt aber unlösbar gebunden an das Auftreten der klinisch-psychopathologischen Symptomatik; dieser kommt somit eine – im phänomenologischen Erfahrungs- und Forschungsvollzug zwar »eingeklammerte« –, aber für sein Gelingen dennoch unentbehrliche Bedeutung zu.
Fazit Phänomenologisch-anthropologische Untersuchungen bedürfen also stets einer impliziten deskriptiv-psychopathologischen Erfahrungsbasis und eines klinisch-psychiatrischen Rückbezuges, der gerade die klassischen Texte dieser Forschungstradition auszeichnet und ihren anhaltenden Einfluss auf die psychiatrische Klinik zu erklären vermag. Somit besteht durchaus ein entsprechendes Abhängigkeitsverhältnis der Erforschung anthropologischer Aspekte seelischer Erkrankungen von ihrer klinisch-symptomatologischen Erfahrungsdimension, deren Vernachlässigung den Geltungsanspruch dieser Studien erheblich mindert und eine praxisirrelevante Beliebigkeit ihrer Aussagen zur Folge hat.
309 13.3 · Zur Methodologie der anthropologischen Psychiatrie
13.3
Zur Methodologie der anthropologischen Psychiatrie
In der aufgezeigten Perspektive – d. h. im Hinblick auf seinen Phänomen-Charakter (Hofer 1954; Schmoll u. Kuhlmann 2005) – erscheint die Alienation, das ja oft leidvolle Anders-Gewordensein eines psychotischen Menschens als Ausdruck einer besonders konstituierten Seinsverfassung, als eine bestimmte existenzielle Grenzform menschlicher Daseinsmöglichkeiten, die wiederum auf ein eigenartiges (schizophrenes, melancholisches oder manisches) Selbst- und Weltverständnis mit jeweils abwandlungstypischen Bedeutungsgehalten verweist. Anthropologischer Psychiatrie geht es nun um das Aufzeigen der Strukturmomente, die für die jeweilige psychotische Daseinsverfassung wesenhaft bezeichnend und offenbar auch konstitutiv sind. Hierzu dienen 2 methodologisch verschiedene Zugangswege, die sich schematisierend als der phänomenologische und der hermeneutisch-verstehende charakterisieren lassen. Beide ergänzen einander und umgreifen, wie das wissenschaftliche Lebenswerk L. Binswangers exemplarisch zeigt, das eigentliche Erfahrungsund Forschungsfeld der anthropologischen Psychiatrie. Methode und Thematik stehen dabei in einem Entsprechungsverhältnis, das die inhaltliche Vielfalt anthropologischer Forschung erklärt.
13.3.1
Der phänomenologische Ansatz
Die von Jaspers (1912) methodologisch reflektierte »phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie« zielt auf die anschauliche Vergegenwärtigung der Erlebnisse eines Kranken im Vollzug eines empathisch-imaginativ vermittelten Sich-hinein-Versetzens in dessen Seelenleben. Das Prinzip dieses auf die vorurteilslose Deskription des Erlebten gerichteten Erkenntnisweges ist der ausschließliche Rekurs auf die Aktvollzüge und seelischen Zustände, die der Kranke in seinem Bewusstsein erlebt, sowie auf die formalen Weisen, in denen ihm dieses Erlebte gegeben ist. Es wird also versucht, die Dimensionen des vom Kranken wirklich erlebten Lebens in ihrer Allgemeingültigkeit zu veranschaulichen und so eine deskriptive Phänomenologie des Seelisch-Anderen zu entwerfen. Die hierzu von Jaspers beschriebenen Wege des statischen und genetischen Verstehens machen allerdings deutlich, dass die von ihm als »phänomenologisch« bezeichnete Methode eigentlich den hermeneutisch-verstehenden Vorgehensweisen zuzuordnen ist. Sein psychologischer Verstehensbegriff im Sinne des Nacherlebens von eigenen oder fremden Seelenvorgängen ist (nach Rickert) zu unterscheiden von einem Verstehen kulturbedingter irrealer Sinngebilde (Sinn-Verstehen im engeren Sinn), wo-
bei letzteres allerdings eine Erkenntnisbrücke zum fremden Seelenleben schlagen kann (Schäfer 1992). Die gleichwohl unzureichende Erörterung des Fremderfahrungs- und Intersubjektivitätsproblems bei Karl Jaspers mag für die dogmatische Starre seines Unverständlichkeitstheorems psychotischer Erfahrungsweisen verantwortlich sein (Baeyer 1979).
Transzendental-phänomenologischer Aspekt Der sich direkt an Husserls Ziel einer Wesensschau anschließenden phänomenologischen Ausrichtung in der anthropologischen Psychiatrie geht es über die Beschreibung hinaus darum, die psychotische Seinsverfassung auf ihre »innere Gangstruktur«, d. h. ihre Ermöglichungsgründe und Aufbauweisen, konkret auf die konstitutiven Leistungen der psychotisch abgewandelten Subjektivität zu befragen. Herausragende Beispiele für diese transzendental-phänomenologische Forschung in der Psychopathologie sind die Studien über »Melancholie und Manie« (1960) und den Wahn (1965) des späten Binswanger sowie die beiden großen Kasuistiken von Blankenburg über einen chronisch Schizophrenen (1958) und eine an einer symptomarmen Hebephrenie leidende Patientin (1971), die sich nach mehrjährigem Verlauf ihrer Erkrankung suizidierte. Begriff der Intentionalität nach Husserl. Ausgangspunkt
der Phänomenologie Husserls ist die im Begriff der Intentionalität zentrierte Annahme der Korrelation von Bewusstsein und Welt: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Alles raumzeitliche Sein der Wirklichkeit ist nur insofern, als es auf ein erfahrendes, wahrnehmendes, denkendes, fühlendes Bewusstsein bezogen ist. Die Welt stellt so das (noematische) Korrelat von sinnstiftenden (noetischen) Bewusstseinsleistungen dar, die das Verstehen der Welt in ihren Bedeutungsdimensionen und hinsichtlich ihres Geltungscharakters als etwas Vorhandenes ermöglichen.
Transzendentale Subjektivität Um diese grundlegenden allgemeinen sinnkonstituierenden Leistungen des Bewusstseins aufzuzeigen, werden in der sog. transzendental-phänomenologischen Reduktion alle in der natürlichen Einstellung der Alltagswelt angenommenen Vorstellungen »eingeklammert« (Epoché). Das damit eröffnete Feld der transzendentalen Subjektivität, das eine Region des individuellen Seins darstellt, die ihren Seinssinn aber ausschließlich aus der inneren reflexiven Erfahrung schöpft, erfüllt nun jene Grundlegungsfunktion des Bewusstseins. Die Phänomenologie sieht ihre Aufgabe im Aufzeigen der allgemeinen Strukturen jener Bewusstseinsleistungen, welche die Konstitution einer möglichen Welt begründen und mit der objektiven Sinngeltung zugleich deren intentionales Korrelat, die Welt als einen univer-
13
310
Kapitel 13 · Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen
salen Verweisungszusammenhang vertrauter Sinngeltungen konstituieren. Diese Leistungen des transzendentalen Subjekts können dann im Hinblick auf die Konstitutierungsprozesse von Ding, Raum und Zeit, objektiver Welt mit ihrer jeweils besonderen Horizontalität und Kontextualität sowie der Intersubjektivität unterschieden werden.
Transzendental-phänomenologische Forschungen Binswangers Für Binswanger liegt das Phänomenal-Wesentliche psychotischer Erlebnisabwandlungen in einer Störung, einem Bruch des konstitutiven Folgezusammenhangs der Erfahrung, denn – so Husserl (1974, S. 258): »Die reale Welt ist nur in der beständig vorgezeichneten Präsumtion, dass die Erfahrung im gleichen konstitutiven Stil beständig fortlaufen werde.« Demnach müssen also auch die psychotischen Erlebnisweisen ihre eigenen Konstituierungsprozesse besitzen, aus denen regelhaft ihre phänomenale Unterschiedenheit und je eigene thematische Typik resultieren. Die auf dieses Erkenntnisziel gerichteten Texte der anthropologischen Psychopathologie, die insbesondere auf Husserls Egologie Bezug nehmen, eröffnen einen Zugang zu den spezifischen Störungsmustern der transzendentalen Organisation psychotischer Subjektivität. Deren Analyse lässt die klinische Symptomatik als eine defiziente Sinngestalt erkennbar werden, aus der aber auch die je besondere Leidhaftigkeit dieser Zustände verstehbar wird (Müller-Suur 1986, 1988).
Beziehung zur klinischen Psychiatrie
13
Die transzendental-phänomenologische Forschungsrichtung des späten Binswanger steht mit ihrer Betonung des Defizienzcharakters psychotischen Erlebens, welche die Annahme eines dem Subjekt letztlich fremden und es entmächtigenden psychotischen Einbruchs voraussetzt, dem Morbus-Konzept der klinischen Psychiatrie durchaus nahe. Dementsprechend wurde Binswanger seinerzeit eine Vernachlässigung der daseinsanalytisch-historiologischen Aspekte seelischen Anders-Seins vorgeworfen (Kisker 1961), deren Erforschung ja gerade auch ihm im Wesentlichen zu verdanken war. Erst der heutigen Binswanger-Exegese bleibt es vorbehalten, transzendentale Phänomenologie und Daseinsanalyse (s. unten) in ihrem konstruktiven Ergänzungsbedürfnis zu erkennen, das allerdings immer der klinisch-psychopathologischen Fundierung bedarf (Holzhey-Kunz 1994; Herzog 1994). Beschreibung unterschiedlicher Wahnformen. Binswan-
ger skizziert an mehreren exemplarischen Fallschilderungen die Genese unterschiedlicher Wahnformen (Wahntexte) als Folge einer Ver-rückung bzw. des Ausden-Fugen-Geratens der transzendentalen konstitutiven Entwurfsysteme, zu denen beispielsweise die Konstitu-
tion der Mirzugehörigkeit von Erfahrung gehört. Wahnerfahrung lässt sich bis in ihre basalen perzeptiven Schichten hinab als eine »deformierte« Erfahrung aufweisen, wobei diese »Deformationen« auch in die höherstufigen Erfahrungsynthesen eingehen und so das Erleben einer in sich »logischen« Wahnwelt bedingen. Blankenburg (1971) vergleicht den Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit als ein Wesensmerkmal der (symptomarmen) schizophrenen Alienation mit dem Vorgang der phänomenologischen Reduktion, die ja gleichfalls eine methodisch intendierte »Aufhebung« der natürlichen Selbstverständlichkeit bedeutet. Allerdings unterscheidet sich die in einem Versagen der transzendentalen Organisation fundierte psychotische Intentionalitätsveränderung durch ihre pathische Unverfügbarkeit und das Stigma des Freiheitsverlustes von der frei gewählten analogen Einstellung im phänomenologischen Erkenntnisprozess.
Offene Fragen Die weitere Erforschung dieses phänomenologischen Erfahrungsfeldes birgt eine Fülle von noch zu behandelnden Problemen, deren Bearbeitung eine durch begriffliche Strenge und methodische Präzision gekennzeichnete Denkarbeit voraussetzt. Eine solche Psychopathologie bedarf des ständigen kritischen Dialogs mit der seit Husserl stetig fortgeschrittenen phänomenologischen Philosophie (Ströker u. Janssen 1989). Als die für das psychiatrische Interesse maßgebliche Frage erweist sich dabei das Problem der intersubjektiven Konstituierung des Ich-Selbst und seiner Leiblichkeit in einer gemeinsamen Lebenswelt und ihrer möglichen Verwerfungen. Die Untersuchung der veränderten Lebensweltbezogenheit in den psychotischen Daseinsformen
stellt daher ein vorrangiges Forschungsfeld dar, in dem es um die Analyse von Lebenspraxis und Daseinsbewältigung des Kranken in seiner von ihm erfahrenen und erlittenen, aber auch gestalteten mitmenschlichen Wirklichkeit (etwa in der Familie oder im therapeutisch-rehabilitativen Rahmen) geht (Blankenburg 1983, 1991; Huppertz 2000).
Wahn als Störung der Begegnung Zu verweisen ist hier auf die aus der Phänomenologie der sozialen Welt (A. Schütz) entwickelte und diese radikalisierende Forschungsrichtung der Ethnomethodologie (Weingarten 1976). In diesen wissenschaftlichen Kontext gehören die subtilen Studien von Hofer zur abgewandelten Begegnungsstruktur des wähnenden Menschen, die er als ein »Miteinander im Geschiedensein« charakterisiert (1968). Die Eigenwelt des schizophrenen Wahns ist ungeachtet der ihr inhärenten Erfahrungsdefizienzen nicht monadisch versperrt, vielmehr verbleibt ihr stets das Bezogensein auf den mitmenschlichen Anderen, der somit für die asymmetrische soziale Figur des Wähnens mitkonstitutiv wird.
311 13.3 · Zur Methodologie der anthropologischen Psychiatrie
Allerdings fehlt in der Aktualisierung des Wahns das intersubjektive Moment der Wechselseitigkeit und des gemeinsamen Verbindlichen, so dass der Wahn in seiner sozialen Situationsbedeutung als Ausdruck einer fehlenden Fähigkeit zur Perspektivenübernahme nur als eine transsubjektive Praxis aufgefasst werden kann (Feldmann 1995). Diese qualitative Erforschung der intersubjektiven Konstitution von sozialer Wirklichkeit beinhaltet aber bereits auch genuin hermeneutische Fragestellungen.
13.3.2
Hermeneutische Ansätze
Sinn-Verstehen psychotischer Erlebnisweisen Das Selbst- und Weltverständnis psychotischer Menschen ist einer hermeneutisch-verstehenden Annäherung zugänglich. Verstehen stellt in einer allgemeinen Bedeutung eine Weise des Sinnerfassens dar. Als Gegenstand und Ziel eines solchen hermeneutischen Vorgehens gelten die Auslegung des Sinnes und der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken, Handlungen und menschlichen Kulturschöpfungen (Ineichen 1991). Dabei ist allerdings die zirkuläre Struktur eines solchen Erkenntniswegs zu beachten, der ständig zwischen dem Vorverständnis eines Gesamtzusammenhangs und dem konkreten Verstehensobjekt, also zwischen Sinnganzem und Bedeutungselement, kritisch vermitteln muss (Gadamer 1975). Verstehen stellt einen wesenhaft sozialen Akt dar, der als ein Prozess der Verständigung zwischen einem Verstehen-Wollenden und einem zu verstehenden, verständnissuchenden Anderen zu beschreiben ist. ! Sprachliche Mitteilungen psychotischer Menschen repräsentieren immer auch einen Versuch der Selbstauslegung ihres Anders-Gewordenseins, der eine narrative Dimension der psychopathologischen Phänomene freilegt. Hier eröffnet sich das Feld der interpretativen Forschung in der Psychopathologie, die zum Verstehen der psychotischen Erlebniswelten auf interdisziplinäre Anregungen aus den unterschiedlichen Kulturwissenschaften wie der Literatur-, Kunst- und Religionswissenschaft oder auch der Ethnologie zurückgreift (Schmidt-Degenhard u. Feldmann 2003). Die Frage nach dem Bezug psychotischen Erlebens und Verhaltens zu kulturellen Mustern und Normen im Sinne von Kongruenz oder Devianz bedeutet dagegen eine Annäherung an die Kulturanthropologie.
Psychopathologische Phänomene als seelisch-geistige Sinngebilde In diesem Zusammenhang sei auf die Studien von MüllerSuur (1954, 1980) und Feldmann (1989, 1991) sowie eigene Versuche (s. unten) verwiesen: Voraussetzung dieser
Forschung ist eine Einstellung, die das psychopathologische Syndrom als ein komplex konstituiertes seelischgeistiges Sinngebilde anerkennt, das keinesfalls nur unter rein defizitären Gesichtspunkten betrachtet werden darf. Es handelt sich hier also um ein ausgesprochenes SinnVerstehen gemäß den bereits erörterten Differenzen des Verstehensbegriffes. Schizophrenes Wahnerleben. So hat Müller-Suur im schi-
zophrenen Wahnerleben die Wirksamkeit von allgemeinen (irrational-transzendenten, transzendental-formalen und mythisch-archetypischen) Sinnhorizonten aufgezeigt: Diese setzen der gegen den Sinngehalt der Erlebnisinhalte gerichteten Auflösungstendenz in der schizophrenen Erlebnisdynamik, die einer transzendental-phänomenologischen Analyse zugänglich ist, kompensatorisch den Versuch eines Sinnerhaltes entgegen. Sie ermöglichen damit eine auf formal-inhaltlicher Kongruenz beruhende Gestalthaftigkeit der psychotischen Erlebnisweisen. Feldmann hat in seinen Untersuchungen zur Wahndynamik und zur Bedeutung der Darstellungsproblematik (Mimesis) im Wahn diese sinnerhaltende Funktion im schizophrenen Erleben als ein sinngebendes Moment näher bestimmt und strukturale Affinitäten zwischen dem originär-psychotischen Erleben (im Sinne des für den Kranken einbruchhaften Psychotisch-Unverständlichen) und der konkreten Wahngestalt herausgearbeitet (vgl. auch Feldmann u. Schmidt-Degenhard 1997). Das Generieren von Sinn im Wahn erfolgt dabei prozessual gemäß den Regeln einer generativen Semantik in einzelnen semantischen Schritten: Dabei bilden sich Ketten wahnhafter Sinngebungen mit einzelnen Entscheidungspunkten, an denen der Kranke von der natürlichen Bedeutungsauffassung zugunsten der wahnhaften abweicht. Durch kontextuale Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Bedeutungserlebnissen wird nun aber eine in sich stimmige, wahnhafte Gesamtauffassung der Situation ermöglicht, die auf eine primäre übergreifende Sinnintention verweist. Der Aufbau einer Wahnwelt ist daher als ein Versuch zu verstehen, sich die »Innenwelt« des psychotischen Erlebens transformativ wie eine mundane oder numinose Wirklichkeit mimetisch anzueignen, um sie so einem sinnvollen Selbstverständnis zuzuführen. Oneiroide Erlebnisform. Die hier gemeinte Wirklichkeit ist aber die Erlebniswirklichkeit des Imaginären, die aus
der Aktualisierung von imaginativen Potenzen des Subjekts erwächst. Der dabei aufscheinenden poietischen Grundtendenz des Seelischen gehen eigene Studien nach, die sich mit dem Bedingungsverhältnis von Wahn und Imagination sowie dem veränderten Wachbewusstseinszustand in der sog. oneiroiden Erlebnisform auseinandersetzen (Schmidt-Degenhard 1992, 1995 a, 1999). In den Oneiroiden endogen-psychotischer Kranker ebenso wie denen von Seelisch-Gesunden in existentiellen Grenz-
13
312
Kapitel 13 · Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen
situationen lässt sich gleichermaßen ein transphänomenaler, auf die Verwirklichung von welthaft konfiguriertem Imaginärem zielender Gestaltungsdrang aufweisen: kli-
nische Beobachtungen, die den Psychiater mit der im Alltagsleben oft überdeckten Erfahrungsmöglichkeit der Realitätsträchtigkeit des Irrealen konfrontieren. Gerade an diesen Beispielen wird sichtbar, welchen Beitrag die anthropologische Auslegung des psychiatrischen Erfahrungsraumes zur Aufdeckung grundlegender Strukturen der menschlichen Daseinsverfassung zu leisten vermag. Die erörterten Texte eines Sinn-Verstehens psychotischer Erfahrungsweisen verdeutlichen, dass die Interpretation komplexer Sinngebilde nicht nur rein rekonstruktiv fungiert, sondern selbst sinnstiftend und damit therapeutisch zu wirken vermag. So finden sich verwandte Überlegungen in den Grundprinzipien der individuellen Psychotherapie Schizophrener bei Benedetti (1983) oder auch in gestaltungstherapeutischen Ansätzen.
Daseinsanalyse
13
Einen anderen Weg interpretativer Forschung beschreitet die von Binswanger begründete Daseinsanalyse, die sich als eine Hermeneutik der inneren Lebensgeschichte charakterisieren lässt. Bei ihrer Grundlegung lassen sich ideengeschichtliche Einflüsse von Heideggers »Sein und Zeit« und der Lebensphilosophie Diltheys nachweisen (vgl. Blankenburg 1977; Kuhn 1963; Herzog 1994; HolzheyKunz 2001). Der sich in die beiden Stufen von strukturell-normativer Deskription und existenzieller Deutung gliedernden Daseinsanalyse geht es um die Erschließung des Sinnzusammenhangs der in der Kontinuität ihres Lebens und Erlebens sich geschichtlich entfaltenden Person. Die sich im Zuge der biographischen Entwicklung herausbildende Lebensgestalt wird auf den ihr zugrundeliegenden individuellen Weltentwurf als den Ermöglichungsgrund des konkreten Erlebens und Verhaltens befragt. Die Untersuchung der jeweiligen Struktur dieses Weltentwurfes und seiner lebensgeschichtlichen, faktisch-ontischen Abwandlungen erfolgt am Leitfaden der Norm einer ontologischen Strukturganzheit »eigentlichen« (Heidegger) bzw. »geglückten« (Szilasi) Daseins. Als Beschreibungskriterien im Sinne von anthropologischen Dimensionen fungieren beispielsweise die Räumlichkeit, die Zeitlichkeit, die Konsistenz, das Gestimmtsein sowie das atmosphärische Kolorit (die Aura) des individuellen In-der-Welt-Seins sowie die Selbstständigkeit bzw. Uneigentlichkeit eines Daseins; anhand dieser Richtlinien lassen sich die anthropologische Proportion einer biografischen Sinngestalt bzw. die Disproportionalität der »Formen mißglückten Daseins« (Binswanger) erfassen. Daseinsanalyse vs. deskriptive Psychopathologie und Psychoanalyse. Thematik und Daseinsstil einer Lebensge-
schichte werden in der Daseinsanalyse also in ihrer wech-
selseitigen Bezogenheit erfasst, während die deskriptive Psychopathologie sich auf das Formale, die Psychoanalyse hingegen sich auf das Inhaltliche der Erlebnis- und Existenzvollzüge konzentrieren. So bleibt in diesen daseinsanalytischen Texten die Fülle der historischen Faktizität eines Lebens am meisten gewahrt. Anthropologische Proportion. Der räumliche Charakter des Zentralbegriffes der »anthropologischen Proportion« erklärt die Bevorzugung räumlicher Metaphern in den daseinsanalytischen Studien, in denen es primär um die Erfassung eines personalen Weltentwurfs hinsichtlich der Dimensionen von Weite bzw. Enge und Höhe bzw. Tiefe geht. In seinen großen Studien über »Ideenflucht« (1933) und »Schizophrenie« (1957) gelingt Binswanger eine beschreibende Explikation dieser psychotischen Daseinsformen jenseits der Alternative krank-gesund, wobei aber jetzt auf einer höheren Stufe eine analoge Unterscheidung zwischen ontologisch-normativer Struktur und faktischontischer Strukturabwandlung zum zentralen Interpretations- und Wertungsmaßstab wird. Hier finden sich durchaus Entsprechungen zu Müller-Suurs Konzeption einer individuellen Werdensnorm (1950). Im gegebenen Rahmen ist eine auch nur annähernde Skizzierung dieser beeindruckenden Kasuistiken unmöglich: Das Psychotisch-Werden einer gefährdeten, vulnerablen Persönlichkeit erscheint hier als ein mit innerer Folgerichtigkeit fortschreitender existenzieller Umwandlungsprozess, also als etwas Individuell-Gesetzliches (Simmel), dessen erste sublime Anzeichen sich als Ausdruck der Struktureigentümlichkeit des individuellen Weltentwurfs bereits lange vor dem Auftreten einer manifesten klinischen Symptomatik nachweisen lassen. Mit einer in der Psychiatriegeschichte seltenen Eindringlichkeit vergegenwärtigt Binswanger das besondere Leiden des schizophrenen Menschen, das aus der Verschränkung der Eigenart seiner Abwandlung mit dem letztlich vergeblich bleibenden Versuch einer Wiederherstellung der verlorenen Daseinsordnung resultiert: Dieses spezifische Leiden zeigt sich im Denken, Fühlen und Handeln gleichermaßen als eine progrediente Inkonsequenz oder »Erstarrung« der Erfahrung bis hin zum »Nichtmehr-ein-noch-aus-Können« eines Daseins in der unaushaltbaren Spannung der akuten Psychose.
Bedeutung der Daseinsanalyse für die klinische Psychiatrie Die Schizophreniestudien Binswangers waren von einem großen konzeptuellen Einfluss auf die Entwicklung der Psychotherapie psychotischer Menschen, der sie überhaupt erst einen systematischen Verstehenshorizont eröffneten (Hoffmann 1997). Unausgeschöpft sind bis heute auch die Möglichkeiten einer Daseinsanalyse persönlichkeitsgestörter und neurotischer Menschen (Häfner 1961). Die Bedeutung der Daseinsanalyse für die klinische Psy-
313 13.5 · Integration anthropologischer Ansätze am Beispiel der psychotischen Depression
chiatrie lässt sich zweifellos als eine in einem erweiterten Verstehen fundierte Humanisierung des Umgehens mit seelisch Kranken beschreiben, von der wesentliche Anstöße zu den sozialpsychiatrischen Reformbewegungen ausgingen (Kimmich 1978). Darüber hinaus vermittelt sie unvermindert aktuell eine begegnende Einstellung zur Person des psychotischen Menschen und seinem individuell-geschichtlichen Kranksein, ohne welche die moderne Psychiatrie sich auf die Perfektionierung ihrer immens gesteigerten therapeutisch-technischen Möglichkeiten reduzieren würde.
13.4
Die Bedeutung des Einzelfalls für Forschung und Praxis der anthropologischen Psychiatrie
Als die adäquate Erkenntnisquelle der aufgezeigten anthropologischen Forschungsansätze ist die Einzelfallstudie anzusehen (Feldmann 1974). Nicht zuletzt daher resultiert auch die nicht selten abwertende Kritik an den Aussagen anthropologischer Psychiatrie aus der Sicht einer rein nomologisch-analytisch orientierten Konzeption psychiatrischer Wissenschaft, die nur empirisch-metrisch gewonnener Erkenntnis einen wissenschaftlichen Rang zubilligt. In deren Sinne nicht exakte Forschungsergebnisse dienen dann lediglich als »vorläufige Hypothesen« bzw. werden sogar als unwissenschaftliche Spekulationen oder bestenfalls kunstvolle Narrationen denunziert.
Plausibilität und Stimmigkeit der Interpretation Hierzu ist anzumerken, dass als Gütekriterium eines interpretativen Vorgehens nicht das Richtigkeitskriterium naturwissenschaftlicher Erkenntnis fungiert, die entweder wahr oder falsch sein kann; vielmehr kommt es hier auf die Stimmigkeit und die Plausibilität einer Interpretation an, die mehr oder weniger zutreffend oder ganz unzutreffend sein kann. Das richtige Stimmen einer Interpretation kann also immer nur mehr oder weniger zutreffend sein; somit wird sich diejenige Interpretation als die »wahre« erweisen, die alle auslegbaren Aspekte eines »Verstehensobjektes« in einen kohärenten – formal und inhaltlich stimmigen – Zusammenhang bringt und so seinen Sinn konstruiert (Geldsetzer 1992). Hermeneutik als eine synthetisch konzipierte Auslegungslehre erfordert als Vorbedingung eben auch ein kritisch-analytisches Moment und muss so ihre Vorgehensweisen einer ständigen Prüfung unterziehen.
Einzelfallstudien in der phänomenologischanthropologischen Psychiatrie Der Einzelfall in der phänomenologisch-anthropologischen Psychopathologie spielt daher eine grundsätzlich andere Rolle als die eines Ausgangspunkts induktiven Schließens und daraus folgender Hypothesenbildung wie
in der kausalanalytischen Forschung. Es handelt sich hier auch nicht um die kasuistische Veranschaulichung nosologischer Klassenbegriffe und Gesetzlichkeiten, die aus der abstrahierenden Generalisierung einzelner Fälle gewonnen werden. Die referierten Texte zielen vielmehr auf eine Wesenserkenntnis des Allgemeinen am Individuellen. Das in phänomenologischer Einstellung am Einzelfall erkannte Invariante der konstitutiven Ich-Strukturen stellt bereits eine »korrelative Wesensform der mannigfaltigen wirklichen und möglichen Intentionalität« (Husserl) und damit aller individuellen Besonderungen dar, die sie somit von innen her begründet (Broekman 1965). Es geht also in der anthropologischen Psychiatrie nicht um eine Pointierung des Subjektiven im Seelischen, sondern um die Aufdeckung des intentionalen Apriori und die Erhellung der historiologischen Bedingungen von Subjektivität, auch psychotischer Subjektivität, deren
Verwirklichung sich in den individuellen Lebensgeschichten vollzieht. So mag vielleicht eine weitestgehende wissenschaftliche Annäherung an den einzelnen Kranken gelingen, der uns in der psychiatrischen Praxis in seiner einzigartigen Subjekthaftigkeit gegenübertritt. Diese liegt aber jenseits seines Verständnisses als Krankheitsfall und überschreitet damit jedes durch wissenschaftliche oder klinische Kategorien bestimmte Begriffs- und Verständigungssystem: Individuum est ineffabile.
13.5
Integration anthropologischer Ansätze am Beispiel der psychotischen Depression (Melancholie)
Seit den 1920er Jahren bildet die Auseinandersetzung mit dem Melancholieproblem ein zentrales Thema der anthropologischen Psychiatrie. Die problemgeschichtliche Rekonstruktion dieser Erkenntnisbemühungen um die Wesensgestalt der psychotischen Depression lässt eine wechselseitige Stimulation und eine Ergänzungsnotwendigkeit der unterschiedlichen methodologischen Ansätze innerhalb des anthropologischen Forschungsspektrums sichtbar werden. Die »klassischen« Studien zum Melancholieproblem (Minkowski 1933; Straus 1928, zitiert in Straus 1960; von Gebsattel 1928/1939, zitiert in von Gebsattel 1954), die deutlich unter dem geistesgeschichtlichen Einfluss der Lebensphilosophie (Dilthey, Bergson) stehen, setzen an der Zeitstruktur des seelischen Lebens und Erlebens an (Schmidt-Degenhard 1983). Die Erfahrungsgrundlage stellen auf luziden Selbstschilderungen der Kranken beruhende exemplarische Kasuistiken dar.
Erlebtes Stagnieren des inneren Zeitgeschehens Ausgehend von einer hier nur anzudeutenden Differenzierung unterschiedlicher Zeitlichkeitsmodi wird ein
13
314
Kapitel 13 · Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen
Grundmoment melancholischen Erlebens in einer Verlangsamung der (erlebnisimmanenten) Ich-Zeit gegenüber der stets fortschreitenden (erlebnistranseunten) Weltzeit gesehen, die gleichzeitig eine vom Kranken sehr wohl wahrgenommene und reflektierte Dissoziation dieser beiden Zeitlichkeitsmodi beinhaltet. Aus diesem erlebten Stagnieren des inneren Zeitgeschehens, das mit einem Verlust der prospektiven Lebensmöglichkeiten und einer Ausschaltung der Zukunftsgerichtetheit einhergeht, resultiert das spezifische Leiden des melancholischen Menschen: von Gebsattel spricht von einer Hemmung des »personalen Werdedrangs«, einem basalen Nichtkönnen mit der Folge einer »Unvollziehbarkeit des eigenen Selbst«, das auch eine tiefgreifende Abwandlung der konstitutiven Begegnungsstruktur von Ich und Welt im Sinne einer »Existenzform der Leere« begründet.
Vertrauensverlust
Negation des Möglichen
13.5.1
Die Negation des Möglichen als einer zentralen Kategorie menschlicher Existenz erweist sich in dieser interpretativen Annäherung als das pathische Grundthema der psychotischen Ausformung von Depressivität. Theunissen (1991) hat aus philosophischer Sicht die referierten anthropologischen Texte bei grundsätzlicher Affirmation ihres Bedeutungsgehalts einer differenzierend-klärenden Kritik ihrer Begrifflichkeit unterzogen: ! Als ein Wesenszug der Melancholie erscheint ihm eine Störung der dimensionalen Zeitordnung mit der Folge einer – konsekutiv verlaufenden –perspektivischen Veränderung des Zukunfts-Gegenwarts- und Vergangenheitsbezuges.
13
Zu einer ähnlichen Auffassung gelangt Binswanger in seinem Versuch einer phänomenologischen Klärung der transzendental-konstitutiven Ermöglichungsgründe des melancholischen Erlebens (1960).
Melancholie als Defizienz der temporalen Struktur des intentionalen Lebens Für Binswanger, der sich dabei auf die Egologie Husserls bezieht, liegen diese in einer Störung der regulativen Funktionen der transzendentalen Voraussetzungen des empirischen Ich mit der Folge eines Versagens sowohl von transzendentaler als auch empirischer Erfahrung. Dieses Versagen lässt sich in erster Hinsicht am Zeiterleben der Kranken aufweisen. Vereinfacht ausgedrückt erkennt Binswanger in der Melancholie eine Defizienz der temporalen Struktur des intentionalen Lebens mit seinem lebendigen Fluss von »protentio«, »retentio« und »praesentatio« (Husserl): Die aus diesem Versagen der inneren Zeitigung resultierende erlebnismäßige Dominanz des Vergangenen beeinträchtigt auch das lebendige präsentationale Gegenwärtighaben des Jetzt mit seinem eigenen Horizont prospektiver Möglichkeiten.
Dieser negativ-schuldhaften Neubewertung der Vergangenheit korrespondiert eine unheilvoll-determinierte Einengung der Zukunftsperspektive. Die melancholische Erfahrungsweise wird daher von einer Thematik des Ruinösen beherrscht; der Erfahrungshorizont des Kranken wird von einem durchgängigen Verlust-Stil bestimmt, der sich dann auch in den typischen melancholischen Wahnthemen konkretisiert. Die Daseinsform des melancholischen Menschen wird demnach von innen heraus durch einen tiefgreifenden Vertrauensverlust bestimmt: Der Kranke kann nicht mehr auf die transzendentale Voraussetzung des Bewusstseinslebens setzen, dass die Erfahrung ständig im bisherigen Stil der Zeitigung fortlaufen werde.
Melancholiekonzeption Tellenbachs
Die in einem umfassenden anthropologischen Kontext (s. oben) stehende Melancholiekonzeption Tellenbachs folgt einer hermeneutisch-intuitiven und auf eine eidetische Typik der klinischen Phänomene zielende Intention. Primär geht es um ein genetisches Verstehen des situativen Hineingeratens einer spezifisch gefährdeten Persönlichkeit in die psychotische Depression.
Typus melancholicus Der durch eine zu starre Ordnungstendenz bzw. Gebundenheit charakterisierte Typus melancholicus bezeichnet nach Tellenbach eine wesensmäßig auf Eingeschränktund Festgelegtsein der Lebensweise disponierte Existenzform. Situative Bedingungen des sozialen Feldes, die eine Störung der dem Typus melancholicus eigentümlichen Ordnungen bedingen, lassen diesen in die prämelancholischen Konstellationen von »Inkludenz« und »Remanenz« geraten. Gemeint ist mit ersterer ein Eingeschlossen-Werden bzw. Sich-Einschließen in Grenzen, die der melancholische Typus nicht mehr auf den regelmäßigen Vollzug seiner Ordnungen hin überschreiten kann; Remanenz hingegen bedeutet ein schuldendes Zurückbleiben hinter dem Anspruch eben dieser Ordnungen. Cave Der Typus melancholicus konstelliert gewissermaßen die Mit- und Umwelt zu seiner pathogenen Situation.
Endotrope Potenz von Inkludenz und Remanenz. Die erwähnten präpsychotischen Konstellationen Inkludenz und Remanenz besitzen damit eine endotrope Potenz: Im kritischen Umschlag der sog. Endokinese ereignet sich eine destruktive Abwandlung des Endons (s. oben) mit der Folge einer grundlegenden Änderung der prämelan-
315 13.6 · Die Relevanz der anthropologischen Ansätze für die gegenwärtige Psychiatrie
cholischen Situation. Das In-Erscheinung-Treten dieser destruktiven Abwandlung beschreibt Tellenbach als die initial-psychotische Situation der Verzweiflung, die bereits eine Entmächtigung des Selbst bedeutet und sich schließlich in die leidvolle Situation der voll ausgebildeten Melancholie erweitert. Die im Grunde rätselhaft bleibende eigentliche Umwandlung ins Psychotische, die einen Qualitätssprung impliziert, vollzieht sich im »Hiatus« zwischen prämelancholischer Konstellation und Verzweiflungssituation. Tellenbachs integrativem Entwurf gelingt es so, Melancholie in ihrem komplexen Spannungsfeld zwischen natural-biologischem Vorgang und lebensgeschichtlichem Ereignis zu umgreifen und damit weiterer phänomenologisch-anthropologischer, aber auch kausalanalytischer Forschung neue Perspektiven zu erschließen (Fuchs u. Mundt 2002).
13.5.2
Melancholie als Verfehlen der Geschichtlichkeit des Menschen (Feldmann)
Feldmann (1994) versucht das tradierte anthropologische Melancholieverständnis durch das Aufgreifen der existenziellen Kategorie der Geschichtlichkeit des Menschen
(Dilthey, Yorck von Wartenburg) zu erweitern. Geschichtlichkeit als »kritischer Selbstbefund« meint eine »innere Geschichtlichkeit des Selbstbewußtseins«, also eine Selbstbesinnung, »die mich historisch bestimmt findet« und zugleich »auf die Fülle meines Selbst gerichtet ist«. Das Selbstsein des Menschen mit seiner vorweisenden Prospektivität und der Fähigkeit zur kreativen Selbstveränderung und transzendierend-aktiven Selbstentäußerung scheint nun im Wesentlichen in einer solchen bewusstseinsimmanenten Geschichtlichkeit fundiert zu sein. Personales Selbstsein impliziert aber auch den unablässigen Versuch der Sinngebung unseres Daseins angesichts des ihm eigenen Todes. Feldmann sieht in der melancholischen Selbstentmächtigung mit ihrer »basalen Werdenshemmung« (von Gebsattel) – über diese strukturelle Abwandlung hinaus – auch ein Verfehlen der eigenen Geschichtlichkeit: Das Dasein wird nur noch in abgründiger, auf einen sinnfremden Tod vorlaufender Sinnlosigkeit erfahren, die Fähigkeit zur transzendierend-aktiven Selbstentäußerung geht verloren; die eigene Existenz gerinnt zum unentrinnbaren Unheil. Das Leiden des melancholischen Menschen und seine Suizidgefährdung erwachsen dann daraus, dass ihm in diesem Zustand krankhaft bedingter Sinnentleerung und -verunmöglichung die Möglichkeit eines geschichtlich erfüllten, sinngebenden Lebens als virtuelles existenzielles Schema noch zugänglich bleibt: Ein Schema aber, das er nicht mehr durch den eigenen Lebensvollzug zu füllen vermag. In diesem quälenden Selbstwiderspruch
mag auch das Gefühl des existenziellen Verlorenseins in der Melancholie begründet sein, das bereits 1818 der romantische Psychiater Heinroth mit metaphorischer Eindrücklichkeit gültig beschrieben hatte (Schmidt-Degenhard 1983).
Therapierelevante Aspekte der anthropologischen Forschung Für die therapeutische Begleitung des melancholischen Patienten im klinischen Alltag können diese anthropologischen Forschungsergebnisse eine Verstehensbrücke zu seiner Daseinsweise bilden: Die dadurch mögliche tiefergehende Annahme des Kranken in seinem leidvoll abgewandelten Personsein stellt eine wichtige atmosphärischemotionale Voraussetzung der in der Akutphase ja vornehmlich pharmakotherapeutisch gestützten Behandlung dar. Für eine – durchaus unterschiedlich zu gestaltende – intervalläre Psychotherapie melancholiegefährdeter Menschen mit ihrer spezifisch eingeengten Existenzform ergibt sich die Notwendigkeit, ihnen neben Möglichkeiten einer verbesserten Rollenflexibilität (Kraus 1977) auch Wege zu einer kreativen Selbsterweiterung zu eröffnen.
13.6
Die Relevanz der anthropologischen Ansätze für die gegenwärtige Psychiatrie
Erhellung anthropologischer Aspekte Das aufgezeigte Forschungs- und Erfahrungsfeld mag die Frage nach der Relevanz der anthropologischen Betrachtungsweise für die gegenwärtige Psychiatrie aufwerfen. Zunächst geht es ihr um die Erhellung bestimmter, nämlich der anthropologischen Aspekte psychischer Erkrankungen, die neben anderen, z. B. den neurobiologischen, genetischen, psychodynamischen und soziologischen Gesichtspunkten die Mehrdimensionalität der klinischen Psychiatrie mit ihrer methodologischen Vielfalt begründen. Auf das Erfordernis des klinischen Rückbezugs dieses anthropologischen Vorgehens wurde eigens hingewiesen. Anthropologische Psychiatrie darf sich auch nicht polarisierend von der empirisch-metrischen Forschung abgrenzen, sondern bedarf einer Haltung der Offenheit gegenüber deren Resultaten, die ja eine fortlaufende Erweiterung unseres Wissens vom Menschen bedeuten. Die anthropologische Reflexion kann dabei die – immer vorläufigen – kontextuellen Zusammenhänge entwickeln, in denen die empirischen Ergebnisse verstanden und miteinander verknüpft werden, um so neue Fragestellungen zu eröffnen. Zu den genuinen Aufgaben anthropologischer Psychiatrie gehören aber auch problemgeschichtliche und ideologiekritische Untersuchungen, die solche Aspekte des menschlichen Selbstverständnisses beleuchten kön-
13
316
Kapitel 13 · Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen
nen, die im aktuellen Wissenschaftsbetrieb nur unzureichend berücksichtigt werden. Die anthropologische Betrachtungsweise könnte somit in vorsichtiger Annäherung dazu verhelfen, im Erfahrungsraum der Psychiatrie das wissenschaftlich Erforschbare von dem zu unterscheiden, was sich per se dem Zugriff wissenschaftlichen Erkennens entzieht. Angesichts des beeindruckenden Erkenntniszuwachs der neurobiologischen und molekulargenetischen Grundlagenwissenschaften scheint sich die Psychiatrie der Gegenwart in einem Paradigmenwandel ihres Selbstverständnisses zu befinden. Ein Blick in die Psychiatriegeschichte seit dem 19. Jahrhundert belegt jedoch die Abhängigkeit des Faches von ideengeschichtlichen Strömungen, Wandlungen und Umbrüchen. Es zeigt sich eine in lang hinschwingenden Wellenbewegungen ablaufende wissenschaftshistorische Dynamik, die sich zwischen den ideologischen Polen einer rein natur- oder kulturwissenschaftlichen Grundlegung erstreckt und zudem eine deutliche Zeitgeistabhängigkeit des psychiatrischen Diskurses beweist. In der aktuellen Diskussion über die Konsequenzen der neurobiologischen Forschungsergebnisse und der damit verbundenen Konzeptionen des Geist-Gehirn-Verhältnisses für unser Menschenbild finden sich nicht selten Tendenzen einer reduktionistischen Auffassung von Subjektivität und eines psychiatrischen Naturalismus bzw. Materialismus (Holzhey 2003). Die hier einsetzende kritische Denkbewegung zielt – neben einer historisch-kritischen Intention – auf die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der anthropologischen Aspekte psychiatrischer Theorie und Praxis (Fuchs 2005; Schäfer 2005).
13
Umfassende Grundlegung des Gesamtfaches Über diese aspekthafte Erkenntnisintention hinaus tendieren manche anthropologischen Ansätze aber auch zu einer umfassenden Grundlegung des Gesamtfaches, die im Fragen und Suchen nach dem Menschenbild der Psychiatrie die Ergebnisse der einzelnen empirisch fundierten Forschungsansätze aus der Perspektive philosophischer Konzeptionen des menschlichen Wesens zu umgreifen und zu integrieren versucht (Tellenbach 1983). Die Ansätze zu einer solchen anthropologischen Gesamtschau müssen aber stets die geistes- und mentalitätsgeschichtliche Bedingtheit und Relativität des philosophischen Diskurses berücksichtigen und daher zu einem stetigen kritisch-interdisziplinären Dialog bereit sein. Aus dieser ihr inhärenten Spannung zwischen Aspekthaftigkeit und Grundlegungsintention resultiert nicht zuletzt die Ideologiegefährdung der anthropologischen Psychiatrie, der sie durch ständige problemgeschichtliche und methodologische Reflexion ihrer konzeptuell-ideellen Voraussetzungen und Forschungsergebnisse sowie eine weitestgehende Strenge und Präzision ihrer Begrifflichkeit entgegenarbeiten muss.
Fazit Eine anthropologische Psychiatrie wird der klinisch-ärztlichen Praxis keine konkreten therapeutischen Handlungsanweisungen vermitteln. Auch für den anthropologisch orientierten Psychiater bildet das verfügbare Spektrum der modernen Pharmako-Psycho- und Soziotherapie die unverzichtbare pragmatisch-technische Voraussetzung seines Handelns. Ausgehend vom ethischen Primat des mitmenschlichen Umgehens mit dem Kranken vor der technisch-instrumentalen Dimension der ärztlichen Tätigkeit bemüht sich die anthropologische Psychiatrie um eine Erweiterung und Verfeinerung unserer Erfahrungsweisen des Seelisch-Anderen. Hieraus kann dann eine therapeutische Einstellung erwachsen, die in der Besinnung auf die Individualität des Patienten und die existenzielle Dimension seines seelischen Krankseins ihr vorrangiges Ziel erblickt.
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13
318
Kapitel 13 · Anthropologische Aspekte psychischer Erkrankungen
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14 14 Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen W. Machleidt, I. T. Calliess
14.1 14.1.1 14.1.2 14.1.3
Einleitung – 320 Was ist transkulturelle Psychiatrie? – 320 Fragestellungen und Aufgaben – 320 Leitlinien zur Beurteilung von psychischen Störungen aus kultureller Sicht – 321
14.2 Krankheitsbilder – 322 14.2.1 Schizophrenie – 322 14.2.2 Vorübergehende akute psychotische Störungen – 327 14.2.3 Affektive Störungen – 328
14.2.4 Neurotische und dissoziative Störungen – 333 14.2.5 Kulturabhängige Syndrome – 335 14.3 14.3.1 14.3.2 14.3.3
Migration und seelische Gesundheit – 336 Der Migrationsprozess – 337 Krankheitskonzepte – 338 Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung – 338 Literatur
– 341
> > Transkulturelle Psychiatrie ist definiert als eine Richtung der Psychiatrie, die sich mit den kulturellen Aspekten der Ätiologie, der Epidemiologie und dem Erscheinungsbild sowie der Therapie und Nachbehandlung psychischer Krankheiten befasst. Ihre beiden hauptsächlichen Aufgabenfelder liegen auf dem Gebiet der kulturvergleichenden Analyse psychischer Störungen und in der Entwicklung von Therapieverfahren mit kulturspezifischer oder auch kulturübergreifender Wirksamkeit. In dieser Hinsicht ist ihr praktisches Anliegen, eine möglichst gute psychiatrische Versorgung von ethnischen Minoritäten und Migranten zu erreichen. Für die Diagnostik und Therapie psychischer Störungen aus kultureller Sicht sind Leitlinien entwickelt worden, anhand derer Betroffene angemessener beurteilt und behandelt werden können. Schizophrenie, affektive Erkrankungen und akute vorübergehende Psychosen sind z. T. erheblichen Unterschieden in Prävalenz und Erscheinungsbild in allen Kulturen der Welt unterworfen. Gleiches gilt für neurotische Erkrankungen und für Persönlichkeitsstörungen. Eine Ausnahme bilden die kulturabhängigen Syndrome, deren Verbreitung sich auf bestimmte Regionen und Kulturkreise beschränkt. Migranten sind besonders in ihrer seelischen Gesundheit gefährdet und haben eine erhöhte Morbidität für psychosomatische und funktionelle Störungen. Die Probleme ihrer psychologisch-medizinischen Versorgung liegen auf dem Gebiet der Krankheitserkennung und -behandlung, wobei den Voraussetzungen für eine ausreichend gute Kommunikation große Bedeutung zukommt. Die transkulturelle Psychotherapie sieht sich vor 2 wesentlichen Aufgaben angesichts der Notwendigkeit, immer größere Zahlen von Migranten und Angehörigen ethnischer Minoritäten effektiv zu behandeln: Zum einen versucht sie, die Elemente westlicher Methoden transkulturell einzusetzen und auf ihre kulturübergreifende Wirksamkeit zu überprüfen. Zum anderen erprobt sie wirksame psychotherapeutische Elemente aus anderen Kulturen mit dem Ziel, diese in die westliche Behandlungsmethodik und Theoriebildung mit einzubeziehen.
320
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
14.1
Einleitung
14.1.1
Was ist transkulturelle Psychiatrie?
Ethnozentrizität gehört zu den natürlichen Bedingungen, unter denen Menschen aller Kulturen leben. Die eigene Kultur, ihre Werte und Normen gelten als selbstverständlich, universell und identitätsstiftend. Die Ursprungskultur wird von ihren Vertretern stets am höchsten bewertet. Viele Menschen begegnen Angehörigen fremder Kulturen distanziert, abweisend oder feindselig. Kultur. Kultur ist ein Schlüsselwort der transkulturellen
Psychiatrie. Kultur wird von ihr als ein neutraler, nicht als ein idealisierter Begriff gebraucht. Kultur beschreibt die Wissensbestände, Fähigkeiten, Verhaltensnormen und Glaubenseinstellungen, die Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft, einer Ethnie (Stammesgesellschaft) oder (Industrie-)Gesellschaft miteinander verbindet und von anderen Gemeinschaften unterscheidet. Als Mitglieder ihrer Kultur sind Psychiater/Psychotherapeuten die kulturtypischen Repräsentanten ihres Fachs. Als Fachleute auf dem Gebiet der psychologischen Medizin sind sie in den kulturtypischen Wissensbeständen ihres Fachs ausgebildet und in diesem Sinne ethnozentristisch orientiert. Unter diesen Bedingungen arbeiten Psychiater und Psychotherapeuten aller Kulturen (Lewis 1985).
sund und krank auf dem Gebiet der psychologischen Medizin undenkbar ist. Die transkulturelle Psychiatrie als Wissenschaft, die abweichendes Verhalten der Individuen verschiedener Kulturen miteinander vergleicht, ist deshalb zugleich soziale Anthropologie und Ethnologie bzw. auf die Wissensbestände und Methoden dieser Nachbardisziplinen angewiesen. ! Dadurch wird die transkulturelle Psychiatrie in die Lage versetzt, das andere ihrer Kernanliegen zu erfüllen, nämlich herauszufinden, ob psychische Krankheiten in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Erscheinungsbilder aufweisen und spezielle Krankheitsbilder überwiegend oder ausschließlich in bestimmten Kulturen vorkommen (Hoffmann u. Machleidt 1997).
Definition Wittkower (1972) prägte den Begriff der transkulturellen Psychiatrie. Er definierte diese als einen Zweig der Psychiatrie, »der sich mit den kulturellen Aspekten der Ätiologie, der Häufigkeit und Art geistiger Erkrankungen, sowie mit der Behandlung und Nachbehandlung der Kranken innerhalb einer gegebenen Einheit befasst. Der Begriff ‚Transkulturelle Psychiatrieǥ, die eine Erweiterung der kulturellen Psychiatrie ist, bedeutet, dass der wissenschaftliche Beobachter über den Bereich einer kulturellen Einheit hinausblickend andere Kulturbereiche einbezieht«.
Behandlungsbedingungen. Wie können aber Psychiater
14
und Psychotherapeuten in unserem Kulturkreis Menschen aus anderen Kulturen, dem Mittelmeerraum, dem Balkan, Osteuropa, Afrika, Asien usw. behandeln, wenn sie den Werten und Normen ihrer Ursprungsgesellschaft und deren diagnostischen und therapeutischen Standards universelle Gültigkeit zuschreiben? Die weiterführenden Fragen müssen lauten: Wie lassen sich geeignete Behandlungsbedingungen für Menschen fremder Kulturen im europäischen zumal im deutschen Kulturraum schaffen? Wie kann ein Türke, ein Vietnamese oder ein Afrikaner in Deutschland unter annähernd den Bedingungen Diagnostik und Therapie erfahren, die für einen Vertreter unserer Kultur selbstverständlich sind? Dies zu erreichen ist das eine Kernanliegen der transkulturellen Psychiatrie. Soziale Anthropologie und Ethnologie. Die soziale An-
thropologie und die Ethnologie als die Wissenschaften der geographischen, kulturellen und sozialpsychologischen Gegebenheiten fremder Gesellschaften haben der kulturvergleichenden »transkulturellen« Psychiatrie den Horizont eröffnet. Sie haben aufgezeigt, dass ohne die genaue Kenntnis der in einer Kultur üblichen gesellschaftlichen Normen und Werte eine Unterscheidung von ge-
14.1.2
Fragestellungen und Aufgaben
Die Fragestellungen der transkulturellen Psychiatrie wurden von ihrem Begründer, dem Psychiater E. Kraepelin (1856–1926), unter dem Begriff der »vergleichenden Psychiatrie« entwickelt und sind bis heute im Wesentlichen unverändert dieselben (Leff 1988; Bendick 1989; Boroffka 1989; Wulff 1990; Pfeiffer 1994): Gibt es die Krankheiten, die die Psychiatrie herausgearbeitet hat, überall in der Welt? Kommen psychische Störungen in gleicher Häufigkeit in verschiedenen Kulturen vor? Welche psychischen Erscheinungen werden in den verschiedenen Kulturen als pathologisch, welche hingegen als normal eingestuft? Werden psychische Störungen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich behandelt? Haben psychische Störungen unterschiedliche Verläufe in verschiedenen Kulturen? Voraussetzung für die Beantwortung dieser Fragen ist die sorgfältige und fachkompetente Untersuchung von Betroffenen aus unterschiedlichen Kulturen.
321 14.1 · Einleitung
14.1.3
Leitlinien zur Beurteilung von psychischen Störungen aus kultureller Sicht
Kultureller Bezugsrahmen Bei der psychopathologischen Bewertung von »Erscheinungen« als Symptome und der Falldefinition bedarf es von Seiten des Untersuchers einer guten Vertrautheit mit den Einzelheiten des kulturellen Bezugrahmens. Die Kenntnis der soziokulturellen Gegebenheiten, der Glaubensüberzeugungen und Rituale, der Verhaltensnormen und Erfahrungsbereiche lässt eine zuverlässigere Einschätzung eines Phänomens als normalpsychologisch oder als psychopathologisches Symptom zu (DSM-IV; Mezzich 1995). Das Sehen und Hören der Ahnengeister ist im Rahmen ritueller Handlungen in vielen Kulturen üblich und darf nicht als Manifestation einer psychotischen Störung fehldiagnostiziert werden. Die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen kann aufgrund großer transkultureller Unterschiede im Hinblick auf Kommunikationsgewohnheiten, Selbstkonzepte und Bewältigungsstile große Schwierigkeiten bereiten. Es ist von Vorteil, wenn der Untersucher selbst psychiatrische Störungsbilder in anderen Kulturen kennengelernt hat und so etwas wie eine ethnographische Distanz zum eigenen Fachwissen und professionellen Handeln gewonnen hat.
ICD-10 und DSM-IV Wichtig ist auch, sich klarzumachen, dass die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV im euroamerikanischen Kulturkreis entwickelt worden sind und vorran-
gig für diesen Gültigkeit besitzen. Bei der Anwendung in entlegenen Kulturen besteht die Gefahr, die kulturtypischen Ausgestaltungsunterschiede zu übersehen und ethnozentristische Fehlzuordnungen vorzunehmen. Ethnische und kulturelle Aspekte finden insbesondere im DSM-IV Berücksichtigung, weniger in der ICD-10. Ob allerdings alle klassifizierten Störungsbilder (Krankheitseinheiten) transkulturelle Validität besitzen, muss sich erst noch erweisen. Die Klassifikation kulturabhängiger Syndrome ist noch nicht gelungen. Es fehlt an empirisch-wissenschaftlicher Forschung auf diesem »exotischen« Gebiet. Die wesentlichen kulturabhängigen Syndrome sind im Anhang des DSM-IV (1996) aufgeführt und werden dort kurz erläutert (Anhang F, 895–902). Zur möglichen Klassifikation nach ICD-10 ⊡ Tab. 14.1.
Leitlinien Die folgenden Leitlinien nach DSM-IV (1996; ⊡ Tab. 14.2) zur Bewertung kultureller Einflüsse sollen dem Untersuchenden eine »systematische Beurteilung des kulturellen Kontextes einer Person« erleichtern und beim Abfassen eines Untersuchungsberichts, in dem auf die kulturspezifischen Zusammenhänge der psychischen Störung eingegangen wird, eine Hilfe sein (s. a. Mezzich et al. 1996). Diese Beurteilung ergänzt die multiaxiale Beurteilung um die kulturelle Dimension (DSM-IV 1996). ! Die kulturellen Aspekte umfassen den soziokulturellen Hintergrund und die Bedeutung, die dieser für den Ausdruck und die Bewertung der Symptome und die Funktionsstörungen hat, sowie die Untersucher-Betroffenen-Interaktion. Dabei sind
⊡ Tab. 14.1. Klassifikation kulturabhängiger Syndrome Syndrom
Denkbare Klassifikation nach ICD-10
Differenzialdiagnosen (ICD-10)
Koro oder Souyang
Andere neurotische Störung (F48.8)
Panikstörung (F41.0) Somatoforme Störung (F45.3)
Susto
Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) Anpassungsstörung (F43.2)
Somatoforme Störung (F45) Depressive Episode (F32) Generalisierte Angststörung (F41.1)
Dhat
Andere neurotische Störung (F48.8)
Hypochondrische Störung (F45.2) Phobische Störung (F40.0)
Brain-fag-Syndrom
Neurasthenie (F48.0) Anpassungsstörung (F43.2)
Angststörung (F41.1) Depressive Störung (F32.01) Somatoforme Störung (F45)
Latah
Sonstige neurotische Störung (F48.8) (?)a Sonstige näher bezeichnete dissoziative Störung (F44.88)
Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (F95.2)
Amok
Sonstige neurotische Störung (F48.8) (?)a Sonstige näher bezeichnete dissoziative Störung (F44.88) Dissoziative Fugue (F44.1)
Andere Laufsyndrome (nicht klassifiziert)
Besessenheitstrance
Trance und Besessenheitszustände (F44.3) Dissoziative Trancestörung
Akute Episode bei Schizophrenie (F20) Vorübergehende akute psychotische Störungen (F23)
a
Bisherige, fragwürdige Klassifikation
14
322
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
⊡ Tab. 14.2. Leitlinien zur Bewertung kultureller Einflüsse bei psychischen Störungen (DSM-IV) Kriterium
Kulturelle Einflüsse
Kulturelle Identität
Ethnologische Bezugsgruppe, (Teil-)Integration, Bi-Multikulturalität, Sprachkenntnisse, Religiosität
Kulturelle Erklärungsmodelle und Vorstellungen
Ausdrucksform und Bedeutung der Störung, ethnologische Krankheitsbezeichnung, ätiologische Modellvorstellungen, traditionelle Behandlungsformen
Psychosoziale Umgebung und Funktionsfähigkeiten
Kulturtypische Belastungssituation, soziale Unterstützungssysteme (Großfamilie, Religionsgemeinschaft etc.), Funktionsniveau und -fähigkeit
Kulturelle Elemente der Untersucher-Betroffenen-Interaktion
Kultur- und Sozialstatusunterschiede, (Gegen-) Übertragung, sprachliche Kommunikation, Untersucher-Betroffenen-Einflüsse auf die Diagnostik und die therapeutische Beziehung
Kulturelle Einschätzung für Diagnose und Behandlung
Berücksichtigung von kulturellen Aspekten für Diagnose und Behandlung
die kulturelle Identität des Betroffenen, seine Erklärungsmodelle für die Störung, die soziale Umgebung, seine Funktionsfähigkeit und die Einschätzung von Diagnostik zielführend.
der Schizophrenie erwuchs aus einer theoretischen Kontroverse um die weltweite Universalität der Schizophrenie einerseits versus Kulturgebundenheit andererseits (Wulff 1978; Quekelberghe 1991).
Epidemiologie
14
14.2
Krankheitsbilder
14.2.1
Schizophrenie
Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durchgeführten Untersuchungen – die internationale Pilotstudie zur Schizophrenie (WHO 1973), die Studie über Determinanten schwerer psychischer Störungen und die Studien über depressive Erkrankungen in verschiedenen Ländern (Sartorius et al. 1983) – scheinen darauf hinzuweisen, dass sich die Inzidenz psychischer Störungen, insbesondere der schweren Formen psychischer Erkrankungen, weltweit nicht wesentlich voneinander unterscheidet. Auf die Verbreitung leichterer psychischer Erkrankungen und so genannter kulturspezifischer Störungen haben soziokulturelle Gegebenheiten hingegen einen erheblichen Einfluss (Jilek u. Jilek-Aall 2000). Dass das Auftreten einer schizophrenen Störung in erster Linie biologische – einschließlich hereditärer – Faktoren bedingen, ist unstrittig (Häfner 2001). Insofern verwundert es nicht, dass schizophrene Psychosen weltweit in allen Kulturen vorkommen (Murphy 1982; Peltzer 1987; Leff 1988; Quekelberghe 1991; Pfeiffer 1994). Systematische Untersuchungen, die eine solche Feststellung allerdings auf einem empirisch wissenschaftlichen Niveau rechtfertigen, stehen in einigen Kulturen noch aus, so beispielsweise für die Ureinwohner Neuguineas oder die Indianer Südamerikas. Im Hinblick auf Prävalenz, Symptomatik und Verlauf der Schizophrenie finden sich im Kulturvergleich zum Teil deutliche Unterschiede (Jenkins u. Barrett 2004; Machleidt u. Calliess 2004; Pfeiffer 1994; Weisman et al. 2000). Das transkulturelle Interesse an der Verbreitung
Ende der 1970er Jahre wurde von der WHO eine international angelegte Untersuchung initiiert, die Studie über Determinanten schwerer psychischer Störungen [WHO Collaborative Study on the Determinants of Outcomes of Severe Mental Disorders (DOS); Jablensky et al. 1992]. Ziel dieser Arbeit war, Inzidenz und Prognose der schwerwiegenden psychischen Erkrankungen, in erster Linie aber der Schizophrenie in verschiedenen Gesellschaften zu evaluieren. Zwölf Studienzentren nahmen an der Untersuchung teil: Aarhus (Dänemark), Agra und Chandigarh (Indien), Cali (Kolumbien), Dublin (Irland), Honolulu und Rochester (USA), Ibadan (Nigeria), Moskau (Russland), Nagasaki (Japan), Nottingham (Großbritannien) und Prag (Tschechien). Methodisch wurden alle Individuen einer definierten Versorgungsregion, bei denen es wegen möglicher schizophreniformer Symptome zu einem Erstkontakt mit einer psychiatrischen Behandlungseinrichtung oder einer anderweitigen Beratungsstelle kam, im Hinblick auf die Inzidenzrate indentifiziert, untersucht und beurteilt. Die Ergebnisse zeigten (Jablensky et al. 1992), dass bei Verwendung einer breiten Definition von Schizophrenie die Inzidenzraten in den verschiedenen Studienzentren differierten. Die jährlichen Inzidenzraten schwankten jedoch nur zwischen 1,5 bis 4,2% pro 10.000 Einwohner in der Risikoaltersgruppe 15–54 Jahre. Bei Verwendung eng gefasster Forschungskriterien der Schizophrenie lag die Spannbreite der jährlichen Inzidenzraten unter den beteiligten Zentren nur noch zwischen 0,7 bis 1,4% pro 10.000 Einwohner in der genannten Risikoaltersgruppe. Die Ergebnisse der DOS-Studie der WHO sind mit den Resultaten anderer epidemiologischer Untersuchungen, die in der Vergangenheit in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, trotz unterschiedlicher verwendeter Methoden stimmig (Tseng 2001).
323 14.2 · Krankheitsbilder
Das Krankheitsbild der Schizophrenie findet grundsätzlich ubiquitäre Verbreitung. Nach Pfeiffer (1994) sind heute zahlreiche gut belegte Beispiele bekannt, die beweisen, dass akute und chronische schizophrene Psychosen auch in wenig berührten traditionellen Gesellschaften vorkommen. Obwohl sich die Kulturen weltweit bezüglich der Inzidenz schizophrener Störungen nicht wesentlich voneinander unterscheiden, gibt es in verschiedenen Populationen Unterschiede hinsichtlich der Prävalenz manifester schizophrener Krankheitsbilder (Sartorius 2000). Die Frage nach den Ursachen der Prävalenzunterschiede bei der Schizophrenie lässt sich abschließend nicht definitiv beantworten. Neben Einflüssen der Selektion und der Heredität sind diese Unterschiede auch auf soziokulturelle Faktoren zurückzuführen. Methodologische Aspekte müssen ebenfalls kritisch diskutiert werden: an erster Stelle ist hier – abgesehen von unterschiedlichen Erhebungsmethoden – die Schwierigkeit der differentialdiagnostischen Abgrenzung schizophrener Krankheitsbilder von Affektpsychosen und akuten reaktiven Psychosen in gewissen Populationen zu nennen; auch das subklinische Bild blander Residualzustände in traditionsbestimmten agrarischen Milieus spielt eine Rolle (Pfeiffer 1994). Cooper et al. (1972) verweisen bei einem Vergleich der diagnostischen Gewohnheiten zwischen England und USA auf den Einfluss unterschiedlicher psychiatrischer Schulen im Hinblick auf die Verwendung der Diagnose Schizophrenie. Nicht zuletzt muss unter methodologischen Gesichtspunkten die Drift-Hypothese (Dunham 1965) bedacht werden, wonach sich schizophrene Patienten in ungünstigen Wohngebieten häufen bzw. in benachteiligten Regionen verharren, während vitalere Bevölkerungsteile abwandern. Heredität. Ein gutes Beispiel für den Einfluss der Heredität bieten die epidemiologischen Untersuchungen des amerikanischen Psychiaters Dale (1981) in Mikronesien. Innerhalb der jahrhundertlang voneinander isolierten Inselgesellschaften differierte – trotz identischen ethnischen Ursprungs – die Prävalenzrate für Schizophrenie (bezogen auf 1000 Einwohner ab dem 16. Lebensjahr) zwischen 9,7 (Yap) und 0,8 (Marshall-Inseln), wofür in erster Linie die Endogamie auf bestimmten Inseln als Erklärung herangezogen wurde. Soziokulturelle Einflussfaktoren. Mit soziokulturellen
Einflussfaktoren auf differierende Prävalenzraten der Schizophrenie sind in der Regel kulturell unterschiedliche Lebensumstände gemeint, die sich auf die Neigung zur Chronifizierung auswirken. Pfeiffer (1994) hat eine Reihe von Beispielen angeführt, die sich nicht durch Selektion erklären ließen: ungewöhnlich niedrige Prävalenzraten finden sich beispielsweise bei den Hutteriten, bei indigenen Gruppen auf Taiwan und bei den Bewohnern von Tonga im Pazifik. Die Iren hingegen weisen eine beson-
ders hohe Prävalenz schizophrener Störungen auf, die sich auch nach Migration bemerkbar mache (s. a. Murphy 1982). Zur Frage der unterschiedlichen Chronifizierungsneigung schizophrener Erkrankungen im Kulturvergleich sind die Untersuchungen von Murphy und Raman (1971) auf Mauritius aufschlussreich. Die Ergebnisse der Autoren zeigten zunächst, dass die Inzidenzraten der Patientenkollektive auf Mauritius mit denen britischer Kontrollgruppen mehr oder weniger vergleichbar waren. Nachuntersuchungen ergaben jedoch, dass 72% der ehemaligen Patienten auf Mauritius, jedoch nur 56 bzw. 45% der ehemaligen Patienten der britischen Vergleichsgruppen, keine psychotischen Symptome mehr aufwiesen. Je höher die Chronifizierungstendenz in einer Kultur oder Region ist, desto höher fällt die Prävalenzrate aus. Bei Zensusuntersuchungen zur Prävalenzbestimmung werden Einwohner mit remittierten schizophrenen Episoden nicht mehr erfasst, und es resultiert eine niedrigere Prävalenz als in Regionen oder Kulturen mit höheren Chronifizierungsraten wie z. B. im europäischen oder amerikanischen Kulturraum. Untersuchungen der WHO. Überraschende Ergebnisse in
diesem Zusammenhang, nicht zuletzt für Experten, erbrachte auch die richtungweisende Follow-up Studie der International Pilot Study of Schizophrenia (IPSS) der WHO (1979) zum Zweijahresverlauf der Schizophrenie in verschiedenen Kulturen, wonach schizophrene Patienten in Entwicklungsländern trotz (aus westlicher Sicht) nachteiliger Therapiebedingungen bessere Prognosen haben als in entwickelten Ländern (s. a. Sartorius 2000). Bei der International Pilot Study of Schizophrenia (WHO 1973) handelt es sich um die erste Multicenterstudie, bei der mithilfe standardisierter Methoden zunächst das klinische Bild der Schizophrenie in verschiedenen Gesellschaften und verschiedenen Kulturen vergleichend untersucht wurde. Es waren 9 verschiedene Studienzentren weltweit beteiligt: Aarhus (Dänemark), Agra (Indien), Cali (Kolumbien), Ibadan (Nigeria), London (Großbritannien), Moskau (Russland), Prag (Tschechei), Taipei (Taiwan/China) und Washington (USA). Nach 2 Jahren wurde die Follow-up-Studie durchgeführt, um den Verlauf der schizophrenen Patienten in den neun beteiligten Studienzentren im Kulturvergleich zu untersuchen. So standen 75% der ursprünglich interviewten Patienten hierfür nach 2 Jahren zur Verfügung (Sartorius et al. 1977). Überraschenderweise deuteten die Ergebnisse auf einen Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Situation eines Landes und der kurzfristigen Prognose schizophrener Erkrankungen hin: in den Entwicklungsländern waren der klinische Verlauf und die Prognose günstiger als in industrialisierten Ländern (Sartorius et al. 1977). Es wurde argumentiert, dass dies an der größeren Häufigkeit akuter reaktiver Psychosen in Entwicklungsländern liegen könnte. Dies konnte mithilfe einer spä-
14
324
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
teren WHO-Studie bezüglich der Determinants of Outcome of Severe Mental Disorders (DOS; Jablensky et al. 1992) in großen Teilen widerlegt werden. Tatsächlich vermutete man, dass – neben biologischen und individuellen Gründen – familiäre und soziokulturelle Faktoren im Sinne psychopathoreaktiver Effekte für diese Situation verantwortlich seien (Sartorius et al. 1978): Schutz und soziale Absicherung durch eine Großfamilie, Größere Akzeptanz der Umwelt gegenüber psychotisch Kranken und folglich Aufrechterhaltung der sozialen und emotionalen Kontakte, Integrationsvermögen traditioneller agrarischer Gesellschaften (sog. Subsistenzwirtschaften). Anlässlich einer späteren Katamneseerhebung nach 5 Jahren bezüglich der ursprünglich untersuchten Patienten konnten die Daten reproduziert werden (Leff et al. 1992). In nunmehr 8 der initial 9 beteiligten Studienzentren wurden der klinische und der soziale Verlauf sorgfältig untersucht. Es konnte wiederholt gezeigt werden, dass die Verläufe schizophren erkrankter Patienten sowohl hinsichtlich klinischer als auch hinsichtlich sozialer Parameter in den Entwicklungsländern [Agra (Indien), Ibadan (Nigeria) und hinsichtlich sozialer Parameter Cali (Kolumbien)] besser waren als in den industrialisierten Länder (Übersicht Tseng 2001; Sartorius et al. 1996). Zusammenfassend scheint man davon ausgehen zu können, dass die Lebensumstände agrarischer und traditioneller Gesellschaften hinsichtlich Stabilisierung und Integration schizophren erkrankter Patienten günstiger sind als die entwickelter Länder (Pfeiffer 1994).
te die Datenlage, dass innerhalb der einzelnen Studienzentren der paranoide Subtypus – mit Ausnahme von Agra (Indien), Cali (Kolumbien) und Moskau (Russland) – ebenfalls die größte diagnostische Subgruppe darstellte. Katatonie. Diese ist in Entwicklungsländern, wie bei-
spielsweise Indien, Nigeria, Indonesien oder Nordafrika, bis zu 5-mal häufiger als im euroamerikanischen Raum und in Asien (Taipeh). Katatoner Stupor und Bewegungssturm sind in Indien und Indonesien »sozial anerkannte Formen des Rückzugs bei überwältigenden Belastungen« und haben Vorbilder in der indonesischen Kunst und Literatur (Pfeiffer 1994). Dem entsprechen die Ergebnisse der International Pilot Study of Schizophrenia, wonach die katatone Form der Schizophrenie weltweit mit insgesamt 6,7% am seltensten vertreten war, wobei sie aus Agra (Indien) mit 22%, aus Cali (Kolumbien) mit 13% und aus Ibadan (Nigeria) mit 8,3% am häufigsten berichtet wurde. Dies bestätigt den klinischen Eindruck und frühere Arbeiten, die besagen, dass in entwickelten Ländern und Industriegesellschaften die katatone Schizophrenie sehr selten geworden ist [Aarhus (Denmark): 3,8%; London (Großbritannien): 3%; Washington (USA): 1%; auch Taipeh (Taiwan): 3,5%)], während der paranoide Subtypus an Häufigkeit zunimmt. Hebephrenie. Hebephrenie und andere undifferenzierte Subtypen treten in Entwicklungsländern doppelt so häufig auf wie in westlichen Ländern (IPSS, WHO 1979). Dies wird von Pfeiffer (1994) mit der psychologischen Entwicklung bestimmter Kulturen und Bevölkerungsgruppen erklärt.
Subtypen der Schizophrenie
14
Übereinstimmend äußern sich viele Feldforscher überrascht über die große Ähnlichkeit schizophrener Syndrome in verschiedenen Kulturen (Boroffka 1994 in einer persönlichen Mitteilung: Nigeria; Pfeiffer 1994: Java; Machleidt u. Peltzer 1994: Malawi, u. v. a. m.). Die klassischen Subtypen der Schizophrenie, i. e. Schizophrenia simplex, Hebephrenie, Katatonie und paranoide Schizophrenie, sind in allen Kulturen zu finden. Paranoider Subtyp. Die Entwicklung des paranoiden Subtyps und insbesondere die Neigung zur Systematisierung werden wesentlich mit höherer Schul- und Universitätsausbildung sowie der Verbreitung logisch-kausalen Denkens in Zusammenhang gebracht. Im Vergleich zu den Industrieländern scheinen die paranoiden Subtypen in Afrika, Asien und Südamerika seltener zu sein. Sie sind dort schwer von kulturtypischen »paranoiden« Ideen, wie z. B. in Westafrika, abzugrenzen. Die »International Pilot Study of Schizophrenia« erwies, dass der paranoide Subtypus weltweit am häufigsten verbreitet ist (39,8% bezüglich aller 9 teilnehmenden Zentren). Gleichzeitig erbrach-
Unterschiede in der Symptomatik Emil Kraepelin, ein Pionier auf dem Gebiet der transkulturellen Psychiatrie, fand sein Konzept der »Dementia praecox« – 1911 abgelöst durch den nosologischen Begriff der Schizophrenie von Eugen Bleuler – bei Feldstudien an Einheimischen auf Java in Indonesien 1904 bestätigt (Bendick 1989; Boroffka 1989). Das klinische Bild der »Dementia praecox« in Indonesien unterschied sich im Vergleich zu den von Kraepelin untersuchten deutschen Patienten bezüglich einer basalen Kernsymptomatik nicht wesentlich. Differenzen fanden sich lediglich hinsichtlich der oben beschriebenen Verteilung der Subtypen. Erstmals systematisch wurde das klinische Bild der Schizophrenie im Kulturvergleich in der bereits erwähnten internationalen Pilotstudie der WHO [The International Pilot Study of Schizophrenia (IPSS) 1973] untersucht. In dieser ersten Multicenterstudie ihrer Art wurde mithilfe standardisierter Methoden das klinische Bild der Schizophrenie in verschiedenen Gesellschaften und verschiedenen Kulturen vergleichend untersucht.
325 14.2 · Krankheitsbilder
Die Ergebnisse erbrachten übereinstimmend in den 9 beteiligten Zentren hohe Rating-Werte bei folgenden Symptomen: Verminderte Einsichtsfähigkeit, Affektabflachung, akustische Halluzinationen (mit Ausnahme des Studienzentrums in Washington), wahnhaftes Erleben und das Gefühl, kontrolliert zu werden. Dies zeigte, dass schizophrene Patienten aus verschiedensten Kulturen weltweit im Wesentlichen eine ähnliche Symptomatik aufweisen. Von Pfeiffer (1994) werden darüber hinaus sozioemotionaler Rückzug, Veränderungen der Psychomotorik und Gleichgültigkeit hinsichtlich der Regeln des sozialen Zusammenlebens als im Kulturvergleich ubiquitäre Kernsymptome schizophrener Störungen genannt. Affektivität. Unterschiede gibt es jedoch hinsichtlich des
Ausmaßes autistischen Verhaltens und der Modulation von Affektivität. Autismus ist in Kulturen mit intakten traditionellen Großfamilien weniger ausgeprägt als in individualistischen Kulturen. Die Kommunikation mit Angehörigen ist häufig eine Quelle für positive Stimmungsmodulation. Das Ausagieren affektiver Impulse in psychomotorischen Handlungen ist in Afrika besonders ausgeprägt. Diese werden bei traditionellen Behandlungen durch Begleitung mit Trommelrhythmen ritualisiert und konstruktiv, z. B. in Tanzform, ausgedrückt (Peltzer u. Machleidt 1992; Machleidt u. Peltzer 1994). Gefühle können grundsätzlich auf kulturell sehr verschiedene Weise, etwa im Blickkontakt oder durch Körpersprache, zum Ausdruck gebracht werden. Ihre Einschätzung erfordert daher ein besonderes Feingefühl (DSM-IV 1996). Die Stimmungslage kann erheblich von kulturellen Einflüssen abhängig sein. In euroamerikanischen Kulturen wird häufig ein negativer Affekt angetroffen. In asiatischen Kulturen ist dieser weniger ausgeprägt; hier wird eher ein neutraler oder heiter-freundlicher Affekt beschrieben (Vietnam: Wulff 1967; Java: Pfeiffer 1994). Somatisierung tritt bei Westafrikanern häufiger auf als bei Deutschen (Schmitz 1997). Halluzinationen. Halluzinatorisches Erleben gehört
grundsätzlich weltweit zu den auffälligsten Symptomen der Schizophrenie. In der Regel stehen akustische Halluzinationen, meist in Form kommentierender Stimmen, im Vordergrund. Diese Eindrücke von Feldforschern (Java: Pfeiffer 1994; Malawi: Machleidt u. Peltzer 1994; u. v. a. m.), stehen in Einklang mit den Ergebnissen der »International Pilot Study of Schizophrenia« (WHO 1973), wonach ebenfalls die akustischen Halluzinationen überwiegen. Optische Halluzinationen, meist mit akustischen einhergehend, wurden häufiger in Afrika, Indien und in
Südostasien beobachtet (Pfeiffer 1994). In diesen Teilen der Erde fehlt dem halluzinatorischen Erleben vielfach der in euro-amerikanischen Breitengraden vorherrschende Charakter des Bedrohlichen, wie beispielsweise Wulff (1967) aus Vietnam berichtete. Optische und akustische Halluzinationen wie das Sehen der Jungfrau Maria, das Hören der Stimme Gottes oder das Sehen und Hören von traditionellen Göttern und Ahnengeistern sind mitunter normalpsychologische Phänomene im Zusammenhang mit intensiver traditionell religiöser Erfahrung und dürfen nicht per se psychopathologisch gewertet werden. Die Unterscheidung allerdings zwischen Normvarianten solcher Erfahrung und Psychopathologie ist häufig nur von Angehörigen derselben Kultur sicher zu treffen. Sprachveränderungen. Schizophrene Sprachverände-
rungen sind bisher nicht systematisch im Kulturvergleich untersucht worden. Es liegen daher aus verschiedenen Kulturen lediglich vereinzelte kasuistische Beobachtungen vor. Die Erfassung desorganisierter Sprachäußerungen ist durch kulturtypische Eigentümlichkeiten der Erzählstile erschwert. Schizophrene Sprachveränderungen beginnen auf der Ebene der Artikulation und Intonation. Hier ist beispielsweise an Abwandlung in eine Kindersprache zu denken. Häufig folgen solche Sprachveränderungen auch kulturell vorgegebenen Mustern und finden sich u. a. wieder im Deklarieren von Heldenepen, dem Zitieren des Koran oder der Rezitation kultureller Texte in Singform. Bei Sprachen, die nach Höflichkeitsebenen differenzieren, wie dem Japanischen, dem Chinesischen und dem Indonesischen, ist eines der empfindlichsten Anzeichen schizophrener Sprachveränderung »das Vergreifen in den Sprachebenen«, sei es mit zu groben sei es mit übertrieben höflichen Wendungen. Solche Sprachveränderungen »verraten das Unsicherwerden in den sozialen Beziehungen und in der nuancierten Abstufung der Umgangsformen« (Pfeiffer 1994). In mehrsprachigen Kulturen besteht eine Form des schizophreniformen Danebenredens darin, in einer anderen Sprache zu antworten als der, in der man angesprochen wurde. Weitere Möglichkeiten schizophrener Sprachveränderungen stellen Xenoglossie (der Anschein, eine Fremsprache zu sprechen), Neologismus (Wortneubildung) und Wortmagie dar. Die Verleihung magischer Bedeutungen für Wörter oder auch Schriftzeichen ist beispielsweise aus dem Chinesischen bekannt. Wird die Untersuchung mit einem Dolmetscher durchgeführt, so ist dieser zu instruieren, alle Äußerungen des Betroffenen wortwörtlich zu übersetzen; insbesondere Weglassungen, Hinzufügungen oder Zusammenfassungen sollten unterlassen werden. Nur so kann wahrscheinlich gemacht werden, dass Denkstörungen nicht als ein Kunstprodukt mangelhafter Übersetzungen diagnostiziert werden. Erfolgt die Untersuchung in einer Fremdsprache, so müssen ungenügende Sprachkenntnisse bei
14
326
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
der Diagnostik Berücksichtigung finden bzw. auszuschließen sein (s. a. Machleidt u. Calliess 2004).
⊡ Tab. 14.3. Kulturelle Ausdrucksvarianten von Wahn
Kulturelle Ausdrucksvarianten von Wahn
Wahnthemen
Wahninhalte
Es gibt eine Vielzahl von Ausdrucksvarianten hinsichtlich des Wahnerlebens im Kulturvergleich. Da die Grenze zwischen Realität und Vorstellung in traditionellen Kulturen nicht so scharf gezogen ist wie in westlichen, ist die Unterscheidung zwischen wahnartigen kulturbedingten Überzeugungen und Glaubensinhalten, bestimmten Formen wahnhafter dissoziativer Zustände und manifestem Wahn nur sehr schwer, wenn nicht für den kulturfremden Diagnostiker zum Teil unmöglich zu ziehen (Murphy 1980). Der Haupteinfluss der Kultur besteht in der »Natur des Problems, das durch den Wahn symbolisiert wird« (Pfeiffer 1994), wie z. B. Heirat, Religiosität oder Politik. Zu berücksichtigen sind der kulturelle und religiöse Hintergrund des Betroffenen sowie die Überzeugungen, die als kulturell akzeptiert gelten. Differenzierte und systematisierte Wahnphänomene stehen in Zusammenhang mit kognitiver Differenzierung sowie höherem Lebensalter. Ausgeprägte Wahnsysteme treten eher in solchen Kulturen auf, wo eine Neigung besteht, für persönliche Erfahrungen und Schicksale nach Kausalitäten zu forschen. Menschen, die stark verbunden mit der Natur leben und die Erfahrung machen, auf viele Ereignisse keinen Einfluss nehmen zu können, verfügen vielfach über kollektive Begründungen, die auch als Erklärungen für psychotische Erlebnisse dienen. Hier werden kaum systematisierte Wahnphänomene gefunden.
Politik
Als Spiegel der Zeitereignisse bei Erstmanifestation
Religion
Göttliche Auserwähltheit und Gabe der Prophetie bei Muslimen und Christen; Versündigung und Bestrafung bei Christen, weniger bei Muslimen, Buddhisten, Shintuisten und Hindus
Magie (s. a. unten)
Gute und böse Geistererscheinungen z. B. von verstorbenen Familienmitgliedern; Besessenheit von Geistern durch Behexung oder Verzauberung; der Betroffene fungiert als Medium des Geistes
Erotik
Auserwählung durch angesehene Persönlichkeit verknüpft mit sexuellen Phantasien meist bei Frauen; Schwangerschaftswahn z. B. bei kinderlosen Frauen in Afrika; Eifersucht
Abstammung
In Japan als »Familienvermeidungssyndrom« im Zusammenhang mit den engen Familienbindungen
Verfolgung
Seltener in nicht-westlichen Kulturen; Vater als Verfolger in traditionellen Patriarchalstrukturen z. B. bei Auslandschinesen; Schwiegermutter als Verfolgerin bei traditioneller Einheiratung von Frauen
Besitz und Technik
Leitbild des erfolgreichen wohlhabenden Mannes und des Erfinders
Verschieden, induziert (s. a. unten)
Folie à deux, à trois etc. und in Gruppen, die als Kulte organisiert sind: Besitz (CargoKult) , Erscheinen eines Messias u. a.
Wahnthemen und Wahninhalte
14
In Wahnthemen und Wahninhalten kommen in besonderem Maße Leitbilder und Ängste einer Kultur in Form einer »epochalen Bedingtheit« (Pfeiffer 1994) zum Ausdruck (⊡ Tab. 14.3). Dementsprechend kann ein soziokultureller oder politischer Wandel mit einem Wandel der Wahnthematik einhergehen. Auf Westjava beispielsweise überwiegen Wahnformen mit einem gesteigerten IchGefühl (60%), wie Größenwahn (32%) oder religiöser Wahn (28%); im Gegensatz hierzu ist der Verfolgungswahn (35%) geringer ausgeprägt. In Bombay hingegen litten real gefährdete schizophren erkrankte Patienten der Unterschicht zu 90% unter Verfolgungswahn (Pfeiffer 1994). Magische Thematik. Sie ist in Entwicklungsländern auch bei Angehörigen der Mittelschicht und bei gebildeten Stadtbewohnern häufig zu finden. Unter dem Einfluss einer Psychose treten offenbar traditionelle Erlebnisweisen animistisch-magischer Prägung wieder stärker in den Vordergrund, während westliche Denk- und Glaubensinhalte in den Hintergrund geraten. Inhaltlich werden Geistererscheinungen erlebt; diese können sowohl gute als auch böse Geister beziehungsweise verstorbene Familien-
angehörige etc. symbolisieren. Häufig sind die Geistererscheinungen vergesellschaftet mit optischen und akustischen Halluzinationen. Der akut psychotisch Kranke wird häufig als »besessen« bezeichnet. Besessenheit besagt nichts anderes, als dass jemand nicht mehr für sein eigenes, befremdliches Erleben und Handeln verantwortlich gemacht werden kann. Ein bedrohlicher Geist hat von ihm Besitz ergriffen, möglicherweise durch Behexung oder Verzauberung. Das entschuldet den Kranken und macht den späteren sozialen Umgang mit ihm bei der Wiedereingliederung ohne Gesichtsverlust möglich. Die Behandlungsrituale haben häufig exorzistischen Charakter mit dem Ziel, den Geist, der Besitz von dem Kranken ergriffen hat, auszutreiben. Der Behexung entspricht im Mittelmeerraum der »böse Blick« (»mal de ojo«). Induzierter Wahn. Beim induzierten Wahn – folie à deux,
à trois etc. – kommt es zur Abspaltung von sozioemotional stark aufeinander bezogenen Individuen oder Gruppen aus der Gemeinschaft. Der Wahn geht meist von einer dominierenden Persönlichkeit aus und wird einzelnen oder einer ganzen Gruppe vermittelt bzw. von dieser
327 14.2 · Krankheitsbilder
übernommen. Gewähnt werden religiöse Offenbarung, Auserwähltheit, prophetische Gaben u. ä. Ein Wahnkranker kann eine religiöse, weltanschauliche oder politische Bewegung erfolgreich initiieren, solange er die soziokulturellen Verhaltens- und Denknormen nicht wirklich überschreitet und als »verrückt« erkannt wird. Solche auf »paranoischen« Einstellungen beruhenden Bewegungen werden auch als Kulte bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist der Cargo-Kult. Die Anhänger des Cargo-Kults verbindet die Vorstellung, dass ihre Ahnen reich beladen mit Gütern zu ihnen zurückkehren würden und ein glückliches Zeitalter anbrechen würde. Bei Kultleitern solcher und ähnlicher Bewegungen wurden psychotische Symptome diagnostiziert. Beim diagnostischen Vorgehen ist allerdings größte Zurückhaltung geboten, denn Kulte und ihre leitenden Persönlichkeiten bewegen sich zwischen kulturellen Extremvarianten und Psychopathologie auf einem schmalen Grad. Für viele Mitglieder einer Kultur haben Kulte eine soziale Funktion, die durchaus konstruktiven gesellschaftlichen Zielen dienen kann (Pfeiffer 1994).
14.2.2
Vorübergehende akute psychotische Störungen
Die psychotischen Episoden, die unter »vorübergehende akute psychotische Störungen« (ICD-10 F23.xx; DSM-IV 298.8 »kurze psychotische Störung«) klassifiziert werden, zeigen im Kulturvergleich eine große phänomenologische Vielfalt. Die Frage, ob diese Gruppe eine nosologische Einheit darstellt, bedarf weiterer systematischer Erforschung. Es bestehen Teilkongruenzen dieser nosologischen Gruppe zur Schizophrenie, zu den affektiven Psychosen, insbesondere den manischen und den organischen psychotischen Störungen. Die Abgrenzung zur Schizophrenie, die in Entwicklungsländern einen akuteren Beginn und günstigeren Verlauf hat, ist erschwert.
Universelle Kernsymptome Zu den transkulturell universellen Kernsymptomen der kurzzeitigen akuten psychotischen Störungen zählen: Akuter Beginn innerhalb von Stunden oder Tagen; nichtorganische, manchmal traumartige Verworrenheit oder Versunkenheit; heftige, wechselnde psychotische Affektivität, insbesondere Angst, aber auch Glücksgefühle und Aggression; affektgesteuerte psychomotorische Erregung (»action by emotion«) wie katatone Erregung oder Stupor, Fugue, Amok, Selbstschädigung, Entkleidungsszenen, Tanzen, Beten etc.; flüchtige Wahnphänomene: ängstlich (Verhexung, Besessenheit, Vergiftung) oder euphorisch (Berufung, Erleuchtung, Herausgehobensein);
Teilamnesie, Verleugnung; Abklingen nach Stunden oder Tagen (seltener Wochen) ohne Folgen.
Episodische periodische Psychosen Afrikanische und europäische Psychiater (Collomb, Lambo, Jilek u. a.) haben sich mit diesem Typ psychotischer Episoden wegen ihrer großen Verbreitung in Afrika besonders beschäftigt und Abgrenzungen zu den verwandten Krankheitsbildern herausgearbeitet. Trotz Überschneidungen bleibt unter Zuhilfenahme des Zeitfaktors, des akuten Beginns, des günstigen Verlaufs und der das Bild beherrschenden Affektivität eine Kerngruppe übrig, die als die Gruppe episodischer periodischer Psychosen (Synonym: »vorübergehende akute psychotische Störung« nach ICD-10) und als eigenständiges, wenn auch vielgestaltiges Krankheitsbild aufgefasst werden kann. Die große Häufigkeit dieses Krankheitsbildes wird nicht nur aus Afrika (Jilek u. Jilek-Aall 1970), sondern aus vielen Kulturen und Ländern Asiens (Vietnam, Indonesien, China, Indien), aus Neuguinea, von den Indianern Nordamerikas und aus Sibirien berichtet. Von Psychiatern aus unterschiedlichen Kulturräumen sind die kurzen akuten periodischen Psychosen mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet worden: »acute (convient) confusional states«, »bouffée (aigue) délirante (confusionelle) confuse et anxieuse«, »paroxysmes ideaux affectives«, »l’onirisme terrifiant – l’onirisme euphorique«, »acute Verwardheid«, »emotionele Psychose« u. a.
Klinisches Bild Am häufigsten und klinisch auffälligsten ist die Beherrschung des akuten Bildes durch heftige Affekte unterschiedlicher Qualität und Intensität – überwiegend durch existenzielle Ängste. Angst kann dabei in amokartiges aggressives Verhalten umschlagen mit der Folge der Fremdund/oder Selbstbeschädigung/-tötung. Die Gesamtsymptomatik einschließlich der flüchtigen Wahnphänomene kann als eine kognitive, sensorische und motorische Ausgestaltung des heftigen (primären) Angst-/Glücksaffektes verstanden werden. Gelingt es, diesen Affekt z. B. durch Beseitigung der auslösenden abnormen Belastung aufzulösen oder durch therapeutische Interventionen zu normalisieren, dann schwindet die Symptomatik.
Auslösesituation Murphy (1982) hob bei dem Versuch, die transkulturell psychologischen Zusammenhänge für die Manifestation dieser psychotischen Episoden zu erklären, die ausgeprägte Abhängigkeit der Menschen aus diesen Kulturen von sozialer Stützung hervor. Der plötzliche Verlust sozialer Unterstützung führe durch die kulturimmanente geringe formale bzw. individuelle Eigenständigkeit leicht zu einem Verlust der Ich-Kontrolle und zur Übergabe der Verantwortlichkeit an die Gruppe. In einem raschen Ab-
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328
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
tauchen in einen psychotischen Zustand ließe sich auch eine Schutzfunktion für das Individuum sehen, die bei wiedergewonnener Ich-Stärke entfallen kann und zur alsbaldigen Restitution führt (Pfeiffer 1994).
Ähnlichkeiten mit reaktiven Psychosen und Emotionspsychosen Eine Ähnlichkeit in den Kernsymptomen besteht zu den »reaktiven Psychosen« in Europa, die insbesondere von der skandinavischen Psychiatrie erforscht wurden (Strömgren 1987), den zykloiden Psychosen (AngstGlücks-Psychosen; Leonhard 1957) und den Emotionspsychosen (Peters 1984). Die gemeinsame Grundstruktur dieser Psychosen bilden kulturübergreifend die heftigen regressiven basalen Affekte. Menschen in allen Kulturen sind bekanntlich mit den gleichen Grundgefühlen und Affektsystemen ausgestattet (Ekman et al. 1972; Machleidt et al. 1989). Die jeweilige kulturtypische Ausgestaltung kognitiver und verhaltensmäßiger Art variiert jedoch von Kultur zu Kultur erheblich. Diese der kulturtypischen Prägung unterliegenden Phänomene sind es, die die symptomatologischen Verschiedenheiten der Gruppe der kurzen akuten Psychosen ausmachen.
14.2.3
14
Affektive Störungen
Das Vorkommen und die Häufigkeit schizophrener Psychosen in praktisch allen Kulturen ist weitgehend bekannt. Für die den affektiven Störungen zugehörigen depressiven Syndrome kann dies erst neuerlich mit einer vergleichbaren Sicherheit angenommen werden (Sartorius 1986). Bis zum Jahre 1958 etwa herrschte die Auffassung vor, Depressionen seien in Afrika und Asien und generell in Entwicklungsländern ein im Vergleich zu westlichen Ländern selten auftretendes Krankheitsbild. Insbesondere seien Suizide im Rahmen depressiver Erkrankungen nur ausnahmsweise zu finden. Diese Sicht stand noch ganz in der Tradition des Begründers der »vergleichenden Psychiatrie« E. Kraepelin. Bei seinen Studien auf Java im Jahre 1904 fiel ihm das »fast vollständig(e)« Fehlen »ausgeprägtere(r) Depressionszustände« auf. Bei Depressiven beobachtete er keine Selbstvorwürfe oder Suizidneigung (Bendick 1989).
Probleme der epidemiologischen Erhebung Variationsbreite der Symptomatik ! Das aktuelle wissenschaftliche Problem für repräsentative epidemiologische Erhebungen zur Depression in tropischen Regionen und Entwicklungsländern besteht darin, dass die Symptomatologie depressiver Syndrome offenbar eine erhebliche transkulturelle Variationsbreite aufweist.
Das im euroamerikanischen Kulturbereich überwiegende Bild depressiver Episoden, bei dem depressiver Stimmungsabfall, Schuldgefühl, Selbstvorwürfe, Suizidneigung und seltener Wahn mit den Themen Versündigung, Schuld und Verarmung vorherrschen, wird in tropischen Regionen und Entwicklungsländern nicht gefunden (Boroffka 1996). In diesen Kulturen ist das Bild depressiver Episoden charakterisiert durch vegetative, somatische und paranoide Symptome. Die eher »leibnahe Erlebnisweise« depressiver Symptomatologie geht einher mit einer körpernahen bildhaft-metaphorischen Darstellungsweise depressiven Erlebens (»gebrochenes Herz«, »zerbrochene Hoffnung«). Es kommt weniger als in westlichen Ländern zu einer introspektiven Psychologisierung des Verstimmungszustandes durch die Betroffenen (Pfeiffer 1996).
Integration in die kulturellen Zusammenhänge Die Integration depressiver Verstimmungen in die kulturellen Zusammenhänge des alltäglichen Lebens, wie z. B. rituelle und religiöse, erleichtert einerseits die soziale Integration Depressiver und ihre »Therapie« mit normalpsychologischen Mitteln in einer Kultur, macht aber zum anderen die Grenzziehung zwischen gesund und krank so breit, dass eine brauchbare Abgrenzung kaum gelingen kann. Darüber hinaus verbergen sich depressive Syndrome in Entwicklungsländern unter dort sehr verbreiteten Diagnosen wie »Neurasthenie«, »Hypochondrie« und multiplen Somatisierungen. Daraus wird deutlich, dass Fragen der Epidemiologie erst nach Fragen zur ethnischen und kulturellen Symptomvielfalt abgehandelt werden können. Eine größere Validität und Reliabilität bei der Diagnostik werden die modernen Klassifikationsinstrumentarien in ICD-10 und DSM-IV bieten, gegenüber den noch zwischen »reaktiven« und »endogenen« Depressionen differenzierenden transkulturell psychiatrischen Untersuchungen der Vergangenheit, auf die diese Darstellung angewiesen ist.
Erscheinungsbild depressiver Störungen In den allgemeinmedizinischen Ambulanzen in Ländern der Dritten Welt leiden etwa 30–40% der Patienten an psychischen Erkrankungen. Unter Berücksichtigung der vom euroamerikanischen Typ unterschiedlichen Erscheinungsform der Depression in Entwicklungsländern kommen mehrere Studien zu dem Ergebnis, dass depressive Syndrome, z. B. in Afrika, etwa dieselbe Häufigkeit wie in westlichen Gesellschaften aufweisen (German 1987; Odejide et al. 1989). Frauen haben eine höhere Morbidität als Männer (Dech 1997; Dech u. Nato 1996). Heute wird ein transkulturell ubiquitäres Vorkommen von affektiven Störungen mit einer kulturvarianten Symptomatologie und Häufigkeit angenommen.
329 14.2 · Krankheitsbilder
Transkulturelle Symptomvariationen depressiver Syndrome Stimmungslage. Sie ist charakterisiert durch ein transkul-
turell verbindliches Kernsymptom, nämlich die intensive »vitale« Traurigkeit, verbunden mit Angst und der Unfähigkeit, Freudegefühle zu erleben. Weitere Symptome sind Interesse- und Energielosigkeit mit Gefühlen eigener Wertlosigkeit sowie kognitive Einbußen (vermindertes Konzentrations- und Erinnerungsvermögen). Bei der Beschreibung ihres subjektiven Erlebens bedienen sich die Betroffenen aus Entwicklungsländern eher einer »Organsprache« als einer emotionspsychologischen Begrifflichkeit. Psychotische Symptome. Psychotische Symptome wie
Halluzinationen und/oder depressiver Wahn sind generell im euroamerikanischen Raum häufiger als in Entwicklungsländern. Ursächlich werden dafür die in westlichen Gesellschaften verbreitete Neigung zur Introspektion und »Verbegrifflichung« verbunden mit einer eher gefühls- und körperfernen Selbstwahrnehmung angeführt. Die Wahninhalte sind bei Euroamerikanern auf die Themen Schuld, Armut und Krankheit bezogen, während bei Betroffenen aus Entwicklungsländern die Wahnthemen Körperstörungen (Hypochondrie) und Verfolgung vor den Themen Schuld und Verarmung rangieren. Verfolgungsgedanken können Ausdruck der Auffassung sein, dass die psychische Erkrankung von außen durch »aggressive Geister« hervorgerufen wurde, z. B. durch vernachlässigte Ahnengeister oder durch Hexerei, Fluch, »bösen Blick« oder andere magische Einwirkungen. In allen Kulturen der Welt ist ein Wandel der Wahnthematik im Zusammenhang mit soziokulturellen und politischen Veränderungen festzustellen (Haltenhof u. Krause 1996). Somatisierung. Somatisierungen im Sinne von körperlichen Missempfindungen und vegetativen Symptomen ohne nachweisbare organische Ursache werden in den meisten Kulturen bei depressiven Syndromen vorrangig angegeben. Weil für den überwiegenden Teil der Weltbevölkerung diese Symptome das »typische Kernsyndrom« bei depressiven Erkrankungen darstellten, entstand die Frage, warum Euroamerikaner nicht ebenfalls die körperbezogene anstelle der psychischen Ausdrucksform zeigen. In der westlichen Welt reicht das Spektrum des symptomatologischen Variantenreichtums depressiver Syndrome ebenfalls von den psychologischen bis zu den körperbetonten Ausdrucksformen. In den Entwicklungsländern werden die folgenden Symptome angegeben: vegetative Störungen (Schlaf, Appetit, allgemeine Schwäche und Abgeschlagenheit) und körperliche Missempfindungen lokalisiert u. a. in Kopf, Herz, Abdomen und/oder allgemeine Missempfindungen wie Brennen, Zittern, Stei-
figkeit usw. Simon et. al (1999) fanden bei Patienten mit einer depressiven Episode (Major depression) in 15 Großstädten in 14 Ländern auf 5 Erdteilen keine kulturellen Unterschiede für somatische Symptome. Vielmehr hing die Angabe von körperlichen Symptomen von dem Ausmaß an Vertrautheit zwischen Arzt und Patient ab: Je größer die Vertrautheit, desto weniger somatische Symptome werden angegeben.
Urbaner interkultureller Vergleich somatischer Symptome bei depressiven Episoden – Major depression (1). (Simon et al. 1999) Schlussfolgerungen: 1. Somatische Symptome bei Depression sind ubiquitär 2. Ihre Häufigkeit hängt von der Definition von Somatisierung ab 3. Somatische Symptome sind genauso »primär« wie psychologische 4. Es gibt keine interkulturellen urbanen Unterschiede 5. Somatisierung ist Teil der depressiven Kernsymptomatik 6. Somatisierung ist eine »somatosensorische Verstärkung« bei psychischer Belastung
Urbaner interkultureller Vergleich somatischer Symptome bei depressiven Episoden (2). (Simon et al. 1999) Schlussfolgerungen: 7. Somatisierung ist eine »Abwehr« gegen psychische Belastungen 8. Somatisierung ist ein alternativer Ausdruck für Belastung 9. Somatisierung ist eine symbolische Körpersprache für Belastung 10. Somatisierung ist die »Eintrittskarte« in das medizinische Versorgungssystem (»Fakultative Somatisierung«) 11. Es gibt eine Korrelation zwischen einer engen Arzt-Patienten-Beziehung und Somatisierung 12. Es besteht kein Zusammenhang zwischen Somatisierung und Akkulturation
Selbstvorwürfe und Schuldgefühle. Selbstvorwürfe und
Schuldgefühle als führende Symptome im euroamerikanischen Bereich können nicht als spezifisch für den jüdisch-christlichen Kulturkreis angesehen werden. Diese Symptome werden auch in vielen anderen Kulturen beobachtet, allerdings in sehr viel geringerer Häufigkeit, ins-
14
330
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
besondere aber dann, wenn der Betroffene aktives Mitglied einer Religionsgemeinschaft ist. Versündigungsgefühle fehlen in Ost- und Südostasien (Japan, China, Vietnam), solange kein christlicher Einfluss wirksam ist. Je mehr allerdings das Bewusstsein kollektiver Verantwortung infolge des soziokulturellen Wandels, durch persönliche Verantwortung und individuelle Rechenschaftserwartungen abgelöst wird, desto mehr scheinen individuumsbezogene Schuldgefühle erlebnisrelevant zu werden. Kommen bei Betroffenen in Entwicklungsländern Selbstvorwürfe und Schuldgefühle vor, so richten sich diese auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Ehe, in der Familie unter Einbeziehung der Ahnengeister, auf die Freunde und die gesellschaftliche Stellung des Betroffenen und nur ausnahmsweise auf abstrakte Instanzen wie Gott. Leistungsversagen. Dieses wird im Gegensatz zu Mitglie-
dern des euroamerikanischen Kulturkreises und ostasiatischer Länder wie Japan und China in den meisten tropischen Ländern nicht als Konflikt erlebt. Als Begründung dafür wird angeführt, dass in industrialisierten Ländern die Arbeitsleistung für die Beurteilung des Menschen große Bedeutung hat. In tropischen Kulturen wird dagegen die Stellung des einzelnen in der Familie und der Gesellschaft durch die Geburt festgelegt. In der Depression spielen insofern andere Themen eine Rolle, die familienorientiert sind, persönliche Eigenschaften betreffen, wie z. B. körperliche Schönheit oder sich auf wichtige Bereiche wie Sexualität und Fruchtbarkeit beziehen.
Suizidalität
14
Suizidales Verhalten ist ein alter Aspekt des menschlichen Daseins und kommt, wenn auch in der Regel als eher seltenes, so doch als »allgemein menschliches Phänomen« (Haltenhof 1999), in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten vor. Das Interesse der psychiatrischen Wissenschaft wandte sich in den 1960er Jahren den transkulturellen Aspekten der Suizidforschung zu (s. besonders Kiev 1980; Pfeiffer 1994), um die kulturelle Bedingtheit von Suizidalität zu beschreiben. Die entscheidenden Determinanten suizidalen Verhaltens (wie Alter, Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, Beruf, Bevölkerungsdichte, Familienstand, Religion, wirtschaftliche Lage, Kriegszustand, Methoden, Motive, psychische Störungen, Wiederholung, soziale Unterstützung) sind vermutlich von der jeweiligen Kultur geprägt und müssen daher kulturspezifisch betrachtet werden (Stubbe 1995).
Epidemiologie In nahezu jeder menschlichen Gemeinschaft kommt Suizid vor; lediglich bei einigen kleinen, isolierten Ethnien – wie beispielsweise bei den Zuni-Indianern (Pueblo-Indianer mit eigenständiger Sprache) in den südlichen
USA, bei der indigenen Bevölkerung der Andamanen (indische Inselgruppe im Golf von Bengalen) und bei australischen Stämmen – ist Suizid unbekannt (Pfeiffer 1994). Allerdings lassen sich gerade bei primitiveren Kulturen häufig Verhaltensweisen finden, die den eigenen Tod zur Folge haben, aber nicht als Suizid erscheinen, etwa ein passives Überlassen an den Tod oder ein aggressives Verhalten, welches den Gegner zur Tötung herausfordert. Wie man den Angaben des Suizidpräventionsprogramms der Weltgesundheitsorganisation vom Juni 2004 entnehmen kann (www.who.org), schwanken die Suizidraten, definiert als Jahresinzidenz auf 100.000 Einwohner, weltweit erheblich. Sie variieren von 0,0% in Jordanien, ungefähr 0,2% im Iran und 3,0% in Mexiko bis hin zu knapp 30% in Ungarn, zirka 35% in Weißrussland und über 45% in Litauen. Die Zuverlässigkeit und Aussagekraft dieser Zahlenangaben muss kritisch betrachtet werden. Fehlerhafte statistische Verfahren können auf kommunaler, nationaler und internationaler Ebene zu Fehlklassifikationen führen (Kelleher et al. 2000). Länder, die aus religiösen Gründen den Suizid sanktionieren, übermitteln der WHO vermutlich signifikant niedrigere Suizidraten (Kelleher et al. 1998). Von einem Großteil der Staaten fehlen offizielle Suizidstatistiken völlig, was insbesondere für bevölkerungsreiche Gebiete wie Indonesien und weite Teile Afrikas gilt (Pfeiffer 1994). Auch bei zurückhaltender Bewertung der Datenlage lassen sich jedoch einige Tendenzen ausmachen, die aus soziokultureller Perspektive interessant sind. Die Differenz zwischen den sehr hohen (z. B. Ungarn, Weissrussland) und sehr niedrigen Suizidraten (z. B. Iran, Mexiko) entspricht einem Faktor von über 30–40%. Diese Spannbreite in der Differenz der Suizidraten steht in großem Kontrast zu der Differenz der Inzidenzraten bei anderen psychischen Störungen. Länder mit sehr niedrigen Inzidenzraten an Suiziden sind meist muslimische oder katholische Gemeinschaften, in denen aus religiösen Gründen Verurteilungen und Sanktionen gegenüber Selbsttötung bestehen. Eine religiöse Einbindung kann grundsätzlich die Durchführung eines Suizids verhindern. Aus klinischer und soziologischer Sicht spielen für die Einschätzung des Suizidrisikos bei aktiver Religionsausübung der soziale Zusammenhalt und das Eingehen persönlicher Bindungen eine entscheidende Rolle (Kelleher et al. 2000; ⊡ Abb. 14.1). Analysen der weltweiten Suizidraten im Längsschnitt auf der Basis der verfügbaren WHO-Daten zeigen für die Jahre von 1950 bis 1994, dass einerseits in vielen Ländern die Suizidraten über Jahrzehnte hinweg recht stabil bleiben. Andererseits ziehen gravierende soziokulturelle Veränderungen oder politische Unruhen auch deutliche Schwankungen der Suizidraten nach sich (Tseng 2001), was sich am Beispiel von Japan eindrücklich verdeutlichen lässt: Nach 1935, als Japan sich im Krieg mit China befand und während seiner Beteiligung im 2. Weltkrieg,
14
331 14.2 · Krankheitsbilder
⊡ Abb. 14.1. Suizidraten per 100.000 Einwohner. (Nach WHO 2004)
90
80,7
80 70
60,3
60 50 40 30
30,5 20,4
20
8,7
7
10 0
Männer Frauen
Deutschland
Österreich
5,7
der Suizidraten in Japan im 20. Jahrhundert. (Nach Tseng 2001)
Suizidrate pro 100.000 Personen
⊡ Abb. 14.2. Entwicklung
1,6
Griechenland
sank die Suizidrate beträchtlich bis zu einem Tiefpunkt von zirka 12% im Jahre 1943. Die Entwicklung der Suizidraten in Japan unterstützt die Hypothese, dass Selbsttötungen zurückgehen, wenn sich eine Gesellschaft im Krieg mit einem äußeren Feind befindet (⊡ Abb. 14.2). Untersuchungen des Datenmaterials der WHO zeigten, dass über die letzten drei Jahrzehnte die Suizidraten innerhalb der weißen städtischen Bevölkerung Nordamerikas und Europas, insbesondere bei männlichen Adoleszenten und jungen Erwachsenen, deutlich gestiegen sind (Diekstra u. Garnefski 1995; Wasserman et al. 2005). Als mögliche Ursachen für diese Entwicklung werden der Anstieg der Prävalenzen von depressiven Störungen und Substanzabhängigkeiten, psychobiologische Veränderungen, vor allem der frühere Eintritt der Pubertät, eine Zunahme sozialer Stressoren sowie Veränderungen in der Einstellung gegenüber suizidalem Verhalten genannt (⊡ Abb. 14.3). Europäische Länder und Teile Nordamerikas mit einer hohen Lebensqualität haben höhere Suizidraten als
13,1
9,3 Belarus
Litauen
Länder, die wirtschaftlich nicht so stabil sind und bei denen große Gebiete durch Armut gekennzeichnet sind wie beispielsweise Lateinamerika und viele asiatische Länder (Inglehart 1990; LaVecchia et al. 1994). Die Betrachtung der Geschlechterverteilung weltweit mahnt nach Pfeiffer (1994) zur Vorsicht gegenüber einer Verallgemeinerung euroamerikanischer Verhältnisse. In westlichen Ländern liegt die Suizidrate bei Männern weit zur Vorsicht höher als bei Frauen (1/0,3). Demgegenüber näherten sich die Werte in vielen asiatischen Ländern einander an und seien verschiedentlich, so in Pakistan, Thailand oder Ägypten, etwa gleich hoch. In einigen Kulturen übersteigt die Suizidrate für Frauen sogar die für Männer. Diese geschlechtsspezifischen Befunde deuten auf soziokulturelle Unterschiede hin, da die Frauen in den meisten dieser Länder eine untergeordnete Stellung mit schlechten Lebensaussichten haben (Kelleher et al. 2000). Auch die Altersverteilung der Suizidraten bringt im weltweiten Vergleich kulturelle Besonderheiten zum Ausdruck. Während in westlichen Ländern die Suizidkurve mit zu-
120 100 80 60 40 20 0
20
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80
Alter (Jahre)
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
⊡ Abb. 14.3. Entwicklung der Suizidraten in westlichen Ländern, am Beispiel Tschechiens. (Nach Tseng 2001)
Suizidrate pro 100.000 Personen
332
120 100 80 60 40 20 0
20
nehmendem Lebensalter relativ gleichmäßig ansteigt, findet sich in den meisten asiatischen Ländern, soweit Daten vorliegen, eine charakteristische U-förmige Kurve. Die besondere Belastung der japanischen, insbesondere männlichen Jugendlichen wird damit erklärt, dass sie sich in einer sozialen Anomie befinden bei gleichzeitig starkem sozialem Druck und hoher Erwartungshaltung, während das mittlere Lebensalter dem Mann noch weitgehend den Schutz der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur bietet (Pfeiffer 1994). Über die letzten 3 Jahrzehnte ist die Suizidhäufigkeit bei jungen Japanern entscheidend gesunken, so dass sich die Suizidkurve im heutigen Japan dem westlichen Typ angeglichen hat (Tseng 2001). Suizidversuche. Im Hinblick auf Suizidversuche lässt sich
14
weltweit eine Zunahme ausmachen, was insbesondere für westliche Länder gilt. Suizidversuche scheinen weltweit im Kulturvergleich gehäuft bei jungen Menschen vorzukommen (Tseng 2001). In allen Ländern – mit Ausnahme Indiens – lässt sich bezüglich Suizidversuchen ein Überwiegen der Frauen gegenüber den Männern ausmachen mit einem Verhältnis von ungefähr 2:1. Suizidversuche zeigen im Hinblick auf die Motivation unterschiedliche Charakteristika auf. Da gibt es zum einen den Versuch, durch Androhung oder Demonstration einer suizidalen Handlung an die Sympathie der Umwelt zu appellieren. Gerade in traditionsreichen patriarchalischen Kulturen, wo man den Hausherrn für das Schicksal der ihm Anvertrauten verantwortlich machte, lag hierin ein probates Druckmittel. Daneben gibt es Suizidhandlungen, die ohne jeden Todeswunsch den Charakter einer konventionellen Geste tragen (Tseng 2001). Sie helfen, sonst schwer lösbare Konflikte zu überwinden und die Situation neu zu definieren, etwa bei dem verschuldeten chinesischen Kaufmann oder dem im Examen versagenden Studenten. Suizidale Impulse können auch in andersartigen Verhaltensweisen, beispielsweise risikoreichen Unterneh-
40
60
80
Alter (Jahre)
mungen, zum Ausdruck kommen. Andererseits gibt es vital ungefährliche Handlungen, die als Äquivalent für einen Suizid eintreten können, wie die Teilnahme an Tranceritualen oder das planlose Fortlaufen in den Urwald (Pfeiffer 1994). Eine weitere Form suizidaler Handlungen stellen Selbstverstümmelungen dar, so zum Beispiel das Abschneiden des Penis, der als Sitz des Lebens empfunden wird, oder das Abschneiden eines Fingerglieds, wie es auf Neuguinea als Ausdruck der Trauer über den Tod eines Angehörigen erfolgt.
Kulturvergleichende Bewertung von Suizidalität Umfassende gesellschaftliche Veränderungen wie Migration, Krieg, Bevölkerungsexplosion, sozialer Wandel und technische Entwicklung haben zweifelsohne nicht nur Einfluss auf die Stabilität einer Gesellschaft, sondern Berühren auch die emotionale Stabilität der von diesen Veränderungen betroffenen Individuen. So können Industrialisierung und sozialer Wandel zu einer Zunahme von Suiziden führen, während traditionale Gesellschaften protektive Faktoren, etwa in Form stammesmäßiger Bindungen, aufweisen können, die eine niedrige Suizidrate begünstigen (Kiev 1980). Kiev (1980) führt aus, dass Suizid in Afrika ein verhältnismäßig ungewöhnliches Phänomen war und erst das Eindringen der technischen Zivilisation und der Modernisierung besonders in gebildeten und freiberuflichen Schichten zu steigenden Zahlen geführt habe. Dramatische Veränderungen der Lebensform vom ländlich-stammesgebundenen zum städtischen Milieu haben die religiösen Traditionen und die Stammesgemeinschaften zerrissen und zu großen Spannungen geführt. Auch Krauss (1970) postuliert einen signifikanten Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Komplexität und Suizidrate und betont, entscheidend sei, in welcher Weise eine Gesellschaft ihre Mitglieder in soziale Beziehungen einbinde. Die Frage jedoch, ob Suizid und steigende Suizidraten ein unausweichlicher Effekt der Industrialisierung seien, wird sehr kritisch diskutiert (s. auch Kelleher et al.
333 14.2 · Krankheitsbilder
2000; Zilboorg 1935; Stubbe 1995). Festgehalten werden kann allerdings, dass suizidales Verhalten im Hinblick auf Form, Bedeutung und Häufigkeit sehr stark von der jeweiligen Kultur beeinflusst wird, in der es vorkommt. Um suizidales Verhalten zu verstehen, ist es daher notwendig, die kulturelle Matrix, vor der es erscheint, zu kennen.
Fazit Der Einfluss der Suizidtraditionen in den verschiedenen Kulturen und Ländern wirkt unterschwellig bis heute weiter, auch wenn in unserer Zeit Suizid nirgendwo mehr als kulturell verpflichtende Verhaltensweise besteht. Auch rituell vollzogene Suizide sind nur noch in Einzelfällen anzutreffen. Für Inder und Japaner jedenfalls stellt Suizid in schwierigen Lebenssituationen auch heute noch eine nahe liegende Alternative dar. Auch im Zuge der Besinnung auf nationale Traditionen kann es zu einem Wiederaufleben solcher Bräuche kommen. Dies gilt für das Witwenopfer ebenso wie für die religiös motivierten Suizide in Indien: nach offizieller Statistik im Jahre 1964 beispielsweise immerhin 94 Fälle (Pfeiffer 1994).
14.2.4
Neurotische und dissoziative Störungen
Neurotische Störungen wie Angstsyndrome und dissoziative Störungen aber auch Persönlichkeitsstörungen sind für die meisten Kulturen nachgewiesen. Sie haben in der Sprache der indigenen Heilkundigen ihre eigenen traditionellen Bezeichnungen. Ihre Erscheinungsbilder sind stark von den soziokulturellen Kontexten geprägt, in denen sie auftreten. Die folgenden Beispiele illustrieren dies.
Soziale Phobie: Taijin Kyofu Von dem japanischen Psychiater und Psychotherapeuten Morita wurde Taijin Kyofu 1920 beschrieben, ein Syndrom, das der sozialen Phobie weitgehend ähnelt (ICD-10 F40.1) und heute in das offizielle japanische Diagnosesystem psychischer Störungen aufgenommen worden ist. Während in westlichen Ländern bei den sozialen Phobien die »egozentrische« Variante dominiert, nämlich das Gefühl, selbst den sozialen Erwartungen nicht zu genügen, sich zu blamieren oder beschämt zu werden, beherrscht in Ostasien, zumal in Japan, die »altruistische« Variante das Bild. Die Störung besteht in dem ängstlichen Gedanken, anderen zur Last zu fallen, ihren Ärger zu erregen oder ihnen sogar zu schaden. Sie ist darüber hinaus charakterisiert durch intensive Ängste, der eigene Körper oder Teile von ihm oder bestimmte eigene Verhaltenswei-
sen könnten eine andere Person beeinträchtigen. Insbesondere könnte eine andere Person das eigene Erscheinungsbild, der Gesichtsausdruck oder die natürlichen Bewegungsabläufe oder etwa auch der Körpergeruch, der Augenkontakt oder das Erröten unangenehm berühren. Differenzialdiagnostisch abzugrenzen ist die Agoraphobie (ICD-10 F40.0) mit ihren spezifischen Auslösern und die Panikstörung (episodische paroxysmale Angst; ICD-10 F41.0), die sich unvorhersehbar und nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände bezogen einstellt.
Zwangsstörung und Zwangssyndrome Zwangssyndrome (ICD-10 F42) sind in Afrika und Indonesien, aber auch in anderen Entwicklungsländern wesentlich seltener als in Europa und Nordamerika. Ihre Prognose ist besser sowohl im Hinblick auf die Spontanheilungsquote als auch unter Therapie. Religiöse Gebote. Ein enger Zusammenhang von Zwangs-
symptomen besteht z. B. zu den rituellen religiösen Reinheitsgeboten bei Islamiten. Beispielsweise ist bei der strenggläubigen muslimischen Bevölkerung auf Java ein umschriebenes Zwangssyndrom unter der Benennung »Waswas« bekannt (Pfeiffer 1994). Dieses Syndrom tritt bei Gläubigen in allen islamischen Ländern auf und ist auch bei Migranten in Europa zu finden. Die Betroffenen haben nach dem vorgeschriebenen 3-maligen »Nehmen des Wassers« noch nicht das Gefühl, rein zu sein für das Gebet und wiederholen die Waschung immer wieder. Auch kann sich der Wiederholungszwang auf die richtige Anrufung Gottes mit der rituellen Gebetsformel beziehen. Der Zweifel richtet sich dann auf das korrekte, vollständige, den Regeln entsprechende Hersagen der Anrufungsformel, verknüpft mit den rituellen Verhaltensweisen. Aus der Verknüpfung verwandter anthropologischer Phänomene wie Regel, Ritual und Zwang lässt sich verstehen, dass diese Verhaltensauffälligkeit im islamischen Kulturkreis als religiöses und nicht etwa psychologisches Problem gewertet wird. Indessen erlebten Waswas-Betroffene den Reinigungszwang als Ich-dyston und hatten einen Leidensdruck, den sie zu mindern suchten. Analoge Phänomene und Bewertungen sind aus dem christlichen Kulturkreis (Rosenkranz beten, Skrupulantentum bei der Beichte etc.) und aus dem Hinduismus (Hersagen von Mantras) bekannt. Diagnostik und Therapie. Zwangssymptome im Zusam-
menhang mit religiösen Riten erfreuen sich in allen Kulturen einer guten sozialen und kulturellen Einbettung und erhöhen in strenggläubigen Kreisen das Ansehen des Betroffenen. Die Übergänge zu individuellem Leiden und Beeinträchtigungen der sozialen Funktionsfähigkeit sind für kulturfremde Betrachter schwer zu ziehen. Ein wich-
14
334
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
tiges Kriterium ist das der kulturellen Norm. Angemessenheit bzw. Unangemessenheit kann am ehesten von Vertretern derselben Kultur beurteilt werden. Aus psychodynamischer Sicht wird ätiologisch transkulturell ein Ambivalenzkonflikt gegenüber Autoritätspersonen angenommen. Diagnostisch sind sowohl Zwangsgedanken (ICD-10 F42.0) als auch Zwangshandlungen (Zwangsrituale; F42.1) sowie gemischte Bilder relevant. Soziokulturell eingebundene Zwangsphänomene werden häufig nicht als pathologisch gewertet bzw. erkannt, obwohl subjektives Leiden vorhanden ist. Einzelfälle erfolgreicher Therapien wurden berichtet.
Die Geister bedienen sich, um sprechen und handeln zu können, eines menschlichen Mediums. Für das Medium besteht eine vollständige oder partielle Amnesie für alles während der Besessenheitstrance Vorgefallene und Erlebte. Nach traditioneller Auffassung ist die Gegenwart der Geister, ihr Wissen, Rat, Kraft und Zuspruch besonders erwünscht in sozialen Krisen und in Zeiten des Umbruchs und des kulturellen Wandels (»Krisenkulte«). Die Kulthandlungen dienen zur emotionalen Einstellung auf Veränderungen, die sich dem rationalen Verstehen noch entziehen. Darüber hinaus werden Besessenheits- und Trancerituale wirkungsvoll zur Heilung psychisch Kranker eingesetzt (Machleidt u. Peltzer 1991, 1994, 1997).
Trance- und Besessenheitszustände und dissoziative Trancestörung
Trance- oder Besessenheitstrancezustände mit Krankheitswert. Die pathologischen Trance- und Besessen-
Trance und Besessenheit sind zwei voneinander verschiedene, in fast allen Kulturen der Welt anzutreffende veränderte Bewusstseinszustände, die bei kulturellen und religiösen Ritualen von ethnischen Gruppen praktiziert werden und ganz beträchtliche transkulturelle Variationen zeigen.
heitszustände (ICD-10 F44.3) und die »dissoziative Trancestörung« (DSM-IV, Anhang B, Forschungskriterien) sind dadurch definiert, dass sie nicht Akzeptanz als normaler Bestandteil der allgemeinen kulturellen oder religiösen Riten finden. Sie sind auch nicht durch die ritualisierten Praktiken des betreffenden Kulturkreises ausgelöst bzw. in diese integriert, sondern treten unwillkürlich auf. Die Betroffenen leiden subjektiv erheblich darunter und sind in ihren beruflichen und sozialen Funktionen beeinträchtigt. Die pathologischen Trance- und Besessenheitstrancezustände können durch Außenstehende provoziert oder auch unterdrückt werden. Die in den kulturell üblichen Trance- und Besessenheitstrancezuständen positiv erlebten Geister werden in den pathologischen Zuständen als feindlich und fordernd erlebt. Bis zu 5 verschiedene«geistige Mächte« können nacheinander während einer Episode erlebt werden. Im Zusammenhang mit pathologischen Trance- oder Besessenheitstrancezuständen sind Suizidversuche und Unfälle bekannt geworden. Die Dauer der Episoden reicht von wenigen Minuten bis Stunden. Sie stellen je nach Ausprägung eine schwere subjektive und soziale Behinderung dar und zeigen häufig einen chronischen Verlauf.
Trance. Trance ist ein hypnoid veränderter Bewusstseinszustand, bei dem der Verlust der gewohnten Identität nicht mit der Annahme oder dem Auftauchen einer anderen Identität verbunden ist. Trance geht mit einer Wahrnehmungseinengung und selektiven Fokussierung auf die Umgebung und deren unmittelbare Reize einher. Handlungsweisen während des Trancezustandes wie konvulsive Zuckungen, Laufen, Fallen etc. sind einfach strukturiert und elementar und werden als außerhalb der eigenen Kontrolle erlebt. Hypnose, psychogene Dämmerzustände und Ekstase fallen unter den Trancebegriff. Besessenheit ohne Trance. Als Besessenheit ohne Trance
14
werden psychische Störungen wie Schizophrenie im akuten Stadium, Depression und »körperliche« Störungen wie psychogene Lähmungen, Schmerzsyndrome, Unfruchtbarkeit und Impotenz verstanden. Besessenheit ohne Krankheitswert. Besessenheitstrance
– verbreitet in fast allen Kulturen mit Ausnahme der Pygmäen, den Buschmännern und den meisten Indianerkulturen – wird als Inbesitznahme durch Geister verstanden. Besessenheitstrance ist charakterisiert durch eine episodische Veränderung des Bewusstseinszustandes, während dessen eine oder nacheinander mehrere Identitäten durch »Geister« an die Stelle der gewohnten Identität treten. Nach der zugrunde liegenden »kulturellen Theorie« werden alle stereotypisierten und kulturell festgelegten Erlebens- und Verhaltensweisen des Mediums, also des Menschen, von dem der Geist Besitz ergriffen hat, durch das »Eintreten« und das Agieren des Besessenheitsagens, des Geistes, erklärt.
Differenzialdiagnose. Differenzialdiagnostisch sind die kulturell und rituell eingebundenen Zustände zu unterscheiden von deren unerwünschten Folgen und Auswirkungen auf die Betroffenen und von unwillkürlich auftretenden pathologischen Zuständen. Psychotische Störungen mit Halluzinationen und Wahn wie Schizophrenie, affektive Störung und kurze psychotische Störung können durch die fehlende kulturelle Einbindung, die längere Dauer und die charakteristischen Symptome abgegrenzt werden. Von Besessenheitstrancesymptomen kann die dissoziative Identitätsstörung (multiple Persönlichkeitsstörung) dadurch unterschieden werden, dass bei der ersteren typischerweise äußere Geister oder Wesen beschrie-
335 14.2 · Krankheitsbilder
ben werden, die in den Körper des Mediums hineinfahren und sich seiner bemächtigen.
14.2.5
Kulturabhängige Syndrome
Kulturabhängige Syndrome sind Abweichungen im Erleben und Verhalten, die in bestimmten sozialen Gemeinschaften und kulturellen Regionen vorkommen (s. a Jilek u. Jilek-Aall 1970). Die Namensgebung und Kategorisierung entsteht aus traditionellen Krankheitskonzepten und Verstehensansätzen meist in Verknüpfung mit einem kulturellen Bedeutungssystem. Aus diesem Bedeutungssystem wird dann häufig das therapeutische Vorgehen entwickelt, wie die Austreibung eines bösen Geistes, das Zurückbringen der verloren gegangenen Seele in den Körper etc. Mit zunehmender Häufigkeit werden kulturabhängige Syndrome auch bei Migranten und ethnischen Minoritäten in westlichen Industrieländern gesehen. Auch in den industrialisierten Kulturkreisen gibt es typische kulturabhängige Syndrome wie z. B. Anorexia nervosa und die dissoziative Identitätsstörung. Von den ca. 30 weltweit bekannten kulturabhängigen Syndromen, deren Zugehörigkeit zu dieser Kategorie z. T. umstritten ist, seien im Folgenden zwei der bekanntesten dargestellt. Die Zuordnung in den internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV ist noch nicht befriedigend gelungen (⊡ Tab. 14.1). Diese wird anhand der Beispiele Susto und dem Brain-fag-Syndrom dargestellt.
Susto In vielen Kulturen ist die Vorstellung zu finden, dass Schreck zu akuter oder chronischer Erkrankung führen kann. In lateinamerikanischen Ländern ist Susto (»Schreck«) eine Volkskrankheit, die auch unter den Bezeichnungen Espanto, Pasmo, Tripa Ida, Perdida del almo (Verlust der Seele) und Chibih bekannt ist. Das Syndrom wird von den Betroffenen auf ein akutes, erschreckendes, gegenwärtiges oder in der Vergangenheit liegendes Erlebnis zurückgeführt. Symptomatik. Eine ganze Anzahl von Symptomen wer-
den auch retrospektiv, offenbar zur Befriedigung eines Kausalbedürfnisses, Susto zugeordnet. Relativ typisch scheinen Schwächegefühl, Appetitverlust, Gewichtsverlust, Schlafstörungen, schlechte Träume, gedrückte Stimmung, mangelnde Motivation, geringes Selbstwertgefühl sowie Anfallserscheinungen zu sein. Somatische Begleitsymptome sind Schmerzen in den Muskeln, in Kopf und Magen sowie Diarrhöen. Ätiologie. Das ätiologische Laienmodell besagt, dass die Seele aufgrund des Schreckerlebnisses den Körper verlässt. Dieser Seelenverlust führt zu psychischer Beeinträchtigung und zu Krankheit. Ganz ähnliche ätio-
logische Überzeugungen und Symptomkonstellationen finden sich in den verschiedensten Kulturräumen. Auftreten. Bei der indianischen Bevölkerung in den Süd-
staaten der USA, in Südamerika und bei Latinos in Mexiko wurde Susto überwiegend im Zusammenhang mit psychogen überlagerten körperlichen Erkrankungen und bei sehr ungünstigen sozialen Umständen gefunden. In ihren Sozialfunktionen erlebten an Susto Erkrankte häufig erhebliche Spannungen, indem sie sich zentralen Lebensaufgaben nicht gewachsen fühlten. Diesen Menschen eröffnete das Leiden an einer sozial akzeptierten Volkskrankheit wie Susto einen kulturellen Freiraum zu Rückzug und Unterstützung im Sinne eines sekundären Krankheitsgewinnes. Therapie. Mit dem traditionellen indianischen Heilungs-
ritual wird das Ziel verfolgt, die Seele, die nach indianischer Auffassung von den Geistern des Wassers, der Luft und der Erde in Besitz genommen wurde, wieder zu finden und in den Körper des Betroffenen zurück zu bringen. Dazu werden die Geister durch die Opfer des Heilkundigen freundlich gestimmt (Klammer 1997). Darüber hinaus geht es um die Reinigung des Betroffenen und die Wiederherstellung des »geistigen und körperlichen Gleichgewichts«. Klassifikation. Diagnostisch stimmt das Syndrom weitge-
hend mit der posttraumatischen Belastungsstörung (ICD10 F43.1) oder auch mit der Anpassungsstörung (ICD-10 F43.2) überein. Es bestehen aber auch Bezüge zur somatoformen Störung (ICD-10 F45), zu depressiven Episoden (ICD-10 F32) und zur generalisierten Angststörung (ICD10 F41.1).
Brain-fag-Syndrom Der Begriff dient als Bezeichnung für eine Störung, die als »Überforderung oder Übermüdung des Gehirns« bekannt ist und von Prince (1989) bei High-school- und Universitätsstudenten in Nigeria erstmals beschrieben wurde. Bei den Betroffenen findet man eine körperbetonte Symptomatik, bei der der Kopf der vorangige Ausdrucksort ist. Symptomatik. Die Betroffenen berichten über Kopfdruck,
-schmerz, Hitzegefühl, Brennen und Missempfindungen mit »Krabbeln und Bohren wie von Würmern«, darüber hinaus über Augenschmerzen und verschwommenes Sehen. Hinzu kommen psychische Beeinträchtigungen kognitiver Art wie Schwierigkeiten beim Erinnern, Denken und der Konzentration. Die Betroffenen befinden sich in einem Spannungszustand ängstlich depressiver Tönung. Ätiologie. Ätiologisch wird eine »Gehirnermüdung« und Erschöpfung von »zuviel Denken« angenommen. Nach
14
336
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
traditioneller Auffassung der Yoruba in Nigeria ist der Kopf der wichtigste Teil des Körpers und »Essenz der Persönlichkeit«. Auftreten. Das Syndrom wird überwiegend bei hoch mo-
tivierten Studierenden mit guter Begabung aus den weniger akkulturierten Bevölkerungsschichten gefunden. Der zugrunde liegende Konflikt besteht in der Erwartung und Verpflichtung zu besten Leistungen und Schuldgefühlen, die mit dem Überflügeln des elterlichen und traditionellen dörflichen Milieus und Niveaus auf intellektuellem und sozialem Gebiet verknüpft ist. Das Syndrom kommt im Zusammenhang mit gehobenen Ausbildungsansprüchen bei jungen Menschen im ganzen afrikanischen Kulturraum südlich der Sahara unter leichten Variationen der Symptomatik vor und wahrscheinlich auch in anderen Entwicklungsländern. Therapie. Behandlungen mit westlich orientierten psychotherapeutischen Verfahren waren bei Studenten in Nigeria erfolgreich (Peltzer 1995). Klassifikation. Die diagnostische Zuordnung als »Erschöpfungssyndrom« entspricht den Leitlinien der Neurasthenie (ICD-10 F48.0). Das Syndrom kann auch als Anpassungsstörung (F43.2) in Erscheinung treten. Differenzialdiagnostisch wäre eine Angststörung, eine depressive Störung oder eine somatoforme Störung abzugrenzen.
14.3
14
Migration und seelische Gesundheit
Die weltweiten Wanderungsbewegungen haben alle Staaten Europas und nicht zuletzt Deutschland erreicht. Die Migranten sind zu einem der großen politischen und sozialen Problemfelder geworden. Migranten sind alle Personen, die ihren Wohnsitz in ein anderes Land verlegen: Auswanderer, Arbeitsmigranten (»Gastarbeiter«), (Spät-)Aussiedler, Exilanten, Vertriebene, Kriegsflüchtlinge, Asylsuchende, politisch Verfolgte, illegale Zuwanderer und Remigranten. Laut Ausländerzentralregister (Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen 2004) lebten Ende des Jahres 2003 ca. 7,335 Mio. Menschen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit in Deutschland. Dies entspricht einem Ausländeranteil von 8,9% an der Gesamtbevölkerung; dieser Anteil ist seit 1998 gleich geblieben. Fast die Hälfte dieser Menschen lebt bereits länger als 10 Jahre in Deutschland. In dieser Statistik sind die deutschstämmigen Aussiedler aus Osteuropa nicht mit enthalten, da sie bereits im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft sind oder diese unmittelbar bei Einreise erhalten. Zudem führt die Ausländerstatistik auch diejenigen Migranten nicht mehr auf, die mittlerweile eingebür-
gert wurden. Auch illegale Einwanderer sind statistisch nicht erfasst. Im Ergebnis ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung deutlich höher als die Ausländerstatistik ausweist und beträgt etwa 1/5 der Bevölkerung (19%).
Herkunft Laut Ausländerzentralregister (2006) des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge lebten Ende des Jahres 2005 6,7 Mio. Menschen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit in Deutschland. Dies entspricht einem Ausländeranteil von 8,2% an der Gesamtbevölkerung. Ein Drittel dieser Menschen (33,9%; knapp 2,3 Mio.) lebte bereits 20 Jahre länger in Deutschland, mehr als die Hälfte (62%; 4,2 Mio.) hatten Aufenthaltszeiten von mehr als 10 Jahren. In dieser Statistik sind die deutschstämmigen Aussiedler aus Osteuropa nicht mit enthalten, da sie bereits im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft sind oder diese unmittelbar bei Einreise erhalten. Zudem führt die Ausländerstatistik auch diejenigen Migranten nicht mehr auf, die mittlerweile eingebürgert wurden. Auch illegale Einwanderer sind statistisch nicht erfasst. Im Ergebnis ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung daher deutlich höher als die Ausländerstatistik aufweist. Die größte Gruppe der ausländischen Wohnbevölkerung bildeten die türkischen Staatsangehörigen: Ende des Jahres 2005 lebten 1,76 Mio. Migranten aus der Türkei in Deutschland, was ca. einem Viertel (26,1%) der gesamten ausländischen Wohnbevölkerung entspricht. Mit 540.810 Personen bilden die italienischen Staatsangehörigen die zweitgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe (8% der gesamten ausländischen Bevölkerung) vor den Migranten aus Serbien & Montenegro als drittgrößter ausländischer Bevölkerungsgruppe mit 493.915 (7,3%). An vierter Stelle folgen Staatsangehörige aus Polen mit 326.596 (4,8%), dann Griechenland mit 309.794 (4,6%) und Kroaten mit 228.926 (3,4%). Rund ein Drittel aller Ende 2005 in Deutschland lebenden Ausländer besaß die Staatsangehörigkeit eines EU-Staates (31,8%).
Gesundheitliche Gefährdung Aus medizinischer Sicht ist die gesundheitliche Gefährdung von Migranten, zumal ihrer seelischen Gesundheit, im Vergleich zu den Einheimischen in das Blickfeld des wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Interesses geraten (s. a. Hegeman u. Salman 2001). Während Ende der 1970er Jahre die psychische Morbidität von »Gastarbeitern« unter der der deutschen Bevölkerung lag (Böker 1975; Häfner et al. 1977), wird heute von einer höheren psychischen Erkrankungsrate bei Migranten ausgegangen. Es fehlen allerdings bundesweite repräsentative epidemiologische Untersuchungen zu Art und Häufigkeit psychischer Erkrankungen in der ausländischen Bevölkerung.
14
337 14.3 · Migration und seelische Gesundheit
Erhöhte Belastungen
kultur im Rahmen des Anpassungsprozesses zu übernehmen. In dieser Phase der kritischen Anpassung steht die »alte« Identität in Frage und eine neue »bikulturelle« oder »multikulturelle« Identität ist noch nicht vorhanden. Die Vulnerabilität für Stresskrankheiten, d. h. funktionelle und psychosomatische Störungen, ist in dieser kritischen Anpassungsphase besonders hoch. Die Gefährdung ist dann groß, wenn die notwendigen Anpassungsprozesse nur unter Schwierigkeiten erbracht werden können und letztendlich nicht erfolgreich verlaufen. Schließlich muss die Trauer um den Verlust der Werte der Heimatkultur und der vertrauten kulturellen Einbettung verarbeitet werden. Danach erst entsteht bei geglückter Anpassung eine neue bikulturelle Identität.
Migranten haben unter höheren Belastungen am Arbeitsplatz zu leiden. Das soziale und psychische Wohlbefinden, das zur Aufrechterhaltung der seelischen Gesundheit beiträgt, ist bei Migranten darüber hinaus durch ungünstige Wohnbedingungen, Unsicherheiten über die Dauerhaftigkeit des Aufenthalts, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Isolation und Ausgrenzung beeinträchtigt. Solche Belastungen tragen zu einer erhöhten Rate an psychosomatischen und funktionellen Störungen bei (s. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen 2004; Collatz et al. 1997). Über die psychische Morbidität der (Spät-)Aussiedler, die sich als deutschstämmige von den Arbeitsmigranten in dem wichtigen Punkt der Aufenthaltssicherheit unterscheiden (Kornischka 1995), über die Asylanten, die Kriegsflüchtlinge und die Gruppe der illegalen Zuwanderer liegen wenig verlässliche oder gar keine Angaben vor.
Die Stressoren für Arbeitsmigranten in der »kritischen Anpassungsphase«, in der diese in besonderem Maße unter dem Assimilationsdruck der Aufnahmegesellschaft stehen, liegen auf unterschiedlichen Problemfeldern: Arbeit: unsichere Arbeitsplätze mit geringem sozialen Ansehen, stärkerer Belastung, erhöhtem Gefahrenpotenzial und größerer Unfallrate; Erfordernis: finanzielle Absicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbsarbeit. Wohnen: schlechte Wohnverhältnisse in Migrantenghettos bzw. Stadtteilen der unteren Sozialschichten. Familie: Auflösung der traditionellen autoritativen Familienstruktur mit der Folge von Rollen- und Generationskonflikten, z. B. bei Ausbildungs- und Partnerschaftsfragen der zweiten Generation (der Kinder).
Der Migrationsprozess
⊡ Abb. 14.4. Emotionslogik des Migrationsprozesses
“Honeymoon” Bi-/Multikulturalität
“Nachbereitung”
Freude
Agression Schmerz
Mittleres Integra-
Interesse
Vorbereitung
Migrationsakt
Migranten erleben die Annäherung und Auseinandersetzung mit der Gesellschaft des Gastlandes auf dem Wege ihrer (Teil-)Integration in verschiedenen Phasen (Machleidt 2005; modifiziert nach Sluzki 2001; ⊡ Abb. 14.4): Die erste Begegnung mit der gewählten Kultur ist verbunden mit Neugier und Euphorie und einer Überidealisierung des Gastlandes. Darauf folgt im Zusammenhang mit dem verunsichernden und schmerzlichen Ringen um die Grundlagen und die Absicherung der beruflich-sozialen Existenz eine gewisse Ernüchterung. Es stellt sich auch als unverzichtbar heraus, Elemente aus der Gast-
Interesse / Hunger
14.3.1
Kritische Anpassungsphase
Phase der kritischen Integration (erhöhte Vulnerabilität) ErfolgsBefriedigungsgefühle
Angst vor dem Fremden
tionsniveau
Angst
Trauer
Auseinandersetzung mit dem Fremden
Trauer um Verluste
Zeitachse
338
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
Individualebene: Diskrepanzen zwischen Hoffnung, Erwartungshaltung, eigenen Ansprüchen und Realisierungsmöglichkeiten. Identitätskrise, Ohnmachtsgefühle und Suche nach Zukunftsorientierung, Verlust und Entwurzelungsgefühle, Trennungsängste, kräftezehrendes Durchsetzungsverhalten. Sozialpolitische Lage: Aufenthaltsstatusfragen, Behördenwillkür, Diskriminierung und Gewaltandrohungen, Ausgrenzung und eigene Abschottung durch Minoritätenbildung.
14.3.2
14
Krankheitskonzepte
Das Krankheitsverständnis von Migranten ist keineswegs statisch, sondern in der ständigen Auseinandersetzung mit der Gastkultur einem häufig nachhaltigen Wandel unterworfen. Ist die Akkulturation an die aufnehmende Kultur bereits fortgeschritten, so findet man bei Migranten in Deutschland und bei deren größter Gruppe, den Türken, Elemente medizinisch-naturwissenschaftlicher Verstehensmodelle neben den traditionellen religiösen und magischen Sichtweisen. Individuell erfolgen ganz unterschiedliche Verknüpfungen traditioneller und moderner Vorstellungen von Krankheit miteinander. Eine Tendenz lässt sich jedoch festhalten: Die Elterngeneration, die noch im Heimatland aufgewachsen ist, fühlt sich mehr den traditionellen Erklärungsmodellen verbunden als die Angehörigen der zweiten und dritten Migrantengeneration. Die Generationen, aber auch die Individuen und Angehörige kultureller Minoritäten, vertreten verschieden stark variierende und sich überschneidende Modelle hinsichtlich der Krankheitsursachen. Traditionelle (aber auch alle anderen) Krankheitskonzepte beeinflussen die Erwartungen, die an die Therapie gestellt werden: Wird der religiöse Verständniszugang gewählt, so wird Krankheit als Strafe von einer höheren Instanz wie Gott, den Ahnen, Dämonen oder Geistern für menschliches Fehlverhalten verstanden. Therapie hat dann die Funktion der Sühne, Medikamentengabe die Funktion der Linderung von Strafe. In magischen Sichtweisen werden Krankheiten als Störung der sozialen Interaktion interpretiert und den negativen Einwirkungen von Mitmenschen oder Verstorbenen zugeschrieben. In den Heilungsprozess müssen folgerichtig die Mitglieder der sozialen Gruppe des Betroffenen bzw. die Großfamilie mit einbezogen werden. Diese Beispiele machen deutlich, dass insbesondere bei psychischen Erkrankungen eine Therapie gewählt werden muss, die von den individuellen Krankheitstheorien und Erwartungen des Betroffenen und seiner Angehörigen ausgeht und eine Methode zur Anwendung kommt, von der der Behandelte und seine Bezugsgruppe sich ei-
nen Erfolg versprechen. Dies erfordert von den Behandlern eine Offenheit für transkulturelle Sichtweisen von Krankheit und Genesung und ein hohes Maß an therapeutischer Flexibilität. ! Für Krankheitsvorstellungen von Migranten gilt im übrigen: Je weniger überzeugend die Therapieerfolge der westlichen naturwissenschaftlichen Medizin sind, z. B. bei chronifizierenden Krankheitsverläufen, um so eher besteht bei Migranten die Neigung, auf traditionelle Erklärungsmodelle aus ihrer Ursprungskultur zurückzugreifen (Salman 1998).
14.3.3
Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung
Diagnostik und Therapie Für eine angemessene medizinisch-psychologische Diagnostik und Therapie von Migranten gelten die in Abschn. 14.1.3 beschriebenen Grundsätze. Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle die besondere Bedeutung der biografischen Anamnese (DSM-IV, 1996), insbesondere: die frühe Biographie in Kindheit und Jugend anteilig oder ganz in der Heimat bzw. dem Gastland. Welche Werte, Traditionen und Traumata wirkten fort? Trennungs- und Verlusterlebnisse im Zusammenhang mit der Migration, der Migrationsprozess mit seinen Etappen, Verlusten, Vorteilen und Gewinn, aktuelles Stadium der Migrationsphase: Anpassungsstatus und -dynamik, Isolierung bzw. Integration, Diskriminierungsgefühle, Verfolgungsgedanken, Disharmonie, Fluchtgedanken, Lebenszufriedenheit und Lebensqualität, Erwartungen, Werte, Bilder, »neue« Identität, Bedeutung von Krankheit und Gesundheit, Zukunftserwartungen.
Arzt-Patient-Interaktion und psychiatrischpsychotherapeutische Versorgung In der Arzt-Patient-Interaktion muss sich der Migrant in seinem Anliegen angenommen und verstanden fühlen. ! Grundlegende Voraussetzung dafür ist die ausreichend gute sprachliche Verständigung. Bei unzureichenden Sprachkenntnissen ist eine Zuhilfenahme gut ausgebildeter Dolmetscher von großer Wichtigkeit. Dafür sind gut ausgebaute und organisierte Dolmetscherdienste erforderlich, die es in einigen Städten bereits gibt. Die Einstellung mehrsprachiger ethnopsychiatrisch-psychotherapeutisch orientierter oder auch muttersprachlicher Ärzte, Psychologen, Sozialpädagogen, Krankenpflegekräfte z. B. türkischer Herkunft, hat sich bewährt.
339 14.3 · Migration und seelische Gesundheit
Die medizinisch-psychologische Versorgung von Migranten sollte durch das bestehende Versorgungssystem unter Einschluss der niedergelassenen Fachärzte (Psychiater, Psychotherapeuten, Nervenärzte) und der sozial-
Die 12 Sonnenberger Leitlinien. (Nach Machleidt 2002) 1. Erleichterung des Zugangs zur psychiatrisch-psychotherapeutischen und allgemeinmedizinischen Regelversorgung durch Niederschwelligkeit, Kultursensitivität und Kulturkompetenz 2. Bildung multikultureller Behandlerteams aus allen in der Psychiatrie und Psychotherapie tätigen Berufsgruppen unter bevorzugter Einstellung von MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund und zusätzlicher Sprachkompetenz 3. Organisation und Einsatz psychologisch geschulter FachdolmetscherInnen als zertifizierte Übersetzer und Kulturmediatoren »Face-to-Face« oder als TelefondolmetscherInnen 4. Kooperation der Dienste der Regelversorgung im gemeindepsychiatrischen Verbund und der Allgemeinmediziner mit den Migrations-, Sozial- und sonstigen Fachdiensten sowie mit Schlüsselpersonen der unterschiedlichen Migrantengruppen, -organisationen und -verbänden. Spezielle Behandlungserfordernisse können Spezialeinrichtungen notwendig machen. 5. Beteiligung der Betroffenen und ihrer Angehörigen an der Planung und Ausgestaltung der versorgenden Institutionen
Sozialpsychiatrische Langzeitnachbetreuung von chronisch kranken Migranten Inwiefern gelingt die Integration von chronisch psychisch kranken Migranten in einen wichtigen Bereich des sozialpsychiatrischen Netzwerkes, nämlich den »Long-TermAfter-Care-Service« bzw. die Institutsambulanz? Dieses ist der kostenintensivste Bereich des Netzwerkes. In einer Vollerhebung im Pflichteinzugsgebiet der Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule in Hannover (etwa 65.000 Einwohner) wurde für die Jahre 1987–1996 die Langzeitbetreuung chronisch psychisch kranker Migranten und Einheimischer evaluiert (Elgeti et al. 2001; Machleidt 2001). Die Studie wurde retrospektiv anhand der Daten einer differenzierten Basisdokumentation an 313 chronisch psychisch Kranken durchgeführt. Einige der Ergebnisse sind im Folgenden aufgeführt:
psychiatrischen Beratungsstellen erfolgen. In den 12 Sonnenberger Leitlinien (s. nachfolgende Übersicht) ist die Programmatik guter Versorgung skizziert (Machleidt 2002).
6. Verbesserung der Informationen durch muttersprachliche Medien und Multiplikatoren über das regionale gemeindepsychiatrische klinische und ambulante Versorgungsangebot und über die niedergelassenen PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen sowie Allgemeinärztinnen/ärzte 7. Aus-, Fort- und Weiterbildung für in der Psychiatrie und Psychotherapie und in der Allgemeinmedizin tätige MitarbeiterInnen unterschiedlicher Berufsgruppen in transkultureller Psychiatrie und Psychotherapie unter Einschluss von Sprachfortbildungen 8. Entwicklung und Umsetzung familienbasierter primär und sekundär präventiver Strategien für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien 9. Unterstützung der Bildung von Selbsthilfegruppen mit oder ohne professionelle Begleitung 10. Sicherung der Qualitätsstandards für die Begutachtung von Migranten im Straf-, Zivil- (Asyl-) und Sozialrecht 11. Aufnahme der transkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie in die Curricula des Unterrichts für Studierende an Hochschulen 12. Initiierung von Forschungsprojekten zur seelischen Gesundheit von MigrantInnen und deren Behandlung
Merkmale der Nachsorge: Das Ersterkrankungsalter ist bei Migranten und Einheimischen gleich. Migranten sind bei Erstkontakt 5 Jahre jünger. Die Zeit von Ersterkrankung bis Erstkontakt in Langzeitbetreuung ist bei Migranten halb so lang wie bei Einheimischen (3 statt 6 Jahre). Die Schwere der chronischen psychischen Erkrankung bei Erstkontakt ist bei Migranten und Einheimischen gleich (psychosozialer Risikoscore 2,4; range 1–4). Die Behandlungsintensität ist bei Migranten und Einheimischen gleich hoch. Die Inanspruchnahme der Langzeitbetreuung ist bei Migranten durchschnittlich nur halb so hoch wie bei Einheimischen, jedoch mit zunehmendem Trend.
14
340
Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
Die Migranten dieses Untersuchungskollektivs lassen sich nach unseren Ergebnissen bei mittelschweren chronischen Erkrankungen schneller in das gemeindepsychiatrische Nachsorgesystem integrieren als deutsche Patienten. Dies ist ein überraschend positives Ergebnis. Die Behandlungsintensität der Migranten, d. h. der therapeutische Aufwand, ist bei Migranten und Deutschen gleich hoch, bei gleicher Schwere und Chronizität der psychischen Erkrankung. Gemessen wurde dies anhand eines von uns gebildeten psychosozialen Risikoscores. Dies ist ein wichtiges Ergebnis, da häufig berichtet wird, dass Migranten weniger und schlechtere therapeutische Leistungen erhalten als Einheimische. Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist, dass die Migranten in dem Gesamtkollektiv der Patienten zu etwa der Hälfte unterrepräsentiert sind. Also sucht etwa jeweils die Hälfte der Migranten die Langzeitnachsorge einer Institutsambulanz frühzeitig oder gar nicht auf. Wo bleibt die andere Hälfte der Migranten? Folgende Gründe können das Fernbleiben erklären: Schlechte Erfahrungen mit kommunalen Behörden. Die Institutsambulanz ist häufig an eine kommunale Institution, nämlich den Sozialpsychiatrischen Dienst, angegliedert. Die Somatisierung psychischer Konflikte führt zu Fehldiagnosen, und die Überweisung an psychiatrische Dienste durch Fachärzte unterbleibt. Einige Migranten haben prinzipielle aversive Einstellungen zu psychiatrischen Diensten und nehmen diese nur in Notfällen in Anspruch. Sprachbarriere. Migranten nehmen eigene kulturtypische Hilfesysteme in Anspruch wie z. B. traditionelle Heiler, die auch bei chronisch Kranken z. T. gute Erfolge aufweisen können.
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Die Gemeindepsychiatrie verfolgt die Strategie, die Integration von Migranten in das psychiatrische Versorgungssystem als einen Beitrag zur Integration von Mig-
ranten in die Gesellschaft zu begreifen und langfristig zu praktizieren. Das Hilfesuchverhalten von Migranten entwickelt sich in diese Richtung. Spezielle Institutionen für die ambulante und stationäre psychiatrische Versorgung von Migranten zu schaffen scheint – mit Ausnahme der Sinti und Roma – nicht sinnvoll, da diese eher deren Isolation statt deren gesellschaftliche Integration fördert.
Psychotherapeutische Behandlung Bei der psychotherapeutischen Behandlung sind gegensätzliche Einstellungen von Migranten und Therapeuten zu beachten, wie sie in ⊡ Tab. 14.4 aufgeführt sind. Im Gegensatz zur westlichen psychotherapeutischen Haltung und Methodik erwarten Migranten z. B. aus dem mediterranen Kulturraum von einem Therapeuten, der als hochkompetent gilt, eine klare Diagnose, eine Erläuterung der Ursachen und schnelle tätige Abhilfe. Migranten orientieren sich selbst eher an ihrer Familie und der ethnischen Gruppe, der sie sich zurechnen als an »sich selbst«. Die Arzt-Patient-Beziehung wird häufig als ein »familiär gefärbtes Autoritätsverhältnis« gestaltet. Wie ein Migrant seine Probleme darstellt, ist abhängig von seiner individuellen Bereitschaft, sich auf die psychologisierenden Konfliktmodelle der Gastkultur einzulassen. So wird man bei unterschiedlichen Migranten alle Übergänge finden zwischen einer »projektiven« Verlagerung subjektiver Probleme in den zwischenmenschlichen Bereich unter Verwendung magischer Kausalitäten, wie z. B. dem »bösen Blick«, bis hin zu einer introspektiven Konfliktbearbeitung. Die Gefahr einer ethnozentristischen Anwendung von Psychotherapie mit der Folge des Scheiterns ist besonders groß, wenn der Therapeut seine Methode nicht in transkulturell modifizierter Form zu handhaben versteht. Bei der Behandlung eines Migranten wäre ein aktiver »autoritativer« Stil häufig wirksamer, und seine kulturellen Überzeugungen und Glaubensinhalte sollten mit positiver Wertung in die Behandlung einbezogen werden.
⊡ Tab. 14.4. Gegensätzliche Einstellungen und Erwartungen von Migranten und Therapeuten (Aus Pfeiffer 1995) Patient (Migrant)
Therapeut
Befriedigung der Hilfebedürfnisse
Umgehende Hilfe durch die Autorität
Aufschieben, Mobilisieren des eigenen Potenzials
Beziehung zur Gruppe
Gruppe als Ort der Identität und Bewertung, Verhaltensregulierung durch Ansehen in der Gruppe
Autonomie, Selbstverantwortlichkeit, innerer Ort der Bewegung
Beziehung zum Therapeuten
Familiäres Autoritätsverhältnis
Sachliche oder kameradschaftliche Arbeitsbeziehung, »Übertragung«, personale Beziehung
Lokalisation von Problemen und Konflikten
Im äußeren Raum, besonders in den zwischenmenschlichen Beziehungen
In der eigenen Person, Introspektion
Verhältnis zum Körper
Erleben und Ausdruck körperbetont
Körper Ich-fern, beherrscht, ausdrucksarm
341 Literatur
Kulturübergreifende Wirkfaktoren von Psychotherapie Es stellt sich an dieser Stelle die Frage nach den gemeinsamen kulturübergreifenden Wirkfaktoren (»common factors«) bei den verschiedensten psychotherapeutischen Heilverfahren. Die Ergebnisse verschiedener europäischer und transkultureller Studien lassen die Identifikation der in der Übersicht zusammengestellten allgemeinen Wirkfaktoren zu (s. auch Frank 1961; Torrey 1972; Dittrich u. Scharfetter 1987; Grawe et al. 1995).
Wirkfaktoren einer allgemeinen Psychotherapie (Machleidt 2005) Aktivierung gesunder Persönlichkeitsanteile (Ressourcenaktivierung, Empowerment, Salutogenese) Erarbeitung von Problemlösungen (emotivkognitive Korrektive) Wiederbelebung der konfliktuösen Gefühle und Kognitionen (Konfliktaktualisierung, Konfrontation, Problemvergegenwärtigung) Analyse der emotionellen Dynamik im biographischen Zusammenhang (Motivklärung, Deutungen, Symbolverständnis)
Alle Verfahren also, die emotionelle Abläufe analysieren, wie die tiefenpsychologischen, und Verfahren, die Verhalten einüben und Kognitionen analysieren, müssten in Verknüpfung mit den jeweiligen kulturellen Kontexten transkulturell anwendbar sein, nicht zuletzt auch deshalb, weil basale Emotionen und damit assoziierte Handlungsmuster und Kognitionen transkulturell universell in allen Menschen angelegt sind.
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Kapitel 14 · Transkulturelle Aspekte psychischer Erkrankungen
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14
15 15 Methodik empirischer Forschung H.-J. Möller
15.1
Einleitung
– 346
Realwissenschaftliche Methoden empirischer Wissenschaften – 347 15.2.1 Logische Struktur der Erklärung – 347 15.2.2 Falsifikationsprinzip – 347 15.2.3 Beobachtbarkeit von Phänomenen – 348
15.3.3 Deskriptive Psychopathologie – 351 15.3.4 Psychiatrische Therapieforschung – 352
15.2
15.3
Realwissenschaftlich orientierte Bereiche der Psychiatrie – 350 15.3.1 Hypothesenfindung und Hypothesenprüfung – 350 15.3.2 Psychiatrische Diagnostik – 351
15.4
Empirische Psychiatrie am Beispiel der Therapieforschung – 353 15.4.1 Evaluation psychopharmakologischer Therapieverfahren – 354 15.4.2 Evaluation psychotherapeutischer Verfahren – 359 Literatur
– 365
> > Durch den Bezug der Medizin auf moderne Naturwissenschaften einerseits und andererseits die Schwierigkeit, Geistig-Seelisches objektiv zu beobachten, quantitativ zu messen und experimentell zu manipulieren, befindet sich die Psychiatrie im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Diese Spannung spiegelt sich in der Diskussion um angemessene Methoden wieder. Insbesondere die polaren Gegensätze von empirischer (realwissenschaftlicher) und existenzwissenschaftlicher (hermeneutischer) Methodik stehen dabei im Zentrum. Realwissenschaften versuchen, allgemeine Gesetzesaussagen über die erfahrbare Realität zu formulieren. In der Psychiatrie werden realwissenschaftliche Methoden v. a. in der biologischen Psychiatrie, der klinischen Psychopharmakologie, aber auch in anderen Bereichen zur Hypothesenfindung und Hypothesenprüfung, im Bereich der psychiatrischen Diagnostik, Psychopathologie und Therapieforschung verwandt.
346
Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
15.1
Einleitung
Die Psychiatrie als klinische Disziplin, die sich mit geistigseelischen Störungen, d. h. mit als krankhaft geltenden aktuellen Störungen und habituellen Normabweichungen des Erlebens und Verhaltens befasst, hat wie alle klinischen Disziplinen ein janusköpfiges Gesicht. Einerseits ist sie auf die Praxis im Sinne helfenden Handelns gerichtet, andererseits auf Erkenntnis, auf ein geistiges Durchdringen dessen, worauf die Praxis abzielt. Dadurch schafft sie zugleich bessere Voraussetzungen für die praktische, d. h. die diagnostische, therapeutische, rehabilitative und prophylaktische Tätigkeit des Arztes (Möller 1976; Möller u. von Zerssen 1982, 1983).
Spannungsfeld zwischen Naturund Geisteswissenschaften
15
Kaum jemand bezweifelt, dass das Eindringen der modernen Naturwissenschaften in die Medizin deren Fortschritt so beschleunigt hat, dass sich der heutige Stand von dem vor etwa 150 Jahren stärker unterscheidet als der damalige von dem der antiken Medizin. In der Psychiatrie scheint der Fortschritt nicht ganz so dramatisch, und die Rolle der »naturwissenschaftlichen Methode« der Erkenntnisgewinnung bleibt für viele immer noch umstritten. Kritische Stimmen betonen in diesem Zusammenhang, dass Geistig-Seelisches nicht in gleicher Weise wie Körperliches oder Materielles objektiv beobachtbar, quantitativ messbar und experimentell manipulierbar sei. Gern wird deshalb der Psychiatrie von manchen Autoren ein Platz in der Nähe der Geisteswissenschaften zugewiesen und die von anderen wie selbstverständlich geforderte Position im Bereich der naturwissenschaftlichen Medizin zurückgewiesen. Je nach Zeitgeist schlägt das Pendel mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung. Es sei auf die Bedeutung daseinsanalytischen Gedankenguts in der Psychiatrie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sowie an das derzeitige Vorherrschen der biologischen Position hingewiesen. Der Widerspruch zwischen beiden Richtungen wurde bis heute nicht aufgelöst. Er gilt für viele als typisches Spannungsfeld der Psychiatrie, als ein charakteristisches Merkmal dieses Faches. Von einigen wird der Spannungsbogen zwischen geistes- und naturwissenschaftlicher Methodik als so essenziell für das Fach angesehen, dass jedes stärkere Abweichen in die eine oder andere Richtung als Entfremdung vom Fach kritisiert wird. Polarisierung der Methodendiskussion. Die hier skiz-
zierte prinzipielle Antinomie tritt in verschiedenen Schattierungen und unter verschiedenen Namen auf, letztlich geht es immer um die gleiche Polarisierung. Deshalb seien schlagwortartig weitere in diesen Zusammenhang gehörige Gegensatzpaare erwähnt:
biografisch-ideografische Orientierung vs. nach allgemeinen Gesetzlichkeiten suchender Forschungsansatz, verstehend-hermeneutische vs. erklärend-nomothetische (nach Gesetzesaussagen strebende) Methodik, rein spekulative (gedanklich konstruierende) vs. empirisch-induktive Erkenntnisgewinnung, geschichtliche vs. realwissenschaftliche Position, ganzheitliche Sichtweise vs. analytisch-reduktionistisches Vorgehen. Diese schwer zu vereinbarenden, antagonistischen Positionen zu grundsätzlichen Methodenfragen betreffen nicht nur die Psychiatrie, sondern lassen sich ebenso in anderen Fächern, die sich mit psychosozialen Sachverhalten beschäftigen, finden. Die Methodendiskussion in der Psychologie, Soziologie und Psychotherapie macht das deutlich. So stellt sich die lerntheoretisch fundierte Psychotherapie in der Regel als empirisch orientiert dar, die Psychoanalyse hingegen wird von vielen exponierten Vertretern als hermeneutische Wissenschaft bezeichnet. Andererseits gibt es innerhalb der psychoanalytischen Methodendiskussion Debatten darüber, ob nicht die psychoanalytische Wissenschaft eher einen empirischen Ansatz habe und als hermeneutische Richtung inadäquat charakterisiert sei (Möller 1978). Methodenkombination. Von einigen Autoren wird als
Idealweg eine Kombination von nomothetischer und idiografischer Methodik vorgeschlagen, wie sie Klinikern im praktischen Alltag als besonders einleuchtend erscheint: Während sich diagnostische Abklärung, Prognose und Therapie grundsätzlich auf allgemeine Gesetzlichkeiten beziehen, wird ergänzend den Besonderheiten des Einzelfalls in seinen historischen und aktuellen Gegebenheiten Rechnung getragen und so zur individuumsadaptierten Modifikation der unterstellten allgemeinen Regelhaftigkeiten beigetragen. Diese Auffassung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in dieser methodologischen Variante die Notwendigkeit allgemeiner Gesetzesaussagen befürwortet wird. Es sei noch betont, dass es allgemeine Regelhaftigkeiten nicht nur im naturwissenschaftlichen Bereich gibt, sondern auch in psychologischen und soziologischen Gebieten, deren Phänomenbereich wegen der unterstellten Immaterialität gern der geisteswissenschaftlichen Betrachtungsweise zugeordnet wird. Auch können Gesetzmäßigkeiten nicht nur im Rahmen streng experimenteller Untersuchungsansätze im Sinne der Naturwissenschaften, sondern auch unter anderen Voraussetzungen erkannt werden, wie z. B. die Lernpsychologie zeigt.
347 15.2 · Realwissenschaftliche Methoden empirischer Wissenschaften
15.2
Realwissenschaftliche Methoden empirischer Wissenschaften
Mit den grundsätzlichen Methodenfragen der empirischen Wissenschaften bzw. Realwissenschaften hat sich insbesondere die analytische Wissenschaftstheorie beschäftigt. Sie basiert v. a. auf den Grundpositionen des Neorationalismus (z. B. Popper) und Neopositivismus (z. B. Carnap), die sich in einer wechselseitig korrigierenden und komplementären Weise vermischt haben. Im Folgenden wird nicht von empirischer Wissenschaft, sondern von Realwissenschaften gesprochen. Entsprechend der modernen analytischen Wissenschaftstheorie werden mit diesem Begriff Wissenschaften bezeichnet, denen es um Aussagen über die erfahrbare Realität geht, und zwar um Aussagen im Sinne allgemeiner Gesetzesaussagen und darauf basierenden Erklärungen von Einzelphänomenen (Möller 1976). ! Ziel der Realwissenschaften ist es, Einzelaussagen durch Bezugnahme auf allgemeine Gesetzesaussagen, indem ein Ereignis A mit einem Ereignis B verknüpft wird, zu erklären bzw. zu prognostizieren. Diese Gesetzesaussagen können als generelle (für jedes A trifft B zu) oder als statistische Aussagen (für A trifft in 70% der Fälle B zu) formuliert werden. Durch Kenntnisse allgemeiner Gesetzesaussagen lässt sich wirkungsvoll auf die untersuchten Phänomene Einfluss nehmen, wenn durch experimentelle oder quasiexperimentelle Untersuchungen geklärt worden ist, dass die Gesetzesaussage eine kausale Beziehung und nicht nur eine indikatorische Relation formuliert.
15.2.1
Logische Struktur der Erklärung
Die Struktur der Erklärung, gleichzeitig auch die Struktur der Prognose, steht im Zentrum realwissenschaftlicher Methodik. Die logisch adäquate Erklärungsform wurde im Hempel-Oppenheim-Schema der Erklärung dargestellt:
Beispiel Beispiel 1: Logische Struktur der Erklärung (HO-Schema) Gesetzesaussage (G): Alle M haben die Eigenschaft D. Antezedens (A): K ist ein M. Schlussfolgerung: K hat die Eigenschaft D.
Andere Formen der Argumentation, z. B. zirkuläre Argumentationsformen (Beispiel 2), werden damit ausdrücklich als nicht adäquat verworfen.
Beispiel Beispiel 2: Zirkuläre Argumentationsform Jemand fragt: Warum blitzt es? Ein anderer antwortet: Weil Zeus zornig ist. Der erste fragt: Woher weißt du, dass Zeus zornig ist? Der andere antwortet: Siehst du nicht, dass es blitzt!
Es lässt sich zeigen, dass nicht nur naturwissenschaftliche Erklärungen, sondern auch psychologische Argumentationen dem Hempel-Oppenheim-Schema folgen.
Beispiel Beispiel 3: Psychologisches Erklärungsargument G: Menschen, die eine strenge Erziehung durchgemacht haben, sind intoleranter und ängstlicher als andere. A: Hans wurde streng erzogen. Schlussfolgerung: Hans ist ängstlicher und intoleranter als andere.
Auch das Verstehen, dem seit Dilthey und Jaspers eine methodische Sonderstellung zugeschrieben wird, folgt dieser logischen Argumentationsstruktur (s. Beispiel 4). Dabei muss als methodische Besonderheit anerkannt werden, dass die Qualität der dann verwendeten Gesetzesaussagen eine andere ist (z. B. subjektive Erfahrungen bezüglich des eigenen Erlebens/Verhaltens bzw. aus der eigenen Lebenserfahrung gewonnene Aussagen über das Erleben/Verhalten anderer Menschen).
Beispiel Beispiel 4: Verstehen als Erklären G: Wenn immer ich in der Situation S bin, dann fühle, denke, tue ich R. A1: K ist in der Situation S. A2: Gesetzt den Fall, ich sei K (identifizierendes Gedankenexperiment). Schlussfolgerung: Ich fühle, denke, tue R in der Situation S.
15.2.2
Falsifikationsprinzip
Einen besonderen Stellenwert in den Realwissenschaften nimmt nach Popper (1969) das Falsifikationsprinzip ein. Es besagt, dass realwissenschaftliche Gesetzesaussagen so formuliert werden sollten, dass sie prinzipiell falsifizierbar sind. Beim Falsifikationsprinzip handelt es sich um einen zentralen Pfeiler realwissenschaftlicher Methodologie. Es grenzt sich damit von einem naiven Empirismus, der im reinen Induktionsprinzip die Basis empirischer
15
348
Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
Wissenschaftlichkeit sieht, und von metaphysischen Aussagen nichtrealwissenschaftlicher Disziplinen ab. Es soll versucht werden, durch exemplarische Darstellung zu verdeutlichen, warum dieses Postulat so wichtig ist und wie leicht dagegen verstoßen werden kann. Aussagen, die nicht dem Postulat der Falsifizierbarkeit entsprächen, wären im Extremfall tautologische Aussagen (s. Beispiel 5). Sie machen keine Aussagen über die Realität und widersprechen damit der grundsätzlichen Zielsetzung einer Realwissenschaft.
Beispiel Beispiel 5: Tautologische Aussage Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder bleibt, wie es ist.
Popper hat sich intensiv damit beschäftigt, wie Gesetzesaussagen formuliert sein müssen, damit sie prinzipiell falsifizierbar sind, bzw. mit der Frage, wie man die Falsifizierbarkeit einer Aussage verhindern kann. Im Wesentlichen geht es bei der Verhinderung von Falsifizierbarkeit um die folgenden Aspekte: Formulierung tautologischer Aussagen. Tautologische
Aussagen besitzen per definitionem keinen empirischen Gehalt. Tautologisch werden Gesetzesaussagen z. B., wenn jede mögliche in einem theoretischen Bezugssystem beschreibbare Realität als Ursache einer bestimmten Krankheit beschrieben wird (s. Beispiel 5). Unpräzise Terminologie. Begriffliche Unschärfen und In-
15
konsistenzen geben die Möglichkeit, Falsifizierungen zu entgehen, indem man jeweils betont, dass die in der überprüften Theorie vorkommenden Begriffe falsch interpretiert worden seien. Unpräzise Terminologie kann so weit gehen, dass gänzlich Heterogenes unter einen Begriff subsumiert wird.
15.2.3
Beobachtbarkeit von Phänomenen
Basissätze Gesetzesaussagen entstehen auf der Basis von Einzelbeobachtungen über die Realität bzw. Einzelbeobachtungen über den untersuchten Phänomenbereich, die in sog. Basis- oder Protokollsätzen beschrieben werden. An diese Basissätze sind verschiedene Forderungen zu stellen, mit denen sich insbesondere der Neopositivismus beschäftigt hat (Carnap 1966). Diese auf den ersten Blick für die meisten wahrscheinlich plausiblen Kriterien klingen einfach; ihre Beachtung oder Nichtbeachtung hat aber eine große Relevanz. Basissätze müssen folgende Bedingungen erfüllen: Beschreibung singulärer Phänomene, Beschreibung intersubjektiv prüfbarer Phänomene, Beschreibung autochthoner Phänomene. Singulär beobachtbares Ereignis. Basissätze beschreiben
jeweils ein singuläres beobachtbares Ereignis und sollten dabei möglichst exakt die relevanten Bedingungen, z. B. eines Experiments, wiedergeben: Alle Beobachtungsaussagen sollen präzise und in der jeweiligen Wissenschaftssprache formuliert werden, damit den Fachkollegen unmissverständlich mitgeteilt wird, welcher Sachverhalt vorliegt. Wegen der Forderung nach protokollarischer Exaktheit, die bisweilen (z. B. von Anhängern des Wiener Kreises) übertrieben wurde, wurden diese Aussagen auch als »Protokollsätze« bezeichnet. Intersubjektive Nachprüfbarkeit. Die in den Basissätzen
beschriebenen Phänomene sollen intersubjektiv nachprüfbar sein: Es muss unter verschiedenen, in der betreffenden Fachdisziplin ausgebildeten Wissenschaftlern Einigkeit darüber erzielt werden können, ob das betreffende Phänomen vorhanden ist oder nicht. Es ist klar, dass dieses Methodenideal um so eher erreicht werden kann, je einfacher die Beobachtungstechnik ist. Beschreibung autochthoner Phänomene. Die in den Ba-
Mangelnde empirische Signifikanz theoretischer Begriffe.
Die Verwendung theoretischer Begriffe (s. unten), die nicht durch Zuordnungsregeln mit der Beobachtungsebene verknüpft sind und somit keine empirische Signifikanz haben, macht Aussagen unfalsifizierbar. Verwendung immunisierender Ad-hoc-Hypothesen. Eine
Gesetzesaussage wird nach Erhebung falsifizierender empirischer Daten durch Zusatzargumente so modifiziert, dass die Falsifizierung dadurch aufgehoben und ggf. eine Falsifizierung des gesamten Aussagenkomplexes unmöglich gemacht wird.
sissätzen beschriebenen Phänomene sollen autochthon sein: Das beschriebene Phänomen soll durch eine Beobachtungsmethodik gefunden werden, die gewährleistet, dass es nicht durch den Untersucher in den untersuchten Ausschnitt der Wirklichkeit hineingetragen wurde. Bereits bei der Untersuchung im physikalischen Bereich kann diese Forderung nicht vollkommen erfüllt werden, noch weniger im Humanbereich. Das bedeutet aber nicht, dass man auf sie verzichten könnte. Sie beschreibt, wie so viele Aussagen der Wissenschaftstheorie, ein Methodenideal, dem man sich so weit es geht annähern sollte.
Beobachtungsbegriff vs. theoretischer Begriff Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Unterscheidung zwischen Beobachtungsbegriffen und theoretischen Begrif-
349 15.2 · Realwissenschaftliche Methoden empirischer Wissenschaften
fen (Konstrukten). Diese Unterscheidung entstand aus dem Widerstreit zwischen empiristischen und rationalistischen Auffassungen der Wissenschaftssprache. Es zeigte sich, dass auch eine Realwissenschaft nicht nur mit Beobachtungsbegriffen – also Begriffen, die sich auf direkt Beobachtbares beziehen – auskommt, sondern dass sie zusätzlich sog. Dispositionsbegriffe bzw. theoretische Begriffe (Konstrukte) verwenden muss. Diese Konstrukte können nur indirekt durch Bezugnahme auf beobachtbare Phänomene bzw. durch Beobachtungsbegriffe und theoretische Begriffe im Rahmen einer Theorie definiert werden (⊡ Abb. 15.1). Je mehr diese empirische Verankerung reduziert wird, desto größer wird die Gefahr, dass der Bezug zur Realität nur noch gering ist bzw. überhaupt keine Aussage über die Realität mehr gemacht werden kann. Eine Theorie, in der wichtige theoretische Begriffe nicht mehr direkt oder indirekt über andere theoretische Begriffe auf Beobachtungsbegriffe zurückgeführt werden
können, ist eine metaphysische Theorie, die per definitionem nicht mehr den Anspruch empirischer Wissenschaftlichkeit erfüllt (und aus der Sicht einer metaphysischen Disziplin auch gar nicht erfüllen muss!). In diesem Zusammenhang ist auf das Verhältnis von Theorie und Beobachtung einzugehen. Ein naiver Empirismus, der nur von der Beobachtung des zu untersuchenden Phänomenbereichs ausgeht, erscheint unangemessen. Statt dessen ist nach heutiger Auffassung eine wechselseitige Verschränkung von Theorie und Beobachtung zu unterstellen, d. h. dass fast jede wissenschaftliche Beobachtung in irgendeiner Weise hypothesengesteuert ist, u. a. im Sinne einer Fokussierung auf Phänomenbereiche, die im Rahmen einer Hypothese oder Theorie von Relevanz sind, und unter Ausschluss anderer Bereiche (⊡ Abb. 15.2). So wird durch hypothesengeleitete Beobachtungen die Hypothese bzw. Theorie weiter ausgebaut und führt dann zu anderen theoriebezogenen Beobach-
⊡ Abb. 15.1. Beziehungen zwischen theoretischen Begriffen und Beobachtungsbegriffen
A
⊡ Abb. 15.2. Beziehung zwischen Theorieebene und Beobachtungsebene
15
350
Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
tungen. Dabei muss die Gefahr einer völligen Zirkularität zwischen Theorie und Erfahrung vermieden werden. Eine solche läge vor, wenn nur noch Sachverhalte beobachtet werden, die die Theorie bestätigen können, während alle anderen Sachverhalte ausgeblendet werden. Weitere Aspekte realwissenschaftlicher Methodik beziehen sich auf die axiomatische Struktur von wissenschaftlichen Theorien und die Differenzierung der Wertigkeit von unterschiedlichen Theorien zum gleichen Phänomenbereich.
15.3
Realwissenschaftlich orientierte Bereiche der Psychiatrie
In der wissenschaftlichen Psychiatrie gibt es große Bereiche, die sich den dargestellten realwissenschaftlichen Methodenidealen verpflichtet fühlen. Selbst dort, wo sich die Psychiatrie ausdrücklich als empirische Wissenschaft versteht, gibt es aber Regelverstöße gegen die oben genannten methodischen Grundprinzipien realwissenschaftlicher Methodologie. Das ist nicht verwunderlich, da ja diese wissenschaftstheoretischen Ansätze nur ein methodisches Normenideal darstellen, das in der Realität der Forschung auch in anderen Fächern aus verschiedenen Gründen nicht voll erfüllt wird (Möller 1976). Biologische Psychiatrie. Besonders nahe liegt die empi-
rische Forschungsorientierung in der biologischen Psychiatrie, wo sie gewissermaßen »in der Natur der Sache« liegt, also in der Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden in der Erforschung und Beeinflussung psychischer Störungen. Das gilt nicht nur für die Grundlagenforschung, sondern auch für die klinisch orientierte biologische Psychiatrie bzw. Psychopharmakologie (Möller 1976; Möller u. Benkert 1980). Man denke hier z. B. an die faszinierenden Entwicklungen der psychiatrischen Genetik (Maier et al. 2006).
15
Multifaktorielle Krankheitsmodelle. Eine realwissen-
schaftliche Psychiatrie kann und muss nicht nur biologische Faktoren, sondern auch psychologische und soziologische Faktoren einbeziehen, z. B. im Sinne eines multifaktoriellen Krankheitsmodells. In diesem Zusammenhang sei z. B. auf die Forschung über die ätiopathogenetische Bedeutung von »life events« für die Depression (Paykel 1976, 1978, 1994, 2003) und über die Relevanz von »high expressed emotion« für die Schizophrenie (Vaughn u. Leff 1976; Leff u. Vaughn 1980) hingewiesen. Klinische Psychopharmakologie. Beispiel 6, das hier paradigmatisch für derartige Ansätze steht, ist dem Bereich der klinischen Pharmakologie entnommen. Es soll darauf hinweisen, dass in der klinischen Psychopharmakologie nicht nur Wirksamkeits- und Verträglichkeitsaspekte un-
tersucht werden können, sondern auch darüber hinausgehende theoretische Aspekte (Emrich et al. 1979; Möller et al. 1979).
Beispiel Beispiel 6: Experimente zur Prüfung der Hypothese: β-adrenerge Rezeptorblockade wirkt antimanisch Experiment 1: Racemat d/l-Propranolol (β-Blocker) wirkt antimanisch. Experiment 2: Isomer d-Propranolol (kein β-Blocker) wirkt antimanisch. Schlussfolgerung: Die β-Blockade ist kein relevantes antimanisches Wirkprinzip.
15.3.1
Hypothesenfindung und Hypothesenprüfung
Es ist wichtig, zwischen der Ebene der Hypothesenfindung und der Ebene der Hypothesenprüfung zu unterscheiden. Während die Hypothesenfindung ein kreativer Akt auf der Basis bisheriger Befunde ist, der keine wesentlichen methodischen Einengungen erfährt und somit z. B. auf rein klinisch-intuitiver Basis stattfinden kann, muss die Hypothesenprüfung verschiedenen Regeln empirischer Wissenschaftlichkeit folgen. Dazu gehören u. a. eine adäquate exakte Formulierung der Hypothese, Zusammenstellung der Stichproben, Beschreibung des Phänomenbereichs, Einbeziehung aller relevanten Parameter, Stichprobengröße, statistische Testmethodik. Die Nichtbeachtung dieser Kriterien kann zu massiven Fehlschlüssen führen. Lange Zeit wurde z. B. das Problem des β-Fehlers – also das Nichterkennen eines an sich vorhandenen Unterschieds zwischen 2 Gruppen – in der klinischen Psychopharmakologie bei Prüfungen von neuen Antidepressiva im Vergleich zu Standardantidepressiva nicht ausreichend beachtet und vorschnell auf die Gleichheit der therapeutischen Wirksamkeit neuer Substanzen geschlossen.
Bestätigung einer Hypothese Erst wenn sich eine Hypothese der Hypothesenprüfung unterzogen hat und die empirischen Befunde mit der Hypothese übereinstimmen, kann sie als vorläufig bestätigt angesehen werden. Der Grad der empirischen Bestätigung wächst mit weiteren Bewährungen im Rahmen von Hypothesenprüfungen durch andere Untersucher. Dieser methodische Ansatz hat in der psychiatrischen Forschung immer mehr Eingang gefunden, und zwar nicht nur in
351 15.3 · Realwissenschaftlich orientierte Bereiche der Psychiatrie
den naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern der Psychiatrie, sondern auch im Bereich der klinischen Forschung. Ein interessantes Beispiel hierfür sind die Untersuchungen zum Dexamethason-Suppressionstest (DST). Es wurde die Hypothese aufgestellt, auf der Basis des DST könne zwischen endogenen und nichtendogenen Depressionen unterschieden werden. Diese Hypothese schien sich zunächst zu bewähren. Viele Untersucher hatten aber nicht ausreichend die verschiedenen Einflussgrößen, die z. T. mit der endogenen Depression assoziiert sind, berücksichtigt. Als im weiteren Verlauf bessere Experimente unter Berücksichtigung dieser Aspekte durchgeführt wurden, zeigte sich, dass der DST nicht geeignet ist, zwischen endogenen und nichtendogenen Depressionen zu unterscheiden und dass er überhaupt unter Krankheitsaspekten weitgehend unspezifisch ist, also z. B. auch bei Schizophrenen, Manikern und Dementen pathologisch ausfallen kann (Berger u. Klein 1984; Greden et al. 1983; Möller et al. 1986).
Grenzen der experimentellen Überprüfung Die komplexen Interaktionen, die z. B. für neuronale Vorgänge kennzeichnend sind, setzen der Analyse durch experimentelle Anordnungen Grenzen. Gleichzeitig sind Tiermodelle oft nur sehr eingeschränkt auf den zu untersuchenden Sachverhalt (z. B. Schizophrenien, Depressionen) beim Menschen zu übertragen, und experimentelle Untersuchungen am Menschen sind aus grundsätzlichen und ethisch-rechtlichen Gründen bei vielen Fragestellungen nicht durchführbar. So verwundert es nicht, dass zentrale Theorien wie die Dopaminhypothese der Schizophrenien oder die Noradrenalin- bzw. Serotoninhypothese der Depressionen (Ackenheil et al. 1978; Davis et al. 1991; Häfner 1978) weiterleben und dass verschiedene Subtheorien dazu entwickelt wurden, obwohl es eine Fülle widersprüchlicher Befunde gibt. Selbst in der biologischen Psychiatrie und Psychopharmakologie, die der empirischen Methodologie verpflichtet sind, sind Regelverstöße beobachtbar, z. B. Oft wird bei der Hypothesengenerierung stehengeblieben und die entscheidende Hypothesenprüfung bleibt aus. Im Rahmen der Hypothesenprüfung werden falsifizierende Schlussfolgerungen umgangen, indem z. B. nachträglich andere als die ursprünglich festgelegten statistischen Verfahren eingesetzt werden. Selbst wenn eine Reihe von Befunden aus verschiedenen Experimenten die Falsifizierung einer Hypothese oder Theorie nahelegt, wird manchmal versucht, diese Falsifikation durch immunisierende Ad-hocHypothesen zu verhindern. Die Tendenz dazu scheint mit der hierarchischen Stellung einer Hypothese im Rahmen einer Theorie zuzunehmen.
15.3.2
Psychiatrische Diagnostik
In der psychiatrischen Diagnostik setzt sich die realwissenschaftliche Orientierung immer mehr durch. Ansätze, die primär aus der empirischen Psychologie kommen, werden zunehmend einbezogen, um die beobachtbaren Merkmale aktueller oder habitueller psychopathologischer Phänomene exakter erfassen bzw. beschreiben zu können. Insbesondere sind hier alle Versuche um eine Vereinheitlichung und Präzisierung der diagnostischen Terminologie und die Entwicklung von an der psychologischen Testmethodik orientierten psychopathometrischen Methoden zu nennen. Wichtiger Bestandteil dieser Methodik sind die testtheoretischen Gütekriterien: Objektivität, Reliabilität, Validität, Normierung. Diese Ansätze bieten neben einer validen und v. a. reliablen Erfassung gleichzeitig auch die Möglichkeit der Quantifizierung und damit die einer anspruchsvollen statistischen Analyse. Sie führen dadurch über die Möglichkeiten der klassischen deskriptiven Psychopathologie weit hinaus. Hier sind z. B. die standardisierte Befunderhebung und die Persönlichkeitsdiagnostik mit Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen, die systematische Verhaltensbeobachtung und die Testung kognitiver Fähigkeiten zu nennen (Möller 1989, 1991; von Zerssen 1979).
15.3.3
Deskriptive Psychopathologie
Ein großer Schatz der deutschen Psychiatrietradition ist sicherlich die deskriptive Psychopathologie. Ihr gelang es, mit hoher Subtilität der Beobachtung und großer Differenziertheit der Terminologie den Phänomenbereich zu erfassen. Dabei wurde allerdings den für dieses Beobachtungsfeld – wie überhaupt für jegliche Verhaltensbeobachtung – charakteristischen Reliabilitätsproblemen und Wahrnehmungsverzerrungen nicht ausreichend Rechnung getragen. Systematische Verfälschungen der Beobachtung entstehen durch: Rosenthal-Effekt: von der Erwartungshaltung abhängige Verfälschung, Halo-Effekt: vom Gesamteindruck abhängige Verfälschung, logischer Fehler: theorieabhängige Tendenz zur Verfälschung, Über- oder Unterbewertung von Störungsgraden. Das im Zuge standardisierter Beurteilungsverfahren zum psychopathologischen Befund geschaffene AMDP-System, das von der klassischen deskriptiven Psychopatho-
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352
Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
logie ausging, hat im Rahmen seiner Entwicklung gezeigt, wie schwer es ist, traditionelle Symptombegriffe der deskriptiven Psychopathologie in ausreichender Weise zu operationalisieren und die mit diesen Begriffen beschriebenen psychopathologischen Phänomene ausreichend reliabel zu erfassen (Baumann u. Stieglitz 1983). Die Konsequenz aus diesen Standardisierungsbemühungen war, dass eine große Zahl von Symptomen der traditionellen Psychopathologie den Standardisierungsbemühungen geopfert werden musste, da es trotz entsprechenden Beobachtertrainings nicht gelang, für diese Symptome eine ausreichend hohe Interbeobachterreliabilität zu gewährleisten. Interessant sind in dem Zusammenhang die Ergebnisse der multivariaten Dimensionsanalysen von standardisiert erhobenen Daten über den psychopathologischen Befund (Mombour 1972). Sie zeigen u. a., dass Fremdund Selbstbeurteilung psychopathologischer Phänomene nicht kongruent sind, da offensichtlich die Selbstbeurteilung unter verschiedenen Aspekten eingeschränkt und weniger differenziert ist. Auch unterliegen Fremd- und Selbstbeurteilung, wie sich zeigte, unterschiedlichen Verfälschungstendenzen (von Zerssen 1979, 1986). Schulabhängige Konstrukte. Die verschiedenen Krank-
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heitsbeschreibungen in der Psychiatrie sind als theoretische Konstrukte aufzufassen, die durch unterschiedliche Zuordnungsregeln mit der beobachtbaren Realität zu verbinden sind. Unterschiedliche Schultraditionen haben zu unterschiedlichen Krankheitsbeschreibungen geführt und damit in erheblichem Maße zu einer diagnostischen Verwirrung beigetragen. So existieren in der Psychiatrietradition des 20. Jahrhunderts mehrere verschiedene Schizophreniebegriffe nebeneinander. Unter dem Aspekt, dass es sich dabei um schulabhängige Konstruktdefinitionen handelt, war von vornherein nicht zu erwarten, dass daraus ein einheitlicher Schizophreniebegriff werden könnte. Jedes der Diagnosesysteme operationalisiert die jeweilige Krankheit durch z. T. unterschiedliche Kriterien, entsprechend den jeweiligen konzeptuellen Vorstellungen. Weil man im wissenschaftlichen Bereich auf keine dieser speziellen Konzeptualisierungen verzichten wollte, erschien die Polydiagnostik (Katschnig u. Simhandl 1987) als der einzige Ausweg, wobei sich die Validität der einzelnen diagnostischen Konzepte im Rahmen weiterer empirischer Untersuchungen erweisen soll. Operationalisierung. Die im letzten Jahrzehnt durch die Festlegung von klar definierten Ein- und Ausschlusskriterien zunehmend eingeführte Operationalisierung psychiatrischer Krankheitsbegriffe stellt die Basis für eine reliable Krankheitsdiagnostik dar. Sie bedeutet einen wichtigen Fortschritt gegenüber den bisherigen diagnostischen Traditionen, bei denen der Einzelfall einem nur vage beschriebenen Krankheitsbild zugeordnet wurde.
Operationalisierung der nosologischen Diagnostik bedeutet, dass für jede Erkrankung ein Kriterienkatalog festgelegt wird, nach dem zu entscheiden ist, ob ein bestimmter Patient die Erkrankung hat oder nicht. Das geschieht nach dem folgenden Prinzip: Die Krankheit kann diagnostiziert werden, wenn die Symptome A, B und C, nicht aber D und E vorliegen. Das amerikanische psychiatrische Diagnosesystem (DSM-III, DSM-IV) und das international verbindliche ICD-10-System haben sich im Sinne eines Konsens auf bestimmte Operationalisierungen der einzelnen Krankheitsbilder beschränkt, wobei ungünstigerweise die Definitionen in den einander entsprechenden Kategorien nicht deckungsgleich sind (Möller 1998). Im Hinblick auf die Validität wäre es besser gewesen, auf der Basis polydiagnostischer Untersuchungsansätze zunächst – unter Einbeziehung biologischer und psychosozialer Parameter – weitere querschnitt- und längsschnittbezogene Validitätsstudien durchzuführen, um dann das optimale Diagnosesystem empirisch zu entwickeln. Immerhin ist als großer Fortschritt zu bewerten, dass es durch die Operationalisierungen der diagnostischen Begriffe in diesen neuen Diagnosesystemen zu einem Reliabilitätszuwachs in der alltäglichen Diagnostik gekommen ist. Diese Entwicklung ist u. a. die Basis für die sich derzeit in einer besonders günstigen Phase befindende psychiatrische Epidemiologie. Allerdings hat der notwendige Konsens gerade in der durch ein internationales Expertengremium entwickelten ICD-10 unter Validitätsaspekten zu z. T. willkürlich anmutenden Lösungen geführt, die auf der Basis weiterer Forschung und Diskussion sicherlich erheblich verbesserungswürdig sind.
15.3.4
Psychiatrische Therapieforschung
Pharmakotherapie. Für die psychiatrische Therapiefor-
schung liegt das Schwergewicht empirischer Ansätze in der zur biologischen Psychiatrie zählenden Pharmakotherapie. Gerade sie hat der Anwendung objektivierender Untersuchungsverfahren und statistischer Analysemethoden in der Psychiatrie zum Durchbruch verholfen (Möller u. Benkert 1980). Trotzdem lassen sich auch hier prinzipielle methodische Schwierigkeiten feststellen, so z. B. die über lange Zeit unzureichende Beachtung oder Nichtbeachtung der β-Fehler-Problematik bei der Prüfung neuer antidepressiv wirkender Substanzen im Vergleich zu Standardantidepressiva (Möller u. Haug 1988; Woggon u. Angst 1978). Neben optimaler Designplanung der Einzelstudien im Sinne ausreichender statistischer »power« (adäquate Stichprobengröße, reliable Messinstrumente, Reduzierung von störenden Einflussgrößen) kann die statistische Metaanalyse der Ergebnisse aller Studien diese Problematik lösen helfen (Schöchlin et al. 2002). Vermehrt wird aber die plazebokontrollierte Prü-
353 15.4 · Empirische Psychiatrie am Beispiel der Therapieforschung
fung als wesentlicher Wirksamkeitsnachweises gefordert (Fritze u. Möller 2001). Psychotherapie. Im Bereich der Psychotherapie hat die psychoanalytische Therapie mit ihrem Überhang von theoretischem/spekulativem Überbau (Metatheorie) und dem dezidierten Widerstand vieler ihrer Vertreter gegen kontrollierte Wirksamkeitsprüfungen lange Zeit ein Refugium für eine nicht ausreichend empirische Forschung dargestellt. Insbesondere durch die Verhaltenstherapie zeichnet sich aber auch in der Psychotherapieforschung eine Wende ab zu einer eindeutig empirischen Orientierung in der Überprüfung der Wirksamkeit psychotherapeutischer Ansätze (von Zerssen u. Möller 1980; Murphy et al. 1995). Natürlich hat auch die so skizzierte realwissenschaftliche Psychiatrie neben den unbestreitbaren Vorteilen mögliche Schattenseiten und birgt die Gefahr von Fehlentwicklungen in sich. Die Sorge älterer Kliniker (Huber 1976; Janzarik 1989), dass eine so definierte empirische Ausrichtung der Psychiatrie evtl. zu eher oberflächlichen Erkenntnissen und ggf. sogar zu einem gedanken- und seelenlosen Zählen und Rechnen führt, ist nicht völlig von der Hand zu weisen, denn es gibt zweifellos solche Fehlentwicklungen. Sie beruhen aber zumeist auf einem mangelhaften Wissenschaftsverständnis (z. B. dem Fehlen von Intuition und Kreativität) oder auf schlichter Unkenntnis der Aussagekraft der verwendeten Methoden, z. B. bestimmter statistischer Verfahren.
15.4
Empirische Psychiatrie am Beispiel der Therapieforschung
Aus der Vielfalt konkreter Detailaspekte der empirischen Psychiatrie werden nachfolgend exemplarisch methodische Ansätze und Probleme der psychiatrischen Therapieforschung dargestellt und zwar am Beispiel der psy-
chopharmakologischen bzw. psychotherapeutischen Forschung. Aus Platzgründen werden spezielle Vorgehensweisen der psychiatrischen Versorgungsforschung hier nicht dargestellt (Kallert 2005). Angesichts der zunehmenden Bedeutung der »evidence based« Medizin (Rosenberg u. Donald 1995; Sackett et al. 1996; Woolf 1999) ist eine solide Therapieforschung von besonderer Bedeutung, auch in der Psychiatrie. Grundsätzlich kann man die Therapieforschung unterteilen in retrospektive und prospektive, nichtexperimentelle, quasiexperimentelle und experimentelle Verfahren (Cook u. Campbell 1976). Ohne weiter auf Methodik sowie Vor- und Nachteile dieser unterschiedlichen prinzipiellen Forschungsansätze einzugehen, soll zusammenfassend ihre Wertigkeit hinsichtlich des Erkenntnisgewinns klassifiziert werden. Als hypothesengenerierende Verfahren sind nichtexperimentelle Studien, in denen korrelative Zusammenhänge beschrieben werden, fruchtbar. Dabei haben prospektive Studien (⊡ Abb. 15.3) gegenüber der retrospektiven Datenerhebung Vorrang, wegen der größeren Gefahr der Beobachtungsverfälschung und der höheren Wahrscheinlichkeit zufälliger Korrelationen bei letzterer. Die gefundenen Korrelationen können nur in experimentellen Verfahren auf das Vorhandensein kausaler Beziehungen überprüft werden. Je mehr ein quasiexperimenteller Ansatz sich hinsichtlich des Ausmaßes der Variablenkontrolle dem experimentellen Ansatz nähert, desto stringenter ist die Beweisführung (Problem der internen Validität). Allerdings wird die Generalisierbarkeit der Ergebnisse zunehmend erschwert, je reduktionistischer ein experimentelles Vorgehen ist (Problem der externen Validität; Campbell u. Stanley 1963). Ist die experimentelle Überprüfung eines im Rahmen einer nichtexperimentellen Untersuchung gefundenen korrelativen Zusammenhangs zwischen 2 Phänomenen aus ethischen oder forschungspraktischen Gründen nicht möglich, kann ein kausaler Zusammenhang nur postuliert werden, sofern dieser im Theoriekontext als plausibel hingestellt werden kann; eine empirische Beweisführung im engeren Sinne ist aber nicht möglich.
Abb. 15.3. Schematische Darstellung von prospektiven und retrospektiven Ansätzen. Große Buchstaben symbolisieren das Vorhandensein, kleine das Fehlen eines Merkmals. Die beiden Linien bedeuten jeweils die Vergleichsgruppen (왕 = Zeitpunkt der Vergleichsgruppenbildung, 쑗 = Zeitpunkt der Erfassung)
P
R
N
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354
Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
15.4.1
Evaluation psychopharmakologischer Therapieverfahren
Das experimentelle Vorgehen wird für psychopharmakologische Therapiestudien am Menschen allgemein akzeptiert und praktiziert und als methodischer Standard, z. B. für den Nachweis der Wirksamkeit eines Medikaments, angesehen. Aber auch nichtexperimentelle Verfahren spielen eine Rolle; dazu gehören z. B. retrospektive Studien an Patienten mit fraglichen Schädigungen durch Pharmaka sowie die Erfassung von möglichen Nebenwirkungen während routinemäßig durchgeführter medikamentöser Therapien. Für die Entwicklung neuer Psychopharmaka sind Tierversuche unabdingbar. Durch sie werden wichtige pharmakologische, toxikologische, biochemische, neurophysiologische und neuroendokrinologische Grunddaten zur Charakterisierung eines potenziellen Psychopharmakons gewonnen. Die Kenntnisse über diese Wirkungseigenschaften der Substanz werden dann durch weitere präklinische Untersuchungen an gesunden Probanden ergänzt. Erst in dieser Weise präklinisch gut untersuchte Substanzen sollten in therapeutischen Versuchen an psychiatrischen Patienten auf ihre Wirksamkeit hin geprüft werden.
Therapiestudien am Tier
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Für die Weiterentwicklung eines einmal erkannten psychopharmakologischen Wirkprinzips ermöglichen systematische tierpharmakologische Suchprogramme (»screenings«) wichtige Fortschritte. Dabei werden heute nicht mehr die aus vergleichenden tierpharmakologischen Untersuchungen abgeleiteten Indikatoren (z. B. für Neuroleptika: kataleptische Wirkung, ApomorphinAntagonismus, Hemmung bzw. Aufhebung bedingter Fluchtreaktionen) als absolut sichere Prädiktoren für die spezielle therapeutische Wirksamkeit eines potenziellen Psychopharmakons angesehen. Die Grenzen des tierexperimentellen Screenings wurden bei der Entdeckung der antipsychotischen Wirksamkeit des Clozapins (Stille u. Hippius 1971), das bekanntlich im Tierversuch einige der für Neuroleptika bisher als unabdingbar angesehenen Effekte nicht hat, aufgezeigt. Gerade das Fehlen von im Tiermodell darstellbaren Risiken für extrapyramidale Nebenwirkungen bei gleichzeitig guter antipsychotischer Wirksamkeit war das Innovative, die Geburtsstunde der atypischen Neuroleptika. Wenn auch die klassischen tierpharmakologischen Untersuchungsprogramme in ihrer Aussagefähigkeit bezüglich möglicher therapeutischer Wirkungen begrenzter sind, als längere Zeit angenommen wurde, so liefern sie doch eine Reihe wichtiger Daten, die für die Erprobung eines Psychopharmakons am Menschen erforderlich sind: pharmakokinetische Daten, Wirkungsprofile, toxi-
kologische Daten u. a. Sie werden ergänzt durch biochemische und neuroendokrinologische Methoden, die auch im Rahmen der präklinischen und klinischen Forschung am Menschen eingesetzt werden können. Dieser Zweig der Psychopharmakologie hat seine Bedeutung v. a. darin, dass die aus ihm erwachsenden Perspektiven in enger Beziehung zur Erforschung der Wirkmechanismen (z. B. biochemische Änderungen im Bereich der Synapsen) bekannter und neuer Psychopharmaka und v. a. auch zur Erforschung der somatischen Grundlagen psychischer Störungen beim Menschen stehen.
Therapiestudien am Menschen Experimentelle Therapiestudien am Menschen sind in der Psychopharmakologie unverzichtbar, da die Ergebnisse tierexperimenteller Studien nur begrenzt auf den Menschen übertragbar sind und es obendrein für die psychischen Erkrankungen keine zufriedenstellenden Tiermodelle gibt, an denen die spezifische Wirksamkeit eines Pharmakons überprüft werden könnte (Stille 1974; Benkert u. Hippius 1975). Die Untersuchung von Psychopharmaka am Menschen wird – wie die Prüfung anderer Pharmaka – konventionsgemäß in 4 Phasen eingeteilt (Wittenborn 1977): Phase I: Orientierende Erkundung der Pharmakodynamik der Substanz, Analyse von Absorption, Distribution, Metabolismus, Exkretion und Verträglichkeit; Phase II: Spezifizierte Erforschung der therapeutischen Möglichkeiten sowie Suche nach angemessenen Dosierungsmöglichkeiten und Analyse von Nebeneffekten; Phase III: Prüfung spezieller Hypothesen über Indikationsbereich, Patiententyp und klinische Bedingungen, die für die Wirksamkeit des Medikaments mit entscheidend sind; Phase IV: Erweiterung des Indikationsbereichs und Verbesserung der Kenntnisse über Nebenwirkungen im Rahmen von Langzeitbeobachtungen. Untersuchungen in Phase I werden i. Allg. nicht bei psychiatrischen Patienten durchgeführt; sie gehören damit zur präklinischen Forschung. Wenn Untersuchungen der Phase I in Ausnahmefällen bei psychiatrischen Patienten erfolgen, sollten Psychologen und Psychiater mitwirken, damit schon während der Verträglichkeitsuntersuchung auch pharmakopsychologische und evtl. biochemische Befunde erhoben werden, die für die Planung und Indikationsfestlegung der nachfolgenden Phase-II-Untersuchungen Hinweise liefern können. Im Allgemeinen beginnt die klinische Prüfung eines potenziellen Pharmakons mit der Phase II. Erste Erfahrungen mit einer neuen Substanz werden vom Psychiater in offenen Prüfungen an einem heterogenen Patientengut gewonnen, um den möglichen Indikationsbereich ab-
355 15.4 · Empirische Psychiatrie am Beispiel der Therapieforschung
zugrenzen. Wenn ausreichende Hypothesen zur Wirksamkeit der Substanz in einer bestimmten Indikation vorliegen, werden heute in der Regel schon in Phase II randomisierte, plazebokontrollierte Kontrollgruppenuntersuchungen an relativ kleinen Stichproben durchgeführt, um Hinweise für Wirksamkeit und Verträglichkeit an Patienten des Indikationsbereiches zu bekommen und die diesbezüglichen optimalen Dosierungen einzugrenzen. Die Ergebnisse bilden die Planungsgrundlagen für die Untersuchungen der Phase III, in der an großen Stichproben die Wirksamkeit und Verträglichkeit gegen Plazebo oder ein Standardpräparat getestet werden. Ist ein Arzneimittel auf dem Markt eingeführt, so dient die weitere Erforschung dieses Präparates (Phase IV) durch prospektive oder retrospektive Beobachtungsstudien über lange Zeit der Verbesserung der Kenntnisse über Nebenwirkungen und der Erweiterung des Indikationsbereichs.
Überprüfung von Langzeiteffekten und Langzeitnebeneffekten von bereits eingeführten Präparaten. Die gesamte Palette dieser letztgenannten Verfahren hat in der klinischen Erprobung von Psychopharmaka ihre Berechtigung, sofern die für die einzelnen Verfahren geltenden Einschränkungen hinsichtlich des Erkenntniswertes beachtet werden. Auf Ergebnisse exemplarischer Einzelstudien, wie sie im Kap. 27 dargestellt sind, sei verwiesen.
Strukturgleichheit von Untersuchungsgruppen Es wird gefordert, dass sich die zu vergleichenden Patientengruppen in einer psychopharmakologischen Kontrollgruppenstudie lediglich in der Medikation unterscheiden sollen. Mögliche andere Einflussgrößen sind gleichmäßig auf die Behandlungsgruppen zu verteilen (Strukturgleichheit). Um die Strukturgleichheit zu gewährleisten, werden verschiedene Verfahren angewandt (Überla 1973). Randomisierung. Durch Randomisierung wird eine streng
Klinische Prüfung Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die klinische Prüfung von Psychopharmaka. Dabei wird der Aspekt des Wirksamkeitsnachweises in den Vordergrund gestellt. Selbstverständlich gelten die dargestellten Methoden und Probleme in analoger Weise auch für andere psychopharmakologische Fragestellungen, z. B. Verträglichkeit. Die wichtigste Methode zum Nachweis der Wirksamkeit eines Pharmakons ist das doppelblind durchgeführte Parallelgruppenverfahren. Dabei werden die Effekte einer zu prüfenden Substanz auf die randomisiert zugeteilten Patienten der Experimentalgruppe mit den Effekten eines Plazebos oder eines bereits eingeführten Pharmakons gleicher Indikation (Standardpräparat) auf die Patienten der Kontrollgruppe verglichen. Beim gekreuzten Kontrollgruppenvergleich (Crossover-Verfahren) wird nach dem Schema: Gruppe 1: Substanz A → Substanz B; Gruppe 2: Substanz B → Substanz A verfahren. Durch dieses Verfahren lässt sich die Aussagefähigkeit bei bestimmten Fragestellungen erhöhen, z. B. individuelles Ansprechen auf bestimmte Medikamente. Allerdings sind »Carry-over-Effekte« (Überhangsphänomene) zu berücksichtigen weshalb dieses Verfahren von Zulassungsbehörden nicht als ausreichend aussagekräftig angesehen wird. Je nach Fragestellung (z. B. Wirksamkeit, Wirksamkeitsvergleich, Nebenwirkungen) stehen diesen aufwändigen Verfahren ökonomischere und praktikablere gegenüber, die insbesondere im Rahmen von Erkundungsstudien über neue Psychopharmaka angewandt werden, z. B. Verfahren ohne Kontrollgruppe, einfachblinde oder nichtblinde Verfahren. Hier sind auch nichtexperimentelle Untersuchungen in Form retrospektiver oder prospektiver Verlaufsbeobachtungen zu nennen. Diese haben v. a. als heuristische Methoden ihren Stellenwert zur
zufällige Zuteilung (Münzwurfprinzip, Zufallszahlentabelle u. a.) der Patienten zur Experimentalgruppe und damit die Strukturgleichheit beider Gruppen angestrebt. Jeder Patient hat absolut die gleiche Chance, der einen oder anderen Gruppe zugeteilt zu werden. Eine zufällige Zuteilung lässt erwarten, dass störende Einflussgrößen die Ergebnisse nicht verfälschen, da sie im Gruppenvergleich gleichermaßen zu Buche schlagen. Das gilt aber nur für große Stichproben. Gerade bei kleinen Fallzahlen besteht die Gefahr, dass sich die beiden Gruppen trotz Zufallszuteilung hinsichtlich verschiedener Variablen wie psychopathologischer Befund, Erkrankungsdauer usw. unterscheiden. Dieser mangelnden Ausbalancierung muss bei der Auswertung Rechnung getragen werden, um zu vermeiden, dass dadurch bedingte unterschiedliche Resultate fälschlicherweise der therapeutischen Intervention zugeschrieben werden. Parallelisierung. Durch Parallelisierung bzw. Stratifizie-
rung (Schichtung) kann man auch bei kleinen Stichproben erreichen, dass sich die relevanten Einflussgrößen auf die beiden Gruppen gleich verteilen. Bei der Parallelisierung werden die Patienten, die sich in bestimmten Variablen ähneln, zu verschiedenen Paaren oder Blöcken zusammengefasst, so dass die Unterschiede zwischen den Beobachtungseinheiten innerhalb eines Blocks gering, aber zwischen den Blöcken relativ groß sind. Zufällig werden dann die Patienten der beiden Blöcke der Experimentalgruppe und der Kontrollgruppe zugeteilt. Mit diesem Verfahren kann man die Strukturgleichheit beider Gruppen hinsichtlich bestimmter, als relevant angesehener Variablen als gegeben ansehen. Dieses Verfahren ist zwar bei 2 oder 3 bekannten und als relevant angesehenen Einflussgrößen noch praktikabel, erreicht aber seine Grenze, wenn hinsichtlich einer größeren Zahl von Einflussgrö-
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356
Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
ßen parallelisiert werden soll. In diesen Fällen können komplizierte Verfahren weiterführen, so die von Taves (1974) vorgeschlagene »Minimalisierungsmethode«, bei der die Zuordnung der Patienten aufgrund der Differenz von einem Muster aller gegebenen Einflussgrößen erfolgt.
Beobachtungsgleichheit Neben der Strukturgleichheit der untersuchten Patientengruppen ist die Beobachtungsgleichheit wesentlich, d. h. alle Patienten sollen von den gleichen Untersuchern mit dem gleichen Verfahren zu gleichen Zeitpunkten beobachtet und beurteilt werden. Zentrales Kriterium in der psychopharmakologischen Wirksamkeitsprüfung ist der psychopathologische Befund. Neben Veränderungen des psychopathologischen Befundes müssen Veränderungen des körperlich-neurologischen Befundes sowie von klinisch oder theoretisch relevanten biochemischen Parametern registriert werden, insbesondere um Nebenwirkungen zu erfassen. Da sich die einfache klinische Befunderhebung für die psychopharmakologische Forschung als zu undifferenziert erwies, wurden standardisierte Beurteilungsskalen zur quantifizierten Befunddokumentation entwickelt.
Verblindung
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Durch Verblindung (Untersucher und/oder Untersuchte sind nicht informiert über das applizierte Medikament) sollen Erwartungshaltungen des Patienten und des Untersuchers und dadurch ausgelöste Autosuggestions- und Heterosuggestionseffekte, die das Resultat der Studie verfälschen könnten, ausgeschlossen werden. Diese methodischen Zielsetzungen werden allgemein akzeptiert, ihre Realisierbarkeit bereitet aber Probleme. Immer wieder gelingt es Untersuchern oder Patienten, an bestimmten Phänomenen (Äußerlichkeiten des Medikaments, physikochemische Eigenschaften, Nebenwirkungen) das Plazebo vom Verum zu unterscheiden. In solchen Fällen kann das Versuchsresultat maßgeblich durch Erwartungshaltungen beeinflusst werden, die in ihren Auswirkungen sehr schwer abzuschätzen sind. Grundsätzlich wäre es wünschenswert, dass der Wirksamkeitsnachweis in kontrollierten Versuchen gegen Plazebo erfolgt. Dies wird von der europäischen und der amerikanischen Zulassungsbehörde für die meisten Indikationsbereiche gefordert, ist aber aus ethischen Gründen nicht immer möglich (Baldwin et al. 2003; Adam et al. 2005). Dann wird die Wirksamkeit eines neuen Psychopharmakons nur durch Doppelblindvergleiche gegen Standardpräparate analysiert. Das führt aber zu einer Reihe methodischer Probleme, u. a. dem des β-Fehlers bei zu geringer statistischer »power«. In einem solchen Fall wird fälschlicherweise aus der Tatsache, dass ein Unterschied zwischen 2 Beobachtungsgruppen nicht gefunden werden konnte, auf die Gleichheit der Gruppen geschlossen. Diese
Problematik ist bei Prüfungen gegen Standardpräparate nicht mit ausreichend Sicherheit zu umgehen. Am aussagekräftigsten sind 3-Arm-Studien, in denen die neue Substanz mit Plazebo und einem Standardpräparat verglichen wird.
Analyse der Wirkfaktoren Univariate Dependenzanalyse In der klinischen psychopharmakologischen Forschung wie überhaupt in der Therapieforschung bei psychisch Kranken besteht die schwierige Situation, dass die unabhängige Variable, die experimentell variiert bzw. manipuliert wird, nur einen Teil der Gesamtmenge aller Variablen ausmacht, die für die Veränderung der abhängigen Variablen verantwortlich sind (⊡ Abb. 15.4). Die Effekte der übrigen Einflussgrößen (Störfaktoren) sind nicht kontrolliert und gehen als »Zufallsfehler« in das Endergebnis ein. Die Größe dieses Fehlers kann man durch das Kontrollgruppenverfahren analysieren. Obendrein kann versucht werden, durch statistische Analysen die wesentlichen Faktoren für den Zufallsfehler herauszufinden und diese ggf. in neuen Experimenten zu überprüfen. In der klinischen psychopharmakologischen Forschung wird üblicherweise eine Abstraktion von den anderen Einflussgrößen zugunsten der Wirkvariablen, dem Pharmakon (ggf. in unterschiedlichen Dosierungen), vollzogen. Dem entspricht die Bevorzugung univariater experimenteller Studien, bei denen die anderen Einflussgrößen nicht variiert oder manipuliert werden. Zumeist werden die Ergebnisse solcher univariater klinisch-psychopharmakologischer Studien lediglich sekundär unter dem Aspekt ausgewertet, korrelative Zusammenhänge zwischen bestimmten anderen Einflussgrößen und Therapieresultaten herzustellen. Dabei interessieren z. B. Zusammenhänge mit der Serumkonzentration des Medikaments oder mit anderen, durch das Medikament induzierten Veränderungen, z. B. Änderung der Konzentration von Transmittermetaboliten oder von neuroendokrinologischen Parametern. Multivariate Dependenzanalyse. Ergeben sich mehrere
therapierelevante Faktoren bzw. sind von vornherein mehrere dieser Faktoren bekannt, kann man versuchen, gleichzeitig den Effekt dieser einzelnen Faktoren sowie die Wechselwirkung zwischen den Faktoren abzuschätzen, indem man in einem Experiment mehrere Faktoren systematisch variiert (⊡ Abb. 15.5). Eine solche multivariate Dependenzanalyse ist gegenüber der oben beschriebenen univariaten Dependenzanalyse wesentlich informationsreicher. Allerdings setzt sie erheblich größere Fallzahlen voraus, insbesondere wenn man möglichst viele für die Therapie bei psychischen Krankheiten relevante Faktoren einbeziehen will. Bei nur 4 unabhängigen Variablen mit je 2 Ausprägungen oder Modalitäten ergeben sich z. B. 16 Zellen. Besetzt man jede Zelle mit nur
357 15.4 · Empirische Psychiatrie am Beispiel der Therapieforschung
⊡ Abb. 15.4. Einflussgrößen bei
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Therapiestudien
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Krankheitszustand beim Abschluss der Behandlung (-Heilung-, -Besserung-)
T
U
S
5 Patienten, benötigt man bereits 80 Patienten. Wegen der großen Zahl von Einflussfaktoren stoßen multifaktorielle Ansätze in der klinischen psychopharmakologischen Therapieforschung schnell an die Grenzen der verfügbaren Patientenzahlen. Reduziert man in einem multivariaten Design die Einflussgrößen von vornherein auf wenige, entsteht das Problem, dass in den einzelnen Zellen zwar eine homogene Verteilung der als relevant angesehenen Faktoren, aber eine inhomogene Verteilung der nicht als relevant angesehenen Faktoren vorliegt und diese evtl. das Ergebnis wesentlich beeinflussen. Wegen dieser Probleme wird in der klinisch-psychopharmakologischen Therapiefor-
⊡ Abb. 15.5. Multivariates Design mit 4 unabhängigen Variablen mit je 2 Ausprägungen oder Modalitäten, 2×2×2×2Design
schung immer wieder auf das Modell univariater Dependenzanalysen unter der Hypothese zurückgegriffen, dass alle anderen Faktoren im Vergleich zu der untersuchten Variablen vernachlässigt und in weiteren statistischen Auswertungsschritten hinsichtlich ihrer Relevanz beurteilt werden können.
Statistische Auswertung Je nach Art der Studien kommen bei der Auswertung unterschiedliche statistische Verfahren zur Anwendung, die vom einfachen Mittelwertsvergleich über Korrelationsstatistiken bis hin zu multivariaten Verfahren wie Varianz- und Kovarianzanalyse und Verfahren der statisti-
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358
Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
schen Analyse von Einzelfallstudien reichen. Jeder statistische Test beruht auf Voraussetzungen, die zunächst geprüft werden müssen. Werden diese verletzt, so ist der Test in der Regel nicht mehr anwendbar. Bei allen statistischen Auswertungsmethoden, die auf Mittelwertvergleichen von Stichproben beruhen, muss damit gerechnet werden, dass man durch die Reduktion der Daten auf Mittelwerte erhebliche Informationsverluste hinnimmt. Durch zusätzliche statistische Analysen sollte versucht werden, derartige durch Mittelwertbildung bedingte Informationsverluste zu kompensieren. Wichtig ist, dass neben der »Per-protocol-Analyse«, die sich auf die Patienten bezieht, die die Therapiephase absolviert haben, auch die »Intent-to-treat-Analyse« durchgeführt wird, also das »Worst-case-Szenario« unter Einbeziehung aller »drop outs«. Die in ihren Ergebnissen im Vergleich zur Per-protocol-Analyse weniger optimistische Intent-to-treat-(ITT-)Analyse wird von den Zulassungsbehörden als Hauptentscheidungskriterium herangezogen. Bei der ITT-Analyse wird der jeweils letzte beobachtete Wert des zu untersuchenden Phänomens von Patienten, die die Untersuchung vorzeitig abgebrochen haben, weitergeführt und geht so in die Auswertung der Daten mit ein (»last observation carried forward«, LOCFMethode). In den letzten Jahren wurde zunehmend anstelle der »LOCF-Methode« die »Mixed-model-repeatedmeasures-(MMRM-)Methode« vorgeschlagen, die unter einigen Aspekten vorteilhafter scheint (Gueorguieva u. Krystal 2004; Mallinckrodt et al. 2004). ! Kommen verschiedene klinische Studien zu gleichlautenden statistisch gesicherten und klinisch relevanten Resultaten, so kann das Ergebnis als gesichert angesehen werden. Stichprobengröße. Von statistischer Seite wird an den
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klinischen Prüfer die Forderung nach ausreichender statistischer Aussagekraft der Stichprobe herangetragen, um den »Fehler der kleinen Zahl« zu verhindern. Je größer die Stichprobe, desto geringere Wirkungsunterschiede können bei der statistischen Auswertung der Daten erkannt werden. Genaue Vorschriften über die richtige Größe einer zu untersuchenden Stichprobe existieren nicht, da die adäquate Größe einer Stichprobe von der Art der Fragestellung und der Art der Stichprobe abhängt. Es gibt Formeln, nach denen man die Größe der Stichprobe in Abhängigkeit von der Fragestellung und der zu erwartenden Unterschiede des Zielparameters abschätzen kann (»Power-Analyse«). Je einheitlicher die Stichprobe bezüglich Diagnose, Erkrankungsdauer, Lebensalter, Ausprägungsgrad der Symptome u. a., desto einfacher ist die Auswertung und desto größer die Wahrscheinlichkeit eindeutiger Ergebnisse. Mit diesen Vorteilen einer homogenen Stichprobe erkauft man sich aber gleichzeitig eine schlechte Übertragbarkeit der Ergebnisse in die therapeutische Praxis
aufgrund der mangelnden Repräsentativität für die Grundgesamtheit der zu behandelnden Patienten (fehlende externe Validität). Auch unter dem Aspekt von Erkundungsstudien, die die Interferenz des Pharmakons mit bestimmten Persönlichkeits- oder Krankheitsmerkmalen analysieren, ist die Forderung nach Homogenität der Stichprobe einzuschränken. Hier kann gerade eine sehr heterogene Stichprobe intensiver zur Hypothesengeneration anregen als eine bezüglich der Merkmalspluralität reduzierte. Einen Eindruck von der Problematik der Stichprobenauswahl gibt ⊡ Abb. 15.6. Selektion der Stichprobe. In Studien einbezogene Pati-
enten stellen immer eine Selektion aus der psychiatrisch zu versorgenden Patientenpopulation sowie eine Selektion der Patienten mit einer bestimmten psychiatrischen Diagnose (⊡ Abb. 15.6) dar. Depressive Patienten z. B., die klinisch stationär behandelt werden, entsprechen hinsichtlich der Ansprechbarkeit auf Antidepressiva in der Regel nicht den ambulant behandelten Patienten, da Patienten, die schlecht auf Antidepressiva ansprechen, in der Klinik überrepräsentiert sind. Das bringt die methodische Schwierigkeit mit sich, dass die zu prüfenden Antidepressiva wahrscheinlich in der Klinik einem besonders harten Test ausgesetzt sind. Fasst man die »Antidepressiva-non-responder« als eine Subpopulation der endogenen Depressiven auf, so muss man in Erwägung ziehen, dass in der Klinik vielfach antidepressive Substanzen an Personen geprüft werden, denen aufgrund bestimmter Dispositionen nicht ausreichend mit Antidepressiva geholfen werden kann. Das führt evtl. dazu, dass die Prüfsubstanz verworfen wird, ohne an einer ambulanten Subpopulation, die besser auf Antidepressiva reagiert, geprüft worden zu sein. Zunehmend wird deswegen und u. a. auch aus Praktibilitätsgründen (schnellere Rekrutierungsmöglichkeit) die Prüfung der meisten neuen Psychopharmaka vorrangig bei ambulanten Patienten durchgeführt. Allerdings führt das offensichtlich zu neuen Problemen, z. B. einer höheren Plazeboantwort und damit geringeren Plazebo-Verum-Differenz bei Antidepressivastudien, u. a. dadurch, dass mehr Patienten mit Symptomatik geringeren Intensitätsgrades eingeschlossen werden (Kahn et al. 2002; Kirsch 2002). Selbstverständlich kann der geschilderte Zusammenhang auch in umgekehrter Weise auftreten: In der Klinik wirkt ein Medikament aufgrund der Selektion der Patientenstichprobe, während es in der ambulanten Behandlung aufgrund anderer Selektionen keine ausreichende Wirkung entfaltet. Man kann diese Probleme nur lösen, wenn auch in der ambulanten Praxis Medikamentenprüfungen durchgeführt werden. Neben solchen Aspekten der Selektion der Patienten im Rahmen von Studien, ist zu berücksichtigen, dass je stärker ein Untersuchungsansatz standardisiert und je einschränkender er in den therapeutischen Möglichkeiten
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359 15.4 · Empirische Psychiatrie am Beispiel der Therapieforschung
Stichprobe
Verzerrte Stichprobe (,,biased sample”)
Einstufige Stichprobe
Mehrstufige Stichprobe Klumpenstichprobe
Unverzerrte Stichprobe
Zweckbezogene Stichprobe
Homogene Stichprobe
Heterogene Stichprobe
Einfache Zufallsstichprobe
Systematische Stichprobe
Repräsentative Stichprobe
Geschichtete Stichprobe
Disproportioniert
Proportioniert
⊡ Abb. 15.6. Möglichkeiten der Stichprobenauswahl in der Relation zur Grundgesamtheit
ist, desto stärker ist auch die Patientenselektion. Diesbezüglich gehen z. B. plazebokontrollierte Studien mit der größten Patientenselektion einher, d. h. viele Patienten müssen von solchen Studien ausgeschlossen werden, während z. B. einfache Anwendungsbeobachtungen weitgehend vorraussetzungsfrei für die einzuschließenden Patienten ist. ! Wegen der Selektionsaspekte ist es wichtig, ein Medikament nicht nur in methodisch restriktiven Studienansätzen mit hoher interner Validität, aber geringer externer Validität (also schlechter Generalisierbarkeit) zu prüfen, sondern komplementär auch in weniger restriktiven Studienansätzen, deren Ergebnisse besser generalisierbar sind. Das sind einerseits Anwendungsbeobachtungen oder, wenn man Ansprüche an methodischen Standards hat, die über die naturalistischen Anwendungsbeobachtungen hinausgehen, dann sind in diesem Kontext die in den letzten Jahren so viel diskutierten »Effectiveness-« oder »Real-world-Studien« zu erwähnen, die einen methodischen Mittelweg zwischen Phase-III-Studien und Anwendungsbeobachtungen gehen (Lieberman et al. 2005; Jones et al. 2006; Rush et al. 2006).
15.4.2
Evaluation psychotherapeutischer Verfahren
Sowohl die Psychotherapieforschung als auch die Evaluationsansätze der psychiatrischen Versorgungsforschung bemühen sich heutzutage, den dargestellten MethodenIdealen der Therapieforschung wie sie am Beispiel der klinisch-psychopharmakologischen Therapieforschung dargestellt wurden, gerecht zu werden, allerdings mit den notwendigen Einschränkungen. Das gilt nicht nur für die nachfolgend beispielhaft dargestellte Psychotherapieforschung (Grawe et al. 1994; Grawe 1998; Bateman u. Fonagy 1999; Leichsenring et al. 2004; Linehan et al. 2006), sondern auch für die psychiatrische Versorgungsforschung (Kallert 2005). Stützte sich früher die Einschätzung der Wirksamkeit psychotherapeutischer Maßnahmen weitgehend auf kasuistische Mitteilungen und auf subjektive, auf Evidenzerlebnissen beruhende globale Wertungen durch den jeweiligen Psychotherapeuten, so hat sich in den letzten 30 Jahren unter dem Einfluss der z. T. stark experimentell ausgerichteten psychologischen Therapieformen eine methodisch differenzierte Psychotherapieforschung entwickelt. Es wurde versucht, die gängigen Verfahren klinischer Therapieforschung (wie sie in der klinischen Psychopharmakologie ent-
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Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
wickelt wurden) durch entsprechende Modifikationen für den speziellen Forschungsbereich der Psychotherapie zu adaptieren, bisher nicht genügend beachtete kritische Punkte in der klinischen Therapieforschung anzugeben und neue Lösungsstrategien für spezielle Probleme der Psychotherapieforschung zu entwickeln. Neben der »Outcome-Forschung«, also der Untersuchung der Wirksamkeit, hat dabei auch die »Prozessforschung«, also die Untersuchung, welche Wirkfaktoren relevant sind, einen wichtigen Stellenwert bekommen (Grawe et al. 1990; Ambuhl u. Grawe 1988, 1989; Arnold u. Grawe 1989). Ausgehend von den bereits am Beispiel der klinischen Psychopharmakotherapie-Forschung dargestellten Methoden und Problemen klinischer Therapieforschung wird im Folgenden nur auf die Modifikation sowie auf einige spezielle methodische Probleme der Psychotherapieforschung eingegangen.
Komplexität der Einflussfaktoren. Die Komplexität der
Fragestellung einer differenziellen Psychotherapieforschung wird deutlich, wenn man die Vielfalt der relevanten Variablen des psychotherapeutischen Prozesses bedenkt. Die relevanten Variablen werden in der folgenden Übersicht dargestellt.Die Vielfalt der Variablen gibt zu denken, ob einfache Evaluationsverfahren, wie z. B. univariate Dependenzanalysen, überhaupt adäquate Aussagen ermöglichen. Während man in der Psychopharmakologie mit einem gewissen Recht davon ausgeht, dass die psychotrope Substanz den Haupttherapiefaktor darstellt und somit andere Einflussgrößen (z. B. Arzt-Patient-Verhältnis) weniger Bedeutung haben, ist es in der Psychotherapieforschung fragwürdig, ob die jeweils spezielle therapeutische Technik den mehr oder weniger wesentlichen Therapiefaktor darstellt und ob nicht andere Faktoren mehr oder weniger gleichrangig sind, z. B. Therapeut-Patient-Interaktion, Patientenvariablen und Therapeutenvariablen.
Einflussfaktoren bei psychotherapeutischen Verfahren Erkrankung: Art, Intensität, Dauer, Spontanverlaufstendenz u. a. Patient: Alter, Geschlecht, Intelligenz, Ausbildung, Einkommen, Schichtzugehörigkeit, Persönlichkeitsstruktur, biografische Fakten, Motivation, Erwartungshaltung, Umwelteinflüsse u. a. Therapeut: Alter, Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, Schulzugehörigkeit, Ausbildungsstand, Persönlichkeitsstruktur, Einfühlsamkeit, emotionale Wärme u. a. Spezifische Therapiefaktoren: in der Psychoanalyse z. B. Deutung und Übertragung; in der Verhaltenstherapie z. B. Desensibilisierung, Konditionierung,
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Das würde bedeuten, dass eine Reduktion der Analyse allein auf die therapeutische Methode inadäquat ist und versucht werden muss – sofern experimentelle Forschung betrieben wird –, in multivariaten Dependenzanalysen von vornherein mehrere psychotherapeutisch relevante Faktoren systematisch zu variieren. Insgesamt gesehen wird in der Psychotherapieforschung den anderen Einflussgrößen zunehmend mehr Bedeutung beigemessen. Aus der Komplexität des psychotherapeutischen Geschehens (⊡ Abb. 15.7) wurde die Notwendigkeit einer sehr differenzierten Beschreibung aller relevanten Therapeuten-, Patienten-, Therapie- und Umweltmerkmale sowie die Notwendigkeit multivariater Forschungsstrategien experimenteller (»manipulativ-generalisierende Forschung«) und nichtexperimenteller Art (»korrelativnaturalistische Forschung«) abgeleitet (Kiesler 1977).
Modelllernen und kognitive Therapieansätze; in der nondirektiven Gesprächspsychotherapie z. B. nondirektive Gesprächsführung und bestimmte Therapeutenvariablen Unspezifische Therapiefaktoren: Variablen der Therapeut-Patient-Interaktion und der therapeutischen Gesamtsituation (z. B. Glaubwürdigkeit, Suggestion), die von den Vertretern der jeweils zu prüfenden Therapiemethode als zweitrangig für den therapeutischen Ausgang angesehen werden Unkontrollierte Außeneinflüsse: Änderung in der Lebenssituation, Beratung durch Freunde und Bekannte, andere Therapien u. a.
Angesichts eines so komplexen Forschungsgegenstands ist kritisch zu prüfen, ob die Praxis bisheriger Psychotherapieforschung geeignet ist, die oben formulierte Fragestellung einer differenziellen Psychotherapieforschung durch experimentelle oder korrelative Studien zu beantworten, oder ob nicht gerade eine so differenzierte Fragestellung nur beantwortet werden kann, wenn zunehmend eine überregionale Kooperation mit zentralisierter Forschungsplanung eingeführt wird.
Fremdkontrollgruppenverfahren Die für die psychopharmakologische Evaluationsforschung beschriebenen Designtypen werden in der Psychotherapieforschung grundsätzlich akzeptiert. Die in der Psychotherapieforschung allgemein stärkere Berücksichtigung intraindividueller Merkmalsunterschiede
361 15.4 · Empirische Psychiatrie am Beispiel der Therapieforschung
⊡ Abb. 15.7. Programm zur Entwicklung und Optimierung eines psychotherapeutischen Verfahrens. (Aus Gottman u. Markman 1978)
führte aber zu einer skeptischeren Bewertung von Gruppendesigns. Obendrein machten die speziellen Gegebenheiten des psychotherapeutischen Prozesses und der psychotherapeutischen Versorgung einige Modifikationen gruppenstatistischer Ansätze erforderlich. Die Vorzüge des Kontrollgruppenverfahrens – in der Psychotherapieforschung genauer als Fremdkontrollgruppenverfahren bezeichnet – werden durchaus gesehen; die Durchführung solcher Fremdkontrollgruppenvergleiche bereitet aber in der Praxis der Gruppenzusammenstellung sowie hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Gruppenzusammensetzung so starke Schwierigkeiten, dass oft das Fremdkontrollgruppenverfahren durch das Eigenkontrollgruppenverfahren ersetzt wird. Der häufige Verzicht auf eine abschließende Beurteilung psychotherapeutischer Effekte im Rahmen von Fremdkontrollgruppenvergleichen ist besonders bedauerlich, da auch Doppelblindtechniken wegen der speziellen Gegebenheiten der psychotherapeutischen Situation
unmöglich und Blindtechniken unter Anwendung von Plazebomaßnahmen (Quasi-Plazebo-Bedingungen) praktisch nur schwer realisierbar sind. Es geht damit eine Fülle von Störfaktoren, die in doppelblind durchgeführten Kontrollgruppenstudien neutralisiert werden könnten, unkontrolliert in die Auswertung ein. Plazebogruppe. Von einigen Forschergruppen wird ver-
sucht, Kontrollgruppenverfahren im Stile der klinischen Psychopharmakologie durchzuführen, bei denen die eine Gruppe psychotherapiert wird, während die andere Gruppe als Plazebogruppe fungiert. Mit den Patienten der Plazebogruppe wird keine spezifische psychotherapeutische Behandlung durchgeführt, sondern es werden nur Gespräche über neutrale Themen abgehalten. Die praktische Realisierung von Plazebogruppen fällt aber sehr schwer, da eine Eingrenzung auf neutrale Themen häufig nicht möglich ist und der Patient immer wieder versucht, seine Probleme zur Sprache zu
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Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
bringen. Außerdem wird die Plazebotherapie oft vom Patienten als unglaubwürdig empfunden, so dass es dem Therapeuten kaum gelingt, durch geeignete Instruktionen ähnliche Erwartungshaltungen wie in der Therapiegruppe zu erzeugen. Dies ist besonders problematisch, denn gerade viele Ergebnisse aus der jüngeren Psychotherapieforschung belegen die Bedeutung der Variablen Glaubwürdigkeit der Therapie und Erwartungshaltungen des Patienten (Kazdin 1978). Andere Kontrollgruppen. Zur Umgehung dieses Problems
bietet es sich an, auch die zweite Patientengruppe mit einer spezifischen psychotherapeutischen Technik zu behandeln. Allerdings werden dann nicht mehr spezifische und unspezifische Therapiefaktoren im Gruppenvergleich, sondern 2 verschiedene therapeutische Techniken analysiert. Eine andere Möglichkeit besteht darin, für die Kontrollgruppe Patienten zu nehmen, die nicht behandelt werden. Kontrollgruppen aus Patienten ohne jegliche Behandlung und ohne eigenen Behandlungswunsch sind jedoch kaum zusammenstellbar. Obendrein sind solche Gruppen gegenüber einer Patientengruppe mit Behandlungswunsch bezüglich dieser Variablen nicht äquivalent und haben meistens eine ungünstigere Prognose. Wegen dieser Problematik greift man in der Psychotherapieforschung meist für die Kontrollgruppe auf Patienten zurück, die auf der Warteliste stehen. In der praktischen Durchführung fällt es allerdings schwer, Therapiegruppe und Wartegruppe äquivalent zu halten, da man bei der Therapieentscheidung durch die aktuellen Schwierigkeiten eines Patienten, z. B. durch Suizidäußerungen, unter Druck gesetzt werden kann. Weiterhin entstehen Probleme dadurch, dass sich Patienten, die auf die Therapie warten müssen, zwischenzeitlich gezielte psychotherapeutische Hilfe oder zumindest unspezifische Hilfe durch Hausärzte, Seelsorge etc. holen.
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Einzelgruppenuntersuchungen Wegen der praktischen und methodischen Probleme des Fremdkontrollgruppenvergleichs besteht bei vielen Psychotherapieforschern die Tendenz, Einzelgruppenuntersuchungen mehr Gewicht beizumessen. Beim Eigenkontrollgruppenverfahren werden mehrere Messungen an dem gleichen Patientenkollektiv zu unterschiedlichen Zeitpunkten – beim einfachsten Einzelgruppendesign vor und nach der Therapie – durchgeführt und miteinander verglichen. Die Befürworter dieser Methode betonen, dass ihr großer Vorteil darin besteht, dass Experimentalund Kontrollgruppe (»Eigenwartegruppe«) identisch sind. Nachteil dieses Verfahrens ist die Tatsache, dass nicht bestimmbar ist, inwieweit das Therapieergebnis durch Spontanverlauf und Plazeboeffekte bedingt ist. Diese Problematik ist z. T. durch Modifikationen des einfachen
Einzelgruppenvergleichsplanes lösbar. Zu nennen sind hier das Einzelgruppenverfahren mit Zeitreihenplan sowie das Einzelgruppenverfahren mit äquivalentem Zeitstichprobenplan. Zeitreihenplan. Einzelgruppenverfahren mit Zeitreihen-
plan sind dadurch charakterisiert, dass sowohl vor als auch nach der Behandlung mehrere Messungen durchgeführt werden, z. B. bei der ersten Kontaktaufnahme, vor Beginn der Behandlung, bei Beendigung der Behandlung und bei einer Nachuntersuchung. Wichtig ist dabei, dass die Zeitabstände zwischen den einzelnen Messungen konstant gehalten werden. Ein solcher Zeitreihenplan erlaubt mehr Aussagen als eine Zweipunktemessung vor und nach der Therapie. Insbesondere hilft er, Spontanverlaufstendenzen der Krankheit abzuschätzen. Äquivalenter Zeitstichprobenplan. Das Einzelgruppen-
verfahren mit äquivalentem Zeitstichprobenplan unterscheidet sich vom eben erwähnten Design insofern, als eine wiederholte Einführung und Absetzung der therapeutischen Variablen erfolgt. Dadurch kann das Problem der Interferenz therapeutischer Effekte mit dem Spontanverlauf besser unter Kontrolle gebracht werden. Die Methode ist nur bei psychotherapeutischen Verfahren durchführbar, bei denen kurzfristige therapeutische Interventionen möglich sind, und sie setzt wegen des wiederholten Einführens und Absetzens der therapeutischen Variable eine ausreichende Dauer der Erkrankung voraus.
Einzelfallstudien Gruppendesigns werden in der Psychotherapieforschung insbesondere unter dem Aspekt kritisiert, dass gruppenstatistische Auswertungsverfahren mit einem Informationsverlust über die Einzelperson verbunden sind und damit den unterschiedlichen individuellen Gegebenheiten nicht genügend Rechnung tragen. Betont wird auch, dass die unzureichende Vergleichbarkeit der Stichprobenzusammensetzung beim Fremdkontrollgruppenverfahren zu Trugschlüssen führen könne, und dass der in einem Gruppenvergleich gefundene größere Effekt eines bestimmten Verfahrens ggf. auf eine Besserung bei nur wenigen Patienten zurückzuführen ist und somit für das Gros der Zielpopulation irrelevant sei. Weiter ist es in der klinisch-psychotherapeutischen Forschung oft gar nicht möglich, ausreichend große Gruppen von Patienten mit einer bestimmten Störung zu finden. Diese methodologischen und forschungspraktischen Überlegungen haben in der Psychotherapieforschung zu besonderem Interesse an der Durchführung und methodischen Verbesserung von Einzelfallstudien geführt (Frey et al. 1979). Grundsätzlich kann man zwischen Einzelfallstudien mit je einer Messung vor und nach der Behandlung und
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experimentellen Fallstudien unterscheiden, bei denen eine systematische Variation der therapeutischen Variablen, z. B. im Sinne eines ABAB-Designs, mit mehrfacher Messung der Veränderungen erfolgt. Dabei werden Variablen, von denen bestimmte therapeutische Effekte angenommen werden, unter experimenteller Kontrolle eingeführt, wieder zurückgenommen und wieder eingeführt, wobei jeweils die erfolgten Veränderungen gemessen werden. Für die Beurteilung der Therapieeffekte ist eine ausreichend lange Grundkurve (»baseline«) der gemessenen Variablen wichtig. Multiple Baseline-Technik. Falls das Absetzen der thera-
peutischen Variablen, wie es zum Nachweis der therapeutischen Relevanz eines Faktors erforderlich ist, aus praktisch-therapeutischen Erwägungen undurchführbar ist, existiert in der multiplen Baseline-Technik ein mögliches Alternativverfahren zum Nachweis gezielter therapeutischer Effekte. Bei dieser Untersuchungsmethode werden spezifische, voneinander unabhängige Zielverhaltensweisen definiert und in Baselines erfasst. Im Anschluss daran wird eine spezielle therapeutische Technik auf die erste Zielverhaltensweise angewandt. Wenn die Technik erfolgreich ist und die ausgewählten Zielverhaltensweisen wirklich unabhängig voneinander sind, dann sollten bei der ersten Zielverhaltensweise Veränderungen eintreten, während bei den anderen Verhaltensweisen nur geringe oder überhaupt keine Veränderungen feststellbar sein sollten. Dann wird die Technik auf eine zweite Zielverhaltensweise angewandt, und es werden wiederum die resultierenden Veränderungen, die sich nur bei dieser Verhaltensweise finden sollen, registriert. Das Design mit »multipler baseline« ist abgeschlossen, wenn die therapeutische Variable auf alle festgelegten Zielreaktionen angewandt wurde. Es gibt keine speziellen Regeln im Hinblick darauf, wie viele Zielverhaltensweisen man benötigt, um die Wirkung der Behandlung sicher nachweisen zu können, doch wird man den Effektivitätsnachweis der therapeutischen Technik wohl bei mindestens 3 Zielverhaltensweisen verlangen. Vor- und Nachteile der Einzelfallstudien. Die Ergebnisse
von Einzelfallexperimenten sind zunächst auf die untersuchte Person beschränkt. Durch ihre Wiederholung an anderen Versuchspersonen und Auswertung aller Ergebnisse ist eine Generalisierung der Einzelfallergebnisse auf größere Populationen aber prinzipiell möglich. Bei der Einzelfallauswertung entfallen Fehler, die bei der statistischen Verrechnung von Gruppenergebnissen auftreten. So können sich z. B. bei einer Therapie die Werte der Patienten in unterschiedlicher Richtung ändern, ein Phänomen, das durch die Berechnung von Durchschnittswerten verwischt wird. Die experimentelle Einzelfalluntersuchung ist hinsichtlich eines individuumzentrierten Forschungsansatzes aussagekräftiger. Sie birgt aber viele
Probleme in sich. Aus der Art des Verfahrens wird bereits klar, dass es nur für psychotherapeutische Techniken, die bereits bei kurzzeitiger Einwirkung einen Effekt haben (z. B. bestimmte verhaltenstherapeutische Techniken), durchführbar ist. Obendrein setzt dieses Verfahren voraus, dass nach Absetzen der Technik wieder eine Symptomatik nachweisbar ist. Nur so ist es möglich, bei einem zweiten Durchgang mit erneuter Einführung des therapierelevanten Faktors dessen Wirksamkeit zu zeigen. Besteht diese Möglichkeit nicht, so bleibt die Vermutung, dass externe Einflüsse bzw. der Spontanverlauf und nicht die therapeutische Intervention zur Besserung bzw. Heilung geführt haben. Insgesamt kann man sagen, dass die Einzelfalluntersuchung bei bestimmten Fragestellungen aussagefähig ist, bei anderen dagegen nicht. Interferenzen aus anhaltenden Therapieeffekten und Spontanverlauf sind bei katamnestischen Untersuchungen im Rahmen von Einzelfallstudien nicht beurteilbar. Auch die Frage der Spezifität bzw. Unspezifität der therapeutischen Einwirkung lässt sich schwer entscheiden, besonders wenn es sich nicht um sehr klar umrissene therapeutische Techniken, sondern um verschiedene Arten der Gesprächsführung handelt, bei denen der Übergang von spezifischen zu nichtspezifischen Gesprächsformen fließend ist. Schließlich lassen sich mit der Einzelfallmethodik nur begrenzt Aussagen über die unterschiedliche Wirksamkeit von 2 therapeutischen Techniken machen. Auswertung von Einzelfallstudien. Die Auswertung von
Einzelfallstudien ist durch bessere statistische Analysemöglichkeiten methodisch verbessert worden. Einzelfallanalysen implizieren eine wiederholte Messung, was – wie in allen Designs mit wiederholten Messungen – eine Fülle von Problemen aufwirft. Der Einsatz des gleichen Messinstruments führt zu Übungs- und Ermüdungseffekten und damit zur Abhängigkeit der Beobachtungen voneinander. Die seriale Abhängigkeit der sukzessiven Beobachtungen kann obendrein zu unterschiedlichen Erhebungszeitpunkten erheblich variieren. Auf den Einsatz der herkömmlichen, auf der klassischen Testtheorie beruhenden Auswertungsverfahren (Petermann et al. 1977), die die Unabhängigkeit der Einzelbeobachtungen verlangen, muss aus diesem Grunde verzichtet werden. Besonders die Zeitreihenanalyse ist zu nennen, die Aussagen in Kausalrichtung möglich macht, also über die ledigliche Feststellung von Korrelationen hinausführt (⊡ Abb. 15.8a–d). Die Zeitreihenanalyse fasst die Merkmalsausprägung zu verschiedenen Beobachtungszeitpunkten als Ausdruck eines prozessunabhängigen Verlaufs ab und strebt die Zerlegung der Entwicklung in einzelne Komponenten – Trend, Oszillation um den Trend, Fehlkomponente – an. Die einzelnen Komponenten werden systematisch geschätzt und damit wird die Frage beantwortet, welchen Anteil sie am Verlauf des Gesamtpro-
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Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
⊡ Abb. 15.8a–d. Einige Verläufe von quasiexperimentellen Zeitreihen mit und ohne Effekt in Phase B gegenüber A. a Kein experimenteller Effekt, aber deutliche Mittelwertsunterschiede, b experimenteller Effekt, aber keine Mittelwertsunterschiede, c experimenteller Effekt mit Niveauanhebung ohne Veränderung des Trends der beobachteten Daten, d experimenteller Effekt mit Trendveränderung ohne Niveauverlagerung
zesses haben. Dafür liegen verschiedene deterministische und stochastische Modelle vor, wobei die deterministischen wegen der großen Anzahl unbekannter Störfaktoren in der Psychotherapieforschung als weniger adäquat eingeschätzt werden (Petermann 1977; Möller et al. 1989).
Beschreibung der therapeutischen Technik
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Ein Hauptproblem in der Psychotherapieforschung besteht darin, die spezifischen Therapiefaktoren unter bestimmten Kategorien zu beschreiben. Dies ist erforderlich, weil die theoretische Ausrichtung des Therapeuten allein keine ausreichende Beschreibung darstellt. Therapeuten gleicher Schulen können völlig unterschiedliche Therapiestile innehaben. Therapeuten verschiedener Schulen können z. T. ähnliche Therapiestile aufweisen usw. Gerade das, was der Therapeut in der Therapiesituation wirklich macht, ist entscheidend, wenn man die therapeutisch relevanten Faktoren auf ihre Effektivität untersuchen will. Die Beschreibung der praktizierten therapeutischen Technik wird durch 2 Probleme erschwert. Einerseits empfinden es Psychotherapeuten als schweren Eingriff in die Therapiesituation, wenn Beobachter in irgendeiner Weise (direkte Beobachtung, audiovisuelle Verfahren) am Therapieprozess teilnehmen, auf der anderen Seite fehlen geeignete Kategorien zur Erfassung dieser therapeutischen Variablen. Eine solche Kategorisierung ist besonders wichtig, wenn man schulenübergreifende Psychotherapieforschung betreiben will und von der Hypothese ausgeht, dass letztlich in jeder psychotherapeutischen Situation bestimmte Faktoren der Therapietechnik zum Tragen kommen, deren Ausmaß und deren jeweilige Kombination in den verschiedenen Behandlungsmethoden aber noch nicht ausreichend untersucht sind (Bergin u. Strupp 1972; Grawe et al. 1994). Ein solches Kategoriensystem könnte u. a. folgende Variablen enthalten: Konditionierungsprozesse: Belohnung und Bestrafung, soziales Lernen einschließlich Imitation und Identifikation,
kognitives Lernen, Häufigkeit und Art der Deutungen, direktives oder nondirektives Vorgehen, Einfühlungsvermögen und Wärme des Therapeuten.
Operationale Umsetzungen solcher Kategorien in die Beobachtungsebene liegen nur begrenzt vor. Das Problem der operationalen Charakterisierung bestimmter therapeutischer Variablen ist bei weitem noch nicht gelöst. Durch weitere Forschungsarbeit muss versucht werden, die jeweiligen Schätzskalen zu verbessern. Eventuell muss aber noch mehr auf einfachere, direkt beobachtbare Merkmale zurückgegriffen werden, z. B. auf Sprache, Mimik oder Gestik, und auf dieser Ebene Interaktionssequenzen beschrieben und mit dem Therapieeffekt in Verbindung gesetzt werden.
Unspezifische Einflussfaktoren Für den Ausgang von Psychotherapiemaßnahmen sind viele Einflüsse von Bedeutung (Luborsky et al. 1971; Garfield 1973; Razin 1977). Sofern es sich dabei um Einflüsse handelt, die direkt mit dem Therapieangebot in Zusammenhang stehen, können sie als mehr oder weniger unspezifische Therapiefaktoren klassifiziert werden. ! Die Erfassung therapieinterner unspezifischer Einflussgrößen, wie z. B. die Glaubwürdigkeit der Therapiemaßnahme, ist von großer Wichtigkeit bei der Beurteilung der Effektivität der zu prüfenden Therapiefaktoren. Neben solchen therapieinternen Einflüssen sind die therapieexternen zu erwähnen, z. B. Einflüsse, die vom familiären Umfeld ausgehen oder durch zwischenzeitliche Veränderungen der persönlichen Lebenssituation (z. B. Partner- oder Arbeitsplatzwechsel) bedingt sind. Viele sonstige, bereits erwähnte Einflussgrößen wären hier noch zu nennen. Da sie wahrscheinlich von erheblicher Relevanz für das Ergebnis einer Psychotherapie sind, muss versucht werden, möglichst viele dieser Einflussgrößen standardisiert zu erfassen, um Psychotherapieresultate vergleichbar zu machen.
Effizienzkriterien Die Frage der relevanten Effizienzkriterien wird in der Psychotherapieforschung mehr diskutiert als in der klinischen Psychopharmakologie, in der v. a. Symptomreduktion und ggf. Verbesserung funktionaler Parameter (z. B. soziale Adaptation) als ausreichende Kriterien gelten. Aus allen genannten Untersuchungsergebnissen ergibt sich konsequenterweise die Forderung nach einer multimethodalen Diagnostik (Seidenstücker u. Baumann 1978), bei der Informationen aus verschiedenen Datenquellen und Datenebenen kombiniert werden, um optimale Daten über therapeutisch induzierte Veränderungen zu erhalten.
365 Literatur
Ein systemimmanenter Ansatz allein, bei dem andere Beurteilungskriterien vernachlässigt werden, ist ungenügend (Hoffmann u. Gebhardt 1973). Systemimmanente Effektivitätskriterien sind z. B.: in der Gesprächspsychotherapie die Annäherung von Selbstkonzept und Idealkonzept, in der Psychoanalyse die Einsicht in die psychodynamischen Hintergründe der neurotischen Symptomatik, in der Kommunikationstherapie die Emotionalisierung der eigenen Äußerungen. Gehen derartige Veränderungen nicht mit einer Beeinflussung der beobachtbaren oder vom Patienten erlebten psychischen Störung einher, so kann kaum von einem relevanten Therapieerfolg gesprochen werden. Um zu interpretierbaren Ergebnissen zu kommen, sollte bei jeder Psychotherapieeffektivitätsprüfung sowohl die objektive Ebene des beobachtbaren Verhaltens (z. B. Symptomatik, soziale Integration) als auch die subjektive Ebene kognitiv emotionaler Prozesse (z. B. Befindlichkeit, Kognitionen) einbezogen werden. Neben allgemein vergleichbaren Veränderungsmaßen müssen dabei auch individuelle Veränderungsmaße berücksichtigt werden (Kiesler 1977).
Ergänzende Methoden in der Evaluation psychosozialer Therapieverfahren In diesem Zusammenhang seien in aller Kürze weitere alternative bzw. ergänzende Verfahren aus dem Feld der Psychotherapieforschung bzw. der psychiatrischen Versorgungsforschung (Kallert 2005) erwähnt. Interessant sind Varianten der randomisierten Kontrollgruppenstudie, die die Behandlungspräferenz der Patienten berücksichtigen (Brewin u. Bradly 1989). Dies kann erfolgen, indem ein Präferenzstudienarm, in den ebenfalls randomisiert wird, in ein Standard-RCT-Design inkludiert wird. Die zweite Variante ist die Anwendung eines Comprehensive-Cohort-Designs (Muche et al. 2003). Hierbei wird ein Vergleich zwischen den randomisierten Patienten und einer Patientengruppe, die zwar die Studienschlusskriterien erfüllen, aber einer randomisierten Therapiezuteilung nicht zustimmten, vorgenommen. Im Falle nichtdurchführbarer randomisierter oder nichtrandomisierter Kontrollgruppenansätze, werden alternativ nichtexperimentelle Verfahren zur Evaluation angesetzt. Insbesondere, wenn Routine-Outcome-Daten verfügbar sind, ist die Durchführung von CBA-(»controlled before and after«-)Studien eine Möglichkeit, um institutionell gebundene Interventionen zu evaluieren, für die Kontrollgruppen gebildet werden können, eine Randomisierung aber unmöglich oder nicht durchführbar ist. Sollte die Bildung einer adäquaten Kontrollgruppe nicht möglich sein, sind Längsschnittstudien durchzuführen, die allerdings gegenüber Effekten von Interventionen, die
gleichzeitig zu der zu untersuchenden erfolgen, nicht robust sind (Kallert 2005).
Program Development Model Im Gegensatz zu vielen klassisch experimentell orientierten Psychotherapieforschern, empfahlen Gottman u. Markman (1978) ein mehr pragmatisches und praxisnahes Vorgehen. Ausgehend von industriellen Planungsmethoden (Box u. Draper 1969) befürworten sie ein »program development model« für die Psychotherapieforschung (⊡ Abb. 15.7). Es soll durch eng aufeinander bezogene kleinere Forschungsprogramme in den einzelnen Stufen der Programmentwicklung ein für eine definierte Zielpopulation adäquates Psychotherapieverfahren entwickeln helfen. Dieses Verfahren wird durch immer wieder vorzunehmende Überprüfungen und Verbesserungen in seiner Wirksamkeit sowie hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Relation sukzessiv optimiert. Wie aus Abb. 15.8a–d zu ersehen ist, wird dabei nicht nur auf die Patienten geachtet, die die Therapie erfolgreich abschließen, sondern es werden auch »drop-outs« und Behandlungsmisserfolge berücksichtigt. Die erfolglos Therapierten und die Therapieabbrecher werden hinsichtlich spezieller Merkmale mit den erfolgreich Therapierten verglichen, und es wird versucht, durch Änderungen im Programm auch diesen Patienten Hilfe zu geben. Zeigt die Evaluation geänderter Programme, dass dies nicht möglich ist, wird die Indikationsstellung für das Therapieprogramm modifiziert. Eine solche Evaluationsstrategie über verschiedene Etappen der Entwicklung eines therapeutischen Programms entspricht vielleicht am besten den Gegebenheiten der realen psychotherapeutischen Versorgungssituation. Es ist aber vielleicht eher mit der Phase-IV-Forschung in der Evaluation psychopharmakologischer Verfahren vergleichbar und ersetzt nicht kontrollierte Wirksamkeits-Untersuchungen analog zu den Ansätzen der Phase-III-Studien in der klinischen Psychopharmakologie.
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Kapitel 15 · Methodik empirischer Forschung
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15
II Klassifikation und Diagnostik
16
Traditionelle Klassifi aktionssysteme J. Klosterkötter
– 371
17
Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme H. J. Freyberger
18
Biografische und Krankheitsanamnese P. Hoff
19
Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung – 419 B. Widder
20
Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung – 435 H. Sass, P. Hoff
21
Standardisierte psychiatrische Befunderhebung – 455 H.-J. Möller
22
Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik – 483 R. R. Engel, K. Fast
23
Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring – 511 B. Bondy, M. Schwarz
24
Neurophysiologische Untersuchungsmethoden U. Hegerl, O. Pogarell
25
Diagnostik mit bildgebenden Verfahren – 553 H.-P. Volz, E.M. Meisenzahl
26
Psychopharmakotherapie: Pharmakologische Grundlagen – 583 W. E. Müller
– 393
– 409
– 529
16 16 Traditionelle Klassifikationssysteme J. Klosterkötter 16.1 16.1.1 16.1.2 16.1.3
Die Idee der natürlichen Einteilung – 372 Nosografische Anfänge – 372 Einheitspsychotische Stadienlehre – 373 Klinisch-nosologisches Einteilungsprogramm – 374 16.1.4 Realisierungsprobleme und Programmkritik – 376
16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 16.2.5 16.2.6
Der bisherige Annäherungsprozess an die Idee der natürlichen Einteilung – 378 Psychopathologische Revision des nosologischen Programms – 378 Duales System der klinischen Psychopathologie – 380 Triadisches System der Psychiatrie – 382 Alternative Systematisierungsversuche – 385 Pragmatische Diagnoseschemata – 388 Verhältnis zur modernen Klassifikation – 389 Literatur
– 391
> > Als Trennlinie zwischen moderner und traditioneller Klassifikation wird die Einführung des Operationalisierungsprinzips in die psychiatrische Diagnostik angesehen. Die Nosographie stellte Anfang des 19. Jahrhunderts den Beginn der psychiatrischen Klassifikation dar. In der Folge entwickelte sich die auch heute den Klassifikationsprozess noch vorantreibende Idee der natürlichen Einteilung nach zugrunde liegenden Krankheitseinheiten. Griesinger hatte zunächst noch geglaubt, keine Grenzen ziehen zu können und den Begriff der Einheitspsychose geprägt. Kahlbaum forderte dann aber, bei der Diagnosestellung nicht nur den Zustand, sondern auch den Prozess der Erkrankung zu berücksichtigen und formulierte ein neues klinisch-nosologisches Einteilungsprogramm. Diese Einteilung modifizierte Kraepelin. Er unterschied exogene, endogene und psychogene Krankheitsformen, was zu einer triadischen Anordnung führte. Er prägte den Begriff »Dementia praecox« und führte damit die Dichotomie zwischen schizophrenem und manisch-depressivem Formenkreis ein. Kraepelin hielt an der Idee der natürlichen Einteilung fest. Sein Hauptkritiker war Wernicke. Jaspers forderte, sich bei einer psychischen Erkrankung sowohl die Phänomenologie zu vergegenwärtigen als auch die lebensgeschichtliche Genese nachzuvollziehen. Bei Erkrankungen, die die Sinnkontinuität der Biografie unterbrechen, nahm er eine hirnorganische Verursachung an. Schneider entwickelte daraufhin das duale System der klinischen Psychopathologie und unterschied abnorme Spielarten seelischen Wesens von Krankheitsfolgen. Huber stellte den abnormen Spielarten und den Krankheitsfolgen die endogenen Psychosen zur Seite, so dass sich wieder ein triadisches Schema ergab. Für eine internationale Klassifikation forderte Stengel in allen Kriterien explizite, klar gefasste Diagnosekategorien. Diese Forderung wurde im DSM-III erstmalig umgesetzt. Die neuen Diagnoseschemata werden von einigen als Bruch mit der Tradition empfunden. Aber es war gerade die Tradition, die Einfluss auf die programmatische Leitidee und den deskriptiven Ansatz der Neuerungen hatte.
372
Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
Trennlinie zwischen traditionell und modern Als Maßstab für die Abgrenzung moderner von traditionellen Klassifikationssystemen bietet sich beim derzeitigen Entwicklungsstand die Einführung des Operationalisierungsprinzips in die psychiatrische Diagnostik (Kendell 1978) an. Dementsprechend müssen unter traditionellen Klassifikationssystemen letztlich alle Einteilungsversuche psychischer Störungen verstanden werden, die man vor der Veröffentlichung der erstmals mit dem Operationalisierungsprinzip arbeitenden 3. Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM-III) der American Psychiatric Association (APA) im Jahre 1980 unternommen hat. Das DSM-III (APA 1980) ist inzwischen vom DSM-III-R (APA 1987) und diese revidierte Fassung ihrerseits schon wieder vom DSM-IV (APA 1994) abgelöst worden. Durch die methodologischen Neuerungen im DSMIII, die mit der 1991 publizierten 10. Ausgabe erstmals auch in der Internationalen Krankheitsklassifikation (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) partiell zur Geltung gekommen sind, hat man also das Endziel einer sachlich voll befriedigenden Klassifikation noch nicht erreicht. Auch die heute aktuellen Diagnosesysteme ICD-10 und DSM-IV werden aus Gründen, die gerade der Rückblick auf die traditionellen Klassifikationssysteme deutlich macht, in absehbarer Zeit wieder revidierten Versionen weichen müssen. Die Voraussetzungen dafür, dass dieser andauernde Revisionsprozess schließlich zur Bereitstellung eines ausreichend reliablen und v. a. auch validen, weltweit akzeptablen Klassifikationssystems führt, sind aber durch die definitorische Operationalisierung der psychiatrischen Diagnosebegriffe sicherlich entscheidend verbessert worden. Daher kann man durch den Verweis auf diese methodologische Neuerung in der Tat eine Trennungslinie zwischen modernen und traditionellen Klassifikationssystemen ziehen.
16.1
Die Idee der natürlichen Einteilung
Auch das infolge umfangreicher Vorbereitungsarbeiten methodologisch am weitesten ausgereifte und empirisch am besten fundierte moderne Klassifikationssystem, das DSM-IV, stellt einen kategorialen Ansatz dar. Die an der Entwicklung beteiligten Arbeitsgruppen halten damit in abgeschwächter Form an der alten Vorstellung qualitativer Unterschiede zwischen psychischer Gestörtheit und Normalität sowie zwischen den einzelnen psychischen Störungen untereinander fest.
Natürliche Grenzsetzung Ein solcher kategorialer Ansatz ist als umso valider anzusehen, je genauer er mit den darin vorgesehenen Ein- und Ausschlusskriterien eben diese Unterschiede nachzeichnet und somit die angenommenen natürlichen Grenzen oder, verteilungsstatistisch gesprochen, Diskontinuitäten (Kendell 1978) trifft. Nur bei einer derart natürlichen Grenzsetzung würden nämlich Patienten mit Merkmalen von zwei voneinander abgetrennten Diagnosen tatsächlich signifikant seltener vorkommen als solche nur mit den Anzeichen jeweils einer dieser Kategorien. Nur so könnte man also zu nomenklatorisch klar fixierten Diagnosebegriffen im Sinne einander ausschließender Klassen mit homogenen Mitgliedern und schließlich zu einem vollständigen System mit eindeutigen diagnostischen Zuordnungsmöglichkeiten für jeden Einzelfall gelangen. Die dahinterstehende Idee einer natürlichen Einteilung der Seelenstörungen besitzt eine lange Tradition. Sie entstand bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zuge einer auch heute noch aufschlussreichen Entwicklungsgeschichte.
16.1.1
Nosografische Anfänge
Schwerpunktsetzung
16
Die Bemühungen um eine adäquate Einteilung der psychischen Störungen haben bereits Anfang des 19. Jahrhunderts eingesetzt, als sich die Psychiatrie allmählich als eigenständige medizinische Wissenschaft zu etablieren begann. Sie waren gerade in dieser Anfangszeit außerordentlich zahlreich und wiesen schon alleine im deutschen Sprachraum erhebliche Widersprüche untereinander auf. Eine Darstellung aller traditionellen Einteilungsversuche bis zum Entwicklungsstand von 1980 würde leicht eine umfangreiche Monografie füllen; sie wäre heute zum überwiegenden Teil auch nur noch von historischem Interesse. Vollständigkeit in diesem Sinne kann also nicht das Ziel der folgenden Darstellung sein. Der Schwerpunkt wird auf dem deutschsprachigen Raum liegen.
Erste naturwissenschaftlich orientierte Ansätze Die psychiatrische Klassifikation begann Anfang des 19. Jahrhunderts mit grundlegenden Schilderungen psychopathologischer Zustandsbilder. Von Pinel (1745–1826) und v. a. Esquirol (1772–1840), die heute zu Recht als Begründer der klinischen Psychiatrie gelten, stammen zahlreiche Schilderungen von großer Anschaulichkeit und Lebendigkeit. Den Ausgangspunkt bildeten dabei sehr sorgfältige, feine und genaue Beobachtungen der Kranken und der von ihnen gebotenen klinischen Tatbestände. In Anbetracht dieser empirischen Ausrichtung kann man in den französischen Pioniergestalten zusammen mit Gall (1758–1828) und Reil (1759–1813), die damals schon eine Frühform der Hirnlokalisationslehre vertraten und in diesem Zusammenhang vom Gehirn als dem »Organ der Seele« sprachen, zugleich auch die Begründer einer naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie sehen. Im deut-
373 16.1 · Die Idee der natürlichen Einteilung
schen Sprachraum ging die Entwicklung der Psychiatrie von den großen Anstalten, etwa in Winnenthal oder in Illenau, aus. Gerade die bedeutenden Vertreter dieser frühen Anstaltspsychiatrie waren in ihren Auffassungen weitgehend durch die aus Frankreich stammende Nosografie bestimmt.
Romantische Psychiatrie Bevor es zu einer klaren und dauerhaften Ausrichtung auf die damals entstehenden Grundlagenwissenschaften »physiologische Psychologie«, Neurophysiologie und Neuroanatomie kam, beeinflusste zunächst noch eine Spätform des deutschen Idealismus, nämlich die Naturphilosophie Schellings, die Entwicklung des Faches. Aus diesem Grund dominierte eine Zeit lang die romantische Bewegung in der Medizin auch in der Psychiatrie und führte hier zu dem von Heinroth (1773–1843) begründeten Standpunkt der »Psychiker«. Danach waren zwar auch durch äußere Einwirkungen auf das Nervensystem verursachte organisch-psychische Zustände anzuerkennen, aber die eigentlichen Seelenkrankheiten sollten doch aus der Seele selbst, oder besser gesagt, der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung entstehen. Viele der Darstellungen der romantischen Psychiatrie wirken auf den heutigen Leser aufgrund ihrer theologisch-moralisierenden Ausdrucksweise irritierend spekulativ. Auf der anderen Seite ist aber nicht zu übersehen, dass darin schon einige der Grundannahmen der späteren psychoanalytischen Schulen, der Psychosomatik, der anthropologischen und daseinsanalytischen Richtungen bis hin zur Sozialpsychiatrie vorweg genommen worden sind (Janzarik 1974).
16.1.2
Einheitspsychotische Stadienlehre
Der erste umfassende Ordnungsversuch psychischer Störungen beendete den Streit der »Somatiker« und der »Psychiker« um die richtige Interpretation der nosographischen Bilder. Er geht auf den Belgier Guislain (1797– 1860), den deutschen Anstaltspsychiater Zeller (1804– 1877) und v. a. auf dessen Schüler Griesinger (1817–1868) zurück. Dieser wurde 1865 nach Berlin an die Charité berufen und war somit erster deutscher Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie. Erst zzt. Kraepelins, dann schon in kritisch-distanzierender Absicht, wurde dieser Ordnungsversuch auf den Begriff der Einheitspsychose gebracht.
Griesingers Stadienlehre Für Griesinger war klar, dass die psychischen Krankheiten eigentlich nach ihrem Wesen einzuteilen seien. Dieses Wesen sah er ganz entschieden in den zugrunde liegenden anatomischen Veränderungen des Gehirns. Da aber hirnorganische Korrelate nur für einen kleinen Teil der verschiedenen psychischen Symptomenkomplexe, etwa für fortgeschrittene Formen des »Blödsinns« oder durch
»Paralyse komplizierte psychische Schwächezustände«, bekannt waren, konnte die Ordnung nicht nach dem eigentlich für angemessen gehaltenen anatomischen Einteilungsprinzip vorgenommen werden. Sie musste vielmehr nach Gesichtspunkten der damals auch von Griesinger herangezogenen »physiologischen Psychologie« erfolgen und diese schienen ihm schließlich gar keine wirklichen Grenzziehungen zwischen den einzelnen psychischen Störungen zu erlauben.
Psychisch-anomale Grundzustände Bei der Analyse der psychologischen Grundstruktur zeichneten sich zwar 2 große Gruppen »psychisch-anomaler Grundzustände« ab: 1. die eine gekennzeichnet durch »krankhaftes Entstehen, Herrschen, Fixiertbleiben von Affekten und affektartigen Zuständen«, 2. die andere bestimmt von »falschem Denken und Wollen« ohne tiefere Gemütsveränderung. Die Zustände der ersten Gruppe schienen aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle denen der zweiten vorauszulaufen, so dass die letzteren eher als deren Folgen oder Ausgänge zu betrachten waren. Auch innerhalb der ersten Gruppe glaubte Griesinger wieder eine gewisse Aufeinanderfolge der einzelnen Arten affektartiger Zustände feststellen zu können und sah darüberhinaus auch fließende Übergänge zur psychischen Normalität als gegeben an. So war es für ihn schließlich nur konsequent, die psychopathologischen Symptomenkonstellationen nicht als voneinander unabhängige Einzelstörungen, sondern nur verschiedene Stadien eines Krankheitsprozesses aufzufassen, der zwar »modifiziert, unterbrochen, verändert werden kann, im ganzen aber einen steten, sukzessiven Verlauf einhält, der bis zum gänzlichen Zerfall des psychischen Lebens gehen kann« (Griesinger 1861, S. 212; ⊡ Abb. 16.1).
Kontinuität zwischen Normalität und psychischer Erkrankung Die in ⊡ Abb. 16.1 skizzenhaft verdeutlichte Einordnung der nosografischen Bilder in die Einheit eines Krankheitsprozesses hat sich als erstaunlich durchsetzungsfähig erwiesen. Trotz der vielfältigen Neuansätze dieser Zeit, besonders der neuropsychiatrischen Hirnforschung, aber auch der Vererbungs- und der Degenerationslehre, hat sie die klassifikatorischen Bemühungen noch bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein bestimmt. ! Dennoch hätte sie in einem Kapitel wie diesem keine Erwähnung mehr finden müssen, wenn darin nicht zum ersten und in dieser Konsequenz bisher einzigen Male die Kontinuität, die Grenzenlosigkeit fließender Übergänge bis hin zur psychischen Normalität zum Ausdruck gekommen wäre.
16
374
Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
⊡ Abb. 16.1. Einheitspsychotische Stadienlehre
Dieser Gesichtspunkt ist es, der auch K. Jaspers (1913) und K. Schneider (1950) sowie später W. Janzarik (1980) und neben vielen anderen etwa auch R. E. Kendell (1978) bei ihren Grundsatzüberlegungen zur psychiatrischen Klassifikation noch interessiert hat und der auch heute angesichts neuer empirischer Befunde (Berrios u. Beer 1992; Maier 1992) wieder Aktualität besitzt. Nach den alten wie neuen Kontinuitätshypothesen müsste man nämlich dimensionale Ansätze in die modernen Klassifikationssysteme mit einbeziehen; und dies ist durchaus eine Perspektive, die mit zu den gegenwärtig diskutierten Fortentwicklungsmöglichkeiten gehört (APA 1994).
Argumente gegen die Einheitspsychose
16
Es gab auch schon im frühen 19. Jahrhundert Beobachtungen, die dem einheitspsychotischen Diagnoseschema widersprachen. Dazu gehörten etwa die klinische Abgrenzung der später auf eine ausschließlich luetische Ätiologie zurückgeführten progressiven Paralyse durch Bayle (1822) oder die Beschreibung depressiver und manischer Phasen ohne konsekutive Verrücktheit durch Falret als »folie circulaire« (1851) und durch Baillarger als »folie á double« (1854).
Beschreibung der »primären Verrücktheit« Aber erst ein Vortrag, in dem Snell 1865 insgesamt 8 Fälle mit Wahnbildung ohne melancholische oder andere affektive Prodromi vorstellte, leitete die allmähliche Distanzierung von der einheitspsychotischen Stadienlehre ein. Griesinger selbst akzeptierte 1867 die darin offenbar zum Ausdruck kommende primäre Manifestationsmöglichkeit der Verrücktheit und führte sie hypothetisch auf »anomale Aktion der Hirnrinden-Zellen« (Griesinger 1872) zurück.
Entwertung von Griesingers Ordnungsversuch. Aus heu-
tiger Sicht handelt es sich bei den von Snell beschriebenen Kranken eindeutig um Fälle von paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie. Im Rückblick erscheint es interessant, dass man beim gegenwärtigen Kenntnisstand dieser Beobachtung sicherlich kein solches Gewicht beimessen würde. Denn nach neueren, mit verfeinerter und zuverlässigerer Methodik erhobenen Befunden (Häfner et al. 1995) sind paranoid-halluzinatorische Erstmanifestationen ganz ohne vorauslaufende affektive Veränderungen – wenngleich auch nicht in den ausgeprägten, von Griesinger beschriebenen Formen, sondern mehr nach Art uncharakteristischer Depressionszustände – eher als die Ausnahme anzusehen. Damals jedenfalls entwertete die Entdeckung und Anerkennung der »primären Verrücktheit« in den Augen der Zeitgenossen Griesingers Ordnungsversuch. Diagnostisches Chaos. Infolgedessen wurden auch ande-
re abweichende Beobachtungen stärker betont und der gesamte Klassifikationsprozess mündete schließlich wieder in das gleiche diagnostische Chaos mit zahlreichen einander widersprechenden Einteilungsvorschlägen der einzelnen Lehrbuchautoren ein, wie es für die nosographische Gründerzeit bezeichnend war (Janzarik 1974).
16.1.3
Klinisch-nosologisches Einteilungsprogramm
In dieser Situation formulierte Kahlbaum (1828–1899), anfangs noch wenig beachtet und ohne größere Auswirkungen, ein neues klinisch-nosologisches Einteilungsprogramm. Danach galt es zunächst, sich – am Beispiel
375 16.1 · Die Idee der natürlichen Einteilung
der in der Körpermedizin, etwa durch Pioniere wie Koch oder Pasteur, bei der Entdeckung der Infektionskrankheiten erzielten Fortschritte – den Unterschied zwischen bloßen symptomatologischen Zustandsbildern und wirklichen Krankheitseinheiten klar zu machen. Solange man in der Psychiatrie noch wie in der nosografischen Anfangszeit einfach die gerade beobachteten und beschriebenen Symptomkonstellationen mit Krankheiten gleichsetzte, fiel es zwar leicht, einzelne Krankheitsformen zu umgrenzen; aber deren Einteilung nach einheitlichen Gesichtspunkten in Diagnosegruppen musste zwangsläufig scheitern, weil es einfach zu viele Misch- und Übergangsformen gab.
(1856–1926) unter Anwendung gerade von Kahlbaums eigenen Gesichtspunkten wieder aufgelöst und in die übergreifende Einheit der »Dementia praecox« überführt werden. ! Aber die Programmatik selbst hatte Bestand und gewann für die Diagnosestellung immer mehr an Anerkennung und Wirkung.
Modifizierung durch Kraepelin Von Auflage zu Auflage wurden dementsprechend in Kraepelins Lehrbuch die aus der nosographischen und der einheitspsychotischen Tradition stammenden Einteilungsversuche mehr und mehr modifiziert.
Kahlbaums Definition von Diagnose Demgegenüber verlangte jetzt Kahlbaum, unter einer Diagnose nicht mehr nur die Erfassung eines psychopathologischen Zustandsbildes, sondern die Feststellung des ihm zugrundeliegenden, in der Natur, wie es die somatische Medizin zu belegen schien, als Einheit vorgegebenen pathologischen Prozesses zu verstehen. Um dies zu erreichen, schlug er 2 damals zwar keineswegs neue, aber bis dahin noch nicht mit der geforderten Strenge und Konsequenz bei den Klassifikationsbemühungen angewandte Verfahrensweisen vor: 1. Einmal sollte jetzt auch die Entstehungsgeschichte, die weitere Entwicklung und der Ausgang der jeweiligen psychischen Störung, also deren gesamter Verlauf, berücksichtigt werden. 2. Zum zweiten sollten »möglichst alle Lebenserscheinungen am einzelnen Kranken« (Kahlbaum 1878) für die Diagnosestellung verwertet werden. Diese zweite Forderung lief auf eine Zusammenfassung aller bis dahin mehr oder weniger nur einzeln verwandten Einteilungsgesichtspunkte und damit auf folgende Einteilung hinaus: nach den symptomatologischen Merkmalen des klinischen Erscheinungs- oder Zustandsbildes, nach Verlauf und Ausgang, nach den hirnpathologischen Korrelaten und nach den Ursachen als jeweils gemeinsam zu beachtenden Ein- und Ausschlusskriterien.
Klinische Anwendung Bei der Beschreibung der dem späteren paranoiden Schizophrenietyp entsprechenden »Vesania typica« hat sich Kahlbaum allerdings noch von Griesingers Stadienlehre leiten lassen. Auch misslangen ihm letztlich die ersten Umsetzungsversuche seines Programms nicht nur bei der Abgrenzung der Katatonie, sondern auch bei der gemeinsam mit seinem Schüler Hecker vorgenommenen Beschreibung der Hebephrenie. Denn diese beiden schon als Diagnoseeinheiten im neuen nosologischen Sinne verstandenen Störungen mussten später von Kraepelin
Berücksichtigung der Gesamtentwicklung. Dabei sah
Kraepelin insbesondere die erste der beiden von Kahlbaum neu vorgeschlagenen Verfahrensweisen als außerordentlich wichtig an, weil er erwartete, dass im Verlauf und Ausgang die wesentliche Symptomatik hervortreten und daher die Berücksichtigung der Gesamtentwicklung der betreffenden Seelenstörung eine Trennung der »dauernden und kennzeichnenden Symptome« von bloß »zufälligen und vorübergehenden Begleiterscheinungen« ermöglichen würde (Kraepelin 1910). Durch diese verlaufsbezogene symptomatologische Differenzierung synthetisierte er u. a. aus der »Dementia paranoides« (vor der 6. Auflage seines Lehrbuchs, 1899, »Vesania typica« genannt), Katatonie und Hebephrenie die »Dementia praecox«. E. Bleuler verwandte dann 1908 erstmals den Begriff »Schizophrenie«. Durch diese Synthese konstituierte Kraepelin zugleich die grundlegende Dichotomie zwischen dem schizophrenen und dem manisch-depressiven Formenkreis. Berücksichtigung »aller Lebenserscheinungen«. Die Um-
setzung auch der zweiten von Kahlbaum vorgeschlagenen Verfahrensweise wurde demgegenüber zwar weiterhin durch den Mangel an hirnorganischen Korrelationsbefunden und darauf bezogenen Ursachenkenntnissen behindert. Dass aber dann, wenn man die klassifikatorischen Grenzen zwischen den Formen und Formenkreisen mit Hilfe der Verlaufsbeobachtung tatsächlich genau dort ziehen könnte, wo grundsätzliche Verschiedenheiten von der Natur her vorgegeben sind, die Gruppierungen nach den beiden anderen, im Zuge weiterer Forschung noch genauer zu ermittelnden Einteilungsgesichtspunkten, dem der pathologisch-anatomischen Fundierung und dem der Ätiologie, vollkommen damit zusammenfallen würden, davon war und blieb Kraepelin überzeugt. Er hat diese Annahme immer wieder seine Grundanschauung genannt und sich damit am klarsten zur Idee der natürlichen Einteilung nach vorgegebenen Krankheitseinheiten
bekannt (⊡ Tab. 16.1).
16
376
Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
⊡ Tab. 16.1. Einteilung der Seelenstörungen nach E. Kraepelin
Kraepelins Einteilung der Seelenstörungen
I.
Irresein bei Hirnverletzungen
II.
Irresein bei Hirnerkrankungen
ge des Lehrbuchs, der letzten, die zwischen 1909 und 1915 noch zu Lebzeiten Kraepelins erschienen ist. Darin werden für die Gliederung im Einzelnen das klinische Erscheinungsbild, Verlauf und Ausgang sowie, soweit als möglich, auch der anatomische Einteilungsgesichtspunkt und für die Gewinnung der großen Hauptgruppen die Verschiedenheiten in der Verursachung benutzt.
III.
Vergiftungen 1. Akute Vergiftungen 2. Chronische Vergiftungen − A. Alkoholismus − B. Morphinismus − C. Kokainismus
IV.
Infektiöses Irresein − A. Fieberdelirien − B. Infektionsdelirien − C. akute Verwirrtheit (Amentia) − D. infektiöse Schwächezustände
V.
Syphilitische Geistesstörungen
Vl.
Dementia paralytica
VII.
Seniles und präseniles Irresein − A. Präseniles Irresein − B. Arteriosklerotisches Irresein − C. Altersblödsinn
VIII.
Thyreogenes Irresein − A. Psychische Störungen bei Morbus Basedow
⊡ Tab. 16.1 zeigt den Einteilungsversuch aus der 8. Aufla-
Triadische Anordnung Da schon nach der damaligen Ursachenlehre Psychosen mit äußeren und inneren Ursachen auseinander zu halten und darüber hinaus noch ätiologisch unklare Störungen und solche mit scheinbar seelischen Ursachen zu berücksichtigen waren, entstand so im Großen eine Dreiteilung in »exogene« (I–VIII), »endogene« (IX–XI) und »psychogene« (XII–XVII) Krankheitsformen. Diese triadische Anordnung hat in der Folgezeit sehr überzeugend gewirkt und ist in den Einteilungsbemühungen der deutschsprachigen Psychiatrie letztlich bis hin zur Übernahme der modernen Klassifikationssysteme immer wiedergekehrt.
− B. Myxödematöses Irresein − C. Kretinismus IX.
Endogene Verblödungen − A. Dementia praecox − B. Paranoide Verblödungen (Paraphrenien)
X.
Epileptisches Irresein
XI.
Manisch-depressives Irresein
XII.
Psychogene Erkrankungen 1. Tätigkeitsneurosen (Ponopathien) − A. Nervöse Erschöpfung − B. Erwartungsneurose 2. Verkehrspsychosen (Homilopathien) − C. Induziertes Irresein − D. Verfolgungswahn der Schwerhörigen 3. Schicksalspsychosen (Symbantopathien) − E. Unfallsneurosen − F. Psychogene Geistesstörungen der Gefangenen − G. Querulantenwahn
XIII.
Hysterie
XIV.
Verrückheit (Paranoia)
XV.
Originäre Krankheitszustände
16
− A. Nervosität − B. Zwangsneurose
Diagnosekriterien als »brauchbare Begriffe« In den Einzelstörungen seiner Gliederung sah Kraepelin im Übrigen auch in der 8. Auflage noch keineswegs die angestrebten Krankheitseinheiten. Er sprach vielmehr davon, dass diese Diagnosekategorien bestenfalls »brauchbare Begriffe« darstellen könnten, und wählte damit interessanterweise schon dieselbe Formulierung, die heute zur Kennzeichnung der zwar zuverlässiger handhabbaren, aber auch noch nicht als valide erwiesenen Diagnoseeinheiten in ICD-10 und DSM-IV Verwendung findet (Kendell 1978; APA 1994). Mit Brauchbarkeit war damals – schon genauso wie heute wieder – in erster Linie die Eignung zur Vorhersage von Verlauf und Ausgang gemeint. Diese prognostische Validität sollte nach Kraepelins Vorstellungen im Zuge der von ihm in Gang gebrachten Anwendung des klinisch-nosologischen Programms immer weiter zunehmen, bis schließlich eine Einteilung erreicht wäre, die den natürlichen Krankheitsvorgängen mit ihrer jeweiligen Ätiopathogenese voll entspräche.
− C. Impulsives Irresein − D. Geschlechtliche Verirrungen XVI.
Psychopathische Persönlichkeiten − A. die Erregbaren
16.1.4
Realisierungsprobleme und Programmkritik
− B. die Haltlosen − C. die Triebmenschen − D. die Verschrobenen − E. die Lügner und Schwindler − F. die Gesellschaftsfeinde (Antisozialen) − G. die Streitsüchtigen XVII.
Allgemeine psychische Entwicklungshemmungen (Oligophrenien)
Die Idee der natürlichen Einteilung blieb nicht unumstritten. Schon während ihrer konsequenten Ausarbeitung in der Folge seiner Lehrbuchausgaben hat sich Kraepelin in zunehmendem Maße mit ernstzunehmenden Gegenpositionen auseinandersetzen müssen. Erst recht kam es dann in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu großen Kontroversen um die Frage der Realisierbarkeit
377 16.1 · Die Idee der natürlichen Einteilung
des klinisch-nosologischen Programms, die auch Kraepelin selber noch zu der Überlegung veranlasst haben, ob nicht das anatomische Einteilungsprinzip besser mit Hilfe der frühen hirnbiologischen Evolutionstheorie zu fassen sei (Kraepelin 1920).
Wernicke als Kraepelins Kritiker Bedeutung Wernickes. Die Einwände, auf die Kraepelin
selbst immer wieder einging, stammten von Wernicke (1848–1905). Das ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Einerseits sahen schon die Zeitgenossen in diesem Neuropsychiater einen überlegenen Geist, der die gesamte psychiatrische Diskussion seiner Zeit auf ein höheres Niveau hätte heben können, wenn er nicht so früh durch einen Unfall ums Leben gekommen wäre. Andererseits ging von ihm und seinen plastischen Beschreibungen neuartiger psychopathologischer Syndrome wie etwa der »Angst-« oder »Motilitätspsychose« auch eine eigene Entwicklungslinie der traditionellen Klassifikationsbemühungen über Bonhoeffer (1910, 1917) und Kleist (1937, 1953) bis hin zu Leonhard (1957) aus ( Abschn. 16.2.4). Schließlich war er mit dem relevanten anatomischen Wissen seiner Zeit noch besser als Kraepelin vertraut, da er neurologische Herdstörungen auch als hirnorganischen Interpretationsrahmen für die Entstehung psychopathologischer Syndrome nutzte. Verschiedene Ursachen mit gleicher Wirkung. Für Wer-
nicke hing die Beschaffenheit der psychischen Störungen allein von der Lokalisation der betreffenden Hirnschädigung ab. Unterschiedlich lokalisierte Hirnschädigungen konnten auf ein und denselben Krankheitsvorgang zurückzuführen sein und umgekehrt auch Hirnschädigungen mit ein und demselben Angriffspunkt auf unterschiedlichen Krankheitsvorgängen beruhen. Somit würde, modern gesprochen, in der besonderen Beschaffenheit einer psychischen Störung grundsätzlich immer nur eine bestimmte pathogenetische Endstrecke möglicherweise auch unterschiedlicher Ursachenfaktoren zum Ausdruck kommen (Wernicke 1899). Folgerungen aus Wernickes Kritik. Das aber bedeutete
klar und unmissverständlich, dass man sowohl an die hirnanatomischen Befunde als auch an die Ursachenkenntnisse zu große Erwartungen knüpfte, wenn man mit ihrer Hilfe die klinische Klassifikation zu einer natürlichen Einteilung gemäß vorgegebenen Krankheitseinheiten fortentwickeln wollte. Ätiologie, Hirnanatomie und klinisches Erscheinungsbild mit Verlauf und Ausgang würden sicher immer wieder auch einmal zu übereinstimmenden Grenzziehungen führen. Dies aber regelhaft zu erwarten im Sinne der fundamentalen Prämisse, die dem klinisch-nosologischen Programm zugrunde lag, wäre prinzipiell verfehlt. Kraepelin hat bemerkt, dass diese
Einwände genau seine Grundanschauung betrafen, und sie demgemäß immer wieder mit großer Vehemenz auszuräumen versucht. Sein zentrales Argument bestand in dem Hinweis darauf, dass hirnanatomische und Ursachenforschung noch gar nicht weit genug fortgeschritten seien, um auch feine und feinste lokalisatorische Unterschiede erfassen und möglicherweise doch monokausal mit bestimmten Noxen in Verbindung bringen zu können (Kraepelin 1910).
Bonhoeffers Analyse der exogenen Psychosen Das Beweismaterial, das schon Wernicke für seine Auffassungen anführen konnte, war allerdings schwerwiegend. Es wurde in der Folge durch Bonhoeffers (1910, 1917) subtile Analyse der exogenen Psychosen noch weiter angereichert. Danach ließ sich schließlich nicht mehr gut bezweifeln, dass die damals bekannten hirneigenen oder hirnbeteiligenden Krankheiten immer wieder zu der gleichen, aus der vorstehenden Übersicht zu ersehenden, begrenzten Zahl von psychopathologischen Zustandsbildern führten und keines davon für die jeweilige Grunderkrankung spezifisch war. Es handelte sich also offenbar um »diagnostisch unspezifische Reaktions- oder Prädilektionstypen«, deren besondere psychopathologische Beschaffenheit tatsächlich mehr im Sinne Wernickes mit hypothetisch anzunehmenden ätiopathogenetischen Bindegliedern als mit den jeweiligen somatischen Noxen zusammenzuhängen schien.
Nosologiekritische Vorstellungen von Hoche Aus diesen empirischen Belegen für die Triftigkeit der Gegenpositionen hätten noch weitergehendere Konsequenzen gezogen werden können, als dies dann tatsächlich geschah. Wäre man beispielsweise den damals auch in die Kontroversen mit eingebrachten, radikal nosologiekritischen Vorstellungen von Hoche (1912) gefolgt, hätte man die Idee der natürlichen Einteilung überhaupt aufgeben und sich statt dessen in der Zukunft auf reine Syndromatologien beschränken müssen. Denn er sah in den psychischen Störungen durchweg »Symptomverkoppelungen«, die als Ausdruck »präformierter Reaktionstypen« gesetzmäßig immer wiederkehren und nur fälschlicherweise je nach ihrem Zusammenschluss im individuellen Krankheitsfall einmal als klinische Krankheitseinheit imponieren können. Kraepelin ist dem am Ende selber nahegekommen, als er beispielsweise die deliranten, hysterischen oder schizophrenen Äußerungsformen des Irreseins mit freigesetzten Funktionen verschiedener evolutionstheoretisch früherer hirnbiologischer Entwicklungsstufen in Verbindung bringen wollte. Er hielt dabei aber dennoch an der Realisierbarkeit des klinisch-nosologischen Programms in der Zukunft fest (Kraepelin 1920).
16
378
Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
Exogene Reaktionstypen nach K. Bonhoeffer Delir Deutlich ausgeprägte Bewusstseinstrübung, Desorientiertheit, Halluzinationen von szenischem und traumähnlichem Charakter (vorwiegend optisch, aber auch akustisch und haptisch), wahnähnliche Erlebnisse, Personen- und Situationsverkennungen, Tremor, vegetative Störungen, »Flockenlesen«, »Nesteln«, »Fädenziehen«, nachfolgende Amnesie.
Verwirrtheit Leichtgradige Bewusstseinstrübung, Desorientiert-
Dämmerzustand Geringgradige Bewusstseinstrübung, Umlenkung der Aufmerksamkeit auf Innenvorgänge, Desorientiertheit, stuporöse Psychomotorik, unvermittelte Affektdurchbrüche, nachfolgende Amnesie.
Amnestische Symptomenkomplexe Desorientiertheit in Raum und Zeit, hochgradige
heit, inkohärent-widerspruchsvolle Gedankengänge, angstvoll-oneiroide Erlebnisweisen, agitiert-expansive Psychomotorik, nachfolgende Amnesie.
Merkfähigkeitsstörung (Unfähigkeit zur Einordnung in das Zeitgitter und übergreifende Sinnzusammenhänge), u. U. Konfabulationen (Pseudoreminiszenzen).
Amentia Nur angedeutete Bewusstseinstrübung, Desorien-
Hyperästhetisch-emotionelle Schwächezustände Klagen über Konzentrations- und Merkschwäche,
tiertheit, Inkohärenz des Denkens in Verbindung mit Ratlosigkeit, illusionäre Verkennungen, wahn-
abnorme Ermüd- und Erschöpfbarkeit, gesteigerte emotionale Labilität und Erregbarkeit.
16.2
Der bisherige Annäherungsprozess an die Idee der natürlichen Einteilung
Die Idee der natürlichen Einteilung wurde durch die gegen sie ins Feld geführten theoretischen Argumente und empirischen Befunde jedoch keineswegs so weitgehend entwertet wie zuvor die einheitspsychotische Stadienlehre. Sie erhielt vielmehr nur eine andere, klinisch-psychopathologisch abgeschwächte Form, in der sie die wichtigsten Gegenpositionen mit aufnehmen konnte, blieb aber ansonsten als maßgeblicher Orientierungsgesichtspunkt weiterhin in Kraft.
16.2.1
16
hafte Verarbeitung von Umweltereignissen, nachfolgende Amnesie.
Psychopathologische Revision des nosologischen Programms
Diese Geltungsbewahrung durch Modifikation ist wohl nicht so sehr Kraepelins eigenem Einfluss oder dem Engagement einer der Persönlichkeiten zu verdanken, die damals in seinem Sinne unmittelbar in die programmatischen Kontroversen eingegriffen haben. Sie dürfte, so scheint es jedenfalls im heutigen Rückblick, hauptsächlich auf die breiten und nachhaltigen Auswirkungen der 1913 von Jaspers mit seinem psychiatrischen Hauptwerk, der »Allgemeinen Psychopathologie«, in Gang gebrachten Methodenreflektion zurückzuführen sein.
Jaspers »Allgemeine Psychopathologie« Wenn die seelischen Störungen nach den jeweils abnormen Phänomenen sowie auch dem Verlauf und Aus-
gang voneinander abgegrenzt werden sollen, dann setzt dies neben der Verhaltensbeobachtung folgendes voraus: eine Vergegenwärtigung der einzelnen fremdseelischen Erlebnistatbestände und einen Nachvollzug des möglichen Auseinanderhervorgehens von Seelischem aus Seelischem. Die Vergegenwärtigung hat Jaspers zur Aufgabe der Phänomenologie oder des statischen und den Nachvollzug zu der des genetischen Verstehens bestimmt. Wenn es dagegen die psychischen Störungen nach hirnanatomischen Befunden und nichtpsychogenen Ursachen voneinander abzutrennen gilt, setzt dies die Anwendung aller organmedizinischen Untersuchungsverfahren voraus, die nach dem jeweiligen Wissensstand am besten zur Erfassung hirneigener oder hirnbeteiligender Erkrankungen geeignet sind. Im Erfolgsfall werden unterschiedliche psychische Einzelstörungen auf bestimmte hirnorganische Funktionsstörungen zurückgeführt und somit wie naturwissenschaftliche Gegenstände kausal erklärt.
Sachimmanenter Dualismus Das klinisch-nosologische Einteilungsprogramm schließt also nach Jaspers wie selbstverständlich zwei grundverschiedene Betrachtungs- und Erforschungsweisen des seelisch Abnormen von vornherein fest zusammen. Diesen sachimmanenten Dualismus hatte man sich vor seiner Methodenreflektion aus Gründen, die mit der Entwicklungsgeschichte der Erkenntnistheorie zusammenhängen, in der deutschen und auch der internationalen Psychiatrie als solchen noch niemals richtig klarmachen können, auch
379 16.2 · Der bisherige Annäherungsprozess an die Idee der natürlichen Einteilung
nicht in der Zeit des Streits der »Somatiker« mit den »Psychikern«. Einmal aufgedeckt und umfassend dargestellt, musste er aber natürlich auch Konsequenzen für die Bewertung der Idee der natürlichen Einteilung mit sich bringen. Entsprechend nennt Jaspers die seit den nosographischen Anfängen eigentlich durchgehend – mit Ausnahme der Etappe der romantischen Psychiatrie – anerkannte Gleichsetzung der Geistes- mit Gehirnerkrankungen kritisch-distanzierend ein »Dogma«. Dieses »Dogma« habe die Psychopathologie »gegenüber der Neurologie und Medizin in einer Knechtschaft« gehalten und werde in dieser fesselnden Auswirkung nun durch sein Methodenbuch erstmals überwunden (Jaspers 1973, S. 4).
Kritik an Kahlbaum und Kraepelin In dieselbe Richtung ging auch zunächst seine Auseinandersetzung mit Kahlbaums Programm und dessen Umsetzung durch Kraepelin: Alle nosologiekritischen Einwände aus den großen Kontroversen vom Anfang des Jahrhunderts wurden aufgenommen und zu dem Ergebnis zugespitzt, dass eigentlich doch die Konzeption der Einheitspsychose mit der Verneinung natürlicher Grenzen zwischen den seelischen Störungen Recht behalten habe. Irgendeine reale Krankheitseinheit sei jedenfalls auf diesem Wege nicht gefunden worden und auch die Hoffnung, die nach kennzeichnenden Symptomen, Verlauf und Ausgang abgetrennten Diagnosegruppen nachträglich durch Hirnbefunde bestätigen zu können, habe sich nicht erfüllt. Klar begrenzbare Krankheitsprozesse seien immer nur völlig unabhängig von der Psychopathologie durch die Hirnforschung selbst herausgearbeitet worden und von ihnen, etwa der Paralyse, habe sich dann gezeigt, dass sie eine ganze Reihe verschiedenartiger psychischer Einzelstörungen hervorrufen können. Der Begriff der Krankheitseinheit rücke damit aus dem Bereich der Psychopathologie in den der Neurologie und die klinische Psychiatrie könne nur gründlich untersuchte Einzelfälle nach gemeinsamen Merkmalen zu Typen ohne scharfe Grenzen zusammenzufassen versuchen (Jaspers 1973, S. 474–476).
Kraepelins Grundanschauung als fruchtbare Zielvorstellung Dieses Resümee passt sichtlich gut zu dem in der »Allgemeinen Psychopathologie« herausgearbeiteten Dualismus, der ja die Einteilung nach Erscheinungsbild, Verlauf und Ausgang als etwas methodisch grundsätzlich anderes als die nach Hirnbefunden und deren Ursachen erscheinen lässt. Man hätte daher erwarten können, dass Jaspers Überlegungen schließlich in eine Ablehnung der Idee der Krankheitseinheit und der Verwendung des medizinischen Krankheitsbegriffes für die psychiatrische Diagnostik einmünden würden. Dazu kam es aber interessanterweise gerade nicht. Vielmehr wurde am Ende Kraepelins Grundanschauung dennoch als fruchtbare
Zielvorstellung bekräftigt und sogar zum Gipfelpunkt des psychopathologischen Strebens erklärt, der allerdings in einer unendlich fernen Zukunft liege. »Die Idee der Krankheitseinheit ist in Wahrheit eine Idee im Kantischen Sinne: Der Begriff einer Aufgabe, deren Ziel zur Erreichung unmöglich ist, da das Ziel in der Unendlichkeit liegt; die uns aber trotzdem die fruchtbare Forschungsrichtung weist und die ein wahrer Orientierungspunkt für empirische Einzelforschung bedeutet« (Jaspers 1973, S. 476). Jaspers stand bei dieser Anerkennung vor Augen, dass sich Kraepelins Einteilung v. a. mit der Dichotomie zwischen schizophrenem und manisch-depressivem Formenkreis bereits auf der ganzen Welt durchgesetzt hatte. Er würdigte damit auch den Fortschritt, den es bedeutete, unter der Idee der Krankheitseinheit von den früheren Riesengruppen weg zu viel »natürlicheren« Diagnoseeinheiten gelangt zu sein. Solche pragmatischen Gründe allein hätten aber bei einem unabhängigen, kritischen Geist wie ihm nicht zur Bekräftigung des nosologischen Programms ausgereicht. Vielmehr musste es dafür auch noch einen sachlichen Grund geben und der konnte nur darin bestehen, dass doch auch vom phänomenologischen und genetischen Verstehen her eine Identifikation von Krankhaftem im medizinischen Sinne möglich erschien. Diese Möglichkeit hat Jaspers in der Tat bejaht und in seinen Ausführungen zur psychopathologischen Grundfrage, Entwicklung einer Persönlichkeit oder Prozess, ausführlich dargestellt (Jaspers 1973, S. 590). Lassen sich psychische Störungen nicht mehr aus der Biografie der Betroffenen ableiten, erweisen sie sich also beim Versuch ihres genetischen Verstehens als eine Unterbrechung in der Sinnkontinuität der jeweiligen Lebensentwicklung, dann spricht dies nach ihm für eine hirnorganische Begründung, auch wenn der so hypothetisch nahegelegte Krankheitsprozess mit den verfügbaren Untersuchungstechniken noch nicht nachweisbar und ätiopathogenetisch bestimmbar ist. Also erscheint Kraepelins Vorstellung, durch die klinische Einteilung der hirnpathologischen und der ätiologischen Forschung gewissermaßen vorarbeiten zu können, auch in Anbetracht des Methodendualismus nicht von vornherein verfehlt. Verstehensgrenzen. Man kann immerhin über die phäno-
menologische Differenzierung noch einen Schritt hinausgehen und die Versteh- oder Unverstehbarkeit als Kriterium dafür benutzen, ob bei den typologisch voneinander abgegrenzten Störungen die Suche nach hirnorganischen Begründungsfaktoren sinnvoll und notwendig ist oder nicht. Ob in dem durch die Verstehensgrenzen abgesteckten Suchfeld tatsächlich Krankheitseinheiten zu finden sind, ist eine Frage, deren Beantwortung der weiteren psychiatrischen Hirnforschung überlassen bleiben muss. Sollten wirklich einzelne voneinander distinkte Krankheitsprozesse nachgewiesen werden können, kann man
16
380
Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
im Anschluss daran wieder phänomenologisch überprüfen, inwieweit sich die klinische Einteilung damit deckt. Nicht von ungefähr hat Jaspers das lebensgeschichtliche genetische Verstehen und die hirnorganische Kausalerklärung psychischer Störungen, wie unterschiedlich diese beiden Verfahrensweisen in methodologischer Hinsicht auch sein mögen, als unzertrennliche und gleichgewichtige Aufgaben der Psychopathologie angesehen (Klosterkötter 1989).
16.2.2
Duales System der klinischen Psychopathologie
Jaspers triadischer Entwurf In der »Allgemeinen Psychopathologie« findet sich von der 4. Auflage aus dem Jahre 1946 an auch ein von Jaspers selbst entworfenes Diagnoseschema. Darin werden »die bekannten somatischen Krankheiten mit Seelenstörungen«, »die drei Kreise der großen Psychosen« und »die Psychopathien« als Hauptgruppen voneinander unterschieden. Als Kriterium für die Hauptgruppenbildung fungiert also wieder das ätiologische Einteilungsprinzip, aus dem sich eine triadische Gesamtstruktur für die Gliederung ergibt. Hiermit sowie auch mit der Auffassung der genuinen Epilepsie als einen der 3 Kreise der großen Psychosen und darüberhinaus auch mit vielen einzelnen Diagnosedefinitionen erweist sich Jaspers Entwurf noch stark von Kraepelins Vorgabe her bestimmt. Die psychopathologische Revision des nosologischen Programms lässt sich darin noch wenig erkennen. Deshalb ist es auch nicht dieses von Jaspers entworfene Schema gewesen, über das seine eigentümliche Bekräftigung der nosologischen Zielvorstellungen durch Abschwächung zur re-
⊡ Abb. 16.2. Systemik der klinischen Psychopathologie. (Nach Schneider 1987)
16
gulativen Idee Einfluss auf die Weiterentwicklung der
psychiatrischen Klassifikation nahm. Dazu kam es vielmehr erst durch K. Schneiders Aneignung der in der »Allgemeinen Psychopathologie« entwickelten Gesichtspunkte und ihre Umsetzung in eine klinische Systematik, die nun ganz dem Ergebnis von Jaspers Methodenreflektion entsprach (⊡ Abb. 16.2).
Schneiders klinische Systematik »Falls nicht eine erkenntnismäßig oberflächliche, nur scheinbare Ordnung herauskommen soll« (Schneider 1973, S. 1), muss das System der klinischen Psychopathologie zugleich auch das der klinischen Psychiatrie sein. Mit dieser Feststellung hat K. Schneider seine 1948 erstmals veröffentlichten und dann in sein Hauptwerk, die »Klinische Psychopathologie«, übernommenen Ausführungen zur klinischen Systematik und zum Krankheitsbegriff in der Psychiatrie begonnen. Nach den psychopathologischen Gesichtspunkten, die er auch in der Klassifizierung der klinischen Formen zum Ausdruck gebracht wissen wollte, hätte bereits Jaspers sein Diagnoseschema konsequenterweise ausrichten können. Empirischer Dualismus
Der erste dieser Gesichtspunkte ergibt sich aus dem Methodendualismus, den K. Schneider jetzt vereinfachend zu einem allgemein üblichen »empirischen Dualismus« erklärt. Danach stellen die psychischen Störungen entweder kausal erklärbare Folgen von Krankheiten dar oder abnorme Spielarten seelischen Wesens, für die es zwar auch hirnstrukturelle und hirnfunktionelle Korrelate gibt, aber nicht von krankhafter Art, sondern nur so, wie auch dem normalen Seelenleben natürliche körperliche Vorgänge entsprechen (⊡ Abb. 16.2).
381 16.2 · Der bisherige Annäherungsprozess an die Idee der natürlichen Einteilung
Abnorme Spielarten seelischen Wesens Im Zuge der fortschreitenden Verfeinerung der neurobiologischen Untersuchungstechniken sind inzwischen z. B. auch Zwangs-, Angst- oder bestimmte Persönlichkeitsstörungen zum Gegenstand der Hirnforschung geworden. Man interessiert sich bei solchen, nach Schneiders Systematik den abnormen Spielarten zuzurechnenden Störungen genauso für mögliche neurobiologische Fundierungen wie bei den psychopathologischen Syndromen, die danach als Folge von Krankheiten zu gelten haben. Deshalb ist aus heutiger Sicht der hier gemeinte Unterschied möglicherweise gar nicht mehr richtig nachvollziehbar. Er ist aber nach wie vor wichtig, wenn es um die Bewertung neurobiologischer Korrelationsbefunde und die daraus für die Therapie zu ziehenden Konsequenzen geht. Für K. Schneider machte es keinen Sinn, »etwa dann, wenn ein Mensch auf ein Erlebnis mit Verzweiflung reagiert« (Schneider 1973, S. 31), in den selbstverständlich vorhandenen und heute zunehmend besser fassbaren körperlichen Entsprechungen die Ursache für diese Erlebnisreaktion zu suchen. ! Dagegen käme es nach ihm – beispielsweise bei einem depressiven Syndrom im Rahmen eines Persönlichkeitsabbaus – gerade umgekehrt auf die Untersuchung der neurobiologischen Korrelate mit dem Ziel der Aufdeckung einer ursächlichen hirneigenen oder hirnbeteiligenden Erkrankung an.
Folgen von Krankheiten Für die abnormen Spielarten ist somit der pathologischanatomische Einteilungsgesichtspunkt irrelevant; sie entziehen sich von vornherein aus prinzipiellen Gründen dem nosologischen Programm. Demgegenüber bleibt diese Programmatik auf die Krankheitsfolgen anwendbar, aber nur in einer abgeschwächten Form. Das ist nun der zweite von K. Schneider neu in die klinische Systematik eingebrachte psychopathologische Gesichtspunkt. Wenn nämlich die körperlich begründbaren Psychosen, wie dies die großen Debatten um das nosologische Programm letztlich ergeben haben, »unspezifische Reaktionstypen« im Sinne v. a. von Bonhoeffer darstellen, dann kann ihre Einteilung nicht mehr nach den Grunderkrankungen vorgenommen werden. Sie muss vielmehr in einer eigenständigen psychologischen oder symptomatologischen Ordnung erfolgen und die Diagnostik muss dementsprechend immer zweispurig angelegt sein. Somatologische vs. psychologische Ordnung. In der so-
matologischen oder ätiologischen Ordnung werden die verschiedenen hirneigenen oder hirnbeteiligenden Grunderkrankungen voneinander differenziert. In der
psychologischen oder symptomatologischen Ordnung erfolgt unabhängig davon die Einteilung der psychopathologischen Folgen solcher Krankheiten oder Missbildungen. Akut vs. chronisch. Die Bewusstseinstrübung wird jetzt
als gemeinsames Merkmal der meisten der von Bonhoeffer beschriebenen »exogenen Reaktionstypen« zum zentralen Leitsyndrom der akuten körperlich begründbaren Psychosen aufgewertet. Persönlichkeitsabbau und Demenz werden als entsprechende Leitsyndrome der chronischen körperlich begründbaren Psychosyndrome voneinander abgegrenzt.
Zyklothymie und Schizophrenie Interessanterweise hat K. Schneider unter den Krankheitsfolgen in der psychologischen Ordnung auch Zyklothymie und Schizophrenie mit angeführt und diesen psychopathologischen Syndromen, wie ⊡ Abb. 16.2 zeigt, in der somatologischen Ordnung jeweils ein Fragezeichen zugeordnet. Die schon von Kraepelin »endogen« genannten Psychosen bekommen also in seiner Systematik zum ersten – und übrigens in der deutschsprachigen Tradition auch einzigen – Male keine eigene Position gegenüber den körperlich begründbaren Störungen eingeräumt. Kriterium der Verstehensgrenze. An dieser Handhabung
zeigt sich gleichfalls, wie konsequent K. Schneider bei der Umsetzung der Ergebnisse von K. Jaspers Methodenreflektion war. Denn die Hauptgründe für diese Zuordnung sah er nicht in der häufigen Erblichkeit oder den Bindungen an die Generationsvorgänge, auch nicht in den oft vorhandenen allgemeinen körperlichen Veränderungen oder dem unbestreitbaren Vorrang der somatischen Therapie. Neben den psychopathologischen Beobachtungen, dass bestimmte bei der Zyklothymie und der Schizophrenie vorkommende Symptome im normalen Seelenleben und seinen abnormen Variationen keine Analogie haben und diese Psychosen sich nur sehr selten an Erlebnisse anschließen, war es v. a. die durch sie bewirkte Unterbrechung in der Sinnkontinuität der Lebensentwicklung, die aus seiner Sicht für eine hirnorganische Begründung sprach. Er hielt sich somit letztlich an das Kriterium der Verstehensgrenze (Schneider 1973, S. 9), wenngleich im Falle gewisser paranoider Psychosen nicht ohne Anfechtung. Heuristisches Prinzip. Ihre Unverstehbarkeit grenzte
Zyklothymie und Schizophrenie genauso wie die Psychosen mit fassbarer Entsprechung in der somatologischen Ordnung von den abnormen Spielarten seelischen Wesens ab. Also mussten konsequenterweise auch sie als Krankheitsfolgen aufgefasst werden und zwar genau in dem von Jaspers angegebenen Sinne eines Postulats, einer Hypothese oder eines heuristischen Prinzips, das hier ein
16
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Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
Arbeitsfeld für die weitere Hirnforschung umreißt und den Versuch einer Auflösung der Fragezeichen in der somatologischen Ordnung zur Aufgabe macht. Im Übrigen sah K. Schneider auch von der klinischen Verlaufsbeobachtung her Übergänge zwischen abnormen Persönlichkeiten und Erlebnisreaktionen einerseits und den schizophrenen und zyklothymen Psychosen andererseits nicht als gegeben an, so dass ihm hier eine wirkliche Differenzialdiagnostik möglich schien. Dagegen verstand er die Grenzziehung zwischen Schizophrenie und Zyklothymie im Hinblick auf die klinisch vorkommenden »Zwischen-Fälle« lediglich als eine Differenzialtypologie.
16.2.3
Triadisches System der Psychiatrie
K. Schneider hat mit seiner klinischen Umsetzung der »Allgemeinen Psychopathologie« die klassifikatorischen Bemühungen der deutschsprachigen Psychiatrie im 20. Jahrhundert sicherlich wie kein anderer bestimmt. Seine auch in viele andere Sprachen übersetzte »Klinische Psychopathologie« ist bis zur 8. Auflage (1967) noch von ihm selbst herausgegeben worden. Danach übernahm sein Schüler G. Huber die Herausgeberschaft und führt sie bis heute fort. Von Huber (1994) stammt auch die in ⊡ Abb. 16.3 skizzierte Modifikation des Systems der klinischen Psychopathologie zum System der Psychiatrie.
Endogene Psychosen Darin erscheinen zum einen die endogenen Psychosen erneut als eigene Gruppe und die Systematik bekommt dadurch wieder eine triadische Konfiguration. Sie gelten
16
⊡ Abb. 16.3. Systemik der klinischen Psychiatrie. (Nach Huber 1994)
aber weiterhin als Folgen von Krankheiten; durch die eigene Positionierung wird nur der hypothetische Charakter dieser Annahme etwas stärker als nur durch die Fragezeichen in der somatologischen Ordnung betont.
Körperlich begründbare Psychosen Des Weiteren erscheinen jetzt unter den nach psychopathologisch-symptomatologischen Kriterien voneinander differenzierten körperlich begründbaren Psychosen 2 neue Leitsyndrome. Einmal handelt es sich um das den akuten Formen zuzurechnende, von Wieck (1977) konzipierte Durchgangssyndrom, auf das auch Schneider schon Bezug genommen hatte, ohne es jedoch in seine Systematik mit einzufügen. Zum zweiten wird bei den chronischen Formen jetzt von der Demenz und der organischen Persönlichkeitsveränderung noch das sog. pseudoneurasthenische Syndrom unterschieden.
Akut körperlich begründbare Psychosen Durchgangssyndrom. Mit Durchgangssyndromen waren, wie dies ⊡ Abb. 16.4 zeigt, solche Psychosen gemeint, die körperlich begründbar sind und vorübergehend auftreten, ohne dass sie jedoch das für die akuten und/oder reversiblen organisch bedingten psychischen Störungen wegweisende Merkmal der Bewusstseinstrübung erkennen lassen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass etwa die kognitiven Funktionen bei derartigen Psychosen unbeeinträchtigt blieben. Im Gegenteil sind hier psychometrisch (Wieck 1977) oder bei schweren Ausprägungsgraden auch klinisch explorativ fassbare Störungen der Auffassung, der Aufmerksamkeit und der Gedächtnisleistungen nach-
383 16.2 · Der bisherige Annäherungsprozess an die Idee der natürlichen Einteilung
⊡ Abb. 16.4. Akute (reversible) körperlich begründbare Psychosen. (Nach Huber 1994)
weisbar. Sie stehen jedoch im klinischen Bild, zumal bei den affektiven, produktiven und halluzinatorischen Prägnanztypen oft so sehr im Hintergrund, dass Durchgangssyndrome mit solchen fakultativen Ausgestaltungen »endoform« oder »endogenomorph« wirken und dadurch Abgrenzungsschwierigkeiten von den entsprechenden »endogenen«, affektiven oder schizophrenen Psychosen hervorrufen können. Desorientiertheit weist immer dann, wenn nicht zugleich auch die Bewusstseinstrübung genannte Störung der Helligkeit des Bewusstseins oder Wachheit vorliegt, auf Störungen der Merkfähigkeit hin und wird bei der fakultativen Ausgestaltung zum »akuten Korsakow« noch durch Konfabulationen ergänzt. In der seltenen Ausgestaltung zum »orientierten Dämmerzustand« kann es bei nicht desorientierten, äußerlich geordnet wirkenden und auch zur Ausführung komplexer Handlungen fähigen Patienten zu persönlichkeitsfremden Verhaltensweisen bis hin zu Gewalt- oder Sexualverbrechen kommen, weil hier eine Einbuße an Steuerungs- und Besinnungsfähigkeit (Störring 1949) besteht. Auch in Bonhoeffers Aufstellung der »exogenen Reaktionstypen« waren ja im übrigen schon 2 psychopathologische Zustandsbilder ohne Bewusstseinstrübung enthalten (vgl. Übersicht oben), die »amnestischen Symptomenkomplexe« und die »hyperästhetisch-emotionellen Schwächezustände«, denen in Wiecks Prägnanztypologie die amnestischen und die pseudoneurasthenischen Durchgangssyndrome entsprachen. Durchgangs- vs. Trübungssymdrome. Das Verhältnis der
Durchgangs- zu den Trübungssyndromen hat man sich nach dieser traditionellen Einteilung im Hinblick auf die kognitive Beeinträchtigung als graduell und vom klinischen Verlauf her als einen fließenden Übergang vorzustellen.
Ob eine Störung der Vigilanz – von leichter Benommenheit bis zum Koma – als unübersehbarer Indikator für die körperliche Begründbarkeit zu den bei den Durchgangssyndromen auch zu findenden Störungen der Auffassung, der Aufmerksamkeit und der Gedächtnisleistungen hinzutritt oder nicht, wird als abhängig vom Ausmaß der hirnorganischen Schädigung angesehen. Entsprechend gilt von den Durchgangssyndromen dann auch, dass sie im klinischen Verlauf den Trübungssyndromen vorausgehen oder ihnen nachfolgen, je nachdem, ob das Ausmaß der hirnorganischen Funktionsstörungen in Zuoder Abnahme begriffen ist. Unter den qualitativ-produktiven Ausgestaltungen der Bewusstseinstrübung werden wiederum im Anschluss an Bonhoeffers Beschreibung der »unspezifischen exogenen Reaktionstypen« (s. Übersicht oben) v. a. die Syndrome der Verwirrtheit, des Delirs und des Dämmerzustands voneinander differenziert. Bezüglich der Zeitbegriffe sollen Möglichkeiten des Übergangs und der Kombination beachtet werden. Denn nach den in diese Einteilung eingegangenen klinischen Erfahrungen können auch akut aufgetretene körperlich begründbare Psychosen gelegentlich irreversibel bleiben oder umgekehrt chronisch verlaufende sich als reversibel erweisen.
Chronische körperlich begründbare Psychosen Auch die chronischen körperlich begründbaren Psychosyndrome werden in obligate Leit- oder Achsensyndrome und bloß fakultative prägnanztypische Ausgestaltungen differenziert. Die aus ⊡ Abb. 16.5 zu ersehende Charakterisierung der organischen Persönlichkeitsveränderung durch 3 unterschiedliche Vorzugstypen stammt von Schneider selbst. Pseudoneurasthenisches Syndrom. Huber hat dann im
Anschluss an Bonhoeffer der organischen Persönlichkeitsveränderung als dem mittleren und der Demenz als
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384
Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
⊡ Abb. 16.5. Chronische (irreversible) körperlich begründbare Psychosyndrome. (Nach Huber 1994)
16
dem schwersten noch das pseudoneurasthenische Syndrom als den leichtesten Ausprägungsgrad dieser organisch bedingten Abbausyndrome vorangestellt. Nach seiner Beobachtung manifestierten sich nämlich hirnorganische Abbauprozesse oft in Form genau solcher Beschwerdebilder, wie sie Bonhoeffer als »hyperästhetischemotionelle Schwächezustände« beschrieben hatte (s. Übersicht oben) und wie sie demgemäß auch unter den Durchgangssyndromen (⊡ Abb. 16.4) Berücksichtigung fanden, bevor die Symptomatik auf dem Wege über organische Persönlichkeitsveränderungen schließlich in das Vollbild einer Demenz übergeht. Die für diese Syndrome hier wie auch in der Prägnanztypologie der Durchgangssyndrome neu gewählte Bezeichnung soll anzeigen, dass das Erscheinungsbild weitgehend mit den neurasthenischen Symptomenkomplexen der Neurotiker übereinstimmen kann, aber gleichwohl körperlich begründbar ist. Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sind hierbei oft in der klinischen und auch der testpsychologischen Untersuchung noch gar nicht objektivierbar und auch die Reizbarkeit erreicht noch nicht das Ausmaß, wie es dann insbesondere für den reizbar-explosibel-enthemmten Typus der organischen Persönlichkeitsveränderung typisch ist, sondern fällt allenfalls nahestehenden, mit dem Betroffenen gut Vertrauten auf. Der Beschwerdedruck durch diese noch weitgehend im Subjektiven verbleibenden affektiv-kognitiven Veränderungen kann jedoch schon ganz erheblich sein und zu sozialen Behinderungen führen.
Abnorme Varianten seelischen Wesens Abnorme Persönlichkeiten. Was weiter die abnormen Va-
riationen seelischen Lebens angeht, so ist insbesondere die dazu gehörige Diagnosegruppe der abnormen Persönlichkeiten von Schneider in subtiler Weise typologisch ausdifferenziert worden. Unter dem dabei verwandten Normbegriff wollte er nur die Durchschnittsnorm,
nicht aber irgendeine Wertnorm verstanden wissen. Von den vom Durchschnitt abweichenden Persönlichkeiten galten ihm nur diejenigen als psychopathisch, die unter ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet. Die folgende Übersicht zeigt die Typologie Schneiders in einer durch Huber schematisierten und um einige Vorbeschreibungen von Kretschmer (1977) ergänzten Form.
Einzeltypen psychopathischer Persönlichkeiten I. Hyperthyme Persönlichkeiten II. Depressive Persönlichkeiten III. Selbstunsichere (sensitive und anankastische) Persönlichkeiten IV. Fanatische (und querulatorische) Persönlichkeiten V. Geltungsbedürftige (geltungssüchtige, »hysterische«) Persönlichkeiten VI. Stimmungslabile Persönlichkeiten VII. Explosible Persönlichkeiten VIII. Gemütsarme (gemütlose) Persönlichkeiten IX. Schizoide (und paranoide) Persönlichkeiten X. Willenlose Persönlichkeiten XI. Asthenische Persönlichkeiten
Abnorme Erlebnisreaktionen. Auch die Diagnosegruppe
der abnormen Erlebnisreaktionen wurde, wie dies die nun folgende Übersicht zeigt, breit typologisch ausdifferenziert, um möglichst allen bedeutsamen traditionellen Vorbeschreibungen Rechnung tragen zu können. Dabei flossen in die Typologie der neurotischen Entwicklungen auch die wichtigsten psychodynamisch-interpretativen Einteilungsgesichtspunkte der tiefenpsychologischen Schulen mit ein.
385 16.2 · Der bisherige Annäherungsprozess an die Idee der natürlichen Einteilung
Schizophreniekonzept von Bleuler Abnorme Erlebnisreaktionen a) Unmittelbare Reaktionen auf Erlebnisse 1. Mehr übercharakterlich depressive, Schreck- und Angstreaktionen; pychogene Körperstörungen 2. Mehr charakterogen Wutreaktion; Eifersuchtswahn; paranoide Reaktionen; »sensitive Beziehungsreaktion«; andere innere Konfliktreaktionen; »hysterische Reaktionen«; »induzierte Reaktion« b) Einfache erlebnisreaktive Entwicklungen c) Neurotische Entwicklungen 1. Vorwiegend psychische Symptome Phobie; Angstneurose; »neurotische Depression«; »Zwangsneurose« 2. Psychische und somatische Symptome neurotisches psychovegetatives Erschöpfungssyndrom; »neurotische Depersonalisation«; »Anorexia mentalis« 3. Vorwiegend somatische Symptome Konversionsneurose (»Organneurose«, »Konversionshysterie«, psychosomatische Symptome); psychosomatische Krankheiten d) Zweckreaktionen (Tendenzreaktionen) Rentenwunsch-, Unfall-, Pensionsreaktionen; Haftreaktionen: Ganser-Syndrom, Puerilismus, Pseudodemenz
16.2.4
Alternative Systematisierungsversuche
Als Kraepelin Katatonie, Hebephrenie und »Dementia paranoides« zur »Dementia praecox« zusammenschloss, hob er diese neue mutmaßliche Krankheitseinheit damit zugleich vom manisch-depressiven Formenkreis ab und konstituierte so die bis heute mit seinem Namen verbunden gebliebene Dichotomie der endogenen Psychosen. Die Synthese des in der Folge Schizophrenie (Bleuler 1911) genannten Formenkreises hatte sich für ihn nur folgerichtig aus seiner erstmals so konsequent betriebenen Verlaufsbeobachtung ergeben. Denn danach schienen die 3 vorher für selbstständige Krankheitseinheiten gehaltenen Syndrome nicht nur im Verlauf fließend ineinander überzugehen, sondern auch alle in denselben defektuösen Ausgang einzumünden. Wurden also jetzt Verlauf und Ausgang mit als Einteilungsprinzip benutzt, konnte man nicht mehr zwischen Katatonie, Hebephrenie und »Dementia paranoides«, sondern nur noch zwischen der diesen 3 Syndromen scheinbar zugrunde liegenden Einheit der »Dementia praecox« und dem manisch-depressiven Formenkreis eine klassifikatorische Grenze ziehen.
Seither galten die Schizophrenien als Störungen, die eine ungünstige Prognose besitzen und nur in Ausnahmefällen ausheilen, und die manisch-depressiven Erkrankungen umgekehrt als Störungen, die prognostisch günstig sind und bei denen es nur ausnahmsweise einmal nicht zur Heilung kommt. Bleuler hat in der Folge den ungünstigen Ausgang nicht mehr so stark betont und die Gruppe der Schizophrenien mehr theoriegeleitet durch eine gemeinsame assoziationspsychologische Grundstruktur definiert (Bleuler 1911). Dadurch verschob sich in seinem Schizophreniekonzept die dichotomische Grenze; der schizophrene Formenkreis wurde weiter und der manisch-depressive enger als in Kraepelins Ursprungskonzept gefasst.
Schizophreniekonzept von Schneider Schneider schließlich orientierte sich bei seiner Schizophreniedefinition schon ganz modern an dem pragmatischen Ziel der zuverlässigen Erfass- und Verwendbarkeit der Kriterien. Nach diesem Gesichtspunkt stellte er eine Rangordnung auf und unterschied Symptome mit erstrangiger von solchen mit zweitrangiger und Ausdruckssymptomen mit nur geringer Brauchbarkeit für die Diagnosestellung: Die Symptome ersten Ranges sollten jeweils allein für die Annahme einer schizophrenen Störung ausreichend sein. Die Symptome zweiten Ranges und die Ausdruckssymptome schienen ihm nur verwertbar, wenn auch der »klinische Gesamtzusammenhang« (Schneider 1973, S. 136) in dieselbe Richtung wies. Um dies beurteilen zu können, mussten neben allen anderen relevanten klinischen Merkmalen natürlich auch Verlauf und Ausgang mit berücksichtigt werden. Aber Kraepelins Ausgangskriterium spielte damit nur noch eine untergeordnete Rolle. Wenn Symptome ersten Ranges vorlagen, konnte der Verlauf durchaus auch einmal phasisch und der Ausgang defektfrei sein. Das hinderte dann nicht daran, die jeweilige Störung als Schizophrenie anzusprechen. So ergab sich auch aus Schneiders Definition ein breiter Einschlussbereich für die Diagnosegruppe der Schizophrenien und ein entsprechend enger für die der Zyklothymien. Wie groß jedoch die Ausdehnung des Schizophreniebegriffs im Vergleich zum ursprünglichen »Dementia-praecox«-Konzept schließlich auch war, die Dichotomie selber blieb dabei gleichwohl anerkannt. Schneider räumte zwar ein, dass es auch wirkliche »Zwischen-Fälle« gäbe, bei denen sich die Differenzialtypologie Schizophrenie oder Zyklothymie nicht entscheiden ließe. Er hielt sie aber für selten und sah darin keinen Grund, in das Gesamtfeld der »endogenen« Psychosen noch weitere klassifikatorische Grenzen einzuziehen.
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386
Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
Schizophreniekonzept von Wernicke, Kleist und Leonhard Bei dem sich auch hier wieder zeigenden Fortbestand von Kraepelins Grundpositionen in der psychopathologisch revidierten klinischen Systematik wundert es nicht, dass die wichtigsten alternativen Klassifikationsversuche im deutschen Sprachraum von seinem großen Gegenspieler Wernicke ausgegangen sind. Dessen schon vor der »Dementia praecox«-Konzeption entstandene Beschreibungen besonderer klinischer Bilder wurden nämlich von seinem Schüler Kleist mitsamt den darauf bezogenen Hirnlokalisationstheoremen aufgenommen, zu einer »Gliederung der neuropsychischen Erkrankungen« (1937) ausgearbeitet und später in eine vereinfachte Diagnosetabelle (1953) umgesetzt. Darin findet man beispielsweise systematische und unsystematische Schizophrenien mit atrophisierenden Systemerkrankungen und metabolischen Störungen wie der amaurotischen Idiotie zu einer Gruppe der fortschreitenden neurogenen Erkrankungen oder Abbaukrankheiten zusammengefasst. Als maßgebliches Einteilungsprinzip fungierten so, wie das Wernicke vorgegeben und gegen Kraepelins nosologisches Programm ausgespielt hatte, Unterschiede in der Hirnlokalisation. Sie mussten aber damals bei den meisten psychischen Störungen rein hypothetisch unterstellt werden und verliehen dadurch Kleists Einteilung einen theoretisch-spekulativen Charakter, der selbst den neuropsychiatrisch orientierten Zeitgenossen zu weitgehend schien.
Aufteilung der endogenen Psychosen Von solcher Theorielastigkeit hat aber der Kleist-Schüler Leonhard diese Entwicklungslinie der psychiatrischen Klassifikation in der Folge befreit und nun in der aus der folgenden Übersicht zu ersehenden »Aufteilung der endogenen Psychosen« (1957) interessanterweise wieder Kraepelins Hauptargument für die ursprüngliche Syntheseleistung, nämlich den defektuösen Ausgang, zum maßgeblichen Orientierungspunkt gemacht. Systematische Schizophrenien. Als Schizophrenien im
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engeren Sinne haben nämlich nach Leonhard eigentlich nur diejenigen Erkrankungsformen zu gelten, die schleichend-progredient verlaufen und zu Defekten führen. Sie erscheinen in seiner Aufteilung dementsprechend wie vorher schon bei Kleist unter dem Begriff der systematischen Schizophrenien.
Aufteilung der endogenen Psychosen nach Leonhard I.
Die phasischen Psychosen 1. Manisch-depressive Krankheit 2. reine Melancholie und reine Manie A. reine Melancholie B. reine Manie 3. reine Depression und reine Euphorien A. reine Depression – gehetzte Depression – hypochondrische Depression – selbstquälerische Depression – argwöhnische Depression – teilnahmsarme Depression; B. reine Euphorien – unproduktive Euphorie – hypochondrische Euphorie – schwärmerische Euphorie – konfabulatorische Euphorie – teilnahmsarme Euphorie II. Die zykloiden Psychosen 1. Angst-Glücks-Psychose 2. erregt-gehemmte Verwirrtheit 3. hyperkinetisch-akinetische Motilitätspsychose III. Die unsystematischen Schizophrenien 1. affektvolle Paraphrenie 2. Schizophasie 3. periodische Katatonie IV. Die systematischen Schizophrenien 1. einfach-systematische Schizophrenien A. katatone Formen – parakinetische Katatonie – manirierte Katatonie – proskinetische Katatonie – negativistische Katatonie – sprechbereite Katatonie – sprechträge Katatonie B. hebephrene Formen – läppische Hebephrenie – verschrobene Hebephrenie – flache Hebephrenie – autistische Hebephrenie C. paranoide Formen – hypochondrische Paraphrenie – phonemische Paraphrenie – inkohärente Paraphrenie – phantastische Paraphrenie – konfabulatorische Paraphrenie – expansive Paraphrenie 2. kombiniert-systematische Schizophrenien A. kombiniert-systematische Katatonien B. kombiniert-systematische Hebephrenien C. kombiniert-systematische Paraphrenien
387 16.2 · Der bisherige Annäherungsprozess an die Idee der natürlichen Einteilung
Unsystematische Schizophrenien. Schon für die von die-
sen unterschiedenen, in dieser Traditionslinie als »unsystematische« Schizophrenien bezeichneten Störungsbilder hat er betont, dass sie eigentlich ihrem Wesen nach den phasischen Psychosen näher stünden. Sie münden zwar auch in einen defektuösen Ausgang ein und werden deshalb weiter unter dem Begriff der Schizophrenie geführt, verlaufen aber remittierend oder sogar klar periodisch. Zykloide Pschosen. Erst recht soll dies dann für die
»zykloid« genannten Psychosen gelten, die man nach Leonhard auch direkt zu den phasischen Psychosen rechnen könnte (Leonhard 1957, S. 120). Denn sie führen nun in der Tat aus seiner Sicht niemals zu Defekten und verlaufen zudem genauso bipolar wie die manisch-depressive Erkrankung, so dass nur ihre besondere affektive oder kognitive oder psychomotorische Akzentuierung und insgesamt die Vielgestaltigkeit als Unterscheidungsmerkmal verbleiben. Schizoaffektive Psychose. In der anglo-amerikanischen
Psychiatrie wurde von Kasanin (1933) der Begriff der schizoaffektiven Psychose geprägt. Für die damit gemeinten Erkrankungsformen sollten nach seiner ursprünglichen Definition die gleichzeitige Manifestation von schizophrenen und schwerwiegenden depressiven oder manischen Symptomen mit plötzlichem Beginn nach vorher durchgemachter Konfliktsituation und das vorwiegend jugendliche Alter der Betroffenen sowie ihre prämorbid unauffällige Persönlichkeit und ihre Abstammung aus günstigen sozialen Verhältnissen bezeichnend sein. Auch hinter dieser Konzeption stand letztlich wieder Kraepelins Ausgangskriterium. Kasanin glaubte nämlich, derartige Störungen deshalb von den Schizophrenien abgrenzen zu müssen, weil sie nach meist nur kurzem Verlauf immer zu einer Vollremission zu führen schienen. Auch während der akuten Krankheitsphase war bei den von ihm beobachteten Fällen mit einer solchen Störung für den Untersucher nie der Eindruck einer defektuösen Veränderung entstanden. Die durchweg erhaltene Kommunikationsfähigkeit schien sich ihm sogar für die Prognose des günstigen Ausgangs verwerten zu lassen. Schizophrenieforme und reaktive Psychosen. Auch in der skandinavischen Psychiatrie gab es interessanterweise eine vergleichbare Entwicklungslinie. Hier fasste zuerst Langfeldt (1937) Störungen mit psychoreaktiver Auslösung, akutem Beginn und gleichzeitiger Manifestation von schizophrenen und depressiven oder manischen Symptomen unter dem Begriff der schizophreniformen
Psychosen zusammen. In der Folge ist das Merkmal der psychoreaktiven Auslösung aus dieser Definition wieder herausgelöst und stattdessen in das Konzept der reaktiven Psychosen eingefügt worden, für das synonym auch die Begriffe psychogene, konstitutionelle oder atypische Psychose Verwendung fanden (Strömgren 1989). Bei den damit gemeinten Störungen handelte es sich nicht um »Mischpsychosen« mit Symptomen beider Formenkreise, sondern um stilreine schizophrene Psychosen, nur mit akutem Beginn und psychoreaktiver oder somatischer Auslösung. Dass aber auch sie wie die schizophreniformen Psychosen im skandinavischen Begriffssinn von den Schizophrenien abgehoben wurden, hatte wieder denselben Grund. Beide Störungsgruppen schienen nämlich prognostisch günstig zu sein und erfüllten damit nicht das Kriterium eines defektuösen Ausgangs in »eigenartige Schwächezustände«, Kraepelins entscheidendes Definitionsmerkmal für die Schizophrenien.
Einengung des Schizophreniebegriffs Die wichtigsten alternativen Klassifikationsversuche laufen also alle auf die Separierung eines intermediären Bereichs zwischen dem schizophrenen und dem zyklothymen Formenkreis hinaus. Dabei dient merkwürdigerweise gerade das Ausgangskriterium als Rechtfertigungsgrundlage, mit dem Kraepelin seine Dichotomie begründet hatte. Es wird so zugespitzt und stark betont, dass es zu einer Einengung des Schizophreniebegriffs nicht nur gegenüber den Ansätzen von Bleuler und Schneider, sondern auch gegenüber dem Ursprungskonzept der »Dementia praecox« führt. Folgerichtig reicht so die alte Dichotomie nicht mehr aus, und es müssen zwischen den enger gefassten Polen der Schizophrenie und der Zyklothymie noch andere Formen endogener Psychosen Berücksichtigung finden.
Weitere Entwicklung In der weiteren Entwicklung hat beispielsweise Perris (1986) an Leonhards Aufteilung angeknüpft und seine Definition der zykloiden Psychosen, allerdings unter nicht unerheblicher Ausweitung des Begriffs, zu operationalisieren versucht. In der deutschen Psychiatrie ist heute v. a. die Arbeitsgruppe um Beckmann (Franzek u. Beckmann 1996) um eine biologische Validierung von Leonhards Diagnosegruppen bemüht. Sowohl der Begriff der zykloiden Psychosen als auch Kasanins Definition der schizoaffektiven Psychosen weisen Berührungspunkte mit dem in der französischen Psychiatrie nach wie vor aktuellen Konzept der »bouffés delirantes« auf (Perris 1986; Pichot 1986). In der anglo-amerikanischen Weiterentwicklung ist aber von den von Kasanin angegebenen Definitionsmerkmalen eigentlich nur noch die gleichzeitige Manifestation von schizophrenen und depressiven oder manischen Symptomen übrig geblieben und immer wieder unter-
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Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
schiedlich operationalisiert worden. Insbesondere in den 1980er Jahren hat man die Fragen, ob ein »schizoaffektiver Zwischenbereich« (Janzarik 1980) separiert werden sollte, welche einzelnen Störungsformen darin zu unterscheiden und welche von ihnen als selbständig oder als mehr dem schizophrenen oder dem manisch-depressiven Formenkreis zugehörig anzusehen wären, wieder international und auch in Deutschland (Marneros et al. 1991) breit diskutiert.
Aktuelle Klassifikationssysteme Ein Blick auf die modernen aktuellen Klassifikationssysteme zeigt jedoch, dass sich die alternativen Einteilungsversuche letztlich doch nicht gegen Kraepelins Dichotomie durchsetzen konnten. Sowohl in der ICD-10 (WHO 1991) als auch im DSM-IV (APA 1994) gibt es zwar eine Diagnosekategorie für schizoaffektive Störungen. Sie bleibt aber entgegen den traditionellen Separierungsabsichten mit den schizophrenen Störungen in der Großgruppe eines Kapitels zusammengeschlossen. Des Weiteren finden sich in der ICD-10 mit der »akuten polymorphen psychotischen Störung«, den »anderen akuten vorwiegend wahnhaften« und den »anderen vorübergehenden psychotischen Störungen« auch Kategorien, in die man »zykloide Psychosen«, Bilder im Sinne der »bouffés delirantes« oder »reaktive Psychosen« einordnen könnte. Sie stellen aber nicht mehr als ein vergleichsweise undifferenziertes kriteriologisches Sammelbecken zur Aufnahme der in den verschiedenen nationalen Traditionen berücksichtigten Sonderformen dar und werden zudem gleichfalls mit den schizophrenen Störungen zusammengefasst.
16.2.5
Pragmatische Diagnoseschemata
Schema findet man die psychischen Störungen in insgesamt 21 Gruppen eingeteilt. Es handelt sich bei dieser Gruppierung um nichts anderes als eine Vereinfachung von Kraepelins Systematik für die praktischen Zwecke der damaligen Reichsstatistik. Auch K. Schneider hat sich damit 1932, noch vor der offiziellen Annahme, auseinandergesetzt, hinsichtlich der reaktiven Depression sowie paranoider und depressiver Bilder mit Präsenium noch einige dann auch berücksichtigte Verbesserungsvorschläge mit eingebracht und das Schema im ganzen nach praktischen Gesichtspunkten als brauchbar befunden (Schneider 1932). Diese Einschätzung wurde offenbar von vielen geteilt und führte dazu, dass man die Diagnosetabelle in Westdeutschland auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch bis in die 1970er Jahre hinein benutzte.
Diagnoseschemata anderer Länder Dem Würzburger Schema und seiner Prägung durch Kraepelins Systematik standen auch die in Japan, in Spanien, in der Schweiz, in der Türkei und in den Niederlanden verwandten Diagnosetabellen und -karteien nahe (Meyer 1961). Dagegen zeichneten sich die offiziellen Diagnoseschemata in der UdSSR durch eine weitergehende Differenzierung der Schizophrenien, in Italien durch eine differenziertere Unterteilung der körperlich begründbaren Psychosen, in Frankreich gemäß der eigenen nationalen Tradition durch eine subtilere Unterteilung der chronischen Wahnsyndrome und ihre vollständige Separierung von den Schizophrenien und in Dänemark, Norwegen und Schweden durch die besondere Orientierung an dem schon charakterisierten Konzept der reaktiven Psychosen aus.
Internationale Klassifikation
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Für alle bisher dargestellten traditionellen Klassifikationsbemühungen war es bezeichnend, dass sie das psychiatrische Fachwissen insgesamt in einer dem jeweiligen methodologischen Entwicklungsstand möglichst adäquaten Weise ordnen wollten. Dagegen sind die Umsetzungsversuche der wissenschaftlichen Systematik in Diagnoseschemata oder Diagnosetabellen meist pragmatisch den Zwecken der statistischen Datengewinnung für Gesundheitsbehörden oder einzelne Institutionen gefolgt.
In Finnland, Griechenland, Großbritannien, Irland, Jugoslawien, Portugal und Ungarn sowie an einzelnen psychiatrischen Krankenanstalten in Holland, Schweden und Peru wurde in der gleichen Zeit schon die Internationale Klassifikation der Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen der WHO benutzt. Deren 6. Ausgabe aus dem Jahre 1948, die noch stark durch ein nationales pragmatisches Begriffssystem, nämlich das der »Veterans Administration« in den USA geprägt war, enthielt erstmals ein Kapitel über psychische Störungen.
Würzburger Schema
DSM und ICD-6. Auch die erste Ausgabe des amerikani-
So wurde beispielsweise in Deutschland durch eine Kommission unter dem Vorsitz von Wilmanns (1930) eine Diagnosetabelle zur Statistik der Geisteskrankheiten erarbeitet, ab 1930 in einer Reihe von Anstalten und Kliniken erprobt und 1933 bei der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie in Würzburg zur allgemeinen Verwendung empfohlen. In diesem sog. Würzburger
schen DSM aus dem Jahre 1952 stellte eigentlich nur eine Variante der ICD-6 dar, deren einzige Besonderheit in der durchgängigen Verwendung des Begriffs »Reaktion« bestand. Darin zeigte sich der große Einfluss des emigrierten Schweizer Psychiaters Adolf Meyer auf den damals verantwortlichen APA-Ausschuss für Nomenklatur und Statistik. Nach dessen psychobiologischer Konzeption
389 16.2 · Der bisherige Annäherungsprozess an die Idee der natürlichen Einteilung
hatte man nämlich in jeder psychischen Störung immer die Reaktion eines Individuums auf psychische, soziale und biologische Faktoren zu sehen (Meyer 1908). DSM-II und ICD-7. Sowohl ICD-6 als auch die damit noch
weitgehend übereinstimmende ICD-7 und genauso auch das DSM-II, aus dem der Begriff Reaktion wieder entfernt worden war, stießen aber in vielen Ländern auch auf Ablehnung. Man vermisste beispielsweise die triadische Einteilung, die in allen damaligen nationalen Diagnoseschemata, mit Ausnahme des französischen, gebräuchlich war oder beanstandete terminologische Unstimmigkeiten sowie Mängel in der Gliederung und in der praktischen Handhabbarkeit (Meyer 1961). Arbeitsgruppe um Stengel. Teilweise aufgrund dieser
mangelnden Akzeptanz beauftragte die WHO den britischen Psychiater Stengel mit einer umfassenden Bestandsaufnahme, aus der als wichtigstes Ergebnis hervorgehen sollte, welche Anforderungen an eine wirklich international in allen Ländern verwendbare Klassifikation psychischer Störungen zu stellen wären. ! Die von ihm und seiner Arbeitsgruppe daraufhin durchgeführte und mit ihren wichtigsten Ergebnissen 1959 veröffentlichte Studie gilt heute zu Recht als ein Meilenstein in der Entwicklung. Denn darin wurde das vorgegebene Ziel in der Tat erreicht und insbesondere unmissverständlich herausgestellt, dass sich eine Klassifikation nur dann über unterschiedliche Institutionen und Länder hinweg in konsistenter und reproduzierbarer Weise anwenden lässt, wenn die Diagnosekriterien klar gefasst und mit allen ihren einzelnen Kriterien explizit dargestellt sind (Stengel 1959). DSM-III. Bei der Entwicklung von ICD-8 und auch noch
der von ICD-9 folgte man diesen Empfehlungen vorerst nur im geringen Maße, aber im DSM-III wurden sie dann umso entschiedener umgesetzt. So entstand das erste, nach dem einleitend angegebenen Kriterium modern zu nennende Klassifikationssystem mit operationalisierten Diagnosedefinitionen, einem multiaxialen Aufbau und einer insgesamt deskriptiven Ausrichtung, die Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Theorien zur Ätiologie zu wahren versucht.
16.2.6
Verhältnis zur modernen Klassifikation
Die Globalisierungbestrebungen der WHO und der APA, nach denen alle Psychiater weltweit auf die Benutzung der modernen Klassifikationssysteme verpflichtet werden sollen, treffen auch heute durchaus noch auf Vorbehalte. Sie sind zwar längst nicht mehr so verbreitet wie noch in
den 1960er und 1970er Jahren, als man an ICD-6 und -7 noch zahlreiche Unzulänglichkeiten auszusetzen hatte. ICD-8 und v. a. ICD-9 waren schon eher für eine Internationalisierung geeignet und wurden dementsprechend auch leichter akzeptiert. Nachdem aber die erstmals im DSM-III verwirklichten methodologischen Neuerungen nun auch in der ICD-10 teilweise Eingang gefunden haben und zudem im DSM-III-R und DSM-IV noch konsequenter umgesetzt worden sind, erscheinen diese Systeme als vergleichsweise neuartig und darum in manchen Augen auch als ein Bruch mit der Tradition. So werden beispielsweise in der ICD-10 die psychischen Störungen nicht mehr wie in den meisten traditionellen Klassifikationssystemen seit Kraepelins erstmaliger Anwendung des nosologischen Programms in 3 große Hauptgruppen, sondern in 9 zweistellige Diagnosekategorien eingeteilt (WHO 1991). Auch die DSM-IV-Einteilung scheint sich auf den ersten Blick weit von der traditionellen triadischen Hauptgruppendifferenzierung entfernt zu haben (APA 1994). Multiaxialer Aufbau. Nach diesem System werden die her-
kömmlich als Neurosen angesprochenen psychischen Veränderungen bei der multiaxialen Beurteilung den von K. Schneider als Krankheitsfolgen aufgefassten Störungen beiseite gestellt (Achse I). Die Persönlichkeitsstörungen und die geistige Behinderung, also die anderen traditionell den abnormen Spielarten seelischen Wesens zugerechneten Störungen (Achse II), sowie die früher in der somatologischen Ordnung voneinander differenzierten medizinischen Krankheitsfaktoren (Achse III) werden jeweils auf einer anderen Achse erfasst.
Weitere Begriffsänderungen Im DSM-IV kommt der Terminus »organisch bedingte psychische Störungen«, die Nachfolgebezeichnung für den Begriff der exogenen Psychosen, unter dem man traditionell immer die erste der 3 Hauptgruppen gefasst hatte, gar nicht mehr vor. Durch seine Verwendung wäre nach Meinung der Autoren weiterhin die Annahme nahegelegt worden, dass »nichtorganische« oder »funktionelle« Störungen keine organischen Grundlagen besitzen könnten; diese fälschliche Implikation wollten sie angesichts des neurobiologischen Wissenszuwachses vermieden sehen (APA 1994). Mit diesem Verzicht auf den Terminus »organisch bedingte psychische Störungen« als Hauptgruppenbezeichnung hängt eine weitere Neuerung im DSM-System zusammen. In der 4. Ausgabe werden erstmals auch die in der deutschen Tradition Durchgangssyndrome genannten, durch einen medizinischen Krankheitsfaktor bedingten oder durch eine Substanz induzierten psychopathologischen Bilder mit den entsprechenden, erscheinungsbildlich gleichartigen »primären« Störungen zusammengefasst. So findet man beispielsweise jetzt die
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Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
endogenomorphen schizophrenieähnlichen Durchgangssyndrome als »psychotische Störungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors« oder »substanzinduzierte psychotische Störungen« im Kapitel »Schizophrenie und andere psychotische Störungen«. Dadurch wird der syndromale Charakter der psychotischen oder auch affektiven Störungen als gemeinsame pathogenetische Endstrecke möglicher unterschiedlicher biologischer Ursachenfaktoren noch stärker als in der Tradition betont. Auf der anderen Seite ist aber in den modernen Klassifikationssystemen auch eine gegenläufige Tendenz zu erkennen. Die frühere Trennung zwischen somatologischer und psychologischer Ordnung, mit der K. Schneider der ätiologischen Unspezifität der psychoorganischen Störung Rechnung tragen wollte, wird partiell aufgehoben. So werden beispielsweise in der ICD-10 so viele ätiologisch spezifizierte Demenzformen wie möglich aufgeführt und von der Demenz als ätiologisch unspezifischem psychopathologischen Syndrom unterschieden; im DSMIV kommt das generelle Demenzsyndrom gar nicht mehr als eigene Diagnoseeinheit vor. Des Weiteren wird nur folgerichtig auch der alte Begriff der »Endogenität« nicht mehr verwandt, der in den traditionellen Klassifikationssystemen zur Bezeichnung der zweiten Hauptgruppe diente. Somit sucht man also sowohl die »exogenen« als auch die »endogenen« Psychosen und darüber hinaus auch die »abnormen Spielarten seelischen Wesens« als in sich zusammenhängend gedachte Hauptgruppe vergebens. Neben vielen anderen Unterschieden, kann v. a. diese Veränderung den Eindruck hervorrufen, die Kontinuität zwischen traditioneller und moderner Klassifikation sei weitgehend unterbrochen.
Tradition als Grundlage der Veränderungen
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Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die so neuartig wirkenden Veränderungen entstanden gerade deshalb, weil man in den verantwortlichen Kommissionen der Tradition – und insbesondere der aus dem Ursprungsland der psychiatrischen Klassifikation stammenden deutschsprachigen – weitgehend treu geblieben ist. Schon Kraepelin hatte 1904 anlässlich seiner Beobachtungen in der Anstalt Buitenzorg auf Java beklagt, dass die Voraussetzungen für eine vergleichende Psychiatrie noch nicht geschaffen seien. Auch Jaspers sah in der Entwicklung einer landes- und weltweit einheitlich verwendbaren Terminologie eine wichtige Zukunftsaufgabe, die er allerdings zu seiner Zeit noch nicht für erfüllbar hielt. Beiden war klar, dass sich eine natürliche Einteilung der seelischen Störungen nur verwirklichen lassen würde, wenn sich die Forschung eines jeden Landes an der Suche nach den wirklichen Grenzen beteiligen könnte. Denn natürliche Grenzen müssen als solche weltweit in derselben Weise nachweisbar sein. Daher kann nur ein Suchprozess auf internationaler Ebene letztlich zu Ergebnissen führen,
anhand derer sich entscheiden lässt, ob es solche Grenzen tatsächlich gibt.
Operationalisierung der Diagnosedefinitionen Mit dieser Operationalisierung sind in den modernen Klassifikationssystemen gemäß den von Stengel gestellten Forderungen erstmals die Voraussetzungen für eine reliable Verwendung über Landesgrenzen hinweg geschaffen worden. Damit sind die Bemühungen um die Beantwortung der Frage, ob sich die klinische Einteilung nach Erscheinungsbild, Verlauf und Ausgang durch hirnorganische und ätiologische Befunde validieren lässt, in ein neues Stadium eingetreten. Programmatische Leitidee bleibt dabei jedoch Kraepelins Grundanschauung, dass es nämlich für diesen Validierungsprozess einen Zielpunkt gibt, in dem das klinische Einteilungsprinzip mit dem hirnanatomischen und dem ätiologischen zusammenfällt. Explikation herkömmlicher Diagnosebegriffe. Mit Ope-
rationalisierung ist im Übrigen nur die Explikation der in den herkömmlichen Diagnosebegriffen enthaltenen Einzelelemente gemeint. Deshalb stellen die modernen Diagnosekriterien auch nichts anderes als eine Auflistung und Gewichtung eben dieser Merkmale dar. Folgerichtig findet sich zu fast jedem der in der traditionellen Systematik aufgeführten Syndrome in den modernen Diagnosesystemen eine mehr oder weniger genaue Entsprechung, wenn auch nicht selten unter anderer Bezeichnung und in anderer Gruppenzuordnung. Das gilt selbst von einer auf die deutsche Tradition beschränkt gebliebenen Konzeption wie der der »Durchgangssyndrome«. Jede der in der traditionellen Prägnanztypologie voneinander differenzierten Formen (⊡ Abb. 16.4) erscheint wieder in der ICD-10 und im DSMV-IV, obwohl der Begriff der »Durchgangssyndrome« selbst darin keine Verwendung findet. Von der Sache her sind die modernen Diagnosekategorien nahezu durchweg durch die traditionellen Klassifikationssysteme vorgegeben worden. Das trifft beispielsweise auch für eine so zentrale Kategorie wie die der schizophrenen Störungen zu. Die hierfür in der ICD-10 und im DSM-IV angegebenen Diagnosekriterien explizieren und formalisieren in durchaus überzeugender Weise nur K. Schneiders symptomatologische Rangeinteilung und fügen ihr noch wichtige Gesichtspunkte aus E. Bleulers Schizophrenielehre und Kraepelins ursprünglichem Dementia-praecox-Konzept hinzu. Man mag auf den ersten Blick die triadische Grundeinteilung und manche nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr verwandte ehemalige Grundbegriffe wie den der »Psychose«, der »Neurose« oder der »Endogenität« in den modernen Klassifikationssystemen vermissen. Wer aber bei näherer Betrachtung die Gründe für solche Veränderungen zur Kenntnis nimmt, wird darin keinen Traditionsbruch mehr sehen.
391 Literatur
Deskriptiver Ansatz Schon Kraepelin hatte seine klinischen Einteilungseinheiten vorerst nur als »brauchbare Begriffe« aufgefasst und damit gerechnet, dass sie im Zuge des Validierungsprozesses möglicherweise wieder aufgegeben werden müssten. Von Jaspers stammt die Warnung davor, dass »statt der Idee« der Krankheitseinheit »der Schein der erreichten Idee gegeben«, nämlich die jeweilige Einteilung – und damit auch die in »exogene«, »endogene Psychosen« und »Neurosen« – bereits als validiert angesehen wird (Jaspers 1973, S. 477). Wenn also die Autoren der modernen Klassifikationssysteme einen deskripten Ansatz verwirklichen und theorielastige Begriffe der Tradition vermieden wissen wollen, bewegen sie sich damit auf der von Kraepelin vorgegebenen und von Jaspers bestätigten Entwicklungslinie. Deshalb erscheint auch ihre Warnung vor einer vorschnellen Gleichsetzung der durch definitorische Operationalisierung verbesserten Reliabilität mit schon erreichter Validität nur konsequent. Danach stellen auch die modernen Diagnosekategorien nur brauchbare Begriffe dar, bei denen das bisher durch Literatursichtung, Reanalyse der vorhandenen Datensätze und Feldstudien gewonnene Beweismaterial für ihre mögliche Gültigkeit immerhin konsequente Validitätsprüfungen gerechtfertigt erscheinen lässt (Kendell 1978; APA 1994).
Fazit Ob sich dabei am Ende die traditionelle Leitidee der natürlichen Einteilung als richtig und somit das medizinische Validierungsparadigma als angemessen herausstellen wird, bleibt weiterhin offen. Man kann vorerst nur feststellen, dass die Chancen für eine endgültige Beantwortung dieser nunmehr schon fast eineinhalb Jahrhunderte alten Frage durch die Modernisierung der psychiatrischen Klassifikationssysteme in der Tat entscheidend verbessert worden sind.
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16
392
Kapitel 16 · Traditionelle Klassifikationssysteme
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16
17 17 Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme H. J. Freyberger
17.1 17.2
Einleitung
– 394
Prinzipien der operationalisierten Diagnostik – 394 17.2.1 Deskriptiver diagnostischer Ansatz – 394 17.2.2 Das Komorbiditätsprinzip – 398 17.2.3 Multiaxiale Diagnostik – 400
17.3 Der diagnostische Prozess – 402 17.3.1 Ausbildung und Training – 402 17.3.2 Weitere Fehlerquellen im diagnostischen Prozess – 403 17.3.3 Instrumente – 403 Literatur
– 407
> > Hauptprinzipien der operationalisierten Diagnostik sind zum einen der deskriptive diagnostische Ansatz mit genau festgelegten psychopathologischen Kriterien, Ausschlusskriterien und Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln, zum anderen das Komorbiditätsprinzip und die multiaxiale Diagnostik. Durch diese Operationalisierung konnte v. a. die Interraterreliabilität verschiedener Studien entscheidend verbessert werden. Durch das Komorbiditätsprinzip und die multiaxiale Diagnostik ist es möglich, die Komplexität der klinischen Bedingungen eines Patienten besser abzubilden, z. B. gleichzeitig psychische und körperliche Erkrankungen sowie psychosoziale Belastungsfaktoren.
394
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
17.1
Einleitung
In den vergangenen Jahren hat die Klassifikation psychischer Störungen in der klinischen Praxis und in der Forschung wieder an Relevanz gewonnen, nachdem sie aus methodischen und inhaltlichen Gründen über Jahre hinweg umstritten war. Ausgangspunkt der methodischen Kritik bildeten dabei Studien zur Anwendungsübereinstimmung (Interraterreliabilität) aus den 1960er und 1970er Jahren (zusammenfassend Stieglitz u. Freyberger 2002). In diesen Studien konnte gezeigt werden, dass v. a. für die affektiven, die neurotischen und die Persönlichkeitsstörungen die zwischen unabhängigen Diagnostikern erreichte Übereinstimmung in einem völlig unzureichenden Bereich lag.
17.2
Prinzipien der operationalisierten Diagnostik
Unzureichende Reliabilität. Von Spitzer u. Fleiss (1974),
17.2.1
Deskriptiver diagnostischer Ansatz
die die bis dahin veröffentlichten Untersuchungen zusammenfassten, wurde die unzureichende Reliabilität im Wesentlichen auf 2 Faktoren zurückgeführt: Die sog. Beurteilungsvarianz, d. h. die diagnostische Varianz, die durch unterschiedliche Urteile und Bewertungen über Vorhandensein und Relevanz der vorliegenden Symptome bzw. diagnostischen Merkmale durch verschiedene Untersucher zustande kommt. Die sog. Kriterienvarianz, d. h. die diagnostische Varianz, die durch die Verwendung unterschiedlicher diagnostischer Kriterien für die Diagnose derselben Störung durch verschiedene Untersucher verursacht wird.
Der Begriff der operationalen Definition geht auf den Engländer Bridgeman zurück, der diesen bereits in den 20er Jahren verwendete. Heute wird unter dem Begriff der operationalisierten psychiatrischen Diagnostik in der Psychiatrie ein Vorgehen zusammengefasst, bei dem psychische Störungen definiert werden durch die explizite Vorgabe psychopathologischer Kriterien (Ein- und Ausschlusskriterien), die durch bestimmte Anforderungen an ihr zeitliches Bestehen und den sich ergebenen Verlauf ergänzt werden und durch diagnostische Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln (sog. Algorithmen) für die diagnostischen Kriterien.
Der Beurteilungsvarianz wurde in der folgenden Entwicklung durch die Einführung strukturierter und standardisierter Erhebungsverfahren Rechnung getragen, während die Kriterienvarianz durch die Prinzipien der sog. operationalisierten Diagnostik reduziert wurde. Inhaltliche Kritik. Die wichtigsten Aspekte der inhaltlichen
17
Diagnostik sich ausschließlich an sog. Oberflächenmaterial orientiere und die für die Indikation und Durchführung von Psychotherapien entscheidenderen Variablen wie etwa Beziehungsfähigkeit, Konfliktkonstellation und Persönlichkeitsstruktur systematisch vernachlässige (Schneider u. Freyberger 1990, 1994). Eine Konsequenz dieser inhaltlichen Kritik ist in der Aufsplitterung verschiedener diagnostischer Betrachtungsebenen (oder Achsen) in sog. multiaxialen diagnostischen Systemen und deren konsequenter Operationalisierung zu sehen.
Kritik bezogen sich einerseits auf die möglichen sozialen Konsequenzen psychiatrischer Diagnosen für die Patienten, die in erster Linie von soziologischen aber auch von sog. antipsychiatrischen Autoren unter den Stichworten Etikettierung abweichenden Verhaltens, Stigmatisierung und soziale Kontrolle veröffentlicht wurden (vgl. Saß 1987). Andererseits wurde die unzureichende Bedeutung der Klassifikation bei der Indikation und Durchführung von Therapien kritisiert. Von biologisch-psychiatrischer Seite wurde dabei v. a. die unzureichende Syndrombezogenheit im Hinblick auf die Differenzialindikation für verschiedene psychopharmakologische und andere biologische Therapieinterventionen hingewiesen. Von psychoanalytischen Autoren wurde betont, dass eine rein symptomorientierte
Psychopathologische Kriterien. Dabei handelt es sich in der Regel um vergleichsweise beobachtungsnahe, kein zu hohes Abstraktions- oder Interpretationsniveau erfordernde Merkmale, wie etwa bestimmte Ich-Störungen oder Wahninhalte bei der Schizophrenie (s. Übersicht weiter unten). Eine weit weniger präzise Definition wurde im Hinblick auf die Zeit- und Verlaufskriterien verfolgt, die von unbestimmten Dauerangaben (z. B. »einige Tage«) bis hin zu exakten Zeitvorgaben reichen (z. B. »Symptomatik von zumindest 2 Wochen Dauer durch wenigsten 2 Monate normaler Stimmung getrennt«; vgl. Dittmann et al. 1990 a). Ausschlusskriterien. Sie werden in der Regel »Merkmale«
genannt, die bei ähnlicher Symptomatik die Zuordnung zu einer anderen Störungsgruppe rechtfertigen, wie sie für die schizophrenen Störungen in der Übersicht wiedergegeben sind. Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln. Diagnostische
Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln legen die Anzahl und Zusammensetzung der für die Diagnose mindestens geforderten einzelnen Symptome für ein definiertes
395 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik
Zeitintervall fest. So werden für die Diagnose einer Schizophrenie in einem geforderten Zeitintervall von zumindest einem Monat zumindest ein Symptom aus der Symptomgruppe 1 oder mindestens 2 Symptome aus der Symptomgruppe 2 gefordert (vgl. Übersicht).
Diagnostische Eingangskriterien für die Diagnose einer Schizophrenie nach ICD-10. (Nach Dilling u. Freyberger 2005) G1. Während eines Zeitraumes von mindestens einem Monat sollte eine psychotische Episode mit entweder mindestens einem der unter 1. aufgezählten Merkmale oder mit mindestens 2 der unter 2. aufgezählten Merkmale bestehen. 1. Mindestens eines der folgenden Merkmale: a) Gedankenlautwerden, -eingebung, -entzug oder -ausbreitung b) Kontroll-, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, Wahnwahrnehmung c) kommentierende oder dialogische Stimmen oder andere Stimmen, die aus bestimmten Körperteilen kommen d) anhaltender kulturell unangemessener Wahn 2. Oder mindestens 2 der folgenden Merkmale: e) anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, begleitet von flüchtigen Wahngedanken oder von langanhaltenden überwertigen Ideen f ) Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss, was zu Zerfahrenheit, Neologismen oder Danebenreden führt g) katatone Symptome (wie Erregung, Haltungsstereotypien, wächserne Biegsamkeit, Negativismus, Mutismus, Stupor) h) »negative« Symptome (wie Apathie, Sprachverarmung, verflachte oder inadäquate Affekte)
men weitgehend frei zu sein und nahezu allein der phänomenologisch-symptomorientierten Störungsbeschreibung zu dienen. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich allerdings die operationalen Klassifikationssysteme keineswegs als ätiologiefrei: Neben der an ätiologischen Prinzipien orientierten Charakterisierung organischer psychischer Störungen und der Störungen durch psychotrope Substanzen werden in weiten Bereichen biologische Paradigmen berücksichtigt, wie etwa bei der Kategorisierung der depressiven und der Angststörungen. Bereits die Einteilung in die verschiedenen diagnostischen Hauptgruppen der ICD-10 (vgl. folgende Übersicht) zeigt eine Aufsplitterung und Neugruppierung der Störungsklassen. Dabei ergeben sich die in der Übersicht beschriebenen grundlegenden Veränderungen: Organische psychische Störungen (F0). Der Demenzbe-
griff wurde durch die Einführung eines Sechsmonatszeitkriteriums ausgeweitet und das nicht durch psychotrope Substanzen verursachte Delir neben dem amnestischen Syndrom, symptomatischen organischen Störungen und den organischen Persönlichkeitsstörungen als neue oder anders beschriebene Kategorien etabliert. Störungen durch psychotrope Substanzen (F1). Sie wur-
den konsequenter als in der ICD-9 von den organischen Störungen getrennt und die diagnostischen Schwellen für das Missbrauchs- (»schädlicher Gebrauch«) und Abhängigkeitssyndrom heruntergesetzt. So ist »schädlicher Gebrauch« zukünftig bereits zu diagnostizieren, wenn psychische oder körperliche Folgen des Substanzkonsums evident werden. Klassifiziert werden mit den ersten 3 Kodierungsziffern (F1x) die Substanzen und mit den weiteren Ziffern (F1x. xx) die jetzt weiter differenzierten klinischen Syndrome. Polyvalente Abhängigkeit darf zukünftig nur bei wahllosem Konsum von mehr als 3 Substanzen klassifiziert werden, was allein in diesem Bereich zu einer Zunahme der zu stellenden Einzeldiagnosen führen dürfte.
G2. Häufigste Ausschlusskriterien:
Schizophrene, schizotype und wahnhafte Störungen (F2).
1. Wenn die Patienten ebenfalls die Kriterien für eine manische (F30) oder eine depressive Episode (F32) erfüllen, müssen die oben unter G1.1. und G1.2. aufgelisteten Kriterien vor der affektiven Störung aufgetreten sein 2. Die Störung kann nicht einer organischen Gehirnerkrankung (F00–F09) oder einer Störung durch psychotrope Substanzen (F1) zugeordnet werden
Bei ihrer Klassifikation ist v. a. die Etablierung der schizotypen Störungen und einer Gruppe akuter, vorübergehender Psychosen neu, deren Einführung an das traditionelle Konzept der »psychogenen Psychose« erinnert.
Veränderungen durch die neue Einteilung Der deskriptive diagnostische Ansatz verfolgt damit den Anspruch, von theoretischen und ätiologischen Annah-
Affektive (F3) bzw. neurotische Belastungs- und somatoforme Störungen (F4). Hier wurden die wahrscheinlich
folgenreichsten Veränderungen vorgenommen. Die traditionelle Unterscheidung von neurotischer und endogener Depression wurde zugunsten einer verlaufs- und schweregradorientierten Klassifikation aufgegeben, während die neurotischen Störungen entsprechend der im Vordergrund stehenden Symptomatik differenziert wurden. Auf das psychoanalytische Neurosenmodell wurde
17
396
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
Die diagnostischen Hauptgruppen des Kapitels V (F) der ICD-10 F0 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen F00 Demenz bei Alzheimer-Krankheit F01 vaskuläre Demenz F02 Demenz bei sonstigen andernorts klassifizierten Erkrankungen F03 nicht näher bezeichnete Demenz F04 organisches amnestisches Syndrom F05 Delir F06 sonstige psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit F07 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F10 Alkohol F11 Opioide F12 Cannabinoide F13 Sedativa oder Hypnotika F14 Kokain F15 sonstige Stimulanzien einschließlich Koffein F16 Halluzinogene F17 Tabak F18 flüchtige Lösungsmittel F19 multipler Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen F1x. 0 akute Intoxikation F1x. 1 schädlicher Gebrauch F1x. 2 Abhängigkeitssyndrom F1x. 3 Entzugsyndrom F1x. 4 Entzugssyndrom mit Delir F1x. 5 psychotische Störung F1x. 6 amnestisches Syndrom F1x. 7 und verzögert auftretende psychotische Störung
17
F2 Schizophrenie, schizoptype und wahnhafte Störungen F20 Schizophrenie F21 schizotype Störung F22 anhaltende wahnhafte Störung F23 akute vorübergehende psychotische Störungen F24 induzierte wahnhafte Störung F25 schizoaffektive Störungen F3 Affektive Störungen F30 manische Episode
F31 F32 F33 F34 F38
bipolare affektive Störung depressive Episode rezidivierende depressive Störung anhaltende affektive Störungen sonstige affektive Störungen
F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen F40 phobische Angststörungen F41 sonstige Angststörungen F42 Zwangsstörung F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen F44 dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) F45 somatoforme Störungen F48 sonstige neurotische Störungen F5 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren F50 Essstörungen F51 nichtorganische Schlafstörungen F52 nichtorganische sexuelle Funktionsstörungen F53 psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett F54 psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei andernorts klassifizierten Krankheiten F55 Missbrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F60 Persönlichkeitsstörungen F61 kombinierte und sonstige Persönlichkeitsstörungen F62 andauernde Persönlichkeitsänderungen F63 abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle F64 Störungen der Geschlechtsidentität F65 Störungen der Sexualpräferenz F66 psychische und Verhaltensprobleme in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung F68 sonstige Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F7 Intelligenzminderung F70 leichte Intelligenzminderung F71 mittelgradige Intelligenzminderung F72 schwere Intelligenzminderung F73 schwerste Intelligenzminderung
▼
397 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik
F8 Entwicklungsstörungen F80 umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache F81 umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten F82 umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen F83 kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen F84 tiefgreifende Entwicklungsstörungen
als Paradigma verzichtet, da es den Autoren operationalisierter Klassifikationssysteme nicht hinreichend validiert erschien. Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren (F5). In diesem Abschnitt wur-
den mehrheitlich psychosomatische und somatopsychische Störungen gruppiert. Einen Bruch mit dem Prinzip der Ätiologiefreiheit stellt die Berücksichtigung der psychischen Störungen im Wochenbett dar, die neben dem Missbrauch nicht-abhängigkeitserzeugender Substanzen hier mit aufgenommen wurden. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6). Ähnlich wie im DSM-III-R und im DSM-IV wurden in dieser Gruppe die spezifischen Persönlichkeitsstörungen durch niedrigschwelligere Eingangskriterien aufgewertet, traditionelle Störungsgruppen wie die Perversionen neu geordnet und einige neue Kategorien, wie die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung neu eingeführt. Bei den Persönlichkeitsstörungen kommt es oft dazu, dass bei zahlreichen Patienten nicht nur eine, sondern häufig mehrere Persönlichkeitsstörungsdiagnosen zu stellen sind. Die liegt z. T. an den niedrigschwelligen Eingangskriterien und z. T. an den sich bei einzelnen Störungsbeschreibungen überlappenden diagnostischen Kriterien. Obwohl eine kombiniert kategoriale und dimensionale Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen von zahlreichen Autoren in den letzten Jahren gefordert wurde, verzichten ICD-10 und DSM-IV auf einen derartigen Ansatz.
F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F90 hyperkinetische Störungen F91 Störung des Sozialverhaltens F92 kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen F93 emotionale Störung des Kindesalters F94 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F95 Ticstörungen F98 sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
(F9). Mit diesen Abschnitten wurden eigenständige
diagnostische Gruppen für den Bereich kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen etabliert (vgl. Knölker u. Schulte-Markwort 2002).
Hierarchische Gliederung ICD-10. Wie aus ⊡ Tab. 17.1 wiederum am Beispiel der
schizophrenen Störungen hervorgeht, ist die ICD-10 hierarchisch angeordnet. Mit der 1. Stelle (Fx) wird die diagnostische Hauptkategorie und mit der 2. Stelle (Fxx) die diagnostische Hauptgruppe beschrieben. Die 3. Stelle (Fxx. x) kennzeichnet die eigentliche diagnostische Kategorie und mit der 5. Kodierungsstelle werden optional distinkte Verlaufstypen und Schweregradklassifizierungen kodiert. Durch die z. T. strikte Operationalisierung der einzelnen Störungen werden sog. diagnostische Restkategorien (Fxx. 8 andere und Fxx. 9 nicht näher bezeichnete) aufgewertet, da eine größere Anzahl von Patienten nicht die spezifischen Kriterien erfüllt und hier diagnostisch abgebildet werden muss.
⊡ Tab. 17.1. Kodierungsebenen und Verlaufsklassifizierung am Beispiel der schizophrenen Störungen nach ICD-10. (Nach Stieglitz u. Freyberger 2002) Ebene
Kodierung
Bezeichnung
2-stellig
F2
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
3-stellig
F20
Schizophrenie
Intelligenzminderung (F7). In diesem Abschnitt wurde
4-stellig
F20.0
Paranoide Schizophrenie
neben der neuen Terminologie eine mehrdimensionale Diagnostik etabliert, in der neben dem Intelligenzniveau zusätzlich begleitende Verhaltensauffälligkeiten verschlüsselbar werden.
5-stellig
F20.00 F20.01
Kontinuierlicher Verlauf Episodisch, mit zunehmendem Residuum Episodisch, mit stabilem Residuum Episodisch remittierend Unvollständige Remission Vollständige Remission
Entwicklungsstörungen (F8) und Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn der Kindheit und Jugend
F20.02 F20.03 F20.04 F20.05
17
398
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
DSM-IV. Im DSM-IV wurde die Einteilung in diagnostische Klassen noch konsequenter nach deskriptiven Gesichtspunkten durchgeführt. So werden etwa die organischen Störungen entsprechend ihrer im Vordergrund stehenden Symptomatologie den anderen Kategorien zugeordnet und erscheinen nicht mehr als eigenes Kapitel. Wichtige Unterschiede zwischen den beiden Klassifikationssystemen betreffen die abweichende Klassifikation affektiver Störungen im DSM-IV, die weiterhin dem Konzept der Major Depression folgt, die im DSM-IV bei den Angststörungen vorgenommene Präferierung der Panikstörung, die in der diagnostischen Hierarchisierung Vorrang vor den phobischen Störungen und insbesondere der Agoraphobie erhält, während die ICD-10 die Panikstörung als Schweregradindikator der Agoraphobie betrachtet, die abweichende Operationalisierung und Zusammenstellung von Persönlichkeitsstörungen im DSMIV und deren Anordnung in Clustern.
Diagnostische Manuale Während das DSM-IV in einer Standardversion für den klinischen und wissenschaftlichen Gebrauch publiziert wurde, etabliert die ICD-10 den deskriptiven Ansatz auch auf der Ebene der diagnostischen Manuale. Hier wurden je nach Verwendungszweck die Operationalisierungen der einzelnen Störungen unterschiedlich restriktiv gefasst (⊡ Tab. 17.2). Während die klinisch-diagnostischen Leitlinien durch vergleichsweise offen formulierte Zeit- und Verlaufskriterien sowie Verknüpfungsregeln dem Diagnostiker Leitlinien anbieten, die noch viel Raum für individuelle diagnostische Zuordnungen lassen, streben die Forschungskriterien über restriktive Operationalisierungen eine psychopathologisch präzisere Klassifizierung an, mit Hilfe derer eine weitreichendere Stichprobenhomogenisierung erreicht werden soll. Administrativen Zwecken dient die lediglich 4-stellig ausgelegte Kurzfassung mit kurzen und pragmatischen Beschreibungen der Störungsgruppen.
17
⊡ Tab. 17.2. Versionen des Kapitels V (F) der ICD-10 Verwendungszweck
Klinische Diagnostik
Klinische Diagnostik
Klinisch-diagnostische Leitlinien (WHO 1992; Dilling et al. 2004)
Forschung
Forschungskriterien (WHO 1994; Dilling u. Freyberger 2005)
Administration
Kurzfassung im Rahmen der Gesamt-ICD (DIMDI 1994)
Primärversorung
»Primary health care classification« (PHC; WHO 1995; Müßigbrodt et al. 2006)
»Primary Health Care Classification«. Mit dieser wird dar-
über hinaus ein auf der Ebene der Kategorisierung stark vereinfachter und auf die epidemiologisch häufigsten Störungen beschränkter Ansatz vorgelegt, den die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zudem mit spezifizierten Handlungsanweisungen etwa für Therapiegestaltung und -indikation verbunden hat. Zielvorstellung bei der Veröffentlichung dieses Manuals war es, der unzureichend präzisen Diagnostik in der primären Gesundheitsversorgung Rechnung zu tragen und die damit zusammenhängende niedrige Qualität differenzieller Therapieindikationen zu verbessern (Sartorius et al. 1993; Üstün u. Sartorius 1995; Müssigbrodt et al. 2006)
Erzielte Verbesserungen In zahlreichen empirischen Studien konnte gezeigt werden, dass sich durch eine Operationalisierung psychischer Störungen insbesondere im Hinblick auf die Interraterreliabilität deutliche Verbesserungen erzielen lassen (vgl. z. B. Freyberger et al. 1990, 1995; Wittchen 1993), die die Kommunizierbarkeit diagnostischer Einschätzungen erleichtern und wissenschaftlich relevante Stichprobenvergleiche präziser machen.
17.2.2
Das Komorbiditätsprinzip
Eine weitere wesentliche Neuerung in operationalisierten Klassifikationssystemen stellt die Einführung des Komorbiditätsprinzips dar. Komorbidität bedeutet dabei das gemeinsame Auftreten verschiedener psychischer Erkrankungen bei einer Person. Unterschieden wird zwischen simultaner oder Querschnittskomorbidität und sukzessiver oder Längsschnittkomorbidität. Vor allem für wissenschaftliche Fragestellungen ist zudem der Zeitraum, auf den sich die Komorbidität bezieht, von Relevanz. Unterschieden wird hier u. a. zwischen »Life-time-Komorbidität«, Sechsmonats- oder Einjahreskomorbidität und Komorbidität im Rahmen für das Gesamtverständnis der psychischen Erkrankungen relevanter sog. »repräsentativer« Störungsepisoden.
Haupt- und Nebendiagnosen Nach ICD-10 und DSM-IV sind so viele psychiatrische Diagnosen zu verschlüsseln, wie für die Beschreibung des gesamten klinischen Bildes notwendig sind. Bei mehr als einer Diagnose soll zwischen Haupt- und Nebendiagnosen differenziert werden, wobei der Diagnose Priorität eingeräumt wird, der die größte klinische Bedeutung zukommt. In einem gewissen Sinne kommt dabei den Nebendiagnosen die Bedeutung verlaufsmodifizierender Variablen zu. Da nach den Konzept operationaler Klassifikationssysteme Syndrome zu verschlüsseln sind und
399 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik
damit sog. »komplexe Diagnosen«, unter denen früher verschiedene Symptomcluster subsummiert wurden, aufgelöst werden, kommt es bei konsequenter Anwendung operationaler Prinzipien zu einer deutlichen Zunahme diagnostisch abzubildender Störungen. Das Komorbiditätsprinzip erlaubt abgesehen von bestimmten, in den einzelnen Systemen definierten Ausnahmen, einerseits Diagnosen aus verschiedenen Klassen (z. B. Angst- und Depressionsbereich) und andererseits Diagnosen innerhalb einer diagnostischen Klasse (z. B. Persönlichkeitsstörungen) zu stellen. Dabei ist zu beachten, dass in bestimmten Störungsbereichen, wie z. B. bei den Angst- und depressiven Störungen, eine überzufällig häufige Assoziation vorliegt und Einzelsymptome oder Symptomcluster, die unterhalb der diagnostischen Schwelle spezifischer Störungen liegen (sog. »subthreshold«-Diagnosen) für den Krankheitsverlauf eine hohe Bedeutung haben können. Für den Bereich der affektiven Störungen konnte u. a. Angst (1994) zeigen, dass in der Allgemeinbevölkerung Patienten mit sog. kurzen rezidivierenden depressiven Störungen, die etwa das diagnostische Zeitkriterium der depressiven Episode in der ICD-10 nicht erfüllen, infolge der störungsassoziierten psychosozialen Beeinträchtigungen als erkrankt aufzufassen sind, was entsprechende Konsequenzen für die Therapie und Prognose nach sich zieht. Multimorbidität. In Abgrenzung vom Konzept der Komorbidität wird von Multimorbidität gesprochen, wenn neben einer oder mehreren psychischen Störungen auch noch zusätzlich körperliche Erkrankungen vorliegen, von denen auch ein verlaufsmodifizierender Einfluss ausgeht. Die Relevanz der Multimorbidität ist im Bereich der organischen psychischen Störungen bisher am besten untersucht.
Bedeutung des Komorbiditätsprinzips Das Komorbiditätsprinzip ist von erheblicher konzeptueller Bedeutung, da es eine Abkehr von Jaspers Hierarchiekonzept darstellt, wie es z. B. noch in der ICD-9 gilt. Danach sind die psychischen Erkrankungen in Schichten angeordnet (von organischen Störungen über affektive Störungen bis hin zu Neurosen). Jede »tieferliegende Erkrankung« kann das Erscheinungsbild der darüberliegenden annehmen. Die eigentliche Diagnose muss anhand der tieferliegenden Erkrankung erfolgen. Der erste Schritt operationalisierter Diagnostik ist entsprechend des Komorbiditätsprinzips in einer rein klinisch orientierten Hierarchisierung syndromaler Diagnosen zu sehen, der, wie oben bereits ausgeführt wurde, auf diese Art definierter »komplexer Diagnosen« verzichtet. Theoretische Aspekte. Die Etablierung des Komorbidi-
tätsprinzips hat darüber hinausgehende theoretische und therapeutische Implikationen. So kann aus wissenschaft-
licher Sicht das gemeinsame Auftreten bestimmter Störungen Hinweise auf eine gemeinsame Ätiologie bzw. Pathogenese liefern, wie in zahlreichen Familienstudien gezeigt werden konnte. Prinzipiell kann dabei eine Störung die Voraussetzung für die Entwicklung einer zweiten Störung darstellen, wie dies etwa bei Patienten mit einer Substanzmittelabhängigkeit der Fall ist, die eine erhebliche Tendenz aufweisen, auch Abhängigkeitssyndrome von weiteren Substanzen zu entwickeln (Regier et al. 1990). Interne Komorbidität in diesem Bereich kann somit gemeinsame Risiko- und pathogenetische Faktoren repräsentieren, für die sich aus der klinischen und tierexperimentellen Forschung neurobiologische und genetische Hinweise ergeben. Klinische Aspekte. Aus klinischer Sicht kann der Behandlungserfolg bei komorbiden Patienten schwerer zu erreichen sein, mit den entsprechenden Implikationen für die Planung und Durchführung von Therapieinterventionen und den Verlauf. Patienten mit mehr als einer Diagnose dürften darüber hinaus auch in weiten Bereichen als die schwerer kranken Patienten angesehen werden. So konnte z. B. für den Bereich der Komorbidität zwischen schizophrenen Störungen einerseits und Störungen durch psychotrope Substanzen andererseits in den vergangenen Jahren gezeigt werden, dass spezielle Behandlungsprogramme erforderlich sind, um gegenüber »monomorbiden« schizophrenen Patienten auch nur annähernd gleiche Therapieresultate erzielen zu können.
! Die damit zusammenhängenden methodischen Schlussfolgerungen für Therapiestudien jeder Art dürften, obgleich dies bisher nicht ausreichend wissenschaftlich geklärt ist, folgenreich sein, da sich komorbide und nichtkomorbide Patienten möglicherweise nicht oder nur sehr eingeschränkt miteinander vergleichen lassen. Schwachpunkte des Komorbiditätsprinzips. Ein wesent-
liches, bisher empirisch nicht hinreichend bearbeitetes Problem des Komorbiditätskonzepts ist, dass im Rahmen des deskriptiven Ansatzes auf eine sequenziell-ätiologische Reihung der phänomenologischen Diagnosen ebenso verzichtet wird, wie auf die Formulierung eines komplexen Störungsmodells. Auf die Charakterisierung zeitlich und pathogenetisch primärer und sekundärer Störungen wird verzichtet, so dass die Beziehung der Störungen untereinander offen bleibt. Damit bleiben ätiologisch relevante Konzepte, etwa im Bereich der Alkoholund Drogenabhängigkeit unberücksichtigt, die im Rahmen von Familienstudien gut abgesichert wurden und den verlaufsmodifizierenden Charakter dieser Störungsklasse vernachlässigen. Durch den Verzicht auf komplexe Störungsmodelle wird der Diagnostiker zudem gezwungen, eine Vielzahl von Diagnosen abzubilden, ohne diese in Beziehung setzen zu können.
17
400
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
17.2.3
Multiaxiale Diagnostik
⊡ Tab. 17.3. Das multiaxiale System der ICD-10. (Nach Siebel et al. 1997)
Ein weiterer wichtiger Fortschritt in der Entwicklung operationalisierter Diagnosesysteme stellt die Etablierung des multiaxialen Ansatzes (Synonyme: multiaxiale Klassifikation, multiaxiale Diagnostik) dar. Das Konzept der multiaxialen Diagnostik hat in der Psychiatrie eine lange Tradition (vgl. Dittmann et al. 1990 b), wurde von Kretschmer bereits ansatzweise mit dem Begriff der »mehrdimensionalen Diagnostik« umschrieben, von EssenMöller u. Wohlfahrt 1947 erstmalig konzeptualisiert und 1969 durch die Arbeitsgruppe um Rutter (Rutter et al. 1975) konsequent auf den Bereich der kinder- und jugendpsychiatrischen Erkankungen angewandt (vgl. Remschmidt et al. 2006). In der Erwachsenenpsychiatrie wurde er erst mit Einführung des DSM-III weiter verbreitet. Grundgedanke der Vielzahl zwischenzeitlich publizierter Ansätze ist, der Komplexität der klinischen Bedingungen eines Patienten dadurch gerecht zu werden, dass dieser anhand von klinisch als bedeutsam angesehenen Merkmalen, Merkmalsbereichen oder Betrachtungsebenen, die auch als sog. Achsen bezeichnet werden, beschrieben wird. Hinsichtlich der Frage, welche Achsen zur Beschreibung herangezogen werden, herrscht allerdings bisher kein Konsens (Mezzich u. Bergenza 2005). Das multiaxiale System der ICD-10 verankert auf der Achse I insofern das Komorbiditätsprinzip, als dass neben der Kerngruppe psychischer Störungen auf separaten Subachsen Persönlichkeitsstörungen und Störungen durch psychotrope Substanzen als die wichtigsten verlaufsmodifizierenden Zusatzdiagnosen abgebildet werden (⊡ Tab. 17.3). Diese getrennte Klassifizierung beruht zudem auf Befunden, die zeigen, dass diese Störungen bei einer derartigen Verankerung in einem multiaxialen System häufiger und adäquater abgebildet werden (Michels et al. 1996). Im DSM-III-R und DSM-IV werden in einer nahezu analogen Differenzierung auf den Achsen I und II neben den psychischen Störungen Entwicklungs-, Intelligenzund Persönlichkeitsstörungen erfasst (⊡ Tab. 17.4). Psychosoziale Funktionseinschränkungen. Der in der
17
ICD-10 weitgehend fehlenden Berücksichtigung psychosozialer Funktionseinschränkungen in den diagnostischen Kriterienbeschreibungen wird dadurch Rechnung getragen, dass eine entsprechende, vergleichsweise einfach und damit benutzerfreundlich konstruierte Fremdbeurteilungsskala (WHO-DDS: Disablement Diagnostic Scale) berücksichtigt wird, die die Abbildung sozialer Funktionseinschränkungen in verschiedenen Bereichen erlaubt (vgl. ⊡ Tab. 17.3). Dabei ist die weitgehend fehlende Berücksichtigung dieser Aspekte in den Kriterienbeschreibungen der ICD-10 darauf zurückzuführen, dass die Kriterien psychosozialer Funktionseinschränkungen interkulturell stark variieren, so dass die ICD-10 mit
Achse I
Psychische Störungen und körperliche Erkrankungen la
Achse II
Psychische Störungen
Ib
Persönlichkeitsstörungen
Ic
Störungen durch psychotrope Substanzen
Id
Körperliche Störungen
Beurteilung der sozialen Funktionseinschränkung (WHO Disablement Scale) IIa Selbstfürsorge (Körperhygiene, Kleidung, Ernährung usw.) IIb Beruf (bezahlte Arbeit, Studium, Hausarbeit usw.) IIc Familie und Haushalt [Interaktion mit dem (Ehe-)Partner, Eltern, Kindern, und anderen Verwandten] IId Funktionsfähigkeit im weiteren sozialem Kontext (Beziehung zu Gemeindemitgliedern, Teilnahme an Freizeit- und sozialen Aktivitäten) IIe Globaleinschätzung (Gesamtbeeinträchtigung)
Achse III
Psychosoziale Belastungsfaktoren Ereignisse und Merkmale aus folgenden Bereichen: 1. Negative Erlebnisse in der Kindheit 2. Erziehung und Bildung 3. Primäre Bezugsgruppe einschließlich Familie 4. Soziale Umgebung 5. Wohnungsbedingungen und finanzielle Verhältnisse 6. Berufstätigkeit und Arbeitslosigkeit 7. Umweltbelastungen 8. Psychosoziale oder juristische Probleme, 9. Krankheiten oder Behinderungen in der Familie 10. Lebensführung/Lebensbewältigung
ihrem Anspruch einer internationalen Klassifikation mit dieser Skala eher allgemeine Konstrukte abbildet. Mit der seit langem etablierten Global Assessment of Functioning Scale (GAF) wird auf der Achse V des DSMIII-R und DSM-IV ein vergleichbarer Ansatz verfolgt (vgl. ⊡ Tab. 17.4). Von der WHO werden zudem gegenwärtig Anstrengungen aus den 70er Jahren fortgesetzt, separat einen Diagnosenschlüssel zu »disabilities, impairments und handicaps« zu entwickeln, die ebenfalls auf der syndromalen Achse nicht hinreichend beschrieben sind (vgl. Matthesius et al. 1995). In diesem Zusammenhang wird an einer Weiterentwicklung des von der WHO 1988 herausgegebenen »Psychiatric Disability Assessment Schedule« gearbeitet, mit dem die Erfassung sozialer Behinderung auf der Grundlage der Beurteilung sozialer Interaktionen und der Erfüllung kulturell bedeutsamer Normen erfolgte.
401 17.2 · Prinzipien der operationalisierten Diagnostik
⊡ Tab. 17.4. Multiaxiale Ansätze im DSM-III-R und DSM-IV Achse I
Achse II
Achse III
Achse IV
DSM-III-R:
Klinische Syndrome und »V-Kodierungen«
DSM-IV:
Klinische Störungen und andere klinische Zustandsbilder
DSM-III-R:
Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen
DSM-IV:
Persönlichkeitsstörungen, Intelligenzstörungen
DSM-III-R:
Körperliche Störungen und Zustände
DSM-IV:
Allgemeine medizinische Zustandsbilder
DSM-III-R:
Schweregrad psychosozialer Belastungsfaktoren – überwiegend akute Ereignisse (Dauer weniger als 6 Monate), – überwiegend länger andauernde Umstände bzw. Lebensbedingungen (Dauer mehr als 6 Monate)
Achse V
DSM-IV:
Psychosoziale und Umgebungsfaktoren
DSM-III-R:
Globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus (Global Assessment of Functioning Scale/GAP) – derzeit, – höchster Funktionszustand im letzten Jahr
DSM-IV:
Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus (GAF-Skala)
V-Kodierungen im DSM-III-R stehen für andere, klinisch relevante Zustandsbilder, wie etwa Missbrauchserfahrungen.
Psychosoziale Belastungsfaktoren. Ebenfalls in beiden
Systemen wurden zudem Achsen etabliert, mit deren Hilfe Merkmale und Faktoren klassifiziert werden können, die mit der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen in Zusammenhang stehen. In dem multiaxialen System der ICD-10 findet sich hierzu die mit dem entsprechenden Ansatz im DSM-IV weitgehend kompatible Achse III, mit der in Anlehnung an den Lifeevent-Ansatz psychosoziale Belastungsfaktoren abgebildet werden. In dem multiaxialen System der Kinder- und Jugendpsychiatrie findet sich hierzu die Entwicklung eines speziellen Glossars (Remschmidt et al. 2006).
Optionale Achsen Mit multiaxialen diagnostischen Systemen lassen sich darüber hinaus eine Reihe weiterer therapie- und verlaufsrelevanter Aspekte abbilden. Sie wurden aus Reliabilitätsgründen wie aus Gründen der besseren Kommunizierbarkeit aus der auf die syndromale Ebene beschränkten Störungsdiagnostik eliminiert. So finden sich im DSMIII-R und DSM-IV verschiedene optionale Achsen:
Skala zur Erfassung der Abwehrmechanismen und Copingstile mit Glossar, Skala zur globalen Erfassung des Funktionsniveaus von Beziehungen (GARF), Skala zur Erfassung des sozialen und beruflichen Funktionsniveaus (SOFAS).
Operationalisierte psychodynamische Diagnostik Von einer Gruppe psychodynamisch orientierter Wissenschaftler wurde in den vergangenen Jahren das multiaxiale System der »operationalisierten psychodynamischen Diagnostik/OPD« entwickelt (Arbeitskreis OPD 2006) und in ersten Studien empirisch überprüft (Freyberger et al. 1998; Rudolf et al. 1996). Leitgedanke dieses multiaxialen Systems ist es, auf der Grundlage einer konsequenten Operationalisierung und Manualisierung, psychodynamische Konstrukte auf einer vergleichsweise beobachtungsnahen Ebene erfassbar zu machen, um so reliablere Daten für differenzielle Therapieindikationen und die Betrachtung des psychotherapeutischen Prozesses zu gewinnen. Mit der Achse I werden Merkmale der Krankheitsverarbeitung und der Behandlungsvoraussetzungen erfasst, die sich u. a. mit dem Schweregrad der vorliegenden Erkrankungen und dem Inanspruchnahmeverhalten in Beziehung setzen lassen (⊡ Tab. 17.5). Den Konzepten von Kreismodellen interpersonellen Verhaltens folgend, werden mit der Achse II (Beziehung) repetitive dysfunktionale Beziehungsmuster abgebildet, die anhand vorgegebener Beziehungsmerkmale aus der Perspektive des Patienten- bzw. Untersuchererlebens kodiert werden. Die Achse III (Konflikt) ist der Einschätzung intrapsychischer und interpersoneller repetitiver Konfliktmuster vorbehalten, die anhand umschriebener faktischer Lebensbereiche in einem passiven und aktiven (kontraphobischen) Modus definiert wurden. Mit der Achse IV (Struktur) werden persönlichkeitsstrukturelle Merkmale entsprechend ihrem Integrationsniveau abgebildet. Die Achse V schließlich definiert unter Verwendung des ICD-10-Ansatzes Syndromdiagnosen.
Vorteil multiaxialer Ansätze Wie insgesamt gezeigt werden konnte, liegt der prinzipielle Vorteil multiaxialer Ansätze in einer ausführlichen Betrachtung der Umstände des Einzelfalls im Rahmen eines biopsychosozialen Ansatzes, in der systematischen Erfassung und Dokumentation klinisch bedeutsamer Merkmale, der systematischen Erfassung von Informationen für Behandlungsplanung und -prognose, als didaktisches Hilfsmittel sowie als wichtiges Instrument einer klinisch und epidemiologisch orientierten Forschung.
17
402
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
⊡ Tab. 17.5. Das multiaxiale diagnostische System zur Opera-
(Fortsetzung) ⊡ Tab. 17.5. Das multiaxiale diagnostische System zur Opera-
tionalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)
tionalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD)
Achse I
7. Identitätskonflikte (Identität vs. Dissonanz)
Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen [4-stufige Fremdeinschätzung von 1 (= niedriger) bis 4 (= hoher Ausprägungsgrad)] 1. Beurteilung des Schweregrads der somatischen Erkrankung
8. Fehlende Konflikt- und Gefühlswahrnehmung 9. Aktualkonflikte Achse IV
Struktur [Fremdeinschätzung mit 4-stufigem Rating von 1 (= gut integriert) bis 4 (= desintegriert)]
2. Beurteilung des Schweregrades der psychischen Erkrankung
1. Selbstwahrnehmung
3. Leidensdruck
3. Abwehr
4. Beeinträchtigung des Selbsterlebens
4. Objektwahrnehmung
5. Ausmaß der körperlichen Behinderung
5. Kommunikation
6. Sekundärer Krankheitsgewinn
6. Bindung
7. Einsichtsfähigkeit in psychodynamische Zusammenhänge 8. Einsichtsfähigkeit für somatopsychische Zusammenhänge 9. Einschätzung der geeigneten Behandlungsform (Psychotherapie) 10. Einschätzung der geeigneten Behandlungsform (körperliche Behandlung)
2. Selbststeuerung
7. Gesamtniveau Achse V
Psychische und psychosomatische Störungen nach dem Kapitel V (F) der ICD-10
Achse Va
Psychische Störungen
Achse Vb
Persönlichkeitsstörungen (Kategorien F60 und F61 der ICD-10)
Achse Vc
Körperliche Erkrankungen (andere Kapitel der ICD-10)
11. Motivation zur Psychotherapie 12. Motivation zur körperlichen Behandlung 13. Compliance 14. Symptomdarbietung: somatische Symptomatik steht im Vordergrund
17.3
Der diagnostische Prozess
15. Symptomdarbietung: psychische Symptomatik steht im Vordergrund
17.3.1
Ausbildung und Training
16. Psychosoziale Integration 17. Persönliche Ressourcen 18. Soziale Unterstützung 19. Angemessenheit der subjektiven Beeinträchtigung zum Ausmaß der Erkrankung Achse II
Beziehung (dysfunktionelles habituelles Beziehungsverhalten; Fremdeinschätzung von jeweils 2 im Sinne interpersoneller Kreismodelle definierten nach Relevanz gewichteten Merkmalen je Perspektive und Dimension) 1. Perspektive A: Das Erleben des Patienten mit den Dimensionen »Der Patient erlebt sich immer wieder so, dass er ...« und »der Patient erlebt andere immer wieder so, dass er ...« 2. Perspektive B: Das Erleben des Interviewers mit den Dimensionen »Der Untersucher erlebt den Patienten immer wieder so, dass er ...« und »Der Untersucher erlebt sich gegenüber dem Patienten immer wieder so, dass er ...«
17
3. Psychodynamische Formulierung des dysfunktionalen Beziehungsverhaltens (Option) Achse III
Konflikt [Fremdeinschätzung mit 4-stufigem Rating von 0 (= nicht vorhanden) bis 3 (= hoch) für jeden definierten Konflikt] 1. Abhängigkeit vs. Autonomie 2. Kontrolle vs. Unterwerfung 3. Versorgung vs. Autarkie 4. Selbstwertkonflikte (narzisstische Konflikte, Selbst- vs. Objektwert) 5. Über-Ich- und Schuldkonflikte (egoistische vs. prosoziale Tendenzen) 6. Ödipale und sexuelle Konflikte
Die Anwendung operationalisierter Diagnosensysteme setzt die Beachtung einer Reihe methodischer Bedingungen voraus. Wie bereits eingangs dieses Kapitels erwähnt wurde, bilden Beobachtungs- und Kriterienvarianz bedeutsame Fehlerquellen des diagnostischen Prozesses, die zumindest auf der Ebene der Störungsdefinitionen durch operationalisierte Systeme in ihrer Bedeutung reduziert werden konnten. Wie bereits die Erfahrung mit lange etablierten Systemen zur psychopathologischen Befunderhebung, wie etwa dem AMDP-System (Haug u. Stieglitz 1997) zeigt, setzt die angemessene Anwendung ein umfassendes Training voraus, durch das die Reflektion der individuellen Aspekte der Beobachtungs- und Kriterienvarianz und das Erlernen der diagnostischen Kriterien gewährleistet werden soll. So werden seit längerem von Arbeitsgruppen der Diagnosenkommission der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde ICD10-Trainingsseminare angeboten, die einem Curriculum mit Grund- und Aufbaukursen folgen und unterschiedliches didaktisches Material verwenden (vgl. z. B. Freyberger u. Dilling 1993; Dilling et al. 1997). Während für die mit den Klassifikationssystemen verbundenen strukturierten und standardisierten diagnostischen Interviews spezielle Trainingsseminare mit einem z. T. beträchtlichen Aufwand verbunden sind, ist etwa das Erlernen des multiaxialen Ansatzes der OPD mit mindes-
403 17.3 · Der diagnostische Prozess
tens 3 Grund- und Aufbaukursen verknüpft, die, wie bei den anderen Systemen auch, für eine spätere reliable Anwendung unerlässlich sind.
17.3.2
Weitere Fehlerquellen im diagnostischen Prozess
Nichtbeachtung der diagnostischen Kriterien. Der diag-
nostische Prozess wird darüber hinaus von einer Reihe möglicher Urteilsfehler beeinflusst, die einerseits direkt mit der Konzeption operationalisierter Diagnosensysteme in Zusammenhang zu bringen sind, andererseits aber auch allgemeinpsychologische Gesichtspunkte berühren (vgl. nachfolgende Übersicht). Die unter dem Aspekt von Ausbildung und Training bereits genannte wesentlichste Fehlerquelle stellt die Nichtbeachtung der diagnostischen Kriterien dar.
rakter in nur einer komplexen Diagnose abzubilden, kann als eine der Fehlerquellen in der operationalisierten Diagnostik gelten. Etwa für den Bereich der Komorbidität zwischen schizophrenen und Suchtstörungen konnte in der Vergangenheit gezeigt werden, dass vor diesem Hintergrund überzufällig häufig die Suchtdiagnosen nicht gestellt und damit inadäquate Entscheidungen im Hinblick auf weitere Therapieinterventionen getroffen wurden (Krausz u. Haasen 1996). Andere theoretische Konzepte. Diagnostiker werden al-
lerdings auch häufig von theoretischen Konzepten in ihrer Diagnosenstellung beeinflusst, die keinen oder keinen unmittelbaren Zusammenhang zur operationalisierten Diagnostik aufweisen. So weicht etwa das BorderlineKonzept der ICD-10 in wesentlichen Anteilen von psychodynamischen Konzepten ab, wie sie etwa von Gundersson oder Kernberg entwickelt wurden. Diagnostische Unsicherheit. Darüber hinaus führt diag-
In der Praxis auftretende Fehlerquellen im diagnostischen Prozess. (Nach Stieglitz u. Freyberger 1996) 1. 2. 3. 4.
Nichtbeachtung der Symptom- und Zeitkriterien Nichtberücksichtigung der Ausschlusskriterien Nichtberücksichtigung des Komorbiditätsprinzips Beeinflussung durch theoretische Konzepte, die nichts mit operationalisierter Diagnostik zu tun haben (z. B. verschiedenen Borderline-Konzepten) 5. Einfluss eigener diagnostischer Unsicherheit bei der Entscheidung für eine Diagnose (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörung, schizoaffektive Störung) 6. Rückschluss auf eine Diagnose aufgrund eines singulären Phänomens (z. B. hysterisch = hysterische Persönlichkeitsstörung) 7. Falsche Schlussfolgerungen (z. B. Halo-Effekt)
Mangelnde Informationserhebung. Darüber hinaus setzt
die Anwendung operationalisierter Diagnosensysteme auf mehreren Ebenen die Vollständigkeit der Informationserhebung voraus. Psychopathologische Merkmalsbereiche müssen systematisch erfragt bzw. erfasst werden, um entsprechend dem Komorbiditätsprinzip multiple Diagnosen überhaupt abbilden bzw. ausschließen zu können. In diesem Bereich stehen als (didaktisch wertvolle) Unterstützung für den Untersucher zahlreiche strukturierte und standardisierte Interviewverfahren und Symptomchecklisten zur Verfügung. Vernachlässigung und Komorbidität. Entsprechend dem
traditionellen diagnostischen Prinzip, verschiedene Syndrome insbesondere bei Störungen mit hohem Signalcha-
nostische Unsicherheit zur Zuweisung von Patienten zu diagnostischen Kategorien, die sich im Grenzbereich zwischen verschieden Störungsgruppen finden (z. B. schizoaffektive Störungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen). In diesen Bereich fallen zweifelsohne auch die falschen Rückschlüsse auf eine Diagnose aufgrund eines singulären Phänomens (z. B. theatralisches Verhalten = histrionische Persönlichkeitsstörung) sowie falsche Schlussfolgerungen (z. B. Halo-Effekt = ein besonders markantes Merkmal beeinflusst die Wahrnehmung anderer Merkmale).
17.3.3
Instrumente
Zur Reduktion der verschiedenen diagnostischen Fehlerquellen sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von Instrumenten zur klassifikatorischen Diagnostik entwickelt worden. Unterschieden werden heute strukturierte bzw. standardisierte Interviews und sog. Symptomchecklisten. Die Mehrzahl dieser Instrumente ist modular aufgebaut, d. h. dass einzelne Störungsgruppen mit separaten Interview- oder Checklistenabschnitten erfasst werden können. Die meisten Instrumente erlauben zudem ein polydiagnostisches Vorgehen, d. h. dass Diagnosen verschiedener Klassifikationssysteme (z. B. DSM-IV und ICD-10) gestellt werden können.
Standardisiertes Interview Bei den standardisierten Interviews werden alle Ebenen des diagnostischen Vorgehens präzise festgeschrieben, d. h. der Ablauf der Untersuchung, die Art und die Reihenfolge der Fragen, die Art der Kodierung der Informationen und die Diagnosenstellung erlauben dem Untersucher keinen individuellen Spielraum. Wie die in ⊡ Abb. 17.1
17
404
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
⊡ Abb. 17.1. Eingangsfragen der Sektion D (Angststörungen) des Composite International Diagnostic Interview (CIDI). (Nach Wittchen u. Semmler 1992)
SEKTION D D1 Hatten Sie schon einmal einen Angstanfall, d. h. wurden Sie ganz plötzlich und unerwartet von einem Gefühl starker Angst oder Beklommenheit überfallen, und zwar in Situationen, in denen die meisten Menschen nicht ängstlich wären?
NEIN (o D11) . . . . . . . . . . . . 1 JA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
D2 Solche Angstanfälle treten manchmal auf, wenn man in ernster Gefahr ist oder wenn man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer steht. Trat(en) Ihr(e) Angstanfall/-fälle auch unabhängig von solchen Situationen auf?
PRB: 1 2 3 4 5
WENN JA, FRAGE VOR DEN PRÜFFRAGEN: Können Sie mir einen dieser Angstanfälle etwas näher beschreiben? BEISPIEL: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .................................................................. DR.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
PB.: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
WENN D2 mit PRB 1 KODIERT WURDE, GEHE ZU D11 D3 SPRACH DER PB. MIT EINEM ARZT DARÜBER (D2)?
D4 Versuchen Sie jetzt bitte, sich an einen Ihrer schwersten Angstanfälle zurückzuerinnern und an die körperlichen Symptome, die Sie dabei hatten. KODIERE IN SPALTE 1, WIEDERHOLE FALLS NÖTIG: »Hatten Sie während dieses Angstanfalls . . . !« 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.
Atemnot oder Schwierigkeiten, Luft zu bekommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herzklopfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwindel, Benommenheitsgefühle?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie ein Engegefühl oder Schmerzen in Brust oder Magen? . . . . . . . Hatten Sie Kribbel- oder Taubheitsgefühle in den Fingern oder Füßen? . . Hatten Sie Erstickungsgefühle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fühlten Sie sich einer Ohnmacht nahe?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haben Sie geschwitzt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haben Sie gezittert oder gebebt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie Hitzewallungen oder Kälteschauer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfanden Sie sich selbst oder die Dinge um Sie herum als unwirklich? . Hatten Sie die Befürchtung, dass Sie sterben könnten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie die Befürchtung, verrückt zu werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verspürten Sie einen Brechreiz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie Bauchschmerzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie Atemnot oder Beklemmungsgefühle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hatten Sie einen trockenen Mund? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
NEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 JA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
SPALTE I NEIN JA 1 5* 1 5* 1 5* 1 5* 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5 1 5* 1 5* 1 5 1 5
SPALTE II NEIN JA 1 5 1 5 1 5 1 5
1 1
5 5
FRAGE FÜR JEDES MIT 5* KODIERTE SYMPTOM IN SPALTE I: Litten Sie unter . . . (SX) jemals auch in anderen Situationen, also wenn Sie keinen Angstanfall hatten? KODIERE IN SPALTE II.
17
D5 WURDE IN D4 1–17 MEHR ALS EINE 5/5* KODIERT?
NEIN (o D11) . . . . . . . . . . 1 JA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
D6 Wann hatten Sie zum (ersten/letzten) Mal einen derartigen Angstanfall, mit einigen der genannten Symptome wie z. B. . . . (NENNE EINIGE MIT 5/5* KODIERTEN SYMPTOME AUS D4, 1–17)?
ONS: 1 2 3 4 5 6 ALTER ONS: _ /_ REC: 1 2 3 4 5 6 ALTER REC: _ /_
D7 Gab es jemals eine Zeitspanne von mehr als einem Monat, in der Sie jede Woche mindestens 4 solcher Angstanfälle hatten?
NEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 JA (o D10) . . . . . . . . . . . . . 5
D8 Hatten Sie jemals 4 Angstanfälle innerhalb von 4 aufeinanderfolgenden Wochen?
NEIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 JA (o D10) . . . . . . . . . . . . . 5
gezeigten Eingangsfragen aus der Angstsektion des Composite International Diagnostic Interview (CIDI) zeigen, weisen derartige Interviews die folgende Struktur auf: Mit einem definierten Interviewabschnitt (hier die Fragen D1–D4) werden die in den Diagnosensystemen operationalisierten Kriterien für eine umschriebene Störung (hier Panikstörung) erfasst. Mittels einer Eingangsfrage (hier D1) wird ein Screening vorgenommen, das im Falle einer positiven Antwort zu einer weiteren Überprüfung der diagnostischen Kriterien führt (Fragen D2–D4).
Im Falle einer negativen Antwort findet ein Sprungvermerk Anwendung (hier springe zu Frage D11), der den Interviewer zur nächsten Subsektion des Interviews (hier generalisierte Angststörungen) gelangen lässt. Zur weiteren Symptomerfassung werden dann entweder standardierte Interviewtechniken (sog. Prüffragen, vgl. Frage D2) verwendet, die eine Kodierung entsprechend der Genese des betreffenden Symptoms beinhalten (Kodierung PRB 1 2 3 4 5) oder einfache Antwortalternativen (vgl. Frage D4) vorgeben.
405 17.3 · Der diagnostische Prozess
Bei einem Teil der Fragen können zusätzlich Beispiele angegeben (Frage D2) oder eine Experteneinschätzung (Kodierung Dr. für Doktor, Pb für Proband) mit den Angaben des Probanden kontrastiert werden, um eine Post-hocValidierung zu ermöglichen. Im Übrigen werden für eine computerisierte oder auf einer Handauswertung beruhende Diagnosenstellung bestimmte Auswertungsalgorithmen vorgelegt, wobei die im Einzelnen erfassten Symptome und Kriterien definierte Bezeichnungen erhalten (linke Spalte in ⊡ Abb. 17.1).
der Regel stichwortartig zusammengefasst (⊡ Abb. 17.2). Dem Untersucher steht es offen, selbst Fragen zu formulieren und eine entsprechende Kodierung vorzunehmen. Der Ablauf der Informationserhebung bleibt ebenfalls dem Untersucher vorbehalten. Damit zeichnen sich die Checklisten durch eine besondere Benutzerfreundlichkeit aus; ihre Anwendung setzt allerdings eine breite klinische Erfahrung voraus. Zudem sind sie bezüglich des Zeitaufwands ökonomisch einsetzbar und erlauben z. T. auch eine Erhebung anhand von Krankengeschichten.
Strukturiertes Interview Strukturierte Interviews geben demgegenüber einfach die Reihenfolge der zu erhebenden psychopathologischen Merkmale, Zeit- und Verlaufskriterien sowie der anderen diagnostisch relevanten Variablen vor. Für den schrittweisen Gang der Exploration finden sich vorformulierte, aber in der Regel weniger elaborierte Fragen sowie Zusatzfragen zur Verifizierung der erhobenen Informationen. Für die Bewertung und Gewichtung der erhobenen Informationen werden in der Regel Einschätzungskriterien angegeben; dem klinischen Urteil des Untersuchers wird allerdings ein relativ breiter Spielraum gegeben. Dies hat zur Folge, dass strukturierte Interviews nur von klinisch erfahrenen und trainierten Untersuchern angewendet werden können. ! Im Vergleich zu strukturierten Interviews ist mit standardisierten Verfahren eine entsprechend höhere Interraterübereinstimmung zu erreichen. Zudem lassen sich standardisierte Interviews auch von gut trainierten Laien einsetzen, was für große epidemiologische Studien von erhebungsökonomischer Relevanz ist.
Vor- und Nachteile der Interviewverfahren Prinzipiell gilt, dass sich die Komorbidität in der Regel mit Interviewverfahren adäquater abbilden lässt, da weniger Störungen übersehen werden. Zudem erreichen Interviews bei Patienten entgegen vieler Erwartungen eine durchaus gute Akzeptanz. Vor allem für Forschungsfragestellungen und die Klärung schwieriger differenzialdiagnostischer Fragen können diese Verfahren empfohlen werden. Dem steht jedoch auch eine Reihe von Nachteilen gegenüber. Mit dem Ausmaß der Strukturierung bzw. Standardisierung des diagnostischen Interviews gehen subjektive, emotionale und szenische Informationen wie auch das psychotherapeutische Element des Erstgesprächs verloren; subjektiven Akzentuierungen der Patienten wird ein geringer Stellenwert eingeräumt. Zudem ist der Zeitaufwand, der für die umfassenden Verfahren z. T. mehrere Stunden beträgt, erheblich. Durch die Vielzahl der erhobenen Informationen kann die Auswertung in der Regel nur computerisiert erfolgen, wobei aber nur für einen Teil der vorliegenden Interviews bisher Programme vorliegen.
Check- und Merkmalslisten
Übersicht gebräuchlicher Instrumente
Bei den Check- oder Merkmalslisten sind die interessierenden Symptome oder diagnostischen Kriterien in
⊡ Tab. 17.6 gibt einen Überblick zu einer Auswahl gegen-
wärtig vorliegender Instrumente. Dabei ist zu berücksich-
⊡ Tab. 17.6. Untersuchungsinstrumente zur Diagnostik nach ICD-10 und DSM-III-R. (Nach Stieglitz u. Freyberger 1996) Bereich
Gruppe
Bezeichnung/Abkürzung
System
Gesamtbereich psychischer Störungen
StrI
Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-III-R (SKID)
DSM-III-R
StrI
Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN)
ICD-10, DSM-IIII-R
StrI
Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia (SADS)
DSM-III-R
StaI
Composite International Diagnostic Interview (CIDI)
ICD-10, DSM-IIII-R
CL
Internationale Diagnosenchecklisten (IDCL)
ICD-10, DSM-IV ICD-10
CL
Merkmalsliste (ICDML)
Persönlichkeitsstörungen
StrI
International Personality Disorder Examination (IPDE)
ICD-10, DSM-IIII-R
StrI
Standardized Assessment of Personality (SAP)
ICD-10
CL
Internationale Diagnosenchecklisten für Persönlichkeitsstörungen (IDCL-P)
ICD-10, DSM-IV
Demenz
StrI
Strukturiertes Interview für die Diagnose von Demenzen (SIDAM)
StrI: strukturiertes Interview; Stal: standardisiertes Interview; CL: Checklisten
17
406
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
IDCL
Internationale Diagnosen Checkliste für ICD-10
Schizophrenie G1 • •
Ermitteln Sie die Art der psychotischen Symptomatik Zeitkriterien für alle Symptome: die meiste Zeit in einer mindestens einen Monat dauernden psychotischen Episode (oder irgendwann während der meisten Tage)
Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität, jeden Tag für mindestens einen Monat, • begleitet von (flüchtigen oder undeutlich ausgebildeten) Wahngedanken ohne deutliche affektive Beteiligung, • oder begleitet von anhaltenden überwertigen Ideen. b Neologismen, Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedakenfluss, was zu Zerfahrenheit oder danebenreden führt. c Katatone Symptome z. B. Erregung, Haltungsstereotypien, Negativismus, Mutismus, Stupor. d »Negative« Symptome, nicht verursacht durch Depression oder Neuroleptika z. B. auffällige Apathie, Sprachverarmung, verflachter oder inadäquater Affekt.
Kriterium G1 ist unter folgenden Bedingungen erfüllt: • Mindestens 1 Merkmal aus 1a bis 1d trifft zu • oder mindestens 2 Merkmale aus 2a bis 2d treffen zu
❑ ❑ ❑
Ja
82219-7
Schizophrenie
Seite 3
Hebephrene Schizophrenie
o Verdacht
F20. 1 x
• • •
F20. 2 x
Ja
❑
❑ ❑ ❑ ❑
Ja
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑
o Verdacht
17
• • •
Eines oder mehrere der folgenden katatonen Symptome stehen im Vordergrund für einen Zeitraum von mindestens 2 Wochen: Stupor (deutliche Verminderung der Reaktionen auf die Umgebung und Verminderung der spontanen Bewegungen und Aktivität), oder Mutismus Erregung (anscheinend sinnlose motorische Aktivität, die nicht durch äußere Reize beeinflusst ist) Haltungsstereotypien (freiwilliges Einnehmen und Beibehalten unsinniger und bizarrer Haltungen) Negativismus (ein anscheinend unmotivierter Widerstand gegenüber Aufforderungen oder Versuchen, bewegt zu werden, oder Bewegungen in die entgegengesetzte Richtung) Rigidität (Beibehaltung einer steifen Haltung gegenüber Versuchen, bewegt zu werden) Wächserne Biegsamkeit (Verharren von Gliedern und Körper in Haltungen, die von außen auferlegt sind) Befehlsautomatismus (automatische Befolgung von Anweisungen)
❑
Ja
❑
Nein Verdacht Ja
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ Undifferenzierte Schizophrenie F20. 3 x oVerdacht ❑ Ja ❑ • • •
Kriterium G2/1 ist erfüllt, wenn die Kriterien einer manischen oder depressiven Episode nicht erfüllt sind. Kriterium G2/1 ist erfüllt, wenn die Kriterien einer manischen oder depressiven Episode zwar erfüllt sind, aber Kriterium G1 der Schizophrenie bereits vor der Entwicklung der nicht Verdacht affektiven Symptome bestanden hatte. erfüllt | erfüllt Ende m
Beurteilen Sie Kriterium G2/1:
G2/2
Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien für die Subtypen paranoide Schizophrenie, hebephrene Schizophrenie, katatone Schizophrenie, postschizophrene Depression oder schizophrenes Residuum; oder so zahlreiche Symptome, dass die Kriterien für mehr als einen dieser Subtypen erfüllt sind
❑
❑
Verdacht | Nein
❑
❑
erfüllt Verdacht
Schizophrenie
nicht erfüllt
•
Überprüfen Sie, welche der anderen untenstehenden Diagnosen für psychotische Störungen in Frage kommen (falls möglich, mit Hilfe der entsprechenden IDCL).
• • • • • •
Schizophrenia simplex
Verdacht
Schizoaffektive Störung
Verdacht
Wahnhafte Störung
Verdacht
❑ ❑ ❑
Ja Ja Ja
•
❑ ❑ ❑
Bestimmen Sie den Typus der Schizophrenie und die entsprechende Diagnose (Seiten 3 und 4).
Vorübergehende psychotische Störung
Verdacht
Affektive Störung mit psychotischen Symptomen
Verdacht
Andere (F28)/nicht näher bezeichnete (F29) nichtorg. Störung
Verdacht
❑ ❑ ❑
Schizophrenie
Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
Nein Verdacht Ja * Deutliche Affektverflachung * Passivität und Initiativemangel * Psychomotorische Verlangsamung oder verminderte Aktivität
❑ ❑ ❑
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑
❑
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ Ja
❑
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑
Nein Verdacht Ja * Verarmung der Sprache (Menge oder Inhalt * Vernachlässigung in sozialer Leistung oder Körperpflege * Geringe nonverbale Kommunikation durch Mimik, Blickkontakt, Stimmmodulation oder Körperhaltung
❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑ ❑
8 = Andere Schizophrenie 9 = Nicht näher bezeichnete Schizophrenie
F 2 0.
❑ ❑ ❑
Nein Verdacht Ja
Die allgemeinen Kriterien der Schizophrenie (Typus F20.0–F20.3) waren einmal in der Vergangenheit erfüllt, sie sind derzeit jedoch nicht erfüllt. Mindestens vier der folgenden »negativen« Symptome waren in den letzten 12 Monaten durchgehend vorhanden.
Diagnose:
Ja
Ja
F20. 5 x oVerdacht ❑
Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
•
Ja
Nein Verdacht Ja
Die allgemeinen Kriterien der Schizophrenie (Typus F20.0–F20.3) waren während der letzten 12 Monate erfüllt, sie sind derzeit jedoch nicht erfüllt; eines der Symptome G1(2) a, b, c oder d besteht derzeit noch. Depressive Symptome sind anhaltend, schwer und umfassend genug, um mind. die Kriterien einer leichten depressiven Episode zu erfüllen.
Schizophrenes Residuum
•
Ja
Seite 4
Postschizophrene Depression F20. 4 x oVerdacht ❑
•
❑
Schließen Sie aus: Organische Ätiologie Die Störung ist auf eine Erkrankung des Gehirns oder Ja auf alkohol- oder drogenbedingte Intoxikation, Abhängigkeit oder Entzug zurückzuführen. Ende m ❑
❑
Nein Verdacht Ja
Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
• •
Schließen Sie aus: Schizoaffektive oder affektive Störung
• •
•
o Verdacht
Eindeutige u. anhaltende Verlachung o. Oberflächlichkeit d. Affekts, oder eindeutiger u. anhaltender inadäquater o. unangebrachter Affekt. Verhalten ist ziellos und unzusammenhängend statt zielstrebig, oder eindeutige Denkstörung, die sich in unzusammenhängender, weitschweifiger oder zerfahrener Sprache zeigt. Das klinische Bild ist nicht beherrscht von Halluzinationen oder Wahn (obwohl diese Symptome in leichter Form vorhanden sein können).
Katatone Schizophrenie
❑
Nein Verdacht Ja
Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
G2/1
❑ ❑ ❑
❑ ❑ ❑
Wahn oder Halluzinationen stehen im Vordergrund Das klinische Bild ist nicht beherrscht von verflachtem oder inadäquatem Affekt, katatonen Symptomen oder Zerfahrenheit (obwohl diese Symptome in leichter Form vorhanden sein können).
Früher: Symptomatik bestand zu einem früheren Zeitpunkt (angeben: ___________)
❑ ❑ ❑
© 1995 Verlag Hans Huber, Bern
F20. 0 x
❑ Ja ❑ Verdacht
Derzeit und früher: Symptomatik besteht derzeit und lag auch zu einem früheren Zeitraum vor.
Falls Kriterien G1, G2/1 und G2/2 erfüllt:
Verdacht Nein |
Zur Diagnose müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
❑ Ja ❑ Verdacht
Derzeit: Symptomatik besteht derzeit erstmalig.
❑ ❑ ❑
Ende
Paranoide Schizophrenie
❑ Ja ❑ Verdacht
Verdacht Nein | Ja
Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug ❑ ❑ ❑ oder Gedankenausbreitung b Kontroll- oder Beeinflussungswahl oder Gefühl des Gemachten, ❑ ❑ ❑ deutlich bezogen auf Körper- oder Gliederbewegungen oder auf bestimmte Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen; Wahrnehmung. c Hören von Stimmen, ❑ ❑ ❑ • die das Verhalten des Patienten laufend kommentieren, • oder die im Dialog über ihn sprechen, • oder andere Formen von Stimmen, die aus bestimmten Körperteilen kommen. d Anderer anhaltender Wahn, ❑ ❑ ❑ der kulturell unangemessen und völlig unmöglich ist z. B. das Wetter kontrollieren zu können oder mit Wesen einer anderen Welt in Beziehung zu stehen.
2a
Seite 2
Ordnen Sie die angekreuzte Symptomatik zeitlich ein:
Name: ___________________________ Alter: _______ Datum: _____________
1a
• •
Schizophrenie
F20.
x oVerdacht ❑
Ja
Tragen Sie ein: 4. Stelle der Diagnose Typus der Schizophrenie Tragen Sie ein: 5. Stelle der Diagnose Verlaufsbild
kontinuierlich (keine Remission psychotischer Symptome im Beobachtungszeitraum) episodisch, mit zunehmender Entwicklung »negativer« Symptome zwischen den Episoden episodisch, mit anhaltenden, aber nicht zunehmenden »negativen« Symptomen episodisch remittierend, mit (fast) vollständigen Remissionen zwischen den Episoden unvollständige Remission vollständige Remission anderes Verlaufsbild Verlauf unsicher, Beobachtungszeitraum weniger als ein Jahr
⊡ Abb. 17.2. Internationale Diagnosencheckliste für die Eingangskriterien einer Schizophrenie. (Nach Hiller et al. 1996)
= = = = = = = =
0 1 2 3 4 5 8 9
❑
407 Literatur
tigen, dass alle Interviewverfahren, die den Anspruch verfolgen, den Gesamtbereich psychischer Störungen abzubilden, die Persönlichkeitsstörungen nicht erfassen. Das wahrscheinlich international am weitesten verbreitete Interviewverfahren ist das für epidemiologische Untersuchungsansätze entwickelte CIDI (zur Erklärung der Abkürzungen vgl. ⊡ Tab. 17.6), für das zudem ein computerisierter Auswertungsalgorithmus sowie eine interaktive Laptopversion für Patienten vorliegt. Ebenfalls in Zusammenarbeit mit Arbeitsgruppen der WHO wurde das SCAN entwickelt, das als abwärtskompatibles Nachfolgeinstrument des v. a. in der Schizophrenieforschung breit verwendeten Present State Examination (PSE) von einiger Bedeutung ist. Vor allem für Familienstudien wurde von amerikanischen Arbeitsgruppen das SADS entwickelt, das neben dem SKID v. a. in den USA häufig verwendet wird. Für diese Instrumente liegen deutsche Übersetzungen vor, die DSM-IV-Kriterien werden gegenwärtig integriert. Zur Erfassung von Persönlichkeitsstörungen kann das IPDE als das international führende Interviewverfahren herausgestellt werden, während für den Bereich der Demenzen das SIDAM am anerkanntesten ist. Bezüglich ihrer Reliabilität und Validität gut untersucht, sind die Internationalen Diagnosenchecklisten für den Gesamtbereich psychischer Störungen, die durch spezielle Checklisten für die Erfassung von Persönlichkeitsstörungen erweitert wurden.
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17
408
Kapitel 17 · Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme
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17
18 18 Biografische und Krankheitsanamnese P. Hoff
18.1 Einführung – 410 18.1.1 Die Anamneseerhebung im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung – 411 18.2 18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5 18.2.6 18.2.7 18.2.8
Biografische Anamnese – 411 Herkunftsfamilie – 412 Schwangerschaft und Geburt – 412 Frühe Kindheit und Vorschulalter – 412 Schulische Entwicklung – 413 Pubertät und Adoleszenz – 413 Ausbildung und Beruf – 413 Beziehungsanamnese – 413 Aktuelle Lebenssituation – 414
18.3
Angaben zur Sexualität und zu Lebenspartnerschaften – 414
18.4
Selbstwahrnehmung im Zeitverlauf
18.5 Psychiatrische Krankheitsanamnese – 415 18.5.1 Aktuelle Anamnese – 415 18.5.2 Spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes – 415 18.5.3 Allgemeine psychiatrische Anamnese – 415 18.6
Suchtanamnese
18.7
Familienanamnese – 416
18.8
Somatische Krankheitsanamnese – 417
18.9
Forensische Anamnese – 417
18.10 Fremdanamnese Literatur
– 416
– 417
– 417
– 414
> > Die sorgfältige Anamneseerhebung ist Voraussetzung, ja sogar integraler Bestandteil jeder psychiatrisch-psychotherapeutischen Diagnostik und Therapie. Die hier vorgestellte Systematik spricht die wesentlichen Bereiche an; im Interesse einer möglichst vollständigen Datenerhebung empfiehlt sich die konsequente Anwendung eines derartigen Schemas. Jenseits dieses formalen Aspekts kommt es aber entscheidend darauf an, die Balance zu halten zwischen umfassender Datensammlung auf der einen und Respekt vor der Individualität und Intimität des Patienten auf der anderen Seite. Hier wird jeder Untersucher mit wachsender Erfahrung einen eigenen »Stil« entwickeln müssen. Dies steht keineswegs im Gegensatz zu einem strukturierten Vorgehen wie dem hier vorgeschlagenen. Im Gegenteil: Erst die persönliche Ausgestaltung der vorgegebenen Struktur stellt die dem individuellen Patienten angemessene Weise der Anamneseerhebung dar.
410
Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese
18.1
Einführung
Die Erhebung der Vorgeschichte, die Anamnese, stellt einen unabdingbaren Bestandteil jeder medizinischen Untersuchung dar. In der Psychiatrie gilt dies umso mehr, als die hier zu erkennenden und behandelnden Erkrankungen oft besonders eng mit der Biografie und der aktuellen Lebenssituation des Patienten verwoben sind (Dahmer 2006; Deegener 1984; Hersen u. Turner 1985; Kind u. Haug 2002; Leon 1982; MacKinnon u. Yudofsky 1986; Schmidt u. Kessler 1976). Nun geht es bei der psychiatrischen Anamneseerhebung um sehr vielgestaltige Phänomene, deren Bedeutung für den jeweiligen Einzelfall zu Beginn einer Behandlung oft noch gar nicht endgültig abgeschätzt werden kann, etwa die Selbstschilderung des Patienten, Angaben seiner Angehörigen oder frühere somatische Befunde. Diese außerordentliche Vielfalt des abzubildenden Materials sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht hat die Anamneseerhebung mit der Erfassung des psychopathologischen Befundes gemeinsam. Auch dort ist das Problem ohne klare Begrifflichkeit und ebenso klare gedankliche Strukturierung, die sich bis zu einer straffen Operationalisierung erstrecken kann, nicht lösbar.
hat. In der englischsprachigen Literatur wird auch der Begriff »psychiatric database« verwandt. Die Kernstruktur dieser »psychiatrischen Datensammlung« vermittelt die nachfolgende Übersicht. Diese Grundstruktur enthält freilich noch nicht alle für die psychiatrische Diagnostik erforderlichen Angaben, etwa den gesamten somatischen Bereich. Dieser wird ebenso wie die psychopathologische Befunderhebung an anderer Stelle des vorliegenden Bandes besprochen. Hier, im Kontext der Anamneseerhebung, ist es sinnvoll, die im Schema dargestellte Datenbasis noch weiter aufzufächern, um der tatsächlichen Differenziertheit des untersuchten Patienten gerecht werden zu können. Der in der folgenden Übersicht skizzierten Aufteilung wird die weitere Darstellung folgen.
Essenzielle Bestandteile jeder psychiatrischen Datensammlung (Silberman u. Certa 1997)
»Psychiatrisches Anamnesenmosaik« Die Erhebung der biografischen und der Krankheitsanamnese ist eingebettet in die gesamte psychiatrische Befunderhebung und damit Teil dessen, was Dilling (1986) das »psychiatrische Anamnesenmosaik« genannt
Persönliche Grunddaten Hauptbeschwerden aktuelle Vorgeschichte psychiatrische Anamnese somatische Anamnese Familienanamnese biografische Anamnese psychopathologischer Befund
Die einzelnen Bereiche der Anamneseerhebung Biografische Anamnese: Herkunftsfamilie Schwangerschaft und Geburt frühe Kindheit und Vorschulalter schulische Entwicklung Pubertät und Adoleszenz Ausbildung und Beruf Beziehungsanamnese aktuelle Lebenssituation Partnerschafts- und Sexualanamnese Selbstwahrnehmung im Zeitverlauf
18
Überschneidung der Anamnesebereiche Diese Unterteilung, die zur besseren Übersicht dienen und die Anamneseerhebung praktikabler machen soll, darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass die genannten Bereiche unabhängig voneinander und inhaltlich scharf getrennt seien. Ganz im Gegenteil: Sie sind aufs engste miteinander verbunden und überlappen sich oft. Die Verkennung dieses Umstands kann nachteilig für den
Psychiatrische Krankheitsanamnese:
aktuelle Anamnese spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes allgemeine psychiatrische Anamnese Suchtanamnese Familienanamnese Somatische Krankheitsanamnese Forensische Anamnese Fremdanamnese
diagnostischen Prozess und die darauf aufbauenden therapeutischen Maßnahmen sein. Dies zeigt sich etwa im Fall der beiden Bereiche »Biografie« und »Krankheitsanamnese«: Deren schroffe Trennung beinhaltet die Gefahr, wichtige Zusammenhänge psychopathologischer Phänomene mit Lebensereignissen oder -entwicklungen zu unterschätzen oder gar zu übersehen.
411 18.2 · Biografische Anamnese
Cave Ein aussagefähiges Beispiel für eine Überakzentuierung eines Teilaspekts ist der Begriff der »Primärpersönlichkeit«. Er suggeriert nämlich eine eindeutige Grenze zwischen der vor der Erkrankung bestehenden Persönlichkeit und den Persönlichkeitsmerkmalen im Laufe der Erkrankung bis hin zum aktuellen Untersuchungszeitpunkt. Implizit legt er sogar die völlige Unabhängigkeit von Persönlichkeit und seelischer Störung nahe, eine Annahme, die durch empirische Untersuchungen älteren und jüngeren Datums nicht gestützt wird.
Weniger anfällig für Fehldeutungen ist die Bezeichnung »prämorbide Persönlichkeit«, die nur auf den zeitlichen Aspekt abhebt, oder schlicht die Rede von »der Persönlichkeit« des Patienten, die sich im Laufe der Biografie einschließlich der Krankheitszeiten auf bestimmte Art entwickelt oder verändert hat. Selbst wenn sich also zwischen den genannten Bereichen im konkreten Fall immer wieder deutliche Überlappungsbereiche zeigen sollten, so ist es doch sinnvoll, sich für die Anamneseerhebung eines Schemas zu bedienen, um wesentliche Aspekte nicht zu übersehen.
18.1.1
Die Anamneseerhebung im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung
Die Exploration muss bestimmten minimalen äußeren Anforderungen genügen: Sie sollte in einem ansprechenden Raum und unter 4 Augen erfolgen und, soweit möglich, nicht durch Telefonate oder andere Nebenbeschäftigungen gestört werden. Vor allem wenn der Patient erstmalig psychiatrisch untersucht wird, empfiehlt es sich, ihm Art und Umfang der vorgesehenen diagnostischen Maßnahmen verständlich zu erläutern und ihn zu Rückfragen zu ermuntern. Erfahrungsgemäß kann durch ein solches Vorgehen schon viel von der Anspannung und Zurückhaltung abgefangen werden, die manche Patienten zu Untersuchungsbeginn verspüren (Reiser u. Schroder 1980; Schüffel u. Schonecke 1973). Ein wichtiger Punkt ist der Umfang der zu erhebenden Daten. Die Lebensgeschichte eines Menschen ist ein nahezu unerschöpfliches Reservoir von Ideen, Verhaltensweisen, Erinnerungen, Gefühlen, Meinungen und Sachverhalten. Aus dem an sich richtigen Bemühen, der Individualität des Patienten gerecht zu werden, erwächst insbesondere für den unerfahrenen Untersucher die Gefahr, sich in unwichtigen Details zu verlieren. Er scheut es, manches nicht weiter zu vertiefen oder nicht zu dokumentieren und kann paradoxerweise gerade dadurch den für das biografische Verständnis entscheidenden Überblick verlieren. Das andere Extrem stellt der erfahrene
Psychiater dar, der sich auf seine gewachsene Intuition verlässt und jeglichen Strukturierungs- oder gar Operationalisierungsversuchen in der Anamnese- und Befunderhebung wegen der damit verbundenen Einengung mit großer Skepsis begegnet. Eine thematische Vorstrukturierung des zu erwartenden Materials ist aber unabdingbar. Freilich wird und soll jeder Untersucher im Laufe der Zeit einen eigenen Stil entwickeln. Die Grundlinien sollten aber insoweit übereinstimmen, als die im Folgenden angesprochenen wesentlichen Bereiche in die Exploration einfließen. Das »Vergessen« eines wichtigen anamnestischen Aspekts, etwa weil sich die Exploration vorwiegend mit dem aktuellen Zustandsbild beschäftigt, ist nicht akzeptabel.
18.2
Biografische Anamnese
Objektive und subjektive Lebensgeschichte Oft wird die »äußere« Biografie, bei der die relevanten objektiven Daten erhoben werden, unterschieden von der »inneren« Lebensgeschichte, die sich mit den persönlichen Erinnerungen und vor allem Bewertungen früherer Ereignisse, Erlebnisse oder Vorstellungen beschäftigt. Ob man diese beiden Bereiche nun auch in der Gesprächsführung klar voreinander trennt oder nicht, ist von untergeordneter Bedeutung. Zwar stellt die gleichzeitige Erfassung beider Aspekte die für Patient und Untersucher zweifellos natürlichste und vom zu erzielenden Informationsgewinn her günstigste Vorgehensweise dar, sie ist aber auch die schwierigste. Gerade bei sehr umfangreichen Biografien, bei schwer explorierbaren Patienten oder im Fall eines unerfahrenen Untersuchers ist daher nichts dagegen einzuwenden, verschiedene Aspekte der Biografie getrennt zu besprechen. Es erleichtert den Kontakt zum Patienten erheblich, wenn man ihn an dieser Stelle noch einmal kurz über den geplanten Ablauf des Gesprächs und den Sinn der Fragen informiert. Schließlich empfinden es viele Personen als ungewohnt und unangenehm, mit einem anderen Menschen, den sie nur ganz kurz kennen, umfassend und offen über die eigene Lebensgeschichte zu sprechen. Erst recht gilt dies natürlich für Patienten, die unfreiwillig zur stationären Untersuchung und allenfalls auch Behandlung gebracht worden sind. Diesem Umstand muss die Art der Gesprächsführung im Allgemeinen und der Anamneseerhebung im Speziellen in vertrauensbildender Weise Rechnung tragen.
Reihenfolge der Themen Auch mit Blick auf die Reihenfolge der anzusprechenden Themen gibt es verschiedene Möglichkeiten, die jeweils Vor- und Nachteile haben. Beginn mit Themenwahl des Patienten. Man kann bei der
Thematik beginnen, die der Patient auf eine ganz offene
18
412
Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese
Frage nach dem Verlauf seines Lebens spontan anbietet. Dies wirkt auf den Patienten am wenigsten gezwungen, doch bleibt der Untersucher über die Motive des Patienten für gerade diese Themenwahl zunächst im Unklaren, was das Verständnis erschweren kann. Chronologisches Vorgehen. Man kann entlang der Zeit-
achse vorgehen, was die einfachste und keiner besonderen Begründung bedürfende Strukturierung darstellt. Von Nachteil ist dabei, dass es auf den Patienten eigenartig wirken kann, in Anbetracht seiner in der Regel drängenden aktuellen Probleme und Konflikte zunächst einmal auf die eigene Schwangerschaft, Geburt und früheste Kindheit angesprochen zu werden. Flexible Abfolge vorgegebener Themenbereiche. Schließ-
lich – und dies dürfte bei flexibler Anwendung die probateste Methode sein – kann man sich inhaltlich an die im folgenden genannten Bereiche anlehnen, deren Reihenfolge jedoch dem Gesprächsverlauf und der Art der vorliegenden seelischen Störung anpassen. Hier verbindet sich der Vorteil einer strukturierten Gesprächsführung, nämlich das geringere Risiko, Wesentliches zu übersehen oder zu vergessen, mit einer Beziehungsgestaltung, die aus der Sicht des Patienten offen wirkt und den Eindruck starrer Raster oder des bloßen Abhakens vorgegebener Themen vermeidet.
18.2.1
18
Herkunftsfamilie
Der Patient wird um eine Schilderung der sozialen Situation gebeten, in die er »hineingeboren« wurde. Dabei geht es um äußere Gegebenheiten, etwa Berufe der Eltern, finanzielle Verhältnisse, Größe der Wohnung, die persönlichen Eigenschaften der entscheidenden Bezugspersonen. Das werden in der Regel, müssen aber nicht, die Eltern sein. Es sollte nach allen Personen, die im elterlichen Haushalt lebten, und nach den sonstigen, aus der Erinnerung des Patienten bedeutsamen Menschen gefragt werden. Die Partnerschaftssituation der Eltern zum Zeitpunkt der Geburt ist ein wesentlicher Aspekt. In Zusammenhang damit wird man auch zu erfragen versuchen, ob der Patient ein erwünschtes Kind war oder nicht. Obwohl viele Patienten dazu kaum Angaben machen können, weil in der Familie tatsächlich nicht über dieses Thema gesprochen worden ist, trifft man nicht selten auf Patienten, die über diese Aussprachemöglichkeit geradezu erleichtert sind und betroffen schildern, dass sie ein völlig unerwünschtes Kind gewesen seien oder sogar – ein besonders heikler Punkt – hätten abgetrieben oder zur Adoption freigegeben werden sollen.
Umgang mit schwierigen Themen. Es sei an dieser Stelle
daran erinnert, dass die Angaben des Patienten nicht ohne weiteres als historische Tatsachen anzusehen sind, sondern dass nachträgliche Deutungen und Erinnerungsverformungen auf unterschiedlichster Grundlage in Rechnung zu stellen sind. Nun gilt dies zwar grundsätzlich für alle Anamnesebereiche, eine schwierige Gesprächssituation ergibt sich aber v. a. im soeben besprochenen Kontext oder etwa bei Angaben über einen stattgefundenen sexuellen Missbrauch. Die Exploration solcher Zusammenhänge, über die der Patient bislang kaum oder noch nie gesprochen hat, erfordert Erfahrung, Gespür und einen persönlichen »Stil« des Untersuchers. Er sollte dem Patienten den Eindruck vermitteln können, dass er ein echtes Interesse an seiner Person hat, sich nicht durch ausweichendes Verhalten des Patienten von seiner Linie abbringen lässt, gleichzeitig aber die Individualität und Intimität des anderen respektiert.
18.2.2
Schwangerschaft und Geburt
Zu fragen ist nach dem Alter der Eltern bei der Geburt des Patienten, nach dem Schwangerschaftsverlauf bei der Mutter, insbesondere nach der medizinischen Betreuung und nach aufgetretenen körperlichen oder psychischen Störungen einschließlich eines Substanzmissbrauchs. Manche Patienten können recht präzise Angaben über die Umstände ihrer Geburt machen: Zu Hause oder in der Klinik? Termingerecht? Spontan oder eingeleitet? Gewicht? Zangengeburt? Kaiserschnitt? Postpartale Störungen bei Mutter und Kind? Auch den unmittelbar anschließenden Zeitraum sollte man ansprechen und den Patienten fragen, ob er etwas über diese Periode der Neugestaltung der familiären Strukturen erfahren hat. Dies schließt die Frage nach etwaigen seelischen Störungen der Eltern in zeitlichem Zusammenhang mit der Geburt des Patienten ein, z. B. eine postpartale Depression oder Psychose oder ein reaktualisierter oder neu entstandener Partnerkonflikt.
18.2.3
Frühe Kindheit und Vorschulalter
Hier geht es zunächst um die zeitliche Abfolge beim Erwerb sensomotorischer, sozialer und sprachlicher Kompetenzen und um die Frage nach frühen Ernährungs- und Entwicklungsstörungen. Der Erziehungsstil der Eltern wird ebenso zur Sprache kommen wie Art und Zeitpunkt
413 18.2 · Biografische Anamnese
der Reinlichkeitserziehung, die Reaktion auf die Geburt von Geschwistern und evtl. aufgetretene Ängste oder anderweitige Störungen der Emotionalität und des Verhaltens, etwa Bettnässen, Nägelkauen oder Pavor nocturnus. Eine große Rolle spielen: Art und Intensität der Beziehungen zu Eltern, Geschwistern und Spielkameraden, der Umgang mit konflikthaften oder schmerzlichen Situationen wie Trennungen vom Elternhaus und Getrenntleben der Eltern sowie schließlich das Verhalten im Kindergarten. Viele Patienten können aus eigener Erinnerung und aus Schilderungen von Bezugspersonen recht plastisch über ihre persönlichen Eigenschaften, ihr »Temperament«, als Kleinkind und Schulkind berichten. Als Hintergrundinformation ist dabei stets die soziale Situation des Elternhauses zu bedenken, etwa im Hinblick auf finanzielle Probleme, Arbeitslosigkeit oder Wohnungswechsel.
18.2.4
Schulische Entwicklung
Neben der vorwiegend kognitiven Entwicklung (Schulleistung im engeren Sinn, Erlernen von Grundfertigkeiten) sollte großer Wert auf den Aspekt der emotionalen und sozialen Kompetenz gelegt werden. Im Schulalter zeigt sich dies an der Art der Integration in den Klassenverband, der Beziehung zu Lehrern, zu Freunden und an der Freizeitgestaltung. Trennungsängste manifestieren sich zu Beginn der Schulzeit oft besonders deutlich. Zu fragen ist nach affektiven Auffälligkeiten depressiver, ängstlichasthenischer oder impulsiv-aggressiver Tönung sowie nach Besonderheiten der motorischen Entwicklung, z. B. Hyperaktivität, besonderes Interesse für Sport oder auffallende motorische Ungeschicklichkeit. Die in dieser Lebensphase zu erlernende Teilautonomie zeigt sich z. B. daran, dass das Kind ab einem bestimmten Zeitpunkt ohne Angst alleine bleiben kann oder dass ihm kleinere Aufgaben im häuslichen Bereich in verantwortlicher Weise übertragen werden können. Auch die Art, in der der Patient als Kind mit starken Belastungssituationen, etwa eigene Erkrankung oder Erkrankung der Eltern, umgegangen ist, kann hier angesprochen werden.
sorgfältig in der Anamneseerhebung zur Sprache kommen. Verstärkt wird man auf die spannungsreichen Beziehungsaspekte achten. Familiäre und schulische Konflikte sind v. a. dann genau zu explorieren, wenn sie dauerhaften Charakter haben. Gab es ausgeprägte krisenhafte Zuspitzungen mit »Weglaufen« von zu Hause oder abrupte Wechsel von persönlichen Einstellungen und Verhaltensweisen? Die Einbindung in den Freundeskreis, die dort eingenommenen oder angestrebten Rollen, die Entwicklung sexueller Beziehungen sind weitere wesentliche Punkte. Hier ergeben sich freilich Überschneidungen zum Abschn. 18.3. Zusammenfassend sollten alle Personen, Gruppen, Institutionen, Weltanschauungen und »Kulturen«, die für den Patienten in diesem prägenden Lebensabschnitt von Bedeutung waren, Gegenstand des Gesprächs sein.
18.2.6
Im Zentrum steht hier zunächst die Wahl einer bestimmten Ausbildung und eines entsprechenden Berufsziels. Wichtig ist die Frage, ob diese Entscheidungen wesentlich vom Patienten selbst getroffen wurden oder von den Eltern oder anderen Bezugspersonen. Neben dem äußeren Ausbildungsgang (Dauer, Zwischen- und Abschlussprüfungen, Finanzierung, Wohnsituation) sind die Einstellung zur gewählten Ausbildung und zum angestrebten Beruf, der Grad der Zufriedenheit und die realen und imaginierten Zukunftsperspektiven von Bedeutung. Besonders wichtig sind natürlich die äußeren und inneren Gründe für den Wechsel oder Verlust eines Arbeitsplatzes. Die konkrete Situation am Arbeitsplatz sollte durchaus im Detail erörtert werden, da dies oft wesentliche Aufschlüsse über soziale Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale gibt, aber auch über mögliche Auslöser oder Verstärker von seelischen Störungen. Bei männlichen Patienten sollte die Wehr- oder Zivildienstpflicht angesprochen werden, weil dieser Zeitabschnitt durch einen im Leben des Betreffenden häufig erstmaligen längeren Ortsund Situationswechsel charakterisiert ist. Allein dadurch können konflikthafte seelische Momente deutlicher in Erscheinung treten oder neu entstehen.
18.2.7
18.2.5
Pubertät und Adoleszenz
Das Thema der Verselbständigung im »äußeren« Sinn (Loslösung vom Elternhaus), aber auch im »inneren« Sinn (Selbstfindung, sexuelle Identität, Vorstellungen zur Berufsausbildung, Lebensziele) steht in dieser Lebensphase im Vordergrund des Erlebens und sollte entsprechend
Ausbildung und Beruf
Beziehungsanamnese
Der Patient wird gebeten, seine typischen Erlebens- und Verhaltensmuster in zwischenmenschlichen Beziehungen zu schildern. Dabei kommt es nicht etwa nur auf »Auffälliges« oder »Krankhaftes« an, sondern auf Eigenschaften, die der Patient aus der eigenen Sicht und aus der ihm erkennbaren Perspektive Dritter als kennzeichnend für seinen Umgang mit anderen Personen erlebt.
18
414
Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese
Zu fragen ist nach dem Bestehen oder Fehlen fester Freundschaften, dem Alter, den Persönlichkeitsmerkmalen und dem sozialen Status der Partner, der eigenen Position innerhalb von Zweierbeziehungen, dem Erleben in Gruppen und der Einnahme typischer Rollen, etwa derjenigen des »Anführers« oder des »Sündenbocks«.
Wenn auch jede künstliche Trennung vermieden werden sollte, so wird es doch oft sinnvoll sein, der Beziehung zu einem festen Lebenspartner einen eigenen Gesprächsabschnitt zu widmen ( Abschn. 18.3). So kann man mit gutem Grund auch mit dem sexuellen Bereich verfahren. Vor allem die in psychiatrischen Krankengeschichten nicht selten zu beobachtende dürftige bis ganz fehlende Erwähnung der Sexualität macht ein solches Vorgehen sinnvoll. Doch wird man auch hier die jeweilige Situation des Einzelfalls berücksichtigen.
18.2.8
Aktuelle Lebenssituation
Gerade am Ende der biografischen Anamnese bietet es sich an, den Patienten ausführlich über die aktuelle Lebenssituation berichten zu lassen. Dabei werden manche Aspekte des Untersuchungsgesprächs noch einmal aufgegriffen, etwa die berufliche, finanzielle und partnerschaftliche Situation, aber eben – und dies ist wichtig – unter dem Blickwinkel der aktuellen und nicht rückschauenden Bewertung, selbst wenn diese aktuelle Sicht des Patienten im Einzelfall auch stark von der vorliegenden seelischen Störung geprägt sein mag.
18.3
18
Angaben zur Sexualität und zu Lebenspartnerschaften
Sofern nicht bereits im Kontext der biografischen und Beziehungsanamnese angesprochen, wird hier auf die sexuelle Entwicklung des Patienten eingegangen. Da das Thema nicht selten als peinlich oder irritierend erlebt wird (und dies nicht nur auf Patientenseite), sind besonderer Takt, aber auch eine gewisse Nachhaltigkeit am Platz, um Verleugnungstendenzen nicht zu unterstützen. Nicht ausgespart werden sollte der Bereich der kindlichen Sexualität, etwa in bezug auf die sog. »Doktorspiele«. Besonderen Augenmerk wird man auf die Art der sexuellen Aufklärung legen und auf die Entwicklung des sexuellen Erlebens und Verhaltens während und in der Phase direkt nach der Pubertät (Masturbation, erste sexuelle Partnererfahrungen, homosexuelle Kontakte, sich abzeichnende sexuelle Identitätsstörungen bis hin zu Transvestitismus, Transsexualität und Perversionen).
Lebenspartnerschaft Wenn eine feste Lebenspartnerschaft besteht, so sollte deren Entwicklung eigens besprochen werden. Dabei kommt es auf die Qualität der Beziehung im weitesten Sinne an. Aspekte der Nähe und Distanz zwischen den Partnern, der Offenheit im Umgang, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die beim Patienten vorliegende seelische Störung, der Existenz und Relevanz weltanschaulich-religiöser Grundüberzeugungen sowie der Konfliktfähigkeit sind von zentraler Bedeutung. Gleiches gilt für den sexuellen Bereich, der in der Regel bei den gerade aufgezählten Themen bereits zur Sprache gekommen ist: Regelmäßige sexuelle Kontakte? Sexuelle Funktionsstörungen wie Impotenz, Anorgasmie, Vaginismus? Gleichartige oder stark divergierende sexuelle Interessen der Partner? Sexualpartner außerhalb der festen Beziehung? Allgemeine Einstellung zur Sexualität? Besonderen Wert wird man auf die Frage nach einer gemeinsamen Lebensplanung legen: Ist die Bewertung der aktuellen Lebenssituation übereinstimmend oder nicht? Teilen beide Partner langfristige Ziele oder verfolgen sie getrennt evtl. konkurrierende Ziele? Familienplanung? Einstellungen zu Erziehungs- und Ausbildungsfragen hinsichtlich der Kinder?
18.4
Selbstwahrnehmung im Zeitverlauf
Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung sind Bereiche, die bei der Erhebung sowohl der Vorgeschichte als auch des psychopathologischen Befundes eine große Rolle spielen. Hier geht es um den Aspekt der zeitlichen Entwicklung der Selbstwahrnehmung im Verlauf der Biografie. Nun wirkt die Frage, wie er sich denn selbst sehe, was er für wesentliche Eigenschaften habe, auf den Patienten oft überraschend und führt nicht selten zu der Antwort, darüber könne er nichts sagen, darüber habe er noch nie so richtig nachgedacht. Dennoch sollte man das Gespräch weiter in diese Richtung treiben, da das Selbstbild ein wesentliches Moment bei der Beurteilung seelischer Störungen darstellt. Dies gilt sowohl für die Selbsteinschätzung vor Beginn der aktuellen Störung, sofern eine zeitliche Grenze zwischen gesund und krank im Einzelfall überhaupt so klar erkennbar wird, als auch für das Selbstbild während der aktuellen Krankheitsphase. Wenn es gelingt, den Patienten zu differenzierten Äußerungen zu diesem Bereich zu bewegen, so erlebt er dies oft als erleichternd und bereichernd. Außerdem ergeben sich hier gute Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen
415 18.5 · Psychiatrische Krankheitsanamnese
und deren Evaluation im weiteren Verlauf. Das frei geschilderte Selbstbild kann durch Fragebogenerhebungen ergänzt werden, doch sollte das Vieraugengespräch nie fehlen.
18.5
Psychiatrische Krankheitsanamnese
Hier ist zu unterscheiden zwischen der aktuellen Anamnese, die auf den Zeitraum unmittelbar vor der jetzigen Behandlung abzielt, der speziellen Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes, die – etwa im Falle einer chronischen Psychose – lange Zeiträume umfassen kann, und der allgemeinen psychiatrischen Anamnese, die nach dem früheren Auftreten irgendwelcher seelischer Störungen fragt, die mit der aktuellen Erkrankung in Zusammenhang stehen können, aber nicht müssen.
18.5.1
Aktuelle Anamnese
Die aktuelle Anamnese ist derjenige Teil, der aus der Sicht des Patienten neben der Erhebung des Befundes der wichtigste ist. Er erfasst die unmittelbare Vorgeschichte des zur ambulanten, teilstationären oder stationären Behandlung führenden Zustands. Hier wird man fragen, welche Beschwerden wie lange in welcher Intensität bestehen, in welchem lebensgeschichtlichen Kontext sie aufgetreten sind und wie der Patient sie subjektiv einschätzt hinsichtlich des Beeinträchtigungsgrades, den sie hervorrufen. ! Zu achten ist auf komplizierende Faktoren, die im Kontext ganz unterschiedlicher seelischer Störungen auftreten können, etwa Selbstbeschädigungsneigung, Missbrauch psychotroper Substanzen, suizidale Phantasien, Gedanken und Handlungen sowie delinquentes Verhalten. Dieser Bereich überlappt sich z. T. mit der Erhebung des psychopathologischen Befundes, aber auch mit anderen anamnestischen Bereichen, z. B. wenn der Beginn der Störung im zeitlichen Zusammenhang mit einem Partnerkonflikt oder mit hohem Alkoholkonsum steht. Wichtig sind Fragen nach bereits eingeleiteten Behandlungsmaßnahmen medikamentöser, psychotherapeutischer oder sozialpsychiatrischer Art und der dazu bestehenden Einstellung des Patienten (Compliance). Dies leitet über zu den ebenfalls anzusprechenden Erwartungen, die der Patient an die jetzige Therapie hat und an die Motivation, die er dafür aufbringt.
18.5.2
Spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes
Die spezielle Anamnese des vorliegenden Krankheitsbildes konzentriert sich auf den Langzeitverlauf dieser besonderen seelischen Störung, etwa einer bipolaren affektiven Störung, bei dem gerade untersuchten Patienten. Zu fragen ist nach früheren Erkrankungsmanifestationen (z. B. nach Anzahl, Intensität, jahreszeitlicher Häufung), nach situativen und somatischen Auslösefaktoren, nach dem Ansprechen auf die Behandlung einschließlich einer eventuellen Langzeitmedikation.
Gesamtverlauf Wichtig ist der Gesamtverlauf: Dieser kann phasenhaft sein und jeweils mit Vollremissionen einhergehen, schubförmig mit Besserungen, die den Patienten aber nicht das frühere (»prämorbide«) Funktionsniveau erreichen lassen, oder chronisch, sei es im Sinne eines zeitlich stabilen Defizits oder – im ungünstigsten Fall – einer progredienten Verschlechterung. Die Grenzen zwischen phasenhaftem, schubförmigem und primär chronischem Verlaufstyp sind allerdings in zweierlei Hinsicht unscharf: Zum einen kann der Verlaufstyp beim selben Patienten im Laufe der Jahre wechseln, etwa von einem phasenhaften zu einem schubförmigen, weitaus seltener umgekehrt, zum anderen hängen die Begriffe »Phase« und »Schub« entscheidend von der Definition von »Vollremission« ab. Voreilige Schlüsse vom Verlaufstyp auf die Diagnose müssen vermieden werden: Ein schubförmiger Verlauf ist zwar bei schizophrenen Störungen häufig, aber keineswegs zwingend; schizophrene Psychosen können voll remittieren, affektive hingegen zu bleibenden Defiziten führen und insoweit auch einen »schubweisen« Verlauf nehmen. Das subjektive Moment der Wahrnehmung der eigenen Erkrankung durch den Patienten muss besonders ernst genommen und in der Exploration entsprechend gewichtet werden, spielt es doch für den Langzeitverlauf, also auch für die Langzeitprognose, oft eine bedeutsame Rolle.
18.5.3
Allgemeine psychiatrische Anamnese
Frühere Erkrankungen und Komorbiditätsprinzip.
Schließlich ist der Patient auf das frühere Auftreten anderer seelischer Störungen als der aktuell vorliegenden anzusprechen. In den letzten Jahren ist in Forschung und Praxis auf den Aspekt der Komorbidität besonderer Wert gelegt worden. Es wird betont, welche unzulässige und für die Therapieplanung ungünstige Einengung es darstellt, etwa beim Vorliegen einer schizophrenen Psychose wichtige Bereiche wie die Persönlichkeit, die Suchtanamnese
18
416
Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese
oder den affektiven Bereich wenig oder gar nicht zu berücksichtigen. Schichtenregel nach Jaspers. Bei einer derartigen Verkürzung, die sich tatsächlich in vielen Krankengeschichten finden lässt, mag die – dann allerdings zu eng ausgelegte – Schichtenregel von Jaspers Pate gestanden haben, wonach die »tiefste« erreichte Schicht den Ausschlag für die Diagnose gibt. Ein Beispiel: Wenn sich bei einer Persönlichkeitsstörung (Schicht 1) überraschenderweise typische produktiv-psychotische Symptome einstellten (Schicht 2), sei insgesamt eine Schizophrenie zu diagnostizieren, und wenn noch Desorientierung und Bewusstseinsstörung hinzuträten (Schicht 3), eine körperlich begründbare Psychose. Schichtenregel und Komorbiditätsprinzip. Jaspers selbst
hat auf den pragmatischen Wert, aber eben auch auf die theoretischen Schwächen dieser Schichtenregel hingewiesen. Um dringliche Therapiemaßnahmen nicht zu verschleppen, ist sie klinisch nach wie vor nützlich, etwa wenn ein Patient mit einer bereits länger bestehenden depressiven Symptomatik akut eine Bewusstseinsstörung entwickelt, woraufhin ein Hirntumor festgestellt wird (Bewusstseinsstörung als »führendes« Symptom). Sie sollte jedoch nicht als Widerspruch zum Komorbiditätsprinzip verstanden werden: Selbstverständlich können mehrere seelische Störungen aus verschiedenen »Schichten« zur gleichen Zeit oder zeitversetzt dasselbe Individuum betreffen. Diese Situation ist z. B. gegeben, wenn ein Patient mit selbstunsicherer Persönlichkeit eine paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, später eine Alkoholabhängigkeit sowie in deren Gefolge eine Korsakow-Psychose und eine Demenz entwickelt. Die Frage, ob früher ein Substanzmissbrauch oder eine Sucht vorgelegen haben, kann bereits an dieser Stelle des Untersuchungsgespräches erörtert werden.
18.6
Suchtanamnese
Stoffgebundene Süchte. Der Umgang mit suchterzeu-
18
genden Substanzen für die gesamte Lebensspanne ist zu erfragen. Bedeutsam sind die Einstellungen des Elternhauses, des Freundeskreises und späterer wesentlicher sozialer Bezugsgruppen etwa zu Alkohol, Nikotin und Drogen. Einer gerade hier oft anzutreffenden Beschönigungstendenz des Patienten sollte nicht nachgegeben werden. Vielmehr sind die Details eines missbräuchlichen oder abhängigen Verhaltens bezüglich Substanz, Menge und Häufigkeit sowie bevorzugte Situation des Konsums, Art der Beschaffung und Rückwirkungen auf das familiäre und berufliche Umfeld genau zu erörtern. Auch frühere therapeutische Maßnahmen wie Entziehung,
Entwöhnung (stationär oder ambulant, mit oder ohne medikamentöse Unterstützung) und Rückfälle (wie häufig, wie schwer, aus welchem Kontext heraus, Einstellung des Patienten zum Rückfall) müssen erfragt werden. Nichtstoffgebundene Süchte. Die im Falle der stoffgebundenen Süchte schon schwer zu ziehende Grenze zwischen »normalem« und schädlichem Gebrauch sowie zwischen Missbrauch und Abhängigkeit stellt bei den nichtstoffgebundenen Süchten ein besonderes Problem dar. Die bloße Häufung eines bestimmten Verhaltens, sei es Glücksspiel, Ladendiebstahl oder Brandstiftung, macht noch keine Sucht aus. Die Anamneseerhebung in diesem schwierigen, oft auch forensisch relevanten Bereich muss der Verknüpfung des fraglich süchtigen Verhaltens mit der Persönlichkeit, der Biografie und der aktuellen Lebenssituation besonderes Augenmerk widmen.
18.7
Familienanamnese
Hier geht es um mehr als die knappe Beantwortung der Frage, ob in der näheren und weiteren Verwandtschaft seelische Störungen aufgetreten sind oder nicht. Vielmehr sollen wesentliche psychosoziale Informationen über die Herkunftsfamilie des Patienten eingeholt werden, wobei sich Überlappungen mit der biografischen Anamnese ergeben werden. Es sollte nach der Großeltern-, Eltern- und Patientengeneration, ggf. auch nach den Nachkommen gefragt werden. In einem ersten Schritt verschafft man sich durch die Grunddaten wie Alter, Beruf, Familienstand, Wohnverhältnisse einen Überblick, um dann die Informationen über eine eventuelle familiäre Belastung mit seelischen Auffälligkeiten oder körperlichen Krankheiten besser einordnen zu können. ! Dabei interessieren nicht nur die eindeutig psychotischen Störungen, sondern gerade auch die »leichteren« seelischen Auffälligkeiten, die nicht unbedingt sofort in diagnostische Begriffe umgesetzt werden müssen. Im Zweifel sollten die Schilderungen des Patienten möglichst wortgetreu wiedergegeben werden, etwa im Falle auffälliger Persönlichkeitszüge oder eines fraglichen Substanzmissbrauchs bei einem Verwandten. Suizide, Suizidversuche und dissoziales oder delinquentes Verhalten sollten hier erörtert werden, wobei ausdrücklich auch die weitere Verwandtschaft einzubeziehen ist. Beharrliches Nachfragen kann nützlich sein, da der offene Bericht über einen seelisch kranken Verwandten für viele Patienten mit Schamgefühlen und Verunsicherung verbunden ist und daher gerne vermieden wird. Durch entsprechende Gesprächsführung sind diese negativen Af-
417 Literatur
fekte aber meist zu überwinden. Bei weitverzweigten Familien mit unterschiedlichen seelischen Störungen legt man zweckmäßigerweise einen Stammbaum an.
18.8
Somatische Krankheitsanamnese
Zu erfragen sind körperliche Erkrankungen, die im Leben des Patienten aufgetreten sind, begonnen mit den »Kinderkrankheiten« bis hin zu neueren, möglicherweise noch bestehenden und behandlungsbedürftigen Störungen. Besonderen Wert wird man zwar auf solche körperlichen Erkrankungen legen, bei denen direkte oder indirekte psychische Auswirkungen wahrscheinlich sind (z. B. Unfälle mit Schädel-Hirn-Trauma, neurologische Systemerkrankungen, chronische Herzerkrankungen), doch sollte man diese Grenze nicht zu eng ziehen. Eine Medikation, die über längere Zeit verabreicht wurde, ist ebenso zu erfassen wie die aktuell eingenommene. Nach ambulanten und stationären Behandlungen einschließlich nachfolgender Rehabilitationsmaßnahmen muss gefragt werden.
einem kritischen Punkt kann die Frage werden, ob der Patient bei der Erhebung der Fremdanamnese anwesend sein soll bzw. darf oder nicht. Hier lässt sich keine verbindliche Regel formulieren, die Entscheidung ist vom Einzelfall abhängig. Dem Patienten muss aber stets klar sein, dass seine gesundheitlichen und persönlichen Belange im Vordergrund der ärztlichen Bemühungen stehen und bei konkurrierenden Interessenslagen – drastisches Beispiel: spontane fremdanamnestische Angaben eines Arbeitgebers, der im Gegenzug Informationen über die Erkrankung und ihre Prognose erwartet – eindeutige Priorität haben. ! Jeder Eindruck, dass Dinge hinter dem Rücken des Patienten geschehen, muss sorgfältig vermieden werden. Selbstverständlich gilt die ärztliche Schweigepflicht auch gegenüber Familienangehörigen, was nicht ausschließt, dass diese nach entsprechender Information des Patienten und mit seinem Einverständnis in die Therapie mit einbezogen werden.
Fazit 18.9
Forensische Anamnese
Hier geht es zum einen um die Frage, ob es im Leben des Patienten zu Gesetzesübertretungen gekommen ist, die juristische Folgen nach sich gezogen haben, zum anderen aber auch darum, ob etwaige strafrechtlich relevante Fehlverhaltensweisen in Zusammenhang mit einer seelischen Störung standen. Man wird im Rahmen der psychiatrischen Anamneseerhebung diese dem ausführlichen Gutachten vorbehaltene Frage nicht erschöpfend erörtern können, doch sollte der Themenkreis nicht völlig ausgespart bleiben. Wie bei anderen potenziell heiklen Bereichen muss hier taktvoll und umsichtig gefragt werden, um die Auskunftsbereitschaft des Patienten nicht zu untergraben. Ein gesonderter Hinweis auf die ärztliche Schweigepflicht kann nützen, nicht zuletzt um die diesbezüglich sehr unterschiedlichen Rollen des behandelnden Arztes und des Gutachters hervorzuheben. Mit Blick auf die Sozialgerichtsbarkeit hat Zeit (1997) die Problematik der fachspezifischen Anamnese herausgearbeitet.
18.10
Fremdanamnese
Es handelt sich um Informationen über den Patienten, die nicht unmittelbar von diesem selbst stammen, sondern von seinem sozialen Umfeld im weitesten Sinne, also von Familienangehörigen, Freunden, Verwandten, Nachbarn, Berufskollegen, aber auch von früher behandelnden Ärzten oder vom akut hinzugezogenen (Not-)Arzt. Zu
Ein weiterer sensibler Punkt ist der soeben erwähnte Kontakt des behandelnden Arztes zu Arbeitskollegen bzw. zum Arbeitgeber des Patienten. Natürlich kann ein solcher Kontakt nur mit Zustimmung des Patienten erfolgen unter kritischer Abwägung von Vorteilen, etwa der Erhebung diagnostisch und therapeutisch relevanter Informationen über die Lebenssituation des Patienten, und Nachteilen, etwa der Entstehung von Vorurteilen am Arbeitsplatz bis hin zur dessen Gefährdung durch das Bekanntwerden einer psychischen Störung.
Literatur Dahmer J (2006) Anamnese und Befund: Die ärztliche Untersuchung als Grundlage klinischer Diagnostik, 10. Aufl. Thieme, Stuttgart Deegener G (1995) Anamnese und Biographie im Kindes- und Jugendalter, 2. Aufl. Hogrefe, Göttingen Dilling H (1986) Das psychiatrische Anamnesenmosaik. Nervenarzt 57: 374–377 Hersen M, Turner S M (1985) Diagnostic interviewing. Plenum, New York Kind H, Haug HJ (2002) Psychiatrische Untersuchung: Ein Leitfaden für Studierende und Ärzte in Praxis und Klinik, 6. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Leon RL (1982) Psychiatric interviewing. Elsevier, North Holland New York MacKinnon RA, Yudofsky SC (1986) The psychiatric evaluation in clinical practice. Lippincott, Philadelphia Reiser DE, Schroder AK (1980) Patient interviewing: the human dimension. Williams & Wilkins, Baltimore
18
418
Kapitel 18 · Biografische und Krankheitsanamnese
Schmidt LR, Kessler BH (1976) Anamnese. Methodische Probleme, Erhebungsstrategien und Schemata. Beltz, Weinheim Schüffel W, Schonecke OW (1973) Die Anamneseerhebung als Gespräch. Therapiewoche 23: 2478–2484 Silberman EK, Certa K (1997) Psychiatric interview: settings and techniques. In: Tasman A, Kay J, Lieberman JA (eds) Psychiatry, vol 1. Saunders, Philadelphia London Toronto Montreal Sydney Tokio, pp 19–39 Zeit Th (1997) Psychiatrische Anamnesen im Gutachten: Konsequenzen für Gerichtsgutachten im Sozialrecht. Gentner, Stuttgart
18
19 19 Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung B. Widder
19.1
Allgemeinmedizinische Untersuchung
19.2
Neurologische Untersuchung wacher Patienten – 420 Hirnnerven – 420 Reflexe – 423 Motorik – 424 Sensibilität – 424 Bewegungskoordination – 425 Sprache – 426
19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.3
19.4
Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten – 426
– 420
19.5
»Red flags« der neurologischen Untersuchung – 429
19.6
Bildgebende Diagnostik – 430
19.7
Elektrophysiologische Diagnostik – 431
19.8 19.8.1 19.8.2 19.8.3
Ultraschalldiagnostik – 431 Neurovaskuläre Ultraschalldiagnostik – 431 Hirnparenchymsonografie – 432 Nervensonografie – 432
19.9
Liquordiagnostik – 432
Erkennen psychogener neurologischer Ausfälle – 428
> > Der gründlichen allgemeinmedizinischen und neurologischen Untersuchung kommt auch in der Psychiatrie wesentliche Bedeutung zu. Aufgrund der engen Überschneidungen zwischen dem neurologischen und psychiatrischen Fachgebiet steht dabei die neurologische Befunderhebung im Vordergrund. Das vorliegende Kapitel enthält die für den Psychiater wichtigsten Techniken. Die allgemeinmedizinische Untersuchung wird demgegenüber nur kurz gestreift. Zu Details sei auf entsprechende Lehrbücher und Manuale verwiesen.
420
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
19.1
Allgemeinmedizinische Untersuchung
Zumindest im stationären, im Einzelfall jedoch auch im ambulanten Rahmen gehört zur psychiatrischen Untersuchung auch eine allgemeinmedizinische Befunderhebung. Das hierfür erforderliche »Minimalprogramm« findet sich in ⊡ Tab. 19.1. Weitere Untersuchungen erfolgen einzelfall- und symptombezogen (z. B. digitale Untersuchung des Afters und der Prostata, Beurteilung des Stütz- und Bewegungsapparates, Inspektion der Ohren).
19.2
Neurologische Untersuchung wacher Patienten
Außerhalb von Notfallsituationen, bei denen sich die neurologische Untersuchung auf die Erhebung von für die unmittelbare Versorgung wesentlichen Befunden beschränken muss ( Abschn. 19.3), empfiehlt sich ein möglichst gleichbleibender Ablauf, da der Untersucher auf diese Weise pathologische Befunde am wenigsten übersieht. Dabei kann der Untersuchungsablauf häufig da-
⊡ Tab. 19.1. »Minimalprogamm« der körperlichen Untersuchung bei psychiatrischen Patienten Untersuchung
Wesentliche Punkte der Befunderhebung
Inspektiona
Allgemein- und Ernährungszustand einschließlich Körperpflege Zustand der Zähne und des Zahnfleisches Farbe, Durchblutung, Turgor und Trophik der Haut (insbesondere Hände und Füße) Verletzungen und Narben am Stamm und den Extremitäten
Lymphknotenb
Zervikale und axilläre Lymphknoten
Brust- und Bauchorgane
Auskultation von Herz, Lunge und Abdomen Tastbefund im Bereich des Abdomens und der Nierenlager (Abwehrspannung, umschriebener Druckschmerz)
Gefäßstatusc
Auskultation der Halsgefäße Seitenvergleichende Tastung der Radialis- und Fußpulse Bestimmung des Blutdrucks – bei seitenunterschiedlichem Pulstastbefund beidseitig – und der Herzrate
19
a b
c
am bis auf die Unterwäsche entkleideten Patienten. wesentliche Bedeutung für systemische neoplastische und entzündliche Erkrankungen (z. B. HIV). einschließlich Anamnese vaskulärer Risikofaktoren (Nikotin, Alkohol, Diabetes mellitus, Übergewicht).
durch zeitgerecht gestaltet werden, dass Ausfälle beim kooperativen Patienten bereits durch entsprechendes Befragen ausgeschlossen werden bzw. Funktionsprüfungen zusammen erfolgen können (z. B. Zeigeversuche zusammen mit dem Romberg-Versuch).
19.2.1
Hirnnerven
Die 12 Hirnnerven geben über die Funktion des Hirnstamms sowie über die peripheren Leitungsbahnen im Bereich des Kopfes Auskunft. Ausfälle der Hirnerven III–IV deuten auf eine Schädigung im Mittelhirn, der Hirnnerven VI–VIII auf eine pontine Läsion hin. Läsionen der Hirnnerven IX–XII sind der Medulla oblongata zuzurechnen. Lediglich der N. trigeminus (N. V) ist aufgrund seines langgestreckten Verlaufs sowohl bei Schädigungen des Pons als auch der Medulla oblongata betroffen. Der Vorschlag eines diagnostischen »Minimalprogamms« zur Untersuchung der Hirnnerven findet sich in ⊡ Tab. 19.2.
Riechvermögen (N. olfactorius) Die ausführliche Prüfung des Geruchssinnes erfolgt durch seitengetrennte Darbietung aromatischer Substanzen (z. B. Kaffee, parfümierte Desinfektionsmittel). Beim wachen, kooperativen Patienten genügt im Allgemeinen die Frage nach Veränderungen in der Wahrnehmung von Umgebungsgerüchen oder von Speisen und Getränken. Wird eine Hypo- oder Anosmie angegeben, sind »Gegenprüfungen« sinnvoll: Schleimhautreizende Substanzen (z. B. Ammoniak, Essigsäure): Sie führen auch bei vollständiger Anosmie zu einem Brennen in der Nase (Versorgung der Nasenschleimhaut über den N. trigeminus). Prüfung des Geschmacksinns: Der Geschmackssinn mit seinen 4 Qualitäten süß, sauer, salzig und bitter wird geprüft. Das Geschmacksempfinden ist nicht dem N. olfactorius zuzuordnen, sondern dessen Bahn verläuft für die Qualitäten süß/sauer/salzig zunächst über den N. trigeminus (R. mandibularis), dann nach »Passage« über die Chorda tympani weiter über den N. facialis. Bittere Geschmacksstoffe werden im hinteren Drittel der Zunge wahrgenommen, die Weiterleitung erfolgt über den N. glossopharyngeus. Zentrale Ausfälle des Geschmackssinnes gehören zu den Raritäten. ! Die Angabe einer kombinierten Geruchs- und Geschmacksstörung (ggf. einschließlich fehlender Wahrnehmung von Trigeminusreizstoffen) ohne entsprechende strukturelle Läsionen im Schädelbereich und ohne Mitbetroffensein weiterer Hirnnerven deutet angesichts der komplexen Nervenversorgung auf eine psychogene Ursache hin.
421 19.2 · Neurologische Untersuchung wacher Patienten
⊡ Tab. 19.2. »Minimalprogramm« einer Routineuntersuchung der Hirnnerven zum Ausschluss einer Hirnnervenläsion Hirnnerv
Funktion
Technik
»Minimalprogramm«
I
Riechvermögen
Anamnese
Veränderter »Geschmack« von Speisen?
II
Sehvermögen Gesichtsfeld
Anamnese Untersuchung
Probleme beim Lesen (trotz Sehhilfe)? 4 Quadranten des Gesichtsfelds
II, III
Pupillomotorik
Untersuchung
Direkte und indirekte Lichtreaktion
III, IV, VI
Okulomotorik
Untersuchung
Augenfolgebewegungen nach allen Richtungen
V
Gesichtssensibilität
Anamnese
Taubes Gefühl im Gesicht und/oder Mund?
VII
Gesichtsmotorik
Untersuchung
Mimische Muskulatur
VIII
Hörvermögen Gleichgewicht
Anamnese Untersuchung
Schlechteres Hörvermögen, Ohrgeräusch? Stand- und Gangsicherheit
IX, X
Schlundmuskulatur
Untersuchung
Hebung des Gaumensegels
XI
Halsmuskulatur
Untersuchung
Kopfdrehung und Schulterhebung, Muskelrelief Hals-/Schultermuskulatur
XII
Zungenmuskulatur
Untersuchung
Herausstrecken der Zunge
Sehvermögen (N. opticus) Die seitengetrennte Testung des Sehvermögens kann mit entsprechenden Visustafeln, im einfachsten Fall durch Verwendung einer Zeitung mit verschiedenen Schriftgrößen erfolgen. Sehprobleme werden von Patienten jedoch auf Befragung meist auch spontan berichtet. Der ophthalmoskopischen Beurteilung des Augenhintergrunds kommt angesichts der verfügbaren Schichtbildgebung (CT, MRT) und mangels der für eine zuverlässige Beurteilung erforderlichen Übung heute nur noch untergeordnete Bedeutung zu.
Gesichtsfeld (N. opticus) Häufig spontan nicht bemerkt werden demgegenüber Gesichtsfeldausfälle. Für eine orientierende Prüfung genügt es, den Patienten zu bitten, auf die Nase des vor ihm stehenden Untersuchers zu sehen, und dann in der Mitte zwischen Patient und Untersucher die Erkennbarkeit von Fingerbewegungen in den 4 Quadranten zu erfragen. Detailliertere Prüfungen sind Aufgabe der augenärztlichen Untersuchung.
Pupillomotorik (N. opticus, N. oculomotorius) Weite und Form der Pupillen sind wichtige Beobachtungsparameter (z. B. Miosis beim Horner-Syndrom), zusätzlich gilt es die direkte und konsensuelle Reaktion auf kurzzeitige Beleuchtung der Pupille z. B. mit einer Taschenlampe zu beurteilen. Die Konvergenzreaktion wird nur bei fehlender Lichtreaktion geprüft. Primär weite Pupillen deuten auf einen hohen Sympathikotonus bzw. auf Medikamenteneffekte hin, sehr enge Pupillen finden sich bei Opiatkonsum oder beim Glaukom. Bei Vorliegen einer Anisokorie sollte zunächst durch Vergleich mit Fotografien (z. B. Passbild) beurteilt werden, ob diese schon länger besteht oder jetzt erst neu aufgetreten ist.
In hellen Räumen genügt häufig das kurzzeitige Verdecken der Augen mit der Hand bei anschließender Beobachtung der Pupillenreaktion nach Wegziehen der Hand. Bei primär bereits eng gestellten Pupillen ist die Lichtreaktion oft schwer zu beurteilen. Hier kann entweder der Raum abgedunkelt oder der Patient gebeten werden nach oben in die zu einem »Sonnendach« geformte Hand des Untersuchers zu blicken.
Okulomotorik (N. oculomotorius, N. trochlearis, N. abducens) Zwar wird das Bestehen von Doppelbildern meist bereits spontan von den betroffenen Patienten berichtet, trotzdem gehört die Beurteilung der Augenfolgebewegungen auch ohne derartige Klagen zum Standard jeder neurologischen Untersuchung, da hiermit wichtige Informationen zu erhalten sind. Hierzu gehören: Ein disharmonischer Ablauf der Augenbewegungen (»sakkadierte Blickfolge«) ergibt Hinweise auf das Vorliegen einer zerebellären Störung. Das Vorliegen eines – vor allem asymmetrischen – Blickrichtungsnystagmus deutet auf eine Störung des Gleichgewichtssystems hin (s. unten). Er darf nicht mit dem physiologischen, symmetrischen Endstellnystagmus bei Extremstellungen der Augenbulbi verwechselt werden. Ein »Nachhinken« der Adduktion eines Auges bei schnellen Augenfolgebewegungen zeigt eine internukleäre Ophthalmoplegie (»INOP«) durch eine Schädigung der zwischen den verschiedenen Kernen verlaufenden Bahn (»mediales Längsbündel«) an. Eine verminderte vertikale Augenbeweglichkeit kann auf eine supranukleäre Blickparese (Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom) hindeuten.
19
422
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
Gesichtssensibilität (N. trigeminus) Das Vorliegen von Gefühlsstörungen im Gesicht wird vom wachen und kooperativen Patienten auf Nachfrage stets (ausführlich) beschrieben, so dass sich eine detailliertere Untersuchung im nicht-pathologischen Fall erübrigt. Als objektiver Parameter bei geklagten Sensibilitätsstörungen dienen die seitenvergleichende Prüfung des Kornealreflexes sowie der »Festigkeit« der Kaumuskulatur beim Zusammenbeißen der Zähne, die vom N. trigeminus motorisch versorgt wird. Außerdem ist die unterschiedliche topografische Zuordnung bei zentralen und peripheren Trigeminusläsionen zu berücksichtigen (⊡ Abb. 19.1).
Gesichtsmotorik (N. facialis) Bei der Prüfung der vom N. facialis versorgten mimischen Muskulatur sind gleichermaßen – wenn auch anatomisch nicht ganz korrekt – zentrale und periphere Läsionen zu unterscheiden, bedingt durch die Tatsache, dass die zentralen Fasern zur Innervation der Stirnmuskulatur sowohl zum ipsi- als auch kontralateralen Fazialiskern ziehen. Ein Mitbetroffensein der Stirnmuskulatur sowie eine vorhandene Geschmacksstörung der ipsilateralen vorderen Zungenhälfte (sauer/süß/salzig) deuten demnach auf eine Läsion peripherer Nervenfasern im langen Verlauf des N. facialis hin. ! Von Fazialisparesen abzugrenzen sind nichtpathologische Gesichtsasymmetrien vor allem im Mundbereich, die typischerweise bei Prüfung der einzelnen mimischen Muskeln verschwinden.
Hörvermögen (N. cochlearis) Hörstörungen werden von kooperativen Patienten regelmmäßig spontan berichtet, so dass sich eine seitenvergleichende Prüfung (z. B. leichtes Fingerreiben) im Nor-
malfall erübrigt. Detailliertere Untersuchungen (Weber-, Rinne-Versuch) sind Aufgabe des HNO-Arztes.
Gleichgewicht (N. vestibularis) Zum Nachweis von Störungen des Vestibularapparates (und anderer Formen von Gleichgewichtsstörungen) dienen verschiedene Stand- und Gangprüfungen. Die wichtigsten sind: Romberg-Versuch: Hierbei wird das sichere Stehen mit geschlossenen Augen bei eng zusammenstehenden Füßen geprüft. Verschwindet eine auftretende Schwankneigung bei Ablenkung (z. B. gleichzeitiger Finger-Nase-Versuch), ist dies als eindeutiges Zeichen einer psychogenen Gleichgewichtsstörung zu werten. Unterberger-Versuch: Eine Drehung um mehr als 45° nach Treten auf der Stelle mit geschlossenen Augen deutet auf eine homolaterale Vestibularisstörung hin. Seiltänzergang: Balancieren auf einem imaginären Seil (mit offenen und geschlossenen Augen) stellt bereits hohe Anforderungen an das Gleichgewicht. Einbeinstand: Die sensibelste, vor allem für den Seitenvergleich taugliche Prüfung ist das Stehen auf einem Bein mit – nach Ausbalancieren – geschlossenen Augen. Auch Gesunde schaffen dies kaum länger als 5–10 s.
Schlundmuskulatur (N. glossopharyngeus, N. vagus) Routinemäßig beurteilt wird die symmetrische Hebung des Gaumensegels bei Phonation (Cave: Asymmetrien nach Tonsillenoperation). Die seitenvergleichende Prüfung des Würgreflexes kann, da von Patienten häufig als sehr unangenehm empfunden, auf die Fälle beschränkt werden, bei denen sich aufgrund einer heiseren oder nä-
1 2 3 19 ⊡ Abb. 19.1. Unterschiedliche Verteilung von Sensibilitätsstörungen im Gesicht bei peripheren (links) und zentralen (rechts) Trigeminusläsionen. 1 N. ophthalmicus, 2 N. maxillaris, 3 N. mandibularis
423 19.2 · Neurologische Untersuchung wacher Patienten
selnden Sprache (N. recurrens des N. vagus) bzw. berichteter Schluckstörungen klinische Anhaltspunkte für eine mögliche Störung der Schlundmotorik ergeben.
Halsmuskulatur (N. accessorius) Auch hier erscheint eine detailliertere Prüfung der Kopfwendung (M. sternocleidomastoideus) und der Schulterhebung (M. trapezius) nur erforderlich, wenn sich bei der Beobachtung der Spontanmotorik entsprechende Hinweise ergeben bzw. (asymmetrische) Atrophien der Schultergürtelmuskulatur erkennbar sind.
Zungenmuskulatur (N. hypoglossus) Isoliertes Abweichen der Zunge oder fehlendes Herausstrecken auf Aufforderung hat nicht selten eine psychogene Ursache. Bei Bestehen über mehr als einige Tage hinaus sind Störungen der Zungenmotorik daher nur dann als pathologisch zu werten, wenn sich gleichzeitig eine (einseitige) runzlige Atrophie der Zunge abgrenzen lässt.
19.2.2
Reflexe
Eine ausführliche Prüfung der Reflexe gehört zum »Standardprogramm« jeder neurologischen Untersuchung, da diese – im Vergleich zu vielen anderen Prüfungen – weitgehend von der Kooperation des Patienten unabhängig sind und daher als objektive Parameter Bedeutung besitzen. Unterschieden werden Eigen- und Fremdreflexe.
Muskeleigenreflexe Routinemäßig zu prüfen sind: Bizepssehnenreflex (BSR), Trizepssehnenreflex (TSR), Patellarsehnenreflex (PSR) und Achillessehnenreflex (ASR) (⊡ Tab. 19.5). Bei nicht auszulösenden Eigenreflexen sollte stets eine Fazilitation durch Bahnung (Jendrassik-Handgriff) versucht werden (Armeigenreflexe: Zähne zusammenbeißen; Beineigenreflexe: Auseinanderziehen der Hände). Im Einzelfall weitere wichtige Muskeleigenreflexe sind: Radiusperiostreflex (RPR): Schlag auf das distale Drittel des Radius in Mittelstellung zwischen Pronation und Supination. Der RPR kann sehr gut im Seitenvergleich geprüft werden und gibt ggf. Hinweise auf das Vorliegen einer Radialisparese. Trömner-Reflex: Beobachtung der Daumenbeugung nach schnellender Bewegung von volar gegen die Fingerkuppen II–V. Dieser Reflex ist nur inkonstant bei hohem Reflexniveau auslösbar, eignet sich dann jedoch hervorragend für den Seitenvergleich. Adduktorenreflex: Adduktion der Beine bei Schlag auf die Innenseite des Kniegelenks. Ein »Übersprechen« auf die kontralaterale Seite deutet auf ein Betroffensein »langer motorischer Bahnen« (Pyramidenbahnschädigung) hin.
Fußklonus: Hierbei handelt es sich um eine rhythmische Folge von Eigenreflexen der Wadenmuskulatur, ausgelöst durch ruckartige Dorsalbewegung des Fußes. Bei lebhaftem Reflexniveau ist die Zahl der Zuckungen bis zum Abklingen (»erschöpflicher« Fußklonus) hervorragend für den Seitenvergleich geeignet, ein »unerschöpflicher« Fußklonus ist so gut wie immer Zeichen einer Pyramidenbahnschädigung. Das wichtigste Beurteilungskriterium der Muskeleigenreflexe sind Seitenunterschiede, wobei asymmetrisch auslösbare Reflexe zunächst nichts darüber aussagen, ob diese auf einer Seite aufgrund einer peripheren Nervenläsion abgeschwächt oder auf der anderen Seite aufgrund einer Schädigung zentraler langer Bahnen (Pyramidenbahnläsion) pathologisch gesteigert sind. Einschätzungen sind daher nur im klinischen Gesamtkontext möglich. Zu beachten sind auch Unterschiede zwischen Arm- und Beineigenreflexen. Sind letztere wesentlich lebhafter auslösbar als die Reflexe an den Armen, kann dies auf eine Schädigung des thorakalen Rückenmarks hinwiesen. ! Klinische Bedeutung der Muskeleigenreflexe: Steigerung = Zentrale Läsion (Gehirn oder Rückenmark), Abschwächung = Periphere Läsion (Nervenwurzel oder peripherer Nerv).
Fremdreflexe Im Gegensatz zur monosynaptischen Auslösung der Muskeleigenreflexe ist der Reflexbogen hier polysynaptisch, d. h. ein taktiler Reiz führt – erschöpflich (!) – zu einer motorischen Antwort. Die wichtigsten Fremdreflexe sind: Bauchhautreflexe: Symmetrisch in allen Etagen nicht auslösbaren Bauchhautrreflexen (Segmente Th5– Th12) kommt keine Bedeutung zu. Einseitig nicht auslösbare Bauchhautreflexe sind jedoch ein sehr sensibles Zeichen für das Vorliegen einer zentralen Schädigung. Eine geklagte Hemihypästhesie bei gut auslösbaren, symmetrischen Bauchhautreflexen deutet auf eine psychogene Störung hin. Kremasterreflex: Beim Mann führt Bestreichen der Innenseite des Oberschenkels zur Hebung des gleichseitigen Hodens (M. cremaster). Analreflex: Bei angegebenen Mastdarmstörungen und (artefiziell?) vermindertem Analsphinktertonus schließt ein auslösbarer Analreflex eine relevante Kaudasymptomatik aus, ist allerdings nur inkonstant auslösbar. Babinski-Reflex: Definitionsgemäß immer pathologisch ist ein positiver Babinskireflex als Zeichen einer Pyramidenbahnschädigung. Bei fehlender Sensibilität der Fußsohle z. B. im Rahmen einer Polyneuropathie (»stumme Sohle«) kann dieser jedoch auch fehlen.
19
424
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
⊡ Tab. 19.3. Wichtigste Formen von Spontanbewegungen der Muskeln Begriff
Bewegungseffekt
Vorkommen
Fibrillieren
Zuckungen einzelner Muskelfasern, optisch nur an der Zunge sichtbar, ansonsten im EMG nachweisbar (»Spontanaktivität«)
Wie Faszikulieren
Faszikulieren
Sichtbare Zuckungen von wechselnden Muskelfaserbündeln (Faszikeln) ohne Bewegungseffekt
Bei Schädigung des peripheren motorischen Neurons, jedoch auch »benignes« Faszikulieren möglich
Myoklonien
Nichtrhythmische, blitzartige Kontraktionen von Muskeln mit Bewegungseffekt
Physiologisch als »Einschlafmyoklonien«, familiär, bei verschiedenen Hirnkrankheiten
Hyperkinese
Schnelle, unwillkürliche Bewegungen
Chorea, Medikamentenüberdosierung bei Parkinson, Neuroleptika
Athetose
Langsame, »wurmartige« Bewegungen
Schädigung der Basalganglien
19.2.3
Motorik
Bei der Prüfung der Motorik kommt der Beobachtung des Patienten herausragende Bedeutung zu. Die detaillierte Muskelprüfung dient oft lediglich der Quantifizierung der bereits festgestellten Befunde. Wesentliche Kriterien der Beobachtung sind: Muskelatrophien (z. B. isolierte Atrophie eines Muskels bei peripherer Nervenläsion, Inaktivitätsatrophie einer gesamten Gliedmaße bei Schonhaltung, »Storchenbeine« bei Polyneuropathie); Spontanbewegungen der Muskulatur: Hierbei sind die in ⊡ Tab. 19.3 genannten Formen zu unterscheiden; Stand- und Gangbild (z. B. hinkender Gang mit steif gehaltenem Bein bei psychogener Parese, demgegenüber zirkumduzierender »Wernicke-Mann-Gang« bei spastischer Parese); Bewegungsmuster (z. B. vermindertes Mitschwingen eines Armes beim Hemiparkinson, eng an den Körper angepresster Arm bei psychogener Parese, Vernachlässigung einer Seite bei Neglekt).
Zentrale motorische Störung
19
Zum Ausschluss bzw. zur Sicherung einer zentralen Parese gilt es vor allem komplexe muskelübergreifende Bewegungen zu untersuchen, während die detaillierte Prüfung einzelner Muskeln (⊡ Tab. 19.5) wenig Sinn macht. Die Angabe des Kraftgrades (⊡ Tab. 19.4) sollte sich demnach auch lediglich auf muskelübergreifende Funktionen beschränken (z. B. 0/5 Handfunktion). Die Untersuchung umfasst hauptsächlich folgende Punkte: Muskeltonus: Das Vorhandensein einer vor allem bei ruckartigen passiven Bewegungen auftretendenden spastischen Tonuserhöhung weist auf eine Schädigung der Pyramidenbahn hin, während ein »wächserner« Rigor Ausdruck einer extrapyramidalen Bewegungsstörung (z. B. Parkinson, Medikamenteneffekt) ist.
⊡ Tab. 19.4. Beurteilung des Kraftgrades bei radikulären und peripheren Nervenläsionen Kraftgrad
Ergebnis
0
Fehlende Muskelkontraktion
1
Eben sichtbare Muskelanspannung
2
Bewegung bei Ausschaltung der Schwerkraft
3
Bewegung gegen Schwerkraft
4
Aktive Anspannung gegen mäßigen Widerstand
5
Normale Kraftentfaltung
Vorhalteversuche: Eine Absinktendenz beim Armvorhalteversuch mit Pronation weist auf eine zentrale Parese hin. Fehlt die Pronation, ist an eine psychogene Parese zu denken. Bewegungskoordination: ( Abschn. 19.2.5).
Periphere motorische Störung Radikuläre und periphere Nervenläsionen führen zu umschriebenen schlaffen Paresen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen, der Kraftgrad der betroffenen Muskeln ist nach der international üblichen Skala (z. B. Armbeugung 3/5) zu bewerten (⊡ Tab. 19.4). Die Kennmuskeln bzw. Muskelfunktionen radikulärer und peripherer Nervenläsionen finden sich in ⊡ Tab. 19.5. Durch gezielte Selektion geeigneter Funktionsprüfungen lässt sich auf diese Weise schnell eine Untersuchung aller wichtigen Nervenwurzeln und peripheren Nerven durchführen.
19.2.4
Sensibilität
Unter klinischen Gesichtspunkten sind aufgrund der unterschiedlichen anatomischen Bahn 2 Arten der Sensibilität zu unterscheiden:
425 19.2 · Neurologische Untersuchung wacher Patienten
⊡ Tab. 19.5. Wichtigste Kennmuskeln und Reflexe zervikaler und lumbosakraler Nervenwurzeln und peripherer Nerven Zervikale Nervenwurzeln Segment
Kennfunktion
Reflex
C5
Abduktion in der Schulter
Deltoideusreflex, BSR
C6
Armbeugung im Ellbogen
BSR, RPR
C7
Armstreckung im Ellbogen
TSR
C8
Kleinfingerabduktion
Trömner-Reflex
schiedlichem Aufwand zur Verfügung (z. B. Berührungsempfindung mit einem Wattestäbchen, Lageempfindung in Gelenken, Erkennen von auf die Haut geschriebenen Zahlen, Vibrationsempfindung). Aufgrund der Möglichkeit zur Quantifizierung besitzt vor allem die Beurteilung der Vibrationsempfindung mit der skalierten Stimmgabel Bedeutung z. B. bei der Verlaufsbeobachtung diabetischer Polyneuropathien. Die Untersuchung unterliegt jedoch der Kooperation des Untersuchten, was zu berücksichtigen ist. Temperatur- und Schmerzempfindung. Temperatur- und
Periphere Armnerven Nerv
Kennfunktion
Reflex
N. axillaris
Abduktion in der Schulter
Deltoideusreflex
N. musculocutaneus
Armbeugung (supiniert)
BSR
N. medianus
Daumenopposition
–
N. radialis
Daumenstreckung
RPR
N. ulnaris
Kleinfingerabduktion
–
Lumbosakrale Nervenwurzeln Segment
Kennfunktion
Reflex
L2
Hüftbeugung
Kremasterreflex
L3
Hüftadduktion, (Kniestreckung)
PSR
L4
Fußhebung
PSR
L5
Großzehenhebung, Hüftabduktion
Tibialis-posteriorReflex
S1
Fußsenkung
ASR
S2–5
Analsphinkter
Analreflex
Schmerzempfindung mit Kreuzung zur Gegenseite bereits auf der entsprechenden Rückenmarksebene und Verlauf über die kontralateralen Tractus spinothalamici. Für eine orientierende Temperaturprüfung im Seitenvergleich bzw. zum Vergleich verschiedener Körperteile genügt die Verwendung eines hinreichend kalten Metallteils (z. B. Reflexhammer) oder einer Mineralwasserflasche. Detaillierte Prüfungen erfordern z. B. Reagenzgläser mit unterschiedlich temperiertem Wasser. Die Schmerzempfindung kann unschwer mit einer Nadel geprüft werden, wobei sich die »Spitz-stumpf-Empfindung« gleichermaßen wie das oben genannten Zahlenschreiben für eine »Forced Choice«-Untersuchung zur Erkennung psychogener Sensibilitätsstörungen eignet (s. Übersicht unter Abschn. 19.4). Beim wachen, kooperativen Patienten kann die Untersuchung sehr reduziert durchgeführt werden, da umschriebene Sensibilitätsstörungen letztlich vom Betroffenen besser als bei jeder Untersuchung bemerkt werden. Lediglich sich langsam entwickelnde Störungen der Tiefensensiblität (z. B. bei Polyneuropathie) entgehen der Beobachtung und müssen zusätzlich erfragt werden (Unsicherheit beim Gehen im Dunkeln und/oder auf unebenem Boden). Gleiches gilt für – bei Syringomyelien häufig bereits seit Kindheit bestehenden – Störungen der Schmerz- und Temperaturempfindung, die dann meist jedoch mit Verbrennungsnarben und sonstigen Verletzungsfolgen einhergehen.
Periphere Beinnerven Nerv
Kennfunktion
Reflex
N. femoralis
Kniestreckung
PSR
N. peroneus
Fußhebung
–
N. tibialis
Fußsenkung
ASR
N. obturatorius
Hüftadduktion
Adduktorenreflex
Oberflächen- und Tiefensensibilität. Oberflächen- und Tiefensensibilität mit ipsilateralem Verlauf über die Hinterstänge nach kranial bis zum Hirnstamm (erst dort erfolgt die Kreuzung zur Gegenseite). Für die Prüfung steht ein beachtliches Arsenal an Möglichkeiten mit unter-
19.2.5
Bewegungskoordination
Koordination ist die Zusammenfassung von einzelnen Innervationen zu geordneten, fein dosierten oder zielgerichteten Bewegungen. Die Untersuchung umfasst im Wesentlichen folgende Elemente: Beobachtung eines vorhandenen Tremors (⊡ Tab. 19.6); Zeigeversuche mit Finger-Nase- und Knie-HackenVersuch. Konstantes Vorbeizeigen deutet auf eine psychogenes Geschehen hin; Prüfung der Feinmotorik vor allem durch Beobachtung des Auf- und Zuknöpfens der Kleidung;
19
426
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
⊡ Tab. 19.6. Wichtigste Tremorformen
⊡ Tab. 19.7. Orientierende Einteilung von Sprach- und Sprechstörungen
Tremor
Symptomatik
Ursache Störung
Leitsymptome
Expressive Sprachstörung
Wortfindungsstörungen, Wortverwechslungen (Paraphasien), Beschränkung auf Einfachsätze (Agrammatismus), gestörter Sprachfluss
Essenzieller (familiärer) Tremor
Rezeptive Sprachstörung
Gestörtes Sprachverständnis, Entwicklung einer »Privatsprache« mit Wortneubildungen (Neologismen) bei ungestörtem Sprachfluss
Zitterbewegungen kurz vor Erreichen eines Ziels (z. B. Finger-Nase-Versuch)
Zerebelläre Schädigung
Artikulationsstörung
Verwaschene, unartikulierte Sprache bei erhaltener Wortwahl
Gemischter Tremor
Nicht an bestimmte Aktionen gebundener Tremor
Alkoholentzugstremor
Flattertremor (flapping tremor)
Langsamer (1–3/s), meist grobschlägiger Tremor (»Flügelschlagen«)
Hepatische oder urämische Enzephalopathie
Ruhetremor
Vor allem in Ruhe bestehender Antagonistentremor (»Pillendrehertremor«) mit Verstärkung bei Emotionen
ParkinsonSyndrom
Haltetremor
Zittern beim Halten von Gegenständen, jedoch auch Kopf(Halte)tremor, Besserung unter Alkohol
Intentionstremor
Prüfung der Diadochokinese, d. h. der Fähigkeit zu rasch aufeinander folgenden Bewegungen, durch z. B. »Klavierspielen« oder »Einschrauben einer Glühbirne«; Stand- und Gangprüfungen wurden bereits bei der Prüfung des Gleichgewichts beschrieben.
19.2.6
19
Sprache
Bei Vorliegen von Auffälligkeiten des Sprachverständnisses und/oder der Sprache gilt es, diese – soweit allein aufgrund der Exploration ohne entsprechende Sprachtests möglich – charakteristischen pathologischen Mustern zuzuordnen. Sprachstörungen (Aphasien) werden im deutschen Sprachraum üblicherweise in 4 Haupttypen (amnestische Aphasie, Broca-Aphasie, Wernicke-Aphasie, globale Aphasie) eingeteilt. Aufgrund der häufig bestehenden Überschneidungen erscheint es in der klinischen Praxis sinnvoller, lediglich die ICD-10-Unterteilung zu verwenden, die in (eher) expressive oder rezeptive Sprachstörungen unterscheidet (⊡ Tab. 19.7). Zusätzlich gilt es, Sprachstörungen von Sprechstörungen (Dysarthrie, Dysarthrophonie, Artikulationsstörung) aufgrund einer Koordinationsstörung der Sprechmuskulatur abzugrenzen. Es versteht sich von selbst, dass Mischformen jeder Art bis hin zur oben genannten »globalen« Aphasie auftreten können.
19.3
Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten
Bei der Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten mit entsprechend fehlender Kooperation sind die meisten der in Abschn. 19.2 genannten Untersuchungstechniken nicht einsetzbar. Zusätzlich handelt es sich regelmäßig um Notfallsituationen, bei denen weniger die Vollständigkeit der Untersuchung als das schnelle Ziehen diagnostischer und/oder therapeutischer Konsequenzen im Vordergrund steht. Die Notfalluntersuchung beinhaltet daher einige wenige, für die weitere Versorgung jedoch entscheidende diagnostische Maßnahmen (⊡ Tab. 19.8). Vom Rettungsdienst gebrachte Patienten bringen regelmäßig ein Notarztprotokoll mit, auf dem neben Angaben zur kardiopulmonalen Situation beim Erstkontakt auch eine Einschätzung nach der Glasgow Coma Scale
⊡ Tab. 19.8. Notfalluntersuchung bewusstseinsgestörter Patienten Fremdanamnese
Notarzt, Notarztprotokoll, Angehörige Einnahme von Medikamenten
Beobachtung
Verletzungszeichen, Hautturgor und -farbe, kardiopulmonale Parameter, Einstichstellen, Atemgeruch
Tiefe der Bewusstseinsstörung
Reaktion auf Ansprache und Schmerzreize
Neurologische Untersuchung
Nackensteifigkeit Hirnstammfunktionen Beurteilung motorischer Funktionen Reflexstatus
Notfall-Labor
Elektrolyte, Blutzucker, Kreatinin, GPT, CK, kleines Blutbild, Gerinnung, ggf. Blutgase
19
427 19.3 · Untersuchung bewusstseinsgestörter PAtienten
vorliegt (⊡ Tab. 19.9), so dass sich hieraus erste diagnostische Schlüsse ziehen lassen. Wesentliche Bedeutung kommt auch Angaben zur Einnahme von Medikamenten aufgrund der Notarztbeobachtung bzw. der Rückfrage bei Angehörigen zu. Die körperliche Notfalluntersuchung umfasst neben einer eingehenden Inspektion eine Einschätzung der Tiefe der Bewusstseinsstörung (⊡ Tab. 19.10) sowie eine auf wenige Parameter beschränkte neurologische Untersuchung.
⊡ Tab. 19.9. Glasgow Coma Scale (GCS) zur Beurteilung bewusstseinsgestörter Patienten Untersuchungsparameter Augenöffnen
Verbale Reaktion
Motorische Reaktion
Reaktion
Punkte
Spontan
4
Nach Aufforderung
3
Auf Schmerzreize
2
Kein Augenöffnen
1
Orientiert
5
Verwirrt
4
Inadäquat
3
! Die Untersuchung auf einen bestehenden Meningismus gehört bei geklagten Kopfschmerzen und/oder bewusstseinsgetrübten Patienten zu den zwingend zu erhebenden und dokumentierenden Befunden.
2
Hirnstammfunktionen
Keine verbale Reaktion
1
Kommt Aufforderungen angemessen nach
6
Wesentliche Bedeutung kommt der Untersuchung der sog. Hirnstammreflexe zu, die unabhängig von der Kooperation des Patienten zu untersuchen sind und Aufschlüsse über die Lokalisation und Ausdehnung einer Hirnstammschädigung geben (⊡ Tab. 19.11). Neben den bereits in Abschn. 19.1 beschriebenen Funktionen gehört hierzu auch die Prüfung des okulozephalen Reflexes. Dieser wird durch schnelles Drehen oder Kippen des Kopfes geprüft. Beim wachen, jedoch auch beim hirntoten Patienten bleiben die Augen während dieses Tests ohne Reaktion in ihrer Ausgangsstellung. Bei komatösen, nicht hirntoten Patienten kommt es demgegenüber zu einer langsamen Gegenbewegung der Augen. Hieraus resultiert der Name des »Puppenkopfphänomens«.
Nur halbseitig
5
Normale Beugung z. B. auf Schmerzreize
4
Abnorme Beugungsbewegung
3
Strecken
2
Keine Reaktion
1
(quantitativen) Bewusstseinsstörungen Begriff
Leitsymptome
Somnolenz
Schläfrigkeit, jedoch Weckbarkeit auf Anrufe und/oder leichte Schmerzreize
Sopor
Tiefschlafähnlicher Zustand, der durch erhebliche Außenreize kurz unterbrochen werden kann
Koma Grad II
Die Beurteilung eines Meningismus als Leitsymptom einer akut entzündlichen Hirnerkrankung oder einer Subarachnoidalblutung gehört zu den unverzichtbaren Bestandteilen der Untersuchung bei bewusstseinsgetrübten Patienten und/oder bei akutem Kopfschmerz, und auch das Nicht-Vorliegen eines solchen sollte aus forensischen Gründen zwingend dokumentiert werden. Differenzialdiagnostische Probleme ergeben sich in 2 Situationen: 1. Bei komatösen Patienten kann trotz Vorliegen einer meningealen Reizung die reflektorische Muskelverkrampfung nicht mehr nachweisbar sein, so dass in diesem Fall keine Aussage möglich ist. 2. Bei schmerzhafter Blockierung der Halswirbelsäule kann ein »Pseudo-Meningismus« bestehen. Die schmerzhafte Muskelanspannung zeigt sich jedoch typischerweise dann nicht nur bei der Nackenbeugung, sondern auch bei Rotation des Kopfes.
Unverständlich
⊡ Tab. 19.10. Neurologische Einschätzung der Tiefe von
Koma Grad I
Nackensteife
Auf Schmerzreize konstant gezielte Abwehrbewegungen Auf Schmerzreize konstant ungezielte Abwehrbewegungen
⊡ Tab. 19.11. Prüfung der Hirnstammreflexe bei Bewusstlosen Hirnstammreflex
Hirnnerv
Pupillenweite und -reaktion
II, III
Okulozephaler Reflex (»Puppenkopfphänomen«)
III–VIII
Kornealreflex
V, VII
Koma Grad III
Auf Schmerzreize inkonstant Bewegungen, vor allem Beuge- und Strecksynergismen
Reaktion auf Schmerzreize im Trigeminusbereich
V
Koma Grad IV
Keine Reaktion auf Schmerzreize
Trachealreflex (Würgreiz)
IX, X
428
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
⊡ Tab. 19.12. Synopsis der Symptomatik bei der Entwicklung von Hirnstammsyndromen Mittelhirnsyndrom 1
Bulbärhirnsyndrom 2
3
4
1
2
Komatiefe
Somnolent
Soporös
Koma
Koma
Koma
Koma
Spontanmotorik
+
(+)
–
–
–
–
Schmerzreize
+
+
Streckung
Beugung
–
Babinski
–
+
+
+
(+)
–
Pupillenweite
Eng
Mittelweit
Weit
Lichtreaktion
+
+
(+)
(+)
–
–
Bulbusstellung
Konvergenz
Divergenz
Divergenz
Divergenz
–
–
Bulbusbewegungen
Schwimmend
–
–
–
–
–
Okulozephaler Reflex
–
+
+
–
–
–
Kornealreflex
+
+
+
(+)
(+)
–
Trachealreflex
+
+
+
+
(+)
–
Atmung
Cheyne-Stokes
Schnappatmung
–
–
–
–
+ = vorhanden; (+) = eingeschränkt bzw. fraglich; – = fehlend
Beurteilung motorischer Funktionen Bei bewusstseinsgestörten, jedoch nicht tief komatösen Patienten kommt es bei Setzen von Schmerzreizen zu motorischen Reaktionen, die indirekt Aufschluss über bestehende Paresen geben. Ausnahmen sind hier die – an ihrem uniform reproduzierbaren Auftreten erkennbaren – Beuge- und Streckbewegungen der Arme und/oder Beine auf Schmerzreize (»Synergismen«), die Folge einer spinalen Enthemmung sind und typisches Merkmal tiefer Mittelhirnsyndrome sind (⊡ Tab. 19.12).
Reflexstatus Insbesondere in der Erkennung von Halbseitensymptomen kommt auch der Prüfung der Eigen- und Fremdreflexe wesentliche Bedeutung zu. Das Auftreten eines beidseitigen Babinski-Reflexes spricht beim bewusstseinsgestörten Patienten für eine generalisierte Hirnstammläsion z. B. im Rahmen einer Basilaristhrombose, beim wachen Patienten für eine Rückenmarkläsion. Ein einseitiger Babinski-Reflex lässt demgegenüber an eine umschriebene Hirnläsion denken.
Atmung
19
Selbstverständlicher Bestandteil der Untersuchung bewusstseinsgestörter Patienten ist die Beurteilung der Atmung einschließlich einer Blutgasanalyse bzw. zumindest einer Bestimmung der Sauerstoffsättigung des Bluts. Das Auftreten insuffizienter Atmungsformen (⊡ Tab. 19.12) erfordert ggf. eine kontrollierte Beatmung.
19.4
Erkennen psychogener neurologischer Ausfälle
Psychogene neurologische Symptome sind bemerkenswert häufig, und es gibt so gut wie kein neurologisches Beschwerdebild, das nicht auch psychogen verursacht sein kann. Die Differenzierung psychogener von körperlich begründbaren neurologischen Ausfällen stellt für den Untersucher stets eine erhebliche Herausforderung dar. Die Angst vor dem Übersehen einer »echten« Schädigung des zentralen oder peripheren Nervensystems führt häufig zu umfangreichen Abklärungen, die dissoziative Störungen weiter »zementieren« und eine erfolgreiche Behandlung erschweren können. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, die wichtigsten differenzialdiagnostischen Kriterien zu kennen, um möglichst frühzeitig eine entsprechende Verdachtsdiagnose stellen zu können. Charakteristische Befunde bei allen Formen psychogener neurologischer Ausfälle sind: Widerspruch zwischen geltend gemachten Symptomen und objektiven Untersuchungsbefunden, fehlende Übereinstimmung mit den bekannten anatomischen Bahnen und physiologischen Mechanismen aufgrund der laienhaften Vorstellungen des Patienten von einer körperlichen Erkrankung, auffällige Gleichgültigkeit gegenüber der Störung im Sinne einer »belle indifférence« (allerdings nur bei einem Teil der Betroffenen). Darüber hinaus zeigt die nachfolgende Übersicht eine Synopsis der für die Differenzialdiagnose wichtigsten Befunde bei klinisch häufigen dissoziativen Symptomkonstellationen.
429 19.5 · »Red flags« der neurologischen Untersuchung
Charakteristische Befunde bei psychogenen neurologischen Symptomen Psychogene Bewusstseinsstörungen Normale Atmungs- und Kreislaufparameter Regelmäßige Schluckbewegungen am Kehlkopf
Aktiver Widerstand beim passiven Öffnen der Augenlider
Fehlender okulozephaler Reflex (⊡ Tab. 19.11)
Normales EEG
Psychogene Anfälle Regellose, ausfahrende »Krampfbewegungen«
Keine weite lichtstarre Pupille oder Blickdeviation
Erhaltener Kornealreflex (Blinzelreflex) Fehlen von Blutdruckspitzen oder Zyanose Zungenbiss sehr selten, dann jedoch eher multipel oder an der Zungenspitze
Einnässen und Einkoten nur sehr selten Normales EEG während und kurze Zeit nach dem Anfall
Normaler Prolaktinspiegel im Blutserum 15–30 min nach dem Anfall
Zeitlicher Zusammenhang zwischen den Anfällen und belastenden Situationen
Psychogene Sehstörungen Häufig Verlust der Sehschärfe, Abnahme der Tiefenschärfe, Verschwommen- oder »Tunnelsehen«, selten komplette Blindheit Beim »Tunnelsehen« fehlende Gesichtsfeldzunahme bei größerer Entfernung Häufig gute Orientierung im Raum trotz geklagter Sehstörung Erhaltene Pupillomotorik Erhaltener optokinetischer Nystagmus (Fixieren eines Objektes im bewegten Gesichtsfeld) Unauffällige visuell evozierte Potenziale (ggf. Halb- und Viertelfeldreizung) Psychogene Lähmungen Unauffällige Muskeleigenreflexe, fehlende Pyramidenbahnzeichen Unauffälliger Muskeltonus
19.5
»Red flags« der neurologischen Untersuchung
Neben den einzelnen Untersuchungsbefunden sollten jedem Psychiater auch die kritischen Befundkonstellationen (»red flags«) geläufig sein, die unverzüglich (!)
Fehlen von Muskelatrophien (bei längerem Bestehen bedeutsam)
Bei inkompletten Lähmungen sakkadierter Einsatz der Muskelkraft
Übertrieben wirkende Kraftanstrengungen bei Muskelprüfungen
Aufgehobene Lähmungen im Schlaf und bei Routinetätigkeiten Nach Halten und anschließendem plötzlichen Loslassen fällt die Extremität beim liegenden Patienten nicht den Erwartungen der Schwerkraft entsprechend (z. B. auf das Gesicht) und auch nicht sofort herab Bei Ablenkung synergistische Mitinnervation angeblich gelähmter Muskeln Gleichzeitige Aktivierung agonistischer und antagonistischer Muskelgruppen Unauffällige magnetisch evozierte Potenziale (beweisend) Psychogene Sensibilitätsstörungen Abgrenzung der Sensibilitätsstörung entspricht nicht dem Muster einer radikulären oder peripheren Nervenläsion (meist handschuh- bzw. strumpfförmig, den Begrenzungen von Kleidungsstücken entsprechend) Bei halbseitigen Sensibilitätsstörungen strenge Mittellinienbegrenzung Adäquates Betasten von Gegenständen trotz angegebener völliger Gefühllosigkeit Vermehrt Fehlantworten bei schnell wechselnden »Forced-choice-Prüfungen« (z. B. regelmäßig spitz als stumpf und stumpf als »gar nichts gespürt« angegeben) Unauffällige somatosensibel evozierte Potenziale (beweisend bei guter Reproduzierbarkeit) Psychogene Gleichgewichtsstörungen Häufig wild gestikulierende Ausgleichsbewegungen So gut wie keine Stürze mit Verletzungen Unsicherheit beim Stehen mit geschlossenen Augen verschwindet bei Ablenkung (z. B. gleichzeitig durchgeführte Zeigeversuche)
Anlass zu weiteren diagnostischen Maßnahmen und/oder zur Heranziehung eines Fachneurologen geben sollten, da in diesen Fällen durch schuldhaftes Zögern möglicherweise deletäre Folgen entstehen können. Die wichtigsten dieser Befundkonstellationen finden sich in ⊡ Tab. 19.13.
19
430
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
⊡ Tab. 19.13. Kritische Befundkonstellationen (»red flags«) mit der Erfordernis unverzüglicher diagnostischer und/oder therapeutischer Maßnahmen Symptomkonstellation
Verdachtsdiagnose
Mögliche Konsequenzen
Akute Bewusstseinsstörung Mit Ateminsuffizienz
Variable Ursachen
Maschinelle Beatmung
Mit beidseits positivem Babinski-Reflex
Basilaristhrombose
Lysetherapie
Mit anhaltenden motorischen Entäußerungen (ggf. auch nur Nesteln oder Schmatzen)
(Komplex-fokaler) Anfallsstatus
Antiepileptika, ggf. Narkose
Mit Meningismus
Meningitis/Subarachnoidalblutung
Antibiotikatherapie/Aneurysmaausschaltung
Mit Krampfanfall
Sinusvenenthrombose
Antikoagulation
Mit Entzündungszeichen und/oder Meningismus
Herpesenzephalitis
Virustatika
Mit Störung der Okulomotorik und/oder Sehstörungen
Basilaristhrombose (Basilarisspitzensyndrom)
Lysetherapie
Akute Halbseitenlähmung
Hirninfarkt/-blutung
Lysetherapie nach Ausschluss einer Hirnblutung/operative Entlastung
Umschriebener Rückenschmerz mit erhöhtem CRP im Labor
Abszess im Bereich der Wirbelsäule
Antibiotikatherapie/operative Entlastung
Aufsteigende Beinschwäche mit Verlust der Muskeleigenreflexe
Polyradikulitis
Maschinelle Ventilation bei Ateminsuffizienz/Immunglobuline
Akute Blasen-/Mastdarmstörung
Rückenmarks-/Kaudaläsion
Operative Entlastung
Akuter Kopfschmerz
Psychotische Symptome
Sonstige Symptome
19.6
Bildgebende Diagnostik
Die Kernspintomografie (MRT) einschließlich der damit verbundenen Gefäßdiagnostik (MRA) ist heute Methode der Wahl zur Erkennung bzw. zum Ausschluss der meisten neurologischen Störungen. Die (native) Computertomografie (CT) ist dem gegenüber nurmehr bei bestimmten Indikationen sowie in Notfallsituationen von
Bedeutung (nachfolgende Übersicht). Röntgen-Kontrastmitteluntersuchungen (digitale Subtraktionsangiografie, Myelografie, Kontrastmittel-CT) spielen in der Routinediagnostik kaum mehr eine Rolle und sollten aufgrund der möglichen Gefährdung des Patienten nur nach strenger Indikationsstellung eingesetzt werden, wenn andere Methoden nicht einsetzbar sind. Zu Details Kap. 25.
Wichtigste Indikationen zur Durchführung von CT-Untersuchungen von Kopf und Wirbelsäule Notfalldiagnostik Untersuchungen bei unruhigen Patienten Beurteilung knöcherner Strukturen (z. B. Schädelknochen, kraniozervikaler Übergang, Wirbelsäule) Generelle MRT-Kontraindikation [Herzschrittmacher, ferromagnetische Teile im Körper; nichtmagnetische Metalle (z. B. Aneurysma-Clips) stellen keine Kontra-
19
indikation dar, können jedoch aufgrund von Artefakten ggf. die Beurteilung unmöglich machen] Beantwortung spezieller Fragen (z. B. äußere und innere Liquorräume, Atrophiezeichen) Kontrastmitteldarstellung des Spinalraums (»MyeloCT«)
431 19.8 · Ultraschalldiagnostik
19.7
Elektrophysiologische Diagnostik
Die verschiedenen Methoden der elektrophysiologischen Diagnostisk (⊡ Tab. 19.14) ermöglichen insbesondere bei klinisch unklarer Symptomatik eine umfassende Beurteilung der Funktion des zentralen und peripheren Nervensystems. Zu Details der Elektroenzephalografie Kap. 24.
19.8
Ultraschalldiagnostik
19.8.1
Neurovaskuläre Ultraschalldiagnostik
Die Ultraschalldiagnostik in Form der extra- und transkraniellen Duplexsonografie hat mit den heute zur Verfügung stehenden Geräten ein hohes diagnostisches Niveau erreicht. Insbesondere in Ergänzung zur Magnetresonanzangiografie (MRA) ist damit eine zuverlässige Er-
⊡ Tab. 19.14. Methoden der elektrophysiologischen Diagnostik mit ihren wichtigsten Beurteilungskriterien und Problemen Elektroenzephalografie (EEG) Ziel
Erkennung und Differenzierung zerebraler Krampfanfälle, diffuser Hirnfunktionsstörungen sowie Schlafstörungen, Einsatz in der sog. »Hirntoddiagnostik«
Technik
Ableitung der Hirnpotenziale mit Oberflächen-, im Einzelfall auch Nadelelektroden
Kriterien
Allgemeinveränderung (Verlangsamung des Grundrhythmus) Epilepsietypische Potenziale (z. B. Spike-wave-Komplexe) Herdbefund (angesichts bildgebender Befunde heute ohne Bedeutung)
Probleme
Artefakte bei unruhigen, stark schwitzenden und adipösen Patienten
Elektromyografie (EMG) Ziel
Erkennung und Differenzierung von Neuro- und Myopathien
Technik
Ableitung typischer Kennmuskeln mit Nadelelektroden
Kriterien
Willküraktivität: Polyphasische, verbreiterte Potenziale als Hinweis auf eine ältere neurogene Schädigung (hohe Amplituden) oder auch Myopathie (niedrige Amplituden) Spontanaktivität: Fibrillationen und positive scharfe Wellen als Hinweis für eine frische neurogene Schädigung
Probleme
Nach akuter Nervenschädigung EMG erst nach ca. 14 Tagen »positiv«
Elektroneurografie Ziel
Prüfung der Intaktheit der peripheren motorischen und sensiblen Nervenleitung
Technik
Elektrische Reizung von Nerven und Ableitung der motorischen bzw. sensiblen Antwort vom Muskel bzw. Nerv
Kriterien
Distale Latenz: verlängert vor allem bei distalen Engpasssyndromen (z. B. Karpaltunnelsyndrom) Nervenleitgeschwindigkeit: verlangsamt bei demyelinisierenden Nervenschäden Amplitude des Antwortpotenzials: vermindert bei axonalen Nervenschäden F-Welle: Prüfung der proximalen motorischen Strecke bis zum Rückenmark
Probleme
Selten Ableiteprobleme bei ausgeprägter Adipositas und/oder Ödemen
Visuell/akustisch/somatosensibel evozierte Potenziale (VEP, AEP, SEP) Ziel
Prüfung der Intaktheit von Nervenbahnen bis zum Kortex
Technik
Visuelle, akustische oder sensible Reizung und Ableitung kortikaler (bei SEP auch spinaler) Antwortpotenziale
Kriterien
Latenz zwischen Reiz und Antwort als Kriterium für Intaktheit der sensiblen Nervenbahn, zusätzliche Hinweise anhand der Amplituden (Normwerte, Seitenvergleich)
Probleme
Relativ störempfindlich und abhängig von der Kooperation des Patienten
Magnetisch evozierte Potenziale (MEP) Ziel
Prüfung der Intaktheit der zentralen und peripheren motorischen Bahn, nur minimal abhängig von der Kooperation des Patienten
Technik
Gezielte Magnetstimulation des Kortex bzw. spinal und Ableitung der betreffenden Muskelkontraktion
Kriterien
Latenz zwischen Reiz und Antwort sowie Amplitude als Kriterium für Intaktheit der motorischen Nervenbahn (Normwerte, Seitenvergleich)
Probleme
Nicht einsetzbar bei Herzschrittmacher und ferromagnetischen Gegenständen in der Nähe der Stimulation
19
432
Kapitel 19 · Allgemeinmedizinische und neurologische Befunderhebung
kennung und Bewertung von Stenosen und Verschlüssen der extra- und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien möglich. Die »einfache« Dopplersonografie mit der Stiftsonde besitzt demgegenüber nur noch bei einigen weni-
gen klar definierten Fragestellungen Bedeutung. Die nachfolgende Übersicht nennt die wichtigsten Indikationen zur Durchführung neurovaskulärer Ultraschalluntersuchungen.
Wichtigste Indikationen zur Ultraschalldiagnostik an den hirnversorgenden Arterien Extrakranielle Dopplersonografie Erkennung und Verlaufsbeobachtung hochgradiger Stenosen der extrakraniellen A. carotis Erkennung eines Subclavian-Steal-Effekts bei größeren Blutdruckdifferenzen an den Armen Extrakranielle Duplexsonografie Erkennung und Abklärung therapeutischer Konsequenzen bei Karotisstenosen und -verschlüssen Beurteilung von Durchblutungsstörungen im vertebrobasilären System Abklärung pulsierender Halstumoren
19.8.2
Hirnparenchymsonografie
Eine relativ junge sonografische Methode, die jedoch auch für den Psychiater von Bedeutung sein könnte, stellt die Darstellung von Hirnstrukturen, insbesondere des Mittelhirns, dar. Nach aktuellem Kenntnisstand sind dabei 2 therapierelevante Aussagen möglich: 1. Beim idiopathischen Parkinson-Syndrom zeigt sich eine vermehrte Echogenität im Bereich der Substantia nigra, die sich bei anderen extrapyramidalen Erkrankungen mit Ausnahme der kortikobasalen Degeneration nicht findet. 2. Die Echogenität der Hirnstamm-Raphe scheint ein Prädiktor für den Therapieerfolg mit Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) bei depressiven Störungen zu sein.
19.8.3
19
Nervensonografie
Bislang nur relativ wenig verbreitet ist die sonografische Diagnostik von Nervenläsionen. Mit Hilfe hochfrequenter Sonden (10–13 MHz) lassen sich die wichtigsten peripheren Nerven sonografisch darstellen und in ihrem Verlauf verfolgen. Insbesondere das Karpaltunnel- und das Sulcus-ulnaris-Syndrom als häufigste Engpasssyndrome können auf diese Weise zuverlässig diagnostiziert werden, da die typische Einschnürung des Nerven und der Verlust der faszikulären Struktur bildlich darstellbar ist.
Transkranielle Dopplersonografie (TCD) Ausschluss intrakranieller Gefäßsstenosen Beurteilung der zerebrovaskulären Reservekapazität bei Karotisverschlüssen
Nachweis eines kardialen Rechts-Links-Shunts (offenes Foramen ovale)
Erkennen und Verlaufsbeobachtung von Vasospasmen
Erkennen des zerebralen Kreislaufstillstands
Transkranielle Duplexsonografie – wie TCD,
zusätzlich Erkennung und Verlaufsbeobachtung intrakranieller Gefäßverschlüsse und -stenosen Gefäßdiagnostik beim akuten Schlaganfall
19.9
Liquordiagnostik
Die wichtigsten Indikationen zur Durchführung einer Liquordiagnostik finden sich in nachfolgender Übersicht. Voraussetzungen für die Durchführung von Liquorpunktionen sind: Ausschluss eines wesentlichen Hirndrucks im CT oder MRT (die ophthalmoskopische Untersuchung auf das Vorliegen einer Stauungspapille ist heute als obsolet anzusehen), Ausschluss einer relevanten Gerinnungsstörung (Thrombozyten <50.000/μl, Quick <50%) Die wichtigsten Parameter der Liquordiagnostik sind in ⊡ Tab. 19.15 zusammengefasst. Zu weiteren Details Kap. 23.
Wichtigste Indikationen zur Liquordiagnostik Bei Verdacht auf: Akut entzündlichen ZNS-Prozess (z. B. Meningitis, Enzephalitis, Abszess) Chronisch entzündlichen ZNS-Prozess (z. B. multiple Sklerose, Neuroborreliose) Neoplastischen ZNS-Prozess (z. B. Meningeosis carcinomatosa, Lymphom) Polyradikulitis (hohes Eiweiß bei allenfalls leicht erhöhter Zellzahl) Subarachnoidalblutung (»xanthochromer Liquor«)
433 Literatur
⊡ Tab. 19.15. Wichtigste Parameter der Liquordiagnostik und deren Bedeutung Basisparameter
Normwerte
Bedeutung
Zellzahl
<5/μl
Erhöht bei entzündlichen ZNS-Prozessen
Zelldifferenzierung
überwiegend Lymphozyten
Erhöhter Anteil an Granulozyten bei bakteriellen ZNSErkrankungen (Ausnahme Tuberkulose)
Gesamteiweiß
<50 mg/dl
Erhöht bei Störungen der Blut-Liquor-Schranke, jedoch auch bei Störungen der Liquorzirkulation, bei intrathekaler Proteinsynthese, Blutung in die Liquorräume oder artefiziellen Blutbeimengungen. Ggf. weitere Differenzierung erforderlich
Laktat bzw. Glukose
Laktat <2,1 mmol/l bzw. Liquorglukose ≥50% der Serumglukose
Ergänzungsparameter bei erhöhter Zellzahl zur Differenzierung bakterieller und viraler entzündlicher ZNSProzesse
Erweiterte Diagnostik
Bedeutung
Immunglobuline (IgM/IgG/IgA)
Liquor-Serum-Quotient zum Nachweis einer intrathekalen Immunglobulinsynthese
Oligoklonale Banden
Empfindlicher Nachweis einer intrathekalen IgG-Synthese (vor allem bei multipler Sklerose)
Liquorzytologie
Erkennung maligner Zellen
Erregerspezifische Antikörper
Vergleich IgM/IgG-Antikörper im Liquor und Serum zur Charakterisierung akuter und chronischer Entzündungen
Erregerspezifische Proteine
Nachweis akuter Entzündungen mittels PCR
Hirneigne Proteine
z. B. Nachweis von Protein 14-3-3 in der Diagnostik der Creutzfeld-Jakob-Krankheit
Tumormarker
Diagnostik maligner Prozesse
Literatur Berlit P (Hrsg) Klinische Neurologie, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Dahmer J (2006) Anamnese und Befund: Die ärztliche Untersuchung als Grundlage klinischer Diagnostik. 10. Aufl. Thieme, Stuttgart Grüne S, Schölmerich J (Hrsg) (2007) Anamnese – Untersuchung – Diagnostik. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo Hufschmidt A, Lücking CH (Hrsg) (2006) Neurologie compact. Für Klinik und Praxis. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart Kornhuber ME, Hierz S (Hrsg) (2005) Die neurologische Untersuchung. Steinkopff, Darmstadt Poeck K, Hacke W (2006) Neurologie. 12. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokyo
19
20 20
Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung H. Saß, P. Hoff
20.1
Einführung
20.2 20.2.1 20.2.2
Theoretischer Hintergrund – 437 Zur Definition von Deskription – 437 Jede Deskription geht von einem psychopathologischen Grundverständnis aus: Drei prägnante Beispiele – 438
20.3
Wegbereiter der aktuellen deskriptiven Psychopathologie – 440 Karl Jaspers – 440 Kurt Schneider – 441
20.3.1 20.3.2 20.4 20.4.1
– 437
Deskriptive Erfassung des psychopathologischen Befundes Erscheinungsbild und Art der Kontaktaufnahme – 442
– 442
20.4.2 20.4.3 20.4.4 20.4.5 20.4.6 20.4.7 20.4.8 20.4.9 20.4.10 20.4.11 20.4.12 20.4.13
Psychomotorik – 442 Bewusstsein und Orientierung – 443 Aufmerksamkeit und Gedächtnis – 444 Denken und Sprechen – 445 Befürchtungen und Zwänge – 446 Wahn – 446 Sinnestäuschungen – 447 Ich-Störungen – 448 Affektivität – 448 Antrieb, Intentionalität, Wille – 450 Persönlichkeitsmerkmale – 450 Weitere Symptome und Symptombereiche – 451 Literatur – 453
> > Deskriptive psychopathologische Befunderhebung – dieser Begriff meint zum einen ein methodenkritisches Vorgehen bei weitgehender Vermeidung impliziter theoretischer Vorannahmen und stellt insoweit eine wesentliche Grundlage für jede sorgfältige psychiatrische Diagnostik dar. Zum anderen aber stößt er seinerseits an methodische und konzeptionelle Grenzen, an die es zu denken gilt, um bei der Untersuchung und Beschreibung der abnormen seelischen Phänomene keine Vorurteile und unzulässigen Verkürzungen wirksam werden zu lassen. Der Begriff der deskriptiven Psychopathologie ist viel älter als die heute gebräuchlichen Diagnosesysteme, doch heben diese ganz wesentlich auf den von ihnen praktizierten deskriptiven Zugangsweg ab. Freilich sind operationale Diagnostik und deskriptive Psychopathologie keineswegs deckungsgleich. Ein großer Vorteil jedes – auch und gerade eines stark operationalisierten – deskriptiven Ansatzes liegt in der deutlich verminderten Gefahr der Verquickung ungeprüfter ätiopathogenetischer Hypothesen mit dem diagnostischen und auch mit dem therapeutischen Prozess. Die sorgfältige deskriptive Erfassung klar definierter psychopathologischer Symptome bringt eine deutlich höhere Reliabilität mit sich, sofern der Untersucher mit dem angewandten Begriffsapparat hinreichend vertraut ist. Wird Deskription allerdings zu eng gefasst, etwa als eindeutiges Abbilden eines objektiven Tatbestandes beim Patienten durch ein ebenso objektives Medium, den Untersucher, so werden sehr rasch die Nachteile des Ansatzes deutlich: Zu nennen sind hier vor allem das Überwiegen der formalen zuungunsten der inhaltlichen Aspekte, die zwar unumgängliche, aber eben problematische Reduktion der klinischen Gesamtheit auf das deskriptiv Erfassbare und qua Expertenkonsens operationalisierbare und schließlich das Unterschätzen, ja Vernachläs-
sigen von komplexen subjektiven Erlebensweisen, die oft auch die Beziehungsebene betreffen. Sie sind insoweit von bloßen Verhaltensmerkmalen deutlich unterschieden, was der wesentliche Grund dafür ist, dass sie sich in den Kriterienkatalogen der gegenwärtigen Klassifikationsmanuale nicht oder nur sehr verkürzt wiederfinden (können). Sei nun die Rede von der ursprünglichen deskriptiven Psychopathologie im Sinne Karl Jaspers’ (»phänomenologische Richtung«) und Kurt Schneiders (»deskriptiv-analytische Methode«) oder von den zum Teil über sie hinausgehenden, zum Teil hinter sie zurückfallenden aktuellen operationalisierten Befunderfassungs- und Diagnosesystemen, in jedem Fall ist die empathisch-verstehende Grundhaltung die wesentliche Basis einer sorgfältigen und damit patientengerechten Erhebung des psychopathologischen Befundes. Denn sie schafft erst den Raum für eine offene, nicht voreilig interpretierende Deskription. Unabhängig davon, dass auch eine kundige psychopathologische Deskription keine unmittelbare Verknüpfung mit der ätiologischen Ebene darstellt, worauf Angst (1997) mit skeptischem Unterton hingewiesen hat, bleibt diese doch notwendige Voraussetzung jeder psychiatrischen Arbeit in der Diagnostik, Therapie und Forschung.
437 20.2 · Theoretischer Hintergrund
20.1
Einführung
Der psychopathologische Befund stellt den Kern der psychiatrischen Diagnostik dar. Diese auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinende Feststellung ist heute nicht mehr allgemein konsensfähig, was mit 2 Tatsachen zu tun hat: Zum einen ist die bei der Erhebung des psychopathologischen Befundes anzuwendende Methodik im Laufe der Psychiatriegeschichte – und bis heute – stets sehr umstritten gewesen, und zum anderen haben begleitende diagnostische Maßnahmen, etwa neuropsychologischer, neurophysiologischer und bildgebender Art, durch die wissenschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte stark an Gewicht und Ansehen zugenommen. Wenn im Folgenden von deskriptiv-psychopathologischer Befunderhebung zu handeln sein wird, so sei dem vorausgeschickt, dass es die Psychopathologie mit komplexen, sich notwendigerweise auch im rein subjektiven und im interpersonalen Bereich bewegenden seelischen Phänomenen zu tun hat. Nun können im vorliegenden Rahmen weder die theoretischen Grundfragen umfassend erörtert noch jedes einzelne seelische Phänomen beschrieben werden; und in mancher Hinsicht sind eine weitere konzeptionelle Vertiefung und begriffliche Vervollständigung wünschenswert. Auf jeden Fall aber gilt, dass »Deskription« nicht Vereinfachung oder Objektivierung um jeden Preis bedeuten darf. Die erwähnten zusätzlichen diagnostischen Verfahren stellen eine notwendige Bereicherung und keineswegs eine unerwünschte »Konkurrenz« dar. Sie können aber ihrerseits nicht den Anspruch erheben, die psychopathologische Ebene zu ersetzen (Saß 1987 a, 1994).
20.2
Theoretischer Hintergrund
20.2.1
Zur Definition von Deskription
Die Bezeichnung einer psychopathologischen Arbeitsweise als »deskriptiv«, also »beschreibend«, stellt den Anspruch in den Mittelpunkt, eine vorliegende Symptomatik möglichst einfach, überprüfbar und übersichtlich gegliedert zu erfassen und zu benennen, ohne in diese Phase des diagnostischen Prozesses bereits ätiologische Vorannahmen, pathogenetische Hypothesen und deutende Elemente über den individuellen, bezugsgruppentypischen oder gesellschaftlichen »Sinn« bestimmter Symptome einfließen zu lassen.
Zeichen vs. Symptome Vielfach wird die Auffassung vertreten, dass Symptome, deren Vorhandensein nicht »festgestellt«, sondern nur erschlossen werden kann, vorwiegend aus Gründen der
Messmethodik weniger Berücksichtigung finden sollen (vgl. Möller 1976). Dies erinnert an die im englischsprachigen Raum etablierte, hierzulande hingegen weniger bekannte Unterscheidung zwischen Zeichen und Symptom (»sign and symptom«): So definiert das DSM-IV das Zeichen als »objektive Manifestation eines pathologischen Zustandes«, die »eher vom Untersucher beobachtet als vom Betroffenen mitgeteilt wird«, und das Symptom als »subjektive Manifestation eines pathologischen Zustandes«, die »eher vom Betroffenen berichtet als vom Untersucher beobachtet wird«. Diese Unterscheidung ist eine nützliche methodische Richtschnur, um eine Konfundierung objektiver und subjektiver Informationsquellen zu vermeiden. In der Praxis auch und gerade der deskriptiven psychopathologischen Befunderhebung kann sie so eindeutig meist nicht durchgehalten werden. Dies belegen v. a. die psychomotorischen Symptome, bei denen es um den Ausdruckscharakter von Bewegungen und Körperhaltungen geht, also um die gerade nicht trennbare Verbindung subjektiver Momente, die etwa die Stimmung betreffen, mit objektivem, unmittelbar beobachtbarem motorischen Verhalten. Ohne Frage stellt die vorurteilsfreie Erfassung der psychischen Phänomene, also dessen, was der Patient schildert und erlebt, woran er sich erinnert, was er plant, und der Art, wie er handelt, eine entscheidende Voraussetzung jeder sorgfältigen psychiatrischen Praxis und Forschung dar. Allerdings wäre es voreilig, dieses Ziel bereits dadurch für erreichbar (oder gar für erreicht) zu halten, dass ein beschreibender Zugang gewählt wird. Keiner der bislang eingeschlagenen methodischen Wege, auch nicht der deskriptive, hat die Eigenschaft, frei von theoretischen Vorannahmen zu sein. Dies kann im Übrigen in gleicher Weise auf die nosologische Ebene bezogen werden: Die dritte Fassung des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« der amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft APA, das 1980 erschienene »DSM-III«, war das erste standardisierte Diagnosemanual, welches die Unabhängigkeit der beschreibenden von der ätiologischen Ebene geradezu ins Zentrum rückte und mit dem etwas vorschnell gewählten Begriff des »Atheoretischen« bezeichnete. Zwischenzeitlich hat ein Prozess der Differenzierung stattgefunden, wodurch klarer hervorgehoben wird, dass nicht die – grundsätzlich unmögliche – Freiheit von jeder theoretischen Vorannahme, sondern von impliziten Annahmen über die Verursachung des jeweiligen Symptoms bzw. der jeweiligen Störung gemeint war und ist. Um die Entstehung oder Verfestigung wissenschaftlicher Vorurteile im Laufe des diagnostischen Prozesses zu verhindern, ist das Erkennen impliziter Vorannahmen von entscheidender Bedeutung, sei es auf der Symptom-, der Syndrom- oder der nosologischen Ebene.
20
438
Kapitel 20 · Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung
»Deskription« ruft rasch die Assoziation des nüchtern-sachlichen Nachzeichnens von etwas »objektiv« Vorhandenem hervor, vergleichbar der letztlich rein passiven Funktion eines vom Benutzer gut justierten Fotoapparats. Zu bedenken ist aber, dass es sich beim Beschreiben eines psychopathologischen Symptoms ungeachtet aller prinzipiellen Störbarkeit und konkreten Gestörtheit um eine Kommunikation zwischen Patient und Untersucher handelt. Freilich wird man ein Symptom wie »örtlich desorientiert« eindeutiger und »objektiver« feststellen können als Vorliegen und Ausprägungsgrad von »Gedankenausbreitung«. Dies ändert aber nichts an der grundsätzlichen Natur der psychopathologischen Deskription als eines Vorgangs, der wesentlich durch den Beziehungsaspekt charakterisiert wird. Letzterer kann auch zu komplexeren zwischenmenschlichen Bedeutungszuschreibungen führen, etwa im Falle der – auch diagnostisch – wichtigen, gemeinhin als »Übertragung« und »Gegenübertragung« bezeichneten Beziehungsmomente. Allgemein ausgedrückt: Das Beschreiben hängt stark von der Art des Symptoms ab, denn beobachtbares Verhalten kann einfacher beschrieben werden als inneres Erleben. Karl Jaspers legte großen Wert auf die Feststellung, dass sich »Seelisches« gar nicht unmittelbar zeige (also auch nicht unmittelbar beobachtet werden könne), sondern nur mittelbar über Sprache, Schrift, Gestik, Mimik, künstlerische Äußerung, Verhalten. Umso wichtiger ist, sich stets darüber im Klaren zu sein, was eigentlich bei der deskriptiven Vorgehensweise »beschrieben« wird, also etwa das äußerlich erkennbare Verhalten des Patienten, seine eigenen Angaben über das aktuelle Erleben, Annahmen über das aktuelle subjektive Erleben des Patienten, die der Untersucher aufgrund bestimmter (welcher? warum gerade dieser?) Wahrnehmungen und Wertungen hat, obwohl der Patient selbst sich dazu vielleicht ganz anders oder gar nicht erklärt, Angaben Dritter über das Verhalten und Erleben des Patienten.
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Diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass »Deskription« auch in der Psychopathologie kein selbsterklärender, einfacher Begriff ist. Es geht aber nicht nur um die kritische Berücksichtigung der jeweiligen Quellen des zu Beschreibenden und eines bestimmten Beziehungskontextes. Die Sachlage wird vielmehr noch dadurch kompliziert, dass sich das Bemühen um die beschreibende Erfassung des Befundes grundsätzlich nicht völlig trennen lässt von einem psychopathologischen Grundverständnis und dem darin wirksamen Menschenbild (Hoff 1998). Freilich muss dies kein Nachteil sein, solange daraus im diagnostischen Prozess keine Vorurteile erwachsen.
20.2.2
Jede Deskription geht von einem psychopathologischen Grundverständnis aus: Drei prägnante Beispiele
In aller Kürze sollen hier 3 Antworten auf die Frage skizziert werden, was eigentlich das Ziel jeder psychiatrischen Diagnostik, auch der deskriptiven, sei. Diese 3 Antworten stellen beispielhafte Prägnanztypen dar, die in der jüngeren Psychiatriegeschichte, also im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts, formuliert worden sind. Sie werden hier aus Gründen der Deutlichkeit stark kontrastierend und vielleicht etwas überzeichnet skizziert, um als klare Orientierungsmarken dienen zu können, sie wurden aber in den Grundzügen durchaus so vertreten. Bei allen drei Positionen geht es um die Frage des Verhältnisses von Patient, Arzt und vorliegender Krankheit (Hoff 2005).
Biografisch-individuelles Erfassen von psychischen Krankheiten Der auch psychiatriehistorisch erste Prägnanztyp zielt auf das biografisch-individuelle Erfassen von Kranksein ab. In charakteristischer Form kam dieser Ansatz in der Psychiatrie der Romantik im frühen 19. Jahrhundert zur Geltung. Für Autoren dieser Ausrichtung sind psychische Störungen in erster Linie Ausdruck einer nur individuell zu verstehenden biographischen Fehlentwicklung der betreffenden Person, wodurch die Grenze zwischen dem Patienten und seiner Krankheit sich stark verwischt, ja geradezu verschwindet. Dieser Ansatz ist markant subjektorientiert und versteht, in aller Kürze gesagt, seelische Störungen, insbesondere deren affektiv akzentuierte psychotische Formen, als Ausdruck des individuellen Scheiterns eines Lebensentwurfes. Dies wurde von einigen Autoren, z. B. Heinroth (1818), auf den Hintergrund des schuldhaften Verfehlens normativer Maßstäbe projiziert, etwa wenn eine Person ihre »Leidenschaften« – ein typischer Begriff im Kontext des romantischen Lebensgefühls – nur mangelhaft steuert oder gar rücksichtslos auslebt und damit bestimmten Grundvorstellungen menschlichen Zusammenlebens widerspricht. Wesentliche Momente dieses Ansatzes sind später im 19. und auch im 20. Jahrhundert aufgegriffen worden. Die anthropologische Psychiatrie etwa, die sich unter Berufung v. a. auf Heidegger bemühte, eine ganzheitliche Sicht von seelischer Gesundheit und Krankheit zu entwickeln und die heute unberechtigterweise nur noch marginal wahrgenommen wird, hat in manchem vergleichbare Grundlinien. Welche Rolle spielt in dieser Perspektive der psychopathologische Befund? Er ist in erster Linie Teil der konkreten klinischen Situation zwischen Patient und Untersucher. Zwar darf eine person-orientierte Vorgehensweise, unabhängig von der theoretischen Ausrichtung des Untersuchers, als allgemeine Voraussetzung jeder sorg-
439 20.2 · Theoretischer Hintergrund
fältigen psychiatrischen Diagnostik und Behandlung angesehen werden, doch hat im Rahmen dieses ersten Prägnanztyps das Subjektiv-Individuelle eindeutig und kategorial den Vorrang vor jeder vorgefertigten, auf den Einzelfall bloß anzuwendenden Begrifflichkeit. Symptomatische Kriterien können nützlich sein, haben aber keinen entscheidenden Stellenwert. Im Gegenteil, es zeigt sich bei allen dieser Perspektive verpflichteten Richtungen eine gewisse Skepsis gegenüber solchen deskriptiven Ansätzen in der Psychopathologie, die Objektivität und überindividuelle Gültigkeit anstreben.
Realdefinition von psychischen Krankheiten Der gedankliche Kern des zweiten Prägnanztyps lautet: Psychische Krankheiten existieren real, quasi als Gegenstände, als objektiv-naturwissenschaftlich fassbare »Dinge«. Besonders nachhaltig hat diese, in ihren Grundzügen auf Kahlbaum zurückgehende Auffassung Emil Kraepelin vertreten, der von den »natürlichen Krankheitseinheiten« sprach, die es in der Psychiatrie ebenso wie in allen anderen medizinischen Fächern gebe und die – in ihrer Eigenschaft als biologische Entitäten – ganz unabhängig davon existierten, welcher konkrete Patient nun an ihnen leide oder welcher Psychiater sich mit ihnen klinisch oder wissenschaftlich befasse. Daraus folge auch zwingend, dass es irrelevant sei, von welcher wissenschaftlich-methodischen Warte man sich diesen Krankheitseinheiten nähere: Es könne sich um die pathologische Anatomie handeln, um die Ätiologie oder die klinisch-psychopathologische Symptomatologie, wobei letztere nach Kraepelins Grundüberzeugung besonders den Verlauf einzubeziehen habe. Hinreichendes methodisches Rüstzeug als vorhanden unterstellt, werde die Forschung notwendigerweise immer wieder auf dieselben, ohnehin a priori festliegenden, eben die »natürlichen« Krankheitseinheiten stoßen. Kraepelin prägte das Selbstverständnis der Psychiatrie nicht zuletzt über sein einflussreiches Lehrbuch, das zwischen 1883 und 1927 in 9 Auflagen erschien, wobei die noch in Heidelberg entstandene 5. Auflage von 1896 hinsichtlich der angesprochenen Grundsatzfragen die entscheidende ist (Hoff 1994). Die Trennung zwischen den drei Bereichen Patient, Arzt und Krankheit ist hier in diametralem Gegensatz zur ersten Position eine vollständige. Die Formulierung »der Patient hat eine Krankheit« ist in diesem Fall angemessener als »der Patient ist krank«. Es handelt sich um Realdefinitionen des Typus »die Schizophrenie ist …«. Die Krankheit wird zur realen Sache, sie wird »reifiziert«. Die Betonung liegt ganz auf der objektiven, quasi fotografischen Abbildung des vorgegebenen krankhaften Sachverhalts durch den Arzt bzw. Forscher und nicht etwa um eine durch diesen vorgenommene theoretische Konstruktion eines bestimmten Krankheitskonzeptes. Was bedeutet dies für eine deskriptive Befunderhebung? Wählt man die engste Definition von Deskription,
nämlich das objektive Beschreiben von ebenso objektiven Anzeichen einer real, d. h. messbar vorhandenen Krankheit, dann käme der so verstandene deskriptive Ansatz unserem zweiten Prägnanztyp psychiatrischer Krankheitsmodelle sehr entgegen. Die beiden Autoren, die im 20. Jahrhundert die Entwicklung der psychiatrischen Diagnostik wohl am nachhaltigsten geprägt haben, Karl Jaspers und Kurt Schneider, hatten allerdings keinen so eingeengten Deskriptionsbegriff im Auge. Vor allem teilten sie nicht Kraepelins mit dem Bemühen um Objektivität begründete erhebliche Skepsis gegenüber allem »bloß Subjektiven«. Dessen in den späteren Auflagen des Lehrbuches oft mehrere hundert Seiten in Anspruch nehmende »Deskription« typischer Befunde bei endogenen wie exogenen Psychosen, Persönlichkeitsstörungen wie psychogenen Erkrankungen erhielt dadurch eine zwar sehr sorgfältige, oft aber unsystematisch summierende, Symptome kaum gewichtende Note. Eine solche »mosaikartige Aufreihung dessen, was vorkommt« sei, wie Mayer-Groß (1932, S. 294) kritisch anmerkte, zu vermeiden.
Nominaldefinition von psychischen Krankheiten Der dritte und letzte Prägnanztyp arbeitet, ganz anders wiederum als der zweite, mit Nominaldefinitionen. Nach dieser Auffassung sind diagnostische Termini, mit denen psychische Störungen beschrieben werden, begriffliche Konstrukte, die von Experten nach bestimmten Kriterien entsprechend dem jeweils aktuellen Wissensstand definiert werden. Es handelt sich dabei z. B. um die Nominaldefinition dessen, was zu einem gegebenen Zeitpunkt unter »schizophrener Störung« verstanden wird. Letztlich sind Nominaldefinitionen in diesem Zusammenhang psychopathologische Konventionen (Janzarik 1989). Freilich sind diese nicht beliebig, sondern haben alle verfügbaren wissenschaftlichen Argumente angemessen zu berücksichtigen. Konsequenterweise wird hier auch nicht mehr von psychischen »Krankheiten« gesprochen, da dies zu sehr der »reifizierenden« Position ähneln würde, sondern, ätiologisch und pathogenetisch möglichst neutral, von psychischen »Störungen«. ! Das Moment der aktiven Konstruktion eines Konzeptes durch den Arzt steht hier also im Vordergrund. Der Zustand eines Patienten wird als ein bestimmtes Störungsbild bezeichnet. Nicht was die Schizophrenie ist, sondern unter welchen Umständen wir begründet von Schizophrenie sprechen, ist Gegenstand der psychiatrischen Diagnostikforschung. Nominaldefinition heißt in diesem Fall auch, dass keine Aussage darüber getroffen wird, was die Schizophrenie »wirklich ist«, welche Ätiologie und Pathogenese sie hat, ob es sie als »natürliche Entität«, als »reale Krankheitseinheit« überhaupt gibt.
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Kapitel 20 · Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung
Wo ist hier der Bezug zur Befunderhebung? Er liegt in der großen Nähe dieses Prägnanztyps psychiatrischen Krankheitsverständnisses zu den theoretischen Grundlagen der aktuellen operationalisierten psychiatrischen Diagnostik. Sie begann mit dem bereits erwähnten DSM-III der APA im Jahre 1980 und setzte sich in dessen neueren Fassungen bis hin zum aktuellen DSM-IV-TR (APA 2000/2003) ebenso fort wie in der ähnlichen, aber nicht identischen ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1991. Nach diesen Systemen werden psychiatrische Diagnosen in erster Linie auf der Basis deskriptiver psychopathologischer und Verlaufskriterien gestellt, wohingegen das Einfließen ätiopathogenetischer Vorannahmen so weit wie möglich vermieden werden soll. Dies hat, wenn nicht zur Abschaffung, doch zumindest zur wissenschaftlichen Diskreditierung so vertrauter Begriffe wie Endogenität, Psychose und Neurose geführt sowie, v. a. bei den depressiven Störungen, zur Orientierung mehr am Schweregrad des klinischen Bildes als an qualitativen Merkmalen. Die deskriptive Psychopathologie kann also im Umfeld der modernen Diagnostikforschung mit besonders großer Akzeptanz rechnen; sie darf aber nicht unbesehen mit der operationalen Diagnostik gleichgesetzt werden. Letztlich kreisen die 3 hier nur prototypisch vorgestellten Positionen um die Grundfrage des Verhältnisses zwischen subjektiven und objektiven Momenten der psychiatrischen Diagnostik – wie übrigens auch der Therapie – sowie deren jeweils zugestandener wissenschaftlicher Wertigkeit. Diesen Aspekt fasst ⊡ Tab. 20.1. in starker Vereinfachung zusammen (vgl. Hoff 1995).
⊡ Tab. 20.1. Wissenschaftliche Wertigkeit subjektiver und objektiver Momente bei der psychopathologischen Befunderhebung Begriff
Subjektiv
Objektiv
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Wissenschaftliche Bewertung (Beispiele) Positiv
Negativ
– Betont Individualität und Verantwortung
– Gefahr der Beliebigkeit
– Bezieht komplexe Handlungsebene ein
– Kaum messbar
– Ist Grundlage auch der Erkenntnis des »Objektiven«
– Nicht (beliebig) reproduzierbar
– Idiografisch
– Verfälscht »objektive« Daten
– Eindeutig
– Distanziert
– Messbar
– Ignoriert Individualität
– Reproduzierbar
– Bloß am äußeren Verhalten orientiert
– Nomothetisch
– »Psychologie ohne Seele«
20.3
Wegbereiter der aktuellen deskriptiven Psychopathologie
20.3.1
Karl Jaspers
Im Gegensatz zu Kraepelin, der sich zumindest explizit kaum mit theoretischen Fragen des Fachs beschäftigt hat, standen diese für Karl Jaspers ganz im Mittelpunkt seiner psychiatrischen Lehre. Sein Werk »Allgemeine Psychopathologie« (1913) wird zu Recht als der eigentliche Beginn einer wissenschaftlich reflektierten, sich gegen Dogmatismen jeder Art zur Wehr setzenden Psychopathologie angesehen.
Stellenwert des Subjektiven Psychische Vorgänge sind für ihn im Unterschied zu vielen physikalischen Naturereignissen niemals unmittelbar beobachtbar, sondern nur über den Ausdruck bzw. die Äußerungen des Erlebenden. Das Subjektive erhält bei Jaspers einen wissenschaftlichen Stellenwert, der es in der angemessenen »Mitte« hält zwischen der sehr subjektzentrierten romantischen Psychiatrie und der somatisch ausgerichteten »Gehirnpsychiatrie« des späten 19. Jahrhunderts, die die Existenz des Subjektiven nolens volens als gegeben, den wissenschaftlichen Diskurs aber störend hingenommen hatte.
Erklären vs. Verstehen Jaspers unterschied streng zwischen dem naturwissenschaftlichen Erklären, das auf Kausalität fußt, und dem Verstehen, das auf das Nachempfinden seelischer Inhalte eines anderen Menschen abzielt. Er sprach in diesem Zusammenhang auch von der »phänomenologischen Richtung« in der Psychopathologie, womit er v. a. das respektvolle und sorgfältige Sich-Einlassen des Untersuchers auf die Selbstschilderung des Patienten meinte; er warnte davor, dem vermeintlichen Zwang zur Objektivität und Vereinheitlichung des Befundes voreilig nachzugeben.
Klare Begrifflichkeit Dabei war Jaspers vollkommen bewusst, wie wichtig eine klare Begrifflichkeit für die Psychopathologie ist. Den jeder Befunderhebung inhärenten Spannungsbogen zwischen subjektivem Erleben und Standardisierung spricht er in dieser Weise an: »Das Vergegenwärtigen seelischer Erlebnisse und Zustände, deren Abgrenzung und Festlegung, so dass man mit den Begriffen immer dasselbe meinen kann, ist die Aufgabe der Phänomenologie.« (Jaspers 1973, S. 22f.) Als erster, unverzichtbarer Schritt gebe ein solch phänomenologisches Vorgehen dem Untersucher aber nur »eine Reihe von Bruchstücken des wirklich erlebten Seelischen in die Hand«, er vergegenwärtige sich »einzelne Qualitäten, einzelne als ruhend angesehene Zustände« und betreibe damit »statisches Verstehen«.
441 20.3 · Wegbereiter der aktuellen deskriptiven Psychopathologie
Wichtiger noch erscheint im psychopathologischen Befund das »genetische Verstehen«, dem es um die Zusammenhänge zwischen einzelnen seelischen Zuständen geht, in Jaspers’ Worten um das Verständnis, »wie Seelisches aus Seelischem mit Evidenz hervorgeht« (ebd., S. 23). ⊡ Abb. 20.1 veranschaulicht das Verhältnis der genannten Begriffe zueinander, wobei allerdings manche von Jaspers vorgenommenen Differenzierungen hier stark vereinfacht werden.
Biografisch gewordene Einzigartigkeit Fruchtbar erscheint dieser Ansatz auch mit Blick auf das genetische Verstehen biografischer Zusammenhänge. Man könnte sogar Berührungspunkte mit psychodynamischen Überlegungen sehen, auch wenn diese, wie etwa im Fall der Psychoanalyse, vor dem Hintergrund eines anderen Menschenbildes entstanden sind. Jaspers beschrieb nicht nur die klinisch-psychopathologischen Phänomene mit beeindruckender Prägnanz und oft ergänzt durch Kasuistiken, sondern ebenso die Grundlagen des gesunden Seelenlebens. Der Erfassung der Ganzheit des seelisch gesunden oder gestörten Menschen könne man sich – dies ist einer der Kerngedanken – nur über die biografisch gewordene Einzigartigkeit des jeweiligen Patienten annähern. Vollständig erreichbar, so Jaspers, sei diese Ganzheit aber mit wissenschaftlichen Mitteln nie.
20.3.2
Kurt Schneider
Wie Jaspers so ist auch Kurt Schneider ein wesentlicher Vertreter der deutschsprachigen Psychiatrietradition. Methodenkritik, gedankliche Stringenz und Selbstbeschränkung prägen sein bekanntestes Werk, die »Klinische Psychopathologie«. Es wurde in einzelnen Beiträgen seit den 20er Jahren fortwährend weiterentwickelt und unter diesem Titel erstmalig 1950 veröffentlicht; 1992 erschien es in der 14. Auflage.
Deskriptiv-analytisches Verfahren Kurt Schneider entwarf eine vorwiegend deskriptive Psychopathologie, die aber – dies entspricht genau Jaspers’ ⊡ Abb. 20.1. Wissenschaftliche Erfassung von Zusammenhängen. (Nach Jaspers 1913)
Intention – das Psychische gerade nicht in unverbunden nebeneinander stehende Einzelelemente aufsplitterte, sondern den verstehenden Gesamtzusammenhang wahrte. Er nannte dieses Verfahren »deskriptiv-analytisch« (Huber 1998). Deutlicher noch als bei Jaspers ging es Kurt Schneider um eine sorgfältig klinisch begründete, möglichst trennscharfe psychopathologische Begrifflichkeit, die zur Richtschnur für den diagnostischen Prozess werden sollte. Bekanntestes Beispiel sind die von ihm herausgearbeiteten »Symptome ersten und zweiten Ranges« für die Diagnose einer schizophrenen Psychose. Dieses Bemühen um möglichst eindeutige und allgemein akzeptierte diagnostische Kriterien in der Psychiatrie, verbunden mit dem nominaldefinitorischen Verständnis psychiatrischer Diagnosen, machte Kurt Schneider zum wesentlichen Wegbereiter der heutigen operationalisierten psychiatrischen Diagnostik im Sinne von DSM-IV und ICD-10. Eine ganz andere, hier nicht weiter zu verfolgende Frage ist aber, ob die genannten Diagnosesysteme in ihrer Kriterien- und Reliabilitätsorientierung nicht über die von Kurt Schneider – und erst recht von Karl Jaspers – gesetzten Ziele methodologisch reflektierter psychopathologischer Begrifflichkeit hinausgeschossen und damit, paradoxerweise, in mancherlei Hinsicht hinter diese beiden Autoren zurückgefallen sind, etwa was das »genetische Verstehen« oder die »deskriptiv-analytische« Methode anbetrifft. In jüngster Zeit wurden Anstrengungen unternommen, auch stärker theoretisch befrachtete und ebenfalls nicht unmittelbar zu beobachtende psychopathologische Sachverhalte – etwa Beziehungsaspekte und »Abwehrniveau« – deskriptiv und operational zu erfassen. Sie stellen einen Ergänzungsversuch im Sinne einer operationalen psychodynamischen Diagnostik (OPD; Freyberger et al. 1996) dar. Zusammenfassend ist am Ende dieses einleitenden Abschnittes festzuhalten, dass jede psychopathologische Befunderhebung, also auch die »deskriptive«, es mit den unvermeidlichen inneren Spannungen ihres »Gegenstandes« zu tun hat. Sie bewegt sich notwendigerweise zwi-
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442
Kapitel 20 · Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung
schen den Polen des subjektiven Erlebens auf Patientenund Untersucherseite, des Beziehungsaspektes und der objektivierenden Feststellung von Tatsachen.
20.4
Deskriptive Erfassung des psychopathologischen Befundes
Die hier vorgestellte deskriptive Form der Erfassung des psychopathologischen Befundes lehnt sich an den von der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) vorgelegten und kürzlich in revidierter Fassung veröffentlichten Vorschlag an (AMDP 2007). Dieser Bezugsrahmen wurde deswegen gewählt, weil er die kontinentaleuropäische psychopathologische Tradition am umfassendsten widerspiegelt und bei aller Differenziertheit v. a. im Bereich produktiv-psychotischer und affektiver Symptome klinisch wie wissenschaftlich gut handhabbar ist. Erweiterungen wurden vorgenommen, soweit bestimmte Bereiche im AMDP-System nur knapp oder gar nicht erfasst werden, etwa die Psychomotorik, schizophrene Basisstörungen, Persönlichkeitsmerkmale und manche bei »neurotischen« Störungen häufigen Symptome. Um diesen Defiziten insbesondere mit Blick auf die Anwendung in der psychiatrischen Forschung Rechnung zu tragen, werden zzt. zusätzliche »Module« für das AMDP-System entwickelt.
Teilaspekte des psychopathologischen Befundes Der psychopathologische Befund bezieht sich nicht ausschließlich auf eindeutig »Gestörtes« oder »Krankhaftes«, sondern auch auf normale seelische Abläufe und deren fließenden Übergang in die Störung. Er lässt sich in die folgenden Bereiche gliedern: Äußeres Erscheinungsbild, Art der Kontaktaufnahme, genereller »Tenor« des Untersuchungsgespräches, Psychomotorik, Bewusstsein und Orientierung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis, Denken und sprachliche Äußerung, Befürchtungen und Zwänge, Wahn, Sinnestäuschungen, Ich-Störungen, Affektivität, Antrieb, Intentionalität, Wille, Persönlichkeitsmerkmale, weitere Symptome.
20
20.4.1
Erscheinungsbild und Art der Kontaktaufnahme
Durch Kriterien kaum zuverlässig zu erfassen, aber dennoch wichtig, ist die Art der Kontaktaufnahme zwischen Patient und Untersucher zu Beginn der Untersuchungssituation. Dabei spielen sowohl das äußere Erscheinungsbild als auch das verbale und averbale Verhalten eine Rolle, geben sie doch einen ersten – und nicht selten nachhaltigen – Aufschluss über die psychosozialen Kompetenzen des Patienten, über seine Behandlungsmotivation, mitunter auch bereits über relevante Persönlichkeitsmerkmale. In der Psychotherapieforschung wurde die Bedeutung des ersten Gesprächskontaktes, der Beziehungsgestaltung und der so geschaffenen »Situation« besonders hervorgehoben. Dieser Bereich umfasst auch die psychomotorischen Aspekte menschlichen Erlebens und Verhaltens. Aus diesem Grund und wegen ihrer herausgehobenen Bedeutung für den psychopathologischen Befund werden sie im Folgenden noch vor den üblicherweise an dieser Stelle erörterten Störungen des Bewusstseins und der Orientierung dargestellt.
20.4.2
Psychomotorik
Der Begriff Psychomotorik zielt auf die Prägung von Bewegungsabläufen und Körperhaltungen durch seelische Vorgänge ab. Der Sachverhalt als solcher ist allen Individuen gemeinsam. Die konkrete Ausgestaltung hingegen ist oft derart charakteristisch für eine bestimmte Person – ganz unabhängig im Übrigen vom Vorliegen einer seelischen Störung –, dass sie als zeitlich stabiles Erkennungsmerkmal aufgefasst werden kann. Störungen der Psychomotorik sind insoweit Störungen des »In-Erscheinung-Tretens« der Person oder, moderner formuliert, Ausdrucksstörungen.
Zustandsabhängige und dauerhafte Variablen Zustandsabhängige »State-Variablen«, z. B. Zittern, bebende Stimme und Angespanntheit im Rahmen einer Angstattacke, können von dauerhaften »Trait-Variablen«, etwa einer habituellen bedächtig-langsamen Psychomotorik, unterschieden werden. Für den Untersucher kommt es nun darauf an, sowohl diejenigen psychomotorischen Merkmale zu erkennen und zu beschreiben, die mit der aktuell vorliegenden seelischen Störung verknüpft sind, als auch diejenigen, die unabhängig davon bestehen. Wichtige Bereiche sind Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprechweise.
443 20.4 · Deskriptive Erfassung des psychopathologischen ‚Befundes
Bewusstsein und Orientierung
Beispiele für psychomotorische Ausdrucksformen
20.4.3
Erregung und Hemmung, Hypo- und Hyperkinese sind Pole, zwischen denen sich zahlreiche psychomotorische Auffälligkeiten einordnen lassen, etwa die Agitiertheit, der Erregungszustand, der Stupor.
Eine allgemein anerkannte Definition des Bewusstseins existiert nicht. Deshalb vermeidet man es in der klinischen Praxis vielfach, Bewusstsein positiv zu definieren und nähert sich dem Begriff von der anderen Seite, nämlich der psychopathologischen Erfahrung mit Störungen des Bewusstseins bei seelischen Erkrankungen. »Bewusstseinsstörungen« sind stets Störungen des gesamten Erlebens und Verhaltens. Als Ausdruck dafür gelten Störungen der Aktivität, der Klarheit und Zielgerichtetheit in der Zuwendung zur Umwelt, der Aufmerksamkeit, der Sinneswahrnehmung im engeren Sinne, der Ansprechbarkeit, thematischen Fixierbarkeit, Reagibilität auf Umweltreize, Orientierung des Denkens, Wollens und Handelns auf personal verankerte und ausgerichtete Ziele. Zur Erfassung von Bewusstseinsstörungen kann man sich eines quantitativen (Bewusstseinsverminderung) und dreier qualitativer Merkmale (Bewusstseinstrübung, Bewusstseinseinengung, Bewusstseinsverschiebung) bedienen. Im neurologischen Bereich wird diese Unterscheidung von quantitativen und qualitativen Störungen des Bewusstseins zumeist nicht praktiziert, sondern Bewusstsein weitgehend mit Vigilanz gleichgesetzt. Auf die noch einmal völlig andere Konnotation des Begriffs »Bewusstseinsstörung« in der juristischen Fachsprache kann hier nur hingewiesen werden. Wichtig wird dies v. a. bei der psychiatrischen Begutachtung zur Frage der Schuldfähigkeit (gesetzliches Merkmal der »tiefgreifenden Bewusstseinsstörung« in den §§ 20 und 21 StGB; Saß 1983).
Stupor. Beim stuporösen Patienten liegt in der Regel keine Bewusstseins-, sondern eine Kommunikationsstörung vor: Es erfolgt keine Reaktion auf Versuche der Kontaktaufnahme, der Gesichtsausdruck ist starr, abwesend, Spontanbewegungen fehlen.
! Zu beachten ist, dass im englischsprachigen Raum »stupor« mitunter in scharfem Kontrast zum kontinentaleuropäischen Verständnis im Sinne von »organisch begründete Bewusstlosigkeit« gebraucht wird. Parakinesen und Stereotypien. Katatone Syndrome un-
terschiedlicher Ätiologie werden von Störungen der Psychomotorik dominiert. Der Oberbegriff Parakinesen zielt auf ganz unterschiedliche psychopathologische Symptome ab, nämlich qualitativ abnorme, meist komplexe Bewegungen, die häufig die Gestik, die Mimik und die Sprechweise betreffen. Unter Stereotypien versteht man Äußerungen auf sprachlichem und motorischem Gebiet, die die Tendenz aufweisen, oft längere Zeit hindurch in immer gleicher Form wiederholt zu werden; im Gegensatz zur Perseveration ist hier aber kein Zusammenhang zu früher im Gespräch gebrauchten Worten und Gesten erkennbar. Wichtig sind ferner die Verbigeration (Wortstereotypien), die in der Regel mit starker Muskeltonuserhöhung einhergehende Katalepsie (Haltungsstereotypien) und die Flexibilitas cerea (wächserne Biegsamkeit). Manieriertheit und Theatralik. Alltägliche Bewegungen
und Handlungen, erkennbar an Gestik, Mimik und Sprache, des manierierten Patienten erscheinen dem Untersucher verstiegen, verschroben, unnatürlich, posenhaft und verschnörkelt. Dieses Symptom überlappt sich z. T. mit dem viel häufiger zu beobachtenden theatralischen Verhalten, bei dem die Patienten den Eindruck hinterlassen, sie stellten sich selber auf einer Bühne dar. Hier dominiert das Moment des Drastischen, des Überziehens, nicht aber – im Gegensatz zur Manieriertheit – das des Befremdlichen. Mutismus und Logorrhö. Ausgeprägte Wortkargheit bis hin zu völligem Nichtsprechen wird als Mutismus be-
zeichnet, ein Symptom, das häufig, aber keineswegs immer in Verbindung mit einem Stupor beobachtet wird. Der logorrhöische Patient hingegen zeigt einen verstärkten Redefluss, wobei sein Denken weder inkohärent noch beschleunigt sein muss.
Bewusstseinsverminderung. Bei dieser besteht eine Stö-
rung der Wachheit oder Vigilanz, die von der Benommenheit über die Somnolenz und den Sopor bis hin zum Koma reichen kann. Die Patienten sind in unterschiedlichem Maße schläfrig, aspontan und verlangsamt. Es handelt sich um eine vorwiegend quantitative Veränderung. Bewusstseinstrübung. Sie stellt dagegen eine v. a. qualita-
tive Beeinträchtigung der Bewusstseinsklarheit dar. Die Fähigkeit, verschiedene Aspekte der eigenen Person und der Umwelt zu verstehen, sinnvoll miteinander zu verbinden und sich entsprechend mitzuteilen und zu handeln, ist beeinträchtigt. Einzelne Erlebnisgruppen können scheinbar ohne Beziehung zueinander ablaufen bis hin zum Zerfall des Erlebens. Eine weitgehende Abkehr von der Außenwelt, stark gestörte Auffassungsgabe, Ablenkbarkeit und Schwerbesinnlichkeit begleiten den Zustand häufig. Bewusstseinstrübung wird bei deliranten Bildern, beim (seltenen) Oneiroid und bei manchen Dämmerzuständen beobachtet.
20
444
Kapitel 20 · Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung
Bewusstseinseinengung. Sie ist durch eine Fokussierung
des aktuellen seelischen Feldes auf wenige Themen gekennzeichnet. Charakteristisch ist dabei die verminderte Ansprechbarkeit auf Außenreize. Die Metapher vom »Lichtkegel des Bewusstseins« bietet sich zur Erläuterung an: Danach ist hier von einem engwinkligen und zugleich wenig beweglichen Lichtkegel zu sprechen. Der Patient wirkt auf innere Erlebnisse oder äußere Gegebenheiten fixiert. Bewusstseinseinengung kann therapeutisch induziert werden, etwa beim autogenen Training und in der Hypnose; beim Gesunden tritt sie auch bei starker Konzentration auf ein bestimmtes Thema auf. Bewusstseinsverschiebung. Es handelt sich um eine fast
völlig im Subjektiven bleibende Form der Bewusstseinsstörung, bei der über eine »Erweiterung« des Erlebens berichtet wird, eine Steigerung der Wachheit, intensivierte Wahrnehmung von Raum, Zeit und verschiedenen Sinnesempfindungen. Die Betroffenen wirken meist sehr wach, lebendig, offen, lebhaft. Das emotionale Erleben, sei es positiv oder negativ, wird als besonders intensiv bezeichnet. Derartige Zustände kommen spontan vor oder auch intendiert, etwa bei Meditation und tiefer Hypnose, unter dem Einfluss von Halluzinogenen oder Entaktogenen [z. B. »Ecstasy« = 3,4-Methylen-Dioxy-N-Methylamphetamin (MDMA)] und schließlich bei schizophrenen und affektiven (meist manischen) Psychosen. Orientierung. Man unterscheidet die Orientierung zur
Person, zum aktuellen Aufenthaltsort, Zeitpunkt und zur gegebenen Situation.
20.4.4
Aufmerksamkeit und Gedächtnis
Auffassungsstörung. Sie beeinträchtigt die Fähigkeit,
Wahrnehmungen in ihrer Bedeutung zu begreifen, sinnvoll miteinander zu verbinden und in den gesamten individuellen und sozialen Erfahrungshorizont zu integrieren. Die Auffassung kann fehlerhaft sein oder verlangsamt – der Patient wirkt »schwerbesinnlich« –, sie kann auch ganz fehlen. Eine klinische Graduierung des Ausprägungsgrades wird oft unter Zuhilfenahme von Sprichwörtern, Bildgeschichten oder kurzen Erzählungen versucht, die der Patient deuten soll. Damit werden auch eine Reihe anderer psychopathologischer Symptombereiche berührt, etwa Gedächtnis, formales Denken, Affektivität.
20
Konzentrationsstörungen. Hierbei ist die Fähigkeit vermindert, die Aufmerksamkeit ausdauernd einer Tätigkeit oder einem Thema zuzuwenden. Subtraktionsaufgaben (z. B. von 100 immer wieder 7 zu subtrahieren) oder das rasche Nen-
nen der Wochentage oder Monatsnamen in umgekehrter Reihenfolge können zur Prüfung eingesetzt werden. Merkfähigkeitsstörungen. Sie äußern sich in dem reduzierten Vermögen, aktuelle Sachverhalte über kurze Zeiträume von einigen Minuten zu speichern. Die Prüfung ist unter den wenig standardisierten klinischen Untersuchungsbedingungen natürlich schwieriger und fehleranfälliger als eine ausführliche testpsychologische Diagnostik. Wegen der Bedeutung affektiver Komponenten für das Erinnerungsvermögen empfiehlt es sich, für die Untersuchung möglichst neutrales Material zu verwenden, etwa die Wortfolge »34, Oslo, Aschenbecher«. Der Patient wird gebeten, sich diese Begriffe zu merken und sollte sie zunächst ein-mal nachsprechen, um eine Auffassungsstörung auszuschließen; einige Minuten später im Gespräch wird er dann aufgefordert, die Begriffe zu reproduzieren. Gedächtnisstörungen. Damit ist die Herabsetzung bis
Aufhebung der Fähigkeit gemeint, Inhalte längerfristig (länger als etwa 10 min) zu speichern und Erlerntes gezielt aus dem Gedächtnis abzurufen. In der klinischen Situation wird zumeist mit der groben Einteilung in Frisch- und Altgedächtnis gearbeitet; die neuropsychologische Forschung nimmt dagegen weit differenziertere Nuancierungen der Gedächtnisleistungen vor und stellt entsprechende Untersuchungsverfahren bereit. Zu den klinisch relevanten Gedächtnisstörungen zählen auch die Amnesien, also zeitlich wie inhaltlich begrenzte Gedächtnislücken, sowie die »Zeitgitterstörung«, womit die Unfähigkeit gemeint ist, in sachlich zutreffender und den biografischen Gesamtzusammenhang angemessen berücksichtigender Weise über frühere Erlebnisse zu berichten. Konfabulationen. Dies sind erfundene, aber nicht als Erfindung erkannte, sondern für Erinnerungen gehaltene Berichte des Patienten, mit denen er Erinnerungslücken ausfüllt. Charakteristisch ist, dass bei mehrmaligem Nachfragen immer wieder andere Inhalte angeboten werden. Entsteht in der Exploration der Eindruck einer Konfabulation, so sollte daher dieselbe Frage mehrfach gestellt werden. Paramnesien. Dieser Sammelbegriff umfasst die fol-
genden Phänomene: Vermeintliches Wiedererkennen bzw. vermeintliche Vertrautheit, das Erleben also – oft mit dem Charakter der Gewissheit –, etwas Bestimmtes schon einmal gesehen, gehört, durchlebt zu haben, »déjà-vu«, vermeintliche Fremdheit, das Erleben, etwas objektiv Bekanntes noch nie wahrgenommen oder durchlebt zu haben, »jamais-vu«,
445 20.4 · Deskriptive Erfassung des psychopathologischen ‚Befundes
Ekmnesie als Störung des Zeiterlebens bzw. der zeitlichen Einordnung, bei der die Vergangenheit als Gegenwart erlebt wird (etwa bei der senilen Demenz, aber auch in affektiven Ausnahmezuständen), Hypermnesie als ungewöhnliche, keineswegs immer positiv erlebte Steigerung der Erinnerungsfähigkeit (etwa bei exogenen, oft drogeninduzierten Psychosen, aber auch bei schwer psychotischen schizophrenen Patienten).
gen Themen und die gedankliche Fixierung auf wenige Zielvorstellungen sind hier gemeint. Perseveration. Verwandt, aber nicht identisch ist die Perseveration, bei der der Patient weniger an komplexen Themen, sondern vielmehr an zuvor gebrauchten Worten oder Angaben haftet, die im aktuellen Zusammenhang nicht mehr sinnvoll sind und die Kommunikation wesentlich beeinträchtigen. Grübeln. Dies meint das nahezu unablässige Beschäftigt-
20.4.5
Denken und Sprechen
Die v. a. in der deutschsprachigen psychiatrischen Tradition übliche, heute aber zunehmend in Frage gestellte kategoriale Unterscheidung von Form und Inhalt eines psychopathologischen Symptoms findet ihren deutlichsten Ausdruck in der Trennung der formalen und inhaltlichen Störungen des Denkens und des Sprechens (Andreasen 1979). Obwohl das Verhältnis zwischen Form und Inhalt weitaus komplexer ist, als die genannte einfache Zweiteilung vermuten lässt, ist diese doch für die Praxis der psychopathologischen Befunderhebung gut geeignet. Im Folgenden wird zunächst der »formale« Aspekt behandelt, der »inhaltliche« folgt in den Abschnitten über Zwänge und Wahn. Denkhemmung. Hierbei wird das Denken und oft auch
das Aussprechen der Gedanken vom Patienten als gebremst oder blockiert erlebt, als liefen diese Vorgänge gegen einen inneren Widerstand ab. Trotz offensichtlicher Bemühung kann der Patient diese Hemmung nicht überwinden. Im Extremfall äußert er, überhaupt nicht mehr denken zu können. Denkverlangsamung. Demgegenüber zeigt der Patient
mit Denkverlangsamung zwar auch einen schleppenden, trägen Denkablauf sowie ein entsprechendes Gesprächsverhalten, doch fehlt hier der Eindruck des Ankämpfens gegen einen Widerstand. Umständliches, weitschweifiges Denken. Der im Denken
umständliche, weitschweifige Patient trennt das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen, verliert sich in Details, wahrt aber den inhaltlichen Gesamtzusammenhang. Dieses Symptom ist sowohl von der Inkohärenz/Zerfahrenheit als auch von der Ideenflucht verschieden. Eingeengtes Denken. Dieses liegt vor, wenn der Umfang
möglicher Denkinhalte eingeschränkt ist, wobei natürlich die Bezugsgröße, der »Normwert«, stark von der intellektuellen Ausgangsverfassung des Patienten abhängt. Auch das Haften an einem bestimmten Thema oder ganz weni-
sein mit vorwiegend, aber nicht ausschließlich unangenehmen Themen. Die Gedanken kreisen immer wieder um die gleichen Inhalte, sind nur mit Mühe oder gar nicht für längere Zeit zu unterbrechen, führen daher zu Leidensdruck, werden aber nicht als fremd erlebt. Dies stellt ein diskriminierendes Merkmal zur Gruppe der Zwangsphänomene dar. Gedankendrängen. Hierbei sieht sich der Patient dem
Druck vieler verschiedener Einfälle oder Gedanken ausgesetzt und kann diese Fülle oft kaum noch kontrollieren. Die Gedanken können als sinnvoll oder sinnlos erlebt werden, können sich überstürzen oder wie automatisch ablaufen. Das Denken muss dabei nicht beschleunigt sein. Ideenflucht. Sie ist gekennzeichnet von einer Vermeh-
rung von Einfällen, die aber nicht mehr von einer klaren Zielvorstellung geleitet werden. Das Ziel des Denkens kann durch ständig intervenierende Assoziationen oft wechseln oder ganz verloren gehen. Der Ideenflüchtige gerät vom Hundertsten ins Tausendste, führt einen Gedanken oder Satz oft nicht zu Ende. Die Sprache kann sich mitunter vorwiegend an Klangassoziationen orientieren und dabei die inhaltlichen Zusammenhänge völlig aus dem Auge verlieren. Auch das Denken des Ideenflüchtigen muss nicht beschleunigt sein. Vorbeireden. Der vorbeiredende Patient geht nicht auf die
gestellte Frage ein, bringt etwas inhaltlich Unpassendes vor, obwohl aus seiner Antwort bzw. der Situation ersichtlich ist, dass er die Frage verstanden hat. Ein absichtliches Verweigern oder Verzerren der Antwort ist hier freilich nicht gemeint. Sperrung und Gedankenabreißen. Hiervon spricht man,
wenn der Patient über den plötzlichen Abbruch eines sonst flüssigen Gedankengangs berichtet oder der Untersucher das abrupte Ende eines bereits begonnenen, gesprochenen Satzes beobachtet, jeweils ohne dass ein erkennbarer Grund vorliegt. In diesem Fall ist klar zwischen Fremdbeurteilung (Sperrung) und Selbstbeurteilung (Gedankenabreißen) zu unterscheiden.
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446
Kapitel 20 · Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung
Inkohärenz und Zerfahrenheit. Eine zuverlässige Unter-
scheidung zwischen Inkohärenz und Zerfahrenheit ist nicht möglich. Problematischerweise wird der eine Terminus, nämlich »inkohärent«, in der Praxis meist mit den hirnorganisch begründbaren und der andere, nämlich »zerfahren«, mit den schizophrenen Psychosen in Verbindung gebracht. Diese unzulässige »automatische« Verknüpfung der psychopathologischen mit der nosologischen Ebene widerspricht der Grundintention sowohl der deskriptiv orientierten Psychopathologie als auch der darauf aufbauenden operationalen Diagnosesysteme wie DSM-IV und ICD-10. Ohne damit weitergehende theoretische Annahmen zu verknüpfen, insbesondere ohne eine durch empirische Befunde validierte Trennung beider Begriffe für die Zukunft grundsätzlich auszuschließen, sollten sie beim jetzigen Wissensstand synonym gebraucht werden. Bei inkohärenten bzw. zerfahrenen Patienten beobachtet man folgendes: Denken und Sprechen verlieren für den Untersucher ihren verständlichen Zusammenhang (Paralogik). Im Extremfall sind sie in einzelne, scheinbar zufällig durcheinander gewürfelte Sätze, Satzgruppen oder Worte fragmentiert (Paragrammatismus, Sprachzerfall). Assoziierte, untereinander überlappende und vorwiegend dem Bereich der Denkzerfahrenheit zugeordnete Phänomene sind (wobei bei einigen dieser Phänomene die Grenze zwischen formalem und inhaltlichem Denken verwischt wird): die Kontamination (Verschmelzung heterogener Sachverhalte), die Verdichtung (Zusammenziehen von mehreren, nicht unbedingt widersprüchlichen Ideen), die Entgleisung des Denkens (Abgleiten von der Hauptgedankenreihe auf Nebengedanken, die sich ungeordnet in die Hauptreihe hineindrängen), die Sprunghaftigkeit und die »Verschrobenheit« des Denkens.
20.4.6
Befürchtungen und Zwänge
Befürchtungen Der misstrauische Mensch bezieht Wahrnehmungen in oft ängstlicher oder verunsicherter Weise auf die eigene Person und unterstellt anderen eine feindselige Haltung. Dabei ist das Misstrauen in erster Linie aus dem Verhalten des Patienten im Kontakt mit dem Untersucher zu erschließen, kann mitunter aber auch vom Patienten als subjektives Erleben unmittelbar angegeben werden. Die ängstlich getönte Beziehung zum eigenen Körper, bei der etwa leichtere Missempfindungen intensiv wahrgenommen werden und zu der offensichtlich unbegründeten Befürchtung beitragen, körperlich krank zu sein oder zu werden, wird hypochondrisch genannt. Dies ist im jetzigen Zusammenhang aber als Bezeichnung eines psychopathologischen Symptoms und nicht einer Diagnose zu verstehen.
Zwangssymptome Sie zeichnen sich dadurch aus, dass der Betroffene ihren Ritualcharakter, ihre Unsinnigkeit und Schädlichkeit zwar erkennt, darunter auch leidet, sie aber dennoch nicht unterdrücken oder unterlassen kann, ohne in starke Unruhe und Angst zu geraten. Zwangsgedanken. Sie werden oft nicht handlungsrelevant und können abgegrenzt werden von den Zwangsimpulsen. Zwangsimpulse. Sie sind im Einzelfall mehr oder weniger steuerbar und äußern sich im Verhalten, etwa die Impulse, zu kontrollieren, sich oder andere zu schädigen, obszöne Worte auszustoßen (Koprolalie), zu zählen und zu rechnen. Zwangshandlungen. Sie beziehen stets die Handlungse-
bene mit ein. Zwangsimpulse und Zwangsgedanken sind oft Auslöser für Zwangshandlungen – etwa exzessiv häufiges ritualisiertes Händewaschen –, zumindest bei noch nicht chronifizierten Zwangsstörungen.
Neologismen. Im Grenzgebiet von formalem und inhalt-
lichem Denken angesiedelt, bezeichnen sie Wortneubildungen, die der sprachlichen Konvention nicht entsprechen und oft nicht unmittelbar oder gar nicht verständlich sind. Im Extremfall benutzt der Patient eine »Privatsprache«. Begriffe, die in Subkulturen gebräuchlich, dem Untersucher aber unbekannt sind, sind hier freilich nicht gemeint.
Zwangslachen und -weinen. Dies sind seltene Symptome.
Das gezeigte Verhalten steht typischerweise in krassem Gegensatz zur Situation, was dem Betroffenen bewusst ist und ihn erheblich beeinträchtigt. Diese Symptome können, müssen aber nicht in Verbindung mit Affektlabilität oder Affektinkontinenz (s. unten) auftreten.
20.4.7
20
Wahn
Wahn entsteht auf dem Boden einer allgemeinen Veränderung des Erlebens und imponiert oft – aber nicht notwendigerweise – als krasse Fehlbeurteilung der Realität,
447 20.4 · Deskriptive Erfassung des psychopathologischen ‚Befundes
die mit weitgehend erfahrungsunabhängiger Gewissheit vertreten wird, auch wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit der Mitmenschen steht.
Einteilung der Wahnsymptome Wahnstimmung. Sie bezeichnet die erlebte Atmosphäre
des Betroffenseins, der Erwartungsspannung in einer als verändert erlebten Welt oder auch durch ein als verändert erlebtes Ich-Bewusstsein. Häufig besteht eine Stimmung von Unheimlichkeit, Erschüttert- und Erschrecktsein, Bedrohung, Angst, Argwohn, Ratlosigkeit, seltener auch Gehobenheit, Euphorie und Zuversicht.
Kurt Schneider (1950) sprach im Zusammenhang mit den Wahnthemen, die charakteristischerweise bei der wahnhaften Depression auftreten, von den 3 Urängsten des Menschen, nämlich der Sorge um das Seelenheil, die Gesundheit und den Besitz. Freilich ist die Zahl möglicher Wahnthemen ebenso unbegrenzt wie die Themen des ungestörten Denkens und Urteilens.
Unspezifität von Wahnsymptomen
neswahrnehmungen (1. Schritt) eine abnorme Bedeutung (2. Schritt) (»Zweigliedrigkeit« nach Kurt Schneider), und zwar meist im Sinne der Eigenbeziehung.
Wichtig ist der für alle psychopathologischen Symptome geltende Umstand, dass Wahnsymptome nosologisch und ätiologisch unspezifisch sind, also keine zwingenden Rückschlüsse auf die Diagnose und die Verursachung zulassen. Aus dem Vorliegen von Größenwahn unmittelbar auf eine manische Psychose zu schließen, ist daher ebenso unzulässig wie der Schluss von einem Verfolgungswahn auf die paranoide Schizophrenie.
Wahneinfall. Hierbei kommt es zum oft unvermittelten,
Begriffliche Besonderheiten
sich nicht in erster Linie auf Sinneswahrnehmungen berufenden, im Sinne von Kurt Schneider »eingliedrigen« Auftreten von wahnhaften Vorstellungen und Überzeugungen.
Paranoid. Das Adjektiv »paranoid« wird leider recht un-
Wahnwahrnehmungen. Hierbei erhalten korrekte Sin-
Wahngedanken und systematischer Wahn. Im Laufe der
zunehmenden Strukturierung kann es zu Wahngedanken und schließlich zu systematisiertem Wahn kommen. Entscheidend ist der Grad der Verknüpfung einzelner Wahnsymptome mit anderen Wahnphänomenen, Sinnestäuschungen, Ich-Störungen oder auch nicht krankhaft veränderten Beobachtungen und Erlebnissen. Zwischen einzelnen Elementen werden Verbindungen hergestellt, die oft einen kausalen oder finalen Charakter besitzen und vom Patienten als Beweise und Bestätigungen angesehen werden.
einheitlich gebraucht. Während es in unserem Sprachraum überwiegend – und unabhängig vom Inhalt – synonym mit »wahnhaft« benutzt wird, schränken andere, vorwiegend angloamerikanische Autoren seine Bedeutung ein auf den Aspekt des »Verfolgungswahns«. Überwertige Idee. Der von Wernicke eingeführte Begriff
der überwertigen Idee darf nicht mit Wahn gleichgesetzt werden, obwohl es natürlich Übergänge zwischen beiden Phänomenen gibt. Die überwertige Idee knüpft sich oft an ein besonders wichtiges, mit heftigen Affekten verbundenes Ereignis oder an eine entsprechende Vorstellung an und gewinnt einen immer dominierenderen Einfluss auf Erleben, Planen und Verhalten des Betroffenen.
Sinnestäuschungen
Wahndynamik. Sie meint die stets vorhandene, aber in
20.4.8
ihrer Intensität intra- und interindividuell stark schwankende affektive Anteilnahme am Wahn.
Illusionen
Wahnthemen Thematisch ist zu unterscheiden zwischen: Beziehungswahn, bei dem in wahnhafter Eigenbeziehung selbst belanglose Ereignisse auf den paranoid Erlebenden bezogen werden; dies verbindet sich oft mit einem Beeinträchtigungsund Verfolgungswahn. Beim Eifersuchtswahn steht die wahnhafte Überzeugung, vom Lebenspartner betrogen und hintergangen zu werden, ganz im Vordergrund. Im Falle des Schuldwahns erlebt der Betroffenene in nicht nachvollziehbarer Weise persönliche Verantwortlichkeit. Analoges gilt für den Verarmungswahn, den hypochondrischen und den Größenwahn.
Sie bezeichnen verfälschte wirkliche Wahrnehmungen. Die objektiv vorhandene Reizquelle wird verkannt – dies im Gegensatz zur Wahnwahrnehmung, bei der es um die Bedeutungszuweisung geht. Häufig liegt eine affektiv angespannte Situation, etwa starke ängstliche Erregung, vor, die die Richtung der Verfälschung bestimmt.
Halluzinationen Diese sind Wahrnehmungserlebnisse ohne physikalische Reizquelle, die auf jedem Sinnesgebiet auftreten können. Klinisch am bedeutsamsten sind die akustischen und optischen Halluzinationen. Stimmenhören. Das Stimmenhören, also die Wahrneh-
mung menschlicher Stimmen, ohne dass tatsächlich jemand spricht, kann sich auf eine einzelne Stimme bezie-
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448
Kapitel 20 · Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung
hen, aber auch auf mehrere, die wiederum voneinander unabhängig sind oder miteinander sprechen (dialogisierende Stimmen). Besonderer Erwähnung bedürfen die kommentierenden und befehlenden (imperativen) Stimmen wegen ihres möglichen Einflusses auf das Verhalten des Patienten, etwa im Sinne einer Aufforderung zum Suizid. Akoasmen. Akustische Halluzinationen, die nicht dem
Stimmenhören entsprechen, werden als Akoasmen bezeichnet, etwa das Hören von Klopfen oder Hämmern. Aber auch Musik kann halluziniert werden. Optische Halluzinationen. Hierbei werden Lichtblitze, Muster, Gegenstände, Personen oder ganze Szenen ohne entsprechende äußere Reizquelle wahrgenommen. Körperhalluzinationen. Sie kommen vor als taktile Halluzinationen, bei denen die Berührung nicht vorhandener Objekte empfunden wird, und als Zoenästhesien, worun-
ter qualitativ abnorme, fremdartige sowie häufig negativ getönte Leibsensationen zu verstehen sind. Sie werden von den Betroffenen oft in Gestalt bizarrer Metaphern beschrieben. Sie können gleichförmig und streng umschrieben, aber auch oft wechselnd in Qualität und Ausdehnung ( Abschn. 20.4.13) sein. Schließlich ist noch auf die Geruchs- und Geschmackshalluzinationen hinzuweisen (olfaktorische und gustatorische Sinnesqualität).
Im Falle der Depersonalisation liegt eine Störung des aktuellen Einheitserlebens der Person vor oder der subjektiven Identität in bezug auf den ganzen Lebenslauf. Der Betroffene erlebt sich als fremd, unwirklich, verändert, uneinheitlich.
Gedankenausbreitung, -entzug und -eingebung Die im Folgenden beschriebenen Ich-Störungen wurden – neben einigen anderen – von Kurt Schneider als »Symptome ersten Ranges« für die Schizophreniediagnose bezeichnet, sind aber, was auch Kurt Schneider betonte, nicht pathognomonisch für Schizophrenie, sondern kommen beispielsweise bei einer ganzen Reihe von exogenen Psychosen vor. Gedankenausbreitung meint das konkrete subjektive Erleben, dass die Gedanken nicht mehr dem Patienten alleine gehören, dass andere daran Anteil haben und wissen, was er denkt (Gedankenlesen). Beim Gedankenentzug wird über das Wegnehmen eigener Gedanken berichtet. Bei der Gedankeneingebung schildert der Patient das Implantieren fremder Gedanken und Vorstellungen in das eigene Erleben im Sinne einer von außen gesteuerten Beeinflussung und Lenkung. Dieses wichtige Kriterium des »Von-außen-Gemachten« findet sich ebenso bei anderen Beeinflussungserlebnissen, etwa in bezug auf Bewegungen, Handlungen, Absichten und Gefühle.
20.4.10 Affektivität 20.4.9
Ich-Störungen
Ich-Störungen sind Störungen in der subjektiven Wahrnehmung der eigenen Person, der Umwelt und der Beziehung dieser beiden Bereiche zueinander. Der Begriff »Ich« ist dabei pragmatisch-empirisch zu verstehen und insoweit nicht Ausdruck eines spezifischen philosophischen Vorverständnisses, etwa eines existenzphilosophischen (vgl. auch Scharfetter 1991). Im Unterschied zur hier vertretenen Auffassung werden die Ich-Störungen, soweit sie im Kontext psychotischer Störungen auftreten und die Auflösung von IchGrenzen meinen, im angloamerikanischen Raum oft nicht als eigenständiger psychopathologischer Merkmalsbereich aufgefasst, sondern den psychotischen Störungen des inhaltlichen Denkens, also dem Wahn, zugeordnet.
Derealisation und Depersonalisation
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Bei der Derealisation erscheinen Personen, Gegenstände, oft die gesamte Umgebung unwirklich, fremdartig, räumlich verändert und damit unvertraut, sonderbar, gespenstisch.
Der Oberbegriff Affektivität umfasst unterschiedliche seelische Phänomene. Gemeinhin wird mit »Stimmung« auf das überdauernde, allenfalls in »langwelligen« Schwankungen verlaufende Moment abgehoben und mit »Affekt« auf das kurze, spontane, aus der jeweiligen Situation entstandene. ! Störungen der Affektivität unterliegen mitunter einer ausgeprägten Tagesrhythmik. Auf derartige zirkadiane Besonderheiten gilt es zu achten, etwa auf ein morgendliches Stimmungs- und Antriebstief. Depressivität. Die Bezeichnung »depressiv« umfasst ein
breites Spektrum von negativ getönten Gefühlszuständen: Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Lustlosigkeit, Interessenverlust, Sorge, Gram, Hilflosigkeit, innere Qual, Verzweiflung, Anspannung, untergründige – seltener auch offene – Gereiztheit und Aggressivität. Die Hoffnungslosigkeit mit ihrer pessimistischen Grundstimmung und fehlenden Zukunftsorientierung gehört in diesen Zusammenhang.
449 20.4 · Deskriptive Erfassung des psychopathologischen ‚Befundes
Gefühllosigkeit. Der zunächst innerlich widersprüchlich
erscheinende Begriff des Gefühls der Gefühllosigkeit zielt ab auf die Reduktion allen affektiven Erlebens, unabhängig von der thematischen Zuordnung des Affekts, und eine subjektiv wahrgenommene Gefühlsleere. Als besonders quälend wird dabei die Unfähigkeit geschildert, Trauer zu erleben oder in einer entsprechenden Situation weinen zu können. Anhedonie. Umfasst die Störung nicht alle Gefühlsquali-
täten, sondern vorwiegend das Erleben von Freude und Wohlgefühl, so spricht man von Anhedonie – ein typisches, wenn auch keineswegs spezifisches Merkmal des schizophrenen Residuums. Dabei handelt es sich ebenso wie beim Gefühl der Gefühllosigkeit um die subjektive Seite von Affektarmut und Affektstarre. Affektarmut und Affektstarre. Sie werden vorwiegend
vom Beurteiler wahrgenommen. Bei ersterer ist das Spektrum gezeigter Gefühle vermindert. Nur wenige oder nur sehr dürftige Affekte sind beobachtbar. Letztere ist Ausdruck einer verminderten Auslenkbarkeit der durchaus vorhandenen einzelnen Affekte, bildlich gesprochen also eine Verminderung der Amplitude affektiver Äußerungen.
für die Diagnose einer Panikstörung darstellt. Es handelt sich um eine schwere Angstattacke, deren Auftreten nicht an besondere situative Umstände gekoppelt ist und die daher für den Betroffenen auch nicht vorhersehbar ist. Ihre Dauer liegt in der Regel zwischen 5 und 15 min. Ausgeprägte Angst geht charakteristischerweise mit vegetativer Begleitsymptomatik wie Schwitzen, Zittern, Herzklopfen oder Ohnmachtsgefühlen einher. Ratlosigkeit. Der ratlose Patient wirkt stimmungsmäßig
wie jemand, der sich nicht mehr zurechtfindet und seine Situation kaum oder gar nicht mehr begreift. Auf den Untersucher wirkt er verwundert und hilflos. Häufig kommt es zu der typischen Konstellation einer ratlosen Verwirrtheit. Diese Verwendung des Wortes »ratlos« unterscheidet sich somit stark von der umgangssprachlichen. Euphorie und Dysphorie. Euphorie meint in psychopatho-
logischer Bedeutung einen Zustand des übersteigerten Wohlbefindens, Behagens, der Heiterkeit, Zuversicht, des gesteigerten Vitalgefühls, Dysphorie hingegen missmutige Verstimmtheit, Übellaunigkeit, Unzufriedenheit, Ärgerlichkeit. Letztere überlappt sich mit der Gereiztheit, die sich bis hin zu aggressiver Gespanntheit steigern kann.
Störungen der Vitalgefühle. Mit diesem nur schwer zu
operationalisierenden Merkmal ist eine allgemeine Herabsetzung des Gefühls von Kraft und Lebendigkeit gemeint. Die Betroffenen klagen darüber, dass sie sich beschwert und geradezu körperlich niedergedrückt fühlten, kraftlos und müde. Dieses Symptom steht häufig im Kontext von Depressivität und Antriebsstörung. Ängstlichkeit. Sie ist ebenfalls ein recht globales psycho-
pathologisches Symptom, das als solches weder hinsichtlich seiner Ätiologie noch seiner genauen diagnostischen Zuordnung eindeutige Schlüsse zulässt. Zu unterscheiden ist zwischen generalisierter und phobischer Ängstlichkeit und der Panikattacke: Generalisierte Angst. Sie wird oft als »frei flottierend« bezeichnet und hat kein konkretes Objekt. Die betroffenen Patienten sprechen etwa von »unbestimmter Angst«, der »Angst vor allem« oder der »Angst vor dem Leben«. Phobische Angst. Phobisch nennt man demgegenüber Ängste vor ganz bestimmten, von den Patienten klar zu bezeichnenden Situationen oder Objekten. Derartige Ängste haben meist Vermeidungsreaktionen zur Folge. Oft wird diese Angst als unbegründet und unangemessen erkannt, ohne dass dies zu einer Erleichterung führt. Panikattacke. Die Bezeichnung Panikattacke geht zwar bereits über die Symptomebene hinaus, soll hier aber erwähnt werden, da sie das wesentliche Merkmal
Innere Unruhe und Klagsamkeit. Einen affektiven und
psychomotorischen Anteil hat die oft als sehr quälend erlebte innere Unruhe, bei der der Betroffene sich aufgewühlt, getrieben, ja gehetzt fühlt. Der Bewegungsaspekt wird dabei vorwiegend durch die Begriffe »Agitiertheit« und »motorische Unruhe« ausgedrückt ( Abschn. 20.4.2 und 20.4.11). Werden die erlebten negativen Affekte sprachlich, mimisch und gestisch ausdrucksstark vorgetragen, so spricht man von Klagsamkeit. Störungen des Selbstwertgefühls. Insuffizienzgefühle
drücken das verlorengegangene Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit oder gar den »Wert« der eigenen Person aus. Ein extremes klinisches Beispiel ist der Patient mit einem nihilistischen Wahn, der bestreitet, als Person überhaupt noch zu existieren, geschweige denn einen Wert für sich oder andere darzustellen. Der umgekehrte Fall ist beim gesteigerten Selbstwertgefühl gegeben. Schuld- und Verarmungsgefühle. Der Schuldgefühle äu-
ßernde Patient macht sich Vorwürfe wegen aus seiner Sicht verfehlter Handlungen, Gedanken oder Wünsche. Dies kann, muss aber nicht in depressives Erleben eingebettet sein, kann, muss aber nicht wahnhaftes Ausmaß annehmen (Schuldwahn). Analoges gilt für die Verarmungsgefühle als Ausdruck der Befürchtung, die Mittel für den Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten zu können.
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Kapitel 20 · Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung
Ambivalenz und Parathymie
Antriebsstörungen
Ambivalenz wird, ähnlich wie Ratlosigkeit, im psychopa-
Antriebsarmut. Ein Mangel an Energie, Initiative und An-
thologischen Kontext sehr viel enger und qualitativ anders gefasst als umgangssprachlich. Sie berührt den Bereich der Affektivität ebenso wie denjenigen des Willens. Gemeint ist die gleichzeitige Existenz widersprüchlicher Gefühle, Vorstellungen, Wünsche, Intentionen, Impulse, was meist als außerordentlich unangenehm, ja quälend erlebt wird. Bei der Parathymie stimmen Gefühlsausdruck und berichteter Erlebnisinhalt nicht überein, es entsteht der Eindruck des Inadäquaten, mitunter auch Paradoxen.
teilnahme an der Umgebung wird als Antriebsarmut bezeichnet. Sie wird subjektiv vom Patienten erlebt und kann dem Untersucher etwa an einer der spärlichen spontanen Motorik oder der mangelnden Initiative im Gespräch deutlich werden. Die Begriffe »Apathie« und, mehr auf den Aspekt der Willensbildung abzielend, »Abulie« gehören in diesen Kontext.
Affektlabilität und Affektinkontinenz Die Affektlabilität ist gekennzeichnet durch schnelle Stimmungswechsel, die sowohl als Reaktionen auf Außenreize im Sinne einer erhöhten affektiven Ansprechbarkeit als auch scheinbar spontan auftreten können. Stärkster Ausprägungsgrad dieses Symptoms ist die Affektinkontinenz, bei der die affektiven Reaktionen schon bei geringem Anlass massiv sind und vom Patienten nicht beherrscht werden können.
20.4.11 Antrieb, Intentionalität, Wille Diese 3 Begriffe, die aus unterschiedlichem ideengeschichtlichen und konzeptuellen Kontext stammen, überlappen sich in ihrer Bedeutung.
Antriebshemmung. Das Phänomen der Antriebshemmung bezieht sich demgegenüber – vergleichbar der Denkhemmung – ausschließlich auf die subjektive Perspektive des Patienten: Initiative- und Planungsfähigkeit sind vorhanden, werden aber als gebremst oder blockiert erlebt. Wünsche und Absichten können geäußert, aber nicht in entsprechende Handlungen umgesetzt werden. Die Intentionalität ist hier – im Unterschied zur Antriebsarmut – nicht oder zumindest nicht notwendigerweise eingeschränkt. Antriebssteigerung. Es findet sich eine Zunahme an En-
ergie, an Aktivität und Planung, wobei dies bei stärkerer Ausprägung mit zunehmend unorganisiertem Verhalten einhergehen kann. Häufig findet sich begleitend eine motorische Unruhe im Sinne einer gesteigerten und ungerichteten motorischen Aktivität. Hier besteht eine inhaltliche Nähe zum psychomotorischen Symptom der Agitiertheit.
Willensstörungen Antrieb. Antrieb meint Initiative, Schwung, Lebendigkeit,
Energie, Zuwendung, Tatkraft, Unternehmungsgeist. In erster Linie wird er erkennbar am Aktivitätsniveau und an der Psychomotorik. Wille. Der Willensbegriff, der noch im 19. Jahrhundert zu
den zentralen Elementen der Psychiatrie und Psychologie gehörte (die Bedeutung des Willensbegriff war damals so groß, dass eine auf ihn gegründete philosophisch-psychologische Weltanschauung, der »Voluntarismus«, entstand), hat wegen seiner besonders schwierigen Operationalisierbarkeit und Quantifizierbarkeit sowie seiner Verankerung in einer heute nicht mehr akzeptierten Vermögens- oder Elementenpsychologie an Bedeutung verloren.
Im Kontext eines katatonen Syndroms kommt es häufig zu komplexen psychopathologischen Phänomenen, die auf eine Willensstörung hinweisen: Im Falle des Befehlsautomatismus führt der Patient Anweisungen auch dann gleichsam »automatenhaft« aus, wenn dies den eigenen Absichten zuwiderläuft und ein willentlicher Entschluss zum Handeln subjektiv gar nicht vorliegt. Negativistische Kranke hingegen tun gerade das nicht, was man von ihnen erwartet oder verlangt (passiver Negativismus), oder sie tun genau das Gegenteil (aktiver Negativismus). Auch die bereits erwähnte Ambivalenz ist oft Ausdruck einer Willensstörung.
20.4.12 Persönlichkeitsmerkmale
Intentionalität. Im Unterschied dazu ist es gelungen, das
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ebenfalls um die Jahrhundertwende entworfene Konzept der »Intentionalität« in aktuelle psychopathologische Forschungsstrategien einzubinden und somit empirischer Überprüfung zugänglich zu machen (Mundt 1985). In der pragmatischen Fassung des Begriffes meint Intentionalität die Fähigkeit, Zielvorstellungen für die unmittelbare und fernere Zukunft entwickeln und entsprechende Handlungsstrategien entwerfen und durchhalten zu können.
Die Einschätzung tragender Persönlichkeitsmerkmale geht auf eine lange, wechselvolle Ideengeschichte zurück und stellt einen wesentlichen, wenn auch besonders schwierigen Bereich bei der psychopathologischen Befunderhebung dar (Saß 1987 b). Der immer wieder anzutreffende Begriff der »Primärpersönlichkeit« sollte dabei vermieden werden, da er zum einen eine sowohl temporale wie kategoriale Trennung
451 20.4 · Deskriptive Erfassung des psychopathologischen ‚Befundes
von Persönlichkeitsentwicklung und späterer seelischer, insbesondere psychotischer Erkrankung suggeriert, was durch die vorliegenden Forschungsergebnisse gerade nicht nahegelegt wird, und zum anderen zur Vernachlässigung der Persönlichkeitsforschung bei bereits psychotisch Erkrankten führen kann.
Persönlichkeitsbeschreibung Wesentliche Felder, zu denen bei der Persönlichkeitsbeschreibung Stellung genommen werden sollte, sind dauerhafte Muster in der Art der Selbstwahrnehmung des Patienten und der Wahrnehmung anderer, sein Wertgefüge, der Umgang mit (Selbst-)Kontrolle und Impulsivität, dauerhafte Charakteristika von Antrieb und Stimmung (»Temperament«), soziale Kompetenzen im Sinne von Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeit und die besonderen Modi des Umgangs mit aversiven Affekten und Konflikten (»Abwehrmechanismen«).
Voneinander abzugrenzen sind dabei: Passive Todeswünsche, suizidale Phantasien, Suizidgedanken, konkrete Pläne, sich das Leben zu nehmen, mit entsprechenden, möglicherweise mehrfach abgebrochenen Vorbereitungen und ausgeführte Suizidversuche.
Parasuizidale Handlungen und selbstschädigendes Verhalten. Der Begriff der »parasuizidalen Handlung« verlässt
die Ebene des deskriptiven psychopathologischen Befundes, da er bereits eine Befundinterpretation darstellt. Seine Verwendung sollte entsprechend vorsichtig erfolgen. Bei selbstschädigendem Verhalten kommt es oft zu Selbstverletzungen zunächst ohne Suizidabsichten. Freilich kommen alle Übergänge zu suizidalem Verhalten vor. Sozialer Rückzug. Er ist ein bei psychischen Störungen
Persönlichkeitszüge. Dabei kann man sich hinsichtlich der vorliegenden Persönlichkeitszüge an den ausgeprägteren Formen der Persönlichkeitsstörungen orien-
tieren: So unterscheidet das DSM-IV 3 Cluster: Zum einen die paranoide, schizoide und schizotypische Persönlichkeitsstörung (sonderbar-exzentrische Züge), zum anderen die antisoziale, Borderline-, histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörung (emotional instabile Züge) und schließlich die selbstunsichere, dependente, zwanghafte und passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung (ängstlichfurchtsame Züge).
häufig beobachtbares Symptom. In ausgeprägten Fällen hat der Betroffene kaum noch Kontakt zu Freunden und Bekannten, zieht sich bei stationärer Behandlung auf der Station häufig ins Zimmer zurück und spricht von sich aus kaum mit anderen Personen. Dieses Phänomen tritt oft im Kontext schizophrener Negativsymptomatik auf, ebenso wie Störungen von Antrieb und Intentionalität, des Denkens und seiner sprachlichen Äußerung sowie der affektiven Resonanz. Da bei der deskriptiven Befunderhebung ätiologische Konnotationen so weit wie möglich vermieden werden sollen, werden diese aus unterschiedlichen Symptombereichen stammenden »Negativsymptome« im jeweiligen Abschnitt beschrieben.
Intelligenz. In den Zusammenhang der Persönlichkeits-
Soziale Umtriebigkeit und Aggressivität. Im Falle sozialer
beschreibung gehört auch die Einschätzung der Intelligenz. Eine allgemeinverbindliche Definition von Intelligenz gibt es nicht. Sicher ist aber, dass Intelligenz mehr ist als die Summe einzelner kognitiver Funktionen und insoweit nur vor dem Hintergrund eines umfassenden psychopathologischen Befundes beurteilt werden kann. Im Rahmen des deskriptiven Vorgehens gewinnt man über die bereits besprochenen Bereiche der Aufmerksamkeit, des Denkens und Gedächtnisses einen Eindruck vom Intelligenzniveau. Eine differenzierte Quantifizierung ermöglichen testpsychologische Verfahren, die methodisch aber jenseits der deskriptiven Ebene angesiedelt sind.
Umtriebigkeit sind die Kontakte zu anderen Personen deutlich vermehrt. Der Patient wendet sich an viele Menschen, ist dabei häufig kritiklos, anklammernd und distanzlos. Dies kann vergesellschaftet sein mit Aggressivität, bei der das Spektrum von mühsam unterdrücktem Schimpfen über Schreien, Beschädigen und Zerstören von Gegenständen bis hin zu Gewalthandlungen gegen die eigene Person oder gegen andere reicht.
20.4.13 Weitere Symptome
und Symptombereiche Suizidalität. Ein besonders wichtiger Bestandteil jeder
psychopathologischen Befunderhebung – ganz unabhängig von der vermuteten Diagnose – ist die aktive Exploration und Beurteilung der Suizidalität.
Krankheitsgefühl und -einsicht. Hinsichtlich der Einstel-
lung des Patienten zu seiner Störung sind 2 Aspekte zu berücksichtigen, die sich in mancherlei Hinsicht berühren, aber keineswegs identisch sind: das Krankheitsgefühl und die Krankheitseinsicht. Von mangelndem Krankheitsgefühl spricht man, wenn der Patient bei deutlicher psychopathologischer Symptomatik – etwa einem gereizt-manischen Syndrom oder einer schweren schizophrenen Negativsymptomatik – angibt, sich in keiner Weise krank oder gestört zu fühlen.
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Kapitel 20 · Deskriptiv-psychopathologische Befunderhebung
Beim Mangel an Krankheitseinsicht räumt der Patient zwar ein, seelisch verändert zu sein, ja sogar unter dieser Veränderung zu leiden, weist aber die Einstufung seines Erlebens und Verhaltens als krankhaft weit von sich. Dies führt nicht selten zur Ablehnung der Behandlung oder zu deren Abbruch. »Vegetative Symptome«. Ein wichtiger Zwischenbereich zwischen psychopathologischem und körperlichem Befund sind: Schlaf- und Vigilanzstörungen (Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen, Verkürzung der Schlafdauer, Früherwachen, verschiedene Formen der Hypersomnie), Appetenzstörungen (sie beziehen sich auf den Appetit, den Durst und das sexuelle Erleben und Verhalten), gastrointestinale Störungen (wie Hypersalivation, Mundtrockenheit, Übelkeit, Erbrechen, Magenbeschwerden, Obstipation, Diarrhö), kardio-respiratorische Symptome (wie Atembeschwerden, Herzklopfen, Herzdruck) sowie Akkommodationsstörungen. Im Falle des Globusgefühls berichtet der Patient über einen »Kloß im Hals«, der vorwiegend in angespannten, ängstlich getönten Situationen auftritt. Hier besteht ein fließender Übergang zu den Konversionssymptomen. Konversionssymptome. Sie sind auf seelischer Grundlage
entstandene, die willkürlichen motorischen oder sensorischen Funktionen betreffende Symptome, die zunächst an ein mehr oder minder umschriebenes neurologisches Defizit denken lassen, etwa Aphonie, Blindheit, Lähmung und Sensibilitätsstörung, Gang- oder Standataxie (Abasie/Astasie) sowie psychogene Anfälle. Konversionssymptome sind als solche deskriptivpsychopathologisch gar nicht abzubilden, da der Begriff stets eine pathogenetische Hypothese mit sich führt. Sie lassen sich nur im Zusammenhang mit dieser Hypothese sowie mit der unauffälligen organischen Befunderhebung erfassen. Somatoforme Störungen. Ähnliche Schwierigkeiten er-
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geben sich bei der Beschreibung der außerordentlich vielgestaltigen Symptombilder, die die somatoformen Störungen ganz allgemein kennzeichnen. Häufig sind die folgenden Bereiche betroffen: Schmerzen in unterschiedlichen Körperregionen, gastrointestinale Symptome, sexuelle Störungen, urologische Symptome, Müdigkeit, Appetitlosigkeit,
übermäßige Beschäftigung mit einer nicht oder nur in sehr geringem Ausmaß vorhandenen körperlichen Auffälligkeit (etwa die Gesichtsform, die Haut oder die Haare betreffend). Da diese Symptome in das gesamte Erleben des Patienten eingebettet sind und aus dessen Sicht einen großen, wenn nicht sogar dominierenden Einfluss auf sein Leben haben, müssen sie im Befund sorgfältig erfasst werden. Sie überlappen sich allerdings mit einer ganzen Reihe von Symptombereichen, etwa den Störungen der Affektivität, der Psychomotorik und den Auffälligkeiten der Persönlichkeit. Basissymptome schizophrener Störungen. Im Zusam-
menhang mit deskriptiver psychopathologischer Befunderhebung bedarf das von der Bonner Arbeitsgruppe um Huber und Gross auf empirischer Grundlage erarbeitete Basisstörungskonzept schizophrener Störungen besonderer Erwähnung (Huber et al. 1979). Es beinhaltet eine differenzierte Systematik von »Basissymptomen«, die als uncharakteristische – und daher nosologisch unspezifische – psychopathologische wie körperliche Erscheinungen dem Auftreten der floriden Psychose um Jahre vorausgehen können (Klosterkötter 1992). Basissymptome bleiben allerdings überwiegend im Subjektiven und sind daher nur anhand der Selbstschilderungen der Patienten zu erkennen, was sie für einen sehr eng gefassten, die Verhaltensebene bevorzugenden deskriptiven Zugang problematisch macht. Ein eigens entwickeltes standardisiertes Erhebungsinstrument (Bonner Skala zur Dokumentation von Basissymptomen, BSABS) ermöglicht ihre Erfassung gemäß festgelegter Kriterien. Die Basissymptome überlappen sich natürlich in vielen Punkten mit den oben beschriebenen psychopathologischen Symptombereichen, werden im Rahmen des Basisstörungskonzeptes jedoch häufig in ihrer Bedeutung anders nuanciert als etwa im AMDP-System. Hauptkategorien von Basisstörungen sind: Dynamische Defizienzen mit direkten oder indirekten Minussymptomen (erhöhtes Schlafbedürfnis, Entschlussschwäche, Störung der Kontaktfähigkeit, erhöhte Beeindruckbarkeit und Erregbarkeit), kognitive Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstörungen (Gedankendrängen, Konkretismus, Geräuschüberempfindlichkeit, sensorische Überwachheit, Mikro- und Makropsie), Zoenästhesien (Taubheitsgefühle, wandernde Missempfindungen, Bewegungs-, Zug- und Druckempfindungen im Körperinnern, Erlebnisse der Verkleinerung und Schrumpfung), zentralvegetative Störungen (paroxysmale Tachykardien, Übelkeit, Schlafstörungen).
453 Literatur
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20
21 21 Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik H.-J. Möller
21.1
Einleitung
– 456
21.2
Skalierung, Scorebildung und Gütekriterien von standardisierten Untersuchungsverfahren – 456
Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Erfassung des psychopathologischen Befunds – 460 21.3.1 Häufig verwendete Fremdbeurteilungsskalen zur Befunderhebung – 467
21.3.2 Häufig verwendete Selbstbeurteilungsskalen zur Befunderhebung – 472 21.4
Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik – 474
21.5
Systematische Verhaltensbeobachtung – 476
21.3
Literatur
– 477
> > Ziel der standardisierten psychiatrischen Befunderhebung ist es, psychopathologische Symptome objektivierbar und quantifizierbar zu machen. Als Methoden werden Fremd- oder Selbstbeurteilungsskalen zur Erfassung aktueller psychopathologischer Symptomatik bzw. habitueller Persönlichkeitszüge sowie aber auch Persönlichkeitsfragebögen und systematische Verhaltensbeobachtungen eingesetzt. Standardisierte Untersuchungsverfahren müssen so weit wie möglich den testtheoretischen Gütekriterien entsprechen. Auch objektive Tests können zu den Verfahren der standardisierten psychiatrischen Befunderhebung gezählt werden. Sie gehen aber in ihrer methodischen Stringenz über das Niveau der sonstigen Verfahren der standardisierten psychiatrischen Befunderhebung hinaus.
456
21
Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
21.1
Einleitung
Durch die Anwendung standardisierter Untersuchungsverfahren in der Psychiatrie sollen psychopathologische Phänomene oder sonstige klinisch relevante Aspekte objektiviert und quantifiziert werden, um sie damit besser kommunizierbar, nachprüfbar und statistisch auswertbar zu machen (Stieglitz u. Baumann 1994; Möller et al. 1996; Rösler 1998; Gaebel et al. 1998; Stieglitz 1998). Die standardisierten Untersuchungsmethoden können nach ihrer Methode unterteilt werden in standardisierte Beurteilungsskalen, systematische Verhaltensbeobachtung und objektive Tests im engeren Sinne des Wortes (v. Zerssen u. Möller 1980). Standardisierte Beurteilungsskalen. Unter diesen Verfah-
ren (auch Schätzskalen genannt) versteht man die durch Merkmallisten und ggf. dazugehörige Merkmalsbeschreibung strukturierte Einschätzungen über gegenwärtiges und/oder vergangenes Verhalten und/oder Erleben. Der Grad der Standardisierung schwankt von der einfachen Symptomliste, die auf der Basis freier Exploration ausgefüllt wird, bis zum semi- oder vollstrukturierten Interviewleitfaden. Diese standardisierten Beurteilungsverfahren sind geeignet für die Erfassung des Gesamtspektrums psychiatrischer Symptomatik und besonders praktikabel, da sie weniger restriktiv sind als die anderen Verfahren. Eine Reihe von allgemein gebräuchlichen Untersuchungsinstrumenten steht zur Verfügung. Zu den standardisierten Beurteilungsskalen können auch Persönlichkeitsfragebögen gezählt werden.
Systematische Verhaltensbeobachtung Dabei werden nach einem festgelegten Kategoriensystem Anzahl und Art von Verhaltensweisen (z. B. Ausdruck, Handlung) während festgelegter Beobachtungsabschnitte (Zeitstichprobenverfahren, Ereignisstichprobenverfahren) erfasst. Dieses Verfahren zielt in der Regel auf manifestes Verhalten ab, wobei die Kategoriensysteme oft speziell für die jeweilige Fragestellung entwickelt werden. Sie wird insbesondere gern im Rahmen der Verhaltenstherapie und der Erforschung von Ausdrucks- und Interaktionsphänomenen angewendet. Objektive Tests. Objektive Tests messen Reaktionen auf standardisiert vorgegebenes »Reizmaterial«. Sie dienen der Analyse bestimmter psychischer Funktionen wie Wahrnehmung, Konzentration, Merkfähigkeit, Intelligenz u. a., überwiegend unter dem Aspekt der Leistung. Dazu gehören z. B. Konzentrationsleistungstests, Vigilanztests, Intelligenztests, Bestimmung der Flimmerverschmelzungsfrequenz. Diese Tests heißen »objektiv«, weil sie kaum durch den Untersucher oder Probanden verfälschbar sind und feste Auswertungs- und an Normen orien-
tierte Beurteilungsmaßstäbe vorlegen. Sie gehen damit in der methodischen Stringenz über die Beurteilungsskalen und die systematische Verhaltensbeobachtung hinaus. Vorzüge der standardisierten Beurteilungsskalen. Wegen
ihrer hohen Praktikabilität wird in der klinisch psychiatrischen Forschung, z. B. bei der klinischen Prüfung von Psychopharmaka, bei Langzeitverlaufsanalysen, in der klinischen Routinedokumentation oder in epidemiologischen Untersuchungen (Cronholm u. Daly 1982; Möller et al. 1983), den standardisierten Beurteilungsskalen in vielen Bereichen der Vorzug gegeben gegenüber den anderen genannten Methoden, obwohl die Beurteilungsskalen den objektiven Tests und der systematischen Verhaltensbeobachtung hinsichtlich des Präzisionsniveaus methodisch unterlegen sind. Wegen der breiten Anwendung der standardisierten Beurteilungsverfahren in der psychiatrischen Praxis und Forschung werden diese ins Zentrum der folgenden Darstellung gerückt. Die testpsychologischen Verfahren werden in einem eigenen Kapitel ( Kap. 22) dargestellt.
21.2
Skalierung, Scorebildung und Gütekriterien von standardisierten Untersuchungsverfahren
Skalierung Standardisierte Untersuchungsverfahren erfassen, sofern sie quantifizierend vorgehen, die Ausprägung psychischer Normabweichungen in Zahlenwerten. Die möglichen Ausprägungsgrade sind auf Skalen des jeweiligen Messinstruments, vorgegeben. Im einfachsten Falle einer Skalierung (z. B. bei einer Symptom-Checkliste) wird lediglich das Vorhandensein eines Symptoms oder eines Merkmalskomplexes durch die Zahlenwerte 1 bzw. 0 registriert. Eine differenziertere Beurteilung wird dadurch möglich, dass die Skalierung mehrere Abstufungen der Merkmalsausprägung umfasst. Da die Gefahr besteht, dass verschiedene Beurteiler bei der Bewertung unterschiedliche Maßstäbe zugrunde legen, ist es sinnvoll, den Beurteilungsspielraum durch Angabe von Eichpunkten festzulegen, z. B. durch Angabe von Handlungsbeispielen, die für einen bestimmten Skalenpunkt charakteristisch sind. Eine zu weit gehende Differenzierung der Beurteilung im Sinne einer zu großen Skalenbreite ist nicht sinnvoll, da u. U. im Extrembereich durch höhere Skalenwerte keine echten Unterschiede der untersuchten Phänomene mehr erfasst und somit nur noch Scheindifferenzierungen vorgenommen werden. Es gibt auch standardisierte Untersuchungsverfahren, die kontinuierlich variierende Werte liefern und dadurch eine beliebig feine Skalierung ermöglichen: z. B. grafische Einstufungsmethoden zur Befindlichkeit (Luria 1975).
457 21.2 · Skalierung, Scorebildung und Gütekriterien von standardisierten Untersuchungsverfahren
Wegen der prinzipiellen Ungenauigkeit der Beurteilung psychischer Phänomene ist allerdings zumeist eine grobe Skalierung ausreichend, insbesondere für interindividuelle Vergleiche. Eine Feinskalierung kann allenfalls für intraindividuelle Vergleiche von Vorteil sein. Eine Verbesserung der Messgenauigkeit ist aber i. Allg. nicht durch eine Verfeinerung der Skalierung zu erreichen, sondern nur durch eine Verbesserung der Messinstrumente (v. Zerssen 1977).
Summenscore Die Zusammengehörigkeit von Merkmalen im Sinne eines Syndroms wird bei der Testkonstruktion (s. unten) durch Anwendung multivariater statistischer Verfahren (Faktoren- bzw. Clusteranalyse) empirisch ermittelt. Die Zahlenwerte für zusammengehörige Merkmale (z. B. die Einzelsymptome eines Syndroms) können zu einem Summenscore addiert werden. Eventuell wird bei bestimmten Items eine Multiplikation mit Gewichtszahlen gemäß den Ladungen auf den jeweiligen Faktoren vorgenommen, die die Bedeutung des jeweiligen Merkmals für den Merkmalskomplex repräsentieren, bevor die Ausprägungsgrade der Einzelmerkmale zu einem Summenscore addiert werden.
Skalenniveau Mit standardisierten Untersuchungsskalen gewonnene psychopathometrische Messdaten haben meist nur das Messniveau von Ordinalskalen, d. h. sie geben eine Rangordnung an und haben nicht das Messniveau einer Intervallskala (z. B. Zentimetermaß), bei der die Maßeinheiten äquidistante Intervalle angeben. Dieser Nachteil wird aber in Kauf genommen wegen gleichzeitiger andersgerichteter Vorteile. Ein Grundproblem psychometrischer Verfahren ist, dass Messungen mit höherem Skalenniveau und besserer Messgenauigkeit auch größere Restriktionen gegenüber den zu messenden Sachverhalten mit sich bringen. Das bedeutet in der Regel, dass mit zunehmender Qualität des Messens eine zunehmende Abstraktion vom theoretischen oder konventionellen Vorverständnis dieses Merkmals verbunden ist (ReliabilitätsValiditäts-Dilemma).
Testtheoretische Gütekriterien Standardisierte Untersuchungsverfahren sollten so weit wie möglich den folgenden testtheoretischen Gütekriterien entsprechen (Lienert 1969; Fischer 1974; Sarris u. Rey 1981): Objektivität: Unabhängigkeit der Ergebnisse vom Untersucher und Auswerter. Durchführung, und Interpretation sollten soweit standardisiert sein, dass – von wem auch immer die Untersuchung durchgeführt, ausgewertet oder interpretiert wird – möglichst gleiche Ergebnisse resultieren. Reliabilität: Zuverlässigkeit, mit der ein standardisiertes Untersuchungsverfahren ein Merkmal erfasst. Bei
Messwiederholung sollte möglichst das gleiche Ergebnis resultieren. Validität: Genauigkeit, mit der das erfasst wird, was erfasst werden soll. Der Zusammenhang des Messresultats mit dem jeweiligen Außenkriterium für das zu Messende sollte möglichst eng sein. Normierung: Vorliegen von Referenzwerten über verschiedenartig zusammengesetzte klinische Gruppen und verschiedene Gruppen normaler Probanden sowie ggf. einer repräsentativen Stichprobe der Durchschnittsbevölkerung. Praktikabilität: Der zeitliche, personelle und materielle Aufwand für die Durchführung des standardisierten Untersuchungsverfahrens sollte möglichst gering sein. ! Ausdrücklich betont sei, dass bei Übersetzung einer Skala von einer Sprache in die andere unbedingt erneute Validierungsuntersuchungen mit der übersetzten Version durchgeführt werden müssen.
Normwerte Während die Angabe von Normwerten für psychologische Testverfahren im engeren Sinne nahezu eine Selbstverständlichkeit geworden ist, wird bei den standardisierten Beurteilungsverfahren großzügiger verfahren. So ist z. B. die Inpatient Multidimensional Psychiatrie Scale (IMPS; Lorr 1974) die einzige Fremdbeurteilungsskala zur Psychopathologie, die Normwerte aus einer repräsentativen Stichprobe der Durchschnittsbevölkerung angibt (Hiller et al. 1986). Mehrere klinische Beurteilungsskalen geben Referenzwerte für bestimmte Diagnosegruppen an. Durch die Bezugnahme auf Normwerte bzw. Referenzwerte wird die Interpretation von Ergebnissen erheblich verbessert, z. B. haben mäßiggradige Scorewerte im Bereich des paranoiden Syndroms eine ganz andere Bedeutung als mäßiggradige Werte im depressiven Syndrom, da in der Allgemeinbevölkerung Depressivität weit verbreitet ist, hingegen paranoide Symptomatik nicht. Bezug zur Normalverteilung. Bei der Angabe von Normen bzw. Referenzwerten für ein standardisiertes Untersu-
chungsverfahren wird bei den meisten Verfahren von der Normalverteilung der Messwerte ausgegangen. Dies ist gleichzeitig die Voraussetzung für die Angabe von Vertrauensbereichen (s. unten) sowie die Anwendung bestimmter statistischer Verfahren (z. B. Produkt-MomentKorrelation). Zur Beschreibung einer speziellen Normalverteilung müssen 2 Kennwerte angegeben sein: das arithmetische Mittel X aller Testwerte Xi und ein Maß für die Streuung der Werte um diesen Mittelwert, meist als Standardabweichung s angegeben. Die Gesetzmäßigkeiten der Gauß-Kurve ermöglichen es, Angaben darüber zu machen, wieviele Patienten jeweils einen bestimmten Testwert haben. So haben z. B. 68% der Patienten einen Testwert von X+/–1 s, etwa 95 einen Testwert von X+/–2 s.
21
458
21
Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
Aufgrund der Normwerte kann angegeben werden, an welcher Stelle das Individuum A im Vergleich zu einer Referenzpopulation steht (⊡ Abb. 21.1). Mittelwert als Standardverteilung. Als einfaches Verfah-
ren zur Charakterisierung der Norm können Mittelwert und Standardabweichung angegeben werden. Bereits daraus lässt sich eine Angabe über die Position des Probanden im Vergleich zu einer Referenzpopulation machen. Die Bezugnahme auf die Standardabweichung eines speziellen Tests hat aber den Nachteil, dass es schwerfällt, die Ergebnisse mehrerer Tests eines Probanden zu vergleichen. Um dies zu ermöglichen, kann man auf Standardnormwerte, z. B. z-Werte umrechnen, d. h. das Ergebnis eines jeden Tests wird in Einheiten der testspezifischen
Standardabweichung ausgedrückt. Ähnlich lassen sich durch Angabe von Prozentrangplätzen die Ergebnisse eines Probanden in verschiedenen Tests vergleichen, indem eine Aussage darüber gemacht wird, wieviel Prozent der Referenzpopulation niedrigere oder höhere Werte haben. Bedeutung von Normwerten. Die Relevanz von Norm-
werten sei am Beispiel der IMPS verdeutlicht. Diese Normwerte machen deutlich, dass Rohwerte zur Befundskala, die numerisch gleich sind, eine völlig unterschiedliche psychopathologische Relevanz haben, je nachdem, ob ein bestimmtes Symptom häufiger in der Durchschnittsbevölkerung auftritt – wie z. B. Depressivität – oder extrem selten – wie z. B. Wahn (Hiller et al. 1986).
⊡ Abb. 21.1. Die Beziehung einiger gebräuchlicher Normskalen zur Normalverteilungskurve
Leicht kann man sich an der grafischen Darstellung in ⊡ Abb. 21.2 orientieren. Dort ist in einem Profilblatt (Pd) auf Achsen für jedes IMPSSyndrom angegeben, wie häufig die einzelnen Rohwerte (RW) in der repräsentativen Bevölkerungsstichprobe vorgekommen sind (Angaben in Prozent). Rohwert 1 hat im EXC-Syndrom (euphorische Erregtheit) eine mittlere Auftretenshäufigkeit von 79%. Wenn nur solche Werte als »unauffällig« definiert würden, die mindestens 75% aller Personen der Bevölkerungsstichprobe erreichen (gemeint ist die mittlere Auftretenshäufigkeit), so würde RW 1 nicht mehr in diesen Bereich fallen. Für Syndrom GRN (Größenwahn) andererseits ist ein RW 1 in der Bevölkerungsstichprobe so selten, dass durchschnittlich nur 2% diesen GRN-Score (Größenwahn) oder einen höheren Wert erreichen. Man kann die Syndromrohwerte einer beurteilten Person in ein Profilblatt eintragen, wie es in ⊡ Abb. 21.2 abgebildet ist, und würde so ein Syndromprofil erhalten, das die Relation der erhaltenen Rohwerte zur Auftretenswahrscheinlichkeit in der Normalbevölkerung beschreibt. Werden nur Werte unterhalb einer mittleren Auftretenswahrscheinlichkeit von 75% als unauffällig angesehen, so sind für IMP (Erschöpftheit/Vitalstörungen) ein RW 1, für alle anderen Syndrome nur Werte von 0 akzeptabel. Häufig wird der Bereich nichtpathologischer, unauffälliger Symptomatik durch Syndromwerte definiert, die in der Normalbevölke-
rung bei durchschnittlich bis zu 90% aller untersuchten Personen auftreten. Dann sind folgende Werte tolerabel: RW 1 für HOS (dysphorische Erregtheit), ANX (depressives Syndrom), RTD (Verlangsamung/ Apathie), RW 2 für EXC (euphorische Erregtheit), RW 3 für IMP (Erschöpftheit/Vitalstörungen). Syndromwerte im Bereich einer mittleren Auftretenswahrscheinlichkeit zwischen 95 und 99% werden häufig als »auffällig« gekennzeichnet. Die für diese Zone relevanten Rohwerte sind leicht aus ⊡ Abb. 21.2 ersichtlich. Als »stark auffällig« lassen sich Syndromwerte charakterisieren, die nur in weniger als 1% aller Fälle in der Normalbevölkerung auftreten. Das ergibt für die vorliegende Stichprobe folgende Grenzen: RW 1 oder größer für PCP (Trugwahrnehmungen), RW 2 oder größer für GRN (Größenwahn), MTR (katatones Syndrom), CNP (formale Denkstörungen), RW 3 oder größer für OBS (phobisch-anankastisches Syndrom), RW 4 oder größer für PAR (paranoides Syndrom), RW 6 oder größer für HOS (dysphorische Erregtheit), RTD (Verlangsamung/Apathie), RW 7 oder größer für ANX (depressives Syndrom), RW 8 oder größer für EXC (euphorische Erregtheit), DIS (Desorientiertheit), RW 11 oder größer für IMP (Erschöpftheit/Vitalstörungen).
459 21.2 · Skalierung, Scorebildung und Gütekriterien von standardisierten Untersuchungsverfahren
⊡ Abb. 21.2. Profilblatt für IMPSWerte in der Durchschnittsbevölkerung (BRD). Angegeben sind durchschnittliche Auftretenswahrscheinlichkeiten von Rohwerten (RW) in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe (auf der Senkrechten). Auf den 12 Achsen sind einzeln für jedes IMPS-Syndrom alle jeweils möglichen Rohwerte eingetragen. Der in dem Einzelbefund ermittelte Rohwert kann hier markiert werden. (EXS euphorische Erregtheit/»exitement«, HOS dysphorische Erregtheit/»hostile belligerence«, PAR paranoides Syndrom/»paranoid projection«, GRN Größenwahn, PCP Trugwahrnehmungen, ANX depressives Syndrom/ »anxious depression«, RTD Verlangsamung/Apathie, DIS Desorientiertheit/»disorientation«, MTR katatones Syndrom/»motor disturbance«, CNP formale Denkstörungen/»conceptual disorganization«, IMP Erschöpftheit/ Vitalstörungen, OBS phobisch-anankastisches Syndrom/»obsessive phobic«). (Hiller et al. 1986)
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Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
Bereinigte Stichproben Zusätzlich bietet sich die Möglichkeit, die errechneten Syndromwerte mit Durchschnittswerten für eine von »psychiatrischen Fällen« bereinigte Stichprobe zu vergleichen (Kriterium: keine Diagnose nach den Systemen ICD und DSM-III).
Referenzwerte Eine analoge Funktion wie die Normwerte haben Referenzwerte von verschiedenen klinischen Diagnosegruppen. Sie verhelfen dazu, den Einzelbefund eines Patienten mit einer bestimmten Diagnose in Relation zu setzen zu einer Gruppe von Patienten mit derselben Diagnose. Die unterschiedliche Relevanz eines Syndromwerts wird aus den Syndromprofilen für verschiedene Diagnosegruppen deutlich.
21.3
Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Erfassung des psychopathologischen Befunds
Standardisierte Beurteilungsverfahren beziehen sich auf vergangenes oder gegenwärtiges Verhalten bzw. Erleben. Der Ausprägungsgrad psychischer Normabweichungen wird auf vorgegebenen Skalen geschätzt. Die Schätzskalen können sich auf einen Aspekt (eindimensionale Skalen),
z. B. Angst, oder mehrere Aspekte (mehrdimensionale Skalen, ⊡ Abb. 21.3) der Psychopathologie beziehen. Die Beurteilung eines Aspekts kann jeweils global erfolgen oder sich auf einzelne Merkmale des zu beurteilenden Aspekts beziehen, z. B. auf die einzelnen Symptome des depressiven Syndroms. Im letzteren Fall wird der zugehörige Skalenwert erst im Anschluss an die Beurteilung durch Summation aus den Werten der einzelnen Merkmale errechnet.
Standardisierung Die standardisierten Beurteilungsskalen, auch Schätzskalen genannt, stehen hinsichtlich Standardisierung in der Mitte zwischen freier klinischer Beurteilung und objektiven Tests. Die Standardisierung beschränkt sich bei einigen dieser Instrumente auf die Vorgabe der Items und der zugehörigen Beurteilungskategorien sowie auf den Auswertungsmodus (man errechnet gewöhnlich einen oder mehrere Summenscores). Bei anderen schließt sie den zu beurteilenden Zeitraum, bei weiteren auch die Beobachtungssituation selber ein. Wenn dem Untersucher keine Möglichkeit zu freier Exploration verbleibt, sondern er lediglich vorgegebene Fragen eines Interviewleitfadens in der vorgegebene Reihenfolge vorliest und die Antworten kodiert, spricht man von einem vollstrukturierten oder standardisierten Interview. Je weiter die Standardisierung fortgeführt wird, desto größer wird
45 40
Schizophrene Psychose n = 76
35 30 25 20 15 10 5 0 45
PARHAL
NAMDP
APA
DEPRES
MANI
HOST
ZWANG
VEGET
PSYORG
PARHAL
NAMDP
APA
DEPRES
MANI
HOST
ZWANG
VEGET
PSYORG
40
Affektive Psychose
35
n = 32
20
30 25
15 10 5 0
⊡ Abb. 21.3. Profile der AMDP-Syndrome bei Einweisung schizophrener Patienten und Patienten mit affektiven Psychosen (Möller et al. Unveröffentlichte Daten. Psychiatrisches Universitäts Hospital, Bonn). PARHAL Paranoid-hallozinatorisches Syndrom; NAMDP
Negatives Syndrom; APA Apathisches Syndrom; DEPRES Depressives Syndrom; MANI Manisches Syndrom; HOST Hostilitätssyndrom; Zwang Zwangssyndrom; VEGET Vegetatives Syndrom; PSYORG Psychoorganisches Syndrom
461 21.3 · Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Erfassung des psychopathologischen Befunds
i. Allg. die Reliabilität eines Schätzverfahrens. Zugleich büßt ein stärker standardisiertes Verfahren aber an Praktikabilität ein. Deshalb werden gerade im klinischen Alltag wie auch bei mit geringerem Aufwand durchgeführten Forschungsvorhaben die einfachen Schätzskalen den voll strukturierten, z. B. dem »Present State Examination«
(PSE; Wing et al. 1978), vorgezogen. Letztere setzen ein voll strukturiertes Interview voraus, während die einfachen Schätzskalen nach einer üblichen psychiatrischen Exploration ausgefüllt werden können. Auch dabei sollten allerdings gewisse Standardisierungsregeln beachtet werden (s. Übersicht)
Allgemeine Regeln zur Beurteilung von Symptomen im Rahmen einer Fremdbeurteilungsskalenuntersuchung. [Mod. Version der allgemeinen Beurteilungsregeln der IMPS (Hiller et al. 1986)] 1. Beurteilen Sie den Patienten nur aufgrund ihres eigenen Interviews. Berücksichtigen Sie nur, was der Patient tut, was er spontan berichtet und was er auf Befragen angibt. Lassen Sie frühere Stations- und Explorationsdaten sowie frühere sozialanamnestische Beschreibungen unberücksichtigt. 2. Richten Sie sich nur nach Verhalten und Angaben des Patienten. Wird ein Verhalten nicht berichtet und ist es auch nicht beobachtbar, so schätzen Sie es als nicht gegeben ein, auch wenn Sie aufgrund anderer Daten davon überzeugt sind, dass der Patient ein solches Verhalten zeigt. 3. Vergleichen Sie den Patienten mit normalen Personen. Als Standard für einen Vergleich sollte das typische Benehmen oder Verhalten eines Menschen vergleichbaren Alters, gleichen Geschlechts und vergleichbarer sozialer Schicht sein. 4. Dokumentieren Sie, was am typischsten und am charakteristischsten ist. Das Verhalten, das während des Interviews gezeigt wird, kann variieren. Versuchen Sie, auf das hinzuweisen, was am charakteristischsten erscheint. 5. Beurteilen Sie gegenwärtiges, nicht zurückliegendes Verhalten und Erleben. Die Betonung liegt auf dem hier und jetzt gezeigten Verhalten sowie auf Berichten über gegenwärtige Gedanken und Gefühle. Ggf. werden genauere zeitliche Festlegungen in der Skala vorgegeben. 6. Berücksichtigen Sie jede Frage unabhängig von anderen Fragen.
Die Interbeobachterübereinstimmung insbesondere der einfachen Schätzskalen kann bei Fremdbeurteilungsverfahren durch systematisches gemeinsames Training der Untersucher verbessert werden (Heimann et al. 1977). Die bei mit großem personellem Aufwand durchgeführten Untersuchungen einsetzbaren vollstrukturierten Interviewmethoden garantieren prinzipiell eine bessere Inter-
7.
8.
9.
10.
11.
Bemühen Sie sich nicht, ein in sich stimmiges Bild oder ein geschlossenes dynamisches Modell zu zeichnen. Es ist allzu bekannt, dass Patienten aus dynamischen Gründen sehr wohl ein scheinbar gegensätzliches Verhalten offenbaren können. Schließen Sie nicht vom Vorhandensein oder Fehlen eines Merkmals auf eine anderes Merkmal. Vermeiden Sie psychodynamische Interpretationen. Soweit möglich, richten Sie ihre Beurteilung nach den sichtbaren Verhaltensweisen des Patienten und dem unmittelbaren ersten Eindruck. Wenn beispielsweise ein Patient übertrieben höflich und ehrerbietig ist, schätzen Sie ihn nicht als (unbewusst) feindselig ein. Berücksichtigen Sie die Reaktionen des Patienten Ihnen gegenüber. Bei der Beurteilung von Merkmalen wie Feindseligkeit, dominierendem Verhalten oder gefühlsbetonten Reaktionsweisen berücksichtigen Sie das Verhalten des Patienten Ihnen gegenüber zusammen mit seinen eigenen Aussagen. Benutzen Sie extreme Schätzungen, wann immer es gerechtfertigt erscheint. Vermeiden Sie bei allen Items die Tendenz, im Bereich des mittleren Teils zu schätzen. Beurteilen Sie jeden Punkt schnell. Wenn Sie nicht in der Lage sind, eine Entscheidung zu fällen, gehen Sie zur nächsten Frage über und kommen auf die übersprungene Frage später wieder zurück. Beurteilen Sie jede Frage. Wenn Informationen, die zur Beantwortung einer Frage benötigt werden, nicht erhalten werden können, schätzen Sie »nicht vorhanden«.
beobachterübereinstimmung und sind deswegen insbesondere bei multizentrischen multinationalen Studien, in denen mit großen Diskrepanzen nicht nur hinsichtlich der Befundbeurteilung, sondern auch hinsichtlich der psychiatrischen Untersuchungstechnik zu rechnen ist, von Vorteil.
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Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
Fremdbeurteilungsskalen
Schwerpunkt der Fremdbeurteilungsskalen. Fremdbeur-
Die standardisierten Beurteilungsskalen lassen sich nach dem Beurteiler in Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen unterteilen. Bei Fremdbeurteilungsverfahren wird die Beurteilung psychopathologischer Normabweichungen durch geschulte Beurteiler (Ärzte, Psychologen, Pflegepersonal, ad hoc geschulte Laien u. ä.) oder durch Bezugspersonen (Partner, Angehörige, Freunde u. a.) durchgeführt. Die Beurteilung bezieht sich auf Verhalten und/ oder Erleben des Patienten und stützt sich auf eigene Beobachtungen des Untersuchers und/oder die Angaben des Patienten. Fremdbeurteilungsskalen müssen so konstruiert sein, dass sie dem speziellen Ausbildungsniveau des jeweiligen Untersuchers angemessen sind. Dementsprechend gibt es Skalen, für psychiatrisch geschulte Ärzte z. B. das AMDP-System (Baumann u. Stieglitz 1983), für klinische Psychologen z. B. das »Structured Clinical Interview« (SCI; Burdock u. Hardesty 1969), für psychiatrisch geschultes Pflegepersonal z. B. die »Nurses’ Observation Scale für Inpatient Evaluation« (NOSIE; Honigfeld u. Klett 1965) und Skalen für Angehörige des Patienten z. B. die »Symptoms and Social Behavior Rating Scale for Relatives« (Katz u. Lyerly 1963).
teilungsskalen beziehen sich zumeist auf den psychopathologischen Befund, entweder unter der globalen epidemiologischen Fragestellung »Fall oder Nichtfall«, z. B. das Interview von Goldberg et al. (Goldberg 1972), oder mit dem Ziel, Teilaspekte des psychopathologischen Befunds wie Depressivität oder Angst, z. B. mit der Hamilton-Depressionsskala bzw. der Hamilton-Angstskala (Hamilton 1959, 1967) bzw. die gesamte Bandbreite der Psychopathologie, z. B. AMDP-Befundbogen (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie 2000) differenziert zu erfassen. Bei den die gesamte Psychopathologie erfassenden Skalen ist eine Akzentuierung üblich, insbesondere die Symptomatik funktioneller Psychosen betreffend, während organische Symptomatik wie auch neurotische Symptomatik meist nur in beschränktem Ausmaß berücksichtigt wird. Zur speziellen Erhebung dieser Bereiche empfehlen sich Skalen, die besonders auf diese Symptomatik abzielen (⊡ Tab. 21.1). Auch im Rahmen des AMDP-Systems wurden Skalen zur Erfassung spezieller Syndrome entwickelt (Freyberger u. Möller 2004).
⊡ Tab. 21.1. Übersicht zu klinischen Fremdbeurteilungsskalen zur Erfassung psychopathologischer Symptomatik Verfahren
Abkürzung
Kennzeichen
Brief Psychiatric Rating Scale (Overall u. Gorham 1976)
BPRS
18 Symptomkomplexe, Gesamtwert und 5 Subskalen
Comprehensive Psychiatric Rating Scale (Asberg et al. 1978; Kuny et al. 1982)
CPRS
65 Items, 4 Subskalen, 2 übergeordnete Skalen
Befundbogen des AMDP Systems (AMDP 2000)
AMDP
140 Items, 9 Subskalen, 3 übergeordnete Skalen
Inpatient Multidimensional Psychiatric Scale (Hiller et al. 1986)
IMPS
90 Items, Gesamtwert, 12 Subskalen
1. Gesamtpsychopathologie
2. Depressivität Hamilton Depression Scale (Hamilton 1976 a)
HAMD
17–21 Items, 2–6 Subskalen
Montgomery-Asberg-Depression-Scale (Montgomery u. Asberg 1979)
MADRS
10 Items, Gesamtwert
BRMAS
11 Items, Gesamtwert
PANSS
30 Items, Gesamtwert, 3 Subskalen
Anxiety Status Inventory (Zung et al. 1976 a)
ASI
20 Items, Gesamtwert
Hamilton Anxiety Scale (Hamilton 1976 b)
HAMA
14 Items, Gesamtwert
Y-BOCS
10–19 Items, 1 Gesamtwert, 2 Subskalen
Arbeitsgemeinschaft für Gerontopsychiatrie (Gutzmann et al. 1989)
AGP-System
176 Items, 6 Subskalen
Alzheimer Dementia Assessment Scale (Ihl u. Weyer 1993)
ADAS
21 Items, 1 Gesamtwert, 2 Subscores
3. Manie Bech-Rafaelsen Mania Scale (Bech et al. 1978, 1991) 4. Schizophrenie Positive and Negative Syndrome Scale (Kay et al. 1988) 5. Angststörungen
6. Zwangsstörungen Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Goodman et al. 1989 a, b) 7. Demenz
463 21.3 · Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Erfassung des psychopathologischen Befunds
Erhebung anderer Merkmalsbereiche. Außer dem psy-
chopathologischen Befund können andere Merkmalsbereiche durch Fremdbeurteilungsskalen erfasst werden, z. B. die soziale Adaptation (Weissman et al. 1981) oder die Lebensqualität (Faltermaier et al. 1987). Auch Persönlichkeitszüge (Möller u. v. Zerssen 1987) und Persönlichkeitsstörungen lassen sich so abbilden, wie u. a. die diesbezügliche Skalenentwicklung für die standardisierte Beurteilung der Achse II (Persönlichkeitsstörungen) des DSM-III, DSM-IV bzw. der ICD-10 zeigt (Pfohl et al. 1989; Saß 1986; Stangl et al. 1985; Hyler et al. 1988; Loranger et al. 1994; Trull et al. 2007; Fossati et al. 2006). Auch besteht die Möglichkeit, Begleitwirkungen einer Psychopharmakotherapie mit standardisierten Beurteilungsverfahren darzustellen, so z. B. extrapyramidalmotorische Störungen mit der diesbezüglichen Skala von Simpson und Angus (1970) oder das gesamte Spektrum von Nebenwirkungen mit der »UKU Side Effect Rating Scale« (Lingjaerde et al. 1987).
Kombination von Skalen Man sollte berücksichtigen, dass Dimensionen oder Syndrome, die in den jeweiligen Skalen gleich benannt wurden, hinsichtlich der einbezogenen Items durchaus unterschiedlich sein können und dass die Korrelation zwischen den analogen Syndromscores nicht immer sehr eng ist. Je mehr Syndrome in einer Skala repräsentiert sind, desto größer ist ihr Anwendungsbereich. Trotzdem ist auch bei einer so breit angelegten mehrdimensionalen Beurteilungsskala manchmal unter bestimmten Fragestellungen die Kombination mit einer oder mehreren speziellen Fremdbeurteilungsskalen erforderlich, z. B. bei Schizophrenen die Kombination mit speziellen Skalen zur genauen Erfassung des Negativsyndroms (Andreasen 1982). Aus Ökonomiegründen ist es sinnvoll, bei umgrenzten Fragestellungen – z. B. die Depressivität betreffend – darauf abzielende spezielle Skalen einzusetzen. Da verschiedene Skalen zur Erfassung desselben Bereichs (z. B. Depressivität) ggf. unterschiedliche Teilaspekte erfassen (Mombour 1977), kann es sinnvoll sein, diese miteinander bei entsprechend spezifizierter Fragestellung zu kombinieren. Ein Nachteil des Einsatzes auf spezielle Syndrome abzielender Skalen besteht darin, dass man einen im Verlauf der Untersuchung ggf. stattfindenden Syndromwechsel nicht erfassen kann, z. B. den Umschlag eines depressiven in ein manisches Syndrom. Insbesondere bei psychischen Störungen, bei denen ein Syndromwechsel zu erwarten ist, wie z. B. bei bipolaren Erkrankungen, sollte immer zumindest eine weitere syndromspezifische Skala zur Erfassung des anderen Syndrombereiches eingesetzt werden.
Verfälschung der Beobachtung Bei den Fremdbeurteilungsverfahren wird dem fachlich geschulten Untersucher zugestanden, dass er bei der Ein-
stufung die Aussagen des Patienten bewertet. Diese Beurteilung durch den Experten führt einerseits zu einer Verringerung von Fehleinschätzungen durch eine gestörte Selbstwahrnehmung des Patienten, andererseits bringt sie die Gefahr beurteilerbedingter Verzerrungen (Untersucherbias) mit sich. Eine systematische Verfälschung der Beobachtung seitens des Beurteilers (Hasemann 1971) beruht insbesondere auf folgenden Faktoren: Rosenthal-Effekt: Das Ergebnis einer Untersuchung wird durch die Erwartungshaltung des Untersuchers mitgeprägt. Tendenz des Untersuchers zur Über- oder Unterbewertung von Störungsgraden. Haloeffekt: Das Ergebnis der Untersuchung eines Merkmals wird durch Kenntnisse anderer Eigenschaften bzw. durch den Gesamteindruck des Probanden beeinflusst. Logischer Fehler: Das Ergebnis einer Untersuchung wird dadurch mitgeprägt, dass ein Untersucher nur solche Detailbeobachtungen heranzieht, die ihm im Rahmen seines vorgegebenen theoretischen und logischen Konzepts sinnvoll erscheinen.
Selbstbeurteilungsskalen Diese Fehler können durch gleichzeitige Anwendung von Selbstbeurteilungsskalen z. T. kompensiert werden (v. Zerssen 1979, 1982; v. Zerssen u. Möller 1980). Bei den Selbstbeurteilungsverfahren kann der Patient selbst vergangenes oder gegenwärtiges Verhalten bzw. Erleben auf vorgegebenen Schätzskalen einstufen. Die Selbstbeurteilung hat zwar den Vorteil, dass sie für den Untersucher sehr ökonomisch ist und der Untersucherbias ausgeschaltet wird, gleichzeitig aber bringt sie den Nachteil mit sich, dass bewusste oder unbewusste Verfälschungstendenzen (Aggravierungstendenz, Dissimulationstendenz, Antworttendenz im Sinne des Ja-Sagens oder der sozialen Erwünschtheit u. a.) des Patienten stärker ins Gewicht fallen, die nur z. T. durch Kontrollskalen (sog. Lügenskalen u. a.) aufgedeckt werden können.
Einsatz von Selbstbeurteilungsskalen Selbstbeurteilungsverfahren werden insbesondere zur Erfassung von habituellen Persönlichkeitsdispositionen (s. unten) sowie von aktuellen psychischen Störungen, z. B. die »Klinischen Selbstbeurteilungsskalen« (KSbS; v. Zerssen 1976, 1986), oder das Self-Report Symptom Inventory (SCL-90; Derogatis 1977) eingesetzt. Wie mit den Fremdbeurteilungsskalen kann man auch mit den Selbstbeurteilungsskalen andere Bereiche als psychopathologische Auffälligkeiten erfassen, so z. B. soziale Adaptation (Weissman u. Bothwell 1976), Lebensqualität (Möller et al. 1996; Pukrop et al. 1999, 2000, 2003), Nebenwirkungen von Psychopharmaka (National Institute of Mental Health 1976) und Patientenzufriedenheit (Möller-Leimkühler et al. 2002).
21
464
21
Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
Beurteilung spezieller Aspekte. Abgesehen von einigen
wenigen Skalen über den aktuellen psychischen Zustand, die, wie z. B. das Self-Report Symptom Inventory (SCL90), ein sehr breites Spektrum psychopathologischer Symptome erfassen, konzentrieren sich die meisten Selbstbeurteilungsskalen auf spezielle Aspekte der Gestörtheit subjektiven Erlebens (⊡ Tab. 21.2), wie z. B. sog. Beschwerdenlisten auf körperliche und allgemeine Beschwerden (Fahrenberg 1975; v. Zerssen 1976), Depressionsskalen auf depressive Symptomatik (Beck et al. 1961; Zung 1965; v. Zerssen 1976) oder Befindlichkeitsskalen auf Störungen der Befindlichkeit (Janke u. Debus 1977; v. Zerssen 1976). Dies bringt u. a. den Vorteil einer Verringerung der Itemmenge mit sich, was insbesondere bei schwer gestörten psychiatrischen Patienten von großem Vorteil ist. Um in Querschnittsuntersuchungen ein ausreichend differenziertes Bild vom aktuellen Befund auf subjektiver Ebene zu gewinnen, sollte man anstelle einer isolierten Anwendung von Adjektivlisten zur allgemeinen Beurteilung von Befindlichkeitsstörungen auf jeden Fall eine Beschwerdenliste in Kombination mit anderen symptomorientierten Skalen, z. B. mit der Paranoid-Depressivitäts-Skala (v. Zerssen 1976), verwenden. Selbstbeurteilungsskalen in der Form visueller Analogskalen, sog. Barometerskalen, auf denen bestimmte Dimensionen des aktuellen Erlebens grafisch dargestellt werden, sind insbesondere für intraindividuelle Verlaufsstudien indiziert (Luria 1975).
Übereinstimmung von Selbstund Fremdbeurteilung Die Übereinstimmung von Selbst- und Fremdbeurteilung ist unterschiedlich und hängt u. a. von der Art der Störung und der Schwere der Symptomatik ab (Heimann u. Schmocker 1974; Prusoff et al. 1972 a, b; White et al. 1984). So ist z. B. die Übereinstimmung bei schwer ausgeprägter depressiver Symptomatik, z. B. bei Klinikaufnahme, wesentlich geringer als nach teilweiser Remission der Symptomatik bei Entlassung (⊡ Abb. 21.4). Das hängt wahrscheinlich mit einer stärkeren Einschränkung der Selbstbeobachtungsfähigkeit des schwer Depressiven zusammen und
Tage
⊡ Abb. 21.4. Korrelation verschiedener Skalen während antidepressiver Therapie (n = 25). (Möller 1991)
wohl auch damit, dass die schwer ausgeprägte depressive Symptomatik stärker auf der nichtverbalen Ebene für den Untersucher erkennbar ist, die schwächere depressive Symptomatik hingegen vorwiegend auf der verbalen Ebene. Patienten mit neurotischen Depressionen zeigen im Vergleich zu Patienten mit endogenen Depressionen eine Aggravationstendenz. Die Entsprechungen zwischen Selbst- und Fremdbeurteilung depressiver Symptomatik sind hinsichtlich der Veränderungswerte bei Verlaufsuntersuchungen, z. B. im Rahmen von Therapiestudien (⊡ Abb. 21.5 a, b), wesentlich höher als bei Erfassung psychopathologischer Phänomene im zeitlichen Querschnitt (v. Zerssen 1986; Möller u. v. Zerssen 1995).
Kombination von Selbstund Fremdbeurteilungsskalen Die kombinierte Anwendung von Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen im Sinne einer multimethodalen Diagnostik (Möller et al. 1983; Seidenstücker u. Baumann 1978)
⊡ Tab. 21.2. Klinische Selbstbeurteilungsverfahren (Beispiele). (Mod. nach Möller u. Engel 1999) Bereiche
Verfahren
Abkürzung
Autor(en)
Gesamtpsychopathologie
Self-Report Symptom Inventory
SCL-90 SCL-90R
Derogatis et al. 1976 CIPS 1996
Befindlichkeit
Befindlichkeitsskala Depressivitätsskala Beck-Depressionsinventar
Bf-S DS BDI
v. Zerssen 1976 (Teil c) v. Zerssen 1976 (Teil b) Beck et al. 1986
Angststörungen
Self-Rating Anxiety Scale State-Trait Angstinventar
SAS STAI
Zung 1976 b; s. auch CIPS 1996 Laux et al.1981
Zwang
Hamburger Zwangsinventar
HZI
Zaworka et al. 1983 Klepsch 1989
465 21.3 · Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Erfassung des psychopathologischen Befunds
⊡ Abb. 21.5a, b. Durchschnittswerte und Standardabweichungen (a) der Hamilton-Gesamtscores (21 Items) und (b) der Befindlichkeitsskale (Bf-S; v. Zerssen 1976) für 2 Behandlungsgruppen (Brofaromin, Imipra-
min) depressiver Patienten in einer 8-wöchigen doppelblinden randomisierten Kontrollgruppenstudie. (Möller u. Volz 1992)
bietet die beste Gewähr, dass subjektiver und objektiver psychopathologischer Befund ausreichend abgebildet werden, ein Aspekt, der in der Lebensqualitätsforschung, die sich vorwiegend auf Selbstbeurteilungsinstrumente stützt, derzeit kaum berücksichtigt wird. Bei einigen Untersuchungsinstrumenten ist eine solche Kombination fest vorgegeben, so z. B. beim »Münchner AlkoholismusTest« (MALT; Feuerlein et al. 1979). Auch das »Nürnberger Altersinventar« sieht eine feste Kombination von Selbst- und Fremdbeurteilungsskalen vor, die noch durch Leistungstests ergänzt werden (Oswald 1979).
den, wie z. B. bestimmte Verfahren der Zeitreihenanalyse, machen eine adäquate Auswertung interventionsbezogener Veränderungen solcher serieller Daten möglich (Möller et al. 1987, 1989).
Verlaufsbeschreibung mit standardisierten Beurteilungsskalen Die meisten standardisierten Beurteilungsskalen dienen der Zustandsbeschreibung (Statusdiagnostik). Ohne speziell für Messwiederholung konstruiert zu sein, werden sie bei Messwiederholung auch zur Verlaufsbeschreibung (Veränderungsdiagnostik) eingesetzt (Möller et al. 2002; Möller et al. 1998; Jäger et al. 2007), so z. B. in Therapieund Katamnesestudien (⊡ Abb. 21.6). Durch Anwendung von Befindlichkeitsskalen bzw. Barometerskalen, die aktuelle Befindlichkeitsstörungen messen und sich besonders gut zur seriellen Messwiederholung anbieten, kann man ohne großen Untersucheraufwand das Ansprechen auf bestimmte therapeutische Interventionen auf der Selbstbeurteilungsebene abbilden (⊡ Abb. 21.7 a–d). Moderne statistische Analysemetho-
Versuch der nosologischen Zuordnung Grundsätzlich kann bei jedem mehrdimensionalen Instrument zur psychopathologischen Befunderhebung versucht werden, über bestimmte Algorithmen, z. B. über Charakteristika der Syndromprofile, eine nosologische Zuordnung zu treffen. Allerdings sind die Ergebnisse, wenn allein auf der Basis reiner Psychopathologieskalen nosologische Zuordnungen getroffen werden, erwartungsgemäß meist nicht sehr befriedigend (Möller u. v. Zerssen 1980), da in eine nosologische Diagnose auch anamnestische Informationen und hypothetische Annahmen über die Ursache der Erkrankung eingehen. Das von Wing et al. entwickelte »CATEGO«-System zur computerisierten Diagnoseerstellung basiert auf dem Present State Examination, einem komplexen Fremdbeurteilungsinstrument zur Erfassung psychopathologischer Symptome und einer zusätzlichen anamnestischen Skala. Mit diesem System sind sehr befriedigende diagnostische Ergebnisse im Bereich der funktionellen Psychosen möglich. Das Verfahren wurde in mehreren großen nationalen und internationalen Forschungsprojekten eingesetzt (Wing et al. 1974) und machte eine befriedigende nosologische Zuordnung möglich.
21
Prozentwert des theoretisch max. Syndrom-Summenscores Prozentwert des theoretisch max. Syndrom-Summenscores
21
Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
Prozentwert des theoretisch max. Syndrom-Summenscores
466
⊡ Abb. 21.6a–c. AMDP-Verlaufsdaten aus der Münchener 15-JahresKatamnesestudie. Aufnahme, Entlassung, 15-Jahres-Katamnese (basiert teilweise auf Daten aus Möller et al. 2002). a AMDP-Syndrome bei schizophrenen Störungen im zeitlichen Verlauf (n = 76). b AMDPSyndrome bei affektiven Störungen im zeitlichen Verlauf (n = 32).
Vollstandardisierte Erhebungsinstrumente Im Zusammenhang mit der Entwicklung operationalisierter Diagnosesysteme, wie z. B. den »Research Diagnostic Criteria« (RDC) und dem »Diagnostic and Statistical Manual III-R und IV« (DSM-III-R, DSM-IV) wurden vollstandardisierte Erhebungsinstrumente geschaffen, mit denen der anamnestische und psychopathologische Merkmalsbestand, der in die operationalisierten Diagnosekriterien eingeht, exploriert werden kann und eine compute-
c AMDP-Syndrome bei schizoaffektiven Störungen im zeitlichen Verlauf (n = 38). (APA apathisches Syndrom, DEPRES depressives Syndrom, HOST Hostilitätssyndrom, MANI manisches Syndrom, PARHAL paranoidhalluzinatorisches Syndrom, PSYORG psychoorganisches Syndrom, VEGET vegetatives Syndrom, ZWANG Zwangssyndrom)
risierte Diagnosezuordnung durchgeführt werden kann. Da die RDC nur den Bereich der endogenen Psychosen umfassen, können entsprechende Erhebungsinstrumente natürlich wesentlich kürzer sein als die für das aufwendige, alle Diagnosen abdeckende DSM-III-System. Speziell für die RDC wurde die Schedule of Affective Disorders and Schizophrenia (SADS; Spitzer et al. 1975) entwickelt. Für das alle diagnostischen Kategorien berücksichtigende DSM-III wurde zunächst die Diagnostic
467 21.3 · Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Erfassung des psychopathologischen Befunds
⊡ Abb. 21.7a–d. Responder (a, b) und 2 Nonresponder (c, d) unter antidepressiver Therapie durch Psychiaterbeurteilung (HAMD) und durch Selbstbeurteilung (Bf-S). (Möller 1991)
Interview Schedule (DIS; Robins et al. 1982) erarbeitet, und zwar mit der Zielsetzung, dass sie auch von Nichtpsychiatern, z. B. trainierten Sozialarbeitern in der epidemiologischen Feldforschung, angewandt werden kann. Diese Konzeption führte aber nicht zu völlig befriedigenden Resultaten (Wittchen et al. 1985) und bedurfte weiterer Entwicklung. In den letzten 20 Jahren wurde die Entwicklung von vollstrukturierten Untersuchungsinstrumenten und Diagnoseintrumenten zum Abschluss gebrachte, die sich auf ICD-10- und DSM-III-R- bzw. DSM-IV-Diagnosen beziehen, das CIDI, das SKID und das SCAN (Wittchen u. Semler 1991; WHO 1991; Wittchen et al. 1991, Wittchen et al. 1997, WHO 1997, WHO 1999; ⊡ Tab. 21.3 und 21.4).
21.3.1
Häufig verwendete Fremdbeurteilungsskalen zur Befunderhebung
Nachfolgend werden Fremdbeurteilungsskalen die in der deutschsprachigen Psychiatry entwickelt wurden, bzw. soweit es sich um primär in der angloamerikanischen Psychiatrie entwickelte Skalen handelt, in der deutschsprachigen Psychiatry häufig eingesetzt werden. Zu weiteren Detailinformationen über diese oder andere
Fremdbeurteilungsskalen sei auf Skalensammlung des Collegiums Internationale Psychiatric Scalarum – CIPS – hingewiesen (CIPS 1996, CIPS 2005). CIPS hat auch eine Skalensammlung herausgebracht, in der wichtige Skalen in mehreren Sprachen zur Verfügung gestellt werden (AMDP und CIPS 1990).
AMDP-System Am häufigsten verwendet wird in der deutschsprachigen Psychiatrie das AMDP-System (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie 2000). Es umfasst neben dem Bogen für den psychopathologischen Befund auch Bögen für Anamnese und körperlichen Befund. Der Befundbogen zur Psychopathologie enthält in seinen ca. 100 Items die wichtigsten Symptome endogener und körperlich begründbarer Psychosen sowie schwerer Neurosen. Er wird ergänzt durch einen Bogen mit 40 Merkmalen aus dem körperlich-vegetativen Bereich. Die Items sind in psychiatrischer Terminologie formuliert, die in einem Glossar erläutert wird. »Subjektive« und »objektive« Angaben werden gemeinsam verwertet. Dabei ergeben sich, wie auch von anderen Skalen bekannt, Probleme insbesondere bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Patienten in verschiedenen Bereichen (z. B. Gedächtnis, Konzentration), da die Aussagen über
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468
21
Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
⊡ Tab. 21.3. Strukturierte und standardisierte Interviews für die ICD-10. (Aus Stieglitz et al. 1992) Name
Abkürzung
Autor(en)
Strukturiertes klinisches Interview für DSM-III-R (Version 2.0)
SKID
Wittchen et al. 1990 (engl.: Spitzer et al. 1988)
Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry
SCAN
Wing et al. 1990
Strukturiertes Interview für die Diagnose der Demenz vom Alzheimer-Typ, der Multiinfarktdemenz und Demenzen anderer Ätiologie
SIDAM
Zaudig et al. 1990
International Personality Disorders Examination
IPDE
Loranger et al. 1987
Standardized Assessment of Personality
SAP
Pilgrim u. Maurer 1990
Composite Diagnostic Evaluation
CODE
Ban 1989, 1990
Composite International Diagnostic Interview (Version 1.0)
CIDI
Wittchen u. Semler 1990
diese Bereiche durch die bei depressiven Syndromen auftretenden Insuffizienzgefühle geprägt sein können (Busch et al. 1975). Durch entsprechende Kodierungsregeln wurde versucht, diese Probleme zu lösen. In den Reliabilitätsstudien zeigten sich befriedigende Resultate, insbesondere nach entsprechendem Beurteilertraining (Busch et al. 1975, 1980; Gebhardt u. Helmchen 1973; Kuny et al. 1983; Renfordt et al. 1983; Woggon et al. 1978). Probleme bei der Interbeobachterübereinstimmung treten nicht so sehr bezüglich des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins von Symptomen auf, sondern v. a. bezüglich der Graduierung. Dies ist auch aus den Erfahrungen mit anderen Beurteilungssystemen bekannt und ist, wie auch bei diesen, u. a. dadurch bedingt, dass bei der Beurteilung die Intensität der Ausprägung eines Merkmals und dessen zeitliche Dauer zusammengefasst beurteilt werden müssen. Validitätsstudien. Für die Validität der Skala sprechen
u. a. die diagnostische Differenzierbarkeit verschiedener psychiatrischer Gruppen, die Korrelation der Ergebnisse mit simultan benutzten anderen Skalen sowie die Sensi⊡ Tab. 21.4. SCAN (Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry). (Mod. nach Stieglitz et al. 1992) Standarderhebung
Present State Examination (PSE-10)
Wahlweise Erhebung
Pathologiefragebogen (PATHEP) Item-Group-Checklist (IGCLIST) Klinische Informationsskala (CLX) Spezielle Fragebögen (SCAN-SF, SCAN-SD)
Auswertung
CATEGO-V-Computerprogramm Aggregierung der Items/Symptome Itemgruppen Syndromprofile Diagnosen: ICD-10, -9, -8, DSM-III-R
Teil I: Nichtpsychotische Symptome, Screening (bei Fehlen psychotischer Symptome) Teil II: Psychotische Symptome, Verhaltensbeurteilung
bilität für therapiebedingte bzw. verlaufsabhängige psychopathologische Veränderungen (Baumann u. Stieglitz 1983; Bente et al. 1974; Mombour et al. 1973; Pietzcker et al. 1981; Möller et al. 2002; Bottlender et al. 2000). Faktorenlösungen. In mehreren Untersuchungen an verschiedenen Patientenstichproben wurden Faktorenlösungen erarbeitet, die sich, abgesehen von gewissen Unterschieden in der Merkmalszuordnung, weitgehend ähneln (Baumann u. Stieglitz 1983). Allerdings sind die ermittelten Faktoren, im Gegensatz z. B. zur IMPS (s. unten), keineswegs repräsentativ für die Gesamtheit des AMDP-Befunds, denn die gefundenen Faktoren erklären zusammen nur etwa 30% der Varianz der Symptome des psychischen Befunds (Sulz-Blume et al. 1979). Die Untersuchung an über 2000 psychiatrischen Patienten ermittelte eine für die Auswertung des AMDP-Systems verbindliche Faktorenlösung (Gebhardt et al. 1983), die sich bei Kreuzvalidierungsuntersuchungen an verschiedenen Teilstichproben als ausreichend reproduzierbar und stabil erwies und als die jetzt verbindliche Faktorenlösung des AMDP-Systems angesehen wird (Baumann u. Stieglitz 1983). Es handelt sich um die durch Faktorenanalyse ermittelten 8 Symptombereiche: 1. Paranoid-halluzinatorisches Syndrom, 2. depressives Syndrom, 3. psychoorganisches Syndrom, 4. manisches Syndrom, 5. Hostilitätssyndrom, 6. vegetatives Syndrom, 7. apathisches Syndrom, 8. Zwangssyndrom.
Ergänzend wurde das neurologische Syndrom hinzugezogen. Aus den vorliegenden Referenzwerten für verschiedene psychiatrische Diagnosegruppen kann auf die Stellung des untersuchten Patienten bzw. der untersuchten Patientenstichprobe in Bezug zu diesen Eichstichproben geschlossen werden (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie 1995).
469 21.3 · Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Erfassung des psychopathologischen Befunds
AGP-System
Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS)
Das analoge, aber zusätzlich für gerontopsychiatrische Erkrankungen spezifische Symptome umfassende System für die Anwendung in der Gerontopsychiatrie, das AGPSystem, ist nicht so gut evaluiert worden wie das AMDPSystem. Es ist aber trotzdem durchaus zu empfehlen (Gutzmann et al. 2000).
Die Brief Psychiatric Rating Scale (Overall u. Gorham 1962, 1976) ist durch Reduktion aus 2 (u. a. IMPS) von Lorr und Mitarbeitern entwickelten Skalen entstanden. Aufgenommen wurden im Wesentlichen solche Symptome, die unter psychopharmakologischer Therapie eine deutliche Änderung zeigten (⊡ Abb. 21.8). Die ursprüng-
⊡ Abb. 21.8. Ausschnitt aus dem BPRS in der Version der CIPS (1996)
21
470
21
Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
liche Form enthält 16, eine modifizierte Form 18 Items (Overall u. Gorham 1976), die Symptomkomplexe insbesondere aus dem Bereich endogener Psychosen erfassen. Aufgrund faktorenanalytischer Studien an Schizophrenen wurden 5 Faktoren ermittelt, denen die einzelnen Items in der Auswertung zugeordnet werden können. Die Interbeobachterreliabilität erreicht eine befriedigende Größenordnung (Cicchetti u. Aivano 1976; Overall u. Gorham 1962). Anhand der BPRS konnten bei Validitätsstudien Patienten unterschiedlicher Diagnosegruppen differenziert werden, und die Scores korrelierten größtenteils relativ eng mit analogen Scores anderer Skalen (Freudenthal et al. 1977; Mombour et al. 1975; Woggon et al. 1979). Die Brauchbarkeit dieser international sehr häufig eingesetzten Skala zur diagnostischen Erfassung psychopharmakologischer Therapieresultate wurde, auch im deutschsprachigen Raum, wiederholt belegt (Overall u. Klett 1972). Die Skala bietet trotz ihrer Kürze und einiger Mängel in der Itemformulierung relativ gute diagnostische Möglichkeiten. Für eine detailliertere Diagnostik ist sie allerdings nicht geeignet. Da recht globale Kategorien beurteilt werden müssen, ist allerdings stärker als bei umfangreicheren Skalen die Gefahr eines Untersucherbias gegeben. Gerade wegen ihrer Kürze und Praktikabilität ist sie in der amerikanischen Psychiatrie die am häufigsten eingesetzte Skala bei Patienten mit schizophrenen Psychosen. Die BPRS ist allerdings in der Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS) enthalten. Auch in der deutschsprachigen Psychiatrie wird sie sehr häufig, oft auch in Ergänzung zum AMDP-System oder zur IMPS, eingesetzt, u.a. um Vergleichbarkeit mit amerikanischen Studien zu gewährleisten. Die deutsche Version ist bisher nicht so gut unter methodischen Aspekten untersucht wie z. B. die deutsche Version der IMPS (Cairns et al. 1983 a, b; Hiller et al. 1986). Obwohl die BPRS, insbesondere in der psychopharmakologischen Forschung, zur Beurteilung schizophrener Forschung weiterhin als »gold standard« gilt, wird sie zunehmend ersetzt durch die PANSS, die »Positive and Negativ Syndrome Scale« (Kay et al. 1988), die neben der Produktivsymptomatik besser die Negativsymptomatik erfasst. In der PANSS ist allerdings die BPRS integriert, so dass bei vorliegenden PANSS-Daten auch der BPRS-Score berechnet werden kann.
17 Items, spätere Versionen 21 oder gar 24. Die Formulierung der Items ist z. T. nicht präzise genug, wesentlich schlechter z. B. als in der Montgomery-Asberg Depression Scale (MADR; Schmidtke et al. 1988). Bei der Beurteilung können zusätzliche Informationen von Verwandten und Freunden etc. berücksichtigt werden.
Hamilton-Depressionsskala
Gerade hieran wird die Problematik deutlich, dass Verlaufsdiagnostik meist mit Skalen gemacht wird, die an sich für die Statusdiagnostik konzipiert wurden. Unter dem Gesichtspunkt der Homogenität der Skala und der Stabilität der Faktorenstruktur bei Messwiederholungen unter einer Therapie wurde die Skala einer Reihe kritischer testtheoretischer Analysen unterworfen (Bech 1981; Maier et al. 1985; Steinmeyer u. Möller 1992; Möller
Die Hamilton-Depressionsskala (HAMD; Hamilton 1960, 1967) bezieht sich nur auf depressive Symptomatik (⊡ Abb. 21.9). Als eine der ersten Fremdbeurteilungsskalen für Depressivität hat sie sich weltweit durchgesetzt, obwohl sie zunehmend wegen ihrer Mängel (s. unten) kritisiert wird. Die ursprüngliche Version dieser auch in einer deutschen Version vorliegenden Skala enthält
Scorebildung und Gütekriterien. Neben der Möglichkeit,
einen Gesamtscore zu bilden, besteht bei der Auswertung die Möglichkeit, Faktorenscores zu berechnen (Hamilton 1960). Diesbezüglich gibt es aber noch keine einheitliche Lösung, da die Ergebnisse faktorenanalytischer Untersuchungen Lösungen von 2–6 Faktoren (Baumann 1976; Hamilton 1960, 1967) ergaben. Die Interraterreliabilität ist zumindest auf der Ebene des Gesamtscores als sehr hoch anzusehen (Hamilton 1960; Waldron u. Bates 1965). Für die Validität der Skala spricht die Korrelation zur globalen klinischen Beurteilung der Depressivität (Welner 1972) und die in zahlreichen Antidepressivastudien gezeigte Sensibilität zur Erfassung antidepressivabedingter Änderungen. Es sollte versucht werden, eine für den deutschsprachigen Raum verbindliche Faktorenlösung mit entsprechenden Referenzwerten zu finden. Inhaltliche Probleme. Allerdings blieben damit einige weitere, u. a. inhaltliche Probleme der Skala bestehen. So erfasst sie bestimmte, diagnostisch spezifische Bereiche nicht, die sich z. T. in anderen Depressionsskalen abbilden. Problematisch ist, dass Schlafstörungen mit 3 Items eine zu große Bedeutung für die Summenscorebildung bekommen. Dies wird insbesondere ein Problem, wenn z. B. ein sedierendes mit einem nichtsedierenden Antidepressivum verglichen wird. Das sedierende Antidepressivum erscheint dann ggf. allein dadurch als »stärker antidepressiv« (Möller et al. 1998, 2000, 2001)! Cave Inhaltlich ist fragwürdig, dass das Merkmal »Tagesschwankungen« im Sinne eines höheren Depressivitätsscores zu Buche schlägt. Dies kann angesichts der klinischen Erfahrung, dass schwerste endogene Depressionen häufig zunächst keine Tagesschwankungen aufweisen und diese erst bei Besserung des schweren Verstimmungszustandes auftreten können, zu Ungereimtheiten bei der Verlaufsdiagnostik führen.
471 21.3 · Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Erfassung des psychopathologischen Befunds
⊡ Abb. 21.9. Auszug aus der HAMD in der Version der CIPS (1996)
2001) und auf dieser Basis u. a. modifiziert zu der aus 11 Items bestehenden Bech-Rafaelsen-Melancholie-Skala (BRMS; Bech 1981, 1984), die nur noch 6 der originären Items enthält.
MADRS Obwohl die HAM-D nach wie vor weitgehend akzeptiert wird, gewinnt die Montgomery-Asberg Depression Rating Scale (MADRS; Montgomery u. Asberg 1979) dank ihrer Prägnanz und vor allem ihrer besseren Definition
der Merkmale zunehmend an Bedeutung. Die Tatsache, dass diese Skala gemäß dem Prinzip Veränderungssensivität entwickelt wurde, ist von Vorteil bei behandlungsbezogenen Studien (Montgomery et al. 1978; Montgomery u. Montgomery 1980). Die Skala schließt die folgenden 10 Items ein: beobachtbare Traurigkeit, berichtete Traurigkeit, innerliche Anspannung, reduzierter Schlaf, verminderter Appetit, Konzentrationsschwierigkeiten, Niedergeschlagenheit, Unfähigkeit zu Fühlen, pessimistische Gedanken, suizi-
21
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21
Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
dale Gedanken. Die Skala soll die Hauptsymptome von depressiven Krankheiten beinhalten, auch wenn verschiedene wichtige Bereiche (z. B. psychomotorische Retardierung, Tendenz zur Somatisierung) als Folge der Item-Selektion ausgelassen wurden (Kearns et al. 1982). Insgesamt zeigen die Faktorenanalysen und -korrelationen mit der Hamilton-Skala (besonders mit den verschiedenen Subskalen), dass die MADRS im Vergleich zur HAM-D vor allem auf die psychologischen Symptome fokussiert (Montgomery u. Asberg 1979; Kearns et al. 1982). Faktorenanalysen zeigen, dass die MADRS-Items keine eindimensionale Skala ergeben. Vier-Faktor-Lösungen die 51–54% der Gesamtvarianz in allen Analysen berücksichtigen, erweisen sich als relativ stabil. In diesen Analysen wurden die durch die MADRS-Items abgedeckten Aspekte unter den Dimensionen Traurigkeit/pessimistische Gedanken, innerliche Anspannung, Unfähigkeit zu Fühlen und verminderte Appetit zusammengefasst.
21.3.2
Häufig verwendete Selbstbeurteilungsskalen zur Befunderhebung
Selbstbeurteilungsskalen wurden insbesondere zur Erfassung von ängstlicher und depressiver Symptomatik sowie Befindlichkeitsstörungen entwickelt (Möller 2003). Nach-
folgend wird fokussiert auf Skalen, die für den deutschen Sprachraum besonders sorgfältig validiert wurden, bzw. die unabhängig davon in der deutschen Psychiatrie häufig eingesetzt werden. Hinsichtlich weiterer Detailinformationen zu verschiedenen Selbstbeurteilungsskalen sei auf die schon erwähnte CIPS-Skalensammlung verwiesen (AMDP und CIPS 1990; CIPS 1996, 2001).
Paranoid-Depressivitäts-Skalen Die Paranoid-Depressivitäts-Skala (PD-S; v. Zerssen 1976), die in 2 Parallelformen vorliegt, besteht aus 43 Items. Sie erfasst das Ausmaß subjektiver Beeinträchtigung durch emotionelle Reduktion vom Typ ängstlichdepressiver Gestimmtheit – diese Items liegen auch auf einer separaten Depressivitätsskala (⊡ Abb. 21.10) vor – sowie eine davon zu unterscheidende kognitive Dimension zur Feststellung von Misstrauenshaltung und Realitätsfremdheit. Außerdem enthält sie 8 Kontrollitems zur Messung der Krankheitsverleugnung sowie 3 Items zur Feststellung der Motivation. Mit der Skala werden in differenzierter Weise psychisch erlebte Störungen erfasst, wie sie insbesondere bei psychiatrisch Kranken einschließlich der Psychotiker vorkommen. Das Ausfüllen der Skala dauert bei psychisch Kranken 2–15 min. Bei der Auswertung werden die Werte der Einzelitems zu Faktorenwerten zusammengefasst. Für die Validität sprechen u. a. Korrelationen der Parano-
⊡ Abb. 21.10. Auszug aus der Depressivitätsskala von v. Zerssen in der Version der CIPS (1996)
473 21.3 · Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Erfassung des psychopathologischen Befunds
idskala mit dem Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Gruppe schizophrener Patienten, Korrelationen der Depressivitätsskala mit dem Kriterium der Zugehörigkeit zu einer Gruppe depressiv verstimmter Patienten, Korrelationen mit entsprechenden Faktoren anderer Skalen sowie Sensibilität bei der Erfassung therapeutisch induzierter Veränderungen. Es liegen Normwerte für eine repräsentative Stichprobe aus der Durchschnittsbevölkerung der alten BRD vor sowie Referenzwerte für verschiedene klinische Gruppen (körperlich Kranke, gemischtes psychiatrisches Krankengut, einzelne psychiatrische Diagnosegruppen).
Beschwerdenliste (BL) Die 24 Items umfassende Beschwerdenliste (v. Zerssen 1976) liegt in 2 Parallelformen vor, die inhaltlich ergänzt werden können durch einen Ergänzungsbogen mit 17 Items (⊡ Abb. 21.11). Die BL erfasst das Ausmaß subjektiver Beeinträchtigung durch körperliche und allgemeine Beschwerden. Die BL ist indiziert zur Erfassung von Störungen des körperlichen oder allgemeinen Befindens im Zusammenhang mit körperlichen, psychosomatischen und psychischen Erkrankungen. Die Ausfülldauer beträgt 1–7 min. Bei der Auswertung werden die Werte der Einzelitems zu einem Gesamtscore addiert. Gute Korrelationen mit dem Kriterium der Zuge-
hörigkeit zu einer entsprechenden klinischen Gruppe, Korrelationen mit analogen Testskalen sowie die Sensibilität zur Erfassung von therapiebedingten Änderungen sprechen für ihre Validität. Es liegen Normwerte aus einer repräsentativen Stichprobe der Durchschnittsbevölkerung der alten BRD vor sowie Referenzwerte für verschiedene klinische Gruppen (körperlich Kranke, gemischtes psychiatrisches Krankengut, einzelne psychiatrische Krankheitsformen).
Die Befindlichkeitsskala (Bf-S) Die 28 Items umfassende Befindlichkeitsskala (v. Zerssen 1976) liegt in 2 Parallelformen vor. Sie erfasst das Ausmaß momentaner Beeinträchtigung subjektiven Befindens. Die Skala ist speziell für Verlaufsbeschreibungen bei häufig zu wiederholenden Testungen indiziert. Sie eignet sich für Gesunde, körperlich Kranke und psychisch Kranke, insbesondere für psychisch Kranke mit affektiven Störungen. Die Zeit zum Ausfüllen beträgt bei psychisch Kranken 1–4, selten bis zu 10 min. Die Werte der Einzelitems werden zu einem Gesamtscore addiert, der die Beeinträchtigung des subjektiven Befindens angibt. Hohe inter- und intraindividuelle Korrelationen mit globalen Einschätzungen der depressiven Verstimmung sowie die Sensibilität für die Erfassung von therapiebedingten Veränderungen belegen die Validität. Es existieren Normwerte einer repräsentativen Stichpro-
⊡ Abb. 21.11. Auszug aus der Beschwerdenliste (Selbstbeurteilungsskala) von v. Zerssen in der Version der CIPS (1996)
21
21
Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
⊡ Abb. 21.12. Verlauf der Medianwerte der SCL-90-R Subskala Angst; im Rahmen einer Behandlungsstudie bei Patienten mit generalisierter Angststörung (n = 218, Möller u. Volz 2001)
2
Angst (SCL-90R)
474
Plazebo
1,5
Opipramol Alprazolam
1
0,5 -7
0
7
14
28
Tage der Behandlung
be aus der Durchschnittsbevölkerung der alten BRD sowie Referenzwerte für verschiedene klinische Gruppen.
Beck Depression Inventar (BDI) Eine weitere, häufig genutzte Selbstbeurteilungsskala ist die Beck Depression Inventory (Beck et al. 1961; Beck u. Beamsderfer 1974), die ursprünglich als Fremdbeurteilungsskala entwickelt wurde. Sie hat 21 Items und wird nach wie vor häufig angewandt. Sie hat einen speziellen Fokus auf kognitive Aspekte der Depression. Möglicherweise erklärt dies die Tatsache, dass diese Skala im Rahmen psychologischer Behandlungen präferenziell angewendet wird, wohingegen sie in psychopharmakologischen Studien selten benutzt wird. Die psychometrischen Kriterien bezüglich Reliabilität und Validität sind zufriedenstellend (Steer et al. 1986).
Self-Report Symptom Inventory (SLC-90) Die Self-Report Symptom Inventory 90 Items (Derogatis et al. 1973, 1974, 1977) ist die revidierte Version der Hopkins Symptom Check List. Diese Skala wird zur Selbstbeurteilung der Patienten in Hinsicht auf verschiedene belastende Symptome genutzt. Sie erlaubt die Erfassung von 9 Syndrombereichen und wurde speziell erstellt, um Effekte der medikamentösen Behandlung zu erfassen (⊡ Abb. 21.12). Diese Skala hat sich diesbezüglich in verschiedenen klinischen Studien mit Neuroleptika, Sedativa und Antidepressiva bewiesen (Möller et al. 2001; Volz et al. 2000).
21.4
Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik
Die meisten standardisierten Beurteilungsverfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik sind Selbstbeurteilungsverfahren.
MMPI Eines der ältesten Verfahren, das Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI; Hathaway u. McKinley 1943; deutsche Ausgabe MMPI-Saarbrücken von Spreen 1963) ist zugleich auch immer noch das am häufigsten weltweit eingesetzte. Auch in der deutschen Psychiatrie hat der MMPI weiterhin eine gewisse Verbreitung. Der MMPI enthält in seiner Langform 566 auf klinischer Erfahrung basierende Items, die in der Standardauswertung Skalenwerte für 10 klinische und 3 Validitätsskalen liefern. Daneben gibt es etliche Kurzformen, darunter eine deutsche von Gehring u. Blaser (1993). Seit 1989 gibt es eine revidierte und neu standardisierte amerikanische Ausgabe (MMPI-2; Hathaway u. McKinley 1989; Hathaway et al. 2003), die auch in deutscher Version vorliegt. Der Inhalt der MMPI-Items reicht von allgemeinen Feststellungen (»Ich lese gerne technische Zeitschriften«), die Interessen und Charaktereigenschaften beschreiben, bis zu Aussagen über manifeste psychiatrische Symptome (»Ich höre manchmal Stimmen, wenn andere Leute keine hören«). Die Selektion der Items zu Skalen wurden aufgrund der jeweiligen Trennschärfe zwischen klinischen Zielgruppen, z. B. depressive Patienten, und einer Referenzgruppe, z. B. nichtdepressive psychiatrische Patienten, durchgeführt (Butcher u. Rouse 1996; Meehl 1973; Wiggins 1973; Angleitner u. Wiggins 1986). Die Vermischung von habituellen Störungen (Persönlichkeitsmerkmalen) und aktuellen psychischen Störungen (psychopathologischer Symptomatik) ist aus klinischer Sicht unbefriedigend, wird aber z. T. auch in den neuentwickelten Persönlichkeitstests weiter fortgesetzt, so z. B. in dem Personality Assessment Inventory (PAI) – (Morey 1991) und dem Basic Personality Inventory (BPI) – (Jackson 1989). Offensichtlich wird darin von bestimmten Experten auch ein Vorteil gesehen, ggf. z. B. im Hinblick darauf, dass sich bei Personen mit manifester psychischer Erkrankung habituelle Persönlichkeitszüge durch aktuelle psychische Symptomatik überlappt. So
475 21.4 · Standardisierte Beurteilungsverfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik
führt z. B. aktuelle depressive Symptomatik zu einer Erhöhung der Neurotizismuswerte (Möller u. v. Zerssen 1987).
Faktorenanalytisch konstruierte Tests Andere Persönlichkeitsfragebögen wurden auf der Grundlage von Eigenschaftswörterlisten und einer faktorenanalytischen Methodik entwickelt. Dahinter steht die Annahme, dass auf diese Weise eine ökonomischere und stabilere Persönlichkeitsbeschreibung möglich ist. In der Praxis konnte sich diese theoretisch vermutete Überlegenheit nicht erweisen. Es gibt empirische Daten die zeigen, dass die verschiedenen methodischen Ansätze zu qualitativ ähnlichen Resultaten führen (Burisch 1984). Beispiele für faktorenanalytisch konstruierte Instrumente zur Persönlichkeitsdiagnostik sind u. a.: Der »16 PF« von Cattell (deutsche Version: Schneewind et al. 1994), verschiedene Persönlichkeits-Fragebögen von Eysenck (zuletzt EPI, Eysenck 1983), das Freiburger Persönlichkeitsinventar – FPI – (Fahrenberg et al. 1970; Fahrenberg et al. 1994),
die »big-five«-Fragebögen Neo-PIR und Neo-FFI von Costa u. McCrae (1992, deutsche Version von Borkenau u. Ostendorf 1993), die in der Persönlichkeitspsychologie der letzten Jahre wichtige Akzente gesetzt haben.
Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI) Im deutschen Sprachraum hat sich das Freiburger Persönlichkeitsinventar sowohl in seiner alten Fassung von 1970 (Fahrenberg et al. 1970) als auch in der revidierten Version FPI-R von 1994 (Fahrenberg et al. 1994) zum meistgebrauchten Persönlichkeitstest entwickelt (Schorr 1995). Das FPI-R umfasst inhaltlich neben Charaktereigenschaften im engeren Sinne (z. B. Gehemmtheit, Erregbarkeit, Aggressivität, Offenheit u. a.) auch psychosomatische Konzepte wie körperliche Beschwerden, Lebensunzufriedenheit und Gesundheitssorgen (⊡ Abb. 21.13). Es reicht damit über den relativ engen Gültigkeitsbereich einiger anderer Persönlichkeitsinventare wie dem 16-PF (Schneewind et al. 1994), den Big-five-Fragebögen NEOPI und NEO-FFI oder dem primär auf der Basis klinischpsychiatrischer Persönlichkeitskonzepte entwickelten Datum Prozent
Rohwert Normstichprobe
4 7 12 17 20 17 12 7 4
Standardwert
9 8 7 6 5 4 3 2 1 54%
Stanine
1. Lebenszufriedenheit lebenszufrieden, gute Laune, zuversichtlich
unzufrieden, bedrückt negative Lebenseinstellung
2. Soziale Orientierung sozial verantwortlich hilfbereit, mitmenschlich
Eigenverantwortung in Notlagen betonend, selbstbezogen, unsolidarisch
3. Leistungsorientierung leistungsorientiert, aktiv, schnellhandelnd, ehrgeizig-konkurrierend
wenig leistungsorientiert oder energisch, wenig ehrgeizig-konkurrierend
4. Gehemmtheit gehemmt, unsicher, kontaktscheu
ungezwungen, selbstsicher, kontaktbereit
5. Erregbarkeit erregbar, empfindlich, unbeherrscht
ruhig, gelassen, selbstbeherrscht
6. Aggressivität aggressives Verhalten, spontan und reaktiv, sich durchsetzend
wenig aggressiv, kontrolliert zurückhaltend
7. Beanspruchung angespannt, überfordert sich oft ,,im Stress” fühlend
wenig beansprucht, nicht überfordert, belastbar
8. Körperliche Beschwerden viele Beschwerden, psychosomatisch gestört
wenige Beschwerden psychosomatisch nicht gestört
9. Gesundheitssorgen Furcht vor Erkrankungen, gesundheitsbewusst, sich schonend
wenig Gesundheitssorgen gesundheitlich unbekümmert, robust
10. Offenheit offenes Zugeben kleiner Schwächen und alltäglicher Normverletzungen, ungeniert, unkonventionell
an Umgangsnormen orientiert, auf guten Eindruck bedacht, mangelnde Selbstkritik, verschlossen (Achtung bei Stanine 1 bis 3)
E. Extraversion extravertiert, gesellig impulsiv, unternehmungslustig N. Emotionalität emotional labil, empfindlich änstlich, viele Probleme und körperliche Beschwerden
introvertiert, zurückhaltend überlegt, ernst
54%
emotional stabil, gelassen selbstvertrauend, lebenszufrieden
⊡ Abb. 21.13. FPI-R-Persönlichkeitsprofil einer 25-jährigen Patientin mit psychoreaktiver Störung (Möller 2005)
21
476
21
Kapitel 21 · Standardisierte psychiatrische Befunddiagnostik
MPT (v. Zerssen et al. 1988) – um nur einige zu erwähnen – hinaus. Einen ähnlichen Anwendungsbereich deckt auch der »Gießen-Test« (GT; Beckmann et al. 1990) ab, wobei aber sozialpsychologische Konzepte (die Skalen lauten Dominanz, Durchlässigkeit, soziale Kompetenz, Kontrolle und Grundstimmung) im Vordergrund stehen. Der Test wurde auf der Grundlage tiefenpsychologischer Theorien konstruiert.
Erfassung der Primärpersönlichkeit Ein wichtiges Thema der Psychopathologieforschung, das international noch wenig Resonanz gefunden hat, ist die Erfassung der Primärpersönlichkeit bei psychiatrischen Patienten, also der nicht durch aktuelle prodromale oder residuale Krankheitssymptomatik geprägten Persönlichkeitsstruktur und deren möglicher Einfluss auf Vulnerabilität und Verlauf. Hierzu hat insbesondere v. Zerssen (zusammenfassend 1993, 1994) sowohl Konzepte als auch Instrumente (MPT; v. Zerssen et al. 1988) beigetragen.
Persönlichkeitsfragebögen und operationalisierte Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen Im Zusammenhang mit der Einführung operationalisierter Definitionen von Persönlichkeitsstörungen im DSMIII (DSM-IV, DSM-IV-TR; APA 2003) und in der ICD-10 wurde diskutiert, inwieweit Selbstbeurteilungsbögen oder spezielle Persönlichkeitsfragebögen eine Ergänzung oder sogar eine eigenständige ökonomische Screeningmethode zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen bieten können. Auch wenn dies sowohl auf der Basis existierender Instrumente (z. B. MMPI; Morey et al. 1985; Colligan et al. 1994) als auch mit neuen z. B. Neo-PIR (de Fruyt et al. 2006) bzw. eigens dafür konstruierten Bögen (MCMI; zuletzt Millon et al. 1994) versucht wurde, verlangt man doch zuviel und wahrscheinlich auch das Falsche von Persönlichkeitsfragebögen, wenn man kategorielle Übereinstimmung mit Diagnosen an Stelle von dimensionaler Übereinstimmung mit Syndromen erwartet (Engel 1981; Dittmann u. Stieglitz 1994). Um dieses Dilemma zu vermeiden, wurden spezielle Beurteilungsinstrumente zur Erfassung von Persönlichkeitsstörungen entwickelt, die auf den DSM-III, DSM-IIIR, DSM-IV und ICD-10-Konzepten basieren. Im Wesentlichen wurden dabei Fremdbeurteilungsansätze erprobt (Bronisch et al. 1995; Hyler et al. 1988; Loranger et al. 1994; Pfohl et al. 1989; Trull et al. 2007; Fossati et al. 2006).
21.5
Systematische Verhaltensbeobachtung
Einen höheren Grad an Objektivität im Vergleich zu standardisierten Beurteilungsverfahren erreicht die systema-
tische Verhaltensbeobachtung, bei der nur direkt beobachtbares Verhalten erfasst wird, z. B. Auszählen bestimmter Verhaltensdetails oder Verhaltenskomplexe in definierten Beobachtungsabschnitten (v. Cranach u. Frenz 1969; Fassnacht 1979; Goldfried 1976; Fassnacht 2006). Durch audiovisuelle Aufzeichnung des beobachteten Verhaltens stehen dieser Methode weitere Möglichkeiten offen (Helmchen u. Renfordt 1978). Wegen des großen Aufwands hat aber die systematische Verhaltensbeobachtung, abgesehen von der Verhaltenstherapie, in der klinischen Versorgung keine Bedeutung erlangt, sondern ist nahezu ausschließlich Forschungszwecken vorbehalten geblieben und wird auch dort vorwiegend bei personell besonders gut ausgestatteten Projekten, z. B. mit psychotherapeutischer Fragestellung, eingesetzt. Verhaltensbeobachtung komplexer sozialer Phänomene.
Besonders adäquat erscheint die systematische Verhaltensbeobachtung bei komplexen sozialen Phänomenen, z. B. zur Analyse der Arzt-Patienten-Beziehung, zur Analyse von Interaktionen zwischen Partnern u. a. (Scholz 1982), die durch einfache Schätzskalen nicht detailliert genug abbildbar sind. Es geht bei der Interaktionsanalyse darum, nicht nur einfachere, wie z. B. Augenkontakt (Wagner et al. 1983), und komplexere Verhaltensweisen, z. B. Sprachinhalte (Winkler u. Ellgring 1981), zu erfassen, sondern auch deren Abfolge und eventuelle Regelhaftigkeiten ihrer Sequenzen zu bestimmen (Hahlweg et al. 1984; Hirschbrunner et al. 1981). Nonverbale Verhaltensaspekte. Zum Studium nonverbaler Verhaltensaspekte (Ellgring 1981) ist die systematische Verhaltensbeobachtung das am besten geeignete Forschungsmittel. Hier eröffnet sich ein breites Anwendungsfeld. Für den Kliniker erscheint die Methode besonders interessant im Rahmen von Diagnostik- und Therapiestudien, z. B. von depressiven Patienten (Ellgring u. Clarke 1978). Solche Verfahren können sich nur auf mimische Aspekte beziehen (Ekman u. Friesen 1978; Ellgring 1986; Ellgring u. Nagel 1986; Polzer et al. 1992), oder aber die Erfassung der gesamten Psychomotorik zum Ziel haben (Frey et al. 1979, 1981). Verbale Verhaltensaspekte. Aber nicht nur nonverbale,
sondern auch verbale Phänomene sind der systematischen Verhaltensbeobachtung zugänglich (Matarazzo u. Wiens 1977; Weintraub u. Aronson 1967; Winkler u. Ellgring 1981). Sprachanalysen können sich auf formale, z. B. Lautstärke, Stimmfrequenz, Wortfrequenz, Sprechdauer u. a., oder auf inhaltliche Aspekte beziehen. Bekannte Methoden sind u. a. die Inhaltsanalyse nach dem Gottschalkund-Gleser-Verfahren (Gottschalk u. Gleser 1969) sowie die Ulmer Methode zur computerisierten Analyse formaler und inhaltlicher Aspekte der psychotherapeutischen Kommunikation (Kächele 1976; Mergenthaler 1985).
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22 22 Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik R. R. Engel, K. Fast
22.1 22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.1.4 22.1.5
Allgemeiner Teil – 484 Einleitung – 484 Begriffsbestimmungen – 484 Konzepte – 486 Indikationen – 488 Praxis – 489
22.2 22.2.1 22.2.2 22.2.3 22.2.4
Funktionsbereiche und Verfahren – 490 Globale kognitive Leistung und Intelligenz – 490 Spezielle kognitive Fähigkeiten – 492 Persönlichkeit – 502 Störungsspezifische Diagnostik – 503 Literatur
– 506
> > Psychologische Testdiagnostik hat u. a. die Erhebung von kognitiver Leistungsfähigkeit, Leistungseinbußen und Persönlichkeitsmaßen zum Ziel. Bei der neuropsychologischen Diagnostik steht die Verbindung mit Krankheitsprozessen im Mittelpunkt der Betrachtung. Sie erfasst dazu spezifische Funktionsstörungen in den Bereichen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, Aufmerksamkeit und Orientierung, Lernen und Gedächtnis, Planung, Handlungsregulation, problemlösendes Denken, Sprache, Visomotorik und Emotionsverarbeitung. Typische Indikationsbereiche sind: Erfassung der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit, z. B. zur Abgrenzung von Minderbegabungen, Abklärung von eignungsspezifischen Leistungsschwächen und -stärken (z. B. Beratung bei der beruflichen Integration), Abklärung von störungsspezifischen Leistungsdefiziten (sehr häufig bei Demenzen, aber auch bei anderen psychischen Störungen), Mithilfe bei der Diagnostik durch die Anwendung von klinischen Persönlichkeitsfragebögen, Mehrfacherhebungen zur Messung von Verläufen.
484
22
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
22.1
Allgemeiner Teil
22.1.1
Einleitung
Psychologische Tests haben in der Psychiatrie eine lange Tradition, die zurückgeht bis zu den Anfängen der experimentellen Methodik in der Psychologie. Während die Väter der experimentellen Psychologie (Wilhelm Wundt in seinem 1879 in Leipzig gegründeten Institut für experimentelle Psychologie, Hermann Ebbinghaus als Schöpfer der experimentellen Gedächtnisforschung) sich eher für die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der psychischen Funktionen interessierten, begannen Mitarbeiter und Schüler schon sehr bald damit, dieselben Aufgaben und Versuchsanordnungen auch für die systematische Prüfung von Unterschieden zwischen Personen zu verwenden (s. z. B. Kraepelin 1896). Emil Kraepelin übertrug Wundts experimentell-psychologische Methodik auch auf die Untersuchung der Wirkung ZNS-aktiver Substanzen wie Tee, Kaffee und Alkohol und gilt als Begründer der modernen Pharmakopsychologie. Zur Erfassung der zentralen Wirkung von Arzneimitteln wurden dabei Aufgaben wie Lesegeschwindigkeit oder fortlaufende Additionen über 5 min, Zeitschätzung, Reaktionszeitmessungen und Erlernen von 12-stelligen Zahlenreihen eingesetzt (Debus 1992; Hoff 1992; Spiegel 1988). Ziel der testpsychologischen und neuropsychologischen Diagnostik in der Psychiatrie ist: die Dokumentation der aktuellen kognitiven Leistungsfähigkeit eines Patienten, die Bestimmung von Art, Ausmaß und differenzialdiagnostischer Bedeutung kognitiver Leistungseinbußen, die testpsychologische Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen, die Beantwortung prognostischer (z. B. eignungsdiagnostischer) Fragen bei krankheitsbedingten Leistungsdefiziten sowie die testpsychologische Verlaufsdokumentation im Rahmen von Längsschnitterhebungen z. B. bei der Dokumentation von Therapieverläufen.
Literatur Im deutschsprachigen Raum trugen Lautenbacher u. Gauggel (2004) erstmals Beiträge aus der Neuropsychologie für die Erfassung psychischer Störungen in einem Lehrbuch zusammen. Die allgemeinen Aspekte der testpsychologischen Diagnostik lassen sich aus Standardwerken wie Amelang u. Schmidt-Atzert (2006) oder Jäger und Petermann (1999) entnehmen, den methodischen Hintergrund gibt z. B. Krauth (1995) für die klassische und Rost (2004) für die probabilistische Testtheorie. Ein nahezu vollständiges Kompendium klassischer und international bekannter neuropsychologischer Testverfahren findet sich bei Lezak, Howieson und Loring (2004). Als klinisch orientierte
Handbücher neuropsychologischer Diagnostik können Hartje u. Poeck (2002), Lehrner et al. (2006), Goldenberg (2002), von Cramon et al. (1993), Prosiegel (2002) und Vanderploeg (1999) empfohlen werden. Eine gute Übersicht über neuropsychologische und neurobiologische Grundlagen geben Devinsky u. D’Esposito (2004), D’Esposito (2003), Gazzaniga (2004), Kandel et al. (2000), Karnath und Thier (2006) und Kolb und Whishaw (2003).
22.1.2
Begriffsbestimmungen
Definition: Psychologischer Test Die wesentlichen Bestimmungselemente eines psychologischen Tests sind in der Definition von Lienert (1961, S. 7) enthalten: »Ein Test ist ein wissenschaftliches Routineverfahren zur Untersuchung eines oder mehrerer empirisch abgrenzbarer Persönlichkeitsmerkmale mit dem Ziel einer möglichst quantitativen Aussage über den relativen Grad der individuellen Merkmalsausprägung.«
Diese Definition ist einerseits breit genug, um auch projektive Verfahren (s. unten) noch einzuschließen, sie betont aber auch, dass ein Test nur empirisch abgrenzbare Merkmale möglichst quantitativ erfassen soll. Die Definition umfasst keine Instrumente, die ad hoc nach rein inhaltlichen Kriterien zusammengestellt werden. Der Begriff »wissenschaftliches Routineverfahren« bedingt, dass bei der Konstruktion eines Tests bestimmte Regeln vor dem Hintergrund der klassischen oder probabilistischen Testtheorie (s. unten) beachtet werden. Im Wesentlichen handelt es sich um folgende Schritte: Sammlung von Fragen oder Aufgaben (Testitems) unter Beachtung inhaltlicher wie formaler Konzepte, Vorgabe des Tests bei einer Stichprobe der Population, für die der Test Gültigkeit haben soll, Analyse der Items nach statistischen Konzepten in Abhängigkeit von der zugrunde gelegten Testtheorie, Auswahl der Items und Erstellung der Testendform, Vorgabe des Tests an einer repräsentativen Stichprobe der Zielpopulation (Normierung), Publikation des Tests und des Testhandbuchs.
Verfügbare Instrumente In der Psychiatrie dienen Testverfahren vorwiegend der Persönlichkeitsbeschreibung und der funktionalen Messung von Fähigkeiten und Defiziten des Patienten. In der Praxis besteht heute ein fließender Übergang zwischen einfachen Prüffragen in der psychiatrischen Exploration (z. B.: Wiederholen Sie die 5 Wörter, die ich Ihnen zuvor genannt habe! Was ist der Unterschied zwischen Hecke und Zaun?), die eine ökonomische Zuordnung zu den Kategorien gesund und gestört erlauben,
485 22.1 · Allgemeiner Teil
Bedside-Tests, die am Krankenbett durchführbar sind, wie z. B. der AABT (Aachener-Aphasie-BedsideTest) von Biniek (1993), einfachen, bereits quantifizierenden Screening- und Schweregradsmaßen wie dem Mini-Mental State (ein 10-minütiges, international gebräuchliches Demenzscreeningmaß u. a. mit Fragen zur Orientierung und zum Benennen von Gegenständen, Abschn. 22.2.4), Ratingskalen und strukturierten klinischen Interviews (s. Kap. 21), umfangreichen normierten Testverfahren wie dem Wechsler Intelligenztest für Erwachsene (WIE; Aster et al. 2006), änderungssensitiven und isolierte kognitive Funktionen erfassenden experimentellen Verfahren und automatischen Testvorgabe-, Auswertungs- und Interpretationssystemen mit eingebauten Datenbanken wie dem Wiener-Testsystem (Schuhfried 2006) oder dem Hogrefe-Testsystem (Hänsgen 2006). Derzeit sind in Deutschland über 750 Testverfahren und Fragebogen käuflich erhältlich [Übersicht z. B. auf der Webseite der Testzentrale (http://www.testzentrale.de/) oder über Verlagskataloge], die wichtigsten davon sind in Brickenkamps Handbuch (2002 b) ausführlich besprochen. Hinzu kommen spezifisch neuropsychologische Verfahren, wie sie häufig aus experimentellen Untersuchungen ihren Weg in die Routinediagnostik gefunden haben und über die man zusammenfassend am besten aus Lehr- und Handbüchern informiert wird (Mitrushina et al. 2005, Spreen u. Strauß 1998, Strauß et al. 2006, Lezak et al. 2004). Bedenkt man, dass das Erstellen eines qualitativ hochwertigen Testverfahrens jahrelange Entwicklungsarbeit erfordert, wird deutlich, welchen Wert die heute für die unterschiedlichsten Fragestellungen vorliegenden Testverfahren darstellen.
Skalenniveau und Normierung Testergebnisse von psychologischen Tests werden nur selten in absoluten Zahlen (z. B. Anzahl gelöster Aufga-
⊡ Abb. 22.1. Normalverteilung und zugeordnete Standardskalen
ben, Fehlerhäufigkeit, kurz: Rohwerte) mitgeteilt, sondern meist in statistische Maßzahlen (Standardwerte) umgerechnet, die die Stellung des Probanden im Vergleich mit der oder den Normstichproben angeben. Die dafür verwendeten Skalen sind alle der Normalverteilung (Gauß-Glockenkurve, ⊡ Abb. 22.1) entlehnt, da komplexe Persönlichkeitsmerkmale in der Bevölkerung normalverteilt sind. Psychologische Testergebnisse in Form von Standardwerten lassen sich deshalb auch direkt in sog. Prozentränge umrechnen, die die Stellung eines Probanden im Vergleich mit der Norm in Prozent angeben. ⊡ Abb. 22.1 zeigt die gebräuchlichsten Messskalen für psychologische Tests und ihre Beziehungen zur Normalverteilung. Absolute Messwerte vs. statistische Maßzahlen. Dem
Vorteil der unmittelbaren Interpretierbarkeit standardisierter Testwerte steht die Aufgabe der absoluten Messskala als Nachteil gegenüber. Bei psychologischen Tests bedeuten absolute Messwerte nicht viel, schon gar nicht im Vergleich zwischen verschiedenen Tests. In den Naturwissenschaften ist das anders: hier liegen die primären Messwerte meistens – wenn auch keineswegs immer, siehe z. B. die semiquantitativen Ergebnisse einiger bildgebender Verfahren – als physikalische Maßeinheiten vor, die sich als sog. Verhältnisskalen miteinander mathematisch verrechnen und in Beziehung setzen lassen (etwa ml/kg). Die Aufgabe dieser Eigenschaft wäre ein erheblicher Nachteil. Laborwerte werden deshalb meist in Form von Rohwerten mitgeteilt, für deren medizinische Interpretation man auf Referenztabellen zurückgreifen muss. Vergleichbarkeit von Tests. Ein Hauptproblem standardi-
sierter Testwerte ist die oft mangelhafte Vergleichbarkeit von Tests, die auf der Grundlage unterschiedlicher Normstichproben standardisiert wurden. Einem IQ von 100 im Test A muss keineswegs ein IQ von 100 in einem inhaltlich vergleichbaren Test B entsprechen, obwohl gerade das durch die Normierung beabsichtigt ist. Stichproben-
22
486
22
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
verzerrungen, Merkmalsänderungen über die Zeit (und dementsprechend unterschiedliche Standardwerte bei älteren im Vergleich zu neueren Standardisierungen) und Zufallseffekte bei kleinen Normierungsstichproben spielen hier eine relativ große Rolle. Im Abschnitt über die Intelligenzmessung wird dies an einem Beispiel näher erläutert.
Gütekriterien Zu den primären Gütekriterien eines Tests zählen: die Objektivität, die Zuverlässigkeit (Reliabilität) und die Gültigkeit (Validität). ! Für jedes der 3 Kriterien sind Verfahren festgelegt, mit deren Hilfe sich ein oder mehrere Kennwerte gewinnen lassen. Im Fall der Objektivität und – mit Einschränkungen – der Reliabilität sind diese ohne theoretischen Hintergrund verständlich und nachvollziehbar. Koeffizienten für die Validität lassen sich dagegen oft nur im Rahmen der zugrundeliegenden Testtheorie interpretieren. Objektivität. Ein Test ist objektiv, wenn er von der Person des Untersuchers und/oder Auswerters unabhängig ist. Das Ausmaß der Übereinstimmung verschiedener Untersucher oder Auswerter lässt sich mit einem Korrelationskoeffizienten quantitativ angeben und sollte über 0,90 liegen. Reliabilität. Zu den Kennwerten der Zuverlässigkeit zählen: Testhomogenität oder interne Konsistenz: Messen die einzelnen Aufgaben eines Test (oder Subtests, falls es sich um eine Testbatterie handelt) ein ähnliches Konzept, konkret: Korrelieren sie hoch miteinander? (Zeitliche) Stabilität oder Wiederholungsreliabilität: Die meisten psychologischen Tests messen Merkmale, die per definitionem mehr oder weniger zeitstabil sein sollen. Deshalb erwartet man bei wiederholter Testdarbietung einen ähnlichen Messwert. Die Korrelation zwischen erster und zweiter Testdarbietung ergibt den Kennwert der Stabilität. Es ist klar, dass dieser Kennwert nicht nur von der instrumentellen Güte des Messinstruments, sondern auch von der zeitlichen Stabilität des gemessenen Merkmals abhängt. Paralleltestreliabilität: Viele Leistungstests lassen sich in kurzem Zeitabstand nicht gut wiederholen, weil die Aufgaben leichter durchzuführen sind, wenn sie schon einmal bearbeitet oder sogar gelöst wurden. Manchmal werden deshalb bereits bei der Testkonstruktion 2 oder mehr Parallelversionen eines Tests erstellt, deren Korrelation miteinander bei zeitnaher Vorgabe ein Maß für die Güte der Instrumente ist.
Validität. Zu den Kennwerten der Validität zählen: Externe Validität: Im Allgemeinen versteht man hier-
unter die Korrelation des Tests mit einem externen Kriterium, das der Test schätzen soll. Dies kann schon gleichzeitig vorliegen (konkurrente Validität, dabei hat der Test den Charakter einer Leistungsprobe oder Prüfung) oder erst in der Zukunft erhebbar sein (prädiktive Validität, z. B. Eignungstest). Interne Validität oder Konstruktvalidität: Hierunter versteht man die Gültigkeit eines Tests vor dem Hintergrund einer Theorie. In der Praxis kommen Schätzwerte für die interne Validität aus Korrelationen mit anderen Tests, aus Ergebnissen von Faktoren- oder Pfadanalysen sowie aus experimentellen Untersuchungen.
Sekundäre Gütemerkmale Daneben gibt es noch sekundäre Gütemerkmale, die nicht so spezifisch für psychologische Tests sind, sondern mehr oder weniger für alle diagnostischen Verfahren gelten: Adäquatheit der Normierung, Bandbreite, Ökonomie, Relevanz, Zumutbarkeit, Verfälschbarkeit und andere. Die bei diagnostischen Maßnahmen zur Trennung eines dichotomen Kriteriums wichtigen Gütekriterien der Sensitivität (Verhältnis der durch den Test als krank identifizierten Personen zu allen tatsächlich Kranken) und Spezifität (Verhältnis der im Test als gesund Identifizierten zu allen tatsächlich Gesunden) spielen bei psychologischen Tests eher eine untergeordnete Rolle, da von ihnen meist quantitative Vorhersagen und keine Ja-/Nein-Entscheidungen verlangt werden.
22.1.3
Konzepte
Testtheorie Klassische Testtheorie. Die sog. klassische Testtheorie,
nach der die Mehrzahl der derzeit erhältlichen Tests konstruiert ist, ist im Wesentlichen eine Fehlertheorie, die Annahmen über Art und Verteilung auftretender Messfehler macht. Vor ihrem Hintergrund lassen sich Aussagen über Homogenität, Reliabilität, Validität sowie den Standardmessfehler eines Tests (= Vertrauensbereich einer Messung unter Berücksichtigung der Reliabilität) machen. Die klassische Testtheorie bietet keine Beurteilungsgrundlage für die Güte und Adäquatheit der Messskalen selbst. Latent Trait Theory. Dies wird erst durch neuere Modelle
nach der Latent Trait Theory gewährleistet, deren Anspruch darin liegt, auch Aussagen über die der Messung zugrunde liegende Skala zu geben. Beispiele für solche Modelle sind das in Europa (zumindest in der Theorie)
487 22.1 · Allgemeiner Teil
recht populäre Modell von Rasch (1960) und die auf Lord (1950) zurückgehende Item Response Theory. Bisher wurden in der klinischen Psychodiagnostik nur wenige Tests nach diesen Modellen konstruiert; allerdings ist ihre potenzielle Bedeutung groß, v. a. bei computerunterstützten Tests, bei denen die Itemauswahl vom Leistungsniveau des jeweiligen Probanden abhängt (computerunterstützte adaptive Tests, s. z. B. Wainer 2000).
Fähigkeitskonzepte vs. neuropsychologisch orientierte Defizitmessung Für die Kategorisierung kognitiver Leistungen gibt es 2 theoretische Wurzeln, die lange wenig miteinander zu tun hatten: 1. die differenzielle Psychologie kognitiver Leistungen und 2. die Neuropsychologie kognitiver Leistungen. Während die differenzielle Psychologie (Amelang u. Bartussek 2001) bestrebt ist, die kognitiven Leistungen gesunder Probanden möglichst genau zu messen und mit Hilfe von statistischen Verfahren (zum Beispiel der Faktorenanalyse) inhaltlich zu kategorisieren, liegt der Hauptaspekt der neuropsychologischen Forschung auf einer Kategorisierung, die den Bezug zu anatomischen und/oder funktionalen zentralnervösen Strukturen erleichtert (Lezak et al. 2004). Beide Begriffssysteme lassen sich nur ungenügend aufeinander abbilden. Obwohl weitgehend identische Aufgaben vorgegeben werden, werden die gemessenen Leistungen unterschiedlichen Prozessen zugeschrieben, was in der Praxis z. B. dazu führen kann, dass ein und dieselbe Reaktionszeitaufgabe für den einen nur Aufmerksamkeit, für den anderen motorische Geschwindigkeit und für einen dritten »mental speed« als eine basale biologische Intelligenzkomponente (Vernon 1987) misst. Die psychologische Leistungsdiagnostik in der Psychiatrie muss versuchen, beiden Begriffssystemen gerecht zu werden, da innerhalb beider sinnvolle Fragestellungen formuliert werden können und demzufolge auch beantwortet werden müssen. Aufgrund der Erkenntnisse aus struktureller und funktioneller Bildgebung wird zunehmend die Berücksichtigung beider Sichtweisen unerlässlich. An einem Beispiel lässt sich dies leicht verdeutlichen: Bei einem Berufsunfähigkeitsgutachten über einen Patienten mit einer psychischen Störung muss der Gutachter zweierlei leisten – zum einen muss er die aktuellen Fähigkeiten des Patienten testen und im Hinblick auf die Erfordernisse seines Berufs bewerten. Dazu ist eine Diagnostik der Fähigkeitsstruktur notwendig. Zum anderen muss er aber auch einen Blick dafür haben, ob die eventuell gemessenen Defizite neuropsychologisch gesehen mit der vorliegenden Störung vereinbar sind.
Altersbedingte Veränderungen kognitiver Leistungen Es ist eine aufgrund von Alltagserfahrung und klinischer Beobachtung bekannte Tatsache, dass es Fähigkeiten gibt, die empfindlich auf Faktoren wie Alter, Krankheit, ZNSaktive Substanzen, Schlafentzug, Doppelbelastung oder Übung reagieren, während andere Fähigkeiten weitgehend stabil gegenüber diesen Einflüssen sind. Insbesondere die umfangreichen Ergebnisse zum Verlauf einzelner kognitiver Fähigkeiten über die Lebensspanne aus Querschnitt- und Längsschnittstudien bei Gesunden sind ein Anhaltspunkt zur Beurteilung der Änderungssensitivität spezifischer Fähigkeiten. ⊡ Abb. 22.2 zeigt exemplarisch wie in einer nach Alter und Intelligenz stratifizierten Gruppe Gesunder Wortschatz und Allgemeinbildung bis ins hohe Alter stabil bleiben, während Motorik, Gedächtnis und Konzeptbildung mit zunehmendem Lebensalter einem Abfall unterliegen. Cattell (1971) hat in seinem faktorenanalytischen Modell dafür die Begriffe »kristallisierte« (abbaustabile) und »fluide« (abbauanfällige) Komponente der Intelligenz eingeführt. Bereits früh wurde auf die Ähnlichkeit zwischen Verfahren, die besonders empfindlich für solche altersbezogenen Veränderungen sind und solchen, die sensitiv für organische Hirnschäden in einer gemischten neuropsychiatrischen Gruppe mit Hirnläsionen verschiedener Lokalisation und Ausmaß sind, hingewiesen (Salthouse 1991, S. 11ff.). Als eher resistent gelten: sprachliche und bildungsabhängige Fähigkeiten, gut bekannte, überlernte und häufig praktizierte Tätigkeiten, Spezialisierungen, früher erworbene Erfahrungen und Metawissen. Als alters- und abbausensitiv gelten: episodisches Gedächtnis, Psychomotorik, geschwindigkeitsbetonte und perzeptuell-konstruktive Fertigkeiten, Konzentration, problemlösendes Denken bei neuartigen Anforderungen, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und die rasche Verarbeitung zahlreicher komplexer Informationen. Aus qualitativ hochwertigen Einzelitemantworten, aus der höchsten Leistung in abbaustabilen Tests oder aus der Kombination mehrerer abbaustabiler Tests lassen sich deshalb bei krankheits- oder altersbedingten Veränderungen oft Rückschlüsse auf das prämorbide Leistungsniveau ziehen.
Interpretation von Abbaumaßen Bei der Interpretation derartiger Abbaumaße sind jedoch einige Einschränkungen im Einzelfall zu beachten: Lokalisierte und schwere Hirnschäden vs. diffuse Schäden und Netzwerkstörungen. Alterssensitive Verfahren,
deren Rationale auf der Messung einer globalen Leistungseinbuße im Sinne einer Voralterung des Gehirns
22
488
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
1,5 1,0 Zunahme ,5 Leistungsänderung
22
0,0 MehrfachwahlWortschatz-Test
-,5 -1,0
Allgemeines Wissen
-1,5
Halstead Category Test
-2,0
Freie Wiedergabe von 25 Wörtern
-2,5
Mosaik-Test
-3,0 Abnahme -3,5 18-29
Zahlen-Symbol-Test 30-39
40-49
50-59
60-69
70-85
Altersgruppen ⊡ Abb. 22.2. Psychologische Testverfahren mit typischen Verläufen über die Altersspanne von 18–85 Jahren (Leistungsänderung in z-Werten)
beruhen, sind bestenfalls zum Nachweis diffuser Hirnschädigungen geeignet; die Auswirkungen lokalisierter Hirnschäden sind mit ihnen nicht zu erfassen. Ferner gibt es Einbußen wie z. B. Aphasien oder Orientierungsstörungen, die spezifisch für schwere Hirnschäden sind und bei Gesunden auch im hohen Alter nicht auftreten. Künstliche Erhöhung und Erniedrigung. Sowohl abbau-
stabile als auch abbausensitive Fähigkeiten können künstlich oder berufsbedingt erhöht oder erniedrigt sein und daher nur bedingt als Maß der prämorbiden Leistungsfähigkeit oder als Indikator für eine kognitive Einbuße geeignet sein. Prämorbid niedriges Leistungsniveau. Bei Patienten mit
bereits prämorbid sehr niedrigem Leistungsniveau ist ein Leistungsabfall generell nur schwer nachzuweisen. Prämorbid hohe fluide Fähigkeiten. Bei Patienten mit
prämorbid durchschnittlichen sprachlichen, aber überdurchschnittlichen geschwindigkeitsabhängigen (»fluiden«) Fähigkeiten, die durch eine Hirnschädigung in den fluiden Leistungen auf ein durchschnittliches Niveau absinken, hat man mit diesem Ansatz kaum eine Möglichkeit, den Abfall nachzuweisen.
22.1.4
Indikationen
Typische Fragestellungen für psychologische Testverfahren in der Psychiatrie sind: kognitive Leistungsfähigkeit allgemein, Berentung, Schulprobleme allgemein,
Leistungsfähigkeit bei Leistungsversagen im Rahmen einer psychischen Erkrankung, inhibitorische und disinhibitorische Symptome (Herrmann et al. 1999), soziale Kompetenz und Entwicklungsstand/-störung, Persönlichkeit allgemein, Mithilfe bei der Differenzialdiagnose, Therapiekontrolle, Verlaufsmessung. Einen großen Bereich bilden Fragen nach der kognitiven Leistungsfähigkeit, sei es als globale Fragestellung im Sinne einer Messung von Intelligenz, Anpassung (v. a. bei Kindern) oder Kompetenz (v. a. bei dementen Patienten) oder sei es als spezifische Frage nach Einbußen in der Leistungsfähigkeit. Einen weiteren Bereich bilden diejenigen Fragestellungen, bei denen die diagnostische Abklärung mehr im Vordergrund steht. Die früher häufig zu findenden Fragen nach der Abgrenzung von Neurose und Psychose sind selten geworden, nicht zuletzt durch die stärkere Operationalisierung der psychiatrischen Diagnostik durch ICD10 und DSM-IV. Vermehrt haben sich hingegen Fragen an den neuropsychologischen Spezialisten um Mithilfe bei der Aufklärung von Zusammenhängen zwischen organischen Beeinträchtigungen und gestörtem Leistungsverhalten. Dabei liefern psychologische Tests stets adjunktive Daten, die einer klinischen Gewichtung bedürfen. Sie sind ein gutes quantitatives Hilfsmittel z. B. für die Erstellung einer Diagnose, die Bestimmung des Schweregrades einer Beeinträchtigung, die Evaluation von Therapien, die Bestimmung von Ein- und Ausschlusskriterien für eine Spe-
489 22.1 · Allgemeiner Teil
zialuntersuchung oder die Charakterisierung von Patientengruppen im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen. Oft unverzichtbare Informationsquellen zur Abklärung der ICD-10-Diagnosen »organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen, psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« und »Intelligenzminderung« sind psychologische Leistungstests. Zur Abklärung von »Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen« sind Persönlichkeitsfragebogen geeignet.
und Auswertung begegnet werden. Gerade im psychiatrisch-neurologischen Bereich ist eine extrem starre, am Wortlaut des Testhandbuchs haftende Testvorgabe oft weder sinnvoll noch zu realisieren, wenn das Leistungsoptimum eines Patienten erfasst werden soll. Vanderploeg (ebd., S. 19 ff.) weist darauf hin, dass hier Standardisierung weniger das immer gleiche Testleiterverhalten bedeutet, sondern eher das gleiche Verstehen der Aufgabe auf Seiten des Patienten beinhaltet. Verfälschen der Testleistung. Ein gewisses Problem ergibt
22.1.5
Praxis
Die Organisation der Testdiagnostik obliegt i. Allg. einem hinreichend ausgebildeten und diagnostisch erfahrenen Psychologen, die/der die Testauswahl (sowohl allgemein als auch jeweils für den Einzelfall) vornimmt. Unter ihrer/ seiner Anleitung führen psychologisch-technische Assistenten die Tests durch und nehmen die Auswertung vor. Den Psychologen obliegt wiederum die Abfassung des Befundberichts, der neben den Testwerten selbst auch die Beantwortung der diagnostischen Fragestellung enthält. Rahmenbedingungen. Für die Durchführung der Unter-
suchung sind bestimmte Rahmenbedingungen notwendig. Wichtig sind ein ruhiger Raum, in dem sich nur Proband und Testleiter aufhalten sowie eine ausreichende Wahrnehmung (Brille, Hörgerät) auf Seiten der Probanden. Den Testleitern obliegt die Herstellung einer vertrauensvollen Arbeitsatmosphäre, nachdem am besten schon der Überweisende dem Patienten Art und Notwendigkeit der Untersuchung dargelegt hat.
Störeinflüsse Die Aussagekraft psychologischer Testergebnisse kann durch eine Reihe von Störeinflüssen eingeschränkt sein (s. a. Übersicht bei Vanderploeg 1994 a). Unsicherheit und reduziertes Leistungsvermögen des Patienten, Verständnisprobleme, Verfälschungstendenzen oder der Einfluss von Psychopharmaka sind mögliche Störeinflüsse auf Seiten des Patienten. Untersucher können Fehler machen durch eine falsche Selektion von Testinstrumenten (zu schwer, zu leicht) oder Verfahrensfehler bei der Testvorgabe oder Auswertung. Auch schlecht standardisierte Umgebungsbedingungen können Testergebnisse verändern. Testleiterverfahren. Einschränkungen der Durchfüh-
rungs- oder Auswertungsobjektivität wie dem »examiner drift«, einem vom Testleiter selbst nicht wahrgenommenen Abweichen von den Durchführungsvorschriften des Testmanuals bei langjähriger Testanwendung (Vanderploeg 1994 a), kann u. a. durch regelmäßige gegenseitige Qualitätskontrollen oder PC-gestützte Testvorgabe
sich daraus, dass einerseits Patienten und Allgemeinheit ein Recht zu umfassender Aufklärung über Art und Aussagekraft von psychologischen Testverfahren haben, andererseits Testverfahren jedoch andere Fähigkeiten messen, wenn die Lösungsstrategie teilweise bekannt oder der Lösungsweg beispielsweise über Zeitungsartikel oder »Testknacker« überlernt ist. Generell müssen Patienten zu Beginn der Testuntersuchung nach Testvorerfahrungen befragt werden. Ein weiteres Problem stellen unbewusste oder auch bewusste Verfälschungen von Testleistungen im Sinne einer Leistungsverschlechterung durch die Patienten dar, vor allem in Gutachtensituationen (Lezak 1995, S. 330 ff.): Bei der Aggravation handelt es sich um eine bewusste und willentliche Übertreibung von (z. B. subjektiv empfundenen) Defiziten; Bei der Simulation handelt es sich um eine ebenfalls bewusste und willentliche Vortäuschung von Defiziten mit der Absicht, einen erkennbaren Vorteil zu erlangen; Die selbstmanipulierte Krankheit, z. B. MünchhausenSyndrom, unterliegt zwar anteilig einer willentlichen Kontrolle, doch kann der Betroffene sich ihrer nicht erwehren. Diese Patienten verfolgen Ziele, denen sie »unfreiwillig« unterworfen sind, die ihnen letztlich nicht bewusst sind. Es existieren eine Reihe von Strategien und Verfahren zur Erhärtung des Verdachts auf eine willentliche Verfälschung der Testergebnisse. Anhand großer Vergleichszahlen lassen sich zum Beispiel Konsistenzprüfungen von Testkonfigurationen durchführen. In den letzten Jahren sind eine Reihe von Verfahren konstruiert worden, die unter der Bezeichnung »Symptom Validity Tests« zusammengefasst werden. Beispiele dafür sind der »Test of Memory Malingering« (TOMM; Tombaugh 1996) oder der Word Memory Test (WMT; Green et al. 2005). Häufig benutzt wird auch der 15-Items-Memorization-Test von Rey (Cimino 1994; Heubrock 1995). In Deutschland haben Heubrock u. Petermann mit der »Testbatterie zur Forensischen Neuropsychologie« eine ganze Sammlung einschlägiger Verfahren vorgelegt (2000).
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490
22
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
22.2
Funktionsbereiche und Verfahren
22.2.1
Globale kognitive Leistung und Intelligenz
Die kognitive Leistungsfähigkeit psychiatrischer Patienten ist häufig allgemein beeinträchtigt. Hierfür kommen zahlreiche verursachende Faktoren wie die psychiatrische Grunderkrankung, allgemeine körperliche Begleiterkrankungen, vordiagnostizierte oder noch nicht bekannte Hirnschäden, Entwicklungsstörungen, Hospitalisierung und sozialer Rückzug, emotionale und motivationale Störungen, medikamentöse Nebenwirkungen und Intoxikationen in Betracht.
prämorbiden Leistungsfähigkeit mittels auf demografischen Daten basierenden Formeln in einem beträchtlichen Anteil der Einzelfälle insbesondere in Extrembereichen der Leistungsfähigkeit zu Werten, die zu tatsächlich gemessenen Leistungsergebnissen deutlich diskrepant sind (Vanderploeg 1994 b, S.56). Abbaustabile Testergebnisse. Ein früheres Leistungs-
niveau lässt sich aus einer gegenwärtigen Testuntersuchung extrapolieren, wenn man selektiv nur die weitgehend abbaustabilen Testergebnisse betrachtet. Eine Integration dieser Daten mit vorliegenden anamnestischen Informationen dürfte in der Praxis der am häufigsten beschrittene Weg sein.
Wechsler Intelligenztests Querschnittmessung vs. Defizitmessung Will man wissen, um wie viel sich die kognitive Leistungsfähigkeit vermindert hat, muss man streng genommen eine Differenz aus 2 Messungen bilden: eine Messung der kognitiven Leistungsfähigkeit vor und eine Messung nach der Erkrankung. Nur in Ausnahmefällen wird ein solcher direkter Leistungsvergleich möglich sein, etwa wenn frühere bei Schulberatung, Bundeswehr, TÜV oder Arbeitsamt erhobene normierte Leistungsmaße verfügbar sind. Denkbar ist auch der Fall einer echten Messwiederholung mit demselben Testverfahren, wenn beispielsweise ein älterer Patient mit einer depressiven Episode einige Jahre später mit der Frage nach einer beginnenden Demenz erneut testpsychologisch untersucht wird oder Vorbefunde im Rahmen von testpsychologischen Gutachten vorliegen.
Schätzung des früheren Leistungsniveaus In den meisten Fällen werden testpsychologische Vorbefunde jedoch fehlen, und das frühere Leistungsniveau muss geschätzt werden. Als Referenz für das geschätzte frühere Leistungsniveau wurden im Wesentlichen 3 Vorgehensweisen vorgeschlagen, die in der Praxis sinnvollerweise kombiniert eingesetzt werden: Werdegang des Patienten. Schulischer und beruflicher
Werdegang, besondere Einzelqualifikationen, Hinweise auf frühere handwerkliche, organisatorische, grafische, planerische Fertigkeiten, Hinweise auf Belastbarkeit, Eigen- und Fremdanamnese sowie Zeugnisauskünfte und Beurteilungen durch Vorgesetzte oder Verwandte stellen zentrale Informationsquellen dar. Demografische Daten. Mittels regressionsanalytisch ge-
wonnener Formeln, in die krankheitsunabhängige demografische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Händigkeit, Bildung, Beruf, geographische Herkunft und einzelne Testleistungen eingehen können, lassen sich prämorbide Fähigkeiten schätzen. Allerdings führt die Schätzung der
Die Intelligenztests von David Wechsler sind seit rund 50 Jahren die im klinischen Bereich international am weitesten verbreiteten Tests. Es gibt Versionen für Erwachsene, Schulkinder und Vorschulkinder. Der aktuelle deutsche Test für Erwachsene ist der »Wechsler Intelligenztest für Erwachsene« (WIE – Aster et al. 2006), der auf der »Wechsler Adult Intelligence Scale – III« basiert (WAISIII – Wechsler 1997 a). Der WIE löst den »HamburgWechsler Intelligenztest für Erwachsene – Revision« (HAWIE-R – Tewes 1991) ab. Alle Tests von Wechsler basieren bislang auf einem eher globalen Intelligenzbegriff, der lediglich bestimmte Facetten (Verbalintelligenz, Handlungsintelligenz) aufweist, die durch mehrere Untertests gemessen werden. Auch die Untertests sind nicht so konstruiert, dass sie Primärfunktionen erfassen (seien diese nach kognitionspsychologischen oder nach neuropsychologischen Modellen konzipiert). Die Zusammenstellung der Subtests geschah aufgrund historischer Vorbilder nach dem Prinzip, dass sie einerseits unterschiedliche Inhalte erfassen, gleichzeitig aber möglichst hoch mit dem Gesamt-IQ korrelieren sollen. In dieser Hinsicht entsprechen die Verfahren Wechslers also nicht mehr den modernen Ansprüchen einer kognitionswissenschaftlichen (Amelang 1995; Jäger 1984) oder neuropsychologischen Komponentenforschung. Die Tests sind jedoch gerade im klinischen Bereich aus mehreren Gründen gut bewährt: Sie verfügen über eine hohe Augenscheingültigkeit; die Subtests bestehen aus vielfältigen Materialien, was für eine gewisse Abwechslung sorgt; durch den direkten Kontakt zwischen Proband und Testleiter gibt es gute Möglichkeiten zu einer zusätzlichen Motivierung der Patienten; die Subtests oder bestimmte Konstellationen von Subtests haben für manche klinischen Fragestellungen eine hohe Relevanz. Vergleich WIE und HAWIE-R. Im Vergleich zum HAWIE-R
(Tewes 1991) wurde der WIE (Aster et al. 2006) um 3 auf
491 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
nun 14 Untertests erweitert (neue Untertests: Symbolsuche, Buchstaben-Zahlen-Folge, Matrizen-Test; ⊡ Tab. 22.1. für eine Übersicht über alle Subtests). Obwohl das Grundkonzept Wechslers beibehalten wurde, weist der Test auf Aufgaben- und Skalenebene grundlegende Unterschiede zu seiner Vorgängerversion auf, die über die üblichen Aktualisierungen der Iteminhalte und der Normwerte hinausgehen. Beim WIE liegt ein flexibleres Untersuchungskonzept vor, bei dem einige
Untertests wahlweise eingesetzt werden können. Die ursprünglich 3-stufige hierarchische Struktur der Ergebnisinterpretation wurde auf 4 Ebenen ausgeweitet – neben Gesamt-IQ, Verbal- und Handlungs-IQ und Subtestergebnis können im WIE Indexwerte für verschiedene Teilleistungsbereiche bestimmt werden (⊡ Tab. 22.2): Sprachliches Verständnis (SV), Wahrnehmungsorganisation (WO), Arbeitsgedächtnis (AGD) und Arbeitsgeschwindigkeit (AGS). Die neuen Leistungskomponenten
⊡ Tab. 22.1. Untertests des Wechsler Intelligenztests für Erwachsene Untertest
Geprüfte Funktion
Beispiele, die den WIE-Testaufgaben ähnlich sind
Verbalteil
7 sprachgebundene Untertests
Wortschatz-Test
Verbale Ausdrucksfähigkeit, Fähigkeit, Wortbedeutungen zu erläutern, sprachliche Entwicklung, semantisches Lexikon
Was ist ein Gipfel? Ein Hurrikan?
Gemeinsamkeitenfinden
Sprachliche Konzeptbildung, sprachliche Abstraktionsfähigkeit
Was ist das Gemeinsame bei einer Birke und einer Eiche?
Rechnerisches Denken
Rechenfähigkeit unter Zeitdruck, logisches Denken, Arbeitsgedächtnis, Konzentration
Wie viele CDs kann man für 200 Euro kaufen, wenn eine CD 40 Euro kostet?
Zahlennachsprechen
Zahlenspanne, akustische Merkfähigkeit, Arbeitsgedächtnis, Konzentrationsfähigkeit
Sprechen Sie bitte die Zahlen »5-7-3-6« rückwärts nach!
Allgemeines Wissen
Allgemeinbildung, Interesse an der Umwelt, kulturspezifische Kenntnisse, Langzeitgedächtnis für Fakten
Wer erfand die Glühbirne? Seit wann existiert menschliches Leben auf der Erde?
Allgemeines Verständnis
Verständnis sozialer und ethischer Normen, praktisches Urteilsvermögen
Warum verdienen Minderheiten einen besonderen Schutz?
Buchstaben-Zahlen-Folgen
Akustische Merkfähigkeit, Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit u. Konzentrationsfähigkeit
Bitte wiederholen sie S-7-A-2 und ordnen sie dabei zuerst die Zahlen in aufsteigender Folge und dann die Buchstaben in alphabetischer Folge, also »2-7A-S«!
Handlungsteil
7 handlungsgebundene und geschwindigkeitsabhängige Untertests
Bilderergänzen
Wahrnehmungsgenauigkeit, Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Details, Unterscheidung von Wesentlichem u. Unwesentlichem, logisches Schlussfolgern
Fehlende Details sollen auf Bildkärtchen erkannt werden
Zahlen-Symbol-Test
Visumotorische Geschwindigkeit und Koordination, visuelles assoziatives Kurzzeitgedächtnis, Konzentration
Symbole müssen unter Zeitdruck Zahlen zugeordnet werden
Mosaik-Test
Visuell-analytische Wahrnehmung, Unterscheidung von Teilen und Ganzem, visuomotorische Koordination, Handlungsregulation, Problemlösen
Mit verschieden farbigen Würfeln müssen geometrische Muster nachgelegt werden
Matrizen-Test
Visuelle Informationsverarbeitung, abstraktes Denken, induktives Denken, Erkennen visueller Analogien, fluide Intelligenz
Aus 5 möglichen Lösungsalternativen muss entsprechend der vorgegebenen Regel ein richtiges Muster ausgewählt werden
Bilderordnen
Erfassen komplexer Handlungszusammenhänge in ihrer zeitlichen Abfolge, logisches Denken
Bildkärtchen müssen zu einer sinnvollen Geschichte zusammengelegt werden.
Symbolsuche
Beobachtungsgenauigkeit u. Konzentration, Geschwindigkeit geistiger Verarbeitungsprozesse
Detektion von jeweils maximal 2 Symbolen in einer Reihe von 5 Symbolen
Figurenlegen
bildhafte Vorstellungsfähigkeit, Gestalterfassung
Zerschnittene Figuren müssen ohne Vorlage zusammengelegt werden
22
492
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
⊡ Tab. 22.2. Zuordnung der Untertests zu den Indexwertskalen. (Nach Aster et al. 2006)
22
Sprachliches Verständnis
Wahrnehmungsorganisation
Arbeitsgedächtnis
Arbeitsgeschwindigkeit
Wortschatztest
Bilderergänzen
Rechnerisches Denken
Zahlen-Symbol-Test
Gemeinsamkeitenfinden
Mosaik-Test
Zahlennachsprechen
Symbolsuche
Allgemeines Wissen
Matrizen-Test
Buchstaben-Zahlen-Folgen
Die Untertests sind nach der Reihenfolge der Vorgabe nummeriert. Die Untertests Bilderordnen, Allgemeines Verständnis und Figurenlegen gehen nicht in die Berechnung der Index-Werte ein
kommen einer inhaltlichen Interpretation entgegen, weil sie im Gegensatz zu der Unterteilung nach verbalen und handlungsbezogenen Leistungen in 2 Testteile, relativ homogene Komponenten kognitiver Fähigkeiten messen, die sowohl kognitionspsychologischen als auch neuropsychologischen Modellen entsprechen. Insbesondere werden Arbeitsgedächtnis und Arbeitsgeschwindigkeit als zentrale Leistungskomponenten berücksichtigt. ! Die obere Altersgrenze für die Testanwendung wurde auf 89 Jahre erhöht, so dass der WIE jetzt auch für die Untersuchung gerontopsychiatrischer Fragestellungen eingesetzt werden kann. Die neue Normierung wurde in Deutschland, der Schweiz und Österreich vorgenommen. Leider liegen noch keine Normenvergleichsstudien zwischen HAWIE-R und WIE vor. Bei früheren Überarbeitungen und Neunormierungen der Wechsler-Tests wurden jeweils massive Normunterschiede gefunden, ohne deren Kenntnis und Beachtung eine Verlaufsbeurteilung kaum möglich ist (z. B. vom HAWIE zum HAWIE-R: Satzger et al. 1996).
Andere Intelligenztests Neben den Wechsler-Tests gibt es im deutschen Sprachraum eine ganze Reihe weiterer Intelligenztestbatterien, z. B. den Intelligenz-Struktur-Test (IST2000R) von Amthauer et al. (2001), das Leistungsprüfsystem (LPS) von Horn (1983), eine Version für ältere Probanden als LPS50+ von Sturm et al. (1993), den Mannheimer Intelligenztest (MIT) von Conrad et al. (1986) und den Berliner Intelligenzstruktur-Test (Süß et al. 1997). Im klinischen Bereich konnte sich keines dieser Instrumente nennenswert etablieren.
Kurzverfahren Kurzverfahren zur Abschätzung der Intelligenz werden dagegen sehr häufig eingesetzt, auch wenn deren Gütekriterien nicht immer befriedigend sind. Zwei Gruppen von Verfahren lassen sich unterscheiden: die Vorgabe von Wortschatztests zur Messung der kristallisierten Intelligenz, die Vorgabe von weitestgehend als sprachfrei angelegten Tests zur Messung der Denkfähigkeit.
Wortschatztests. Beispiele sind der Wortschatztest (WST)
von Schmidt u. Metzler (1992) oder der MehrfachwahlWortschatz-Intelligenztest (MWT-B; Lehrl 1989), die beide in einem Multiple-Choice-Format vorliegen und somit nicht die dauernde Anwesenheit eines Testleiters erfordern. Beide korrelieren, wie auch der Subtest »Wortschatztest« der Wechsler Intelligenztests, sehr hoch mit dem Gesamt- und Verbal-IQ und sind für eine Abschätzung der kristallisierten Intelligenz in den meisten Fällen durchaus ausreichend. Auch bei dieser Schätzung des IQ aus dem Wortschatz dürfte die mangelnde Vergleichbarkeit der Normen in der Praxis weit größere Probleme machen als die mangelnde Vergleichbarkeit der Tests an sich. Speziell der MWT-B überschätzt die mit dem HAWIE-R gemessenen Intelligenzquotienten erheblich, während der WST geringere Normabweichungen vom HAWIE-R zeigte (Satzger et al. 2002). Sprachfreie Tests. Bei den (mehr oder weniger) sprach-
freien Tests zur Abschätzung der allgemeinen Intelligenz sind v. a. die verschiedenen Versionen des Raven-Tests (Raven 1996) zu nennen. Er misst die Fähigkeit zum folgerichtigen Denken, wobei allerdings auch große Anforderungen an die visuelle Auffassungsgabe, an die Motivation und an die Fähigkeit, durch Versuch und Irrtum zu Lösungen zu kommen, gestellt werden. Ähnlich wie der Mosaiktest aus dem HAWIE-R korreliert er in der Größenordnung von r = 0,70 mit dem Gesamt-IQ. Lange Zeit hatte man die Hoffnung, dass sprachfreie oder spracharme Tests zugleich auch eine größere Testfairness gegenüber Angehörigen anderer Kulturkreise hätten. Diese Hoffnung konnte nicht erfüllt werden (Jensen u. McGurk 1987).
22.2.2
Spezielle kognitive Fähigkeiten
Aufmerksamkeit Unter Aufmerksamkeit versteht man die Fähigkeit eines Menschen, Reize über eine gewisse Zeitspanne schnell und korrekt wahrzunehmen. Dabei wird eine korrekte Wahrnehmungsfähigkeit auf der Ebene des jeweiligen Sinnesorgans vorausgesetzt. Eine reduzierte Aufmerksamkeit wirkt sich verschlechternd auf nahezu alle ande-
493 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
ren kognitiven Testleistungen aus, da i. Allg. die korrekte und schnelle Identifikation von Reizen bei allen Tätigkeiten von Vorteil ist. Die Klärung von Aufmerksamkeitseinbußen ist deshalb von großer Wichtigkeit, um Fehlinterpretationen bei anderen Tests zu vermeiden. Ideal wäre es, wenn man Aufmerksamkeit mit einem Test messen könnte, der gleichzeitig keine anderen kognitiven Leistungen verlangt. In der Praxis ist dies natürlich nicht möglich, man kann sich lediglich auf möglichst einfache Reaktionen beschränken. Aufmerksamkeit als basale kognitive Fähigkeit steht im Zentrum vieler psychologischer Theorien (Broadbent 1958; Deutsch u. Deutsch 1963; Treisman u. Gelade 1980; Posner u. Rafal 1987; Shiffrin u. Schneider 1977; van Zomeren u. Brouwer 1994). Entsprechend detailliert ist die Unterscheidung verschiedener Aspekte der Aufmerksamkeit. Van Zomeren u. Brouwer (1994) unterscheiden nach Intensitäts- und Selektivitätsaspekten der Aufmerksamkeit. Diese beiden Dimensionen sind wiederum in Subkomponenten zerlegbar: Die Intensitätsdimension der Aufmerksamkeit umfasst die Komponenten Alertness (Reaktionsbereitschaft) und Vigilanz als basale Prozesse der kurz- sowie längerfristigen Aufmerksamkeitsaktivierung bzw. -aufrechterhaltung. Die Selektivitätsdimension ist unterteilbar in die fokussierte bzw. selektive Aufmerksamkeit und in die geteilte Aufmerksamkeit. Diese Unterteilung ermöglicht eine recht gute Zuordnung von typischen Untersuchungsparadigmen für die verschiedenen
Aufmerksamkeitsbereiche (⊡ Abb. 22.3; s. a. Sturm u. Zimmermann 2000). Kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit und Alertness.
Die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit und Reaktionsbereitschaft kann am reinsten durch Reaktionszeitmessungen (z. B. im Wiener Determinationsgerät oder in der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) von Zimmermann und Fimm (2002) erfasst werden. Indirekt ist auch eine (quasi über einen längeren Zeitraum integrierende) Messung durch Papier-Bleistift-Tests wie den Zahlen-Verbindungs-Test (Oswald u. Roth 1987) oder den Teil A des Trail-Making-Tests (»Pfadfindertest«, z. B. Spreen u. Strauss 1998) möglich, bei denen quasi eine Serie von Reaktionszeiten über einen längeren Zeitraum integriert gemessen wird. Wichtig ist, dass die Aufgabe einfach ist und nicht höhere kognitive Fähigkeiten für die Durchführung notwendig oder auch nur förderlich sind. Deshalb wäre z. B. der Teil B des Trail-Making-Tests ungeeignet. Selektive und fokussierte Aufmerksamkeit. Für die
Messung der selektiven Aufmerksamkeit ist im deutschen Sprachraum der Test d2 (Aufmerksamkeits-BelastungsTest) üblich und zweckmäßig (Brickenkamp 2002 a). Aus der Aufmerksamkeitstestbatterie von Zimmermann und Fimm (2002) ist der Subtest »Go/No Go« geeignet.
⊡ Abb. 22.3. Aufmerksamkeitsdimensionen und -bereiche, denen spezifische Untersuchungsparadigmen zugeordnet werden können. [Nach van Zomeren u. Brouwer (1994); Sturm u. Zimmermann (2000)]
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494
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
Geteilte Aufmerksamkeit. Die Verteilung der Auf-
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merksamkeit auf eingehende Informationen aus verschiedenen Informationskanälen wird in der Regel anhand sog. Dual-Task-Aufgaben erfasst, zum Beispiel mit dem Subtest »Geteilte Aufmerksamkeit« aus der Aufmerksamkeitstestbatterie von Zimmermann und Fimm (2002). Wechsel des Aufmerksamkeitsfokus und kognitive Flexibilität. Unter dem Aufmerksamkeitswechsel wird in der
Regel der Wechsel des Fokus von einem räumlichen Stimulus zu einem anderen verstanden. Aus der Aufmerksamkeitstestbatterie von Zimmermann u. Fimm (2002) sind die Subtests »Reaktionswechsel« sowie »Verdeckte Aufmerksamkeitsverschiebung« geeignet, um die Fähigkeit des Wechsels der Aufmerksamkeit auf verschieden lokalisierte Stimuli zu prüfen. Die kognitive Flexibilität, wie sie z. B. mit dem Trail-Making-Test Teil B (Reitan 1958) geprüft wird, kann auch den exekutiven Funktionen zugeordnet werden (s. unter »Exekutive Funktionen«). Vigilanz. Die meisten der Verfahren zur Messung der
Daueraufmerksamkeit oder Vigilanz kommen eher aus dem Bereich der Arbeitspsychologie und eignen sich zur Beurteilung der Fähigkeit zum Monitoring von Industrieanlagen und ähnlichem. Von dort kommt ursprünglich auch die Continuous Performance Task (CPT; Cornblatt u. Keilp 1994; Kathmann et al. 1996), ein Test, der v. a. in der Schizophrenieforschung eingesetzt wird und von dem vermutet wird, dass er Defizite der Daueraufmerksamkeit bei diesen Patienten gut quantifizieren kann. Alle Aufmerksamkeitstests (mit Ausnahme der Vigilanztests) erfordern eine schnelle motorische Reaktion. Falls Gründe für die Annahme einer rein motorisch bedingten Verlangsamung bestehen, kann auch der ein-
fachste Aufmerksamkeitstest nicht mehr eindeutig interpretiert werden.
Visuomotorische Koordination, Steuerung und Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit Motorische Geschwindigkeit und konstruktive Fähigkeiten zählen neben Gedächtnisparametern zu den altersund abbausensitivsten kognitiven Funktionen (Salthouse 1991). Das verfügbare Testinstrumentarium ist reichhaltig und liegt teilweise in wenig veränderter Form seit vielen Jahrzehnten vor.
Visumotoriktests Als allgemeiner Test sei hier das Wiener Testsystem (Schuhfried 2006) erwähnt, das zahlreiche Subtests dazu anbietet. Im psychiatrischen Bereich bekanntere Visumotoriktests sind der Purdue Pegboard Test (Tiffin 1968), bei dem der Patient Metallstifte mit jeder Hand einzeln und mit beiden Händen gleichzeitig in eine Reihe Löcher in einem Holzbrett stecken muss. Testwert ist die Anzahl von eingesteckten Stiften in jeweils 30 s. Beim Grooved Pegboard (Klove 1963) ist die Aufgabe dadurch erschwert, dass die Stifte an einer Längsseite mit einer Metallfeder versehen sind und nur in einem bestimmten Winkel in die mit einer Nut versehenen Löcher eingesteckt werden können. Zahlen-Symbol-Test. Der bekannteste Papier- und Bleistifttest, der Zahlen-Symbol-Test aus den Wechsler Intelligenztests, enthält neben einer Aufmerksamkeits- und einer Gedächtniskomponente eine starke motorische Komponente. In einer Beispielzeile sind den Zahlen von 1–9 Symbole wie »–«, »o« oder »x« zugeordnet, die nach einer kurzen Übungsphase in leere Kästchen unter einer Zufallsfolge einstelliger Zahlen übertragen werden müssen (⊡ Abb. 22.4). Gemessen wird die Anzahl korrekt
⊡ Abb. 22.4. Modifizierte, nicht zur Testdurchführung bestimmte Version des Zahlen-Symbol-Tests
495 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
übertragener Symbole in der Testzeit von 90 s. Während 20- bis 24-Jährige im Durchschnitt 55 Symbole übertragen können, schaffen 70- bis 74-Jährige im Durchschnitt nur 26,5 Symbole.
in Aufgaben zur vorstellungsmäßigen Ausführung räumlicher Operationen wie Rotation, Spiegelung, Faltung etc. wie sie z. B. in Untertests des Leistungsprüfssystems (Horn 1983) enthalten sind.
Zahlen-Verbindungs-Tests. Diese Tests haben eine lange
Visuelle Konstruktion. Weitere Verfahren prüfen über die
testpsychologische Tradition. Der Trail-Making Test (deutsch: Pfadfindertest; Reitan 1958) liegt in 2 Formen vor. In der ersten Form sind die über das Blatt Papier verstreuten Zahlen von 1 bis 25, in der zweiten Form abwechselnd die Zahlen 1 bis 13 und die Buchstaben A bis L (also 1-A-2-B-3-C …) möglichst schnell mit Bleistiftstrichen zu verbinden. Neben den einzelnen Zeiten als organisch sensitiven Maßen ist auch die Differenz der Testzeiten B–A ein Hinweis auf eine abbaubedingte Flexibilitätseinbuße. Eine einfachere Variante des Tests ist der nach informationstheoretischen Gesichtspunkten aufgebaute Zahlen-Verbindungs-Test (Oswald u. Roth 1987), der unter anderem durch 3 Übungsdurchgänge und den Mittelwert aus 2 eigentlichen Testbögen die Wiederholungsreliabilität des Tests zu verbessern sucht.
Wahrnehmungsorganisation hinaus auch die Rekonstruktion von visuell dargebotenen oder erinnerten Objekte im zwei- bzw. dreidimensionalen Raum. Die bei weitem bekannteste konstruktive Aufgabe ist der Untertest »Mosaiktest« aus den Wechsler Intelligenztests. Der Mosaiktest besteht aus 9 Würfeln mit je einer weißen, roten, blauen und gelben Seitenfläche sowie einer entlang der Diagonale geteilten weiß-roten bzw. einer blau-gelben Seitenfläche. Insgesamt müssen 9 zunehmend komplexere Muster nachgelegt werden, wobei Schnelligkeit und Richtigkeit gewertet werden. Der Mosaiktest korreliert relativ hoch mit dem Gesamt-IQ (etwa r = 0.70). Auch das Kopieren der Rey-Osterrieth Complex Figure (Rey 1941) erfordert über die visuelle Analyse der Vorlage hinaus die Rekonstruktion der Figur. Aufgabe ist es, die abstrakte Figur möglichst exakt abzuzeichnen. Die Geschwindigkeit geht dabei nicht in die Bewertung ein. Die Leistung wird von der visuomotorischen Informationsverarbeitung und der Planungsfähigkeit mitbestimmt (⊡ Abb. 22.5).
Wahrnehmung Eine ausführliche Prüfung von Wahrnehmungsfunktionen wie z. B. bei von Cramon et al. (1993) beschrieben, wird meist Patienten mit neurologischen Störungen vorbehalten bleiben. Bei psychiatrischen Patienten sollte im Rahmen der Testuntersuchung zumindest orientierend eine ausreichende Sehschärfe (z. B. über die Vorlage einer Sehtafel) und – v. a. bei älteren Patienten – ein ausreichendes Hörvermögen sichergestellt werden. Visuelle Wahrnehmung. Die visuelle Wahrnehmungsorganisation und Analysefähigkeit kann durch eine Vielzahl von Aufgabenarten wie die Tafeln zur Farbenblindheit (Ishihara 1979), das Verfolgen von Linien in einem Linienknäuel, Linienorientierung, visuelle Vergleichsaufgaben, Erkennen fragmentierter, in komplexeren Figuren versteckter, zerschnittener, übereinandergezeichneter oder maskierter geometrischer Figuren und Gegenstände erfasst werden. Bekannte Aufgaben für die 2-dimensionale Wahrnehmung hierfür sind der Hooper Visual Organisation Test (Hooper 1983) und die Untertests 10 (versteckte Muster erkennen) und 11 (unfertig gezeichnete Bilder erkennen) des Leistungsprüfsystems (Horn 1983). Der Test Judgment of Line Orientation (Benton 1978) sowie der Uhrentest (Goodglass u. Kaplan 1983) prüfen die Fähigkeit zur Einschätzung räumlicher Relationen und die Umsetzung von Konzepten. Störungen der 3-dimensionalen visuellen Wahrnehmung manifestieren sich in der Unfähigkeit, sich in der näheren oder weiteren Umgebung zurechtzufinden (topografische und geografische Desorientierung; z. B. Zeichnen des Wohnungsgrundrisses, der Einkaufswege, der Station, des Staates mit wichtigen Hauptstädten) und
Visueller Neglekt. Beim Neglekt handelt es sich um ein
Syndrom der halbseitigen, kontralateralen Vernachlässigung von sensorischen Reizen und/oder motorischen Funktionen, welches auch als Störung der räumlichen Aufmerksamkeit aufgefasst werden kann. Visuelle Neglektphänomene lassen sich u. a. durch folgende einfache Testverfahren erfassen: Der Patient durchkreuzt auf dem Blatt Papier verstreut aufgemalte Linien, streicht auf dem Blatt Papier zwischen andere Objekte eingestreute seltene Objekte an (ähnlich im Subtest »Neglektprüfung« der TAP, Zimmermann u. Fimm 2002) oder muss den Mittelpunkt unterschiedlich langer Linien markieren. Eine Zusammenstellung von 15 Einzeltests findet sich im Neglekt-Test (NET, Fels u. Geissner 1996) und von 9 Subtests im VS-Programm (Kerkhoff u. Marquardt 1998), während der Kölner Neglect Test die Symptomatik anhand von 7 Subtests erfasst (Kessler et al. 1995). Im englischsprachigen Raum ist das gängigste Verfahren der Behavioral Inattention Test (BIT; Wilson et al. 1987), welches sowohl für die Status als auch die Verlaufsdokumentation des Neglekts geeignet ist. Wahrnehmung anderer sensorischer Modalitäten. Über
den paarweisen Vergleich von Takten im Seashore Rhythm Test aus der Halstead-Reitan Battery (Reitan u. Wolfson 1993) kann die nonverbale auditive Wahrnehmung geprüft werden. Taktile Wahrnehmung wird u. a. in Subtests der Halstead-Reitan Battery (Reitan u. Wolf-
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Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
son 1993) und der Luria-Nebraska Neuropsychological Battery (Golden et al. 1985) erfasst. Ein normiertes Verfahren zur Erfassung des Geruchssinnes stellt der Smell Identification Test (SIT; Doty 1984) dar.
Apraxie Apraxien sind mögliche Folgesymptome linkshemisphärischer Läsionen oder Dysfunktionen (Goldenberg 2000). Die Leitsymptome sind motorische Fehlhandlungen, die nicht auf eine motorische Behinderung zurückführbar sind. Apraxien bezeichnen eine Vielzahl von Störungen mit unterschiedlichen zugrunde liegenden neuronalen Funktionsstörungen (Goldenberg 1999). Die Diagnostik der Gliedmaßenapraxien erfolgt über die Prüfung der Imitationsfähigkeit von Gesten, der Durchführung von Gesten nach Aufforderung sowie des Objektgebrauchs (Goldenberg 1999). Bei der bukkofazialen Apraxie bezieht sich die Störung ausschließlich auf das Gesicht. Von unterschiedlichen Neuropsychologen wurden Normwerte ihrer eigenen Apraxieprüfungen veröffentlicht (z. B. de Renzi et al. 1980; Goldenberg 1996, Goldenberg u. Hagmann 1998).
Agnosie Agnosie bedeutet soviel wie »Nichterkennen« und bezeichnet die Schwierigkeiten beim Erkennen von Dingen, bzw. von Konzepten und Handlungsabläufen. Neben den visuellen Agnosien wie z. B. der Formagnosie, dem Fehlerkennen und Misslingen des Vergleiches einfacher Formen (z. B. Benton Test) oder wie der Prosopagnosie, dem fehlerhaften Erkennen von Gesichtern (de Renzi et al., 1991; z. B. Famous Faces Test – Fast et al. 2006 a; oder Facial Recognition Test – Benton et al. 1994) existieren weitere Agnosietypen wie z. B. die sogenannte Autotopagnosie, die Schwierigkeit Körpterteile auf Aufforderung hin zu zeigen (Personal Orientation Test – Weinstein 1964), oder die Unfähigkeit, die Finger zu benennen (Fingeragnosie; z. B. Finger Localisation Test – Benton et al. 1994). Je nach Schädigungslokalisation ist das Auftreten von Agnosien anderer Sinnesmodalitäten möglich, z. B. auditive oder auch taktile Agnosie.
Sprache Sprachstörungen werden formal unterteilt in: Sprachstörungen bei psychischen Krankheiten (z. B. Sprachstörungen bei schizophrenen Psychosen, Mutismus bei Katatonie, monotones Sprechen bei Depression oder Aphonie bei Hysterie), periphere Sprachmotorik- und Artikulationsstörungen und zentrale hirnorganisch bedingte Sprachstörungen (Aphasien; Mumenthaler 1979, S. 221ff.). Aphasien, Störungen der höheren integrativen Sprachfunktionen bei weitgehend erhaltener peripherer Sprach-
motorik und weitgehend erhaltener Intelligenz, gelten neben Agnosie und Apraxie als klinisch auffälligste der 3 sog. »Werkzeugstörungen«. Testbatterien zur Aphasieprüfung umfassen in der Regel Aufgaben zur Spontansprache, zum Nachsprechen, zum Sprachverständnis, zum Benennen, zum Lesen und zum Schreiben. Die Prüfung der Sprache ist vor allem bei der Differenzialdiagnostik im Bereich der progredienten Erkrankungen des Alters von Bedeutung. So stellen Sprech- und Sprachstörungen vor allem bei der frontotemporalen Demenz (FTD), der primär progredienten Aphasie (PPA), der semantischen Demenz (SD), der frontotemporalen Demenz mit Parkinsonismus bei Mutation auf dem Chromosom 17, der kortikobasalen Degeneration (CBD), die in der neueren Literatur ab 1998 dem Pick-Komplex zugerechnet wird, aber auch beim Verlauf der Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT) wichtige differenzialdiagnostische Funktionen da. Token-Test. Der am weitesten verbreitete Aphasie-Scree-
ningtest ist der Token-Test (Originalversion: De Renzi u. Vignolo 1962; deutsche Version: Orgass 1981). Der TokenTest besteht in der Originalversion aus 20 Plättchen aus Holz oder Plastik (großen und kleinen Kreisen oder Rechtecken in 5 Farben), mit denen der Proband 62 mündliche Anweisungen des Testleiters (z. B. »Zeigen Sie das kleine grüne Viereck«, »Legen Sie den roten Kreis zwischen das gelbe Rechteck und das grüne Rechteck«) ausführen soll, und erfasst primär das Sprachverständnis. Gesunde machen in diesem Test in der Regel weniger als 5 Fehler (Mittelwert 1,25, SD 0,48). Der Token-Test ist relativ leicht durchzuführen und auszuwerten, reliabel und wies in wiederholten Studien eine hohe Zuordnungsgenauigkeit auf. Beispielsweise klassifizierte der Test 88% einer Gruppe Gesunder und Hirngeschädigter mit und ohne Aphasie korrekt (Boller u. Vignolo 1966). Aachener Aphasietest. Zur Unterscheidung verschiedener Unterformen der Aphasie (amnestische, globale, Broca-, Wernicke-Aphasie und Mischformen) hat sich im deutschen Sprachraum der Aachener Aphasietest (AAT) mit den 6 Untertests Spontansprache, Token-Test, Nachsprechen, Schriftsprache, Benennen und Sprachverständnis durchgesetzt (Huber et al. 1983). Der komplette AAT ist jedoch relativ zeitaufwendig (Durchführung 30– 90 min, Auswertung 30–60 min).
Gedächtnis Was man im Alltag als Gedächtnis bezeichnet, ist genauer betrachtet ein nur locker zusammenhängender Verbund unterschiedlicher Fähigkeiten mit jeweils eigenen kortikalen Verarbeitungsarealen, die von Krankheitsprozessen auch in unterschiedlicher Weise in Mitleidenschaft gezogen werden (zur Übersicht ⊡ Tab. 22.3). Während das explizite episodische Gedächtnis bei zahlreichen neurolo-
497 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
⊡ Tab. 22.3. Gedächtnissysteme, Beschreibung, Abrufmodus und Hirnstrukturen. [Nach Tulving (1995); Brand u. Markowitsch (2003)]
System
Prozedurales Gedächtnis
Zugeordnete Hirnstrukturen
Alternative Bezeichnung
Beschreibung und Subsystem
Abrufmodus und zugeordnete Bewusstseinsstufe
Enkodieren
Speicherung
Abruf
Nichtdeklaratives Gedächtnis
Motorische und einfache kognitive Fertigkeiten, basales Konditionieren, einfaches assoziatives Lernen
Implizit, anoetisch
Basalganglien, Zerebellum
Basalganglien, Zerebellum
Basalganglien, Zerebellum
Beschreibungen von Strukturen, erhöhte Wiedererkennenswahrscheinlichkeit
Implizit, anoetisch
Primäre Assoziationskortizes
Primäre Assoziationskortizes
Primäre Assoziationskortizes
Wiedererkennen durch Bekanntheit auf der Basis sensorischer Eigenschaften
Implizit, noetisch
Posteriorer sensorischer Kortex
Posteriorer sensorischer Kortex
Posteriorer sensorischer Kortex
Verknüpftes Gedächtnis, räumliches Gedächtnis
Implizit, noetisch
Zerebraler Kortex, limbisches System
Zerebraler Kortex, Assoziationsareale
Frontotemporaler Kortex links
Explizit, noetisch
Präfrontaler Kortex, Assoziationsareale
Präfrontaler Kortex, Assoziationsareale
Präfrontaler Kortex, Assoziationsareale
Explizit, noetisch
Präfrontaler Kortex, Limbisches System
Zerebraler Kortex (Assoziationsareale), limibsches System
Frontotemporaler Kortex rechts, limbisches System
Perzeptuelles Repräsentationssystem Priming Perzeptuelles Gedächtnis
Semantisches Gedächtnis
Faktenwissen, generisches Gedächtnis
Primäres Gedächtnis
Kurzzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis
Episodisches Gedächtnis
Persönliches Gedächtnis, Ereignisgedächtnis
Visuell, auditiv
gischen und psychiatrischen Krankheiten oft deutlich beeinträchtigt ist, sind überlernte, semantische und implizite Gedächtnisprozesse wie Priming, Konditionierung oder motorisches Lernen eher krankheitsresistent (Markowitsch 1997; Petersen u. Weingartner 1991). Die episodische Gedächtnisleistung ist zudem stark von situativen Einflüssen wie Anstrengungsbereitschaft, Stimmung, Einsatz von Gedächtnisstrategien, Übungseffekten, Distraktion, Medikamenteneinwirkung, materialspezifischen Aspekten und dem Alter des Patienten abhängig. Werte für die konkordante Validität und die Retestreliabilität liegen daher oft bedeutend niedriger als Reliabilitätskoeffizienten für Intelligenztests (Bäumler 1974; Gauggel et al. 1991). Bei der Vorgabe mehrerer episodischer Gedächtnistests sind uneinheitliche Ergebnisse eher die Regel als die Ausnahme. Die Auswahl eines geeigneten Gedächtnistests richtet sich nach Kriterien wie Alter des Patienten, Art und Schweregrad der Erkrankung, Frage nach Statusoder Verlaufsmessung, ökologische Validität und Verfügbarkeit des Testinstruments. Aus praktischen Gründen unterscheidet man zwischen Gedächtnistestbatterien, die unterschiedliche Aspekte des Gedächtnisses in einem
gemeinsam normierten Verfahren zusammenschließen, und Einzeltests.
Gedächtnistestbatterien Wechsler Memory Scale (WMS). Sie wurde von Wechsler
mit dem Gedanken entwickelt, einen dem IQ entsprechenden Gedächtnisquotienten zu bestimmen (Wechsler 1974). Inzwischen liegt sie auf englisch in der 3. Aufl. vor (»WMS-III« Wechsler 1997 b). Die deutsche Ausgabe (Härting et al. 2000) ist eine Adaptation der 2. Aufl. der Testbatterie (»WMS-R«), die in den USA seit 1987 im Einsatz war. Die WMS-R besteht aus 13 Untertests, aus denen sich 4 Indizes berechnen lassen: verbales Gedächtnis, visuelles Gedächtnis (beide zusammen bilden den allgemeinen Gedächtnis-Index), Aufmerksamkeit/ Konzentration und verzögerte Wiedergabe. Ein zusätzlicher Subtest misst Information und Orientierung – ein Bereich, der ziemlich am Rand dessen liegt, was man gemeinhin als Gedächtnis bezeichnet und folgerichtig auch nicht in die aus den anderen 13 Subtests berechneten Indizes eingeschlossen wird. Die deutsche WMS-R ist für den Altersbereich von 15–75 Jahren normiert und eignet sich besonders gut für den klinischen Einsatz. Der Test kann
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Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
(ähnlich wie die Wechsler-Intelligenztests) nur als Individualtest vorgegeben werden. Im Vergleich zu den Wechsler-Intelligenztests wurde die WMS von einer Ausgabe zur nächsten stark verändert. Die ursprüngliche Form hatte nur 7 Subtests, die revidierte Form hat 14. Auch die WMS-III wurde wieder stark verändert, u. a. um der Kritik einer zu starken Sprachlastigkeit zu begegnen: nur 7 Subtests aus der WMS-R wurden beibehalten, 4 dafür neu konstruiert, von denen 2 explizit nichtsprachlich kodierte Informationen (Gesichter, Familienbilder) enthalten. Weitere Gedächtnistestbatterien. Dazu zählen der Lern-
und Gedächtnistest (LGT-3, Bäumler 1974), der Tempoleistungs- und Merkfähigkeitstest Erwachsener (TME; Roether 1984), der Berliner Amnesietest (BAT; Metzler et al. 1992), der Rivermead Behavioural Memory Test (RBMT; Wilson et al. 1985), der speziell alltagsnahe Testaufgaben benutzt, sowie die weitestgehend sprachfreie Cambridge Neuropsychological Test Automated Battery (CANTAB; Robbins et al. 1994), die neben exekutiven Funktionen auch die Erfassung der visuellen Wahrnehmung und des visuellen Gedächtnisses ermöglicht.
Verbale Gedächtnistests Auditory Verbal Learning Test. Der Auditory Verbal
Learning Test (AVLT; Rey 1964) liegt seit 2001 in einer deutschen Version als verbaler Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT; Helmstaedter et al. 2001) vor. Er besteht aus einer Liste A mit 15 Wörtern, die dem Patienten 5-mal vorgelesen werden und die nach jedem Lerndurchgang unmittelbar anschließend vom Patienten in beliebiger Reihenfolge frei wiedergegeben werden sollen. Nach der einmaligen Vorgabe und freien Wiedergabe einer Liste B mit ebenfalls 15 Wörtern sollen die Wörter der Liste A vom Patienten unmittelbar und nach etwa 30 min nochmals ohne weitere Darbietungen frei wiedergegeben werden. Die Vorgabe einer Wiedererkennensliste mit 50 Wörtern (alle Wörter aus Liste A und B sowie 20 Distraktoren) kann sich anschließen, wobei der Patient lediglich Wörter der ersten Liste markieren soll. Vorteil des AVLT ist, dass durch die 5-malige Darbietung in den Lerndurchgängen dem Patienten ausreichend Gelegenheit gegeben wird, sich die Wörter der ersten Liste einzuprägen. Zahlreiche Ergebnismaße können berechnet werden, von denen das wichtigste die Anzahl der frei erinnerten Wörter ist. California Verbal Learning Test. Der California Verbal
Learning Test (CVLT; Delis et al. 2000) unterscheidet sich vom AVLT v. a. darin, dass jedes der 16 Wörter der Liste A zu einer von 4 Kategorien (Früchte, Gewürze, Kleidungsstücke und Werkzeuge) gehört. Insofern prüft der Test daher auch die Effizienz konzeptueller Lernstrategi-
en und die Wirksamkeit der Vorgabe der 4 Kategorien als Hinweisreize beim freien Abruf. Selective Reminding. Bei der Methode des Selective Reminding (Buschke u. Altman-Fuld 1974; eine deutsche Version ist in dem Demenztest von Kessler et al. 1988 enthalten) wird eine Wortliste zur unmittelbar anschließenden freien Wiedergabe dargeboten. In allen folgenden Darbietungen der Wortliste werden nur diejenigen Wörter erneut vorgegeben, die der Proband in der jeweils vorhergehenden Wiedergabe nicht nennen konnte. Der Test erlaubt die Berechnung verschiedener Gedächtnisparameter zum Kurz- und Langzeitgedächtnis, die allerdings untereinander relativ hoch korrelieren, und erfordert insbesondere bei älteren oder dementen Patienten eine erhöhte Belastbarkeit, da der Patient einerseits im Kopf behalten muss, jedes Mal alle Wörter wiederzugeben, sich durch die Vorgabe lediglich der zuvor nicht genannten Wörter jedoch die Darbietungsreihenfolge jedes Mal ändert und der Patient so stets auch an seine Fehler erinnert wird.
Figurale Gedächtnistests International bekannte Tests zum figuralen Gedächtnis sind der Benton-Test (Benton 1981; in der Standardversion Nachzeichnen von 10 Vorlagetafeln mit 1–3 einfachen geometrischen Formen nach 10 s Darbietung), der ReyOsterrieth Complex Figure Test (Rey 1941; Abzeichnen, unmittelbare und verzögerte freie Reproduktion einer komplexen Zeichnung, ⊡ Abb. 22.5), der Rey Visual Desgin Learning Test (Rey 1964) und der »Recurring Figures Test« (Kimura 1963; deutsche Versionen von Hartje u. Rixecker 1978; Sturm u. Willmes 1997; aus einem Satz von 20 sukzessive zuvor gezeigten Stimuluskarten mit geometrischen und irregulären Mustern kommen 8 Stimuluskarten in den folgenden 140 Testkarten 7-mal erneut vor). Als deutsche Eigenentwicklung ist das Diagnostikum für Zerebralschädigung (DCS; Weidlich et al. 2001) zu erwähnen, in dem der Patient vorher gezeigte Figuren aus dem Gedächtnis mit 5 Holzstäbchen nachlegt. Das DCS liegt inzwischen in 4. Aufl. vor und verfügt über umfangreiche Normen für den Altersbereich von 6–79 Jahren.
Gesichtererkennen Im Bereich des Erlernens und Wiedererkennens von Gesichtern wurde von Warrington (1984) der RecognitionMemory-Test für Gesichter entwickelt. Andere Verfahren erfassen die Fähigkeit, zu Gesichtern Namen oder Berufe zu lernen (Namen-Gesichter Assoziationstest – Kessler et al. 1999; Gesichter-Namen Lerntest – Schuri u. Benz 2000; Gedächtnis-für-Personen-Test – Pahlke u. Bulla-Hellwig 2002).
499 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
Implizite Gedächtnistests
a
Der Fragmentierte Bildertest (Kessler et al. 1993) wurde entsprechend einem von Gollin (1960) entwickelten Prinzip erstellt. Hierbei werden fragmentierte Strichzeichnungen von Gegenständen dargeboten, die bei jeder neuen Vorlage zunehmend besser erkennbar sind. Aufgabe des Probanden ist es, möglichst schnell die dargestellten Objekte zu erkennen. Das implizite Gedächtnis wird durch eine wiederholte Vorgabe derselben Strichzeichnungen geprüft, ausgehend von der Annahme, dass bei einem intakten impliziten Gedächtnis die Objekte früher identifiziert werden. Andere implizite Gedächtnistests sind der Supra-Blockspanne Test (Corsi 1972; Schellig 1997) und der Wortkomplettierungstest (Graf et al. 1984).
Tests für Altgedächtnis
b
c ⊡ Abb. 22.5.a-c. Rey-Osterrieth-Complex Figure einer 45-jährigen schizophrenen Patientin nach Rey (1941). a Kopie der Figur, b unmittelbare freie Wiedergabe der Figur, c verzögerte freie Wiedergabe der Figur
Der Kieler Altgedächtnistest (Leplow et al. 1993) besteht aus Multiple-Choice-Fragen zu 106 trennscharfen »famous events«, die zum Zeitpunkt der Tagesaktualität nur von über 21 Jahre alten Probanden sicher beantwortet werden können (z. B. ähnliche Items wie: Wodurch starben im Juni 1998 über 100 Menschen im Norden Deutschlands? A Flugzeugabsturz, B Tanklastzugexplosion, C Zugunglück, D Amokläufer, E Schiffsunglück, F ich kann mich nicht erinnern) und erlaubt eine Erfassung des Verlaufs retrograder Amnesien für Faktenwissen. Ähnliche Verfahren sind der Famous Faces Test von Fast, Fujiwara und Markowitsch (2007) und der »Berühmte-PersonenTest des Altgedächtnisses für öffentliche Daten 1961–1995« von Vollmer-Schmolck, Garbelotto und Schmidtke (2000). Während diese Verfahren die Abbildung eines zeitlichen Gradienten der Gedächtnisleistungen ermöglichen, kann mit dem »semantischen Altgedächtnisinventar« (Schmidtke u. Vollmer-Schmolck 1999) überlerntes Weltwissen, d. h. die Kenntnis allgemeiner Fakten ohne speziellen raum-zeitlichen Kontext, geprüft werden. Letzteres ist mit Wissenstests wie z. B. dem Subtest »Allgemeines Wissen« der Wechsler Intelligenztests vergleichbar. Zwei weitere deutschsprachige Testverfahren zur quantitativen Erfassung retrograder Gedächtnisstörungen im Bereich des autobiografisch-episodischen Altgedächtnisses stellen das autobiographische Gedächtnisinventar (Kopelman et al. 1990; in deutscher Überarbeitung Fast et al. 2007) sowie das autobiographische Altgedächtnisinterview (Schmidtke u. Vollmer-Schmolck 1999) dar. Beide Verfahren dienen der Erfassung der Erinnerungsfähigkeit an Episoden und Wissen der eigenen Biografie aus verschiedenen Lebensphasen.
Exekutive Funktionen Unter der Störung exekutiver Funktionen wird in der Regel die Störung äußerst verschiedenartiger, komplexer
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500
22
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
kognitiver Prozesse höherer Ordnung verstanden, denen in der Fachliteratur Begriffe wie Konzeptbildung, kognitive Flexibilität, Umstellungsfähigkeit, Koordination von Informationen/Prozessen, Sequenzierung, Zielüberwachung, Antizipation, Planungsfähigkeit, Initiierung, Inhibition und Problemlösen zugeordnet werden. Exekutive Beeinträchtigungen finden sich häufig nach Läsionen oder Funktionsbeeinträchtigungen des präfrontalen Kortex, sie können jedoch auch im Zusammenhang mit Dysfunktionen anderer Hirnareale auftreten (Lezak 1995; Luria 1966; Tranel et al. 1994). Der Begriff der Exekutivfunktion bezieht sich demnach auf ein multioperationales System, in welchem verschiedene kognitive Funktionen gebündelt sind, welche vor allem von den präfrontalen Hirnarealen und deren reziproken kortikalen sowie subkortikalen Verknüpfungen gesteuert werden (Stuss u. Benson 1986). Dieses System höherer Ordnung umfasst wiederum untergeordnete kognitive Funktionen, von denen das Arbeitsgedächtnis sicherlich eine der wichtigsten darstellt (Friedman et al. 2006; Tranel et al. 1994). Arbeitsgedächtnis. Das von Baddeley und Hitch (1974; vgl. auch Baddeley 1997) konzipierte Arbeitsgedächtniskonzept revidiert die Vorstellung eines einheitlichen Kurzzeitgedächtnisses und postuliert stattdessen die Existenz mehrerer kurzzeitiger Speichersysteme, die durch eine übergeordnete Instanz (zentrale Exekutive) überwacht und koordiniert werden. Es dient dem Halten und Manipulieren von Informationen, wie es für Leistungen wie z. B. das Verstehen von Sätzen, Kopfrechnen, Lernen im Allgemeinen benötigt wird. Es wird als die Schnittstelle zwischen Gedächtnis und komplexen kognitiven Prozessen verstanden. Die Annahme eines zentralen Kontrollprozesses legt eine Zuordnung des Arbeitsgedächtnisses zu den exekutiven Funktionen nahe. Die klinische Untersuchung des Arbeitsgedächtnisses beinhaltete traditionell die Erfassung einfacher Gedächtnisspannen für verbale und visuelle Informationen (z. B. in den Wechsler Gedächtnis- und Intelligenzbatterien). Da einfache Gedächtnisspannen relativ störunanfällig sind, wird dieses Konzept zunehmend kritisiert und die Messung durch komplexere Aufgaben ersetzt (Subtest Buchstaben-Zahlen-Folgen im WIE – Aster et al. 2006; Subtest Arbeitsgedächtnis in der TAP – Zimmermann u. Fimm 2002). Diese Aufgaben erfordern sowohl das Halten von Informationen als auch das gleichzeitige Bearbeiten dieser Informationen.
strategisches und effektives Handeln. Einen Überblick über die beschriebenen testpsychologischen Verfahren zum problemlösenden Denken und planvollen Handeln findet sich bei Lezak, Howieson und Loring (2004). Zwei Konzeptbildungstests wurden häufig zur Abklärung einer Dysfunktion des Frontallappens nach Schädel-HirnTrauma oder bei Schizophrenie eingesetzt und werden im Folgenden ausführlicher dargestellt. Halstead Category Test. Der Halstead Category Test (HCT;
Halstead 1947, DeFilippis et al. 1979, in überarbeiteter PCForm Engel u. Fast 2007) besteht aus 208 visuell nacheinander dargebotenen Items, die in 7 Untertests nach unterschiedlichen Prinzipien gruppiert sind. In den ersten 6 Untertests sind die Items nach 4 Prinzipien geordnet (römische Zahlen von I–IV, Anzahl der Bildelemente von 1–4, Position 1–4 von hervorgehobenen Bildelementen horizontal und als Quadranten im Uhrzeigersinn angeordnet, Anteil durchgezogener im Vergleich zu punktiert markierten Bildelementen; ⊡ Abb. 22.6). Der 7. Untertest enthält Items aus den vorangegangenen Untertests und prüft die Erinnerungsfähigkeit. Aufgabe des Probanden ist es, bei jedem Item eine Zahl zwischen 1 und 4 anzugeben und über die Rückmeldung über die Richtigkeit der von ihm genannten Zahl zu prüfen, ob das von ihm gewählte Prinzip für den jeweiligen Subtest zutreffend ist. Der HCT stellt daher eher ein Lernexperiment als einen klassisch konstruierten Test dar. Von dem Test, der ein Bestandteil der Halstead Reitan Test Battery ist, existieren mehrere Versionen, die bezüglich Itemzahl (84–360) und Darbietungsart (Dia, Papier, PC) variieren. Am ökonomischsten dürfte die PC-Version mit den klassischen 208 Items im Hogrefe Testsystem sein, die in Kürze erscheinen wird (Engel u. Fast 2007). Der HCT gilt als Standardmaß für Konzeptbildung und abstrahierendes Denken, prüft aber auch die Fähigkeit, flexibel Rückmeldung in den weiteren Lösungsprozess zu integrieren, selbständig-kreatives Denken und v. a. Frustrationstoleranz. Patienten mit diffusen hirnorganischen Schäden schneiden in dem Test oft schlecht ab. Eine von Halstead (1947) angenommene Spezifität für frontale Läsionen ließ sich in Folgestudien nicht bestätigen (DeFilippis et al. 1979; Wang 1987). Bei der Interpretation ist zu berücksichtigen, dass die Leistung im HCT mit zunehmendem Lebensalter abnimmt und der Test eine wenigstens durchschnittliche Intelligenz voraussetzt. Wisconsin Card Sorting Test. Beim Wisconsin Card Sort-
Konzeptbildung, Planungsfähigkeit, Denken Problemlösen als höchste kognitive Fähigkeit erfordert neben intakten grundlegenden Funktionen wie Wahrnehmung, Motorik, Sprache und Gedächtnis meist konvergentes und divergentes Denken sowie sog. exekutive Fähigkeiten wie Willenskraft, Planen und zielgerichtetes,
ing Test (WCST; Berg 1948) soll der Proband 4 Stimuluskarten Antwortkarten nach den Kategorien Farbe, Form und Anzahl zuordnen und flexibel auf den vom Versuchsleiter nicht angekündigten Wechsel der Kategorie reagieren (⊡ Abb. 22.7).
501 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
⊡ Abb. 22.6. Beispiel-Item des Halstead Category Tests im Hogrefe-Test-System (Engel u. Fast 2007)
Beispiel Vor dem Probanden liegen dabei 4 Stimuluskarten, die ein rotes Dreieck, 2 grüne Sterne, 3 gelbe Kreuze bzw. 4 blaue Kreise zeigen, in einer horizontalen Reihe. In der Standardversion soll der Proband 128 Antwortkarten, die 1–4 Symbole (Dreiecke, Sterne, Kreuze oder Kreise) in den Farben Rot, Grün, Gelb und Blau zeigen, nacheinander vor die 4 Stimuluskarten legen. Der Proband beginnt einfach zu legen und erfährt aus der Rückmeldung (»richtig«, »falsch«), ob die Zuordnung der vom Testleiter zuvor ausgewählten Kategorie entspricht. Ist die Kategorie des Testleiters beispielsweise Farbe, muss eine Antwortkarte mit 1 gelben Stern unter die Stimuluskarte mit den 3 gelben Sternen gelegt werden. Nach jeweils 10 richtigen Reaktionen des Probanden wechselt der Testleiter ohne Ankündigung das Konzept. Der Test beginnt mit der Kategorie Farbe, wechselt zu Form und Anzahl, dann nochmals zu den Kategorien Farbe, Form und Anzahl und endet, wenn die 6 Kategorien richtig (d. h. 10-mal nacheinander) gelegt wurden, der Proband den Testablauf entweder offensichtlich nicht versteht oder den Test korrekt erklären kann.
Die wichtigsten Auswertungskategorien sind die Anzahl der vollständig erreichten Kategorien (maximal 6), die Anzahl perseverativer Fehler (Beibehalten einer falschen Kategorie zu Beginn des Tests oder einer richtigen Kategorie, nachdem der Testleiter das Prinzip gewechselt hat) und das vorzeitige Verlassen einer richtigen Kategorie. Modifizierte Version. In einer modifizierten Version des
Wisconsin Card Sorting Tests (MWCST; Nelson 1976), die
⊡ Abb. 22.7. Wisconsin Card Sorting Test, wird im Beispiel erklärt
inzwischen die am häufigsten benutzte ist (Grant u. Berg 1993), wird der Wechsel der Kategorie durch den Testleiter angekündigt, werden Karten, die mehreren Kategorien zugleich zugeordnet werden können, entfernt, und der Patient legt durch seine Wahl beim ersten Item die erste Kategorie selbst fest. Der MWCST ist daher für Patienten leichter als der WCST und wird auf der Basis von 48 Antwortkarten durchgeführt. Diagnostischer Wert. Insbesondere die Anzahl persevera-
tiver Fehler im WCST ist bei Patienten mit Frontalhirnläsionen höher als bei gesunden Kontrollen (Lezak 1995, S. 632). Innerhalb von Patientenpopulationen ist der WCST auch sensitiv für diffuse Hirnschäden und Leistungseinbußen u. a. bei Demenz, Alkoholismus, Morbus Parkinson und multipler Sklerose (Lezak 1995, S. 624).
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502
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
Verbale Assoziationsfähigkeit, Wortflüssigkeit
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Wortflüssigkeitstests fordern vom Testnehmer, in begrenzter Zeit möglichst viele Wörter zu nennen, die mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben beginnen (»lexikalische Wortflüssigkeit«) oder Elemente einer bestimmten Kategorie (z. B. Tiere) sind (»semantische Wortflüssigkeit«). Sie lassen sich schnell durchführen und sind nicht zuletzt deshalb als Elemente von Testbatterien beliebt, zum Beispiel im Leistungsprüfsystem (LPS, Horn 1983) oder in der CERAD-Testbatterie (s. unten). Für eine umfassende Testung steht seit einigen Jahren der Regensburger Wortflüssigkeitstest zur Verfügung (RWT; Aschenbrenner et al. 2000).
Testbatterien für exekutive Funktionen Wilson et al. haben 1996 das »Behavioural Assessment of the Dysexecutive Syndrome« (BADS) publiziert, eine Testbatterie mit 6 Subtests zu den Bereichen Planungsfähigkeit und Konzeptbildung. Für diesen Test gibt es auch eine deutsche Testanweisung, aber (noch) keine deutschen Normen. Auf Grund der für einen neuen Test schon recht umfangreichen Validitätsangaben dürfte dieses Verfahren im Vergleich mit den oben genannten Einzeltests gewisse Vorteile bei der klinischen Anwendung haben.
22.2.3
Persönlichkeit
In der Praxis sind 2 ihrer Konstruktion nach sehr unterschiedliche Methoden zur Erfassung der Persönlichkeitsstruktur üblich: 1. die psychometrischen Persönlichkeitstests (meist Persönlichkeitsfragebögen) einerseits und 2. die projektiven Tests andererseits. Persönlichkeitsfragebögen. Sie füllt ein Proband oder Pa-
tient meist selbständig aus. Er gibt quasi eine Art schriftliche Selbstauskunft ab. Diese Tests sind ähnlich objektiv wie Leistungstests, d. h. sie sind von der Person des Untersuchers oder Auswerters weitgehend unabhängig. Auch hinsichtlich Zuverlässigkeit und Gültigkeit lassen sich die von den Leistungstests her bekannten Regeln und Verfahren anwenden. Ein wichtiger Unterschied, der gerade im klinischen Bereich gelegentlich Probleme bereitet, liegt in der größeren Verfälschbarkeit: Leistungstests provozieren eine maximale Leistung und sind – sieht man einmal von gezielten Vorbereitungsmaßnahmen auf den Test ab – nur in eine Richtung willkürlich verfälschbar (man kann willkürlich nur eine schlechtere Leistung als die geforderte produzieren). Dagegen fordern Persönlichkeitstests ein typisches Verhalten, weshalb sowohl eine Simulation auffälliger Verhaltensweisen bei Gesunden als auch eine Dissimulation bei Kranken möglich ist.
Als Standard für psychometrische Persönlichkeitsfragebögen haben sich in der akademischen differenziellen Psychologie für den Bereich der Normalpersönlichkeit Fragebögen auf dem Hintergrund der Fünf-FaktorenTheorie der Persönlichkeit etabliert. Zu nennen sind vor allem das NEO-Persönlichkeitsinventar nach Costa und McCrae, revidierte Fassung (NEO-PI-R – Ostendorf u. Angleitner 2004, s. a. Costa u. McCrae 1992) und dessen Kurzfassung, das NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEOFFI, Borkenau u. Ostendorf 1993). In Deutschland konstruierte, aber bisher weniger verbreitete Tests dieser Art sind das TIPI (Trierer integriertes Persönlichkeitsinventar – Becker 2002) und das HPI (Hamburger Persönlichkeitsinventar – Andresen 2002). Für die Anwendung in der Psychiatrie sind diese Persönlichkeitstests, die explizit die Beschreibung der Normalpersönlichkeit anstreben (ein weiteres Beispiel dafür ist der 16 PF-Persönlichkeitstest von Cattell, Schneewind et al. 1998), meist wenig ergiebig. Im Folgenden werden deshalb nur Fragebögen besprochen, bei denen die Erfassung von klinisch relevanten Normabweichungen im Vordergrund steht. Freiburger Persönlichkeitsinventar. Es erfasst in seiner
revidierten Version (FPI-R; Fahrenberg et al. 2001) 10 relativ unabhängige Persönlichkeitsdimensionen und die beiden übergreifenden Faktoren Extraversion und Emotionalität (in anderen Bögen als Neurotizismus bezeichnet). Zu den Dimensionen zählen neben Charaktereigenschaften im engeren Sinne (Lebenszufriedenheit, soziale Orientierung, Leistungsorientierung, Gehemmtheit, Erregbarkeit, Aggressivität, Beanspruchung, Offenheit) auch psychosomatische Konzepte wie körperliche Beschwerden und Gesundheitssorgen. Damit reicht das FPI über den relativ engen Gültigkeitsbereich »normaler« Persönlichkeitsinventare (s. oben) hinaus, ohne jedoch den Bereich psychischer Störungen komplett abzubilden. Für das FPI liegen umfangreiche Hinweise zur faktoriellen Validität wie zur Kriterienvalidität vor. Gießen-Test. Einen ähnlichen Anwendungsbereich deckt auch der Gießen-Test (Beckmann et al. 1990) ab, wobei aber sozialpsychologische Konzepte wie Dominanz, Durchlässigkeit, soziale Potenz, soziale Resonanz, Kontrolle und Grundstimmung im Vordergrund stehen. MMPI-2. Das Minnesota Multiphasic Personality Inventory-2 (MMPI-2; Hathaway u. McKinley 2000) deckt den Merkmalsbereich psychischer Störungen am vollständigsten ab. In den 1930er Jahren wurde das Instrument aus einem psychiatrischen Fragenkatalog von gut 1000 Fragen entwickelt. Die derzeit gültige Version enthält 567 Items, die sich sowohl auf überdauernde Persönlichkeitsmerkmale als auch auf Symptome psychischer Störungen beziehen. Die Standardauswertung, für die nur
503 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
die ersten 370 Items des MMPI-2 notwendig sind, erfolgt auf der Basis von 3 Validitätsskalen und 10 klinischen Standardskalen. Mit allen Items können 15 weitere Inhaltsskalen und 3 weitere Validitätsskalen ausgewertet werden. In der Praxis geben die 3 (bzw. 6) Validitätsskalen dem Anwender eine relativ zuverlässige Information über die Gültigkeit des Testprofils, ein Aspekt, der gerade bei psychiatrischen Patienten von besonderer Wichtigkeit ist. Die klinischen Skalen erfassen inhaltlich den gesamten Bereich psychischer Störungen. Es existiert eine reichhaltige, in großen Teilen empirisch abgesicherte Hintergrundinformation zur Häufigkeit von Skalenerhöhungen (Profilkonfigurationen) bei bestimmten Patientengruppen, die auch systematisch für computerisierte Testinterpretationen verwendet wird (Engel 1980). Mit dem MMPI-2 ist es möglich, relativ ökonomisch eine umfassende Selbstauskunft über Persönlichkeit und Beschwerden eines psychiatrischen Patienten zu erhalten. Neben der Handauswertung bietet der Verlag auch einen Auswertungs- und Interpretationsservice per Fax an. Projektive Testverfahren. Ihr Wesen liegt darin, aus Reaktionen einer Person auf wenig strukturiertes Reizmaterial Rückschlüsse auf wichtige Komponenten der Persönlichkeit zu ziehen. Auf sie trifft das Merkmal der Objektivität in weit geringerem Maße zu: Hier sind sowohl die Darbietungsregeln als auch v. a. die Auswertungsverfahren weniger präzise und intersubjektiv gültig zu formulieren. Projektive Verfahren haben mehr den Charakter einer klinischen Untersuchung, in der mit Hilfe von Bildmaterial Geschichten oder Deutungen verlangt werden. Die Interpretation erfolgt aufgrund empirischer oder (häufiger!) nur theoretisch erwarteter Beziehungen zwischen Eigenheiten der Antworten wie z. B. Wahrnehmungsschärfe, Kontextabhängigkeit, Inhalt oder Realitätsnähe und deren Vorkommen bei Persönlichkeitstypen oder klinischen Gruppen. Für die meisten projektiven Verfahren gibt es mehrere Interpretationssysteme. Die wichtigsten projektiven Tests sind das RorschachVerfahren (Rorschach 1992) und der Thematische Apperzeptionstest (Murray 1991). Beide sind international gebräuchlich, und es gibt eine Fülle an Literatur über die Tests. Für den Rorschach-Test ist im deutschen Sprachraum die Anleitung von Bohm (1995) weit verbreitet, daneben gibt es auch eine deutsche Anleitung nach dem Verfahren von Klopfer u. Davidson (1974). Das bei weitem am besten standardisierte Auswertungssystem von Exner (1993), das sich in den USA großer Wertschätzung erfreut, konnte sich hier noch wenig durchsetzen, es gibt auch keine deutsche Übersetzung. Die projektiven Verfahren haben sich v. a. in der forensischen Gutachtenspraxis eine gewisse Stellung erhalten. Sie werden hier wegen ihrer vermutlich geringeren Verfälschbarkeit den Fragebogenverfahren vorgezogen.
22.2.4
Störungsspezifische Diagnostik
Neben dem diagnostischen Ziel, abgrenzbare Persönlichkeitsmerkmale durch Tests zu erfassen, sind gerade in der diagnostischen Praxis der Psychiatrie Verfahren verbreitet, die störungsspezifische Einbußen messen sollen. Ihr Ziel liegt in der zusammenfassenden Beurteilung von Leistungen (bzw. Leistungsdefiziten), die für eine bestimmte Störung typisch sind. Der aus methodischen Gründen i. Allg. angestrebte Wunsch nach Homogenität von Tests bzw. Subtests wird damit explizit aufgegeben. Am häufigsten sind solche Verfahren im Bereich der Demenzdiagnostik. Allerdings lassen sich auch manche neuropsychologischen Testbatterien hierunter subsumieren, weil bei ihnen (s. unten) ein Test oder Subtest eher einzelne Symptome einer Störung misst und nicht in erster Linie ein zusammenhängendes und bei allen Personen erhebbares Merkmal kognitiver Leistungsfähigkeit. Die Abgrenzung der in diesem Abschnitt diskutierten Verfahren von den standardisierten Verfahren zur Einschätzung von Existenz und Schweregrad einer psychischen Störung bzw. zur Erhebung von Diagnosen ( Kap. 21) ist unscharf. Entsprechend der geänderten Zielsetzung sind sie meistens nicht an einer Normstichprobe geeicht und liefern dementsprechend keine standardisierten Scores. An die Stelle einer statistisch definierten Normdeviation (z. B. eine oder zwei Standardabweichungen) treten bei diesen Verfahren inhaltlich festgelegte Kriterien für das Vorliegen einer Störung. Diese Kriterien beziehen sich i. Allg. nicht auf einzelne Skalen sondern auf Konfigurationen mehrerer Merkmale. In diesem Abschnitt sind die entsprechenden Verfahren dann aufgenommen worden, wenn zu ihrer Anwendung kein klinisches Wissen notwendig ist und sie von Hilfspersonal durchgeführt werden können.
Demenz Bei der Demenz stehen Störungen der Kognition im Mittelpunkt der Symptomatik. Daraus ergibt sich direkt die hohe Relevanz, die einer neuropsychologischen Testuntersuchung für diese Diagnose zukommt. Für die Abgrenzung einer Demenz von einer altersgemäß durchschnittlichen Kognition gibt es viele relativ einfache und schnelle Testverfahren (z. B. MMSE, s. unten). Die diagnostische Sicherung einer Demenz bei einem kognitiv Minderbegabten kann dagegen schon höchst komplex sein (s. a. Jahn 2004). Zudem gewinnen in der Demenzdiagnostik zunehmend Fragen der Frühdiagnostik (Collie u. Maruff 2000) und der Differenzialdiagnostik verschiedener Demenzformen (Kessler u. Kalbe 2000) an Relevanz. Auch die Abgrenzung der Demenz von anderen psychiatrischen Krankheitsbildern gewinnt an Bedeutung: Während die Differenzialdiagnose von Demenz, Pseudodemenz und Depression schon lange untersucht wird (Beblo u. Herrmann 2000), weisen jüngere Studien auch auf die Rele-
22
504
22
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
vanz der Abgrenzung von spät beginnender Schizophrenie oder bipolarer Störung von der Demenz hin (Arciniegas 2006; Kitabayashi et al. 2005; Young et al. 2006). Aus diesen differenzialdiagnostischen Fragestellungen ergibt sich häufig die Notwendigkeit, neben den kurzen Screening-Verfahren auch standardisierte Testbatterien zur Leistungsprofilerstellung einzusetzen (s. a. Dunn et al. 2000). Mini-Mental State Examination. Ein einfaches und häufig
gebrauchtes Screening-Verfahren zur Erfassung schwerer kognitiver Störungen und zur Einschätzung des Schweregrads einer Demenz ist der MMSE (Mini Mental State Examination) von Folstein et al. (1975), der auch in mehreren Versionen auf Deutsch vorliegt (z. B. Folstein et al. 1990). Innerhalb von 5–10 min werden Fragen und Aufgaben in den Bereichen Orientierung, Aufmerksamkeit, Rechnen, Gedächtnis, Sprache und Ausführung einfacher Handlungen vorgegeben und zu einem Globalscore verrechnet (⊡ Tab. 22.4). Mit dem MMSE wird insbesondere bei klinischen Prüfungen, aber auch bei anderen wissenschaftlichen Untersuchungen, der Schweregrad der untersuchten Stichprobe dementer Patienten beschrieben. Der MMSE erfordert kein spezifisch klinisches Wissen und kann problemlos von angelernten Personen vorgegeben werden. Zu fordern ist lediglich, dass diese generell mit der Durchführung von Tests bei kognitiv beeinträchtigten Patienten vertraut sind. Alzheimer`s Disease Assessment Scale. Eine erweiterte
Form des MMSE ist die »Alzheimer’s Disease Assessment Scale« (ADAS – Rosen et al. 1993), die über einen kognitiven Testteil und einen nichtkognitiven Ratingteil verfügt. Der kognitive Teil dauert mit 30–40 min erheblich länger als der MMSE, gewichtet Gedächtnisdefizite aber auch viel stärker und wird damit den spezifischen Defiziten Dementer besser gerecht. CERAD-Batterie. Im Rahmen einer Zusammenarbeit amerikanischer Gedächtnisambulanzen entstand Ende der
80er Jahre eine Screening-Testbatterie zur (Früh-)Erkennung von Demenzen (The Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease/CERAD – Morris et al. 1989; Welsh et al. 1991; Welsh et al. 1994), die ebenfalls Gedächtnisstörungen betont. Inzwischen ist diese CERAD-Batterie auch in andere Sprachen übersetzt und wird als Screening-Instrument häufig verwendet. Eine deutsche Version haben Thalmann et al. (1998) publiziert. Das Testmaterial kann man frei über das Internet herunterladen, es gibt auch einen Auswertungsservice für den Test. Zusammen mit Validierungsdaten haben Satzger et al. (2001) eine einfache grafische Auswertung vorgelegt.
RBANS-Batterie. Aus den letzten Jahren ist eine weitere Testbatterie für den Einsatz in der Demenzzdiagnostik zu nennen, die Repeatable Battery for the Assessment of Neuropsychological Status (RBANS) von Randolph (1998). In 12 kurzen Subtests werden Leistungen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Sprache, Visuomotorik, Lernfähigkeit und Gedächtnis erfasst. Im Vergleich zur CERAD bietet die RBANS vor allem eine umfassendere Gedächtnisprüfung. Die differenzialdiagnostische Eignung beider Batterien ist durch die fehlende Erhebung exekutiver Funktionen eingeschränkt, deren Erfassung vor allem für frontalhirnbetonten Demenzen wichtig ist. Für eine ergänzende Diagnostik sind weitere Verfahren notwendig, zum Beispiel zur Erfassung der Handlungsplanung und -regulation (Turm von London – Culbertson u. Zilmer 2001; Planungstest – Kohler u. Beck 2000), des Problemlösens (Standardisierte Linksche Probe – Metzler 2000) und des flexiblen Denkens (Halstead Category Test – DeFilippis et al. 1979). Frontal Assessment Battery (FAB). Die FAB ist ein als
»Bedsidetest« angelegtes kurzes Screeningverfahren, das frontalhirnassoziierte kognitive und behaviorale Funktionen untersucht. In 6 Untertests werden die Funktionen Kategorienbildung, mentale Flexibilität, motorische Programmierung, exekutive Handlungskontrolle, Interferenzanfälligkeit, Selbstregulation, Inhibitionsfähigkeit und Unabhängigkeit von Umweltreizen geprüft (Dubois et al. 2000).
Neuropsychologische Testbatterien Aus der großen Mannigfaltigkeit neuropsychologischer Testverfahren, von denen viele eher ad hoc konstruierten experimentellen Prüfungen gleichen, deren Gültigkeit mehr durch Einzelfälle als durch breite Validitätsuntersuchungen belegt ist und deren Darstellung den Rahmen dieses Kapitels bei weitem sprengen würde, ragen einige Verfahren heraus, die als neuropsychologische Testbatterien breitere Anwendung auch in der Psychiatrie gefunden haben. Testbatterien. Die Halstead-Reitan Neuropsychologische Testbatterie (Heaton et al. 1991; Reitan u. Wolfson 1993)
ist eine Sammlung von Tests, über die es v. a. in den USA umfangreiche Untersuchungen gibt. In Deutschland sind nur einzelne Teile dieser Batterie (v. a. Category-Test und Trail-Making-Test) in Gebrauch. Daneben gibt es Testbatterien aus den Arbeitsgruppen von Arthur Benton (Benton et al. 1994) und Larry Squire (Davis et al. 1995). Charakteristisch für diese Verfahren ist ein normorientierter Ansatz bei der Konstruktion der Tests, ein einfacher Testaufbau, der eine Anwendung durch Hilfskräfte möglich macht, und das Ziel einer gruppenstatistischen Validierung.
22
505 22.2 · Funktionsbereiche und Verfahren
⊡ Tab. 22.4. Modifizierte, nicht zur Testdurchführung bestimmte Version des Mini-Mental-Status-Test: Beispielaufgaben in Anlehnung an die Originalform Nummer
Punktzahl
1
Welcher Wochentag ist heute?
1
2
Welches Datum?
1
3
Welcher Monat?
1
4
Welche Jahreszeit?
1
5
Welches Jahr?
1
6
Wo sind wir hier? (zuhause, Krankenhaus, Heim)
1
7
Welches Stockwerk?
1
8
In welchem Ort, in welcher Stadt?
1
9
In welchem Bundesland?
1
10
In welchem Land?
11
Sprechen Sie nach (1 Wort pro Sekunde; bei Verständnisschwierigkeiten bis zu 5-mal vorsagen)
1
12 13
Apfel
1
Becher
1
Seil
1
14–18
Buchstabieren Sie rückwärts! Stier (jeder richtige Buchstabe in rückwärtiger Reihenfolge zählt als ein Punkt):
Wenn » r-e-i-t-s« buchstabiert wird
5
19
Welches waren die 3 Wörter, die vorhin nachzusprechen waren?
Wenn »Apfel« genannt wird
1
20
Wenn »Becher« genannt wird
1
21
Wenn »Seil« genannt wird
1
22
Was ist das? (Stift wird vorgezeigt)
Wenn »Stift« gesagt wird
1
23
Was ist das? (Uhr wird vorgezeigt)
Wenn »Uhr« gesagt wird
1
24
Sprechen Sie nach: »Bitte keine warum und weshalb«
Wenn »Bitte keine warum und weshalb« gesagt wird
1
25
Ausführen von Befehlen
Nehmen Sie ein Blatt Papier!
1
26
Falten Sie es in der Mitte!
1
27
Legen Sie es auf den Stuhl!
1
»Öffnen Sie den Mund!«
1
Vorgabe einer Figur
1
28
Lesen und anschließendes Ausführen eines auf Papier gut lesbaren Befehls
29
Schreiben Sie auf dieses leere Blatt irgendeinen Satz
30
Zeichnen Sie diese Figur ab
Gesamtpunktzahl
Neuropsychological Assessment Battery (NAB). Die NAB
(Stern u. White 2003) ist eine neue, umfassende, integrative und modular aufgebaute Batterie von 33 neuen neuropsychologischen Tests, die Störungen einer Vielzahl neuropsychologischer Fertigkeiten und Funktionen bei Erwachsenen zwischen 18 und 97 Jahren erfasst. Die Batterie setzt sich aus den Modulen Aufmerksamkeit, Sprache, Gedächtnis, räumlich-visuelle Fähigkeiten und exekutive Funktionen zusammen und bietet zusätzlich eine Screening-Version mit 14 Subtests aus den genannten Bereichen. Es ist eine adaptive Vorgehensweise möglich, bei
1
max. 30
der man zunächst die Screening-Version vorgibt und danach nur die Bereiche intensiv untersucht, bei denen sich Defizite ergeben haben. Cambridge Neuropsychological Test Automated Battery (CANTAB). Die CANTAB (Robbins et al. 1994) ist eine PC-
gestützte Testbatterie, die in 12 Untertests weitestgehend sprachfrei Lernfähigkeit und Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Verarbeitungsgeschwindigkeit, räumlich-visuelle Analyse, Arbeitsgedächtnis, Problemlösen und planerische Fähigkeiten prüft. Neben der ausführlichen Ge-
506
Kapitel 22 · Klinisch-psychologische und neuropsychologische Testdiagnostik
dächtnisprüfung liegt ein Schwergewicht auf der Erfassung exekutiver Funktionen. Bisher wurde sie vorwiegend im Rahmen klinischer Prüfungen eingesetzt.
22
Ausblick Die psychologische Testdiagnostik blickt auf eine 100jährige Tradition zurück. Phasen der Euphorie über neue Methoden und neue Tests wurden abgelöst von Phasen der Skepsis, wobei letztere mehr durch inhaltliche Vorbehalte gegen den Zweck der Testung als durch Einwände gegen die Testmethodik per se gekennzeichnet waren. Beispiele dafür sind gesellschaftskritische Einwände gegen Auswahlverfahren insgesamt (Pulver et al. 1978), speziell gegen die Fairness der Tests bei Minoritäten (Equal Employment Opportunity Commission 1974), oder auch der absichtliche Verzicht auf normorientierte Diagnostik (zugunsten einer individuumszentrierten Verhaltensanalyse) in der Frühzeit der Verhaltenstherapie. Die verbesserte Kooperation von Psychiatrie, Neurowissenschaften und Neuropsychologie hat in den letzten 20 Jahren unsere Kenntnisse über die neuronalen Grundlagen menschlichen Erlebens und Verhaltens erheblich verbreitert, sowohl im Bereich kognitiver Prozesse (»Cognitive Neurosciene«) als auch für das Erleben und den Ausdruck von Affekten (»Affective Neuroscience«). Die Integration von Bildgebung, Neuropathologie und Neuropsychologie könnte das diagnostische Vorgehen in Psychiatrie und Psychosomatik in den nächsten Jahrzehnten verändern, weil der systematische Erkenntnisgewinn einer objektiven integrativen Diagnostik zu neuen Diagnosekonventionen führen sollte, die mehr als bisher auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen.
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23 23 Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring B. Bondy, M. J. Schwarz
23.1 Klinische Routineuntersuchung – 512 23.1.1 Laborkontrollen im Rahmen der medikamentösen Therapie – 512 23.1.2 Lues-Screening – 513 23.1.3 Schilddrüsenuntersuchung – 513 23.2 23.2.1 23.2.2 23.2.3
Liquordiagnostik – 514 Liquorpunktion und erste Untersuchungen – 515 Quantitative Bestimmungen – 515 Isoelektrische Fokussierung zum Nachweis oligoklonaler Banden (IEF) – 516 23.2.4 Zellpopulationen im Liquor – 516 23.3 Biochemische Marker des Alkoholismus – 517 23.3.1 Klinisch-chemische Parameter bei Alkoholismus – 517 23.3.2 Carbohydrate Deficient Transferrin (CDT) – 519 23.3.3 Ethylglucuronid – 520
23.4 Alzheimer-Demenz (AD) – 520 23.4.1 Apolipoprotein E (ApoE) – 520 23.4.2 β-Amyloid(1-42), τ-Protein und phospho-τ Protein im Liquor cerebrospinalis – 521 23.5 Therapeutisches Drugmonitoring (TDM) – 522 23.5.1 Indikationen für TDM psychotroper Medikamente – 522 23.5.2 TDM der Antidepressiva – 524 23.5.3 TDM der Antipsychotika – 524 23.5.4 Phasenprophylaktika und Antiepileptika – 525 23.5.5 Andere psychotrope Medikamente – 526 23.5.6 Methodische Aspekte – 526 23.5.7 Empfohlene therapeutische Bereiche – 526 Literatur
– 527
> > Die Psychiatrie ist mehr als andere Bereiche der Medizin abhängig von der klinischen Untersuchung der Symptome; sie kann sich bisher nicht darauf verlassen, anhand von Laborbefunden eine Diagnose definitiv bestätigen oder auszuschließen zu können. Dennoch führte die zunehmende Etablierung psychopharmakologischer Behandlungsstrategien und auch die wachsende Erkenntnis, dass zahlreiche organische Störungen psychische Symptome induzieren können dazu, dass heute die psychiatrische Diagnostik verschiedene Laborparameter mit einbezieht. Ein weites Spektrum an Möglichkeiten steht dabei zur Verfügung. Neben den in der Allgemeinmedizin üblichen klinisch chemischen, serologischen oder hämatologischen Methoden werden zunehmend auch biochemische, molekularbiologische oder immunologische Untersuchungsstrategien herangezogen. Außer der Aufklärung zugrundeliegender organischer Störungen wird von diesen Befunden zunehmend erwartet, dass sich mit ihrer Hilfe Diagnosen sichern lassen und somit Marker für psychopathologische Einheiten zur Verfügung stehen, die das nosologische Verständnis unterstützen oder erweitern. Die laborchemische Diagnostik dient auch dazu, die Behandlung zu überwachen und mögliche toxische Wirkungen der Medikamente frühzeitig zu erfassen. Die Bestimmung der Plasmakonzentrationen von Psychopharmaka, die Überprüfung der Leber- und Nierenfunktion, die Kontrolle des hämatopoetischen Systems oder die Überwachung der Schilddrüsenfunktion gehören heute zu den Routineuntersuchungen im Rahmen einer effektiven Behandlung mit Psychopharmaka.
512
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
23.1
23
Klinische Routineuntersuchung
Obwohl es bisher keine einheitlichen Richtlinien gibt welche Parameter bei psychiatrischen Patienten zu untersuchen sind, richtet man sich nach dem allgemeinen klinischen Standard. Vor allem zu Beginn einer stationären Behandlung werden die folgenden Parameter routinemäßig überprüft: Blutbild, klinisch chemische Untersuchung des Serums mit Blutzucker, orientierenden Werten der Leber- und Nierenfunktion und Bestimmung der Elektrolyte sowie Urinuntersuchung (Normwerte in ⊡ Tab. 23.1). ! Vielfach hat sich auch die routinemäßige Untersuchung der Schilddrüsenparameter durchgesetzt, da bei Störungen in diesem Bereich gelegentlich depressive Verstimmungen im Vordergrund der klinischen Symptomatik stehen oder eine bereits bestehende psychotische Symptomatik noch erheblich verschlechtert werden kann. Die Entscheidung für weiterführende Untersuchungen, wie die Suche nach antinukleären Antikörpern oder die Urinuntersuchung auf Porphyrine oder Schwermetalle wird nicht zuletzt von der Kosten-Nutzen-Analyse beeinflusst. Allerdings muss in Erwägung gezogen werden, dass Infektions- und Bindegewebserkrankungen oder Kupferstoffwechselstörungen (Morbus Wilson) zumindest vorübergehend als psychiatrische Störung imponieren können. Aber auch bei anderen neurologischen oder somatischen Erkrankungen (multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Alzheimer-Demenz, HIV-Infektionen) treten psychiatrische Symptome auf.
Lumbalpunktion In vielen Institutionen hat sich die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis als Routinemaßnahme bei der Erstmanifestation von Psychosen durchgesetzt. Obwohl die Lumbalpunktion nur bei geeigneten technischen Voraussetzungen von Klinik und Labor (unter strenger Beachtung der Kontraindikationen) durchgeführt werden sollte, lassen sich mit ihrer Hilfe doch zumindest mögliche organische Ursachen oder Begleiterkrankungen, wie blande verlaufende entzündliche Prozesse oder maligne Tumoren ausschließen ( Abschn. 23.2).
23.1.1
Laborkontrollen im Rahmen der medikamentösen Therapie
Obwohl Psychopharmaka im Allgemeinen eine relativ große therapeutische Breite haben, gibt es doch bei zahlreichen Patienten eine Reihe von unerwünschten Wir-
kungen. Da diese auch bei bereits bekannten und bewährten Substanzen auftreten, sind regelmäßige Laborkontrollen in allen Fällen erforderlich. Betroffen sind in erster Linie die Hauptausscheidungsorgane Leber und Nieren, sowie das blutbildende System. Obwohl die Mehrzahl dieser unerwünschten Wirkungen nicht lebensbedrohend ist, stellen gelegentlich fulminant verlaufende Blutbildveränderungen ein erhebliches Risiko dar.
Blutbild Veränderungen des weißen Blutbildes gehören zu den häufigsten Nebenwirkungen im Rahmen einer Therapie mit Psychopharmaka. Meist treten nur passagere, geringgradige Leukozytosen, Leukopenien oder Eosinophilien auf, v. a. bei der Behandlung mit niederpotenten Neuroleptika oder Clozapin (Klimke u. Klieser 1995). ! Obwohl es sich meist um Befunde ohne wesentliche klinische Relevanz handelt, sollte bei jeder Leukopenie (Anzahl der Leukozyten <3000/ml) das Differenzialblutbild zur weiteren Aufklärung untersucht werden. Sinkt die Zahl der polymorphkernigen neutrophilen Granulozyten (PMN) unter 1500 Zellen/μl, spricht man von einer Neutropenie. ! Eine isolierte Neutropenie (ohne Beteiligung anderer zellulärer Blutbestandteile) spricht für ein arzneimittelinduziertes Geschehen. Die Diagnose kann allerdings nur dann bestätigt werden, wenn andere, arzneimittelunabhängige Ursachen ausgeschlossen werden können (virale Infektionen, bakterielle Infektionen; Systemerkrankungen; Bluterkrankungen; toxische Substanzen). Eine arzneimittelinduzierte Neutropenie ist nach Absetzen des involvierten Arzneimittels immer voll reversibel, und zwar meist innerhalb von 6 Wochen; nur gelegentlich werden eher protrahierte Verläufe beobachtet. Die Neutropenie tritt nicht wieder auf, solange das Medikament nicht erneut gegeben wird.
Clozapin und Agranulozytose Vor allem bei der Behandlung mit Clozapin besteht ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Agranulozytose. Sie ist gekennzeichnet durch ein rasches Absinken der Zahl der neutrophilen Granulozyten unter 500/ml kombiniert mit klinischen Parametern wie Fieber, schwere Asthenie und bukkopharyngealen und/oder perianalen Ulzerationen. Obwohl die Inzidenz der Agranulozytose unter Clozapin-Behandlung bei 1% und bei anderen Neuroleptika um ein Vielfaches darunter liegt, sollte v. a. während der ersten 8–12 Behandlungswochen immer an diese schwerwiegende Nebenwirkung gedacht werden (Alvir u. Lieberman 1994).
513 23.1 · Klinische Routineuntersuchung
Seit der Einführung von Clozapin Mitte der 1970er Jahre wurde weltweit über etwa 700 Fälle von Agranulozytose berichtet, dabei war das mittlere Alter der Patienten 40 Jahre, die mittlere Tagesdosis lag bei 350 mg Clozapin und die mittlere Behandlungsdauer bei etwa 60 Tagen. Ob bei älteren Patientinnen ein erhöhtes Risiko besteht, lässt sich noch nicht mit ausreichender Sicherheit sagen. Zur Erholung, d. h. zum Anstieg der Granulozytenzahl, kommt es in der Regel innerhalb von 4–21 Tagen nach Absetzen der Clozapin-Behandlung (Umbricht u. Kane 1996).
Veränderungen der Leberwerte Wird eine Leberschädigung vermutet, sollten sofort folgende Blutwerte überprüft werden: Serum-Glutamat-Pyruvat-Transaminase (SGPT bzw. Alaninaminotransferase/ALAT), Serum-Glutamat-Oxalacetat-Transaminase (SGOT bzw. Aspartataminotransferase/ASAT), alkalische Phosphatase, gesamtes und konjugiertes Bilirubin. Grundsätzlich sollte jede Transaminasenerhöhung oberhalb der Normwerte beachtet und dann darüber entschieden werden, ob diese hepatischen Ursprungs ist oder nicht. In diesem Fall sind beide Werte erhöht. Wenn nur der ASAT-Wert betroffen ist, kann es sich auch um eine Muskelschädigung handeln. Es sollte dann unbedingt die Kreatinphosphokinase (CPK) kontrolliert werden. ! Das Auftreten eines Ikterus oder einer Transaminasenerhöhung über mehr als das 2fache des Normalwerts sind Anlass zum sofortigen Absetzen der Therapie, zur weiteren Überwachung mindestens einmal pro Woche und zur Identifikation möglicher anderer Ursachen, z. B. eines hepatozellulären Schadens nach viralen Infektionen (Shen 1997; Taylor u. Lader 1996). Insgesamt ist davon auszugehen, dass akute Leberschädigungen in etwa 10 aller auftretenden Fälle durch Arzneimittel hervorgerufen sind, ein Prozentsatz, der mit dem Alter der Patienten erheblich zunimmt (Naranjo et al. 1995). Zusätzlich können sowohl eine individuelle Empfindlichkeit als auch die zu behandelnde Erkrankung für abnorme Leberwerte verantwortlich sein.
23.1.2
Lues-Screening
licher verschoben hat (Hoffman et al. 1995). Es gibt jedoch zahlreiche Hinweise darauf, dass Luesinfektionen in den letzten Jahren wieder erheblich zugenommen haben (Nieman 1997) und diese Untersuchung durchaus gerechtfertigt ist.
Treponema-Pallidum-Hämagglutinationstest (TPHA) Als erster, orientierender Anhaltspunkt wird meist der TPHA-Test vorgenommen; im Falle eines reaktiven Befundes sollten andere Bestätigungstests angeschlossen werden. Der TPHA-Test ist nicht nur bei einer floriden, therapiebedürftigen Erkrankung reaktiv, sondern persistiert in der Regel bei einer Erkrankungsdauer von länger als 2 Jahren auch nach ausreichender Therapie. Die Fehlerzahl ist gering, der Test weist hohe Spezifität und Sensitivität auf. Als Bestätigungstest wird häufig der FTA-Abs-Test eingesetzt. Um Hinweise auf die Aktivität und Therapiebedürftigkeit zu erhalten, wird allgemein empfohlen, den VDRL-Test einzusetzen, der für Treponemata nicht spezifisch ist. Ein negativer VDRL-Test oder ein nach Behandlung um mehrere Titerstufen gesunkener VDRLTiter gelten als Hinweis auf eine nicht mehr vorliegende Therapiebedürftigkeit (Banger et al. 1995).
23.1.3
Schilddrüsenuntersuchung
Seit mehr als 100 Jahren wird ein Zusammenhang zwischen Schilddrüsenhormon und depressiven Erkrankungen vermutet, obwohl depressive Patienten im Allgemeinen euthyreot sind. Dennoch wurde eine leichte Erhöhung der Serum-FT4-Konzentration bei depressiven Patienten ebenso beobachtet wie gering erniedrigte FT3Werte. Heute besteht kein Zweifel mehr darüber, dass Funktionsstörungen der Schilddrüse (sowohl Hypo- als auch Hyperfunktion) nahezu jedes psychiatrische Syndrom oder Symptom hervorrufen können. Das Muster dieser Symptome ist allerdings nicht diagnosespezifisch, neben depressiven können durchaus auch Bilder bestehen, die an schizophrene Psychosen erinnern (Übersicht bei Baumgartner et al. 1993). Zusätzlich können bei allen Patienten, bei denen eine Phasenprophylaxe mit Lithiumionen durchgeführt wird, ein Hypo- und seltener auch ein Hyperthyreoidismus auftreten.
Screeninguntersuchung Häufig wird auch heute noch in vielen Kliniken ein LuesScreening durchgeführt, obwohl darauf hingewiesen wurde, dass diese generelle gesundheitspolitische Maßnahme noch aus einer Zeit stammt, in der die progressive Paralyse eine der häufigsten zerebral-organischen Erkrankungen war und sich die Prävalenz seitdem immer deut-
Zur orientierenden Überprüfung der Schilddrüsenfunktion sind die Bestimmung der freien Hormonkonzentrationen (FT4 und FT3) sowie des basalen thyroideastimulierenden Hormons (TSH) durchaus ausreichend. Die Bestimmung der freien, nichtgebundenen Hormone hat den Vorteil, dass sie von Veränderungen der
23
514
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
Bindeproteinkonzentrationen und Bindeeigenschaften unabhängig ist. Damit kann auf die früher übliche Bestimmung des Thyreoglobulins (TBG) als Maß für die Proteinbindung verzichtet werden. Cave
23
Darüber hinaus zeigte sich, dass die Konzentration des TBG durch zahlreiche Faktoren wie orale Kontrazeptiva oder Lebererkrankungen vermehrt oder vermindert wird (Fisher 1996).
Zur Bestimmung der freien Konzentrationen von T3 und T4 wurden spezifische Immunoassays entwickelt, die es erlauben, diese außerordentlich geringen Konzentrationen von freiem Hormon (über 90 sind an Proteine gebunden) verlässlich zu messen. Die Referenzbereiche wurden an einem großen Kolletiv von Gesunden und Kranken festgelegt (⊡ Tab. 23.1).
⊡ Tab. 23.1. Normbereich von Routinelaborwerten Hämatologie Leukozyten Neutrophile Granulozyten Lymphozyten Monozyten Eosinophile Granulozyten Basophile Granulozyten Erythrozyten Hämoglobin Hämatokrit Mittleres Zellvolumen (MCV) Thrombozyten
Basales TSH. Das basale, nicht stimulierte TSH gibt Auf-
schluss über eine hyper- oder hypothyreote Stoffwechsellage. Zur Klärung der Frage, ob eine klinisch noch nicht manifeste Störung des Regelkreises bei latenter Hypooder Hyperthyreose vorliegt, kann ein TRH-Test (Thyreotropin Releasinghormon) durchgeführt werden. Vor allem im Übergangsbereich zwischen 0,1 und 0,3 mU/l bzw. 3,5 und 10 mU/l (⊡ Tab. 23.1) erscheint die Durchführung einer TRH-Stimulation zum Nachweis einer latenten Funktionsstörung angebracht. Dabei wird 30 min nach der intravenösen Gabe von 200 μg TRH Blut zur Bestimmung des TSH-Wertes entnommen (Keffer 1996).
23.2
109/l % % % % % 1012/l g/dl vol% fL 109/l
4,3–10 42–75 25–45 2–13 0–5 0–2 4,2–5,4 12–16 35–47 82–103 140–440
mU/ml mU/ml mU/ml mg/dl g/dl mg/dl mg/dl mg/dl mg/dl mg/dl mg/dl mg/dl μg/dl μg/dl
0–15 0–17 4–18 0–1,3 6,6–8,7 0,5–1,1 10–50 2,4–5,7 0–240 0–200 45–… 0–155 0–3,4 40–145 –
Elektrolyte Chlorid Natrium Kalium Kalzium
mmol/l mmol/l mmol/l mmol/l
96–110 135–148 3,5–5,1 2,1–2,6
Schilddrüse TSH FT4 FT3
μU/ml ng/dl pg/ml
0,27–4,2 0,9–1,9 2,6–5,1
Klinische Chemie SGOT = AST SGPT = ALT γ-GT Bilirubin gesamt Gesamteiweiß Kreatinin Harnstoff Harnsäure Cholesterin Triglyzeride HDL-Cholesterin LDL-Cholesterin LDL/HDL-Quotient Eisen Ferritin
Die Sekretion des TSH reagiert empfindlich auf den Mangel oder den Überschuss der Schilddrüsenhormone Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3) und ist damit ein verlässlicher Parameter der tatsächlichen Wirkungen dieser Hormone im Organismus. Die Konzentrationsmessung von FT4 und FT3 spiegelt demgegenüber im Sinne einer Momentaufnahme nur die Sekretionsleistung der Schilddrüse wider.
Liquordiagnostik
Der Liquor cerebrospinalis wird überwiegend von den Plexus chorioidei, in geringerem Umfang auch von der Arachnoidea gebildet. Die Gesamtmenge beträgt beim Erwachsenen 150–250 ml, die tägliche Produktion liegt bei etwa 500 ml. Bei ungestörten Zirkulationsvorgängen gelangt der Liquor durch die Arachnoidalzotten und die Venenwände wieder in den Blutkreislauf. Zahlreiche morphologische Strukturen tragen dazu bei, dass nicht alle im Blut vorhandenen Proteine und Substanzen die Blut-Hirn-Schranke oder Blut-LiquorSchranke passieren können (Dermietzel u. Krause 1991). Durch die »tight junctions« an Blutkapillaren und Ependymzellen ist die Passage von Molekülen und auch Zellen aus dem Blut in das Hirnparenchym zwar deutlich vermindert, aber nicht völlig ausgeschlossen. Diese Barriere kann auch dadurch überwunden werden, dass die Moleküle über fenestrierte Bereiche der Kapillaren in das ventrikelnahe Parenchym und weiter in den Subarachnoidalraum gelangen, wo der Liquorraum nicht durch Tight junctions abgegrenzt ist. Da es sich bei dieser Schranke nicht um ein starres Gebilde handelt und die unterschiedlichen Molekülklassen unterschiedliche Passagebedingungen haben, spricht man oft von einer Schrankenfunktion (Reiber 1994). Die Proteinkonzentration des Liquors ist erheblich geringer als die des Serums. Neben der Blut-LiquorSchranke sind weitere bestimmende Faktoren das Patientenalter, das Entnahmevolumen, der Entnahmeort und die lokale Synthese im ZNS. Bei akuten Entzündungen passieren Leukozyten und Serumproteine vermehrt die
515 23.2 · Liquordiagnostik
Blut-Liquor-Schranke, sie entfalten ihre immunregulativen Aktivitäten und Effektorfunktionen im subarachnoidalen Raum (Felgenhauer 1992; Bradbury u. Deane 1993).
23.2.1
Liquorpunktion und erste Untersuchungen
Für die üblichen, routinemäßig durchgeführten Untersuchungen benötigt man 8 ml Liquor, die in 2 Einzelportionen aufgefangen werden. Besteht der Verdacht auf eine bakterielle oder virale Infektion, werden gesondert Proben abgenommen und in speziellen Laboratorien untersucht. Aus der ersten Probe (etwa 3 ml) werden die Liquorzellen gezählt und bei ausreichend hoher Zellzahl (>4 Zellen/μl) die weitere mikroskopische Diagnostik durchgeführt (Carson u. Serpell 1996). ! Um eine einwandfreie Beurteilung der Zellen zu gewährleisten, ist es unbedingt erforderlich, dass möglichst innerhalb von 2 h die Zellzahl ermittelt und ggf. das Präparat für die Zelldifferenzierung hergestellt wird. Auch eine kurzfristige Aufbewahrung unter Kühlung kann die Beurteilung der Zellen erheblich beeinträchtigen.
Untersuchung nach PANDY Häufig wird parallel zur Zellbestimmung die einfache Untersuchung nach PANDY durchgeführt, um orientierend Aufschlüsse über einen möglicherweise erhöhten Eiweißgehalt des Liquors festzustellen. Dazu werden einige Tropfen Liquor mit einer 1%igen Karbollösung vermengt. Die Mischung zeigt sich entweder farblos bis opal (normaler Eiweißgehalt) oder mehr oder weniger trüb, was im Befund mit einem oder mehreren Pluszeichen angegeben wird. Der normale Liquor ist klar, farblos, nahezu frei von Zellen (<4/μl) und hat eine deutlich geringere Proteinkonzentration als das Serum (etwa 1%). Da der fließende Liquor ständigen molekularen Austauschprozessen ausgesetzt ist, gelangen abhängig von der Molekülgröße alle Plasmaproteine in unterschiedlichen Zeiträumen in den Liquor, was z. B. für Albumin 1–2 Tage in Anspruch nimmt. Im Gegensatz dazu tritt Glukose sehr rasch in den Liquor über.
23.2.2
Quantitative Bestimmungen
Die quantitative Eiweißbestimmung, die Untersuchung auf Albumin und Immunglobuline sowie des Liquorzuckers werden aus dem zweiten Röhrchen durchgeführt. Diese Proben können auch über einen Zeitraum von 1–2
Wochen bei 4°C, oder längerfristig bei –70°C gelagert werden. ! Parallel zur Punktion muss Blut (etwa 5 ml) zur Bestimmung der Serumproteine und der Glukose entnommen werden. Unter normalen Bedingungen hängt die Konzentration des Liquorzuckers von der Höhe der jeweiligen Serumkonzentration ab und beträgt etwa 60% des Serumwertes. Daher ist ein direkter Vergleich immer erforderlich.
Routinediagnostik Routinemäßig werden die Konzentrationen des Gesamtproteins, des Albumins sowie des Immunglobulin G (IgG) bestimmt. Bei Verdacht auf einen entzündlichen Prozess und intrathekale Immunglobulinsynthese werden noch weitere Immunglobulinklassen (IgA, IgM) untersucht, die normalerweise im Liquor aufgrund ihrer geringen Konzentration nur mit sehr empfindlichen Methoden nachweisbar sind (Kaiser et al. 1995).
Untersuchung der Blut-Liquor-Schrankenfunktion Eine Unterscheidung der lokal gebildeten Immunglobuline von der aus dem Serum stammenden Fraktion ist möglich, wenn man den jeweiligen Zustand der Blut-Liquor-Schranke untersucht. Dabei kann der Konzentrationsabfall einiger Proteine zwischen Serum und Liquor als Schrankenparameter verwendet werden. Besonders bewährt für diese Fragestellung haben sich das Serumprotein Albumin und die Immunglobuline, wie z. B. IgG. Da unter pathologischen Bedingungen das Liquoralbumin ausschließlich aus dem Blut stammt, gibt der Liquor/Serum-Albumin-Quotient das Maß für die jeweilige Schrankenfunktion. Findet man jedoch höhere IgG-Konzentrationen im Liquor als es der Schranke entspricht, dann kann eine lokale intrathekale IgG-Bildung als Zeichen einer humoralen Immunantwort angenommen werden (Reiber u. Felgenhauer 1987). Die Differenzierung lässt sich anschaulich darstellen, wenn man einen Permeabilitätsparameter, z. B. den Serum-Liquor-Quotienten von Albumin gegen den SerumLiquor-Quotienten von z. B. IgG aufträgt (⊡ Abb. 23.1). Dieses Diagramm beantwortet im Wesentlichen 2 Fragen (Reiber u. Felgenhauer 1987; Reiber 1995): Liegt eine Blut-Liquor-Schrankenfunktionsstörung vor? Liegt eine lokale IgG-Synthese im ZNS vor? Da in diesem Schema auch die Altersabhängigkeit der Schrankenfunktion grafisch berücksichtigt wird (15, 40 und 60 Jahre), ist es auch bei Kindern zur Darstellung einer lokalen IgG-Synthese gültig.
23
516
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
Fokussierung lässt sich auch bei quantitativ nicht erhöhten IgG-Konzentrationen des Liquors, oder bei unauffälligen Quotienten, noch eine humorale IgG-Produktion nachweisen. So zeigten mit Hilfe dieser Methode über 90% der Patienten mit multipler Sklerose oligoklonales IgG, obwohl nur 70% von ihnen einen erhöhten IgG-Quotienten hatten (Williams et al. 1994).
23
Theoretische Grundlagen
⊡ Abb. 23.1. Liquor/Serumquotientendiagramm für IgG (1 Referenzbereich, hier ist die Altersabhängigkeit berücksichtigt für 15, 40 und 60 Jahre; 2 reine Schrankenfunktionsstörung, ohne lokale IgG-Synthese; 3 Schrankenfunktionsstörung mit zusätzlicher IgG-Synthese im ZNS; 4 reine IgG-Synthese im ZNS ohne Schrankenfunktionsstörung; 5 in diesem Bereich befinden sich keine Werte, evtl. Fehler in der Analytik oder bei der Blutentnahme). (Nach Reiber 1995)
Delpech-Lichtblau-Quotient. Ähnlich lässt sich die lokale Synthese durch den sog. Delpech-Lichtblau-Quotienten aufdecken: (Liquor-Albumin × Liquor-IgG) ÷ (LiquorAlbumin × Serum-IgG). Ein Quotient über 0,7 spricht für eine IgG-Synthese innerhalb des ZNS.
Messmethoden Nephelometrie. Die quantitative Liquoranalytik erfordert
besonders empfindliche Methoden, da die Proteinkonzentrationen im Vergleich zum Serum um ein vielfaches geringer sind. Geeignet hierfür ist u. a. die Nephelometrie, eine besonders sensitive immunchemische Proteinbestimmung. Das Prinzip basiert auf der Bildung von Antigen-Antikörper-Aggregaten, wobei die Streuung des Lichts an diesen Aggregaten photometrisch erfasst wird. Da mit dieser Methode auch die zuverlässige Messung von sehr geringen Streulichtintensitäten möglich ist, hat sie sich für routinemäßig durchgeführte Untersuchungen bewährt (McMillan et al. 1996).
23.2.3
Isoelektrische Fokussierung zum Nachweis oligoklonaler Banden (IEF)
Der Nachweis oligoklonaler IgG-Fraktionen ist eine wichtige qualitative Ergänzung der quantitativen Untersuchung. Oligoklonale IgG-Fraktionen treten unspezifisch bei akut und chronisch entzündlichen Prozessen des ZNS auf und sind ein empfindlicher Parameter für eine intrathekale IgG-Produktion. Mit Hilfe der isoelektrischen
Bei der IEF handelt es sich um eine elektrophoretische Trennung von Proteinen. Als Trennprinzip dient deren isolelektrischer Punkt. In geeigneten Gelen (z. B. Polyacrylamid-Gelen) bildet sich durch Gemische von Polyelektrolyten ein pH-Gradient, in welchem ein Protein so weit wandert, bis es den pH-Wert seines isoelektrischen Punktes erreicht hat. Dort wird es in einer sehr schmalen Zone konzentriert und somit nach entsprechender Färbung (mit Comassieblau oder Silberfärbung) als »Bande« sichtbar gemacht. Diese Methode weist eine sehr hohe Trennschärfe auf, so dass aus dem Bandenmuster auf die Anzahl der vorhandenen Proteine geschlossen werden kann. Die isolelektrische Fokussierung ermöglicht so z. B. den Nachweis von oligoklonalem IgG im Liquor (im Bereich zwischen pH 5,5–9,5), d. h. die Auftrennung der von verschiedenen Plasmazellklonen gebildeten IgG-Moleküle (Kaiser et al. 1995). ! Zur Interpretation des Befundes ist es unbedingt erforderlich, gleichzeitig auch die Proteine des Serums zu untersuchen, denn nur oligoklonale Banden, die ausschließlich im Liquor vorkommen, sind ein Hinweis auf eine lokale Immunantwort. Treten in der fraglichen Region mehrere starke Banden parallel in Serum und Liquor auf, ist an eine Paraproteinämie zu denken.
23.2.4
Zellpopulationen im Liquor
Die Zellzählung wird in der üblichen Leukozytenpipette durchgeführt. Dazu wird Liquor mit 1%iger Essigsäure, die mit dem alkoholischen Farbstoff Gentianaviolett versetzt ist, im Verhältnis 10:1 verdünnt und die Zellen in der Fuchs-Rosenthal-Kammer gezählt. Nach dem Sedimentieren werden die Zellen in allen 16 großen Quadraten der Kammer ausgezählt. Da das Ergebnis der Zählung den Zellgehalt in 3 ml angibt, hat es sich vielfach eingebürgert, die Zahl nicht weiter umzurechnen sondern in Dritteln, nämlich als Bruch mit dem Nenner 3 anzugeben. ! Der Streubereich für den normalen, nichtpathologischen Liquor umfasst die Grenzen von 0/3 bis 10/3 Zellen; nach Umrechnung 0–4 Zellen pro μl. Bei der zytologischen Liquorpräparation muss berücksichtigt werden, dass nur begrenztes Material zur Verfügung steht und der Zellgehalt im Allgemeinen sehr gering
517 23.3 · Biochemische Marker des Alkoholismus
ist. Darüber hinaus sind die Liquorzellen durch die geringe Konzentration von darin enthaltenen Nährstoffen äußerst fragil und nicht lange lebensfähig. Cave Daher treten bei unsachgemäßer und langer Lagerung, wie z. B. bei Kühlung, rasche Zelldegenerationen auf; die Zellen sind dann nicht mehr differenzierbar und nur noch als »Kernschatten« zu erkennen. Vor allem bei normaler Zellzahl ist so eine Differenzierung der Zellen nicht möglich.
Bei einer Zellkonzentration von >10/3 oder >4/μl werden die Zellen mit Hilfe einer Zytozentrifuge auf einen Objektträger schonend sedimentiert und nach PappenheimFärbung weiter differenziert (Walts u. Strigle 1995).
Zellen des normalen Liquors Im lumbal entnommenen und nicht durch eine Erkrankung des zentralen oder peripheren Nervensystems veränderten Liquor kommen regelmäßig Lymphozyten und Monozyten (70% gegen 30%) vor. Es handelt sich um inaktive Zellen, die weitgehend bei einer konstanten Konzentration gehalten werden. Neben diesen Zellen finden sich gelegentlich Granulozyten, häufig auch (punktionsbedingt) Erythrozyten. Nur die ersten 3 ml des entnommenen Liquors weisen diesen zytologischen Befund auf, in späteren Portionen macht sich eine quantitative und qualitative Zellveränderung bemerkbar, Zeichen der Degeneration und Aktivierung können auftreten. Gelegentlich lassen sich auch Ependymzellen oder Zellen des Plexus chorioideus finden, ohne dass diesen eine pathognomische Bedeutung zukäme. Zu den Zufallsbefunden zählen ebenfalls Knorpelzellen, die anhand ihres charakteristischen Aussehens leicht zu erkennen sind. Gelegentlich finden sich retikuläre Zellen, unspezifisch polymorph gestaltete Zellen, die als Vorstufen der Makrophagen angesehen werden. Bei ausgereift phagozytierenden retikulären Zellen zeigt sich das Protoplasma aufgelockert, granuliert und netzartig strukturiert. Gerade bei normaler Zellzahl ist es fast immer schwierig, anhand einzelner zytomorphologischer Veränderungen darüber zu befinden, ob es sich um einen normalen oder pathologischen Zellbefund handelt.
Pathologisches Zellbild Von Interesse für die Psychiatrie sind v. a. akute Infektionen, die ein rasches Handeln mit geeigneten Maßnahmen erfordern. Oft ist das Differenzialzellbild des Liquors der einzige Parameter, der eine rasche Charakterisierung erlaubt. Zu Beginn einer bakteriellen Infektion überwiegt die neutrophile Zellreaktion mit deutlichen Pleozytosen von bis zu 15.000 Granulozyten/μl. Bei effizienter antibakteri-
eller Behandlung kann sich die Zellzahl in wenigen Tagen halbieren. Auch bei Virusinfektionen kann initial eine neutrophile Phase auftreten; meist findet sich aber zum Zeitpunkt der ersten Punktion ein rein lymphozytäres Bild, mit einer im Vergleich zur bakteriellen Infektion wesentlich geringeren Pleozytose. In späteren Stadien der Erkrankungen und v. a. unter Behandlung kommt es zu einem Shift der Zellpopulationen. Gelegentlich lassen sich bereits bei der routinemäßigen Färbung im Liquorsediment auch Bakterien oder Pilze erkennen, die jedoch weiter differenziert werden müssen. Auch Tumorzellen können im Liquor auftreten und verlangen oft nach einer weiteren Differenzierung mit geeigneten Färbungen.
23.3
Biochemische Marker des Alkoholismus
Hinsichtlich seiner sozialen, ökonomischen und medizinischen Konsequenzen zählt der Alkoholismus zu den schwerwiegendsten Suchterkrankungen unserer Gesellschaft. Vor allem die durch den Alkoholabusus induzierten zahlreichen toxischen Organschäden stellen eine enorme volkswirtschaftliche Belastung dar. Da auf Befragen sowohl über die Menge als auch den chronischen Gebrauch des konsumierten Alkohols nur selten korrekte Angaben gemacht werden und da schwere und nachweisbare Funktionsstörungen meist erst nach längerem, oft jahrelangem Missbrauch auftreten, gilt das Bemühen der Forschung der Suche nach verlässlichen Indikatoren. Das Ziel hierbei ist v. a. die Früherkennung des Alkoholmissbrauchs, da sich damit die Erfolgsaussichten einer medizinischen und präventiven Behandlung erheblich verbessern lassen.
23.3.1
Klinisch-chemische Parameter bei Alkoholismus
Zahlreiche Veränderungen der Laborparameter wurden im Verlauf der Alkoholkrankheit beobachtet, darunter Störungen auf hämatologischer oder hepatischer Ebene, Veränderungen des Fettstoffwechsels und der Immunfaktoren (Sillanaukee 1996). Da die akuten, v. a. aber die chronischen Effekte des Alkohols fundamentale Wirkungen auf die zellulären Membranen und den intermediären Stoffwechsel zeigen, ergeben sich eine Reihe von labortechnisch erfassbaren Veränderungen, die sich prinzipiell als Marker für Alkoholismus eignen. Dazu gehören neben der Aktivität der γ-Glutamyltransferase (γ-GT), die schon seit langer Zeit als spezifischer Parameter diskutiert wird, auch die Aspartataminotransferase (AST) mit
23
518
23
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
Gesamtaktivität und mitochondrialem Isoenzym, das mittlere korpuskuläre Erythrozytenvolumen (MCV) und noch einige andere Parameter, deren alleinige Untersuchung allerdings nicht ausreicht, um chronischen Alkoholmissbrauch zu beweisen (Miller et al. 2006). Eine Zusammenfassung der wichtigsten Parameter findet sich in ⊡ Tab. 23.2.
γ-Glutamyltransferase (γ-GT) Als mitochondriales Enzym der Leber katalysiert die γGT die Übertragung von Glutamylresten auf Aminosäuren und spaltet Glutathion in Glutamat und Cysteinylglycin. Die Normbereiche werden mit <18 U/l bei Frauen und <28 U/l bei Männern angegeben. Die Erhöhung der γ-GTWerte über diese Grenzbereiche hinaus zählt zu den sensibelsten Indikatoren für eine Leber- oder Gallenwegserkrankung. Vor allem eine isolierte, mäßige Erhöhung der γ-GT lässt an eine alkoholbedingte Genese denken, was in zahlreichen Studien auch als geeignetes Screening für die Diagnose des Alkoholmissbrauchs vorgeschlagen wurde (Herbay u. Strohmeyer 1994). Cave Allerdings muss bei der Bewertung dieses Parameters differenzialdiagnostisch in Erwägung gezogen werden, dass zahlreiche andere Faktoren jenseits des Alkoholabusus zur Induktion des Enzyms und damit ebenfalls zur isolierten Erhöhung der γ-GT führen können (höchstens bis zum 4fachen der Norm). Sowohl im Rahmen von therapeutischen Maßnahmen, wie der Behandlung mit Antikonvulsiva, Barbituraten und Psychopharmaka aber auch durch Inhalation oder Hautkontakt mit giftigen Stoffen, wie Tetrachlorkohlenstoff, kann die γ-GT ansteigen. Auch cholestatische Lebererkrankungen, starke Adipositas und Hyperlipidämie Typ IV können zu isolierter γ-GT Erhöhung führen. Darüber hinaus bleibt in etwa 10–20% eine isolierte Erhöhung diagnostisch unklar. Damit wird die Sensitivität dieses Parameters als Marker für Alkoholismus reduziert und liegt zwischen 50 und 80% (Miller et al. 2006).
Nach akuter, einmaliger erheblicher Alkoholeinnahme kommt es gelegentlich zu einer Erhöhung der γ-GT, jedoch nicht zum Überschreiten der Normwerte. Erst ein Alkoholkonsum von etwa 80–200 g/Tag über einen Zeitraum von mehreren Wochen führt zu erhöhten Werten (Mihas u. Tavassoli 1992). Die Halbwertszeit der γ-GT liegt zwischen 2 und 3 Wochen; das ist auch der Zeitraum, innerhalb dessen sich der erhöhte Enzymwert bei Abstinenz normalisiert.
Aspartataminotransferase (ASAT), Alaninaminotransferase (ALAT) und Glutamatdehydrogenase (GLDH) Ein erheblicher Anstieg der γ-GT geht meist auch mit einer Erhöhung der anderen leberspezifischen Enzyme, wie der Serum-Aspartataminotransferase (ASAT = GOT) oder der Alaninaminotransferase (ALAT = GPT) sowie der mitochondrialen Glutamatdehydrogenase (GLDH) einher. Erhöhte Werte dieser Enzyme sind Ausdruck einer hepatozellulären Schädigung und lassen direkt keine Rückschlüsse auf einen Alkoholabusus zu. Lediglich ein erhöhter De-Ritis-Quotient (GOT/GPT >1–2) erlaubt gewisse Rückschlüsse auf den Alkoholkonsum. Insgesamt sind GOT und GPT zum Screening auf Alkoholismus kaum geeignet. Die Erhöhung der mitochondrialen GLDH weist auf Leberzellnekrosen hin, lässt sich aber nicht unbedingt mit Alkoholmissbrauch korrelieren, obwohl bereits nach kurzzeitiger Alkoholbelastung geringfügige Erhöhungen beobachtet wurden (Thomas 1993).
Mittleres Erythrozytenvolumen (MCV) Das mittlere korpuskuläre Erythrozytenvolumen (MCV) wird direkt elektronisch in Blutzellgeräten gemessen. Bei 40–80% der Alkoholiker ist eine Makrozytose (>96 μm3) zu beobachten, die auf eine alkoholtoxische Knochenmarksschädigung zurückgeführt wird (Anger u. Heimpel 1987). Die hierfür erforderliche Ethanolbelastung liegt in einem Bereich von 80 g Alkohol pro Tag über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Aber auch diese Veränderungen sind nicht spezifisch, sondern auch bei Vitamin-
⊡ Tab. 23.2. Laborparameter bei Alkoholikern. (Nach Gilg u. Soyka 1997)
γ-GT ASAT (GOT) ALAT (GPT) GLDH HDL-Cholesterin MCV CDT
Normalwerte
Sensitivität in %
Spezifität in %
Normalisierung nach Entzug
<28 U/l <18 U/l <22 U/l <4 U/l <50 mg/dl <93 μm3 <2,6% Transferrin
50–90 30–50 20–50 5–60 50–90 40–96 50–90
ca. 70 ca. 90 ca. 70 ? hoch ca. 60–90 90–100
2–5 Wochen 1–3 Wochen 1–4 Wochen ? 1–4 Wochen 1–3 Monate ca. 2 Wochen
γ-GT: Glutamyltransferase; ASAT: Aspartat-Aminotransferase; ALAT: Alanin-Aminotransferase; GLDH: Glutamatdehydrogenase; MCV: mittleres korpuskuläres Erythrozytenvolumen; CDT: CD-Transferrin
519 23.3 · Biochemische Marker des Alkoholismus
B-Mangel, einigen hämatologischen Störungen sowie bei Rauchern zu finden. Entsprechend der Lebensdauer der Erythrozyten normalisieren sich diese Werte bei Karenz innerhalb von 2–3 Monaten (Watsen 1989).
HDL-Cholesterin Bereits seit einigen Jahren werden Zusammenhänge zwischen HDL-Cholesterin, moderatem Alkoholkonsum und verringerter Sterblichkeit an koronaren Herzerkrankungen diskutiert. ! Eine Erhöhung des HDL-Cholesterins (HDL2 und HDL3) über 50 mg/dl erlangt zunehmend Bedeutung als Marker für Alkoholismus, kann aber auch nach Behandlung mit Phenobarbital, Tranquilizern oder nach starker körperlicher Belastung beobachtet werden. Als Ursache für das erhöhte HDL-Cholesterin bei Alkoholikern werden eine erhöhte Lipoproteinlipaseaktivität und ein Zusammenhang mit ethanolbedingter Enzyminduktion diskutiert. Bei Abstinenz fallen die Werte innerhalb von 1–4 Wochen wieder deutlich unter 50 mg/dl (Seitz et al. 1995).
23.3.2
Carbohydrate Deficient Transferrin (CDT)
Vor etwa 20 Jahren wurde erstmals festgestellt, dass im Liquor cerebrospinalis von Alkoholikern Veränderungen im Transferrinmolekül auftreten. Diese Veränderungen lassen sich damit erklären, dass sich bei chronischem Alkoholabusus die Anzahl der Sialsäureester verringert, die am Ende der Kohlehydratketten (Carbohydrat) gebunden sind. Da die negativ geladenen Sialsäuren den isoelektrischen Punkt des Transferrinmoleküls bestimmen, lassen sich mit der isoelektrischen Fokussierung die unter Alkoholismus reduzierte Zahl der Sialsäuren durch Verschiebung des isoelektrischen Punktes von normal pH 5,4 auf über 5,65 erkennen. Zusätzlich sind weitere neutrale Kohlehydrate, z. B. Galaktose und N-Acetylglukosamin vermindert. Deshalb wird das auf diese Weise veränderte Transferrin »carbohydrate deficient Transferrin« genannt. Als Ursache für die veränderte Synthese wird ein spezifischer reversibler Effekt von Ethanol oder seinen Metaboliten auf die Synthese von Transferrin in der Leber angenommen, entweder im Sinne einer Störung des Glykoprotein-/Glykolipidstoffwechsels oder durch Membranstörungen, bedingt durch die chronische Alkoholwirkung (Miller et al. 2006).
Schwellenwerte Anhand einer großen Zahl von Daten aus verschiedenen Studien ließen sich die Schwellenwerte für CDT festlegen,
die heute im Allgemeinen als %CDT (% des Transferrins) angegeben werden. Eine Untersuchung über die Reliabilität dieses Parameters in einer groß angelegten Studie ergab, dass etwa 75% der schweren Alkoholiker einen CDT Wert von >2,6% CDT, dem Schwellenwert, aufweisen (Miller et al. 2006). Das bedeutet, dass es sich bei der Bestimmung des CDT um einen spezifischen Test handelt, allerdings ist zu bedenken, dass auch falsch-positive CDT-Werte vorkommen, wie v. a. bei primär biliärer Zirrhose, chronischer Hepatitis C, Leberkarzinom oder an genetisch bedingte Varianten der Transferrins, sowie bei angeborener Glykoproteinstoffwechselstörungen (Bortolotti et al. 2005). Obwohl auch bei Veränderungen des Serumtransferrins, wie sie v. a. bei Eisenmangel und Schwangerschaft zu beobachten sind, die Spezifität dieses Tests vermindert wird (Sorvajarvi et al. 1996), gehört die CDT-Bestimmung heute zu den zuverlässigsten klinischen Markern, um schweren Alkoholmissbrauch zu identifizieren (Miller et al. 2004). Ähnlich wie bei den Leberenzymen führt auch beim CDT eine einmalige Alkoholeinnahme nicht zu erhöhten Werten. Erst nach regelmäßigem Konsum von über 50– 80 g Alkohol pro Tag (was etwa 1,5 l Bier oder 0,75 l Wein entspricht) über etwa 10 Tage steigen die Werte über den Schwellenwert an, und zwar proportional zur Ethanoldosis. Die Halbwertszeit des erhöhten CDT beträgt etwa 7 Tage. Innerhalb dieser Zeit reduziert sich der Wert bei Abstinenz. ! Neuere Befunde haben gezeigt, dass dieser Marker nicht nur Alkoholabusus allgemein anzeigen, sondern – auch bei aktueller Nüchternheit der Patienten am Untersuchungstag – auf einen zurückliegenden Rückfall hinweisen kann (Schmidt et al. 1997). Insgesamt handelt es sich bei dieser Untersuchung um den verlässlichsten Marker für schweren Alkoholmissbrauch, der uns heute zur Verfügung steht (Miller et al. 2006).
Bestimmungsmethoden des CDT Zur Laboranalytik werden verschiedene Methoden verwendet, wie die Hochleistungsflüssigkeitschromatografie (HPLC), Anionenaustauscherchromatografie mit immunologischer Transferrinbestimmung, isolelektrische Fokussierung (IEF) sowie Kapillarelektrophorese mit antikörperbasiertem Nachweis von Asialo-Formen. Die HPLC und Kapillarelektrophorese erlauben die Quantifizierung einzelner Fraktionen und das Erkennen genetischer Varianten, bei der Anionenaustauscherchromatografie können genetische Varianten prinzipiell nicht erkannt werden. Grundsätzlich wird CDT heute in den großen Laboranalysegeräten bestimmt. Es handelt sich hierbei entweder um einen immunologischen Test, bei dem CDT nach einer Probenvorbehandlung und nachfolgender turbidi-
23
520
23
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
metrischen Messung bestimmt wird, oder um einen sogenannten Latex Kit, bei dem das CDT der Probe mit CDT beladenen Latexpartikeln konkurriert. In beiden Fällen erfolgt auch die Messung des Gesamttransferrins, anschließend wird der prozentuale Anteil des CDT berechnet, der unter 5% des Gesamttransferrins liegen sollte. Bei der Beurteilung von CDT Messergebnissen ist zu beachten, dass jede Methode unterschiedliche Normbereiche hat und jeder Messwert daher in Bezug auf seinen Normbereich zu beurteilen ist.
23.3.3
Ethylglucuronid
Ethylglucuronid (EtG) stellt einen neuen spezifischen Marker für Alkoholismus dar. Es handelt sich dabei um einen Phase-II-Metabolit des Alkohols, welcher durch hepatische Glukuronidierung gebildet und renal ausgeschieden wird. Dieses Stoffwechselprodukt kann daher als direkter Nachweis auf vorangegangenen Alkoholkonsum verwendet werden und zwar in Urin, Serum, aber auch in den Haaren. Da auch ein einmaliger Genuss von 10 g reinem Alkohol gut nachgewiesen werden kann, eignet sich dieser Parameter gut zur Überwachung während des stationären Entzuges (Wurst et al. 2005)
Ätiopathogenese Die ätiologischen Faktoren, die zu diesen schwerwiegenden pathologischen Veränderungen und damit zur Neurodegeneration führen, sind bisher keineswegs aufgeklärt. Wie bei psychischen Erkrankungen generell, handelt es sich auch bei der AD um eine »komplexe Störung«, bei der genetische mit nichtgenetischen Faktoren interagieren. Dabei zeigt sich bezüglich des Einflusses dieser beiden Faktoren eine erhebliche interindividuelle Varianz. Genetische Disposition. Unbestritten ist, dass v. a. bei den
selteneren, familiär gehäuft auftretenden Formen ein genetisch determinierter »Risikofaktor« eine erhebliche Rolle spielt (Tanzi et al. 1993). Bis heute wurden einige Kandidatenregionen auf unterschiedlichen Genen v. a. mit der Frühform (Beginn vor dem 65. Lebensjahr) der AD assoziiert, darunter das Amyloid-Precurser-Protein(APP-)Gen auf Chromosom 21, sowie das Presenilin 2Gen auf Chromosom 1. Auch bei den familiären Fällen gibt es Spätformen (Beginn nach dem 65. Lebensjahr); bei diesen ließen sich anfangs v. a. eine Assoziation mit einem Genlokus auf Chromosom 19 nachweisen, dem Ort für das Apolipoprotein-E-(ApoE-)Gen. Weitaus häufiger als die familiären sind jedoch die sporadisch auftretenden Fälle der AD. Besonders hier ist eine möglichst sichere diagnostische Abgrenzung gegen andere Formen der Demenzen gewünscht.
Fazit Die Bestimmung der Leberwerte, des HDL-Cholesterins und des MCV alleine oder in Kombination haben keine ausreichende Beweiskraft für Alkoholismus. Im Gegensatz dazu zeigt ein erhöhtes CDT hohe Sensitivität und Spezifität und ist sicherlich den bisher bekannten Methoden bezüglich diagnostischer Effizienz überlegen. Die Sicherheit und Sensitivität kann insgesamt durch parallele Bestimmung konventioneller Marker wie γ-GT oder MCV noch erhöht werden.
23.4
Alzheimer-Demenz (AD)
Die Alzheimer-Demenz zählt zu den neurodegenerativen Erkrankungen des ZNS. Sie lässt sich bisher v. a. neuropathologisch durch eine Reihe von Charakteristika, wie Plaques mit Amyloidablagerungen sowie Neurofibrillen definieren. Da sich die klinische Diagnostik der AD in den letzten Jahren erheblich verbessert hat, lässt sich mit Hilfe spezifischer Marker bereits zu Lebzeiten des Patienten die Diagnose verifizieren und gegen andere neurodegenerative Erkrankungen abgrenzen.
23.4.1
Apolipoprotein E (ApoE)
Apolipoprotein E gehört zu den Eiweißkomponenten der Lipoproteine, die dem Transport von nichtwasserlöslichen Lipiden dienen. Es handelt sich dabei um ein 34-kDA-Protein, deren 3 häufigste Isoformen E2, E3 und E4 durch die 3 Allele ε2, ε3 und ε4 des ApoE-Gens kodiert werden. Im ZNS wird ApoE in Astrozyten und Oligodendrozyten synthetisiert. Funktionell scheint ApoE bei Reparations- und Wachstumsvorgängen beteiligt zu sein, da eine Zunahme der Synthese während der Entwicklung oder nach neuronalen Schädigungen gezeigt werden konnte. Bisher gibt es jedoch nur hypothetische Modelle über den pathogenetischen Zusammenhang zwischen dem ApoE-ε4-Allel und der AD. Dazu gehört die Annahme, dass ApoE auf verschiedenen Ebenen mit den pathogenen Prozessen interagiert, wie den mangelnden reparativen Fähigkeiten des ε4-Allels unter toxischen Bedingungen; auch soll dieses Allel die Aggregation der τ-Proteine nicht verhindern und die Bildung von Amyloidaggregaten unterstützen (Huang 2006).
521 23.4 · Alzheimer-Demenz (AD)
Apolipoprotein E und Demenz In zahlreichen Studien ließ sich bisher bestätigen, dass bei Personen mit AD – und zwar bei familiären und sporadischen Fällen – das ApoE-ε4-Allel häufiger zu beobachten war als bei altersentsprechenden gesunden Kontrollpersonen (Evans et al. 1997). Es wird angenommen dass das ApoE-ε4-Allel den Prozess beschleunigt, welcher der AD zugrundeliegt, da bei Patienten, die bezüglich des ε4-Allels homozygot waren, sich die Krankheit etwa 5 Jahre früher manifestierte. Das seltener vorkommende ε2-Allel wurde mit einem verzögerten Auftreten assoziiert oder scheint sogar einen gewissen protektiven Effekt zu haben (Mayeux 1996). Nachweismethodik. Zur Bestimmung des ApoE-Geno-
typs wird aus Vollblut die DNS präpariert, das entsprechende Stück mit Hilfe der Polymerasekettenreaktion (PCR) amplifiziert und das so vervielfältigte Produkt mit dem Restriktionsenzym Cfol geschnitten. Nach Agarosegelelektrophorese lassen sich die Allele sichtbar machen.
23.4.2
β-Amyloid(1-42), τ-Protein und phospho-τ Protein im Liquor cerebrospinalis
Da die Möglichkeiten einer gezielten Therapie der AD ständig verbessert werden, besteht der dringende Bedarf einer zuverlässigen Diagnostik, die nicht nur die Identifizierung der latenten Erkrankung mit noch geringen kognitiven Einbußen erlaubt, sondern auch die Abgrenzung gegen andere Demenzformen. Die Untersuchung von βAmyloid(1-42) (Aβ42) sowie von τ-Proteinen (gesamt τ-Protein und phospho-τ-Protein) im Liquor gilt heute als weitgehend zuverlässiger biologischer Marker zur Untermauerung der klinischen Diagnose. Als wesentliche Merkmale der neuropathologischen Veränderungen im Rahmen einer AD gelten die Amyloidplaques (»senile Plaques«) und veränderte Neurofibrillen (»tangles«), Merkmale, die auch mit dem Grad der Demenz zu korrelieren scheinen (Thal et al. 2006). Der Hauptbestandteil der Amyloidplaques ist ein 4-kDa-Protein, das β-Amyloid, das aus 39–43 Aminosäuren besteht. Dieses Peptid entsteht durch proteolytische Spaltung aus einem großen Vorläuferprotein, dem Amyloid Precurser Protein (APP). Da dieses Peptid auch unter normalen Bedingungen synthetisiert wird, ist sein Nachweis nicht für die AD spezifisch; allerdings ist im Gegensatz zur Gesamtkonzentration des β-Amyloids die Konzentration des (Aβ42) im Liquor von AD-Patienten gegenüber Gesunden signifikant erniedrigt (Gsponer u. Vendruscolo 2006).
Die Neurofibrillen bestehen aus paarweise angeordneten spiralförmigen Filamentstrukturen, deren Hauptbestandteil eine abnormal phosphorylierte Form des mikrotubuliassoziierten τ-Proteins ist. Normalerweise kommt dieses Protein in großen Mengen in den Neuronen vor und dient der Stabilisierung des mikrotubulären Netzes in den Axonen. Bei der AD wird τ-Protein abnorm phosphoryliert, so dass die Menge des Proteins v. a. in den betroffenen Regionen ansteigt (Gsponer u. Vendruscolo 2006). Da es sich beim τ-Protein um ein normales intrazelluläres Protein handelt, liegt es im Liquor cerebrospinalis nur in niedriger Konzentration vor. Die bei der AD auftretende langsame Degeneration der Neurone führt durch die Freisetzung zu einer deutlichen Erhöhung der t-Proteinkonzentration im Liquor. Die Messung von Aβ42, gesamt- und phospho-τ im Liquor, gibt somit einen Hinweis auf die Amyloidablagerungen und Neurofibrillenbildung und wird den Erfordernissen für biologische Marker zur Unterscheidung von AD (v. a. in frühen Stadien) und normalen Alterungsprozessen gerecht (⊡ Tab. 23.3). Vor allem die zusätzliche Bestimmung des phospho-τ erhöht die Sensitivität und Spezifität dieser Marker erheblich (ca. 85%), da damit zumindest teilweise die unterschiedlichen primären Demenzformen unterschieden werden können (Hampel et al. 2004). Allerdings hat sich gezeigt, dass v. a. die τ-Proteinkonzentration im Liquor mit zunehmendem Alter ansteigt, was bei der Beurteilung in Betracht gezogen werden muss (Sjogren et al. 2001). Nachweismethoden. Zum quantitativen Nachweis von
Gesamt-τ, phospho-τ und Ab42 werden zzt. In-vitro-Enzymimmunoassays (EIA) angeboten. Das Prinzip dieser Untersuchungen besteht in der Bindung der Proteine an spezifische monoklonale Antikörper, die anschließend mit enzymvermittelten Farbreaktionen nachgewiesen werden, deren Intensität zur jeweiligen Konzentration proportional ist. ⊡ Tab. 23.3. Apolipoprotein E-Genotypen. (Nach Kamboh 1995) ApoE 2/2
Kontrollen (n = 304) 1,3%
AD (n = 233)
AD Positive FH
0,0%
0,0%
2/3
12,5
3,4
3,5
2/4
4,9
4,3
8,2
3/3
59,9
38,2
23,5
3/4
20,7
41,2
45,9
4/4
0,7
12,9
18,8
AD: Alzheimer-Demenz; FH: Family History
23
522
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
23.5
23
Therapeutisches Drugmonitoring (TDM)
Die Bestimmung der Blutspiegel von Medikamenten spielt eine wichtige Rolle bei der Überwachung und Optimierung der medikamentösen Therapie. Verschiedene Einflussfaktoren können die Blutspiegel der Wirkstoffe und ihrer pharmakologisch aktiven Metabolite deutlich beeinflussen. Neben einer unregelmäßigen Einnahme der Medikamente spielt hier der veränderte Abbau der Medikamente (v. a. in der Leber) durch genetische Disposition eine wichtige Rolle. Der Abbau der Medikamente kann zudem durch Komedikation oder andere äußere Einflussfaktoren wie Rauchen deutlich beeinflusst werden. Insgesamt sollte TDM spätestens dann durchgeführt werden, wenn trotz ausreichender Dosierung die erwünschte Wirkung ausbleibt, oder wenn schon bei üblicher Dosierung unerwünschte Arzneimittelwirkungen auftreten.
23.5.1
Indikationen für TDM psychotroper Medikamente
Therapeutische Blutspiegel Die klassische Indikation für TDM ist die Kontrolle des therapeutischen Blutspiegels eines Wirkstoffes, um einerseits zu hohe, toxische Konzentrationen, andererseits aber auch zu niedrige und damit nicht mehr wirksame Konzentrationen zu vermeiden. Diese klassische Indikation liegt bei Lithium, einigen trizyklischen Antidepressiva sowie Clozapin vor. Die Medikamentenspiegel – und damit die Konzentrationen am Wirkort – werden jedoch durch zahlreiche endogene und exogene Faktoren zum Teil sehr deutlich beeinflusst. Deshalb geht man heute von einer erweiterten Indikation für TDM psychopharmakologischer Substanzen aus. Hier ist die Mitbestimmung eines Hauptmetaboliten des jeweiligen Wirkstoffes von besonderer Bedeutung. Die wichtigsten Faktoren für die erweiterte Indikation für TDM seien im Folgenden kurz dargestellt.
Compliance Die Unterbrechung der psychopharmakologischen Therapie durch den Patienten stellt ein bedeutendes Problem in der Behandlung psychischer Erkrankungen dar. Unter Patienten mit Schizophrenie nimmt jeder vierte die verordneten Medikamente nicht, oder nur unregelmäßig ein (Nose et al. 2003). Patienten mit unipolarer Depression sind zu etwa 40% non-compliant (Lingam u. Scott 2002). Selbst nach Einführung der besser verträglichen neueren Antidepressiva reduzierte sich die Rate der non-complianten Patienten nicht deutlich. Dabei ist die klinische Einschätzung durch den behandelnden Arzt lediglich zu etwa 50% reliabel (Gilbert et al. 1980). Das Therapeutische Drugmonitoring leistet deshalb bei der Überprüfung der
Compliance eine wichtige Hilfestellung. In der forensischen Psychiatrie besitzt die Compliance-Kontrolle einen besonderen Stellenwert.
Pharmakogenetik Wie in Kap. 26 »Psychopharmakotherapie: pharmakologische Grundlagen« erläutert, spielt das Cytochrom P450-Enzymsystem die wichtigste Rolle im Phase I-Metabolismus der Psychopharmaka. Insbesondere die CYP-Isoenzyme 1A2, 2C19, 2D6 und 3A4/5 sind an der Verstoffwechslung der meisten Psychopharmaka beteiligt. Das genetisch bedingte Aktivitätsniveau des CYP2D6 ist besonders gut untersucht: Bis zu 10% der europäischen Bevölkerung besitzt eine genetische Variante, die mit einer deutlich verminderten Aktivität des Enzyms einhergeht (man spricht hier von Poor-metabolisern). Im Gegensatz dazu besitzt mindestens ein Prozent der Bevölkerung eine genetische Variante, die mit extrem erhöhter Stoffwechselaktivität des Enzyms assoziiert ist (sog. Ultrarapid-Metaboliser – Ng et al. 2004; Kirchheiner et al. 2005). Insgesamt muss man also davon ausgehen, dass bei etwa einem Zehntel der Patienten die Verstoffwechslung über das CYP2D6 abnorm verändert ist. Bei Medikamenten, die nicht nur über 2D6, sondern auch über wenigstens ein anderes CYP-Isoenzym abgebaut werden, mag ein Poor-metaboliser-Status keine Relevanz haben, da das alternative Isoenzym die verminderte Stoffwechslleistung ausgleichen kann. Cave Bei Medikamenten wie Desipramin, Paroxetin oder Venlafaxin (einschließlich dessen pharmakologisch aktiven Metaboliten O-Desmethyl-Venlafaxin), die beinahe ausschließlich über CYP2D6 abgebaut werden, kann es jedoch zu deutlich erhöhten Blutkonzentrationen der Wirkstoffe kommen. Infolgedessen kann es zu einer erhöhten Rate an unerwünschten Arzneimittelwirkungen kommen (Chou et al. 2000).
Auch für die Isoenzyme CYP1A2, 2C9, 2C19 und 3A sind genetische Polymorphismen beschrieben, doch ist bislang die Datenlage nicht genügend valide, um Aussagen über deren klinische Relevanz treffen zu können. Neben den CYP-Isoenzymen wurde in den vergangenen Jahren auch vermehrt die Bedeutung des Transportmoleküls p-Glykoprotein (p-GP) und seiner genetischen Variabilität beschrieben. Das p-GP wird sowohl in der Darmmukosa als auch an der Blut-Hirn-Schranke exprimiert, um exogene Stoffe aus dem jeweiligen Körperkompartiment auszuschleusen. Verschiedene Psychopharmaka wie Nortriptylin, Risperidon und einige Antiepileptika sind Substrate des p-GP, doch liegen bislang noch keine verlässlichen Daten über den Einfluss genetischer Varianten auf die klinische Wirkung dieser Medikamente vor.
523 23.5 · Therapeutisches Drugmonitoring (TDM)
Obwohl inzwischen einige Speziallabors zumindest die Genotypisierung der wichtigsten pharmakokinetisch relevanten Genpolymorphismen anbieten, stellt das TDM der Psychopharmaka und deren Metabolite nach wie vor eine kostengünstige Methode dar, um eine eventuelle abnorme Verstoffwechslung zu überprüfen.
Interaktionen Medikamentenkombinationen. Ein besonders wichtiger
Aspekt der Psychopharmakotherapie ist die Interaktion diverser Medikamente an den CYP-Isoenzymen. Da die gleichzeitige Verschreibung mehrerer Medikamente relativ häufig indiziert ist, müssen solche Interaktionen unbedingt berücksichtigt werden. Klassische Beispiele sind die Inhibition des CYP2D6 durch Fluoxetin, Haloperidol, Paroxetin oder Perazin, die zu einer deutlich verminderten Verstoffwechslung führen können. Dies kann dazu führen, dass Patienten mit normaler genetischer Variante des CYP2D6 unter Einnahme eines CYP2D6-Inhibitors phänotypisch zu Poor-Metabolisern werden (Alderman et al. 1997). Perazin ist hierbei besonders hervorzuheben, da es nicht nur CYP2D6, sondern auch die Isoenzyme 1A2, 2C19 und 2C9 stark hemmt. Carbamazepin ist hingegen ein Induktor der Isoenzyme 1A2 und 3A und führt daher zu erniedrigten Blutkonzentrationen von Clozapin, Haloperidol, Quetiapin, Risperidon und seinem aktiven Metaboliten, Ziprasidon und einigen anderen Psychopharmaka (Besag u. Berry 2006). Umgekehrt erhöht Quetiapin das Verhältnis von Carbamazepinepoxid zu Carbamazepin und kann dadurch die Toxizität von Carbamazepin steigern. Ebenso sind für Phenobarbital und Phenytoin Interaktionen im Sinne einer Enzyminduktion beschrieben.
Vergleich zu entkoffeiniertem Kaffe führt der Genuss von koffeinhaltigem Kaffe zu etwa 50% höheren ClozapinBlutspiegeln (Raaska et al. 2004). Umgekehrt induziert Zigarettenrauch das CYP1A2. Es gibt Fallberichte von Patienten, die als Raucher optimal auf Clozapin eingestellt worden waren, die jedoch plötzlich starke unerwünschte Arzneimittelwirkungen und um das 4fache höhere Clozapin-Blutspiegel aufwiesen, nachdem sie das Rauchen aufgegeben hatten (Derenne u. Baldessarini 2005). Bei bekanntem Interaktionspotenzial mehrerer gleichzeitig verordneter Medikamente sollte also nach Erreichen der Steady-State-Bedingungen ein TDM der kritischen Substanzen durchgeführt werden. Gleiches gilt für Änderungen des Substanzgebrauchs wie Zigarettenrauch.
Spezielle Patientengruppen Besonders alte oder junge Patienten. Bei geriatrischen Patienten können die metabolische Kapazität der Leber, der hepatische Blutfluss und das Verteilungsvolumen vermindert sein und damit zu deutlich höheren Medikamentenblutspiegeln führen. Dabei gibt es jedoch eine große interindividuelle Varianz, so dass keine generell gültigen altersabhängigen Dosierungen vorgeschrieben werden können (Linder u. Keck 1998). Umgekehrt besteht bei Kindern häufig eine deutlich erhöhte Stoffwechselleistung. Vermindertes Plasmaeiweiß. Patienten mit Leberzirrhose
oder anderer Beeinträchtigung der Leberfunktion weisen oft erhöhte Medikamentenblutspiegel auf. Da die meisten Psychopharmaka eine hohe Plasmaeiweißbindung aufweisen, können Krankheitszustände mit deutlich vermindertem Plasmaeiweiß zu einer erhöhten Fraktion des freien Wirkstoffes führen.
Cave Wichtig ist auch zu wissen, dass einige Makrolidantibiotika wie Erythromycin oder Clarithromycin starke Inhibitoren des CYP3A sind. Bei gleichzeitiger Verordnung mit Quetiapin können diese Antibiotika zu einer Erhöhung der Quetiapinspiegel um etwa 100% führen (Li et al. 2005).
Die enorme Modulierbarkeit des CYP3A wird deutlich durch die um das 400fache (!) unterschiedlichen Blutspiegel von Midazolam bei gleichzeitiger Einnahme des CYP3A-Inhibitors Itraconazol im Vergleich zur gleichzeitigen Einnahme des CYP3A-Induktors Rifampizin (Backman et al. 1998). Auch die Inhaltsstoffe des Hyperikum gelten als Induktoren einer Reihe von CYP-Isoenzymen. Kaffee und Zigarettenrauch. Häufig konsumierte Subs-
tanzen wie Kaffee und Zigarettenrauch modulieren ebenfalls die Enzymaktivitäten. Kaffee inhibiert CYP1A2. Im
Chronische Niereninsuffizienz. Sie hat üblicherweise kei-
nen nennenswerten Einfluss auf die Ausscheidung der Muttersubstanz und ihrer desmethylierten Metabolite, doch können konjugierte und unkonjugierte HydroxyMetabolite kumulieren. Eine Ausnahme stellt Amisulprid dar, das vorwiegend renal elimiert wird. Wie weiter unten ausführlicher dargestellt ist die Kontrolle der Nierenfunktion bei Behandlung mit Lithium besonders wichtig. Schwangerschaft. Während der Schwangerschaft kann
eine veränderte Absorption, Verteilung, Plasmaproteinbindung, Metabolisierung und Elimination während der Schwangerschaft zu veränderten Blutspiegeln führen (Pennell 2003). Bei Schwangeren und stillenden Müttern können mit Hilfe von TDM unnötig hohe Medikamentenspiegel und damit eine unnötige Belastung der Föten bzw. Neugeborenen vermieden werden. Das therapeutische Drugmonitoring stellt bei diesen besonderen Patientengruppen eine wichtige Unterstützung bei der optimalen Dosisfindung dar.
23
524
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
Geschlechtsunterschiede. Abgesehen von diesen beson-
23
deren Patientengruppen muss man auch Geschlechtsunterschiede berücksichtigen. So weisen weibliche Patienten bei gleicher Dosis etwa um 35% höhere Clozapin- und Desmethylclozapinspiegel auf, als gleichaltrige männliche Patienten (Lane et al. 1999). Ein ähnlicher Geschlechtsunterschied wurde auch für Antidepressiva wie Sertralin beschrieben (Reis et al. 2003).
23.5.2
TDM der Antidepressiva
SSRI um 10% nachgewiesen werden (Lundmark et al. 2000). Dieser Effekt beruhte auf der Vermeidung unnötig hoher Dosierungen und der Überwachung der Compliance. Besonders bei einem Ausbleiben der erwarteten therapeutischen Wirkung sollte TDM der neueren Antidepressiva durchgeführt werden, um zu niedrige Blutspiegel durch Non-Compliance, einen Ultra-rapid-Metaboliser-Status oder Arzneimittelinteraktionen auszuschließen (Mitchell 2004). Auch sollte berücksichtigt werden, dass Venlafaxin in Überdosis ähnliche toxische Wirkungen wie manche Trizyklika entfalten kann (Buckley u. McManus 2002).
Trizyklische Antidepressiva (TZA) Für TZAs wurde ein sog. therapeutisches Fenster nachgewiesen – also ein Medikamentenspiegelbereich, innerhalb dessen eine optimale klinische Wirksamkeit zu erwarten ist. Bei Blutspiegeln unterhalb dieses Bereiches muss man von einer verminderten Wirksamkeit der Medikamente ausgehen, während erhöhte Spiegel lediglich zu vermehrten unerwünschten Arzneimittelwirkungen führen. Die therapeutischen Bereiche sind in ⊡ Tab. 23.4 aufgeführt. Unter Behandlung mit Nortriptylin stellt sich beispielsweise bei 66% der Patienten ein Behandlungserfolg ein, wenn die Blutspiegel in diesem therapeutischen Fenster liegen, jedoch nur bei 26%, wenn sie außerhalb dieses Bereiches liegen. Ähnliche Zusammenhänge zeigten sich für Desipramin (51% vs. 15%), Imipramin (67% vs. 39%) und Amitriptylin (50% vs. 30%; Perry et al. 1994). Cave Eine noch wichtigere Indikation für das TDM der trizyklischen Antidepressiva ist jedoch das Vermeiden toxischer Bereiche. Die Toxizität der Trizyklika beruht hauptsächlich auf ihrer anticholinergen und kardiovaskulären Wirkung. Generell kann man davon ausgehen, dass Blutspiegel über 500 ng/ml mit einem deutlich erhöhten Risiko für anticholinerge Nebenwirkungen assoziiert sind. Bei Blutspiegeln über 1000 ng/ml besteht eine hohe Gefahr für letale kardiotoxische Wirkungen.
Somit steigert das TDM der trizyklischen Antidepressiva die Therapieeffizienz, die Sicherheit und reduziert gleichzeitig die Behandlungskosten (Preskorn u. Fast 1991; Linder u. Keck 1998).
Neuere Antidepressiva Da im Gegensatz zu trizyklischen Antidepressiva die neueren Antidepressiva wie SSRI oder SNRI weder ein therapeutisches Fenster aufweisen, noch in dem Maße toxische Wirkung entfalten, wurde das TDM der neuen Antidepressiva über Jahre hinweg für obsolet gehalten. Neuere Studien wiesen jedoch die Effizienz des TDM auch bei diesen Substanzen nach. Bei älteren Patienten konnte eine Reduktion der Behandlungskosten durch TDM der
23.5.3
TDM der Antipsychotika
Clozapin Trotz des Risikos für schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkungen ist Clozapin nicht aus der pharmakologischen Therapie der Schizophrenie wegzudenken. Dabei zeigt Clozapin – ähnlich wie die trizyklischen Antidepressiva – eine deutliche Dosis- und Blutspiegelabhängigkeit der Wirkung wie auch der Nebenwirkungen. Bei Blutspiegeln über 420 ng/ml zeigt sich eine Therapieerfolgsrate von 63% gegenüber 22% bei Spiegeln unter 350 ng/ml (Miller 1996). Allerdings verdoppelt sich mit Blutspiegeln über 350 ng/ml auch die Rate der unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Dabei korreliert besonders das Risiko einer erniedrigten Krampfschwelle deutlich mit den Blutspiegeln. Mit Hilfe von TDM sollte die Blutkonzentration von Clozapin in einem Bereich von 350–600 ng/ml eingestellt werden, um einen optimalen Therapieerfolg bei geringer Nebenwirkungsrate zu erreichen (Hiemke et al. 2004).
Andere Antipsychotika In einer Reihe von PET-Studien wurde ein direkter Zusammenhang zwischen der D2-Rezeptor-Bindung und den Blutspiegeln der Antipsychotika Amisulprid, Haloperidol, Olanzapin, Risperidon, Quetiapin, Ziprasidon nachgewiesen (Hiemke et al. 2004). Für Aripiprazol, das erst gegen Ende 2005 in das TDM-Programm der Labors aufgenommen wurde, liegen bislang noch keine entsprechenden Daten vor. Verschiedene Studien belegten für Olanzapin einen Grenzwert von etwa 20 ng/ml, über dem das Ansprechen auf die Behandlung deutlich besser ist, als bei Spiegeln unter diesem Grenzwert (Perry et al. 2001). Für die anderen genannten Antipsychotika konnte bislang nicht eindeutig ein solcher Grenzwert oder gar ein therapeutisches Fenster definiert werden. Daher beruht die Indikation für TDM der meisten Antipsychotika auf den oben genannten Gründen wie Compliance-Kontrolle, Interaktionspotenzial und genetisch bedingter abnormer Verstoffwechselung.
525 23.5 · Therapeutisches Drugmonitoring (TDM)
! Bei Risperidon ist zu beachten, dass die Blutspiegel des aktiven Metaboliten 9-Hydroxy-Risperidon – jetzt als Paliperidon im Handel – in der Regel deutlich höher liegen, als die der Muttersubstanz und daher stets die Summe dieser beiden Komponenten bestimmt werden sollte. Bezüglich Quetiapin zeigt die Praxis, dass die Spiegel der Muttersubstanz deutlich schwanken. Vorläufige Studien wiesen nach, dass einige Metabolite eine sehr viel verlässlichere Aussage erlauben würden, doch wurden die Reinsubstanzen der Quetiapin-Metabolite bislang den Labors nicht zur Verfügung gestellt. Bei Haloperidol ist zu beachten, dass es konzentrationsabhängig von unterschiedlichen CYP-Isoenzymen verstoffwechselt wird: Während bei niedrigen Konzentrationen vorwiegend CYP2D6 für die Metabolisierung des Haloperidol zuständig ist, wird es in höheren Konzentrationen vorwiegend über CYP3A verstoffwechselt (Roh et al. 2001).
23.5.4
Phasenprophylaktika und Antiepileptika
Lithium In der Behandlung rezidivierender affektiver Störungen hat die Therapie mit Lithiumionen einen festen Stellenwert erlangt. Zur Verfügung stehen uns verschiedene Lithiumsalze (-azetat, -aspartat, -karbonat, -sulfat), die sich in ihrer klinischen Wirkung nicht wesentlich unterscheiden. Es können sich allerdings Unterschiede hinsichtlich der Gleichmäßigkeit der Plasmaspiegel oder der individuellen Verträglichkeit ergeben. Im Gegensatz zu den anderen Psychopharmaka haben Lithiumsalze eine geringe therapeutische Breite, die regelmäßige Kontrolluntersuchungen unbedingt erforderlich machen. Zu Beginn der Behandlung mit Lithium und bis zum Erreichen eines stabilen Gleichgewichts, was einige Tage in Anspruch nimmt, sind häufigere Kontrollen erforderlich. Im weiteren Behandlungsverlauf soll erst wöchentlich, später in Abständen von 2–6 Monaten, die Konzentration der Lithiumionen überprüft werden. ! Dabei ist unbedingt zu beachten, dass zwischen der letzten Medikamenteneinnahme und der Blutentnahme 12 h Abstand einzuhalten sind, da die Werte sonst nicht den tatsächlichen Konzentrationen entsprechen und zu hoch erscheinen. Unabhängig von diesen regelmäßigen Kontrollen sind zusätzliche Überprüfungen immer dann indiziert, wenn Intoxikationszeichen beobachtet oder vermutet wer-den. Der therapeutische Bereich für die Rezidivprophylaxe liegt zwischen 0,5 und 1,2 mmol/l, wobei für monopolare
Depressionen ein Spiegel im Bereich von 0,5–0,8 mmol/l optimal ist, während für bipolare Störungen eine höhere Konzentration erforderlich sein kann (Severus et al. 2005). Ab einer Konzentration von 1 mmol/l häufen sich allerdings die Nebenwirkungen und es kann zu Intoxikationen kommen. Konzentrationen zwischen 1,2 und 1,5 mmol/l gelten schon als Warnung und mögliche Zeichen einer Lithiumintoxikation sollten beachtet werden. Obwohl diese Intoxikationen i. Allg. erst bei Konzentrationen von über 1,5 mmol/l auftreten, sollten Symptome wie Zittern, Müdigkeit, Schwindel, verwaschene Sprache, Durchfall und Erbrechen auch schon bei geringeren Serumkonzentrationen als Zeichen einer möglichen Intoxikation in Erwägung gezogen werden (Timmer u. Sands 1999). Lithium und ältere Patienten. Lithium wird überwiegend
über die Nieren ausgeschieden und unterliegt daher nicht der interindividuellen Variabilität der metabolisierenden Leberenzyme. Allerdings führen intraindividuelle Variationen der Nierenfunktion, Dehydratation, Diarrhö oder eine gleichzeitige Gabe von Substanzen, die mit Lithium um die renale Ausscheidung konkurrieren, zu erheblichen und oft dramatischen Veränderungen der Plasmaspiegel. Die geringe therapeutische Breite macht v. a. bei älteren Patienten eine regelmäßige Kontrolle und eine Dosierung in den unteren Bereichen erforderlich, denn eine im Alter häufig eingeschränkte Nierenfunktion kann auch bei therapeutisch üblichen Dosierungen zu Serumkonzentrationen führen, die im toxischen Bereich liegen. Unerwünschte Wirkungen. Lithium kann sich negativ auf
die Funktion einiger Organe auswirken. Im Vordergrund steht v. a. die hemmende Wirkung auf die Produktion von Schilddrüsenhormonen, aber auch Nieren, Herz und blutbildende Organe (meist eine benigne Leukozytose) werden betroffen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Effekte und der geringen therapeutischen Breite ist die Kontrolle dieser Laborparameter in regelmäßigen Abständen während der Therapie unbedingt erforderlich.
Antiepileptika Sowohl in der Akutbehandlung als auch der Rezidivprophylaxe bipolarer Erkrankungen haben sich Antiepileptika, allen voran Carbamazepin, Valproat und Lamotrigin, bewährt (Ovsiew 2004). Das Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen ist bei Carbamazepin dosisabhängig, weshalb eine eindeutige Indikation für TDM besteht. Die Carbamazepin-Blutspiegel sollten zwischen 6 und 12 μg/ml liegen. Für alle anderen Antiepileptika besteht lediglich die oben genannte erweiterte Indikation für TDM.
23
526
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
23.5.5
23
Andere psychotrope Medikamente
Unter den Antidementiva wurde bislang lediglich für Donepezil ein Zusammenhang zwischen Blutspiegel und Wirksamkeit nachgewiesen (Rogers u. Friedhoff 1996). Von den bei Substanzabusus gebräuchlichen Medikamenten eignet sich besonders Methadon für das TDM, da es vorwiegend über CYP3A verstoffwechselt wird und daher der starken Modulation dieses Isoenzyms unterliegt.
graphy) nachgewiesen. Ausnahmen stellen Lithium (Atomabsorptionsspektrophotometrie oder Emissionsflammenphotometrie) und einige Antiepileptika wie Valproat (Immunassay) dar. Obwohl die Analyse mittels Tandemmassenspektrometrie im Gegensatz zur HPLC mit UV-Detektion nicht durch zusätzliche Medikamente gestört werden kann, hat sie sich wegen der hohen Anschaffungskosten bislang nicht durchgesetzt.
23.5.7 23.5.6
Methodische Aspekte
Zeitpunkt der Blutabnahme Das therapeutische Drugmonitoring basiert auf der Bestimmung von Talspiegeln unter Steady-State-Bedingungen. Zwischen der letzten Dosisänderung und der Blutabnahme sollten wenigstens 5 Halbwertszeiten liegen. Da die Halbwertszeiten der meisten Psychopharmaka zwischen 12 und 36 h betragen, hat sich in der klinischen Praxis ein Zeitintervall von einer Woche zur letzten Dosisänderung bewährt (Baumann et al. 2004). Um eine gleichmäßige Bestimmung von Talspiegeln zu gewährleisten, wird ein Abstand von 12–16 h seit der letzten Medikamenteneinnahme empfohlen; in der Regel wird also morgens vor der ersten Medikamenteneinnahme Blut abgenommen. Verzögert sich aus organisatorischen Gründen die Blutabnahme, so sollte der Patient die morgendliche Einnahme auf die Zeit nach der Blutabnahme verschieben. Bei Verabreichung von Depotpräparaten sollte direkt vor einer erneuten Injektion Blut abgenommen werden.
Die Expertengruppe für Therapeutisches Drugmonitoring der AGNP (Arbeitsgemeinschaft Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie) erarbeitete Konsensusleitlinien für das TDM in der Psychiatrie (Baumann et al. 2004). Die in ⊡ Tab. 23.4 angegebenen empfohlenen therapeutischen Bereiche beziehen sich größtenteils auf diese Leitlinien. Die Bereiche der Antiepileptika beziehen sich vornehmlich auf die in der Neurologie üblichen Blut⊡ Tab. 23.4. Empfohlene therapeutische Bereiche der wichtigsten Psychopharmaka Medikamentengruppe
Wirkstoff bzw. Metabolit
Antidepressiva
Amitriptylin + Nortriptylin Amitriptylinoxid = Amitriptylin + Nortriptylin Citalopram Clomipramin + Norclomipramin Desipramin Doxepin + Nordoxepin Duloxetin** Escitalopram Fluoxetin + Norfluoxetin Fluvoxamin Imipramin + Desipramin Maprotilin Mirtazapin Moclobemid Nortriptylin Paroxetin Reboxetin Sertralin Trimipramin Venlafaxin + O-Desmethylvenlafaxin
! Bei Anzeichen einer möglichen Intoxikation ist TDM jedoch auch bereits vor Erreichen des Steady-State-Zustandes dringend indiziert. In den meisten Labors hat sich die Bestimmung der Medikamentenspiegel aus Serum gegenüber Plasma durchgesetzt, doch sollte unbedingt den Vorgaben des Labors gefolgt werden. Die Verwendung von Vollblut ist inzwischen obsolet. Die vollständige Angabe aller von dem jeweiligen Patienten eingenommenen Medikamente ist für die Auswertung der Proben im Labor von entscheidender Bedeutung, um eventuelle Störungen der Analyse (z. B. Überlagerungen im Chromatogramm) ausschließen zu können. Falls vom Labor auch eine Interpretation der Analysenergebnisse gewünscht wird, müssen neben sämtlichen eingenommenen Medikamenten auch die Dosierungen, die letzten Dosisänderungen, der Zeitpunkt der letzten Medikamenteneinnahme sowie Besonderheiten wie Rauchverhalten angegeben werden. Üblicherweise werden die Psychopharmaka und deren Metabolite mittels Hochleistungsflüssigkeitschromotografie (HPLC = High Performance Liquid Chromato-
Empfohlene therapeutische Bereiche
Antiepileptika
Carbamazepin Carbamazepin-Epoxid (Carbamazepin-Metabolit) Ethosuximid Lamotrigin Lithium 10-OH-Carbazepin (Oxcarbazepin-Metabolit) Phenobarbital (PrimidonMetabolit) Phenytoin Primidon Valproinsäure
Empfohlener Therapeutischer Bereich* 80–200 ng/ml 80–200 ng/ml 30–130 ng/ml 175–450 ng/ml 100–300 ng/ml 50–150 ng/ml 20–80 ng/ml 15–80 ng/ml 120–300 ng/ml 150–300 ng/ml 175–300 ng/ml 125–200 ng/ml 40–80 ng/ml 300–1000 ng/ml 70–170 ng/ml 70–120 ng/ml 10–100 ng/ml 10–50 ng/ml 150–350 ng/ml 195–400 ng/ml 6,0–12 μg/ml 0,6–3,0 μg/ml 40–100 μg/ml 0,5–4,5 μg/ml 0,5–1,2 mmol/l 15–35 μg/ml 10–40 μg/ml 6,0–20 μg/ml 4,0–15 μg/ml 50–100 μg/l
527 Literatur
⊡ Tab. 23.4. Empfohlene therapeutische Bereiche der wichtigsten Psychopharmaka (Forts.) Medikamentengruppe
Wirkstoff bzw. Metabolit
Benzodiazepine
Alprazolam Diazepam + Nordiazepam Lorazepam Nitrazepam Nordazepam (DiazepamMetabolit) Oxazepam
Neuroleptika
Amisulprid Aripiprazol** Benperidol Clozapin Haloperidol Levomepromazin Olanzapin Perazin Quetiapin Risperidon + 9-OH-Risperidon Ziprasidon
100–320 ng/ml 150–250 ng/ml 2–10 ng/ml 350–600 ng/ml 5–17 ng/ml 15–60 ng/ml 20–80 ng/ml 100–230 ng/ml 70–170 ng/ml 20–60 ng/ml
Andere
Donepezil Methadon
30–75 ng/ml 400–800 ng/ml
Empfohlener Therapeutischer Bereich* 20–40 ng/ml 300–400 ng/ml 10–15 ng/ml 30–100 ng/ml 20–200 ng/ml 200–1500 ng/ml
50–120 ng/ml
* Quellen: Baumann et al. (2004); Schulz u. Schmoldt (2003); Matthes u. Kruse (2003); Hiemke et al. (2005) ** Für Aripiprazol und Duloxetin fehlen bislang validierte Daten
spiegel. Im Falle von Lithium sollte der obere Grenzwert nicht überschritten werden. Für trizyklische Antidepressiva, Clozapin und Carbamazepin stellen die oberen Grenzwerte Warngrenzen dar. Für die weiteren Psychopharmaka und Antiepileptika geben die Bereiche eine Hilfestellung zur Interpretation der Laborergebnisse bei fraglicher Compliance oder bei Verdacht auf eine veränderte Verstoffwechslung.
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23
528
23
Kapitel 23 · Laborchemische Diagnostik und therapeutisches Drugmonitoring
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24 24 Neurophysiologische Untersuchungsmethoden U. Hegerl, O. Pogarell
24.1
Einleitung
24.2
Methodik der EEGund EKP-Untersuchung – 530 Ableitung und Auswertung – 530 EEG/EKP und kognitive Funktionen – 532 Vigilanzstadien und Schlafpolygrafie – 533 Elektrogenese – 535 Vor- und Nachteile des EEG und der EKP – 535
24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4 24.2.5 24.3 24.3.1 24.3.2 24.3.3 24.3.4 24.3.5 24.3.6 24.3.7
– 530
EEG/EKP und organische psychische Störungen – 536 Demenzen – 536 Organisches amnestisches Syndrom – 539 Metabolische Enzephalopathie mit Demenz oder Delir – 539 Delir – 539 Nichtkonvulsiver Status epilepticus – 540 EEG vs. funktionelle und strukturelle Bildgebung bei Demenz – 541 Perspektiven – 542
24.4
EEG/EKP bei affektiven, schizophrenen und Persönlichkeitsstörungen – 543
24.5 24.5.1 24.5.2 24.5.3 24.5.4 24.5.5 24.5.6
EEG und Psychopharmakotherapie – 544 Neuroleptika – 544 Antidepressiva – 545 Lithium – 545 Carbamazepin – 545 Benzodiazepine, Clomethiazol – 546 Antidementiva – 546
24.6
Schlafpolygrafie
24.7
Schlussbetrachtung – 547 Literatur
– 547
– 548
> > Zu den neurophysiologischen Untersuchungsmethoden zählen die Elektroenzephalografie (EEG) und die ereigniskorrelierten Potenziale (EKP). Beide Verfahren sind in der Psychiatrie als nichtinvasive, funktionsdiagnostische Instrumente zur Abbildung neuronaler Massenaktivität unersetzbar. Sie liefern z. B. bei Demenzen wichtige diagnostische und differenzialdiagnostische Hinweise und sind zum Ausschluss epilepsietypischer Veränderungen obligat. Für spezielle Fragestellungen spielt außerdem die Schlafpolygrafie eine wichtige Rolle.
530
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
24.1
24
Einleitung
Die neuroelektrische Aktivität des Gehirns lässt sich von der Kopfhaut ableiten. Dieses klassische neurophysiologische Verfahren, das Elektroenzephalogramm (EEG) wurde 1924 von dem Psychiater Hans Berger entdeckt, der bereits psychische Korrelate der EEG-Muster und Einflüsse psychotroper Substanzen wie Kokain auf das EEG untersuchte. Trotz dieser ursprünglichen Nähe zur Psychiatrie hat das EEG zunächst seine größte praktische Bedeutung in der Neurologie, insbesondere in der Epilepsiediagnostik erlangt. Bis in die 70er Jahre war es auch für die Lokalisation von Hirnläsionen bedeutsam, bis es durch die Entwicklung der cCT (craniale Computertomografie) und später der MRT (Magnetresonanztomografie) für Fragen der Hirnstrukturdiagnostik überflüssig geworden ist. Für Fragen zur Hirnfunktion ist es jedoch nach wie vor das empfindlichste Instrument, das als einziges nichtinvasives Verfahren direkte Informationen über kortikale neuronale Aktivität liefert. In der Psychiatrie wird es überwiegend zur neurologischen Ausschlussdiagnostik und als Forschungsinstrument eingesetzt. Durch Einführung neuer Ableiteparadigmen mit sensorischer oder kognitiver Belastung sowie neuere Verfahren der Quellenlokalisation (Dipolquellenanalyse, LORETA) wurde die Aussagekraft des EEG für psychiatrische Fragestellungen erhöht (Hegerl 1998). Vielversprechend ist die Kombination und heute möglich gewordene simultane Ableitung von EEG und funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), wodurch die gute räumliche Lokalisation von Hirnfunktionsänderungen im Rahmen bestimmter Untersuchungsbedingungen mit der hohen zeitlichen Auflösung des EEG kombiniert wird. Erst durch die zusätzlichen EEG-Daten wird es möglich zu erkennen, welche neuronalen Phänomene den im Rahmen des fMRT erfassten Änderungen in der Durchblutung und Oxygenierung (BOLD-Signal – Blood Oxygen Level Dependency) in bestimmten Hirnarealen zugrunde liegen.
24.2
Methodik der EEGund EKP-Untersuchung
24.2.1
Ableitung und Auswertung
Abgeleitet wird die hirnelektrische Aktivität mit an der Kopfhaut angebrachten Elektroden, wobei jeweils pro Kanal die Potenzialdifferenzen zwischen 2 Elektroden verstärkt und aufgezeichnet werden. Da kein inaktiver Ableiteort für eine Referenzelektrode zur Verfügung steht, stellen die EEG-Kurven die Potenzialdifferenzen zwischen 2 aktiven Ableiteorten dar. Dieses Referenzproblem erschwert u. a. die richtige Zuordnung zwischen EEG-Aktivität und Ableiteort. Erforderlich ist es deshalb, das EEG mit verschiedenen Verschaltungen der Elektroden aufzu-
zeichnen. Hierzu waren bisher entweder EEG-Geräte mit vielen Kanälen nötig oder das EEG musste nacheinander mit verschiedenen Verschaltungen (Programmen) abgeleitet werden. Mit den modernen EEG-Geräten ist es möglich geworden, die hirnelektrische Aktivität digital aufzuzeichnen, zu speichern und nachträglich, d. h. »off-line«, die Daten zur gezielten Analyse in beliebige Verschaltungen umzurechnen.
Frequenzbänder Für die Beschreibung und Auswertung des EEG wird die Aktivität in verschiedene Frequenzbänder eingeteilt: Alpha-(α-)Aktivität: 8–12 Hertz, Theta-(θ-)Aktivität: 4–7 Hertz, Delta-(δ-)Aktivität: 0,5–3 Hertz, Beta-(β-)Aktivität: 12–30 Hertz. Eine generalisierte Verlangsamung der Grundaktivität mit Zunahme langsamerer Frequenzanteile aus dem θund δ-Bereich ist ein Hinweis auf eine eher globale Funktionsstörung. Fokale Betonungen insbesondere einer irregulären θ- oder δ-Aktivität können auf eine fokale Funktionsstörung hinweisen. Steile Abläufe, z. T. in Kombination mit trägen Nachschwankungen [Spitze-Welle(SW-)Komplex] sind Ausdruck einer gesteigerten hirnelektrischen Erregbarkeit. Sie können auf das Vorliegen einer Epilepsie hinweisen. Als nahezu pathognomonisch ist allerdings lediglich die regelmäßige und symmetrische 2–3/s-SW-Aktivität anzusehen, die bei Dauer über mehrere Sekunden klinisch mit einer Absence einhergehen kann.
Digitale EEG-Aufzeichnung Durch die digitale EEG-Aufzeichnung ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten der quantitativen EEG-Auswertung, die klinisch relevante Zusatzinformationen liefern können. Bei Vielkanalableitungen kann die EEG-Aktivität z. B. in einem bestimmten Frequenzband topografisch dargestellt werden. Wird die zwischen den Ableiteorten liegende EEG-Aktivität rechnerisch extrapoliert, so kann die EEG-Aktivität in ihrer Verteilung an der Kopfhaut in Form von EEG-Maps dargestellt werden. Da aus der Verteilung der EEG-Aktivität noch nicht auf die Aktivität bestimmter Hirnstrukturen geschlossen werden kann, ist es nicht gerechtfertigt, von »brain-maps« zu sprechen. Um aus der Verteilung der EEG-Aktivität an der Kopfhaut auf generierende Gehirnstrukturen rückschließen zu können, sind weiterführende EEG-Analyseverfahren nötig. Lokalisation von EEG-Generatoren. In den letzten Jahren sind verschiedene Verfahren entwickelt worden, die bei EEG-Vielkanalableitungen eine Bestimmung der generierenden Hirnstrukturen erlauben. Bewährt hat sich für eine Reihe von Fragestellungen die Dipolquellenanalyse.
531 24.2 · Methodik der EEG- und EKP-Untersuchung
Hier wird versucht, ausgehend von einem Kopfmodell, die an der Kopfhaut gemessene Potenzialverteilung durch die Aktivität zugrunde liegender Stromdipole zu erklären. Jeder Stromdipol soll annäherungsweise den Summenstromfluss eines bestimmten kortikalen Areals repräsentieren. Dieser Stromfluss erzeugt ein Potenzial, das sich je nach Lokalisation und Orientierung des Stromflusses und unter Berücksichtigung eines Kopfmodells mit unterschiedlicher Stärke und Polarität an verschiedenen Ableiteorten darstellt. Durch einen Optimierungsalgorithmus werden die hypothetischen Stromdipole solange hinsichtlich ihrer Lokalisation und Orientierung verändert, bis eine Dipolkonfiguration gefunden ist, die die tatsächlich gemessene Potenzialverteilung optimal erklärt und damit Aussagen über mögliche Generatoren erlaubt. Da eine bestimmte Potenzialverteilung prinzipiell durch unterschiedliche Dipolanordnungen erklärt werden könnte (z. B. könnte das Potenzialfeld eines tiefen Dipols auch durch mehrere kleinere oberflächlich gelegene Dipole erklärt werden), ist dieses Verfahren dann am sinnvollsten einzusetzen, wenn durch Vorwissen über die Generatoren die Zahl der möglichen Dipollösungen eingegrenzt werden kann. Besonders erfolgreich ist dieser Ansatz, wenn tatsächlich nur wenige umschriebene kortikale Bereiche an der Generierung der EEG-Aktivität beteiligt sind (s. z. B. Scherg 1991). Eine weitere Methode zur Quellenlokalisation ist die Low Resolution Electromagnetic Tomography (LORETA; Pascual-Marqui et al. 1994). Dabei wird, anders als bei der Dipolquellenanalyse, nicht versucht, die hirnelektrische Aktivität auf eine kleine Anzahl von Summendipolen zu reduzieren. Ein Vorteil der Methode ist, dass deshalb auch keine Hypothese über die Anzahl der aktiven Quellen erstellt werden muss. Ein Nachteil ist die relativ geringe räumliche Auflösung (»low resolution«). Verwendet werden kann die Methode zum einen bei der Analyse ereigniskorrelierter Potenziale (z. B. Mulert et al. 2001) oder auch bei der räumlichen Analyse von Frequenzbändern (z. B. Pizzagalli et al. 2001). Hilfreich ist bei der LORETAMethode die Verwendung eines Standardkoordinatensystems für das Gehirn, des Talairach-Atlas, wodurch eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse mit denen der funktionellen Bildgebung, wie z. B. der funktionellen MRT, ermöglicht wird. Die Zuverlässigkeit dieser Methoden zur näherungsweisen Lokalisation verschiedener Generatoren der an der Kopfoberfläche abgeleiteten Hirnaktivität (EEG) wurde in jüngster Zeit sehr elegant durch die Kombination von EEG-Ableitung und funktioneller Magnetresonanztomografie in vivo dargestellt. Mulert et al. (2004 a) konnten mit einer simultanen EEG/fMRT-Untersuchung zeigen, dass alle der P300 zugrunde liegenden Aktivierungen verschiedener Hirnregionen in der Magnetresonanztomografie und der unabhängig davon erfolgten LORETA-
Analyse des EEG-Signals kongruent waren. Somit fällt der Vorteil der hohen zeitlichen Auflösung neurophysiologischer Verfahren noch stärker ins Gewicht (Mulert et al. 2004 b). Vergleichbare Untersuchungen liegen inzwischen auch für andere ereigniskorrelierte Potenziale vor (Mulert et al. 2005).
Ereigniskorrelierte Potenziale (EKP) Bei quantitativer EEG-Analyse können Potenziale nach bestimmten Ereignissen, z. B. sensorischen Stimuli gemittelt und als EKP analysiert werden. Die EKP können sowohl dem Ereignis vorausgehen (z. B. »contingent negative variation«/CNV, Bereitschaftspotenzial) als auch nachfolgen wie z. B. die Hirnstammpotenziale, die in den ersten 10 ms nach einem akustischen Stimulus auftreten oder die P300, die mit einer Latenz von 300 ms auftritt. In ⊡ Abb. 24.1 sind in schematisierter Form und mit logarithmischer Zeitachse Potenziale dargestellt, wie sie nach akustischen Reizen auftreten. Die Nomenklatur ist uneinheitlich: Von einigen Autoren werden die Potenziale mit P1, N1, P2, P3 usw. entsprechend ⊡ Abb. 24.1 bezeichnet, von anderen durch Angabe der Polarität und der Gipfellatenz (z. B. N100, P200, P300).
Frühe und späte Potenziale Frühe Potenziale der EKP mit Latenzen von weniger als 100 ms unterscheiden sich von späten Potenzialen mit Latenzen von mehr als 100 ms dadurch, dass ihre intraindividuelle Varianz zu einem großen Teil durch physikalische Stimulusparameter wie Modalität, Intensität, Interstimulusintervall usw. erklärbar ist. Die Varianz später Potenziale ist dagegen besser durch psychologische Konstrukte wie z. B. Aufmerksamkeit, Motivation, Wachheit oder »Informationsverarbeitungsstrategie«, durch den Stimuluskontext sowie durch den Gesamtzustand und die Ausgangslage des Nervensystems erklärbar. Frühe Potenziale wurden auch als exogene und späte Potenziale als endogene Potenziale bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen frühen und späten Potenzialen ist jedoch nicht trennscharf und zur Klassifikation der EKP wenig geeignet, da z. B. durch Variation der selektiven Aufmerksamkeit bereits deutliche Effekte im Latenzbereich ab 20 ms feststellbar sind. Zudem hängen späte Potenziale wie die P300-Komponente durchaus auch von rein physikalischen Eigenschaften des Ereignisses wie z. B. der Stimulusintensität, dem Stimuluskontrast oder der Modalität ab. P300. Das im Rahmen psychiatrischer Fragestellungen am häufigsten untersuchte EKP ist die P300, ein positives Potenzial mit einer Latenz von ca. 300 ms, das nach seltenen und aufgabenrelevanten Ereignissen auftritt und mit kognitiven Aspekten in Verbindung steht. Die P300 wird meist im Rahmen eines sog. Oddball-Paradigmas untersucht, d. h. es werden häufige und eingestreute seltene Stimuli angeboten. Die seltenen Stimuli sind aufgabenre-
24
532
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
⊡ Abb. 24.1. Schematische, im Zeitbereich logarithmische Darstellung der akustisch evozierten Potenziale. Die P3-Komponente (P300) kommt nur unter besonderen Bedingungen, wie z. B. nach seltenen und aufgabenrelevanten Ereignissen zur Darstellung
24
levant, d. h. sie sollen leise mitgezählt oder mit einem Tastendruck beantwortet werden. Bei getrennter Mittelung der Potenziale nach häufigen und seltenen Ereignissen kommt es nur nach den seltenen Ereignissen zum Auftreten der P300 (⊡ Abb. 24.1).
24.2.2
EEG/EKP und kognitive Funktionen
Da die intraindividuelle Varianz später EKP wie der P300 teilweise durch Veränderungen kognitiver Aspekte wie z. B. der Aufmerksamkeit erklärt werden kann, beschäftigten sich viele Arbeitsgruppen mit der Frage, ob EKPParameter als Indikatoren kognitiver Leistungen geeignet sind. Dieser Forschungsansatz hat jedoch bisher zu keiner praktischen Anwendung geführt. Ein Grund hierfür ist, dass sich EKP wie die P300 aus der räumlichen und zeitlichen Summation weitverteilter kortikaler neuronaler Aktivität ergeben, und eher globale Funktionsaspekte des ZNS widerspiegeln. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass bisher kein spezifischer Zusammenhang zwischen EKP und umschriebenen Konstrukten der kognitiven Psychologie wie Gedächtnisspeicherung, semantische Verarbeitung usw. gefunden wurde. Außerdem sind derartige kognitive Aspekte mittels einfacher testpsychologischer Verfahren schneller und valider zu erfassen als mit Hilfe der EKP.
Interpretation von Veränderungen Auch die häufig erfolgende Interpretation einer Veränderung wie z. B. der P300 als Ausdruck einer Informations-
verarbeitungsstörung ist wenig hilfreich und weist auf eine vorschnelle Übertragung des Computermodells auf die Hirnfunktion hin. Es drückt sich hier die Vorstellung aus, dass es durch die sensorische Stimulation zu einer Weiterleitung neuronaler Aktivität zum Kortex kommt und dass hier dann eine ereigniskorrelierte Aktivität als EEG-Signal auftritt, das durch Mittelungstechniken aus dem EEG-Rauschen herausgehoben werden kann. Das ZNS wartet jedoch nicht auf Ereignisse, wie etwa ein Computer auf den Tastendruck. Wir haben es vielmehr mit einem ununterbrochen aktiven und mit sich selbst interagierendem Netzwerk zu tun, dessen Aktivität durch einen akustischen Stimulus oder andere Ereignisse lediglich moduliert wird. Potenziale, die 300 ms nach einem Ereignis auftreten, hängen deshalb auch kaum mehr von physikalischen Aspekten des einzelnen sensorischen Ereignisses selbst ab. Dies wird unmittelbar durch das bemerkenswerte Phänomen evident, dass auch das Auslassen eines Stimulus in einer Stimulusreihe eine P300 verursacht. Einige Arbeitsgruppen (z. B. Basar-Eroglu et al. 1992) gehen deshalb davon aus, dass die P300 Ausdruck von Frequenzstabilisierung, Phasenadjustierung und Amplitudenverstärkung der einem Ereignis unmittelbar vorausgehenden EEG-Aktivität im θ/δ-Bereich ist. Diese Sicht ist nur schwer mit der Vorstellung vereinbar, dass die P300 ein Marker umschriebener Informationsverarbeitungsprozesse sein könnte. Völlig unklar bleibt zudem, was mit »Information« auf neurophysiologischer Ebene gemeint sein kann (s. hierzu Hegerl u. Juckel 1993).
24
533 24.2 · Methodik der EEG- und EKP-Untersuchung
! Nach diesen Überlegungen können EKP in begrenztem Maße geeignet sein, um Modelle der kognitiven Psychologie zu prüfen, sie erscheinen unseres Erachtens jedoch als klinisch einsetzbare Indikatoren umschriebener psychologischer Dysfunktionen bei einzelnen psychiatrischen Patienten nicht aussichtsreich. Bestens geeignet ist das EEG dagegen zur Erfassung basaler physiologischer Funktionsaspekte (z. B. Habituation, physiologische Arousalprozesse).
24.2.3
Vigilanzstadien und Schlafpolygrafie
Beim Übergang vom Wachzustand bis zum Tiefschlaf kommt es zu einer regelhaften Abfolge bestimmter EEGMuster, die Ausdruck unterschiedlicher Hirnfunktionszustände sind (Überblick bei Hegel 1998). Wegen des engen Zusammenhangs zwischen EEG-Muster und Wachheit ist das EEG das zentrale Instrument zur Untersuchung der Schlafphysiologie. Um die Zuordnung zwischen EEG
und Schlafstadium zu verbessern, wird im Rahmen der Schlafpolygrafie das EEG durch die zusätzliche Messung des Muskeltonus mittels Elektromyografie (EMG) des M. mentalis an der Kinnspitze und der Augenbewegungen durch eine Elektrookulografie (EOG) ergänzt. Je nach Fragestellung können auch weitere Messfühler im Rahmen der Schlafpolygrafie angebracht werden. Beispielsweise wird mittels EMG oder eines Bewegungsfühlers (Aktometer) die muskuläre Aktivität im Bereich der Beine zur Erfassung periodischer Bewegungen im Schlaf aufgezeichnet. Die Atemtätigkeit und Sauerstoffsättigung wird aufgezeichnet zur Erfassung nächtlicher Atemfunktionsstörungen, eine Penisplethysmografie kann zur Erfassung nächtlicher Spontanerektionen durchgeführt werden.
Durchführung Die Schlafpolygrafie erfolgt in einem Schlaflabor, in dem der Patient üblicherweise in einer ruhigen Kabine liegt und die Geräte in einem benachbarten Raum stehen, von dem aus der Patient über eine Infrarotkamera kontinuierlich überwacht werden kann. Für die Interpretierbarkeit
⊡ Tab. 24.1. Einteilung der Schlafstadien Vigilanz- bzw. Schlafstadien
Rechtschaffen u. Kales 1968
Dement u. Kleintman 1957
Loomis et al. 1937
EEG-Kennzeichen
EOG
EMG
Aktiver Wachzustand
–
–
–
Niedrigamplitudige β-Aktivität (»desynchronisiertes EEG«)
++
+++
Entspannte Ruhe
Wach
I
A
Weiter nach Bente (1964) unterteilt in:
Insgesamt dominierende α-Tätigkeit
(+)
++
A1
Okzipital betonte α-Aktivität
A2
α: Anteriorisierung frontal < okzipital, geringe Verlangsamung und Amplitudenzunahme
A3
α: Anteriorisierung frontal > okzipital, weiterhin geringe Verlangsamung und Amplitudenzunahme
Weiter nach Roth (1961) unterteilt in:
Insgesamt weitgehend zerfallene α-Aktivität bei vorherrschend flacher θ-Aktivität
++
+
B1
Rasche niedrigamplitudige β-Aktivität (»desynchronisiertes EEG«), teils in Spindelform
Einschlafstadium
1
B
B2
Zusätzlich niedrigamplitudige θ-Wellen
B3
Zusätzlich höheramplitudige δ-Wellen, Vertexwellen
Leichter Schlaf
2
II
C
Langsame Aktivität, Schlafspindeln und K-Komplexe
–
+
Mitteltiefer Schlaf
3
III
D
20–50% langsame, höhergespannte δ-Aktivität (>75 μV)
–
+
Tiefschlaf
4
IV
E
>50% langsame, höhergespannte δ-Aktivität (>75 μV)
−
+
Traumschlaf
REM
V
–
Wie Stadium l mit Perioden rascher Augenbewegung
+++
−
534
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
der schlafpolygrafischen Befunde ist es wichtig, dass der Patient Gelegenheit hat, sich durch eine vorgeschaltete Adaptationsnacht an die Situation im Schlaflabor zu gewöhnen.
Schlafstadien
24
Als Standard für die Schlafpolygrafie haben sich die Richtlinien von Rechtschaffen u. Kales (1968) durchgesetzt. Die Einteilung und Definition der verschiedenen Schlafstadien ist in ⊡ Tab. 24.1 zusammengefasst. Die am häufigsten gebräuchliche Einteilung von Rechtschaffen u. Kales orientiert sich an den von Dement u. Kleitman (1957) vorgeschlagenen EEG-Stadien. Diese für die Untersuchung der Schlafphysiologie konzipierte Einteilung konzentriert sich auf die eigentlichen Schlafstadien und vernachlässigt die subvigilen Intermediärstadien, die beim Übergang vom Wachzustand bis zum Schlaf durchlaufen werden. Diese subvigilen Intermediärstadien mit ihren sehr unterschiedlichen EEG-Mustern werden in einem EEG-Stadium (Stadium I) zusammengefasst. Subvigile Intermediärstadien. Die Beachtung dieser Zwi-
schenstadien kann jedoch gerade für psychiatrische Fragestellungen von Interesse sein (s. z. B. Ulrich 1994). Ausgehend vom Loomis et al. 1937 wurden von Bente (1964) und Roth (1961) diese subvigilen EEG-Stadien sorgfältig ⊡ Abb. 24.2a, b. Schlafprofil eines (a) älteren und eines (b) jüngeren gesunden Probanden (Einteilung nach Rechtschaffen u. Kales). Während jüngere Menschen meist in der ersten Schlafhälfte Tiefschlafstadien 4 (S4) erreichen, werden diese Stadien im Alter seltener oder nicht erreicht. Auch ist im Alter die zyklische Abfolge der verschiedenen Stadien weniger regelmäßig, und Wachstadien sind häufiger
beschrieben und in 6 Unterstadien (A1–3, B1–3) unterteilt. Eine genaue Kenntnis dieser physiologischen subvigilen EEG-Muster und ihre Abgrenzung von pathologischen EEG-Befunden sind für die klinische Beurteilung des EEG wichtig. Sie öffnet zudem den Blick auf die sich im EEG manifestierende Vigilanzdynamik, d. h. die Fluktuation zwischen den verschiedenen Vigilanzstadien während einer Wachableitung. Gerade diese Vigilanzdynamik kann bei bestimmten psychopathologischen Syndromen gestört sein (Ulrich 1994).
Beurteilung Zur Beurteilung des Schlafes werden, basierend auf den Kriterien von Rechtschaffen u. Kales (1968), Schlafprofile erstellt (⊡ Abb. 24.2a, b). Für quantitative Auswertungen können eine Reihe von Parametern wie z. B. die REMLatenz, die totale Schlafzeit oder die Aufwachhäufigkeit bestimmt werden. Zur Beurteilung der Einschlafneigung am Tage wird im Rahmen des multiplen SchlaflatenzTests (MSLT) wiederholt tagsüber schlafpolygrafisch die Einschlaflatenz bestimmt, wobei ein Wert unter 10 min als auffällig gilt. Die standardisierte Durchführung des MSLT hat u. a. bei vermehrter Tagesmüdigkeit mit Schlafattacken und klinischem Verdacht auf eine Narkolepsie differenzialdiagnostischen Stellenwert.
535 24.2 · Methodik der EEG- und EKP-Untersuchung
24.2.4
Elektrogenese
Die elektrischen Potenziale, die als EEG oder EKP an der Kopfhaut gemessen werden, ergeben sich überwiegend aus der Summation von intrakortikalen Strömen, die durch postsynaptische Potenziale induziert werden. Diese postsynaptischen Potenziale entstehen durch die Wirkung von Neurotransmittern auf postsynaptische Rezeptoren und reflektieren damit unmittelbar kortikale neurochemische Aspekte. Das Wissen darüber, welche Kortexareale an der Generierung des EEG oder bestimmter EKP beteiligt sind, ist in den letzten Jahren durch intrakranielle Ableitungen, magnetenzephalografische Untersuchungen, Läsionsstudien, tierexperimentelle Untersuchungen, funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) deutlich erweitert worden. Für die P300 ist z. B. gezeigt worden, dass der Gyrus temporalis superior und der parietale Kortex, aber auch andere Kortexareale involviert sind. Im Hippocampus ist ebenfalls eine hochamplitudige P300 ableitbar, die jedoch vermutlich keinen wesentlichen direkten Beitrag zu der an der Kopfhaut abgeleiteten P300 leistet. Die in den letzten Jahren eingeführte kombinierte (simultane) Ableitung von EEG und fMRT erlaubt die Verbindung der jeweiligen Stärken dieser Techniken, d. h. die hohe zeitliche (EEG) und räumliche (fMRT) Auflösung, und hat weitere wichtige Erkenntnisse über die Generatoren ereigniskorrelierter Aktivität und deren Aktivierung im Zeitverlauf ermöglicht (Mulert et al. 2004 a, b, 2005).
24.2.5
Vor- und Nachteile des EEG und der EKP
EEG- und EKP-Parameter bilden direkt die kortikale neuronale Massenaktivität, man könnte sagen die
»Hirnrindenmelodie«, ab. Dies leistet kein anderes Untersuchungsinstrument. FMRT, SPECT (Single-Photonen-Emissions-Computertomografie) oder PET (Positronenemissionstomografie) erlauben lediglich eine indirekte Beurteilung der zentralnervösen Funktion durch Messung metabolischer Aspekte wie Blutfluss, Oxygenierung, und Glukosemetabolismus oder durch Markierung von Bindungsstellen für Neuromodulatoren. Ob metabolische Änderungen Ausdruck vermehrter inhibitorischer oder exzitatorischer Aktivität sind oder in welchem Frequenzbereich die Änderungen der neuronalen Aktivität liegen, kann hierbei nicht unterschieden werden. In ⊡ Tab. 24.2 sind die Vor- und Nachteile des EEG/EKP und des fMRT gegenübergestellt. Die hohe zeitliche Auflösung der EEG/EKP-Methode ist ein entscheidender Vorteil, da kognitive Prozesse im Millisekundenbereich ablaufen und deshalb beim Menschen nur mit diesem Verfahren untersuchbar sind. Weiter kann das EEG auch bei wenig kooperationsfähigen Patienten abgeleitet werden. Cave Für das Oddball-Paradigma zur Untersuchung der P300 ist jedoch eine gewisse Kooperationsfähigkeit Voraussetzung, so dass z. B. die Ableitung der P300 bei Patienten mit schwerer Demenz meist nicht mehr möglich ist.
EEG und EKP sind nicht geeignet, zerebrale Läsionen zu entdecken und zu lokalisieren. Ein Grund hierfür ist die Tatsache, dass nur aktives kortikales Gewebe messbare Potenziale generiert. Nicht die Läsionen selbst, sondern Effekte dieser Läsionen auf die Funktion der noch aktiven kortikalen Strukturen werden sichtbar. Zu bedenken ist auch, dass das EEG zwar sehr empfindlich kortikale Prozesse, subkortikale Prozesse aber nur indirekt oder gar nicht abbildet. Die wichtigsten Anwendungsbereiche von EEG und EKP in der Psychiatrie liegen in der Diagnose und Differenzialdiagnose von hirnorganischen Prozessen
⊡ Tab. 24.2. Vor- und Nachteile des EEG/EKP und des fMRT EEG/EKP
fMRT
Zeitauflösung
Millisekunden
mehrere Sekunden
Räumliche Auflösung
2 cm
mm
Was wird gemessen?
Synchronisierte postsynaptische Potenziale
Änderungen des Blutflusses und der Oxygenierung
Welche Hirnstrukturen werden erfasst?
Kortex
Kortikale und subkortikale Strukturen
Nicht erfasst werden
Unsynchronisierte Aktivität
nicht-stimulus-gekoppelte Aktivität
Änderungen in der Synchronisation
sehr kurze Aktivitätsänderungen Weitere Beschränkungen
Kontrolle unspezifischer Faktoren (z. B. Vigilanz) problematisch
24
536
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
und von psychischen Störungen im Rahmen epileptischer Aktivität sowie in der Beurteilung hirnelektrischer Veränderungen unter einer Behandlung mit Psychopharmaka.
24
24.3
EEG/EKP und organische psychische Störungen
24.3.1
Demenzen
Alzheimer-Demenz Die klassischen Veränderungen bei visueller und quantitativer EEG-Analyse von Patienten mit leichter und mittlerer Alzheimer-Demenz zeigen sich als: Zunahme der relativen und absoluten θ-Aktivität, Verlangsamung der α-Grundaktivität, Abnahme der β-Aktivität, Zunahme der δ-Aktivität, Amplitudenabnahme und Latenzzunahme der P300. Bei Verwendung der quantitativen EEG ist der sensitivste Parameter, der auch Patienten mit leichter AlzheimerDemenz von gleichaltrigen gesunden Personen trennt, der Anstieg der relativen θ-Aktivität (Szelies et al. 1994;
⊡ Abb. 24.3. a EEG eines 72-jährigen Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz (Mini-Mental-State-Examination: 26 Punkte) im Vergleich zu einem Normalbefund. b Bei dem Patienten findet sich
Soininen et al. 1991; Penttilä et al. 1985; Coben et al. 1985, 1990). Eine Verlangsamung der α-Grundaktivität auf 8 Hz oder darunter findet sich ebenfalls bereits bei Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz (ca. 40%; Prinz u. Vitiello 1989) und bei der Mehrzahl der Patienten mit mittlerer Alzheimer-Demenz. Hilfreich ist das Vorliegen eines Vor-EEG, anhand dessen z. B. eine Verlangsamung von 11 auf 9 Hz erkannt und als pathologisch eingestuft werden könnte. Das EEG eines Patienten mit leichter Alzheimer-Demenz im Vergleich zu einem Normalbefund zeigt ⊡ Abb. 24.3a, b.
Sensitivität und Spezifität Bei der diagnostisch schwierigen Patientengruppe mit leichter Alzheimer-Erkrankung berichten die meisten Studien von einer lediglich mäßigen Sensitivität der EEGParameter (Prozentsatz der Alzheimer-Demenz-Patienten mit pathologischem EEG: 20–40%), wenn die Spezifität (Prozentsatz der Patienten ohne AlzheimerDemenz und mit unauffälligem EEG) bei 100% liegt (Coben et al. 1990; Prinz u. Vitiello 1989; Brenner et al. 1986). Auch bei diesen hohen Anforderungen an die Spezifität kann bei leichter Alzheimer-Demenz eine höhere Sensitivität von 83% erreicht werden, wenn sowohl die Frequenz als auch die Kohärenz der EEG-Aktivität be-
eine verlangsamte Grundaktivität von ca. 6/s gegenüber 10/s im Normalbefund. Der erhöhte Anteil langsamerer Frequenzen wird durch die Powerspektralanalysen verdeutlicht und quantifizierbar
537 24.3 · EEG/EKP und organische psychische Störungen
rücksichtigt wird (Leuchter et al. 1987). Bei Patienten mit mittlerer bis schwerer Demenz erhöht sich die Sensitivität des EEG auf Werte über 90% (z. B. Robinson et al. 1994). Insgesamt 96% der Patienten mit histologisch gesicherter Alzheimer-Demenz mittlerer oder schwerer Ausprägung wiesen in der Untersuchung von Soininen et al. (1992) ein pathologisches EEG auf. P300. Die klinische Bedeutung der P300 für die Diagnose
und Differenzialdiagnose der Demenz wurde von Pfefferbaum et al. (1990) im Rahmen eines Literaturüberblicks kritisch diskutiert. Weitgehend übereinstimmend weisen Patienten mit Demenz eine Amplitudenabnahme und Latenzzunahme der P300 auf. In Studien, in denen demente Patienten mit psychiatrischen und neurologischen Patienten ohne Demenz verglichen wurden, lag die Spezifität der P300-Latenz durchweg bei über 80%, während die Sensitivität zwischen 13 und 80% lag. Studien mit schwerer dementen Patienten berichteten dabei erwartungsgemäß meist über höhere Sensitivitäten. Die akustische P300-Latenz erwies sich der visuellen P300-Latenz als überlegen. In diesen z. T. älteren Arbeiten wurden neuere technische Möglichkeiten (Dipolquellenanalyse, Vielkanalableitungen) nur wenig genutzt und meist lediglich die P300-Aktivität im Bereich der zentralen und parietalen Elektroden berücksichtigt. Interessanterweise wurde über frontalen Hirnregionen bei Patienten mit leichter bis mittlerer Alzheimer-Erkrankung eine Amplitudenzunahme der P300 beobachtet (Maurer u. Dierks 1992).
Instrument für die Differenzialdiagnose Die mäßige Sensitivität des EEG und der EKP bei leichter Alzheimer-Erkrankung bedeutet, dass ein unauffälliger EEG-Befund bei Verdacht auf beginnende Alzheimer-Erkrankung für den Kliniker wenig hilfreich ist. Das EEG ist deshalb so wie auch andere apparative Untersuchungsverfahren in diesem Fall als diagnostischer Test wenig geeignet. Anderseits bedeutet die hohe Spezifität der EEG-Veränderungen bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung gegenüber nichtdementen Kontrollen, dass eine Zunahme der relativen θ-Aktivität oder eine Verlangsamung der α-Grundaktivität auf 7–8 Hz ein starkes Argument für das Vorliegen einer Demenz ist und gegen das alleinige Vorliegen einer Pseudodemenz bei depressiver oder dissoziativer Störung spricht, die meist mit einem unauffälligen EEG einhergeht (Brenner et al. 1989). Gerade die Abgrenzung einer beginnenden AlzheimerDemenz von depressiven Störungen gehört zu den häufigsten differenzialdiagnostischen Problemen, so dass das EEG hier sehr hilfreich sein kann. Nicht selten ist ein pathologisches EEG der einzige biologische Parameter, der den klinischen Verdacht auf das Vorliegen einer leichten Alzheimer-Erkrankung unterstützt. Bei deutlicher Demenz weisen jedoch die meisten Patienten ein patholo-
gisches EEG auf, und ein unauffälliger EEG-Befund sollte Anlass sein, die Diagnose Alzheimer-Erkrankung zu überdenken (Pogarell u. Hegerl 2003). Schlaf-EEG-Ableitungen könnten hilfreich sein, um Depressionen von Alzheimer-Erkrankungen zu trennen, da teilweise entgegengesetzte Veränderungen bezüglich der REM-Schlafparameter bei diesen beiden Störungen beschrieben worden sind. Depressive weisen z. B. einen höheren und Demente einen niedrigeren relativen Anteil an REM-Schlaf auf (Reynolds et al. 1985). Systematische Untersuchungen zur differenzialdiagnostischen Brauchbarkeit sind den Autoren hierzu nicht bekannt.
Vaskuläre Demenz Die vaskuläre Demenz (VD; z. B. Multiinfarktdemenz, subkortikale vaskuläre Demenz) ist eine häufige Differenzialdiagnose der Alzheimer-Erkrankung. Hier ist die strukturelle Bildgebung hilfreich, um Informationen über die Lokalisation und das Ausmaß der Läsionen zu gewinnen. Aber auch das EEG kann diagnostische Hinweise liefern: Fokale und asymmetrische langsame Aktivität sprechen eher für eine VD als für eine Alzheimer-Erkrankung (Sloan u. Fenton 1993; Erkinjuntti et al. 1988; Logar et al. 1987). Leuchter et al. (1987) berichteten, dass sich mit Hilfe der EEG-Frequenz und Kohärenz 92% (22 von 24) der Personen korrekt den Gruppen Multiinfarktdemenz (n = 6), Alzheimer-Erkrankung (n = 12) oder gesunde Kontrollen (n = 6) zuordnen lassen. Von besonderem Interesse ist auch eine andere sorgfältige Studie, in der 50 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung mit 37 VD-Patienten und 36 älteren gesunden Probanden verglichen wurden (Signorino et al. 1995). Es wurde gefunden, dass der Frequenzgipfel der dominanten Aktivität im Frequenzbereich von 6,5–12 Hz bei nur 44% der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung erhalten war, dagegen in 97,3% der VD-Patienten. Das Verschwinden einer dominanten Grundaktivität wäre demnach ein starkes Argument gegen das Vorliegen einer vaskulären Demenz. Ähnliche Ergebnisse wurden von Rosén et al. (1993) berichtet. ! Diese Befunde dürften dadurch zu erklären sein, dass bei VD meist subkortikale Läsionen vorliegen. Das EEG wird jedoch kortikal generiert und ist deshalb bei subkortikalen Demenzformen trotz schweren demenziellen Abbaus in manchen Fällen nicht pathologisch verändert. Nach diesen Befunden kann das EEG durchaus auch hilfreich sein für die Differentialdiagnose zwischen Alzheimer-Erkrankung und VD.
Demenzen mit frontalen und subkortikalen Veränderungen Zu den Demenzen mit frontal betonter kortikaler Degeneration zählen die Pick-Erkrankung und die frontotem-
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Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
porale Degeneration. Subkortikale Demenzen sind z. B. die Parkinson-Erkrankung mit Demenz, Alkoholdemenz und Demenz bei Normaldruckhydrozephalus. Bei diesen Demenzen wird häufig ein unauffälliges EEG gefunden und nicht selten steht ein normales EEG in Kontrast zu dem schweren klinischen Bild. Dies wurde z. B. von Förstl et al. (1996) in einer Studie bei Patienten mit klinisch diagnostizierter frontotemporaler Degeneration (FtD) beobachtet. Obwohl die meisten Patienten eine mittlere oder schwere Demenz aufwiesen (mittlerer Score im Mini Mental State Examination/MMSE = 15,4) unterschieden sich die FTD-Patienten nicht von gesunden Kontrollen bezüglich der EEG-Aktivität. Ähnliches wurde für die Pick-Erkrankung, die Demenz bei Alkoholabhängigkeit, bei Parkinson-Erkrankung und bei Normaldruckhydrozephalus beschrieben (Brown u. Goldensohn 1973; Stigsby et al. 1981; Newman 1978; Rosén et al. 1993; Mitsuyama 1993; Gustafson et al. 1990; Julin et al. 1995). Ausgehend von diesen Befunden wurde die Elektroenzephalografie von Neary et al. (1998) als wichtiges differenzialdiagnostisches Kriterium bei frontotemporalen Demenzen (FTD) vorgeschlagen; bei ausschließlich visueller Analyse scheint die Differenzierung zwischen der Gesamtgruppe dieser Demenzen und der AlzheimerKrankheit (AD) hierbei weniger exakt zu sein und erfasst vermutlich vorwiegend die Patienten mit im Vordergrund stehender frontaler Degeneration (klassischer M. Pick) (Chan et al. 2004). Mit Hilfe einfacher quantitativer EEGAnalysen konnten Lindau et al. (2003) jedoch zeigen, dass sich Patienten mit FTD und AD signifikant hinsichtlich des Musters der EEG-Veränderungen unterscheiden: bei FTD fand sich im Vergleich zur AD ein signifikant geringerer Anteil langsamer Aktivität. ! Ein pathologisches EEG bei leichter Demenz ist ein Argument für das Vorliegen einer AlzheimerErkrankung und spricht eher gegen die oben genannten Diagnosen. Umgekehrt sollte ein normales EEG bei einem Patienten mit schwerer Demenz ein Anlass sein, die Diagnose Alzheimer-Demenz kritisch zu prüfen.
Differenzierung subkortikaler vs. kortikaler Demenzen Einige Autoren postulierten, dass sich subkortikale von kortikalen Demenzen anhand der EKP differenzieren lassen (Goodin u. Aminoff 1986). Sie stellten fest, dass Patienten mit Alzheimer-Erkrankung (kortikale Demenz) nur eine Verlängerung der P300-Latenz (AEP), demenzielle Patienten mit Morbus Huntington oder Morbus Parkinson (subkortikale Demenz) dagegen zusätzlich Latenzverlängerungen früher Komponenten (N1- und P2-
Komponente, ⊡ Abb. 24.1) aufwiesen. Etwas im Widerspruch hierzu stehen jedoch Arbeiten, die auch bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung Latenzverlängerungen früherer Komponenten fanden (Pollock et al. 1989; St. Clair et al. 1985). Bei Patienten mit Normaldruckhydrozephalus wurden vor Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts verlängerte P300-Latenzen nachgewiesen. Nach Shuntanlage kam es in allen Fällen (n = 7) zu einer Latenzabnahme, die allerdings in keinem klaren Verhältnis zu den Besserungen in den neuropsychologischen Tests stand (Naka et al. 1996 a). Prüfenswert wäre, ob anhand der P300 oder des EEG vor/nach einer probatorischen Liquorpunktion der Erfolg einer eventuellen Shuntoperation vorausgesagt werden könnte.
Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung Die Mehrzahl der Patienten mit sporadischer CreutzfeldtJakob-Krankheit (CJK) entwickelt ein typisches periodisches EEG-Muster mit generalisierten repetitiven mono-, bi- oder triphasischen Wellen in einem Zeitintervall von 0,5–1,5 s. Diese Veränderungen können häufig durch akustische Stimuli provoziert und getriggert werden. Im klinischen Kontext tragen diese EEG-Muster als wichtiges Diagnosekriterium entscheidend zur Stützung der Diagnose einer CJK bei, obwohl es sich letztendlich nicht um pathognomonische Befunde handelt (Bortone et al. 1994; Zschocke 1995). Periodische Muster wurden vereinzelt auch bei Patienten mit rasch progredienter Alzheimer-Demenz oder anderen schweren Enzephalopathien beschrieben. In einer kontrollierten Untersuchung dieser EEG-Veränderungen bei CJK wurde eine Sensitivität und Spezifität von 67% bzw. 86% ermittelt. Die Sensitivität (d. h. der Anteil der positiven Untersuchungsbefunde bei tatsächlichem Vorliegen der Krankheit) kann durch wiederholte EEG-Ableitungen mit der Präsentation externer akustischer, taktiler und/oder visueller Stimuli (Steinhoff et al. 1998) oder auch durch die Kombination der neurophysiologischen Diagnostik (periodische Muster) mit einer Liquoruntersuchung (Nachweis des Proteins 14-3-3) bis auf über 90% verbessert werden (Zerr et al. 2000 a). Neuere genetische Untersuchungen der CJK zeigten, dass die unterschiedlichen Phänotypen mit Polymorphismen im Prionprotein-Gen korrelieren. Ebenso fand sich eine Abhängigkeit des Auftretens periodischer Komplexe im EEG vom Genotyp. Bei den selteneren Varianten treten keine typischen elektrophysiologischen Veränderungen auf, so dass das EEG in diesen Fällen weniger hilfreich ist (Zerr et al. 2000 b). Auch bei den übrigen (familiären oder übertragbaren) spongiformen Enzephalopathien, einschließlich der sog. neuen Variante der CreutzfeldtJakob-Krankheit (vCJK) finden sich keine periodischen Muster, sondern lediglich unspezifische elektroenzephalografische Befunde (Johnson u. Gibbs 1998).
539 24.3 · EEG/EKP und organische psychische Störungen
Demenz bei Krankheit durch das humane Immundefizienz-Virus (HIV) Das EEG kann frühzeitig Hinweise auf eine zerebrale Beteiligung bei HIV-Infektion geben. Bei einem Vergleich asymptomatischer HIV-seropositiver und HIV-seronegativer Männer wiesen bei visueller EEG-Auswertung 30% (bei einer Nachuntersuchung nach 6–9 Monaten 40%) der seropositiven Personen EEG-Auffälligkeiten auf, dagegen keine der seronegativen Kontrollen (Koralnik et al. 1990). Ähnliche Befunde wurden von anderen Arbeitsgruppen vorgelegt (Parisi 1989; Parisi et al. 1989; Elovaara et al. 1991). Mehrere Autoren berichten im Vergleich zu gesunden Kontrollen über eine verlängerte P300-Latenz v. a. der AEP bei nichtdementen Patienten mit symptomatischer HIV-Infektion (Schroeder et al. 1994; Baldeweg et al. 1993; Ollo et al. 1991), während die Ergebnisse hinsichtlich der Patienten mit asymptomatischer HIV-Infektion nicht durchweg konsistent sind (Schroeder et al. 1994; Connolly et al. 1994; Ragazzoni et al. 1993). P300-Latenzverlängerungen bei asymptomatischen HIV-positiven Patienten wurden von einigen Autoren auch dann gefunden, wenn konfundierende Variablen wie vermehrter Drogenkonsum oder vorbestehende zentralnervöse Störungen kontrolliert wurden (z. B. Schroeder et al. 1994). Zudem ließen sich in Längsschnittuntersuchungen über ein Jahr an HIV-positiven Personen signifikante P300-Latenzzunahmen nachweisen (Messenheimer et al. 1992). Übereinstimmend wird auch ein Zusammenhang zwischen der P300-Latenzverlängerung und der psychomotorischen Verlangsamung, die ein Frühsymptom bei HIV-Patienten mit zentralnervöser Beteiligung darstellt, berichtet (Baldeweg et al. 1993; Arendt et al. 1993).
24.3.2
Organisches amnestisches Syndrom
Da bei dem organischen amnestischen Syndrom (alkohol- oder nichtalkoholbedingtes Korsakow-Syndrom) meist eine umschriebene Läsion oder Funktionsstörung im dienzephalen und mesiotemporalen Bereich bei weitgehend ungestörter kortikaler Funktion vorliegt, sind das EEG und die P300 meist unauffällig. So wurde bei 16 Patienten mit Korsakow-Syndrom trotz schwerer Gedächtnisstörungen eine unauffällige P300 beobachtet, bei allerdings gegenüber gesunden Kontrollen verkleinerten N1und P2-Komponenten (St. Clair et al. 1985). Ähnliches wurde z. B. von Squires et al. (1979) bei einem amnestischen Patienten nach Herpesenzephalitis beschrieben. Die unauffälligen neurophysiologischen Befunde können dem Kliniker den wichtigen Hinweis geben, dass die Ursache der schweren mnestischen Störung nicht in einer globalen, sondern einer fokalen Funktionsstörung liegt.
24.3.3
Metabolische Enzephalopathie mit Demenz oder Delir
Bei metabolischen Enzephalopathien ist meist eine Allgemeinveränderung zu finden. Bei der hepatischen Enzephalopathie ist ein Zusammenhang zwischen der Frequenzverlangsamung im EEG und dem Ammoniakspiegel im Blut beschrieben worden (Kiloh et al. 1972). Bei zunehmender Bewusstseinsstörung, vereinzelt aber auch bei nicht bewusstseinsgestörten Patienten sind triphasische Wellen (Intervall 1,5–3/s) zu finden, ein für die hepatische Enzephalopathie relativ typisches EEG-Muster (Zschocke 1995).
24.3.4
Delir
Das EEG kann wichtige Hinweise nicht nur auf das Vorliegen sondern auch auf die Ursache eines Delirs liefern. Bei den meisten Patienten mit Delir findet sich ein Vorherrschen z. T. höhergespannter langsamer Aktivität aus dem θ- und δ-Bereich, wobei diese Verlangsamung mit der Schwere der Bewusstseinsstörung korreliert und zur Verlaufsbeurteilung geeignet ist (Brenner 1991). Eine Ausnahme bilden Patienten mit Entzugsdelir bei Alkohol- oder Benzodiazepinabhängigkeit. Diese Patienten weisen oft eine niedrigamplitudige rasche Aktivität auf. Ein diffus verlangsamtes EEG würde bei einem deliranten Bild demnach eher gegen und ein EEG ohne diffuse Verlangsamung für das Vorliegen eines Entzugsdelirs sprechen. Differenzialdiagnose zur Demenz. Für die Differenzial-
diagnose Delir vs. Demenz kann hilfreich sein, dass die Verlangsamung im EEG bei Delir in der Regel deutlicher ausgeprägt ist als bei Demenz. Dies gilt allerdings nicht für das Entzugsdelir. Differenzialdiagnose zu fokalen Schäden und zum aphasischen Syndrom. Für die Abgrenzung eines Delirs oder
einer Demenz von Syndromen mit einer fokalen zerebralen Ursache wie einem amnestischen Syndrom bei Wernicke-Korsakow-Enzephalopathie oder einem aphasischen Syndrom bei z. B. linkshemisphäraler Durchblutungsstörung kann das EEG ebenfalls wegweisend sein. Bei der Wernicke-Korsakow-Enzephalopathie ist, wie oben erwähnt, das EEG trotz schwerer mnestischer Störungen oft weitgehend unauffällig. Die linkshemisphärale Durchblutungsstörung kann initial der strukturellen Bildgebung entgehen oder die Patienten sind für diese Untersuchung nicht ausreichend kooperationsfähig. In diesen Fällen könnte ein linkshemispher Herdbefund im EEG die Differenzialdiagnose Aphasie stützen. Eine frontal betonte, intermittierende, rhythmische Delta-Aktivität (FIRDA) wurde generell mit einer akuten oder subakuten und möglicherweise reversiblen zere-
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Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
bralen Dysfunktion, wie sie mit einem Delir einhergeht, in Verbindung gebracht (Turven u. Penin 1992). Sie wird seltener auch bei Alzheimer-Demenz gefunden, insbesondere bei Beginn der Erkrankung im höheren Alter und langsamer Progression (Striano et al. 1981). Auch wenn die Datenlage zur klinischen Bedeutung der FIRDA noch unbefriedigend ist, so sollte ein derartiges EEG-Muster bei einem Patienten mit der Verdachtsdiagnose Alzheimer-Erkrankung zu einer verstärkten Ausschlussdiagnostik führen.
24.3.5
Nichtkonvulsiver Status epilepticus
Der nichtkonvulsive Status epilepticus (NKSE) stellt eine wichtige Differenzialdiagnose eines breiten Spektrums neurologischer und psychiatrischer Störungen dar und sollte insbesondere auch bei kognitiven Beeinträchtigungen als therapierbare Ursache ausgeschlossen werden. Der NKSE ist definiert durch das Auftreten von kognitiven und/oder Verhaltensauffälligkeiten ohne grobe motorische Symptome, i. e. Konvulsionen (diskrete periorale oder -okuläre Myoklonien sind mit der Diagnose vereinbar), bei gleichzeitigen Hinweisen aus dem EEG auf anhaltende oder intermittierende epilepsietypische Aktivität über einen Zeitraum von 30 min. Als weiteres diagnostisches Kriterium wurde von einigen Autoren (»ex juvantibus«) die gute klinische Response auf Benzodiazepine eingeführt (Guberman et al. 1986; Kaplan 1999; Tatum et al. 2001). Das klinische Bild des NKSE umfasst ein breites Spektrum neuropsychiatrischer Syndrome, zur Abgrenzung gegenüber anderen Störungen ist die neurophysiologische Zusatzdiagnostik obligat. Differenzialdiagnostische Schwierigkeiten ergeben sich in der klinischen Routine insbesondere bei erhaltener Orientierung und gut kompensierter sozialer Anpassung der Patienten, wie nicht selten bei Ursprung des NKSE im Bereich des frontotemporalen Kortex. Klinisch zeigen die Betroffenen z. B. eine leichte Vergesslichkeit mit Benennstörungen, vermehrter Ablenkbarkeit, insbesondere bei komplexeren Tätigkeiten, sowie Stimmungsschwankungen, gegebenenfalls mit leichter Hypomanie. Eine vorschnelle diagnostische Zuordnung z. B. zu den neurodegenerativen demenziellen Syndromen würde in diesen Fällen eine adäquate Therapie verhindern (Tatum et al. 1998; Hogh et al. 2002). Traditionell wird der NKSE entsprechend der Verteilung der epilepsietypischen Aktivität in generalisierte und fokale Status eingeteilt, Die EEG-Diagnose ist letztendlich beweisend, stellt aber große Anforderungen an die Erfahrung des Befunders, da die Kurven häufig artefaktüberlagert sind und sich klassische »3/s-spike-waveMuster« eher selten darstellen. So müssen physiologische rhythmische Muster, müdigkeitsbedingte Verände-
rungen, spezielle Graphoelemente bzw. Muster (SREDA, PLED, BiPLED, triphasische Wellen) sowie andere pathologische epileptiforme Potenziale bzw. rhythmische Delta-Aktivität differenziert werden.
Generalisierter nichtkonvulsiver Status epilepticus Der generalisierte, nichtkonvulsive Status epilepticus (Petit-mal-Status, Absencenstatus) kann dem Psychiater differenzialdiagnostische Schwierigkeiten bereiten, insbesondere wenn er mit lediglich geringer Bewusstseinsstörung einhergeht und über Tage anhaltend ist. Einige Patienten weisen nur leichte Konzentrations- und Orientierungsstörungen auf, bei anderen besteht ein stuporöses Bild mit verminderter Ansprechbarkeit. Teilgeordnetes und sinnvolles Handeln ist manchem Patienten noch möglich. Die Dauer eines derartigen Status kann von Stunden über mehrere Tage bis Wochen anhalten. Wiederholt wurde insbesondere bei älteren Patienten ein derartiger nichtkonvulsiver generalisierter Status epilepticus als Ursache eines plötzlich aufgetretenen Verwirrtheitszustandes ohne bekannte Epilepsie beschrieben. In einer Untersuchung wurde bei 7 von 100 konsekutiven Aufnahmen von Patienten mit unklarem Verwirrtheitszustand ein nichtkonvulsiver Status epilepticus diagnostiziert (Purdie et al. 1981). Nur bei einem Teil der Patienten war eine vorbestehende Epilepsie bekannt. Differenzialdiagnostisch können die bei einem Status epilepticus bestehende vollständige oder teilweise Amnesie sowie der plötzliche Beginn der Symptomatik hilfreich sein. Auch kann das Auftreten einfacher Automatismen, wie Nesteln und Schmatzen oder leichte klonische Bewegungen der Augenlider oder Hände auf ein epileptisches Geschehen hinweisen. Diagnostisch wegweisend ist jedoch das EEG, das typischerweise 2–4/s-SW-Aktivität aber auch irregulärere Poly-SW-Aktivität zeigt. In ⊡ Abb. 24.4 ist das EEG eines Patienten zu sehen, der sich mit einem Verwirrtheitszustand in der Poliklinik vorstellte. Erst mit dem EEG konnte die Diagnose eines generalisierten, nichtkonvulsiven Status epilepticus gestellt werden. Dass die regelmäßige, frontal betonte δ-Aktivität Ausdruck eines Status epilepticus ist, wird nur in den Abschnitten deutlich, in denen sich auch die Spitzen im Oberflächen-EEG abbilden und vollständige SW-Muster erkennbar werden.
Fokaler nichtkonvulsiver Status epilepticus Der fokale, nichtkonvulsive Status epilepticus ist ein eher seltenes Krankheitsbild, das aber klinisch ebenso als Delir in Erscheinung treten kann. Der Status kann über mehrere Tage, vereinzelt auch über Wochen andauern. Im EEG wird häufig eine uni- oder bilaterale, temporale epilepsietypische Aktivität nachzuweisen sein, z. T. auch lediglich als rhythmische temporale θ- oder δ-Aktivität ohne im Oberflächen-EEG sichtbare Spitzen (Blume et al. 1984).
541 24.3 · EEG/EKP und organische psychische Störungen
⊡ Abb. 24.4. EEG eines 20-jährigen Mannes, der sich mit einem unklaren Verwirrtheitszustand in der Poliklinik vorstellte. Es finden sich vorherrschend generalisierte, hochamplitudige, sinusoidale 3–4/sWellen. Diese geben sich erst im späteren Ableiteverlauf, als auch die
Sowohl generalisierte wie auch fokale NKSE können selten als Komplikation einer Elektrokonvulsionstherapie (EKT) auftreten (Povlsen et al. 2003; Pogarell et al. 2005 a); bei klinischem Verdacht eines EKT-induzierten NKSE sollte unmittelbar die entsprechende neurophysiologische Diagnostik erfolgen. Da das EEG nach EKT häufig per se bereits unspezifische, teils auch rhythmische Veränderungen zeigt, kann ergänzend ein »Benzodiazepin-Test« (EEG-Ableitung nach Gabe einer Testdosis eines rasch wirkenden Benzodiazepins, z. B. Lorazepam) hilfreich sein. Eine EEG-Normalisierung und klinische Befundbesserung unter Benzodiazepinen stützt die Verdachtsdiagnose eines NKSE (Pogarell et al. 2005 a, 2006 a).
24.3.6
EEG vs. funktionelle und strukturelle Bildgebung bei Demenz
EEG vs. SPECT. Der relative diagnostische Wert des EEG
und des SPECT bei Patienten mit leichter bis mittlerer Alzheimer-Demenz (n = 43), VD (n = 25) und depressiver Störung (n = 29) wurde von Sloan et al. 1995 untersucht. Bei vergleichbarer Sensitivität zeichnet sich das EEG gegenüber dem SPECT durch eine höhere Spezifität aus. Bei
dazugehörigen steilen Wellen (grau hervorgehoben) zur Darstellung kommen, als Teil einer iktualen Aktivität zu erkennen. Anhand des EEG kann die Diagnose eines generalisierten, nichtkonvulsiven Status epilepticus gestellt werden
visueller EEG-Auswertung durch hinsichtlich der Diagnose blinde Rater wurden 77% der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung, 76% der VD-Patienten und 79% der Patienten mit depressiven Störungen richtig klassifiziert. Mit Hilfe des SPECT, das ebenfalls blind ausgewertet wurde, wurden 63% der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung, 80% der VD-Patienten und nur 55% der Patienten mit depressiven Störungen richtig klassifiziert. Die Überlegenheit von quantitativem EEG gegenüber SPECT bei der Abbildung kortikaler Funktionsstörungen bei Alzheimer-Erkrankung wurde von anderen Autoren bestätigt (Montplaisir et al. 1996). Bei Kombination von EEG und SPECT konnten 100% der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung und 96% der VD-Patienten richtig klassifiziert werden. EEG vs. PET. Auch bei einer vergleichenden Untersuchung der relativen diagnostischen Wertigkeit des quantitativen
EEG und des FDG-PET (18-Fluor-Deoxyglukose-PET) an 24 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung (leicht bis mittel), 19 VD-Patienten und 15 Kontrollpersonen wiesen einfache EEG-Parameter wie die relative θ-Power und der okzipitofrontale α-Quotient eine vergleichbare Trennschärfe auf wie globale oder regionale Maße der Glukoseutilisation. Die diagnostische Spezifität konnte durch eine Kombination von PET und EEG verbessert werden
24
542
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
⊡ Tab. 24.3. Organische psychische Störungen mit patholo-
REM-Schlaf-EEG
(Szelies et al. 1994). Auf die komplementäre Rolle des EEG und der funktionellen Bildgebung wurde auch von Sloan et al. (1995) hingewiesen.
Das tonische REM-Schlaf-EEG wurde unter Verwendung autoregressiver Techniken und Spektralanalyseverfahren ausgewertet. Es zeigte sich, dass diese Verfahren hilfreich sind für die Frühdiagnose der Demenz vom AlzheimerTyp (Prinz et al. 1992). Insgesamt 39 Patienten mit leichter Alzheimer-Erkrankung (MMSE = 23 ± 0,9) wurden mit 43 gesunden Kontrollen verglichen. 74–92% der Patienten mit Alzheimer-Erkrankung und 95–98% der gesunden Kontrollpersonen konnten korrekt klassifiziert werden. Diese vielversprechenden Ergebnisse mit dem quantitativen REM-Schlaf-EEG werden von anderen Autoren bestätigt (Montplaisir et al. 1996; Petit et al. 1992). Die größere diagnostische Trennschärfe des REM-EEG gegenüber dem Wach-EEG könnte dadurch zu erklären sein, dass cholinerge kortikale Projektionen, die bei der Alzheimer-Erkrankung beeinträchtigt sind, eine besondere Rolle bei der EEG-Desynchronisation im REM-Schlaf spielen.
EEG vs. CT und MRT. Bei struktureller Bildgebung mit üb-
P300
licher visueller Analyse der CT- oder MRT-Bilder ist die diagnostische Sensitivität bei Alzheimer-Erkrankung vergleichbar mit der des EEG, während die Spezifität niedriger ist (z. B. DeCarli et al. 1990). Das EEG weist zudem einen engeren Bezug zu kognitiven Dysfunktionen und Verlaufsaspekten auf als Atrophiezeichen im CT (Schreiter-Gasser et al. 1994; Kaszniak et al. 1979, 1978). Dies entspricht der klinischen Erfahrung, dass eine kortikale und subkortikale Atrophie im CT oder MRT kein ungewöhnlicher Befund bei alten nichtdementen Personen ist. Durch aufwendige volumetrische CT-Analysen lässt sich die Sensitivität und Spezifität deutlich verbessern. Derartige Verfahren stehen den Klinikern jedoch bisher nicht routinemäßig zur Verfügung. Der Vorteil der strukturellen Bildgebung im Vergleich zum EEG bei der Diagnose und Differenzialdiagnose der Alzheimer-Erkrankung ist ihre Bedeutung für den Ausschluss wichtiger Differenzialdiagnosen wie Multiinfarktdemenz, Normaldruckhydrozephalus, subdurales Hämatom oder Hirntumoren. Aber auch hier erweisen sich EEG und strukturelle Bildgebung als komplementäre Verfahren. In ⊡ Tab. 24.3 sind Störungen aufgeführt, die mit einem pathologischen EEG bei unauffälliger struktureller Bildgebung einhergehen.
Die P300 ist ein interessantes Untersuchungsinstrument im Bereich der Alzheimer-Erkrankung, da die P300-Latenz und Amplitude in enger Beziehung zu kognitiven Prozessen stehen, die P300-Latenz und Amplitude mit der cholinergen Funktion in Zusammenhang stehen (Review bei Charles u. Hansenne 1992; Hegerl et al. 1996), eine Verkürzung der P300-Latenz unter Behandlung mit Nootropika bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung oder altersassoziierter Gedächtnisstörung gefunden wurde (Semlitsch et al. 1995; Saletu et al. 1995) und sogar bei leichter Alzheimer-Erkrankung die P300-Latenz verlängert und die P300-Amplitude verkleinert ist (Polich et al. 1990; Pfefferbaum et al. 1990).
gischem EEG und unauffälliger struktureller Bildgebung Ischämie ohne Infarkt
δ- und θ-Fokus
Enzephalopathie bei z. B. Nierenversagen, Intoxikation, Medikamentenneurotoxizität
Allgemeinveränderung
Hepatische Enzephalopathie
Triphasische Wellen
Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung
Generalisierte, periodische triphasische Wellen
Generalisierter, nichtkonvulsiver Status epilepticus
Generalisierte Spike-waveAktivität
Fokaler, nichtkonvulsiver Status epilepticus
Fokal betonte, iktuale Erregungssteigerung
24
24.3.7
Perspektiven
Um den diagnostischen Wert des EEG und der EKP bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung zu verbessern, wurden in den letzten Jahren die Verfahren der quantitativen EEG-Analyse mit vielversprechenden ersten Ergebnissen weiterentwickelt. Auf 3 Beispiele soll nachfolgend eingegangen werden.
Trotz dieser vielversprechenden Eigenschaften wird die klinische Bedeutung der P300 für die Diagnose und Differenzialdiagnose der Alzheimer-Erkrankung kontrovers diskutiert (Pfefferbaum et al. 1990; Goodin 1990). Problematisch ist insbesondere die nur mäßige Reliabilität der P300-Parameter, die zu einer beträchtlichen Überlappung der P300-Latenzen und Amplituden zwischen Patienten mit Alzheimer-Erkrankung und altersgematchten gesunden Kontrollen führt. Die Dipolquellenanalyse hat sich hier als ein bedeutsamer methodischer Fortschritt erwiesen, der zu einer deutlichen Verbesserung der Test-Retest-Reliabilität der Hauptkomponente der P300 führt und damit die Vorbedingungen für eine mögliche klinische Anwendung der P300 im diagnostischen Prozess der Alzheimer-Erkrankung schafft (Hegerl u. FrodlBauch 1997). Zudem konnte gezeigt werden, dass auch die physiologische Validität der P300-Parameter verbessert
543 24.4 · EEG/EKP bei affektiven, schizophrenen und Persönlichkeitsstörungen
wird, da die getrennten P300-Subkomponenten funktionell unterschiedliche Prozesse abbilden und sich z. B. in ihrer Altersabhängigkeit signifikant unterscheiden. Unter Verwendung dieser verbesserten Methodik ist zu untersuchen, ob die P300, die einen Bezug zur cholinergen Neurotransmission aufweist, geeignet ist, bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung das individuelle Ansprechen auf Azetylcholinesterasehemmer vorherzusagen.
Verlaufsbeobachtungen Das EEG und die P300 sind nichtinvasiv, kostengünstig und deshalb wie kein anderes Verfahren für serielle Untersuchungen zur Verlaufsbeobachtung geeignet. Dies ist ein sehr gewichtiger Vorteil dieser neurophysiologischen Verfahren, da objektiven Verlaufsparametern unter einer Behandlung mit Cholinagonisten eine zunehmende klinische Bedeutung zukommen wird. Derartige, die klinische Beurteilung ergänzende Parameter können für den behandelnden Arzt ein hilfreicher Hinweis sein, ob bei einem bestimmten Patienten die Medikation zu einer Verbesserung der zentralnervösen Funktion führt oder wegen Unwirksamkeit besser abzusetzen wäre, v. a. im Hinblick auf das relativ kleine Nutzen-Risiko-Verhältnis der zur Verfügung stehenden Antidementiva. Neurochemische Post-mortem-Untersuchungen ergaben, dass die Verlangsamung der Grundaktivität mit der zentralen cholinergen, nicht aber dopaminergen, noradrenergen oder serotonergen Funktion in Beziehung steht (Soininen et al. 1992). Dass sich sowohl Verschlechterungen des klinischen Bildes als auch kognitive Besserungen unter Nootropika in EEG- und P300-Parametern widerspiegeln, wurde vielfach gezeigt (Coben et al. 1985; Heiss et al. 1994; Semlitsch et al. 1995; Saletu et al. 1995). Ob die Aussagekraft der EEG- und EKP-Parameter ausreicht, um für die individuelle Therapieplanung bei Patienten mit demenziellen Prozessen hilfreich zu sein, wird weiter untersucht.
24.4
EEG/EKP bei affektiven, schizophrenen und Persönlichkeitsstörungen
Im Bereich der affektiven und schizophrenen Störungen sind EEG und EKP ein Forschungsinstrument geblieben und für den klinisch tätigen Psychiater überwiegend unter dem Aspekt der neurologischen Ausschlussdiagnostik von Bedeutung. EEG-Vigilanzdynamik. Von einigem Interesse sind Bezie-
hungen zwischen psychopathologischen Syndromen und der EEG-Vigilanzdynamik. Während unter physiologischen Bedingungen im Rahmen einer Ruheableitung mit geschlossenen Augen nach einigen Minuten Übergänge vom Wachzustand (A1) in subvigile EEG-Stadien (B1 bis B2) zu beobachten sind, ist das EEG der Patienten mit
gehemmt-depressiven Syndromen häufig durch eine Rigidität der Vigilanzregulation charakterisiert. Die Patienten zeigen während der gesamten 10-minütigen Ruheableitung durchgehend eine wenig modulierte, gleichförmige, leicht verlangsamte und über vorderen und temporalen Hirnregionen ausgebreitete Grundaktivität (Stadium A2). Bei Patienten mit manischen Syndromen dagegen sind nicht selten bereits zu Beginn der Ableitung rasche Vigilanzabfälle bis in Schlafstadien zu beobachten (Ulrich 1994). Die Bedeutung dieser Zusammenhänge für die Diagnostik wird durch die geringe Sensitivität und Spezifität der Änderungen in der Vigilanzdynamik und durch modifizierende psychopharmakologische Einflüsse eingeschränkt. Quantitative EEG-Auswertung. Die Hoffnung, mit quan-
titativer EEG-Auswertung neurophysiologische Parameter als diagnostisches Hilfsmittel einsetzen zu können, hat sich nicht erfüllt. Es wurden zwar konsistente Unterschiede zwischen Gesunden und Patienten mit schizophrenen oder affektiven Störungen berichtet – schizophrene Patienten weisen z. B. kleinere P300-Amplituden als gesunde Probanden auf – diese Unterschiede erwiesen sich jedoch als zu wenig diagnosespezifisch. Amplitudenreduktionen der P300-Komponente wurden auch bei anderen Patientengruppen wie alkoholabhängigen, dementen oder depressiven Patienten gefunden (Blackwood et al. 1987 a, b; Thier et al. 1986; Diner et al. 1985). Zudem sind die in den meisten Arbeiten bei Patienten beschriebenen Veränderungen in Anbetracht der großen interindividuellen Varianz zu gering, um für die individuelle Diagnosestellung bedeutungsvoll werden zu können. Dies muss nicht unbedingt gegen die EKP sprechen, sondern könnte auch Ausdruck der unbefriedigenden Reliabilität und Homogenität der klassischen psychiatrischen Diagnosen sein. Neurometrics. Bemerkenswert sind in diesem Zusam-
menhang die Ergebnisse der Arbeitsgruppe um R. John (z. B. John et al. 1994) die den diagnostischen Wert von EEG und EKP bei psychischen Erkrankungen in systematischer Weise mit aufwendiger Methodik und multivariater Auswertung und in Bezug auf große Normkollektive untersucht hat. Nach den Ergebnissen dieser Arbeitsgruppe lassen sich mit Hilfe von EEG/EKP-Merkmalen die psychiatrischen Diagnosen recht gut abbilden und auch prädiktive Aussagen hinsichtlich der Therapieresponse machen. Einer breiten Anwendung dieses mit »neurometrics« bezeichneten Verfahrens stehen der methodische Aufwand sowie die bisher nicht ausreichende Replikation dieser Ergebnisse durch andere Forschergruppen im Wege. Verlaufsbeobachtung. Die klinisch bedeutsame Frage, ob
mit EEG/EKP-Parametern klinisch relevante Verlaufs-
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544
24
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
aspekte bei psychischen Erkrankungen vorhergesagt werden können, ist bisher nicht ausreichend zu beantworten. Von Interesse ist die Beobachtung, dass stabilisierte Patienten mit schizophrenen Störungen, die eine kleine P300-Amplitude aufweisen, durch eine schlechtere Prognose, vermehrte Residualsymptomatik und ein erhöhtes Spätdyskinesierisiko charakterisiert sind (Hegerl et al. 1995). Inwieweit aus diesen gruppenstatistischen Ergebnissen klinisch relevante Aussagen bezüglich des einzelnen Patienten abzuleiten sind, ist noch nicht sicher zu beantworten.
pharmaka auf EEG/EKP ist zu bedenken, dass die Effekte interindividuell recht unterschiedlich sind, von der EEGAusgangslage, der Dosis und dem Plasmaspiegel der Substanzen, der Geschwindigkeit der Dosisänderungen und anderen Faktoren abhängen. Auch unterscheiden sich die Pharmakoeffekte zu Beginn einer Medikation von denen unter einer Dauerbehandlung. Die folgenden Angaben müssen deshalb keineswegs auf jeden Einzelfall zutreffen.
24.5.1 24.5
EEG und Psychopharmakotherapie
EEG und EKP unter einer Psychopharmakotherapie sind in mehrfacher Hinsicht für den Kliniker von Interesse: EEG und EKP ergeben sich aus der Summation kortikaler postsynaptischer Potenziale, die durch kortikal freigesetzte Neurotransmitter induziert werden. Es ist deshalb verständlich, dass das EEG und die EKP durch Psychopharmaka mit ihrem neurochemischen Wirkansatz in vielfältiger Weise beeinflusst werden. Für den Kliniker ist die Kenntnis dieser pharmakologischen Modifikationen des EEG wichtig, um pharmakogene von nichtpharmakogenen EEG-Veränderungen unterscheiden zu können. Nur bei Kenntnis der wichtigsten Psychopharmakaeffekte auf das EEG ist es möglich zu entscheiden, ob z. B. eine Allgemeinveränderung Ausdruck einer antidepressivabedingten Modifikation oder eines davon unabhängigen organischen Prozesses ist. EEG und EKP können Hinweise auf neurotoxische Medikamenteneffekte oder ein erhöhtes Anfallsrisiko liefern. EEG und EKP können Hinweise auf eine Eigenmedikation (z. B. mit Benzodiazepinen) oder auf Complianceprobleme geben. Naheliegend ist der Versuch, EEG/EKP-Parameter als Indikatoren der Funktion neurochemischer Systeme einzusetzen, um damit Patienten mit einer bestimmten neurochemischen Dysfunktion zu identifizieren. Diese so charakterisierten Patienten könnten dann gezielter behandelt werden. Konsistente und replizierte Ergebnisse liegen für die Intensitätsabhängigkeit sensorisch evozierter Potenziale als möglicher Prädiktor des klinischen Ansprechens auf Serotoninagonisten vor. Im Folgenden wird, bezogen auf die wichtigsten Substanzklassen, auf klinisch relevante Aspekte des Zusammenhangs zwischen EEG/EKP und Psychopharmakotherapie eingegangen. Hinsichtlich der Effekte der Psycho-
Neuroleptika
Unter einer Behandlung mit den klassischen Neuroleptika ist häufig eine leichte Verlangsamung sowie eine höheramplitudige, gut rhythmisierte α-Grundaktivität zu beobachten. Nur in seltenen Fällen kommt es jedoch zu einer Verlangsamung auf unter 8 Hz.
Clozapin Eine klare Sonderstellung nimmt das Clozapin ein, das zu gruppiertem Auftreten höhergespannter irregulärer langsamer Aktivität führt, häufig auch zum Auftreten von irregulären Spike-wave-Komplexen (Günther et al. 1993). Trotz eingelagerter dysrhythmischer Gruppen ist meist eine noch normofrequente Grundaktivität abgrenzbar, was die Unterscheidung des Clozapin-modifizierten EEG von der mittleren bis schweren Allgemeinveränderung erleichtert. Kasuistische Erfahrung hat gezeigt, dass die »Pathologisierung« des EEG unter einer Clozapinmedikation nicht im Widerspruch zu einer guten klinischen Besserung steht. Derartige EEG-Veränderungen sollten deshalb auch nicht zum Absetzen der Clozapin-Medikation führen. Andererseits ergibt sich bei vermehrtem Auftreten steilerer Wellen doch der Verdacht auf ein erhöhtes Anfallsrisiko, so dass eine langsamere Aufdosierung und Zurückhaltung bei Hochdosierungen mit Dosen von über 600 mg ratsam sind. Cave Unabhängig vom EEG-Befund ist bekannt, dass es bei Tagesdosen zwischen 600 und 900 mg bei bis zu 14% der Patienten zu epileptischen Anfällen kommt (Ereshefsky et al. 1989).
Die ausgeprägten EEG-Effekte des Clozapin könnten durch die Kombination anticholinerger und antiserotonerger Effekte bedingt sein, da eine Reihe tierexperimenteller Studien darauf hinweisen, dass es insbesondere nach Ausschaltung sowohl der cholinergen als auch serotonergen kortikalen Projektionen zum Auftreten einer höhergespannten irregulären langsamen Aktivität kommt (Vanderwolf 1992).
545 24.5 · EEG und Psychopharmakotherapie
Atypische vs. klassische Antipsychotika Eine ausführliche Untersuchung verschiedener Antipsychotika und deren Effekte auf das visuelle (Routine-) EEG wurde von Centorrino et al. (2002) vorlegt. Insgesamt führten Atypika signifikant häufiger zu EEG-Auffälligkeiten als klassische Neuroleptika, epilepsietypische Veränderungen (spikes, Spike-wave-Komplexe, rhythmische Muster) fanden sich v. a. unter Clozapin, aber auch unter dem mit Clozapin strukturverwandten Olanzapin. Vergleichbare Untersuchungen von Amann et al. (2003), und Pogarell et al. (2004 a) stützen diese Daten: Atypika wie Olanzapin oder Amisulprid führten signifikant häufiger zu EEG-Veränderungen als z. B. Haloperidol als Vertreter der klassischen Neuroleptika. Allerdings zeigten sich unter einer Monotherapie mit dem atypischen Antipsychotikum Quetiapin nur in einem von immerhin 22 untersuchten Fällen unspezifische EEG-Auffälligkeiten, so dass diesem Präparat diesbezüglich möglicherweise besondere Bedeutung zukommt.
Malignes neuroleptisches Syndrom Eine Allgemeinveränderung entsprechend den Veränderungen bei metabolischer Enzephalopathie wurde bei 7 von 8 Patienten mit einem malignen neuroleptischen Syndrom gefunden (Rosebush u. Stewart 1989), andere Autoren berichten im Rahmen von Kasuistiken von unauffälligen EEGs (Dammers et al. 1995; Revuelta et al. 1994).
P300 Bezüglich der P300-Komponente haben Neuroleptika keine oder nur relativ geringe Effekte. Bei einem Vergleich schizophrener Patienten mit hohem vs. niedrigem Plasmaspiegel von Perazin bzw. von Clozapin wies die Gruppe mit hohen Spiegeln lediglich tendenziell eine verkleinerte P300-Amplitude auf. Auch in Längsschnittuntersuchungen führte das Absetzen der Neuroleptika lediglich zu einer geringfügigen Zunahme der mittleren P300-Amplitude (Juckel et al. 1997).
xin, Reboxetin, Citalopram oder Amitriptylin vor. Leichte EEG-Auffälligkeiten unter den genannten Antidepressiva fanden sich bei weniger als 20% der untersuchten Kurven, die jeweiligen Medikamentengruppen zeigten hierbei keine signifikanten Unterschiede. Insbesondere ergaben sich in keiner Gruppe Hinweise auf die Generierung epilepsietypischer Potenziale, so dass der streng indizierte Einsatz der Antidepressiva vermutlich auch bei Risikopersonen (z. B. Patienten mit Epilepsie) mit einem ausreichend hohen Maß an Sicherheit gegeben sein dürfte. Ob das EEG dabei hilfreich ist, ein zentrales Serotoninsyndrom zu diagnostizieren oder differenzialdiagnostisch abzugrenzen, ist bisher nicht ausreichend untersucht. Hegerl et al. (1998) diagnostizierten bei 5 Patienten unter Verwendung einer Serotoninsyndromskala ein leichtes Serotoninsyndrom. Bei diesen Patienten ließen sich keine konsistenten EEG-Veränderungen im Vergleich zum Vorbefund finden.
24.5.3
Die Effekte einer symptomsuppressiven oder rückfallverhütenden Lithiumbehandlung auf das EEG sind in der Literatur recht uneinheitlich beschrieben. Beobachtet wurde eine Verlangsamung der α-Grundaktivität sowie intermittierendes Auftreten langsamerer Wellen mit z. T. linksfrontaler Betonung. Bei vermehrtem und generalisiertem Auftreten einer irregulären langsamen Aktivität muss an neurotoxische Lithiumeffekte, meist bei erhöhtem Lithiumplasmaspiegel, gedacht werden (Übersicht bei Pogarell et al. 2006 b). Auch periodische Komplexe, wie sie im Rahmen der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung auftreten, sind unter einer Lithiumintoxikation beschrieben worden (Smith u. Kocen 1988). Insgesamt muss von einer großen interindividuellen Variabilität der Lithiumeffekte auf das EEG ausgegangen werden.
24.5.4 24.5.2
Antidepressiva
Unter trizyklischen Antidepressiva wird häufig eine Zunahme sowohl der β- als auch θ-Aktivität beobachtet. Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) sind bisher hinsichtlich ihrer EEG-Effekte vergleichsweise wenig untersucht. In einer an der Psychiatrischen Universitätsklinik München durchgeführten offenen Studie konnten im Prä-post-Vergleich bei depressiven Patienten keine wesentlichen Effekte von Paroxetin auf die EEGAktivität festgestellt werden. Sterr et al. (2006) legten eine retrospektive Analyse von Veränderungen des Routine-EEG bei insgesamt 255 Patienten unter Monotherapie mit Mirtazapin, Venlafa-
Lithium
Carbamazepin
Bei Patienten mit rezidivierenden affektiven Störungen wird unter einer phasenprophylaktischen Behandlung mit Carbamazepin nicht selten das gruppierte Auftreten einer höhergespannten irregulären langsamen Aktivität beobachtet. Diese Veränderungen treten bei einigen Patienten nach den Erfahrungen in der Universitätsklinik München auch bei therapeutischen Plasmaspiegeln auf. Hervorzuheben ist auch hier die große interindividuelle Variabilität in den carbamazepinassoziierten EEG-Veränderungen. Ähnlich wie bei Clozapin spricht die »Pathologisierung« des EEG nicht gegen ein günstiges klinisches Ansprechen auf die Pharmakotherapie.
24
546
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
24.5.5
24
Benzodiazepine, Clomethiazol
Die meisten Patienten weisen unter einer Behandlung mit diesen Substanzen einen erhöhten Anteil einer 15–25/sβ-Aktivität auf, die die α-Grundaktivität überlagert. Meist wird diese β-Aktivität durch Augenöffnen nicht blockiert. Bei schweren Benzodiazepinintoxikationen ist dagegen häufig ein EEG mit irregulärer langsamer Aktivität, ohne erhöhte β-Aktivität zu finden. Ein erhöhter β-Anteil im EEG kann bisweilen ein Hinweis auf eine Eigenmedikation mit Benzodiazepinen sein. Zu bedenken ist hier, dass noch 1–2 Wochen nach Absetzen der Benzodiazepine eine erhöhte β-Aktivität nachweisbar sein kann. Unter Benzodiazepinen wurde eine Amplitudenabnahme der EKP beobachtet, mit Ausnahme der N2-Komponente, die eine Amplitudenzunahme zeigte (Rockstroh et al. 1991; Hayashi et al. 1996). Diese Effekte dürften zumindest teilweise über GABAerge Effekte der Benzodiazepine zu erklären sein, da entgegengesetzte Effekte unter GABA-Antagonisten beschrieben sind.
24.5.6
Antidementiva
Wegen des relativ geringen Nutzen-Risiko-Verhältnisses der zur Behandlung der Alzheimer-Demenz zur Verfügung stehenden Psychopharmaka, ist es wichtig, biologische Parameter für die kontinuierliche Beurteilung der Wirksamkeit beim individuellen Patienten zur Verfügung zu haben. Zudem ist zu erwarten, dass zukünftig auch protektive Therapiestrategien entwickelt werden, so dass sich hieraus weitere klinisch relevante Einsatzmöglichkeiten hirnfunktioneller Untersuchungs-verfahren ergeben werden. Angesichts hoher Tagestherapiekosten ist der objektive Nachweis der Wirksamkeit der eingesetzten Präparate ebenso von Bedeutung wie eine zuverlässige Prädiktion der Therapieresponse (Pogarell u. Hegerl 2003). Eine Veränderung des quantitativen EEG (Abnahme der relativen θ-Aktivität) stand mit der leichten kognitiven Verbesserung, die während einer 6-monatigen Behandlung mit dem Nootropikum Phosphatidylserin beobachtet wurde, in Verbindung (Heiss et al. 1994). Effekte von Nootropika auf EEG-Parameter im Sinne einer Abnahme der θ- und δ-Aktivität und einer Zunahme und Frequenzbeschleunigung der α-Aktivität wurden auch von anderen Autoren beschrieben (Anderer et al. 1996; Hollander et al. 1987; Ihl et al. 1988; Grossmann et al. 1990; Saletu et al. 1995, 1990–1991). ! Nach diesen Studien ist das EEG als die beste zur Verfügung stehende apparative Methode für die Verlaufsbeurteilung der Hirnfunktion unter einer Behandlung mit Nootropika anzusehen. Neben der Sensitivität dieser Methode sind v. a. die ge-
ringe Belastung des Patienten durch Wiederholungsuntersuchungen sowie der Kostenaspekt Vorteile dieses Verfahrens.
P300 Bezüglich der P300 ist in kontrollierten Studien in recht konsistenter Weise eine Latenzverkürzung und Amplitudenzunahme der P300 unter Behandlung mit Nootropika bei gesunden Probanden (Bifemelan: Semlitsch et al. 1996; Pyritinol, Physostigmin: Dierks et al. 1994) und Patienten mit Alzheimer-Erkrankung, Multiinfarktdemenz oder altersassoziierter Gedächtnisstörung beschrieben worden (Nicergolin: Anderer et al. 1996; Iwanami et al. 1993; Ginkgo biloba: Semlitsch et al. 1995; Nicergolin: Saletu et al. 1995; Nefiracetam: Hirata et al. 1996; Indeloxazin-Hydrochlorid: Naka et al. 1996 b). In einer plazebokontrollierten Studie an 10 Patienten mit Alzheimer-Erkrankung wurden unter der Behandlung mit einem Muscarinagonisten (RS 86) keine Effekte auf die P1-, N1-, P2- und N2-Komponente, jedoch eine signifikante Amplitudenzunahme und tendenziell eine Latenzabnahme der P300 (AEP) gefunden (Hollander et al. 1987). Inwieweit diese Änderungen der P300 mit den pharmakodynamischen Effekten der Substanzen oder indirekt mit der Besserung der demenziellen Symptomatik zusammenhängen, ist nicht sicher zu beantworten (Semlitsch et al. 1995; Hollander et al. 1987). Thomas et al. (2001) konnten allerdings in einer Studie an 60 Patienten mit AD, die mit den Cholinesterasehemmern (ChEH) Donepezil und Rivastigmin oder mit Vitamin E behandelt wurden, zeigen, dass die ChEH-Therapie zu einer signifikanten Abnahme der P300-Latenzen führte, die mit der klinischen Verbesserung der Demenz korrelierte. Diese Effekte fanden sich in der mit Vitamin E behandelten Gruppe nicht. Die Ergebnisse konnten nach Stratifikation der Patienten hinsichtlich der Schwere der Demenz nochmals bestätigt werden (Onofrj et al. 2002). In einer eigenen EEG/EKP-Studie bei AD-Patienten, die sich einer 12-wöchigen, randomisierten plazebokontrollierten Therapiestudie mit dem ChEH Donepezil unterzogen, fanden sich erste Hinweise, die die Möglichkeit einer Therapieprädiktion mittels P300-Analyse nahelegen (Pogarell et al. 2001). Bei 30 Patienten wurde vor Beginn einer Therapie mit Donepezil (n = 16) oder Plazebo (n = 14) eine elektrophysiologische Diagnostik (P300, Dipolquellenanalyse) durchgeführt. Patienten, die vor Therapiebeginn eine höhere P300-Amplitude aufwiesen, zeigten eine signifikant bessere Therapieresponse unter Donepezil als Patienten mit niedrigerer P300-Amplitude. In der Plazebo-Gruppe fand sich dieser Zusammenhang erwartungsgemäß nicht. Diese Daten zeigen, dass die P300 nicht nur diagnostisch und im Therapiemonitoring, sondern möglicherweise auch zur prätherapeutischen Responseprädiktion eingesetzt werden könnte.
547 24.7 · Schlussbetrachtung
24.6
Schlafpolygrafie
Schlafpolygrafische Untersuchungen in der Psychiatrie sind naheliegend, da bei vielen psychischen Erkrankungen Schlafstörungen bestehen und Schlafstörungen ihrerseits zu psychiatrischen Symptomen führen können. Besondere Erwartungen hinsichtlich einer diagnostischen Bedeutung der Schlafpolygrafie sind durch die Beobachtung geweckt worden, dass Patienten mit depressiven Störungen schlafpolygrafische Auffälligkeiten wie z. B. eine verkürzte REM-Latenz und eine erhöhte REM-Dichte aufweisen. Diese Befunde haben sich jedoch als nicht depressionsspezifisch erwiesen (Benca et al. 1992). Von Interesse ist, dass sich Patienten mit Alzheimer-Demenz entgegengesetzt verhalten und eher eine Reduktion des REM-Schlafes aufweisen. Dies dürfte mit der cholinergen Dysfunktion bei diesen Patienten in Verbindung stehen, da die cholinerge Neurotransmission für die Ausbildung des REM-Schlafes eine wichtige Rolle spielt. Die schlafpolygrafisch bestimmte REM-Latenz könnte so gelegentlich hilfreich bei der Differenzialdiagnose Alzheimer-Demenz vs. Depression sein. Auf vielversprechende Befunde bezüglich der Bedeutung des REM-Schlaf-EEG für die Frühdiagnostik der Alzheimer-Demenz ist oben bereits eingegangen worden. Insgesamt hat sich die Schlafpolygrafie jedoch nicht zu einem routinemäßig einsetzbaren Untersuchungsverfahren im Rahmen der Diagnose oder Therapieplanung der klassischen psychischen Erkrankungen entwickelt. Für einige spezielle psychiatrierelevante Fragestellungen spielt die Schlafpolygrafie jedoch eine wichtige Rolle. Schlafstörungen. Im Rahmen der Diagnostik der Insom-
nien ist die Schlafpolygrafie von wesentlicher Bedeutung. Mit ihrer Hilfe können subjektive Klagen über Schlafstörungen objektiviert oder diesbezügliche Fehlwahrnehmungen des Patienten erkannt werden. Weiter können mittels Aktometer periodische Bewegungen im Schlaf (nächtliche tonische Bewegungen, meist der Beine) als Ursache der Insomnie erkannt werden. Schlafapnoesyndrom. Das Schlafapnoesyndrom ist eine
häufige Ursache erhöhter Tagesmüdigkeit, die mit Klagen über Antriebsminderung und mit depressiver Stimmung kombiniert sein kann. Durch Messung der Atemfunktion (Thoraxexkursion, Atemfluss durch Mund und Nase, periphere Sauerstoffsättigung) kann ein obstruktives Apnoesyndrom durch Verlegung der oberen Atemwege von einem zentralen Apnoesyndrom bei Dysfunktion des Atemzentrums differenziert werden. Mehr als 10 apnoische Pausen pro Stunde von jeweils mehr als 10 s Dauer werden als klinisch bedeutsam angesehen. Da diese Apnoephasen mit einem Arousal einhergehen, kommt es zur Störung der physiologischen Schlafzyklen und insbesondere der Tiefschlafstadien. Die Folge ist eine vermehrte
Tagesmüdigkeit, die durch den »multiple SchlaflatenzTest« mit verkürzten Schlaflatenzen objektiviert werden kann. Narkolepsie. Für die Diagnose der Narkolepsie ist impe-
ratives Einschlafen am Tage eines der Leitsymptome. Zusätzlich können weitere Symptome wie ein plötzlicher Verlust des Muskeltonus in Verbindung mit affektiven Ereignissen (Kataplexie) auftreten. Schlafpolygrafisch ist insbesondere bei letzteren Patienten eine sehr kurze REM-Latenz (Einschlaf-REM-Episode) typisch. Da die Schlafarchitektur erheblich gestört ist, leiden viele Patienten neben den imperativen Schlafattacken unter einer Tagesmüdigkeit, die mit einem pathologischen »Multiplen Schlaflatenz-Test«, z. B. mit Einschlaf-REM-Episoden einhergeht. Kleine-Levin-Syndrom. Bei phasisch auftretenden mehr-
tägigen bis mehrwöchigen Zuständen mit erhöhter Schläfrigkeit, Dysphorie, Hyperphagie und anderen Verhaltensauffälligkeiten, ist an ein Kleine-Levin-Syndrom zu denken. Junge Männer sind gehäuft betroffen. Im Intervall finden sich meist keine psychopathologischen Auffälligkeiten. Schlafpolygrafisch lässt sich die Diagnose durch den Nachweis einer verlängerten Schlafdauer stützen. Erektile Dysfunktion. Bei einem Patienten mit erektiler
Dysfunktion macht der Nachweis nächtlicher REMSchlaf-gekoppelter Spontanerektionen mittels der Penisplethysmografie eine organische Ursache der Beschwerden unwahrscheinlich (Ware 1989; Wiegand 1995). Das Fehlen von Spontanerektionen ist weniger aussagekräftig und spricht nur dann für das Vorliegen einer organisch bedingten erektilen Dysfunktion, wenn im Rahmen der Schlafpolygrafie das Auftreten von REMPhasen während der Untersuchungsnacht nachgewiesen wurde.
24.7
Schlussbetrachtung
Die Ausführungen belegen, dass EEG/EKP in der Psychiatrie klinisch relevante Informationen liefern, die über eine neurologische Ausschlussdiagnostik hinausgehen und durch kein anderes Verfahren gewonnen werden können. Auch wenn EEG/EKP für strukturdiagnostische Fragen durch cCT und MRT weitgehend überflüssig geworden sind, so sind sie als nichtinvasive, funktionsdiagnostische Instrumente zur Abbildung neuronaler Massenaktivität unersetzbar. Bei der gelegentlich anzutreffenden Tendenz, im Zuge neuerer Bildgebungsverfahren den Stellenwert dieser neurophysiologischen Untersuchungsverfahren zu unterschätzen, ist für den Kliniker die Kenntnis der Möglichkeiten und Grenzen von EEG/ EKP besonders wichtig.
24
548
24
Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
! Um die Möglichkeiten neurophysiologischer Untersuchungstechniken auch in der klinischen Routine auszuschöpfen, sind neben einem dem aktuellen Stand der Technik entsprechenden EEG-Messplatz große Sorgfalt in der Untersuchungsdurchführung, ein intensiv geschultes Personal sowie regelmäßige Qualitätskontrollen angezeigt, um angesichts der Komplexität der Verfahren und der Fülle an Fehlermöglichkeiten nicht interpretierbare Ergebnisse zu vermeiden. Mangelhafte Befunde und klinische Fehlinterpretationen führten in der Vergangenheit gerade im Bereich der Psychiatrie häufig zur Unterschätzung und Vernachlässigung dieser einzigartigen funktionellen Untersuchungstechniken. Für den zukünftigen Stellenwert von EEG/EKP wird sich günstig auswirken, dass in den letzten 10 Jahren durch methodische Weiterentwicklungen im Bereich der EEG/EKP-Analyse und durch Grundlagenforschung das Wissen über die Elektrogenese des EEG und damit über Zusammenhänge zwischen der neuroelektrischen Aktivität an der Kopfhaut und den zugrunde liegenden neuroanatomischen Strukturen und neurophysiologischen bzw. neurochemischen Prozessen vertieft worden ist. Das EEG gewinnt hierdurch erneut Anschluss an andere biologisch-psychiatrische Forschungsbereiche, wird auch im klinisch-psychiatrischen Kontext besser interpretierbar und dürfte damit auch weiterhin seine Bedeutung in der Psychiatrie behaupten (Pogarell u. Hegerl 2004 b; Pogarell et al. 2005 b).
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Kapitel 24 · Neurophysiologische Untersuchungsmethoden
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24
25 25 Bildgebende Verfahren E. M. Meisenzahl, H.-P. Volz
25.1
25.2 25.2.1 25.2.2 25.2.3
Einsatzmöglichkeiten bildgebender Verfahren in der psychiatrischen Diagnostik – 554
Einzelne Verfahren – 554 Computertomografie (CT) – 554 Magnetresonanztomografie (MRT) – 555 Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) – 557 25.2.4 Magnetresonanzspektroskopie (MRS) – 559 25.2.5 Positronenemissionstomografie (PET) – 561 25.2.6 Single-Photon-Emissions-Computertomografie (SPECT) – 563
25.3 25.3.1 25.3.2 25.3.3 25.3.4 25.3.5
Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen – 565 Hirnleistungsstörungen und Demenz – 565 Schizophrene Erkrankungen – 569 Affektive Erkrankungen – 574 Abhängigkeiten und schädlicher Gebrauch – 576 Andere psychische Erkrankungen – 578
25.4
Ausschlussdiagnostik – 578 Literatur
– 580
> > Psychische Erkrankungen gehen in der Regel nicht mit spezifischen morphologischen Veränderungen, die mit Hilfe zerebral-bildgebender Verfahren erfassbar sind, einher. Die Neuroradiologie hat sich daher vor allem auf die Fachgebiete Neurologie und Neurochirurgie konzentriert. In den letzten Jahren zeichnen sich hier Veränderungen ab, da v. a. die Anwendung funktioneller Verfahren wie SPECT (Single-Photon-Emission-Computed Tomography), PET (Positronenemissionstomografie), fMRT (funktionelle Magnetresonanztomografie) und MRS (Magnetresonanzspektroskopie) an Bedeutung gewinnen werden.
554
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
25.1
Einsatzmöglichkeiten bildgebender Verfahren in der psychiatrischen Diagnostik
Strukturell bildgebende Verfahren (s. nachfolgende Übersicht) dienen vor allem dem Ausschluss gravierender intrazerebraler Prozesse, der Diagnostik und der Verlaufsbeurteilung degenerativer Prozesse.
25
Die Diagnostik und Differenzialdiagnostik anderer, primär psychischer Prozesse tritt demgegenüber in den Hintergrund.
Stellenwert bildgebender Verfahren in der psychiatrischen Diagnostik und Differenzialdiagnostik. (Mod. nach Hentschel 2000) Ausschluss symptomatischer psychischer Störungen bei intrakranieller Raumforderung Liquorzirkulationsstörung (Hydrocephalus malresorptivus) entzündlichen, traumatischen und nutritivtoxischen Erkrankungen vaskulären Prozessen wie Ischämie, Blutung, arteriovenöse Missbildungen Diagnostik und Differenzialdiagnostik degenerativer Prozesse (in erster Linie Demenzen) Diagnostik und Differenzialdiagnostik primär psychischer Erkrankungen
Wie man bereits aus dieser Aufstellung erkennen kann, liegt die überwiegende Rolle bildgebender Verfahren in der Psychiatrie im Bereich der Ausschlussdiagnostik. Die Anwendung konventioneller radiologischer Methoden hat an Bedeutung mit der Einführung von computerisierten Schnittbildverfahren (Computertomografie – CT, 1972; Magnetresonanztomografie – MRT, 1979) weitgehend an Bedeutung verloren, sie ist allenfalls bei sekundären psychischen Veränderungen in Folge von SchädelHirn-Traumata oder Tumoren von Bedeutung. Die praktische Bedeutung bildgebender Verfahren in der psychiatrischen Diagnostik ist auch dadurch eingeschränkt, dass weitaus die meisten Patienten mit psychischen Erkrankungen durch den Hausarzt betreut werden, weniger als 9% der Patienten werden dem ambulant tätigen Nervenarzt vorgestellt, nur bei 2% der Patienten wird eine stationäre Betreuung notwendig (Hentschel 1997). Somit werden für den Großteil der psychiatrischen Patienten die notwendigen diagnostischen Schritte durch
den Hausarzt in die Wege geleitet, der mit Ausnahme der Demenzdiagnostik nur selten bildgebende Untersuchungen veranlasst. Als Minimalkonsens, wann bildgebende Diagnostik zum Einsatz gelangen sollte, kann folgende Regel gelten: 1. Psychische Ersterkrankung (Ausschluss symptomatischer intrakranieller Veränderungen), 2. zusätzliches Auftreten neurologischer Symptome bei bekannter psychischer Erkrankung (Ausschluss symptomatischer intrakranieller Veränderungen), 3. Diagnostik und Differenzialdiagnostik degenerativer Prozesse.
25.2
Einzelne Verfahren
25.2.1
Computertomografie (CT)
Die CT (eigentlich Röntgen-Computertomografie) nutzt die Absorption von Röntgenstrahlen, die den Patienten aus unterschiedlichen Richtungen durchdringen und von der Strahlenquelle gegenüber lokalisierten Detektoren gemessen werden, um eine Grauwertverteilung in der gemessenen Schicht zu berechnen; diese Grauwertverteilung gibt die unterschiedlichen Röntgendichten der erfassten Gewebe wider. Das CT-Gerät besteht aus einer vertikal angeordneten Gantry, die den Strahler, dessen Kühlung und das Detektorensystem beinhaltet, sowie aus dem horizontal in die Gantryöffnung hineinzubewegenden Lagerungstisch für den Patienten. Die Schädel-CT-Untersuchung beginnt routinemäßig vom Foramen magnum aus und stellt den Schädel und den Schädelinhalt ohne Lücken zwischen den einzelnen Schichten dar, wobei die Schichtdicke infratentoriell nicht mehr als 4 mm, supratentoriell nicht mehr als 8 mm betragen sollte. In heutigen CT-Geräten wird eine sehr hohe Zahl von Detektoren (mehr als 14 pro Grad Flächenwinkel) verwendet, die auf einem 360°-Kranz angeordnet sind. Der Strahler vollführt eine kontinuierliche Rotationsbewegung um das zu messende Objekt (⊡ Abb. 25.1).
Prinzip der Bildberechnung Wie Hentschel (2000) zusammenfasst, beruht das Prinzip der Bildberechnung auf der gefalteten Rückprojektion unter Verwendung unterschiedlicher und an die Fragestellung angepasster Filterung der Messwerte. Das hierbei entstehende Bildelement stellt zweidimensional betrachtet das Pixel dar, unter Berücksichtigung der Schichtdicke (dreidimensional) das Voxel. Übliche Bildmatrices umfassen 256×256 (28), 512×512 (29) oder 1024×1024 (210) Pixel. Die Graustufen der Pixel (diese geben die Dichte des entsprechenden Gewebes wieder) sind entsprechend der Bit-Tiefe (108–1010) kodiert, bei einer Bit-Tiefe von 10 ste-
555 25.2 · Einzelne Verfahren
25.2.2
⊡ Abb. 25.1. Schematische Darstellung eines modernen CT-Gerätes. Die Röntgenröhre führt eine kontinuierliche komplette Rotationsbewegung um das zu messende Objekt, das sich idealerweise im Rotationszentrum (R) befindet, aus. Hierbei werden die das Objekt durchdringenden Röntgenstrahler durch der Strahlungsquelle gegenüberliegende, ortsfeste Detektoren aufgefangen und gemessen. (Nach Bunke 1998)
hen somit 1024 Graustufen zur Verfügung. Dunkle Bildanteile entsprechen Regionen geringer Strahlenabsorption (Liquor, Luft), während helle Bildanteile durch Regionen hoher Strahlenabsorption (z. B. Knochen) hervorgerufen werden. Die Schwächung der Röntgenstrahlen in einer umschriebenen Region wird numerisch durch den Schwächungskoeffizienten, der in Hounsfield-Einheiten (HE; bahnbrechende Arbeiten von Cormack und Hounsfield hatten die Entwicklung der CT erst ermöglicht, die Forscher wurden 1979 hierfür mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet) angegeben. Die entsprechende Skala ist so gewählt, dass Wasser den Referenzwert 0 erhielt, Luft etwa -1000, Knochen ca. +1000. Mittels der sog. Fenstertechnik kann in einem interessierenden, klar abgegrenzten Gehirngebiet der wichtige Bereich von etwa -100 HE bis +100 HE gesondert betrachtet werden, um so eine optimale Differenzierung des Gewebes mit hoher Kontrastauflösung bei weitgehender Unterdrückung des Rauschens zu erreichen. Der methodisch bedingte Nachteil der geringen Differenzierung von Weichteilen untereinander ist auch mithilfe dieser Technik nicht vollständig überwindbar, kann aber durch die Verwendung von Kontrastmittel (heute: nichtionische, dimere Kontrastmittel) weiter minimiert werden. Diese Kontrastmittel rufen »artifizielle« Dichteunterschiede hervor und können die Darstellung von Bereichen gestörter Blut-Hirn-Schrankenfunktion und gefäßreicher Strukturen erleichtern.
Magnetresonanztomografie (MRT)
Die moderne Magnetresonanztomografie (MRT) beruht auf dem Prinzip der magnetischen Resonanz (MR), ein Effekt der 1946 von Purcell und Bloch entdeckt wurde. Anfang der 1970er Jahre war die Geburtsstunde der MRTomografie, denn man hatte herausgefunden, dass Bilder von Weichteilstrukturen mit einem Kontrast erstellt werden konnten, der den anderer Verfahren übertraf. Weitere Fortschritte in der MR-Bildgebungstechnik führten 1983 zu Systemen, welche den menschlichen Körper mit Aufnahmezeiten abbilden konnten, die nur noch wenige Minuten betrugen. Gleichzeitig verbesserte sich das räumliche Auflösungsvermögen von 6 mm bis auf Werte unter 1 mm. Medizinische Bilder werden mit unterschiedlichen Strahlungsarten erzeugt. Jedes Bild ist das Ergebnis der Wechselwirkung von Strahlung und Objekt. Das MR-Bild beruht auf der Antwort bestimmter Atomkerne, welche sich in einem äußeren Magnetfeld befinden, auf die Zufuhr von elektromagnetischer Energie im Bereich der Frequenzen der Rundfunkübertragung. Auch Bilder, die mit der MR erzeugt werden, führen zu Schnittbildern vom Körper. Die MRT nutzt die Protonendichte im Gewebe, um Hirnstrukturen abzubilden. Protonen können als magnetische Dipole dargestellt werden. Sie befinden sich in einer ständigen kreiselartigen Eigenrotationsbewegung um die Magnetfeldachse (Spin). Der Patient liegt in einem statischen Magnetfeld, in dem die Protonen parallel und antiparallel zu den Feldlinien des Magnetfeldes ausgerichtet werden (⊡ Abb. 25.2). Ein Hochfrequenzimpuls führt zur Auslenkung der Protonen aus dieser Orientierung. Während sich die Protonen in die ursprüngliche
⊡ Abb. 25.2. Magnetische Momente im Magnetfeld: In einem homogenen Magnetfeld Bo präzedieren die magnetischen Momente in paralleler und antiparalleler Einstellung zur Achse des Magnetfeldes Bo. Ein geringer Überschuss an Atomkernen, die parallel zum Magnetfeld ausgerichtet sind, ergibt eine Nettomagnetisierung in Richtung des externen Magnetfeldes
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556
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
⊡ Abb. 25.3a–c. T1-, T2- und protonengewichtete koronare Sequenzbilder. a In der T1-Gewichtung sind die kortikalen und subkortikalen Strukturen am besten zu erkennen; b, c In der T2- und Protonen-Gewichtung lassen sich pathologische Veränderungen besonders gut nachweisen
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Ausrichtung zurückbewegen, emittieren sie elektromagnetische Wellen, die von Empfängerspulen registiert werden und durch Verwendung zusätzlicher Magnetfeldgradienten räumlich zugeordnet werden. Diese Information wird in tomografische Schnittbilder von Grauwertabstufungen umgewandelt. Die Bildinformation wird somit im Wesentlichen durch 2 Parameter bestimmt: 1. Die Protonendichte im jeweiligen Gewebe sowie 2. deren Relaxationszeiten (genannt T1 und T2). Die Zeitkonstanten T1 und T2 hängen von der Zusammensetzung des jeweiligen Gewebes ab und beschreiben die Zeitspanne, welche die Protonen im Gewebe benötigen, um nach erfolgter Anregung in ihr magnetisches Ausgangsfeld zurückzukehren sowie die Tendenz der Spins, sich senkrecht zur Magnetfeldachse auseinanderzubewegen.
Wichtige Sequenzen für die Untersuchung Für die klinische Routine sind 3 Sequenzen (⊡ Abb. 25.3 a– c) am wichtigsten:
1. T1-gewichtete Sequenz, 2. T2-gewichtete Sequenz, 3. protonengewichtete Sequenz.
keine Röntgenstrahlen verwendet werden, weist die Untersuchung im Gegensatz zur Computertomografie (CT) keine Strahlenbelastung auf. Zur Durchführung der Aufnahme liegt der Patient für den Zeitraum von ca. 10– 20 min unter ständiger Aufsicht des Untersuchungsteams in einer Röhre, in der laute Klickgeräusche zu hören sind, welche durch Ohrstöpsel gedämpft werden (⊡ Abb. 25.4). Für Personen die an Klaustrophobie (Beklemmungsgefühle oder Ängste in engen Räumen) leiden, kann die Untersuchung aus diesem Grund als unangenehm erlebt werden oder aber auch nicht möglich sein. Zu beachten ist ferner, dass die untersuchten Personen starken Magnetfeldern ausgesetzt werden und daher keine Metallteile im Körper haben (wie Herzschrittmacher, Metallplatten nach Knochenfrakturen, Spirale oder ähnliches) dürfen. Aus diesem Grund müssen auch Schmuck und Uhren vor der Untersuchung abgelegt werden. Die klinischen Einsatzmöglichkeiten der MRT in der Psychiatrie sind sowohl von diagnostischer als auch wissenschaftlicher Bedeutung. Im Rahmen der Erstdiagnostik psychischer Erkrankungen stellt sie in erster Linie ein Verfahren zum Ausschluss organischer Ursachen dar ( Kap. 25.4).
Im T1-gewichteten Bild erscheinen der Liquor schwarz, der Kortex grau und das Marklager hellgrau. Im T2-gewichteten Bild erscheinen der Liquor weiß, der Kortex hellgrau und das Marklager eher dunkelgrau. Im protonengewichteten Bild sind Liqour und Marklager beide eher dunkelgrau und der Kortex hellgrau. Auch ist die Gabe von intravenösem Kontrastmittel (KM) möglich, wobei in der klinischen Routine heute meist gadoliniumhaltige Kontrastmittel (Gd-DTPA) zur Anwendung kommen. Die Feldstärke der MRT-Magneten hat auf die Bildqualität einen wesentlichen Einfluss. Sie werden in Tesla (T) angegeben. MRT-Geräte für die klinische Anwendung haben eine Spannbreite von 0,3 bis 2,0 T.
Praktische Anwendung der MRT Was die praktische Anwendung betrifft, so werden bei der MRT ohne Verwendung von Röntgenstrahlen Aufnahmen des Kopfes vorgenommen, die wichtige Informationen über den Zustand des Gehirnes geben können. Da
⊡ Abb. 25.4. Skizze einer MRT-Aufnahme. Durch die Überlagerung des Magnetfeldes mit einem Magnetfeldgradienten variiert die Larmorfrequenz w in Richtung des Gradienten; somit kann die Schichtselektion vorgenommen werden. Ein HF-Puls mit der Frequenz w0 und definierter Bandbreite regt selektiv eine Schicht an
557 25.2 · Einzelne Verfahren
In der klinischen Ausschlussdiagnostik psychischer Erkrankungen bietet die MRT aufgrund ihrer deutlich überlegeneren Sensitivität gegenüber der zerebralen CT (cCT) klare Vorteile. Ein weiterer Vorteil ist die fehlende Strahlenbelastung für den Patienten und die damit gegebene Möglichkeit, notwendige Folgeuntersuchungen bei demselben Patienten problemlos durchzuführen.
25.2.3
Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)
Als im Mai 1991 dem Physiker Kwong an der Harvard Universität in Boston sein Experiment gelang, konnte er noch nicht ahnen, dass er ein revolutionäres Verfahren für die Hirnforschung entwickelt hatte. Mit seiner Methode konnten nun Vorgänge innerhalb des Gehirns mit der Magnetresonanztomografie beobachtet werden. Zwar gab es schon Jahre vorher die Möglichkeit, Hirnaktivität bei bestimmten geistigen Funktionen und beim Ausführen von Bewegungen zu beobachten. Dabei war es jedoch notwendig, den untersuchten Personen radioaktive Substanzen zu spritzen (s. nuklearmedizinische Verfahren PET/SPECT). Mit der funktionellen Magnetresonanztomografie war es jedoch nicht mehr notwendig, den Patienten Kontrastmittel oder sonstige radioaktive Stoffe zu injizieren, um die Blutflussveränderungen bei Hirnaktivität in bestimmten Arealen nachzuweisen. Die MRT hat seit Mitte der 1980er Jahre gezeigt, wie genau und zuverlässig sie sowohl das Gehirn als auch viele andere Organe im Bild darstellen kann. Mit der funktionellen Kernspintomografie können unter bestimmten Voraussetzungen Aktivierungsstudien durchgeführt werden, die zum Beispiel beim Bewegen der Hand die Hirnregionen erkennbar macht, die für die Ausführung der entsprechenden Bewegung verantwortlich sind. Für viele Hirnforscher geht damit ein großer Traum in Erfüllung, das Gehirn bei der Arbeit zu betrachten, ohne invasiv in das ZNS eingreifen zu müssen.
Prinzip der MRT Das Prinzip der funktionellen Magnetresonanztomografie beruht auf der Durchblutungszunahme in Gehirngebieten mit hoher neuronaler Aktivität. Physiologische Grundlage ist die Kopplung zwischen neuronaler Aktivität und regionaler Hirndurchblutung. Durch die Aktivierung von Neuronenpopulationen kommt es zu einem Anstieg des regionalen zerebralen Sauerstoffbedarfs. Die regionale Durchblutung und damit die lokale Sauerstoffkonzentration nimmt daher in diesen Arealen zu (»blood oxygen level dependent«, BOLD-Signal). Dadurch verschiebt sich das Verhältnis zwischen Oxy- und Desoxyhämoglobin zu Lasten des paramagnetisch wirksamen Desoxyhämoglobins, eine lokale Änderung der sogenannten
magnetischen Suszeptibilität findet statt. Dieser Effekt ist mit der funktionellen MRT messbar, auch wenn er sich in der Größenordnung von nur wenigen Prozent bewegt. Die Blutflussveränderungen werden also mit dem Blut als »internem Kontrastmittel« verfolgt. Untersuchungssequenzen. Da sich die regionalen Ände-
rungen der Hirndurchblutung in nur wenigen Sekunden abspielen, müssen entsprechend schnelle Untersuchungssequenzen eingesetzt werden. In der Regel verwendet man T2*-gewichtete Gradientenechosequenzen. Damit lassen sich einzelne Schichten in weniger als 10 s aufzeichnen. Nachteilig ist, dass die simultane Untersuchung mehrerer Schichten nur mit Einschränkungen durchführbar ist. Diese Probleme gelten nicht für die Echo-Planar-Technik (EPI). Bei dieser extrem schnellen Sequenz können einzelne Schichten in weniger als 100 ms aufgezeichnet werden. Die Untersuchung ganzer Schichtpakete ist in der Größenordnung von Sekunden möglich. Die EPI eignet sich wegen ihrer Empfindlichkeit gegenüber lokalen Änderungen der magnetischen Suszeptibilität besonders gut für die funktionelle Bildgebung. Bildauswertung. Die Bilder werden mit aufwendigen
Computernachverarbeitungsverfahren analysiert, um die Hirnregionen zu identifizieren, in denen die Blutflussveränderungen stattgefunden haben. Die Kartierung von alleinigen Signaldifferenzen zwischen Aktivierungs- und Ruheaufnahmen sind aus statistischen Gründen nicht aussagefähig, da Differenzen nicht auf ihr Signifikanzniveau überprüft werden. Der Kartierung lokaler Z-Scores ist daher der Vorzug zu geben. Besser noch ist die lokale Kartierung von Zeitreihenanalysen (Autokorrelationsfunktionen, Leistungsspektrum), da hierdurch auch dem dynamischen Charakter der Messung Rechnung getragen wird.
Praktische Durchführung Die praktische Durchführung verhält sich wie bei einer konventionellen Magnetresonanzaufnahme. Auch hier gilt, da keine Röntgenstrahlen verwendet werden, dass diese Untersuchung beliebig häufig durchgeführt werden kann. Der wesentliche Unterschied zu einer konventionellen MRT-Aufnahme besteht darin, dass der Proband eine definierte Aufgabe, die zu einer Durchblutungssteigerung in den zu untersuchenden Gehirngebieten führen soll, durchführt (sog. Stimulationsparadigmen). Da das fMRT-Signal weder Einheit noch einen Nullpunkt besitzt, werden in Stimulationsparadigmen häufig Ruhebedingungen integriert, in denen der Proband entweder keine Aufgabe auszuführen hat, oder es wird eine Kontrollbedingung durchgeführt, die sich von der interessierenden Stimulation z. B. nur in dem kognitiven Parameter unterscheidet, der für die Fragestellung von Bedeutung ist. Bei der Datenanalyse werden somit die fMRT-Signale der ex-
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558
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
perimentellen Bedingung mit der Ruhe- oder Kontrollbedingung in Bezug gesetzt.
Anwendungsgebiete
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Eine klinische Anwendung der fMRT im engeren Sinne gibt es bisher nicht. Der Anwendungsschwerpunkt der fMRT in der Psychiatrie liegt bisher in der Untersuchung von Grundlagenfragen kognitiver Prozesse zur Erforschung psychischer Krankheiten. Daneben werden auch Fragen zur Response-Prädiktion von Psychopharmaka untersucht. Ein zentraler Forschungsschwerpunkt beschäftigt sich mit dem Nachweis der bekannten kognitiven Störungen bei psychiatrischen Erkrankungen, insbesondere der beiden großen Gebiete der Schizophrenie und Depression. Schizophrenie. Für die Schizophrenie finden sich mittler-
weile zu allen kognitiven Teilbereichen funktionelle Stu-
⊡ Abb. 25.5a, b. Verbales und räumliches Arbeitsgedächtnis bei schizophrenen Patienten und gesunden Kontrollprobanden mit der fMRT. a Verlagerung der statistischen parametrischen Karten (SPM 99, Wellcome Institute, London) beim Vergleich des Arbeitsgedächtnisses für gesunde Probanden auf standardisierte 3-D-Templates. Ein ausge-
dien. Untersuchungen zur Wahrnehmung – visuell und akustisch – unterstützen die These einer beeinträchtigten multimodalen integrativen Leistung (Braus 2002). Auch Gedächtnisstörungen bei schizophrenen Patienten können mit der Methode der fMRT gut dargestellt werden (⊡ Abb. 25.5). Es konnte beim Erkennen und Einprägen von Bildern und Wörtern gezeigt werden, dass aus dem fMRT-Aktivierungsmuster bei Präsentation bestimmter Stimuli vorausgesagt werden kann, ob man sich später an diese Bilder oder Wörter erinnern kann. Bei dem Erlernen von Bewegungsabläufen scheinen frontale Hirnregionen von entscheidender Bedeutung zu sein, während, wenn die Bewegung einmal gelernt ist, überwiegend Regionen in der Zentralregion und im Parietallappen beansprucht werden. Des Weiteren stehen vor allem exekutive Prozesse (Planen, Problemlösen, Arbeitsgedächtnis) im Fokus der Forschung. Die Frage der Hyper- bzw. Hypofrontalität muss vor dem Hintergrund der Bewältigungsleistung der kognitiven Aufgabe analysiert werden. So wies
dehntes Netzwerk frontoparietaler Strukturen wird aktiviert, b schizophrene Patienten. Insgesamt ist das Gesamtaktivierungsniveau gegenüber den gesunden Kontrollen reduziert und zeigt ein anderes Verteilungsmuster
559 25.2 · Einzelne Verfahren
Callicott (2003) eine Hypofrontalität schizophrener Patienten nach, sofern die Leistung schwach ausfiel. Hohe Leistungen waren jedoch von einer Hyperfrontalität begleitet. Die zugrunde liegende Modellvorstellung ist eine »verschobene umgekehrte U-Funktion« der Schizophrenie. Bei gesunden Probanden finden sich für Arbeitsgedächtnisleistungen im fMRT Aktivierungen des dorsolateralen präfrontalen Kortex in Form einer »umgekehrten U-Funktion«, d. h. dass mit ansteigendem Schweregrad zunächst ein Ansteigen der Aktivierung bis zur Kapazitätsgrenze beobachtet wird, bei weiterer kognitiver Überbelastung fällt sowohl die Aktivierung wie auch das Leistungsniveau wieder ab (Callicott et al. 1999). Diese Aktivierungskurve scheint demnach bei der Schizophrenie nach unten verschoben, d. h. die Kurve steigt früher an, fällt aber auch früher wieder ab. Bei funktionellen Untersuchungen ist es zudem unumgänglich, verschiedene psychopharmakologische Interventionen zu berücksichtigen, da neuroleptische Medikation das fMRT-Signal entscheidend beeinflusst (für eine Übersicht: Braus et al. 2005). Depressive Erkrankungen. Die hohe Prävalenz depressiver Erkrankungen hat entsprechend rege Forschungstätigkeit – auch mit Hilfe funktioneller Bildgebung – zur Folge, wobei von besonderem Interesse funktionelle Veränderungen des limbischen Systems (v. a. Amygdala und Hippokampus) sind. Dazu werden meist Paradigmen zur Emotionsinduktion oder -erkennung verwendet. Dabei zeigen sich signifikant erhöhte Aktivierungen der Amygdala bei schizophrenen Patienten bei der Verarbeitung negativer Stimuli (Anand et al. 2005), wobei auch hier der Einfluss der antidepressiven Medikation von Bedeutung ist (Fu et al. 2004). Ein positiver Therapieverlauf scheint zudem mit einem Rückgang der erhöhten Aktivierung der Amygdala assoziiert zu sein (Sheline et al. 2001). Auch im Bereich der bipolaren Störungen finden sich signifikante Abweichungen der zerebralen Aktivierung. So fanden Blumberg et al. (2003) bei bipolaren Patienten bedeutsame Veränderungen der Aktivität im ventralen präfrontalen Kortex.
Fazit Für nahezu alle psychischen Erkrankungen lassen sich neben Schizophrenie und Depression Befunde für von Gesunden abweichende kortikale Aktivierungen finden (z. B.: Übersicht zu affektiven und Angsterkrankungen – Deckersbach et al. 2006; demenzielle Erkrankungen – Prvulovic et al. 2005), wobei allgemein die Frage nach Ursache oder physiologischem Korrelat der bestehenden psychischen Störungen oder der medikamentösen Behandlung schwer beantwortet werden kann.
Jedoch sind die Anwendungsgebiete dieser neuartigen Methode sehr viel breiter und nicht auf psychiatrische Forschung beschränkt. Bisher sind auf verschiedensten Gebieten der modernen Hirnforschung weitreichende Ergebnisse erzielt worden. So konnte gezeigt werden, dass bei blinden Patienten die Gehirnanteile, die normalerweise die Eindrücke des Sehens verarbeiten, nun dazu genutzt werden, intensiv Tastbewegungen zu analysieren. Des Weiteren weisen Kinder mit Lese- und Schreibstörung (Dyslexie) abnormale Aktivitätsmuster beim Lesen bestimmter Aufgaben auf. Diese wenigen Beispiele geben einen Eindruck davon, welche Möglichkeiten nunmehr durch die fMRT zur Darstellung veränderter Durchblutungsmuster bei Gehirnkrankheiten gegeben sind. Schließlich hat die funktionelle MRT in der Medizin bereits klinisch relevante Einsatzgebiete, z. B. im Rahmen der Operationsplanung bei Hirntumoren. Ziel hierbei ist es, funktionell relevante Hirnareale bei der Operation möglichst zu schonen.
25.2.4
Magnetresonanzspektroskopie (MRS)
Mit Hilfe der Magnetresonanzspektroskopie (MRS) können biochemische Vorgänge im lebenden Gewebe erfasst werden. Wie die strukturelle Magnetresonanztomografie (MRT) und die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) basiert die MRS auf dem Phänomen der nukleären magnetischen Resonanz. Die MRS benötigt keine Röntgenstrahlung oder die Applikation radioaktiver Materialien und kann mit relativ wenig Zusatzausstattung (bei einem vorhandenen MR-Tomografen) durchgeführt werden. Im Wesentlichen können relative Konzentrationen von Metaboliten, die Atome mit einem magnetischen Moment enthalten, bestimmt werden, wobei vor allem die 1H(Protonen)-MRS und die 31P(Phosphor)-MRS Bedeutung erlangt haben. Die Messung relativer Konzentrationen von Verbindungen, die Kohlenstoff (13C), Stickstoff (14N), Lithium (7Li) oder Fluor (19F) enthalten, spielt hingegen eine untergeordnete Rolle. Die Atome mit einem magnetischen Moment richten sich bei Anlage eines starken äußeren Magnetfeldes in Richtung dieses Magnetfeldes aus. Genauer formuliert: Das magnetische Kernmoment präzessiert um die durch das äußere Magnetfeld vorgegebene Vorzugsrichtung. Die Präzessionsbewegung erfolgt mit einer bestimmten Frequenz, der Larmorfrequenz. Wird nun senkrecht zu dieser Präzessionsrichtung elektromagnetische Energie in Form eines Hochfrequenz (HF)-Impulses mit der Larmorfrequenz eingestrahlt, wechseln die Atome ihre Ausrichtung zum Magnetfeld, bei Unterbrechung dieses HFImpulses kehren die Atome mit ihrer Ausrichtung wieder in den zuvor bestandenen Zustand zurück; hierbei senden
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
⊡ Abb. 25.6. Darstellung des 31P-MR-Spektrums aus einem 3×3×2 cm3 »Volume of interest« im Frontallappen. Gut zur Darstellung gelangt der Phosphomonoester (PME)- und der Phosphodiester (PDE)-Peak sowie die Peaks von Phosphokreatin (PCr), anorganischem Phosphat (Pi) sowie der unterschiedlichen Adenosintriphosphat-(ATP-)Banden
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sie selbst elektromagnetische Wellen aus, die mit Detektoren erfasst werden können. Die genannten Atome, die ein magnetisches Moment besitzen, sind im Gehirn nur zu einem geringen Teil frei beweglich vorhanden, sondern vielmehr in unterschiedliche molekulare Strukturen eingebunden. Die unterschiedlichen Abschirmungsverhältnisse dieser molekularen Strukturen, hervorgerufen durch unterschiedliche Elektronenhüllen, führen zu einer geringen Änderung der ausgesandten elektromagnetischen Wellen, dem sogenannten »chemical shift«; dieser »chemical shift« erlaubt die Charakterisierung der molekularen Verbindungen, in denen die jeweiligen Atome eingebaut sind.
Einsatz von 1H- und 31P-MRS in der Psychiatrie Im Wesentlichen wird heute in der Psychiatrie die 1H- und 31P-MRS verwandt. Bei der 1H-MRS können folgende Moleküle erfasst werden: N-Azetyl-Aspartat (NAA); NAA ist ausschließlich im ZNS nachweisbar und wird als neuronaler Marker aufgefasst. Kreatin (Cr) und Phosphorkreatin (PCr) als gemeinsamer Peak; diese Verbindungen sind v. a. für den Energiehaushalt der Zelle wichtig (siehe 31P-MRS). Cholin (Ch); basaler Bestandteil der Phospholipistruktur von Zellmembranen. Weitere, in geringerer Konzentration vorkommende Moleküle im 1H-MR-Spektrum sind Laktat, Lipide, Glutamin, Glutamat und Inositol. Die 31P-MRS besitzt den Vorteil, dass sie alle im Körper vorkommenden 31P-enthaltende Metabolite vollständig erfasst, allerdings besitzt die 31P-MRS nur 5% der Sensitivität der 1H-MRS. Daher müssen auch relativ große Volumina (ca. 15–36 cm3) untersucht werden. Zwei große, voneinander unabhängige 31P-haltige Molekülgruppen können voneinander unterschieden werden:
die Phospholipide und die energiereichen Phosphate sowie anorganisches Phosphat. (⊡ Abb. 25.6 eines typischen 31P-MR-Spektrums.) Die Phospholipide bestehen aus Phosphomonoestern (PME) und -diestern (PDE). Hauptbestandteile der PME sind Phophocholin (PC), Phosphoethanolamin (PE) und L-Phosphoserin (PS). Die PDE stellen die Summe aus Glyzerol-3-Phosphocholin (GPC), Glyzerol-3-Phosphoethanolamin (GPE) sowie mobilen Phospholipiden dar. PME werden als Membranaufbaubestandteile angesehen, PDE als Abbauprodukte des Membranstoffwechsels. Mit der 31P-MRS können folgende Metabolite des intrazellulären Energiestoffwechsel gemessen werden: Adenosintriphosphat (ATP), Phosphokreatin (PCr) sowie anorganisches Phosphat (Pi). PCr, ATP und Pi sind Marker des sich in einem Gleichgewicht befindlichen intrazelluären Energiemetabolismus (⊡ Abb. 25.7). Neben der Bestimmung relativer Molekülkonzentrationen in bestimmten Gehirnvolumina (sog. »volume of interests«) können mit dem »spectroscopic imaging« gleichzeitig in mehreren Hirnarealen die relative Konzentrationen von Molekülen, die ein detektierbares Atom enthalten, gemessen und so die räumliche Konzentrationsverteilung in einer Hirnschicht dargestellt werden. Diese Methode ist allerdings mit einem erheblichen Sensitivitätsverlust verbunden. ADP + Pi*
ATP*
PCr* + ADP
⊡ Abb. 25.7. Darstellung des intrazellulären Energiestoffwechsels. Mit Sternchen (*) sind die Verbindungen markiert, die mit Hilfe der 31P-MRS gemessen werden können
561 25.2 · Einzelne Verfahren
25.2.5
Positronenemissionstomografie (PET)
Bestimmte radioaktive Elemente senden Protonen aus und heißen daher Protonenstrahler. Geeignete Protonenstrahler werden dem Probanden appliziert, sie emittieren Protonen, die nach kurzer Laufstrecke auf ein Elektron treffen; hierbei werden das Proton und das Elektron im Rahmen einer sog. Materie-Antimaterie-Reaktion in 2 Gammaquanten umgewandelt. Diese beiden Gammaquanten bewegen sich diametral auseinander. Sie können dann von sich gegenüberliegenden Detektoren gemessen werden. Da sich beide Gammaquanten mit derselben Geschwindigkeit bewegen und diametral auf einer Gerade gelegen auseinanderstreben, kann aus der zeitlichen Information (wann trifft Gammaquant 1 auf den Detektor 1 in Relation zu Gammaquant 2 auf Detektor 2, ⊡ Abb. 25.8) und der räumlichen Zuordnung (auf einer Gerade zwischen den beiden Detektoren) eine genaue räumliche Zuordnung der Materie-Antimaterie-Reaktion erfolgen. Die Detektoren sind heute meist zu Blöcken zusammengefasst und kreisförmig um das zu messende Areal angeordnet, so dass mithilfe mathematischer Rekonstruktionsverfahren ein Schnittbild der Aktivitätsverteilung erstellt werden kann.
Aussagemöglichkeiten der PET Mit der PET können je nach verwendetem Positronenstrahler Aussagen über die Perfusion, den Rezeptorstatus oder die Stoffwechselsituation getroffen werden. Perfusionstracer. Als Perfusionstracer wird in der Regel 15O-markiertes
Wasser (15O-H2O) verwendet, das im Vergleich zu stabilem Wasser in vivo keine Unterschiede aufweist. Dieses Radionukleid wird üblicherweise zur Be-
⊡ Abb. 25.8. Darstellung der Entstehung zweier Gammaquanten (→), die sich diametral entgegengesetzt auseinanderbewegen und durch die Detektoren D1 und D2 gemessen werden können. (Mod. nach Geworski u. Münz 2000)
stimmung des regional Cerebral Blood Flows (rCBF) eingesetzt. Rezeptorliganden. Im Bereich der Rezeptorliganden
stehen Rezeptorantagonisten zur Charakterisierung des dopaminergen Systems (11C-Methylspiron sowie 11CRacloprid als D2-Antagonisten sowie 11C-Sch 23390 als D1-Antagonist) und des Benzodiazepinsystems (11C-Flumazenil) zur Verfügung. Stoffwechseltracer. Als Stoffwechseltracer wird radio-
aktiv markierter Sauerstoff (15O-O2), mit dem nach Inhalation der zerebrale O2-Metabolismus (einschließlich zerebrale O2-Extraktion und zerebraler O2-Verbrauch) gemessen werden kann, verwendet. 18F-markierte Fluordesoxyglukose (FDG), ein Glukoseanalogon, das nicht weiter metabolisiert wird und zunächst intrazellulär verbleibt, erlaubt die Darstellung des zerebralen Glukosestoffwechsels. Die FDG-PET ist die am häufigsten durchgeführe PET-Untersuchung überhaupt und hat als einzige PET-Methode breitere Anwendung gefunden. Ein Normalbefund ist in ⊡ Abb. 25.9 dargestellt.
Probleme der PET-Untersuchung Ein großes Problem der Durchführbarkeit von PET-Untersuchungen stellt die kurze Halbwertszeit der Positronenstrahler 18F (109 min), 11C (20 min), 13N (10 min) und 15O (2 min) dar, was zu mindestens für die 3 zuletzt genannten Strahler eine unmittelbare Nachbarschaft der Untersuchungseinrichtung (PET-Gerät) und des Produktionsortes (Zyklotron einschließlich entsprechender Radiochemie-Abteilung) notwendig macht. Ein PET-Gerät wird mit Kosten in Höhe von 2 bis 2,5 Mio. € veranschlagt, eine Zyklotron-/RadiochemieEinheit kostet je nach Ausstattung zwischen 2 und
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562
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
a
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b
563 25.2 · Einzelne Verfahren
c
Abb. 25.9. Normalbefund eines FDG-PET (PET nach i. v.-applizierter 18F-markierter Fluordesoxyglukose zur Darstellung der zentralen Glukoseverbrauchs), a Darstellung der sagittalen Schichten, b der transversalen Schichten, c der koronaren Schichten. Gleichmäßige
Anreicherung des Tracers ohne Aussparungen und/oder Seitendifferenzen v. a. in den Kortexgebieten. (Bilder von Frau Dr. R. Klingele, Leopoldina-Krankenhaus Schweinfurt, zur Verfügung gestellt)
10 Mio €. Bisher bezahlen die Krankenkassen im Rahmen einer Einzelfallregelung nur die FDG-PET. Die effektive Strahlenbelastung ist bei PET-Untersuchungen je nach verwendetem Positronenstrahler stark unterschiedlich, bei 15O-H2O beträgt die effektive Dosis 1,2 μSv/MBq, bei 18F-FDG 21–27 μSv/MBq.
Blutfluss sowie den Stoffwechsel definierter Hirnregionen machen kann. Bei der SPECT werden Substrate, die am Stoffwechselgeschehen des ZNS beteiligt sind, mit radioaktiven Isotopen markiert. Dadurch entstehen sog. Radioliganden, die intravenös appliziert über den Blutstrom und durch aktiven Transport oder Diffusion in spezifische Hirnregionen gelangen. Die Messung der von dem Radioisotop emittierten Gammastrahlung sowie die mathematische Berechnung der Lokalisation des Isotops zum Zeitpunkt der Emission liefert eine Aussage über Ort und Umsatz der Substrate. Für die Funktionsabläufe im ZNS spielt die Interaktion zwischen Neurotransmittern und Rezeptoren eine entscheidene Rolle. Mit der Entwicklung selektiver Radioliganden wurde in den vergangenen Dekaden die Grundlage für die in-vivo Abbildung von Rezeptorsystemen im ZNS geschaffen. Heute sind mit den Dopamin-, Benzodiazepin-, Opiat- und Serotoninrezeptoren die wichtigsten Rezeptorsysteme auch der SPECT zugänglich. Das dopaminerge System spielt in der Psychiatrie eine besondere Rolle, da eine Vielzahl von psychiatrischen Krankheitsbildern mit Funktionsstörungen des dopaminergen Systems
25.2.6
Single-Photon-EmissionsComputertomografie (SPECT)
Die Besonderheit nuklearmedizinischer diagnostischer Verfahren besteht in der Möglichkeit, im intakten menschlichen Organismus ablaufende Stoffwechselvorgänge dreidimensional sicht- und messbar zu machen. Dies ermöglicht die SPECT durch die Quantifizierung von Neurotransmittersystemen auf der synaptischen Ebene. Zudem lassen sich die Veränderungen durch die Verwendung psychotroper Substanzen und Psychopharmaka in vivo evaluieren. Die SPECT ist im Vergleich zur PET ein kostengünstiges und weitverbreitetes Verfahren, welches eine qualitative und semiquantitative Aussage über den
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564
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
einhergehen. Darüber hinaus stellt das dopaminerge System einen zentralen Angriffspunkt zahlreicher zentralwirksamer Medikamente dar.
Praktische Durchführung
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Bei der praktischen Durchführung wird das zuvor durch eine chemische Reaktion an das Substrat gekoppelte radioaktive Isotop (Radioligand) intravenös appliziert. In der Patientenvorbereitung sollte bei Verabreichung von 123Jod-markierten Radiopharmazeutika der Applikation eine suffiziente Schilddrüsenblockade vorausgehen, um die Aufnahme freien Jodids in die Schilddrüse weitmöglichst zu unterbinden. Bei der Untersuchung liegt der Patient auf einer Liege, und eine Gammakamera rotiert um die zu untersuchende Region (⊡ Abb. 25.10). Für die Datenakquisition werden bevorzugt hochauflösende SPECTSysteme der neuen Generation eingesetzt (Mehrkopfsysteme, Ringdetektoren), um den heutigen Erfordernissen an Bildqualität, räumlicher Auflösung sowie Überlagerung funktioneller SPECT- mit morphologischen MRDatensätzen Rechnung zu tragen. Die Untersuchung dauert in der Regel 1–2 h. Es entsteht je nach verwendetem Radioisotop eine Strahlenbelastung, die im Bereich konventioneller Untersuchungen mit der Computertomographie, z. B. des Bauchraumes, liegt. Schwangere Patienten sollten daher in der SPECT nicht untersucht werden.
Bedeutung der SPECT für die Psychiatrie Die SPECT hat in der Psychiatrie sowohl klinisch-diagnostische als auch wissenschaftliche Bedeutung. Die klinische Bedeutung liegt in erster Linie in der Beurteilung der regionalen Hirndurchblutung. So können bei der Diagnostik zerebraler Perfusionsstörungen wertvolle Informationen gewonnen werden. Der Stellenwert bei psychischen Erkrankungen wird bei den jeweiligen Krank⊡ Abb. 25.11. IBZM-Bindung der striatären postsynaptischen D2/D3-Rezeptoren unter verschiedenen Dosierungen des atypischen Neuroleptikums Olanzapin (von links nach rechts: 5, 10 und 30 mg)
⊡ Abb. 25.10. Darstellung eines Singlephotonenemissionstomografen mit einer rotierenden Dreikopfkamera
heitsbildern erörtert. Zudem findet sie ihre klinische Anwendung zunehmend in der Therapiekontrolle (»drug monitoring«) der psychopharmakologischen Behandlung schizophrener Erkrankungen. Ausgangspunkt sind die Untersuchungen der striatären Dopamin-D2-Rezeptorbindungen einzelner neuroleptischer Substanzen im Vergleich (⊡ Abb. 25.11). Die klassischen Neuroleptika wirken sehr stark auf die stria-
565 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
tären D2-Rezeptoren und es hat sich gezeigt, dass erst eine D2-Besetzung zwischen 70–75% das Auftreten von extrapyramidal-motorischen Symptomen (EPS) deutlich steigert. In naher Zukunft lassen sich typische Neuroleptikaeinstellungen unter Zuhilfenahme der SPECT mit Dopaminrezeptor-Schwellenwertbestimmung für EPMS durchführen. Die SPECT kann möglicherweise im klinischen Alltag eine Monitoringmöglichkeit der D2-Besetzung darstellen, um EPMS gering zu halten. Auch geben Dosisfindungsstudien mit der SPECT erste Hinweise im Hinblick auf klinische Response der Patienten. Es hat sich gezeigt, dass klassische Neuroleptika erst ab einer Besetzung um die 60-70% eine neuroleptische Response entwickeln. Zukünftig könnte es daher möglich sein, die SPECT als Monitorverfahren bei sog. »therapieresistenten« Patienten anzuwenden, da im Einzelfall möglicherweise lediglich das »therapeutische« Fenster – trotz höherer neuroleptischer Dosen und im Blut nachweisbarer Spiegel – nicht erreicht ist.
25.3
Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
25.3.1
Hirnleistungsstörungen und Demenz
Mit dem Begriff »Demenz« wird ein Abbau intellektueller Fähigkeiten in Folge erworbener Erkrankungen oder Läsionen des Gehirns bezeichnet. Eine Vielzahl degenerativer, neurologischer, psychischer und internistischer Erkrankungen kann mit demenzieller Symptomatik einhergehen. Die cCT oder MRT sind im Rahmen der Basisdiagnostik die wichtigsten bildgebenden Verfahren zum Ausschluss reversibler Demenzursachen. Der Ausschluss reversibler Erkrankungen, die mit demenziellen Symptomen einhergehen können (z. B. medikamenteninduziert, Schilddrüsenerkrankungen, affektive Störungen, subdurales Hämatom, Folsäuremangel), sind Voraussetzung für die weitere diagnostische Einordnung einer bestehenden primären neurodegenerativen Erkrankung oder zerebrovaskulären Störung. In diesem Kapitel fokussiert sich die Darstellung des Einsatzes bildgebender Verfahren und seiner Hauptbefunde auf die wesentlichen Erkrankungen, die mit demenziellen Symptomen einhergehen (s. nachfolgende Übersicht).
Primär neurodegenerative ZNS-Erkrankungen Morbus Alzheimer Heute wird zwischen einer Alzheimer-Demenz mit frühem (Patienten < 65 Jahre) und spätem Beginn (Patienten < 65 Jahre; World Health Organisation 1993) unterschieden ( Kap. 44). Die Erkrankung stellt die häufigste Form der präsenilen Demenz dar.
Erkrankungen, die mit demenziellen Symptomen einhergehen Primäre neurodegenerative ZNS-Erkrankungen Morbus Alzheimer Morbus Pick Morbus Parkinson Chorea Huntington Morbus Wilson Hallervorden-Spatz-Erkrankung Zerebrovaskuläre Störungen Bilaterale Grenzzoneninfarkte Multiple Grenzzoneninfarkte Multiple lakunäre Infarzierungen Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (Morbus Binswanger)
Neuropathologisch imponiert eine diffuse zerebrale Atrophie mit verbreiterter Gyrierung und weiten inneren und äußeren Liquorräumen. Sowohl cCT als auch die MRT weisen bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung den Befund der ausgeprägten, generalisierten kortikalen Atrophie auf. Die zerebrale Atrophie ist in den anterioren und medialen Abschnitten des Temporallappens unter Einbeziehung der hippokampalen Formation häufig akzentuiert. Die Temporalhörner der Seitenventrikel sind deutlich geweitet. Zusätzlich zeigt sich eine deutliche Aufweitung der Zisternen, besonders der suprasellären Sylvi-Furchen sowie der lateralen Ventrikel einschließlich der Hinterhörner (⊡ Abb. 25.12). In letzter Zeit gewinnen halb- oder vollautomatische Volumenbestimmungen der Hippokampusregion immer mehr an Bedeutung. Diese Methoden könnten in Zukunft (neben anderen, z. B. Liquorparametern) zur Diagnostik einer Alzheimer-Demenz routinemäßig Anwendung finden. Ausgeprägte White-matter-Läsionen (Marklagerläsionen) sind für Alzheimer-Erkrankungen eher untypisch, jedoch finden sich in der MRT auch Signalveränderungen im Marklagerbereich in der T2-betonten MRT-Aufnahme. Bei einer Alzheimer-Variante, der Lewy-Body-Demenz, zeigt sich in der cCT oder MRT eine betonte bifrontale Atrophie. Die SPECT oder PET geben als weitere Bildgebungsverfahren wichtige Zusatzinformationen bei der Diagnose einer Alzheimer-Erkrankung. Beide Verfahren zeigen bei Untersuchungen der Perfusion und des Energiestoffwechsels klassischerweise symmetrische Minderaktivierungen in den Temporallappen, hier besonders in den Hippokampusformationen. Mit Hilfe dieser nuklearmedizinischen Methoden kann die Differenzialdiagnose zur Pseudodemenz, die häufig bei Altersdepressionen auftritt, durchgeführt werden, da hier keine Minderaktivierungen auftreten.
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
⊡ Abb. 25.12. Transversales Nativ-CT bei wahrscheinlicher Demenz vom Alzheimer-Typ. Ausgeprägte Erweiterung der Temporalhörner der Seitenventrikel mit bilateral-symmetrischer Ausprägung. Der mediobasale Temporallappen zeigt eine starke Atrophie. Im Gegensatz zu den Temporalhörnern zeigen die übrigen Seitenventrikel eine nicht so ausgeprägte Erweiterung. Auch die äußeren Liquorräume, z. B. im Bereich der Sylvi-Furche, sind beidseits nur mäßig weit
Morbus Pick Es handelt sich um eine seltene kortikale Demenz, die häufig präsenil einsetzt. Im Gegensatz zum Morbus Alzheimer weist sie eine fokussierte, umschriebene zerebrale Atrophie auf. Sowohl die cCT als auch die MRT zeigen die fronto-temporale Lokalisierung und die dort bestehende Atrophie imponiert häufig stark asymmetrisch, mit überwiegendem Schwerpunkt in der linken Hemisphäre. Parietale und okzipitale Lobi sind von der Atrophie meist ausgespart. Die SPECT oder PET weisen sowohl bei Perfusionsmessungen als auch bei Untersuchungen des zerebralen Energiestoffwechsels (PET) eine charakteristische Minderversorgung der frontalen ZNS-Regionen auf. Diese Verfahren sind also zu den strukturellen Untersuchungen der cCT und MRT eine ideale Ergänzung in der differenzialdiagnostischen Abgrenzung von M. Pick und der Alzheimer-Erkrankung.
Strukturen im T2-Bild ist bei Morbus Parkinson abgeschwächt, da sich vermehrt Eisen und Ferritin in der Pars compacta ablagern. Beide Strukturen sind so nicht mehr gut voneinander abgrenzbar (⊡ Abb. 25.13). Mit der PET kann eine Degeneration der Substantia nigra über die verminderte striatale Akkumulation des Dopa-Analogons 18F-Dopa sehr sensitiv diagnostiziert werden. Parkinson-Syndrome. Sie sind vom Morbus Parkinson
dahingehend abzugrenzen, als sie sich zwar in der klinischen Phänomenologie ähneln, jedoch liegt diesen Parkinson-Syndromen zusätzlich eine Multisystematrophie zugrunde. Sie werden diagnostisch häufig als Parkinson-
Morbus Parkinson, Parkinson-Syndrome Morbus Parkinson. Diese häufige Erkrankung geht be-
kanntermaßen mit dem Verlust von Neuronen der Substantia nigra einher. Dies betrifft vor allem die Pars compacta der Substantia nigra sowie den Locus ceruleus und den dorsalen vagalen Nukleus. Es handelt sich um eine extrapyramidal-motorische Störung, die dem subkortikalen Demenztyp zugeordet wird. Mit der cCT oder MRT lässt sich nicht zwingend eine generelle Atrophie des ZNS darstellen, wiewohl gerade bei jüngeren Patienten eine kortikale Atrophie mitunter dokumentiert werden kann. Zur Darstellung der subkortikalen Veränderungen ist die hochauflösende MRT das diagnostische Mittel der Wahl. Es lassen sich mit der MRT die feinen Strukturen der Pars compacta und reticulata der Substantia nigra gut voneinander abgrenzen. Die aufgrund des höheren Eisengehaltes in der Pars reticulata normalerweise deutlich unterschiedliche Signaldifferenz zwischen diesen beiden
⊡ Abb. 25.13. T2-gewichtige axiale MRT-Aufnahme bei einem Patienten mit striatonigrataler Degeneration als Subtyp einer Multisystematrophie. In beiden Putamina lassen sich sowohl hypodense als auch randständige hyperintense Signalveränderungen nachweisen
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plus-Syndrome gefasst und schließen Syndrome wie die striatonigratale Degeneration, das Shy-Drager-Syndrom, die pontozerebelläre Degeneration und die progressive supranukleäre Paralyse ein. Das klinische Trennkriterium ist die positive versus fehlende Ansprechbarkeit hinsichtlich dopaminerger Pharmaka. Die strukturelle MRT zeigt in der Regel bei allen Unterformen eine generalisierte Hirnatrophie mit erweiterten supratentoriellen Sulci und infratentoriellen Zisternen. Ein spezifischer Befund der Parkinson-Syndrome ist zumeist die Atrophie des Putamen sowie dort lokalisierte Hypointensitäten im T2-Bild der MRT.
Chorea Huntington Diese autosomal-dominant vererbte Erkrankung der Basalganglien wird ebenfalls unter die subkortikalen Demenzformen subsummiert. Neuropathologisch zeigt sich eine massive Basalganglienatrophie, mit Volumenreduktionen im Striatum und Kaudatus aufgrund neuronaler Degeneration. Die cCT und, mit höherer Sensitivität, die MRT zeigen eine fronto-parietal betonte kortikale Atrophie sowie eine subkortikale Atrophie mit fokaler Erweiterung der Vorderhörner der Seitenventrikel. Vermehrte Eisenablagerungen in Putamen und Caudatus führen zu charakteristischen Signalabschwächungen bzw. Hypointensitäten in der T2-gewichteten MRT-Aufnahme. Entsprechend der deutlichen striatären Atrophie lässt sich mit der SPECT diagnostisch ein pathologischer postsynaptischer D2-Rezeptorstatus mit verminderter IBZMBindung (123J-Jodobenzamid; spezifischer und selektiver D2-Regzeptor-Agonist) in den Basalganglien nachweisen.
Morbus Wilson Diese familäre hepatolentikuläre Degeneration ist eine autosomal rezessive Erbkrankheit mit subkortikaler Demenz. Es liegt eine Störung des Kupfermetabolismus vor, bei der Coeruloplasmin, das Serumtransportprotein für das Kupfer, nicht hergestellt werden kann. Die cCT und MRT Diagnostik weist im ZNS keine oder nur eine geringe Hirnatrophie auf. Die MRT ist zur genaueren Diagnostik aufgrund der besseren Bildinformationen das überlegene diagnostische Verfahren. Es zeigen sich meist bilaterale Hyper- sowie Hypointensitäten in den T2-gewichteten Spinechoaufnahmen im Striatum, dem Nucleus lentiformis sowie gelegentlich im Thalamus (⊡ Abb. 25.14). Mit der SPECT lässt sich typischerweise eine deutliche Verminderung der striatären postsynaptischen D2-/D3Rezeptorstatus im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden nachweisen. Diese Veränderung kann den strukturellen MRT-Befunden sogar vorausgehen, somit stellt die Dopaminrezeptordarstellung mit der SPECT eine wichtige diagnostische Methode bei dieser Erkrankung dar.
⊡ Abb. 25.14. Axiale MRT-Aufnahme in T2-Gewichtung bei einem Patienten mit M. Wilson. Gut erkennbar sind die bilateralen, symmetrisch vorhandenen pathologischen Veränderungen im Nucleus caudatus, Putamen und Thalamus. Während im Putamen überwiegend hyperintense pathologische Signale erkennbar sind, sind die Signalveränderungen im Nucleus caudatus und Thalamus hypointens
Hallervorden-Spatz-Erkrankung (HSD) Die Hallervorden-Spatz-Erkrankung unterliegt einem autosomal-rezessiven Erbgang oder tritt sporadisch auf. Die Ätiologie ist ungeklärt, die Erkrankung stellt eine seltene Differenzialdiagnose der präsenilen Demenz dar. In der diagnostischen Beurteilung kommt der MRT eine wesentliche Bedeutung zu. Diese zeigt typische Signalauslöschungen in der T2-gewichteten Sequenz im Globus pallidus, dem Nucleus ruber und dem retikulären Anteil der Substantia nigra. Die Signalauslöschungen beruhen am ehesten auf Suszeptibilitätseffekten durch Eisenablagerung sowie Ablagerungen von Lipofuszin und Neuromelanin. Das sog. »Eye-of-the-tiger«-Zeichen, eine bilaterale Signalhyperintensität im rostralen Anteil des Globus pallidus, ist spezifisch für die HSD, jedoch keineswegs immer vorhanden.
Zerebrovaskuläre Störungen Eine demenzielle Entwicklung im Rahmen zerebrovaskulärer Erkrankungen spiegelt nicht, wie ürsprünglich vermutet, eine Verringerung der Blutversorgung im Sinne der chronischen Minderdurchblutung des ZNS wider, sondern zeichnet sich durch bilaterale Grenzzonenischämien und Territorialinfarkte, multiple lakunäre Infarzierungen oder eine diffuse Demyelinisierung des periventrikulären Marklagers (Morbus Binswanger) aus (Ackermann et al. 1998).
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
Bilaterale Grenzzonenischämien und multiple Territorialinfarkte
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Sowohl mit der cCT als auch mit der MRT wird zwischen territorialen Infarkten, Endstrominfarkten und Grenzzoneninfarkten differenziert. Die Grenzzoneninfarkte erreignen sich zwischen 2 oder 3 Gefäßterritorien. Beispielsweise liegt das Infarktareal fronto-parasagittal zwischen dem Versorgungsgebiet von A. cerebri anterior und A. cerebri media oder temporo-parietal zwischen A. cerebri media und A. cerebri posterior. Die Territorialinfarkte sind anatomisch je nach den versorgenden Gefäßterritorien lokalisiert und treten dann auf, wenn ein Gebiet nicht durch Kollateralgefäße versorgt wird. Im Falle dieser Grenzzonen- und Territorialinfarkte kommt es klinisch neben eindeutigen neurologischen Ausfällen zu akuten und subakuten kognitiven Einbußen. Die Bildgebung hat als erste Aufgabe bei Auftreten einer Ischämie eine Blutung oder andere nichtvaskuläre Faktoren wie einen Hirntumor auszuschließen. Ein zweiter relevanter Aspekt ist die frühzeitige Dokumentation der Art und des Ausmaßes des Infarktes, um lebenswichtige therapeutische Maßnahmen umgehend einzuleiten. Schließlich ist die Dokumentation des Ausmaßes des Infarktareales zur Beurteilung des Umfanges der Schädigung von Bedeutung. Ein ischämisches Areal charakterisiert sich durch fehlende Vaskularisierung, ödematöse Schwellung und nekrotisches Gewebe. Computertomografie. Mit der cCT lässt sich 3–4 h nach
dem Infarkt dieser durch den erfahrenen Untersucher anhand folgender Zeichen diagnostizieren: Konturunschärfe im betroffenen Areal mit Verstreichen der Marklager-Rinden-Grenze, verstrichenes Furchenrelief, hyperdense Darstellung der zuführenden Gefäße, besonders der A. cerebri media im ZNS. In der akuten Phase bestehen im infarzierten Gebiet möglicherweise nur schwach hypodens imponierende Absorptionswerte in der cCT (⊡ Abb. 25.15). Auch bleibt ein kleiner Teil der Infarkte über den gesamten Krankheitsverlauf isodens. Zwischen der 2.–5. Woche kommt es in der Regel zur scharfen Randbegrenzung des Infarktareals, die ödematöse Schwellung nimmt ab und zunächst hypodense Infarkte können isodens werden und nur noch nach Kontrastmittelapplikation bis zu 8 Wochen nach Infarzierung nachweisbar sein. Magnetresonanztomografie. Zur präziseren Diagnostik
ist die MRT der cCT dahingehend überlegen, dass sie einen Infarkt bereits 2 h nach Infarzierung detektieren kann, kleinere petechiale Einblutungen im Infarktareal besser erfasst und
⊡ Abb. 25.15. Nachweis einer hypodensen Zone im cCT am Hinterrand des Putamen rechtsseitig. Diese Veränderung entspricht einem frischen Infarkt
sowohl im Bereich der hinteren Schädelgrube als auch infratentoriell eine bessere Auflösung bietet. Im akuten Stadium zeigt die MRT fleckige Hyperintensitäten im T2-Bild, in der T1-gewichteten Sequenz sind keine oder nur geringe Hypointensitäten im Infarktareal sichtbar. Nach einigen Stunden ist der Austritt des vasogenen Ödems mit seinem raumfordernden Charakter sichtbar. Es zeigt sich in der T2-Sequenz nunmehr eine kräftige und homogene Signalanhebung, im T1-Bild eine Signalhypointensität mit unscharfer Begrenzung.
Multiple lakunäre Infarzierungen Die multiplen lakunären Infarkte liegen umschrieben subkortikal im Versorgungsgebiet langer Marklagerarterien. Diese Infarkte befinden sich bevorzugt in den Stammganglien, im Marklager und im ventralen Hirnstamm und sind meist Folge von Mikroangiopathien. Die Mikroangioapthie ist ein Krankheitsbild, das mit einer Hyalinose kleiner Marklagergefäße einhergeht. Klinisch imponiert bei diesem »Status lacunaris« eher eine langsame, progrediente Ausbildung kognitiver Störungen. In der cCT sind die Lakunen mit einem Durchmesser von 2–10 mm gut abgrenzbar und hypodens sichtbar. In der MRT erscheinen diese Lakunen als herdförmige Veränderungen im T2-Bild hyperintens. Die Differenzierung zwischen lakunären Infarkten und Demyelinisierungen, wie sie im Vollbild bei der subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie zu sehen sind, wird durch die T1-gewichtete Sequenz möglich. Hier sind lakunäre Infarkte scharf umrandet und hypointens.
569 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE, früher Morbus Binswanger) Neben den, auch bei diesem Krankheitsbild bestehenden lakunären Infarkten, steht eine spongiöse Demyelinisierung des Marklagers im Vordergrund. Das häufigste Symptom ist die langsam fortschreitende Demenz. Ein typischer Risikofaktor ist der arterielle Hypertonus. Bei der SAE ist das diagnostische Mittel der MRT führend. Es zeigen sich fleckförmige Signalanhebungen im T2-Bild. Die Konfluenz dieser Herde ist besonders im Bereich der Vorder- und Hinterhörner der Seitenventrikel zu sehen (⊡ Abb. 25.16). Das T1-Bild zeigt typischerweise keine oder lediglich leichte Veränderungen der T1-Relaxationszeit. Die cCT zeigt eine verminderte periventrikuläre Dichte. Zusätzlich können mit der SPECT und der PET Funktionsstoffwechselstörungen im Verlauf der SAE dokumentiert werden.
25.3.2
Schizophrene Erkrankungen
Strukturelle Bildgebung Eine anerkannte Metaanalyse zu den MRT-Studien an schizophrenen Patienten dokumentiert für den Zeitraum von 1988–1998 insgesamt 58 ZNS-Untersuchungen an 1588 schizophrenen Patienten (Wright et al. 2000). Bestätigt werden die Befunde einer leichten Reduktion des Gesamthirnvolumens um durchschnittlich 2% und die Erweiterung der Seitenventrikel um durchschnittlich 26% im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden. Neben diesen globalen Veränderungen zeigt sich für die Region des Hippokampus, des Parahippokampus und der Amyg-
⊡ Abb. 25.16. Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE). Das axiale MR mit Flair-Sequenz zeigt hyperintense Marklagerveränderungen mit Betonung der Hinterhörner der Seitenventrikel
dala eine bihemisphärale strukturelle Reduktion von 5– 7% im Vergleich zu gesunden Probanden. Zusätzlich ergibt sich für die Region des linken anterioren superioren temporalen Gyrus (STG) eine Reduktion um 7%.
Region-of-interest-Methodik (ROI-Methodik) Die genaue Betrachtung der Daten zeigt, dass viele MRTStudien, die einem manuell-interaktiven Analyseansatz folgen (ROI–Methoden) aufgrund des hohen Arbeitsaufwandes nur wenige Einzelregionen im ZNS untersucht haben. So werden die Seitenventrikel in 30 Studien untersucht, während die Evaluation der grauen und weißen Substanz für das gesamte Gehirn nur in jeweils 6 und 5 Studien vorgenommen wurden (Wright et al. 2000). In den letzten Jahren wurden mit Hilfe der ROI-Methodik weitere Hirnareale untersucht, die möglicherweise in die Pathogenese der Schizophrenie involviert sein könnten. So verdichten sich Hinweise aus mehreren Studien, dass paralimbische Regionen wie der insuläre, orbitofrontale, temporo-polare und parazinguläre Kortex bei schizophrenen Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollen im Volumen signifikant vermindert sind (Makris et al. 2006; Pressler et al. 2005; Kasai et al. 2003; CrespoFacorro 2000; Yücel 2002).
Voxel-basierte Morphometrie (VBM) Durch die Entwicklung und Etablierung der VBM konnten in den letzten Jahren innerhalb einzelner Studien die Hirnstrukturen deutlich größerer Stichproben schizophrener und gesunder Patienten untersucht werden, da diese Methode auf automatisierten Verfahren beruht, die keiner Interaktion mit dem Untersucher bedürfen (Ashburner u. Friston 2000). Weitere Vorteile der VBM sind v. a. die bessere internationale Vergleichbarkeit der Ergebnisse durch Normierung der Einzeldatensätze auf ein Standardgehirn sowie die Möglichkeit zur Untersuchung des Gesamtgehirns ohne hypothesengesteuerte Auswahl bestimmter Regionen. Mit Hilfe der VBM konnten im Quer- und Längsschnitt frühere Ergebnisse der ROI-Studien bestätigt und weitere wichtige Befunde zu hirnmorphologischen Veränderungen bei schizophrenen Patienten in verschiedenen Stadien der Erkrankung gewonnen werden. Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse (Honea 2005) mit insgesamt 390 schizophrenen Patienten und 364 gesunden Kontrollen konnte bei den Patienten ein komplexes Muster von strukturellen Veränderungen belegen. Dieses Muster beinhaltet hauptsächlich Strukturen des limbischen Systems (Hippokampus, Amygdala), Regionen in unmittelbarer Nachbarschaft des Sulcus lateralis (Insel, STG, Gyrus angularis, supramarginalis und frontalis inferior), die präfrontale und frontale Hirnkonvexität (Gyrus frontalis superior, Gyrus frontalis medius) sowie die präfrontalen und orbitofrontalen Areale im Interhemisphärenspalt und der Fossa cranii anterior. Darüber hin-
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
aus wurde in dieser wichtigen Übersichtsarbeit auch über morphologische Veränderungen in subkortikalen Arealen (Thalamus, Nucleus caudatus) und dem Kleinhirn berichtet.
Fazit
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Zusammengefasst belegen diese Daten, dass den diversen klinischen Erscheinungsformen, die mit dem Begriff der »schizophrenen Erkrankung« verknüpft sind, komplexe neuroanatomische Veränderungen zugrunde liegen. Diese Veränderungen entstehen möglicherweise auf dem Boden einer strukturellen und funktionellen »Dyskonnektion« (Stephan 2006), die das Resultat einer neuronalen Entwicklungsstörung darstellt und im weiteren Verlauf der Erkrankung zu progredienten und defizienten neuroplastischen Veränderungen führt (Pantelis 2005).
Einfluss von Psychopharmaka Ein möglicher wichtiger Einflussfaktor für die Ergebnisse der beschriebenen strukturellen MRT-Befunde ist der Einfluss der Psychopharmaka auf verschiedene Hirnstrukturen. Mehrere Untersuchungen mit der In-vivoMRT haben kürzlich gezeigt, dass es nach 2-jähriger Gabe von Typika zu einer Größenzunahme der Basalganglien kommt (Harrison 1999). Umgekehrt zeigt sich eine Größenabnahme der Basalganglien unter 2-jähriger Gabe von Atypika (Corson et al. 1999). Der Mechanismus ist ungeklärt, sicher spielen Zusammenhänge zwischen dem Neurotransmitter Dopamin und dem Zellzyklus eine Rolle.
Kombinationsansatz Bei der Generierung neuer pathogenetischer Konzepte für die Schizophrenieforschung steht die Zusammenführung von unterschiedlichen potenziellen biologischen Markern, wie struktureller MRT, mit neurophysiologischen, genetischen, neuroimmunologischen, endokrinologischen sowie funktionell-bildgebenden Messparametern zunehmend im Mittelpunkt. Dieser Kombinationsansatz erscheint als erfolgsversprechender Weg – insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass die fehlenden und noch unbefriedigenden Befunde in den einzelnen Forschungsdomänen – neue Forschungs- und Hypothesenrichtungen durch die methodische Zusammenführung der Einzelbetrachtungen aufzeigen können.
Arbeitsmodell der multifaktoriellen Genese Das Wissen um die Neurobiologie der Schizophrenie wurde aus unterschiedlichen Quellen gewonnen. Postmortem- und In-vivo-Studien an Patienten erlaubten es, strukturelle Hirnveränderungen zu charakterisieren. Die
gute Behandelbarkeit von wichtigen Symptomen der schizophrenen Störung durch Dopaminantagonisten legitimierte die Entwicklung der zentralen Hypothese eines gestörten Dopaminstoffwechsels. Genetisch-epidemiologische Familienstudien charakterisieren ein überzufällig häufiges genetisches Loading der Erkrankung, die primär nicht monogen übertragen wird. Klinische Beobachtungen, neuropsychologische und bildgebende Forschung gestatteten die Charakterisierung spezifischer kognitiver Defizite (Meisenzahl u. Möller 2002). Diese vielfältigen Beobachtungen sind Grundlage für die heute verwendeten Modelle zur schizophrenen Netzwerkstörung (Andreasen 2000; Bayer et al. 1999). In der Wissenschaftsgemeinschaft ist ein Arbeitsmodell der multifaktoriellen Genese entstanden, welches versucht, die verschiedenen Faktoren miteinander in Verbindung zu setzen. Im Mittelpunkt steht eine strukturelle Störung des ZNS. In ⊡ Abb. 25.17 ist das Metakonzept zur Pathogenese dargestellt. Genetische Aspekte. Ausgangspunkt sind verschiedene, als pathogenetisch relevant erachtete Einflussvariablen für die Entstehung der Erkrankung. Betrachtet man das genetische Loading, lässt sich eine familiäre Belastung von 48% bei monozygoten, und nur 17% bei dizygoten Zwillingen nachweisen. Verschiedene Kopplungsstudien ergeben für die Schizophrenie mögliche Suszeptibilitätsloki, jedoch ließ sich bisher kein sicheres Kandidatengen festmachen (Bayer et al. 1999; Maier et al. 2003). Postuliert werden daher multiple Suszeptibilitätsgene als ein wichtiger Faktor in der ersten Stufe der Pathogenese. Nichtgenetische Faktoren. Weitere nichtgenetische Fak-
toren wie pränatale Infektionen (Wright et al. 1995), Geburtskomplikationen (Geddes u. Lawrie 1995; Geddes et al. 1999; Hultman et al. 1999) sowie eine defizitäre Ernährungslage in der Schwangerschaft (Susser u. Lin 1992) wurden als Risikofaktoren untersucht und sowohl mit der Erkrankung als auch mit deren Verlaufsaspekten, wie früherem Krankheitsbeginn und gehäufter familiärer Belastung (O’Callaghan et al. 1992), in Zusammenhang gebracht. Diese Faktoren können sowohl pränatal als auch während der weiteren Hirnreifung Einfluss auf die ZNSEntwicklung nehmen. Die makrostrukturellen Befunde könnten Ausdruck dieser Hirnreifungsstörung sein. Trotz des fehlenden Nachweises von gliotischen Veränderungen ist letztendlich bisher nicht klargelegt, ob es nicht zusätzlich oder sogar alternativ zu einem degenerativen Prozess im ZNS kommen kann. Diese Frage ist auch aufgrund von methodischen Schwierigkeiten nicht abschließend beantwortet. Während die cCT-Follow-up-Studien in Untersuchungszeiträumen von 2–8 Jahren mit meist ZweipunktUntersuchungen mehr negative als positive Studien aufwiesen (Vita et al. 1994), zeigte die Mehrheit der Studien aus der In-vivo-MRT-Forschung in jüngsten Längs-
571 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
⊡ Abb. 25.17. Metakonzept
hereditäre Faktoren
zur Pathogenese der Schizophrenie
und/oder
diskrete zerebrale Schädigungen, z. B. Virusinfektionen pränatal oder postnatal
prädisponierende Faktoren psychosoziale Faktoren
auslösende Faktoren
Stressoren »Life-events« Drogen
Vulnerabilität
Schizophrenie
heilungsfördernde oder rezidiv-provozierende Faktoren
Heredität zerebrale Schädigungen psychosoziale Faktoren
Remission
schnittstudien (mit ebenfalls Zweipunkt-Untersuchungen) Ergebnisse, die eine signifikante Volumenreduktion stützen könnten (DeLisi et al. 1997; Gur et al. 1998; Mathalon et al. 2001; Rapoport et al. 1999; Cahn et al. 2002). Veränderte funktionelle Konnektivität. Im vorliegenden
Arbeitsmodell haben die beschriebenen strukturellen ZNS-Veränderungen eine veränderte funktionelle Konnektivität zur Folge, die sich subklinisch bereits in Form kognitiver Störungen darstellt. In der Tat zeigen Familien- und Früherkennungsstudien bereits kognitive Defizite (Toomey et al. 1998). Interessanterweise zeigen auch Angehörige von schizophrenen Patienten bereits strukturelle Hirnveränderungen, ohne an einer psychischen Erkrankung zu leiden (Lawrie et al. 1999). Diese veränderte Konnektivität muss somit nicht zwingend zur Manifestation der Erkrankung führen. In dem Zweistufenmodell führen zusätzliche Faktoren wie unspezifische genetische Einflüsse, Hormonlage, Stress und besonders belastende Lebensereignisse (»second hit«) zur eigentlichen Manifestation der klinischen Symptomatik.
Computertomografie In den 1970er Jahren beginnen die Untersuchungen von tomografischen Bildern mittels der Computertomografie. Erstmalig kann Hirngewebe in vivo dargestellt werden, und die erste Untersuchung an 17 jungen schizophrenen Patienten von Johnstone und Kollegen (Johnstone et al. 1976) sowie alle im Zeitraum von 1976–1990 nachfolgenden Untersuchungen bestätigen die bereits pneumenzephalografisch nachgewiesene Erweiterung der Seitenventrikel bei schizophrenen Patienten.
Rezidiv
Chronizität
Magnetresonanztomografie Die MRT-Ära zu Beginn der 1990er Jahre ermöglicht durch die tomografische Darstellung vielfältiger Gewebeinformationen eine differenzierte qualitative und quantitative Betrachtung der Hirnstruktur und die Trennung von grauer und weißer Substanz. Die Anwendung unterschiedlicher Segmentierungsverfahren wie BRAINS (Andreasen 1992) oder der Methoden der voxelbasierten Morphometrie (VBM; Ashburner u. Friston 2000) eröffnet neue Möglichkeiten zu quantitativen, interindividuellen Erfassung und Auswertung der einzelnen Gewebsklassen.
Funktionelle Bildgebung MR-Spektroskopie (MRS) In der MRS zeigen schizophrene Patienten einen NAAAbfall im Hippokampus, dorsolateralen präfrontalen Kortex, Gyrus cinguli sowie im Thalamus. Es zeigen sich jedoch Normalbefunde im Nucleus caudatus und Putamen, Schizophrene haben ein charakteristisches metabolisches Muster des NAA-Signals, das deutliche Unterschiede zum Muster depressiver Patienten aufweist. Die NAA-Signalveränderungen deuten auf ein Netzwerk kortikaler Regionen hin, das spezifisch bei Schizophrenie betroffen ist (s. oben). Ähnlich wie bei der depressiven Störung ist der präfrontale Kortex mit seinen Verbindungen zum limbischen System betroffen. Diese »Brücke« zwischen beiden Erkrankungen – dargestellt durch die MRS – ist möglicherweise ein neurobiologisches Korrelat dafür, dass schizophrene Patienten im Laufe ihrer Erkrankung depressive Syndrome herausbilden können, oder depressive Patienten Erkrankungsphasen mit psychotischen Symptomen erleiden. Möglicherweise können
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
die funktionell-bildgebenden Verfahren MRS und fMRT in Zukunft wichtige differenzialdiagnostische Hinweise liefern, wenn die Symptomebene keine klare diagnostische Entscheidung zulässt.
Befunde im Frontallappen
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In Bezug auf den Lipidstoffwechsel ist eine Erniedrigung der Phosphomonoester (PME) bei gleichzeitiger Erhöhung der Phosphodiester (PDE) im Frontallappen schizophrener Patienten der am häufigsten replizierte Befund. Der mithilfe funktionell-bildgebender Verfahren am häufigsten erhobene Befund bei schizophrenen Patienten stellt die sog. Hypofrontalität dar, d. h. die Aktivitätsverminderung in frontalen Gehirnabschnitten bei schizophrenen Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen. Die Hypofrontalität äußert sich sowohl bei Messung des Glukosestoffwechsels (18FDG-PET) als auch der Perfusion (z. B. 15O-H2O-PET; für eine Übersicht s. z. B. Buchsbaum 1995). Dieser Befund der reduzierten Aktivität in frontalen Kortexarealen, wobei ein besonderes Schwergewicht auf dem linken dorsolateralen präfrontalen Kortex zu liegen scheint, wurde erstmals 1974 von Ingvar und Franzen mit Hilfe der 133Xenon-Inhalationstechnik erhoben. Besonders deutlich und replizierbar ist diese Hypofrontalität, wenn nicht im Ruhezustand gemessen wird, sondern die Patienten mit Hilfe z. B. einer neurokognitiven Aufgabe belastet werden (funktionelle Hypofrontalität, Andreasen et al., 1992), wobei sog. frontalhirnspezifische Testverfahren, wie z. B. der Wisconsin Card Sorting Test, als Stimulationparadigmen gut geeignet sind. Allerdings blieb das Konzept der Hypofrontalität nicht unumstritten, v. a. da es vereinzelte Untersuchungen gab, die eine Hyperfrontalität, insbesondere bei neuroleptikafreien Patienten mit im Vordergrund stehender Produktivsymptomatik, fanden. Allerdings überwiegen auch bei neuroletikafreien (z. T. wurden auch neuroleptikanaive) Patienten Ergebnisse im Sinne der Hypofrontalität (z. B. Wiesel et al. 1987; Batista et al. 1995). Hierbei korrelierte z. T. das Ausmaß der Hypofrontalität mit dem Ausprägungsgrad der Negativsymptomatik.
Befunde im Temporallappen Neben den Befunden zum Frontallappen wurden auch Hinweise für eine Funktionsstörung des Temporallappens, wenn auch wesentlich seltener, erhoben. Hier ist die Befundlage heterogen, es wurden sowohl Hypo- als auch Hyperaktivierungen beschrieben, einige Autoren konnten einen Zusammenhang zwischen der Aktivität von Temporallappenbereichen und produktiven Symptomen zeigen.
Kritische Bewertung der Hypofrontalität Eine paradigmatische Untersuchung, die Liddle und Mitarbeiter 1992 publizierten, ging auf die Frage ein, ob das Muster der zerebralen Glukoseutilisation mit klinischen Psychopathologie-Prägnanztypen zusammenhängt. Mit-
hilfe statistischer Verfahren zeigten die Autoren, dass bei Wahrnehmungs- und Ich-Störungen (»reality distortion«) ein Hypermetabolismus links medio-temporal sowie ein Hypometabolismus rechts zingulär und links laterotemporal besteht. Bei vorherrschenden inhaltlichen Denkstörungen (»Disorganization«) zeigte sich ein Hypometabolismus rechts präfrontal, insulär, zingulär und im Bereich des Thalamus, bei dominierender Negativsymptomatik (»psychomotor poverty«) ein Hypometabolismus dorsolateral präfrontal und parietal sowie ein Hypermetabolismus im Bereich des Kaudatums. Diese Ergebnisse zeigen deutlich, dass ein so einfaches Konstrukt wie die Hypofrontalität nur mit einem Teil der schizophrenen Symptomatik in Zusammenhang steht.
Funktionelle MRT-Studien Die Zahl der funktionellen MRT-Studien hat sich im vergangenen Jahrzehnt jährlich gesteigert und bezieht sich auf alle kognitiven Teilbereiche, wobei die Ergebnisse im Einklang mit neuropsychologischen Befunden der Schizophrenie stehen (Lautenbacher u. Gauggel 2004). Bereits auf der Ebene der visuellen und auditiven Wahrnehmung konnten bei schizophrenen Patienten signifikante Signalveränderungen im Vergleich zu Gesunden festgestellt werden. So konnten Braus et al. (2002) demonstrieren, dass bereits bei einem einfachen visuell-akustischen Paradigma beeinträchtigte Aktivierungsmuster sowohl auf frühen Stufen der Informationsverarbeitung (Minderaktivierungen im Thalamus), als auch bei höheren integrativen Prozessen (Minderaktivierung im präfrontalen und parietalen Kortex) beobachtet werden können. Akustische Halluzinationen. Auch akustische Halluzinati-
onen als Kernsymptom der Schizophrenie sind Untersuchungsgegenstand der funktionellen Bildgebung. So ist der Schweregrad der akustischen Halluzinationen mit frontotemporaler Minderung der funktionellen Verschaltung assoziiert (Lawrie et al. 2002), es werden während akustischen Halluzinationen primäre akustische Rindenareale aktiviert (Dierks et al. 1999) und sprachrelevante Regionen sind während halluzinatorischem Erleben vermindert auf externe Sprachstimuli ansprechbar (Woodruff et al. 1997). Doch nicht nur akustische, sondern auch somatische Halluzinationen spiegeln sich im BOLD-Signal wider. Während sich bei akustischen Halluzinationen in einer Einzelfallstudie Aktivierungen in Regionen des temporalen Kortex nachweisen ließen, fanden sich für somatische Halluzinationen Aktivierungen im parietalen Kortex (Shergill et al. 2001). Im Bereich der Aufmerksamkeit wurden vor allem der Aspekt der selektiven Aufmerksamkeit und die Bewältigung von Interferenzaufgaben untersucht. Continous Performance Test. Das wohl am meisten ver-
wendete Paradigma stellt der CPT (Continuous Performance Test) dar, wobei der CPT nicht als spezieller Test,
573 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
sondern als Oberbegriff für eine standardisierte Testanordnung gesehen werden muss. Definitionsgemäß muss dabei auf einen bestimmten Reiz reagiert werden, die Reizdichte ist hoch und die Dauer liegt unter 10 min, sodass diese Art von Test am ehesten dem Bereich der selektiven Aufmerksamkeit zugeordnet wird. Bei schizophrenen Patienten finden sich dabei signifikant geminderte Aktivierungen im inferioren Frontalkortex (Eyler et al. 2004). Interferenzaufgaben. Muss nicht mehr auf einen ein-
fachen Reiz reagiert werden, sondern wird die Ausführung einer kognitiven Aufgabe zusätzlich durch die Induktion einer weiteren Informationsverarbeitungsroutine gestört, wird dies als Interferenzaufgabe bezeichnet. Der Stroop Test stellt ein typisches und bekanntes Beispiel dafür dar. In fMRT-Studien wurden für Interferenzaufgaben bei schizophren Erkrankten zusätzliche Aktivierungen im frontalen Bereich im dorsolateralen präfrontalen Kortex und dem anterioren Zingulum gefunden, wobei die Bearbeitungsqualität von schizophrenen und gesunden Probanden vergleichbar war (Weiss et al. 2003). Hippokampus-Aktivierung. Der Hippokampus ist die re-
levante Region für episodische Gedächtnisleistungen. Strukturelle Veränderungen dieser Region bei schizophrenen Patienten sind seit langem bekannt. In neueren fMRT Untersuchungen ist inzwischen auch die Aktivierung dieser Struktur darstellbar. Während sich in einigen Studien hippokampale Minderaktivierungen gemessen wurden (Leube et al. 2003; Weiss et al. 2003) fand sich in anderen Untersuchungen außerdem auch eine Hypofrontalität von schizophrenen Patienten (Kubicki et al. 2003; Ragland et al. 2004). N-back-Verfahren. Zu den wichtigsten Aufgaben des
präfrontalen Kortex gehört das Arbeitsgedächtnis, welches eine geplante, kontrollierte Handlungsausführung und kontextgerechte Adaptation komplexer Handlungsmuster ermöglicht. Da in diesem Bereich Defizite schizophrener Patienten sehr häufig zu finden sind, liegt es nahe, dass der Frontallappen eine wesentliche Rolle bei der Pathogenese der Schizophrenie spielt. Ein typisches Testverfahren, um Arbeitsgedächtnisleistungen zu objektivieren sind sog. N-back-Verfahren. Dabei werden einzelne Stimuli (z. B. Buchstaben) präsentiert, der Proband soll reagieren, wenn das präsentierte Item dem n-ten vorherigen Item entspricht (z. B. 2 – back: der aktuelle Reiz wurde an vorletzter Stelle ebenfalls präsentiert). Wisconsin Card Sorting Test. Auch der WCST, ein Karten-
sortierverfahren, das Arbeitsgedächtnisleistungen, Abstraktionsvermögen und kognitive Flexibilität erfordert, ist ein vielverwendeter Test zur Überprüfung exekutiver Leistungen. Bei schizophrenen Patienten finden sich für
beide kognitive Paradigmen signifikant abweichende Aktivierungen im Vergleich zu gesunden Probanden. Bei der Durchführung des WCST zeigen Patienten verminderte Aktivierungen des präfrontalen Kortex (Volz et al. 1997). Vor allem frühere Studien (Barch et al. 2002; Menon et al. 2001) belegen für Arbeitsgedächtnisaufgaben eine verminderte Aktivierung des dorsolateralen präfrontalen Kortex. Neuere, widersprüchliche Befunde führten jedoch zur Revision einer primären Hypofrontalität schizophrener Patienten. Eine simple Beschreibung einer präfrontalen Hyper- oder Hypofunktion kann der wahren Komplexität dieses kognitiven Prozesses nicht gerecht werden (Callicott et al. 2003), wie unter Abschn. 25.2.3 dieses Kapitels bereits beschrieben. Genetische Konstitution der COMT. Zudem liegen Studien
vor, die einen Einfluss des Genotyps auf Frontalhirnfunktionen nachweisen konnten. Die genetische Konstitution der Katechol-O-Methyl-Transferase (COMT) ist eine wesentliche Variable, die die Funktion des präfrontalen Kortex beeinflusst. Die synaptische Dopaminkonzentration wird hier nicht durch die Wiederaufnahme, sondern durch die Aktivität der COMT reguliert, welche Dopamin metabolisiert, da es im präfrontalen Kortex kaum Dopamintransporter gibt. Der Polymorphismus im COMTGen (Val108/158Met) ist mit einer 4fachen Variation in der Aktivität des Enzyms verbunden und beeinflusst deshalb die Metabolisierung des Dopamins. Egan et al. (2001) konnten nachweisen, dass Probanden mit dem Val-Allel eine verstärkte Aktivierung des dorsolateralen präfrontalen Kortex und des anterioren Zingulums während der Durchführung des WCST aufwiesen. Diese erhöhte Aktivierung kann auf eine Ineffizienz der involvierten Netzwerke hinweisen. Zusammen mit den postulierten Wirkungsmechanismen des COMT-Genotyps auf die präfrontale Dopaminkonzentration profitierten Probanden mit einem gesteigerten Dopaminmetabolismus, vermutlich niedrigen präfrontalen Dopaminkonzentrationen und ineffizienter präfrontaler Aktivität, bei der Überprüfung des Arbeitsgedächtnisses von einer Amphetamingabe, während dieser Effekt bei Probanden mit einem COMTGenotyp, der bereits mit einem hohen präfrontalen Dopaminumsatz verbunden sein soll, nicht nachgewiesen werden konnte (Mattay et al. 2003). Cave Die differenzialdiagnostische Bedeutung der funktionell-bildgebenden Befunde ist ähnlich kritisch zu sehen wie jene der strukturellen Befunde. Hypofrontale Aktivitätsmuster wurden auch bei affektiven und demenziellen Erkrankungen gefunden, der Überlappungsbereich mit Befunden bei den genannten Erkrankungsbildern, aber auch mit Befunden an Normalpersonen, ist groß.
25
574
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
Auf die Untersuchungen zur Rezeptorcharakterisierung (z. B. D2-Rezeptoren) bei schizophrenen Patienten wird wegen der fehlenden klinischen Relevanz nicht eingegangen (Übersicht z. B. bei Verhoeff 1999).
25.3.3
Affektive Erkrankungen
Strukturell-bildgebende Verfahren
25
Die strukturell-bildgebenden Verfahren (CT, NMR) haben bei den affektiven Erkrankungen, wie auch bei der Schizophrenie, bisher keine spezifischen Befunde erbracht. Somit dienen strukturell-bildgebende Verfahren im klinischen Alltag zum Ausschluss hirnorganischer Störungen, die affektive Symptome auslösen können. Im Folgenden sollen dennoch die wichtigsten bei affektiv Erkrankten erhobenen Befunde kurz dargestellt werden, damit der Leser einen Eindruck gewinnt, welche Abweichungen in Zukunft klinische Relevanz gewinnen könnten. Die Ergebnisse der Anwendung strukturellbildgebender Verfahren (CT, MRT) bei affektiven Erkrankungen sind sehr heterogen. Bei bipolar-affektiv Erkrankten häufen sich Befunde, die auf eine diffuse Hirnatrophie hindeuten, wie Vergrößerungen der Seitenventrikel und des 3. Ventrikels sowie Hirnfurchenerweiterung (Elkis et al. 1995; Soares u. Mann 1997; Strakowski et al. 2000). Während erste Metaanalysen (Elkis et al. 1995) diesen Befund auch bei unipolar Depressiven feststellten, konnte dies in neueren zusammenfassenden Arbeiten nicht bestätigt werden. Sowohl bei unipolar als auch bei bipolar Erkrankten finden sich – ähnlich wie auch bei schizophrenen Patienten ( Abschn. 25.3.2) – Hinweise auf ein im Mittel vermindertes Volumen des Kleinhirnwurms. Hippokampus signifikant verkleinert/Amygdala vergrößert. Neuere ROI-Untersuchungen von hochauflösenden
MRT-Aufnahmen depressiver Patientenpopulationen (Frodl 2002 a; Lange 2004) konnten zeigen, dass der Hippokampus bei depressiven Patienten im Unterschied zu gesunden Probanden signifikant verkleinert ist. Im Tiermodell konnte gezeigt werden, dass ein Zusammenhang zwischen Stress und Neurotoxizität und Neuroneogenese innerhalb der hippokampalen Strukturen besteht, der möglicherweise, übertragen auf den Menschen, zu einer volumetrischen Abnahme bei Depression führt. Dagegen zeigte die Amygdala eine signifikante Volumenzunahme bei depressiven Patienten (Frodl 2002 a; 2002 b). Interessanterweise mehren sich die Hinweise, dass Volumenveränderungen innerhalb des limbischen Systems einen Vulnerabilitätsfaktor für die Entwicklung von depressiven Störungen darstellen. So konnte gezeigt werden, dass ein geringeres Hippokampusvolumen mit einer schlechteren klinischen Prognose und damit höheren Therapieresistenz einhergeht (Frodl 2004).
Volumenverluste präfrontaler Areale. Beide limbischen
Strukturen sind Komponenten eines kortikalen Netzwerks, das maßgeblich an der affektiven Regulation und Modulation beteiligt ist. Jüngere morphometrische Untersuchungen, die über das limbische System hinaus strukturelle Veränderungen bei depressiven Patienten untersucht haben, fanden heraus, dass v. a. präfrontale Areale (dorso-lateraler präfrontaler Kortex, orbitofrontaler Kortex), die einen wichtigen »Knotenpunkt« dieses Netzwerks darstellen, Volumenverluste im Vergleich zu gesunden Patienten aufweisen (Fossati 2004).
Fazit Zusammengefasst lässt sich somit festhalten, dass, ähnlich wie in der Schizophrenieforschung, die in den letzten Jahren zunehmende Zahl bildgebender Untersuchungen zu einem vertieften Verständnis der neuroplastischen Prozesse geführt hat, die innerhalb verschiedener, strukturell und funktionell verknüpfter Hirnregionen am Entstehungsprozess von depressiven Erkrankungen beteiligt sind.
White matters hyperintensities. Neben diesen Volumen-
änderungen stellen sich bei affektiven Erkrankungen, sowohl bei bipolaren Störungen als auch bei unipolaren Depressionen, im MRT gehäuft Hyperintensitäten in der weißen Substanz und periventrikulär (sog. »white matter hyerintensities«, WMH) dar. Diese werden mit hoher Sensitivität in T2-gewichteten Sequenzen erfasst. Das zentrale Problem bei den WMH, typischerweise als dünner periventrikulärer Randsaum oder kuppenförmig um die Vorderhörner der Seitenventrikel ausgeprägt, aber auch als vereinzelte rundlich-ovale, kleine (< 5 mm) Läsionen im Marklager verteilt, besteht darin, dass sie mit zunehmendem Lebensalter, besonders bei dem Vorliegen eines Diabetes mellitus, einer Hypertonie oder einer Fettstoffwechselstörung, ebenfalls gehäuft vorkommen. Zudem kann die Abgrenzung dieser unspezifischen WMH gegenüber ähnlichen Veränderungen bei vaskulärer Enzephalopathie schwierig sein. Bei einer Reihe von Untersuchungen wurde bei bipolar erkrankten Patienten eine höhere Zahl von WMH, besonders bei älteren Patienten, im Vergleich zu Kontrollpopulationen gefunden, ohne dass bisher eine eindeutige Grenze, die im klinischen Alltag hilfreich sein könnte, gezogen werden konnte. Die wichtigsten strukturellen Alterationen bei affektiv Erkrankten gibt ⊡ Tab. 25.1 wieder.
Funktionell-bildgebende Verfahren Funktionelle Kernspintomografie Hier haben insbesondere fMRT-Untersuchungen wesentlich zur Generierung neuer Ätiopathogenesevorstellungen beigetragen. So stimmen die funktionelle Neuroana-
575 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
⊡ Tab. 25.1. Befunde strukturell-bildgebender Verfahren bei affektiven Erkrankungen Unipolar Depressive
Bipolar Erkankte
Zeichen diffuser Hirnatrophie (Ventrikelvergrößerung, Hirnfurchenerweiterung)
?
✗
White matter hyperintensities (WHM)
✗
✗
Volumenminderung des Kleinhirnwurms
✗
✗
tomie und die Neuropathologie darin überein, dass es in der Depression sowohl Hirnregionen mit Hyperaktivierungen, als auch mit Hypoaktivierungen gibt, wodurch das dynamische, fein ausbalancierte Netzwerk beeinträchtigt ist. Aus Einzelbefunden entwickelte Mayberg (1997) das sog. Netzwerk der Depression, welches postuliert, dass bei einer schweren Depression eine Balancestörung zwischen phylogenetisch jüngeren Arealen (dorsolateraler präfrontaler Kortex, dorsales anteriores Zingulum, posteriores Zingulum), die hypoaktiv sind, und älteren Regionen (Hippokampus, Amygdala, subgenuales Zingulum, Inselregion, Hypothalamus), die hyperaktiv sind, vorliegt. Offensichtlich und inzwischen mehrfach überprüft spielt dabei eine Region, das rostrale anteriore Zingulum, eine entscheidende Rolle für die dynamische Balance zwischen jungen und alten Hirnarealen. Maybergs Modell weist sich besonders dadurch aus, zahlreiche strukturelle, biochemische und funktionelle Bildgebungsbefunde der Depression integrieren zu können, wobei der wohl meist replizierte Befund der fMRT-Forschung der Depression eine Hyperaktivierung der Amygdala bei Präsentation und Verarbeitung negativer Stimuli (Sheline et al. 2001; Anand et al. 2005) ist. Ein weiterer interessanter Aspekt dieses Depressionsmodells liegt in seinem möglichen prädiktiven Wert. So zeigten Davidson et al. (2003), dass depressive Patienten mit relativ hoher Aktivierung des Zingulums auf negative Stimuli zu Beginn und deutlicher Abnahme dieser Aktivität nach 2 und 8 Wochen mit Venlafaxin die robusteste klinische Therapieresponse aufwiesen.
eine gestörte Neurotransmission zurückgeführt werden könnte und gegen einen neurodegenerativen Prozess spricht (Auer 2000). Tiermodell der Depression. Czeh (2001) erhoben in einem
etablierten Tiermodell der Depression bei Baumspitzmäusen (Tupaia belangeri) die folgenden MRS- und Neurogenesebefunde: Nach 28-tägigem psychosozialem Stress vermindert sich das Cholin- und NAA-Signal der Tiere im Hippokampus jeweils um 13%. Die Neurogenese im Gyrus dentatus ging unterdessen um 33% zurück. Erhielten die Tiere jedoch ab dem 7. Tag der Untersuchung das modifizierte trizyklische Antidepressivum Tianeptin, blieben diese Effekte wie auch der geringe Verlust an Hippokampuszellen aus. Dieses Tiermodell spricht dafür, dass die neuronale Plastizität eines gestressten Tieres vermindert ist, und dass die Gabe eines Antidepressivums mit verbesserter Neuroplastizität korreliert. Das Antidepressivum kann möglicherweise strukturelle Hirnveränderungen rückgängig machen, die für affektive Erkrankungen relevant sind. Inwieweit die Veränderungen in der Neuroneogenese einen ätiologischen Faktor für die Depressionsentstehung darstellen, oder vielmehr ein Epiphänomen verkörpern, ist derzeit noch nicht abschließend geklärt. Metaanalyse zur 31P-MRS. Eine kürzlich publizierte Meta-
analyse zur 31P-MRS zeigte, dass PME bei euthymen Patienten mit bipolar affektiven Störungen im Frontallappen im Vergleich zu Kontrollpersonen vermindert war, depressive bipolare Patienten wiesen signifikant höhere PME-Werte auf als dieselben Patienten im euthymen Zustand. Bezüglich PDE wurden keine systematischen Abweichungen berichtet (Yildiz et al. 2001). Eine stringente Erklärung für diese state- und trait-abhängigen Alterationen des Phospholipidstoffwechsels steht bisher noch aus. Die bei bipolar-affektiv Erkrankten beobachtete PCrErniedrigung im Frontallappen und die beschriebene ATP-Erniedrigung in demselben Hirngebiet könnten im Sinne einer genetisch determinierten mitochondrialen Störung der ATP-Produktion interpretiert werden.
MR-Spektroskopie
Depression im Rahmen von Schlaganfällen, multipler Sklerose und verbunden mit kognitiven Defiziten
Affektive Störungen führen nach der Übersicht von Stanley (2002) zu einer Veränderung des Cholinsignals, was für einen gestörten Membran-Turnover spricht, und zu einer verminderten Präsenz von Phosphomonoestern, die als Korrelat der Phospholipidbiosynthese gelten. Beide Befunde zusammen signalisieren eine gestörte Balance mit Überwiegen der katabolen über anabole Prozesse. Außerdem wurde bei depressiven Störungen ein reduziertes Glutmatsignal ohne Veränderungen im NAA- oder Cholinsignal im anterioren Zingulum gemessen, was auf
Im Rahmen der oben bereits angeführten Ausschlussdiagnostik sind neben intrakraniellen Raumforderungen (etwa durch Tumoren oder Blutungen ausgelöst) 3 weitere Befunde von besonderer Bedeutung: 1. Die sog. Post-stroke-Depression, 2. das gehäufte Auftreten depressiver Syndrome im Verlauf eine multiplen Sklerose 3. depressive Syndrome, die mit kognitiven Defiziten einhergehen, bzw. Demenzen mit depressiver Komorbidität.
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576
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
Post-stroke-Depression. Sie ist nicht ausschließlich reak-
tiv ausgelöst, sondern tritt gehäuft in Abhängigkeit vom ischämischen Läsionsort auf, wobei Patienten mit Schädigungsarealen, die links-frontal oder in den linken Basalganglien liegen, dominieren (einige Befunde sprechen für gehäufte manische Syndrome nach rechtshemisphäralen Läsionen; Robinson u. Travella 1996; Kap. 57, S. 532. Bei der Post-stroke-Depression geht man davon aus, dass durch die zerebrale Minderperfusion Strukturen, die an der Affektregulation beteiligt sind, zerstört werden.
25
Multiple Sklerose. Patienten, die an einer multiplen Skle-
rose erkrankt sind, leiden häufig, bei einem schubförmigen Verlauf mit einer Lebenszeitinzidenz von ca. 50% (Sadovnick et al. 1996), zusätzlich an einer Depression. Auch hier geht man, ähnlich wie bei der Post-stroke-Depression, davon aus, dass durch die Läsionen entscheidende Verbindungen zwischen den an der Affektregulation beteiligten Zentren ausgeschaltet werden. Allerdings finden sich im Gegensatz zu der Post-stroke-Depression bisher keine Hinweise dafür, dass es bei MS-Läsionen Prädilektionsorte für eine Depressionsauslösung gibt. Demenz vs. Depression. Die Differenzialdiagnose demen-
zieller Erkrankungen von depressiven Bildern mit sog. Pseudodemenz gestaltet sich mitunter schwierig. Die strukturelle Bildgebung kann in solchen Fällen weiterhelfen; gibt es bei einem depressiven Patienten mit kognitiven Störungen Hinweise im CT oder MRT für eine Demenz vom vaskulären oder vom Alzheimer-Typ, rückt die Verdachtdiagnose einer primären Demenz in den Vordergrund (zur Bedeutung der PET und SPECT in diesem Zusammenhang, Abschn. 25.3.1 – Primäre neurodegenerative ZNS-Erkrankungen).
25.3.4
Abhängigkeiten und schädlicher Gebrauch
ZNS Befunde bei Alkoholerkrankung In der Diagnostik von Alkoholkrankheiten und den damit assozierten Folgeerkrankungen sind die radiologischen Methoden der cCT und insbesondere die zerebrale MRT das Mittel der Wahl. Nuklearmedizinische Befunde spielen eine untergeordnete Rolle. Ethanol, als gängigste Form des Alkohols, wirkt auf verschiedene ZNS-Bestandteile toxisch. Es hat Auswirkungen auf die vaskulären, glialen und neuronalen Bestandteile des Gehirnes und verursacht Myelindegeneration. Bei der Alkoholabhängigkeit zeigen sich demzufolge in der CT und MRT des Gehirns im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden Kontrollprobanden signifikant weitere innere und äußere Liquorräume. Typisch ist im frühen Stadium der Erkrankung zudem die Vermis- und Hemisphärenatrophie des Kleinhirns. Sowohl unspezifische pa-
raventrikuläre Marklagerläsionen als auch periventrikuläre Demyelinisierungen lassen sich bei chronischer Alkoholkrankheit nachweisen. Eine enge Korrelation besteht zwischen dem Alter des Patienten, der Dauer des Alkoholgebrauchs und dem Ausmaß der zerebralen Atrophie. Neuere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass die zerebrale Atrophie bei konsequenter Abstinenz teilweise reversibel ist (Mann et al. 1993; Pfefferbaum et al. 1995). Die zugrunde liegenden Mechanismen der Rückbildung der Atrophie sind nicht geklärt. Ein Erklärungsansatz ist, dass es in der Abstinenzphase zur Rehydrierung im Sinne vermehrter Wasser- und Elektrolyteinlagerungen im ZNS kommt. Die Tatsache jedoch, dass die Rückbildung der Atrophie einige Wochen bis Monate benötigt, spricht eher für zelluläre Regenerationsprozesse. Die zeitgleich psychometrisch erhobenen kognitiven Defizite stehen in keinem sicheren Zusammenhang mit den strukturellen Veränderungen, obwohl Studien gezeigt haben, dass die Rückbildung der Atrophie von einer Verbesserung des kognitiven Leistungsprofils begleitet wird (Muuronen et al. 1989). Bewusstseinsstörungen im Rahmen einer akuten Alkoholintoxikation können sowohl durch die zentrale Wirkung des Alkohols als auch durch zerebrale Komplikationen verursacht sein. Daher ist bei atypischem Verlauf, zusätzlicher neurologischer Symptomatik oder prolongierter Desorientiertheit die cCT ein wichtiges diagnostisches Mittel zum Ausschluss von anderen zerebralen Komplikationen. Bedacht werden müssen hier insbesondere intra-, und extrazerebrale Blutungen, ischämische Infarkte und Vaskulitiden.
Wernicke-Enzephalopathie (WE) Die Wernicke-Enzephalopathie (Polienzephalitis haemorrhagica superior) entsteht auf der Grundlage eines Thiaminmangels (B1) in der Regel auf einer chronischen Alkoholkrankheit basierend. Klinisch zeigt sich – dies aber nicht obligat – die akut auftretende Trias der Verwirrtheitszustände mit Desorientiertheit, Ataxie und Ophtalmoplegie. Die akute WE zeigt in der MRT in den T2-gewichteten Bildern hyperintense Areale um den 3. Ventrikel und den Aquädukt. Auch sind periventrikuläre hyperintense Herde im Thalamus und Hypothalamus fakultativ sichtbar. Nach Kontrastmittelgabe kann sich in der T1-gewichteten Sequenz ein Enhancement um den 3. Ventrikel, den Aquädukt und die Mammillarkörper zeigen. Zusätzlich kann es zu Einblutungen der Corpora mamillaria und den beteilgten Regionen kommen (⊡ Abb. 25.18). Bei der chronischen WE tritt eine Erweiterung des 3. Ventrikels und eine Mammillarkörperatrophie hinzu, die mit der MRT am besten erfasst wird. Es gibt Hinweise, dass es nach Thiamingabe zu einer Normalisierung dieser Befunde kommen kann.
577 25.3 · Diagnostik bei speziellen psychischen Erkrankungen
Die morphologische Grundlage ist eine Demyelinisierung und Nekrose zentraler Anteile des Corpus callosum. Jedoch können auch andere Marklagerbahnen und Kommissurenbahnen betroffen sein. Die fokale zystische Nekrose findet in der dritten Schicht der Großhirnrinde statt, welche über die kallosalen Kommissurenbahnen miteinander verbunden sind. Topisch sind Genu, Mittelstück oder Splenium des Corpus callosum betroffen. Sagittale MRT-Aufnahmen zeigen eine kallosale Atrophie und fokale Nekrosen als lineare oder punktförmige hypointense Regionen in der T1-Gewichtung. Diese stellen sich hyperintens in der T2-Wichtung dar.
Drogenabhängigkeit Kokain, Amphetamin ⊡ Abb. 25.18. Wernicke-Enzephalopathie, MRT. (Aus Osborn 1994)
Osmotische Myelinolyse (OM) Die osmotische Myelinolyse ist eine toxische Demyelinisierung, die klassischerweise bei Alkoholerkrankungen, jedoch auch bei unterernährten Patienten auftreten kann. Über 75% dieses Syndroms sind mit einer chronischen Alkoholerkrankung verbunden. Wahrscheinlich beruht die OM auf einer passageren Hyponatriämie bei zu forciertem Ausgleich z. B. einer im Rahmen einer Alkoholkrankheit auftretenden Hyponatriämie. Klinisch kann sie sich von der leichten pontinen Funktionsstörung bis zum Vollbild des Locked-in-Syndroms darstellen. Pathogenetisch betrachtet beruht die OM auf einem Myelinverlust, die zentrale Pons ist der Hauptlokalisationsort (zentrale pontine Myelinolyse), auch wenn die OM andere Lokalisationen haben kann (extrapontine Myelinolyse: Putamen, Kaudatus, Thalamus, subkortikales Marklager). Die Bildgebungsbefunde zeichnen sich durch einen vermehrten Wassergehalt in den affizierten Arealen aus. Die MRT ist das diagnostische Mittel der Wahl (die cCT kann unaufällig sein!) und die Läsionen zeigen sich hypointens in der T1-Wichtung sowie hyperintens in der T2Wichtung der MR-Aufnahmen. Die Signalanhebungen im Ponsbereich können in ovaler, dreieck- und dreizackähnlicher Form imponieren. Enhancement nach Kontrastmittelgabe ist variabel vorhanden (⊡ Abb. 25.19). Differenzialdiagnostisch müssen Infarkte, Metastasen, Tumoren, multiple Sklerose oder Enzephalitiden ausschlossen werden, wobei im Bildgebungsbefund die Affizierung von Pons und Basalganglien die Diagnose der Myelinolyse weitgehend stützt.
Der Gebrauch dieser Substanzen kann intrazerebral mit massiven pathologischen Befunden einhergehen. Führend bei den zerebralen Pathologien ist die sympathomimetische Wirkung des Kokains, welches direkt auf die zerebralen Gefäße wirken kann. Das Mittel der Wahl ist die cCT, um typische ZNS-Komplikationen wie Hirninfarkte und Blutungen darzustellen. Ischämische Hirninfarkte zeigen sich als hypodenses Areal im entsprechenden arteriellen Versorgungsgebiet mit begleitender lokaler oder generalisierter ödematöser Hirnschwellung ( Kap. 25.3.2 Zerebrovaskuläre Störungen). Insgesamt 5% aller Infarkte können jedoch während des gesamten Verlaufes isodens bleiben und sich nur durch Kontrastmittelgabe in ihrer Schrankenstörung darstellen. Intrazerebrale Blutungen zeigen sich im Fall von Hämatomen scharf begrenzt und hyperdens mit einem schmalen hypodensen Randsaum. Auch hier ist ein Ödem mit Hirnrindenverstreichung die Regel. Subarachnoidalblutungen zeichnen sich durch hyperdense Areale im Suba-
Marchiafava-Bignami-Syndrom (MBS) Das MBS ist eine seltene, mit einer chronischen Alkoholkrankheit assoziierte Störung. Ursächlich wird insbesondere exzessiver Rotweinkonsum mit diesem Krankheitsbild in Verbindung gebracht. Die Pathogenese ist ungeklärt.
⊡ Abb. 25.19. Pontine Myelinolyse, MRT. (Aus Osborn 1994)
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578
Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
rachnoidalraum aus, entscheidend ist jedoch bei negativem Bildgebungsbefund und nicht sicher ausgeschlossener Diagnose die Durchführung der Liquorpunktion. Bei intravenösem Drogenkonsum sind mitunter durch Infektionen bei häufig gestörter Immunlage ausgelöste intrazerebrale Abszesse und mykotische Aneurysmen mit der cCT als auch der MRT nachweisbar.
25.3.5
25
Andere psychische Erkrankungen
Angst- und Zwangsstörungen Sind schon die Befunde bei schizophrenen und affektiven Erkrankungen durch eine große Heterogenität gekennzeichnet und können nicht im engeren Sinne zu einer positiven Diagnose der jeweiligen Erkrankung beitragen, so sind diese Probleme bei Angst- und Zwangsstörungen noch wesentlich ausgeprägter. Einigermaßen übersichtlich scheint die Befundlage bei Zwangsstörungen. Hier fanden sich in den strukturellen Untersuchungen zum Teil Volumenminderungen des Nucleus caudatus, während funktionell-bildgebende Daten eine Erhöhung des Blutflusses und der Glukoseutilisation insbesondere in den Gyri orbitofrontales und cinguli zeigen, v. a. in der Expositionssituation. Eine klinische Indikation für die Anwendung eines strukturell-bildgebenden Verfahrens besteht nur im Ausschluss von organischen zerebralen Läsionen, die in ihrer Auswirkung zu Angst- oder Zwangsphänomenen führen können.
Kinder- und jugendpsychiatrische Störungen Wie bei anderen biologischen Parametern auch sind mittels bildgebender Verfahren gewonnene Befunde bei kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen lückenhafter als in der Erwachsenenpsychiatrie. Noch weniger als dort tragen die Ergebnisse bildgebender Verfahren positiv zur Diagnosefindung bei, sollten aber – bei der besonderen Notwendigkeit des Ausschlusses hirnorganischer Faktoren als Auslöser einer psychischen Symptomatik bei kinder- und jugendpsychiatrischer Patienten – konsequent bei Ersterkrankungen durchgeführt werden. Anorexia nervosa. An dieser Stelle soll exemplarisch auf die Anorexia nervosa eingegangen werden, eine Erkrankung, bei der die im Folgenden beschriebenen Befunde in weiten Teilen auch auf erwachsene Betroffene übertragen werden können. Wie Blanz und Rothenberger (2000) berichten, besteht der konsistenteste Befund bei Jugendlichen mit einer Anorexia nervosa in einer Erweiterung der kortikalen Sulci, gefolgt von einer Erweiterung des äußeren Liquorraumes und der Ventrikel sowie einer Volumenreduktion der Hypophyse und des Thalamus. In funktionellbildgebenden Verfahren stand eine verminderte Glukoseutilisation frontal (superiore Anteile) bei relativ
gesteigertem Glukoseumsatz im Nucleus caudatus und inferioren Anteilen des Frontallappens im Vordergrund. Bei dieser Erkrankung besonders interessant ist, dass diese Befunde, auch die strukturellen, nur in Zeiten mit einer erheblichen Verminderung des Körpergewichts erhoben werden können. Sind die Probanden normal ernährt, finden sich in der Regel die beschriebenen Auffälligkeiten nicht mehr. Somit sind diese Befunde wahrscheinlich nicht störungsspezifisch, sondern Epiphänomene der Gewichtsreduktion vermittelt über die Reduktion des Gesamtproteins, Hemmung der zerebralen Proteinsynthese, den zu einer zerebralen Dehydratation führenden Hyperkortisolismus sowie über niedrige T3-Serumspiegel. Es bleibt noch zu klären, inwieweit die soeben als passager beschriebenen zerebralen Alterationen nicht doch, zumindest bei länger andauernden Malnutritionsperioden, zu überdauernden Gehirnveränderungen führen.
25.4
Ausschlussdiagnostik
Dem klinisch tätigen Psychiater sind im Rahmen der Standarddiagnostik insbesondere bei der Erstmanifestation einer psychiatrischen Störung unter Zuhilfenahme von Labor- und Liquoruntersuchung, EEG sowie dem Einsatz bildgebender Verfahren, vielfältige diagnostische Möglichkeiten an die Hand gegeben. Der standardisierte und kombinierte Einsatz aller genannten Verfahren, insbesondere bei Auftreten einer Erstmanifestation psychiatrischer Symptome, ist von wesentlicher Bedeutung, da diesen auch Symdrome zugrunde liegen können, welche generelle medizinische und somit nichtpsychiatrische Ursachen aufweisen. So kann beispielsweise eine depressive Störung durch ein Cushing-Syndrom verursacht sein. Die 4. Auflage des amerikanischen Klassifikationssystems DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) hat den Begriff »verursacht durch eine generelle medizinische Ursache« eingeführt, um die missverständliche Unterscheidung zwischen »organischen« und »funktionellen« Störungen aufzuklären. Es gibt eine Vielfalt medizinischer Ursachen, welche mit psychiatrischer Symptomatik einhergehen oder auch eine psychiatrische Störung auslösen können. Aufzählen lassen sich degenerative Störungen, Epilepsien, Hirntumoren, Schädel-Hirn-Traumata, demyelinsierende Erkrankungen wie die multiple Sklerose oder die amyotrophe Lateralsklerose sowie eine Reihe von akuten und chronischen Enzephalitiden, Immunerkrankungen, endokrinologischen und metabolischen Störungen. Vielen dieser Krankheitsbilder lassen sich charakteristische Bildgebungsbefunde zuordnen, jedoch kann hier nur exemplarisch auf einige wichtige Krankheitsbilder eingegangen werden.
579 25.4 · Ausschlussdiagnostik
Hirntumoren Hirntumoren können das gesamte Spektrum psychischer Symptome und Syndrome verursachen und als primäre psychische Erkrankung fehldiagnostiziert werden. Neben der genauen Anamneseerhebung und neurologischen Untersuchung ist der Einsatz von bildgebenden Verfahren ein heutiges Standardvorgehen bei der Diagnostik von psychiatrischen Erstmanifestationen. 50% der an einem Hirntumor leidenden Patienten weisen psychische Symptome auf. In zirka 80% dieser Patienten liegen die Tumoren in frontalen und limbischen Regionen. Während fokale Tumoren wie Meningiome zu einzelnen spezifischen Symtomen führen können, rufen Gliome eher eine diffuse psychische Symptomatik hervor. Eingeschränke kognitive Funktionen sind häufig das führende psychische Syndrom bei Hirntumoren. Bereits die cCT kann hier als diagnostisches Erstverfahren einen guten Überblick über das ZNS-Parenchym geben. Zur Diagnose eines Tumors erscheint die Beurteilung seiner Dichte, des umgebenen Ödems, der Lokalisation und seiner Anreicherung nach Kontrastmittelgabe zentral (⊡ Abb. 25.20). In der MRT führen Hirntumoren im Allgemeinen zu einer Verlängerung der Relaxationszeiten. Ähnlich wie bei einem Ödem kommt es dabei im T1-gewichteten Bild zu einer Signalerniedrigung und im T2-gewichteten Bild zu einer Signalanhebung. Die exakte Differenzierung von Tumorgewebe und Begleitödem lässt sich durch die Gabe von paramagnetischem Kontrastmittel durchführen.
Schädel-Hirn-Trauma (SHT) Die psychischen Symptome nach einem SHT können vielfältig und unterschiedlich in Schweregrad und Ausprägung sein. Die beiden Hauptsyndrome bestehen aus kognitiven Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. Kognitive Störungen zeigen sich durch reduzierte Aufmerksamkeit, gestörte Problemlösungsstrategien, verminderte Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisprobleme. Auch depressive Verstimmungen, Schlafstörungen, erhöhte Impulsivität mit aggressiven Durchbrüchen können bestehen. Eine neurologische Symptomatik ist nicht obligatorisch vorhanden. Die Bildgebung unter Zuhilfenahme der cCT und der MRT kann, neben dem Nachweis von unerkannten Schädel- oder Wirbelsäulenfrakturen, ein bestehendes Hirnödem nachweisen. Das generalisierte Ödem ist häufig nicht stark ausgeprägt und kann daher übersehen werden. Es kann gelegentlich lediglich durch eine Verschmälerung und damit Verkleinerung des Ventrikelsystems sowie einer Verengung des Subarachnoidalraums imopnieren. Auch müssen die Dichtewerte in der cCT nicht zwingend in Richtung Hypodensität verändert sein.
⊡ Abb. 25.20a, b. Hirntumor, a cCT und b MRT. (Aus Osborn 1994)
Multiple Sklerose (MS) Einer noch unerkannten MS-Erkrankung können eine große Spannbreite psychischer Symptome auch lange Zeit vor der Manifestation neurologischer Symptome vorausgehen ( Abschn. 25.3.3). Die Ätiologie der MS ist nach wie vor unbekannt. Am ehesten wird von einer T-Zell-vermittelnden Autoimmunerkrankung ausgegangen. Die psychischen Symptome umfassen kognitive und Verhaltensstörungen. Insbesondere steht ein Abfall des intellektuellen Leistungsniveaus mit Gedächniseinbussen im Vordergrund. An Verhaltensstörungen kommen Symptome der Euphorie und Depression hinzu. Seltener werden psychotische Phänomene sichtbar.
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580
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
Auch hier ist die Bildgebung, neben der Liquoruntersuchung und der elektrophysiologischen Abklärung, ein wesentlicher Bestandteil der Diagnostik. Der Einsatz der MRT für die Diagnostik und Therapiebewertung hat in der Klinik einen hohen Stellenwert. Die MRT zeigt die typischen chronisch-entzündlichen Entmarkungsherde im ZNS und hat eine Nachweisrate von über 90% bei Patienten mit einer gesicherten MS. Besonders geeignet sind MRT-Doppelechosequenzen, weil die Aufnahmen mit kürzerer Echozeit gelegentlich eine bessere Herdabgrenzung vom Liquor erlauben. Das charakteristische MRTBild zeigt in der T2-Gewichtung herdförmige Hyperintensitäten im Marklager. Der topografische Schwerpunkt liegt in Höhe der Vorder- und Hinterhörner des Ventrikelsystems. Die Größe der Herde nimmt von medial nach lateral ab, sodass die paraventrikulären bzw. subkortikal gelegenen Herde deutlich kleiner als die periventrikulären sind. Das hyperintense Signalverhalten geht auf den Verlust von Myelin sowie auf die Entzündung und Glianarbe zurück. In T1-gewichteten Aufnahmen der MRT imponieren diese Glianarben als hypointense, teils ausgestanzte Herde (⊡ Abb. 25.21). Nach Kontrastmittelgabe zeigen frische Herde ein Enhancement, da das paramagnetische Kontrastmittel Gadolinium (Gd) über die gestörte Blut-Hirn-Schranke in das Parenchym übergeht. Bei einem erst kurzen Krankheitsverlauf fehlen die erst später manifesten Signalabsenkungen im dazugehörigen T1-Bild der MRT.
⊡ Abb. 25.21. Axiale T2-gewichtete Aufnahme bei einem Patienten mit MS zeigt multiple hyperintense Signalveränderungen periventrikulär
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Kapitel 25 · Bildgebende Verfahren
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26 26 Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen W.E. Müller, A. Eckert
26.1
Klassifikationen und Terminologie
26.2 26.2.1 26.2.2 26.2.3
Praktische Pharmakokinetik – 585 Resorption, Verteilung und Elimination – 585 Hepatischer Metabolismus – 589 Dosis, Dosierungsintervall und Eliminationshalbwertszeit – 591 Depotarzneiformen – 594 Pharmakokinetische Interaktionen – 595 Pharmakokinetik im Alter – 597 Dosis, Plasmaspiegel und Wirkung – 598
26.2.4 26.2.5 26.2.6 26.2.7
– 584
Die zentrale Neurotransmission als Angriffspunkt der Psychopharmaka – 598 26.3.1 Akute pharmakologische Beeinflussung durch Psychopharmaka – 599 26.3.2 Adaptionsphänomene und klinischer Wirkungseintritt – 600 26.3.3 Pharmakologische Selektivität und funktionelle Spezifität – 601
26.5
26.6
Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika – 611 26.6.1 Biochemische Wirkungsmechanismen – 611 26.6.2 Wirkungsmechanismus der atypischen Neuroleptika – 612 26.6.3 Wirkung im Tiermodell – 616 26.7
Psychopharmakologische Grundlagen der Tranquilizer – 616
26.8
Psychopharmakologische Grundlagen der Antidementiva – 618
26.9
Psychopharmakologische Grundlagen der Therapie von ADHS – 620
26.3
26.4
Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva – 601 26.4.1 Biochemische Wirkungsmechanismen – 601 26.4.2 Verhaltenspharmakologische Wirkungen der Antidepressiva – 609
Psychopharmakologische Grundlagen von Lithium und anderer Phasenprophylaktika bzw. Mood Stabilizer – 610
26.10 Weiterführende Lehrbücher und Nachschlagewerke – 621 Literatur
– 621
> > Das Verständnis der pharmakologischen Grundlagen der Psychopharmakotherapie ermöglicht es zum einen, neue Forschungsansätze auf dem Gebiet der psychiatrischen Pharmakotherapie nachzuvollziehen. Für den klinisch tätigen Arzt erleichtern diese Kenntnisse aber v. a. eine adäquate und rationale Auswahl der von ihm verwendeten Pharmaka unter Einbeziehung der pharmakologischen und pharmakokinetischen Eigenschaften. Durch die Kenntnis des Wirkmechanismus und des Abbauweges des gewählten Pharmakons können darüber hinaus unerwünschte Arzneimittelwirkungen vorausgesehen und nach Möglichkeit vermieden werden.
584
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
26.1
26
Klassifikationen und Terminologie
Wie in vielen anderen Bereichen der Psychiatrie gibt es auch bei der Einteilung der Psychopharmaka kein einheitliches, allgemein anerkanntes Unterteilungsprinzip. Die Klassifikation der Psychopharmaka ist von Lehrbuch zu Lehrbuch unterschiedlich. Tendenziell setzt sich aber in den letzten Jahren mehr und mehr eine auf der klinischen Anwendung beruhende Klassifikation der Psychopharmakagruppen durch (⊡ Tab. 26.1). Diese hat den großen Vorteil eines direkten Bezugs zur klinischen Praxis, hat aber den Nachteil, dass eine Reihe von Substanzen nicht eindeutig zugeordnet werden können bzw. dass sie verschiedenen Psychopharmakagruppen zugeordnet werden müssen.
Psychostimulanzien, wobei Antidepressiva diesen Effekt weniger beim affektiv Gesunden als beim depressiven Patienten zeigen, Psychostimulanzien dagegen ihre stimmungsaufhellende Wirkung unabhängig von pathologischen Veränderungen der Affektivität zeigen können. Heute eher weniger verwendete Synonyma für Antidepressiva sind die Begriffe Thymoleptika bzw. Thymeretika, wobei letzter Begriff primär Monoaminoxidase(MAO-)Hemmstoffe meint. Bei den Stimulanzien hat sich neben dem Einsatz von Amphetamin bei Narkolepsie und in Ausnahmefällen bei ADHS v. a. das Methylphenidat als wirksames Therapeutikum bei ADHS etabliert, wobei neuere Erkenntnisse zum Wirkungsmechanismus die klinische Erfahrung eines sehr viel geringeren Abhängigkeitsrisikos im Vergleich zum Amphetamin erklären können (Fone u. Nutt 2005).
Antidepressiva und Psychostimulanzien. Affektiv aufhel-
Antidementiva. Eine weitere indikationsbezogene Psy-
lende Wirkungen haben sowohl Antidepressiva wie auch
Neuroleptika
Haloperidol Olanzapin
Major Tranquilizer Antipsychotika
chopharmakagruppe, die heute zunehmend an Bedeutung gewinnt, sind die Antidementiva (früher Nootropika), im angelsächsischen Sprachgebrauch auch gerne als »cognition enhancer« bezeichnet. Diese Substanzen werden in der Behandlung von Hirnleistungsstörungen besonders im Alter eingesetzt. Hier steht heute die Behandlung der Demenz im Vordergrund, so dass sich der Begriff Antidementiva mehr und mehr durchsetzt. Neben einigen älteren Substanzen stehen hier heute hauptsächlich Azetylcholinesterasehemmstoffe zur Verfügung.
Tranquillanzien
Diazepam Lorazepam
Minor Tranquilizer Ataraktika
Halluzinogene. Losgelöst von diesen 5 Psychopharmaka-
Antidepressiva
Amitriptylin Mirtazapin Citalopram Tranylcypromin
Thymoleptika
Psychostimulanzien
Amphetamin Methylphenidat
Psychoanaleptika Psychotonika
Antidementiva
Piracetam Donepezil
Nootropika Cognition Enhancers
⊡ Tab. 26.1. Klassifikation von Psychopharmaka und anderen zentral wirksamen Substanzen Wirkstoffgruppen
Präparate (Beispiele)
Synonyme
Psychopharmakagruppen
Thymeretika (speziell für MAOHemmer)
Psychotrope Nichtpsychopharmakagruppen Halluzinogene
LSD
Psychodysleptika
Andere zentral angreifende Pharmakagruppen Hypnotika
z. B.Benzodiazepine Barbiturate
Schlafmittel
Analgetika
Morphin
Opioide (Opiate)
Antikonvulsiva
Carbamazepin
Antiepileptika Phasenprophylaktika bei affektiven Psychosen
Antiparkinsonsubstanzen
L-Dopa Biperiden
– Zentrale Anticholinergika
gruppen müsste man die Gruppe der Halluzinogene bzw. Psychodysleptika betrachten. Diese Substanzen werden z. Z. nicht als Psychopharmaka eingesetzt. Sie bewirken im Gegensatz zu den Psychostimulanzien weniger eine unspezifische zentrale Stimulation, sondern können eher spezifisch psychoseartige Symptome auslösen. Die Übergänge sind aber fließend, und viele Psychostimulanzien haben in Abhängigkeit von der Dosis und der Anwendung deutliche halluzinogene Wirkungen. Neben diesen Substanzgruppen mit relativ spezifischen Effekten auf bestimmte psychische Funktionen müssen noch verschiedene andere Arzneimittelgruppen erwähnt werden, die auch alle zentral wirksam sind, deren primäre Indikationen aber nicht auf Veränderungen psychischer Funktionen abzielen. Auch hier sind die Übergänge fließend, z. B. können viele Benzodiazepinderivate sowohl als Tranquilizer wie auch als Hypnotika eingesetzt werden, Analgetika vom Opiattyp zeigen auch stimmungsaufhellende euphorisierende Effekte, bestimmte Antikonvulsiva wie das Carbamazepin, die Valproinsäure und das Lamotrigin haben heute auch Indikationen als Psychopharmaka (Phasenprophylaktika)
585 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
Anti-Parkinson-Substanzen wie das L-Dopa können
im Sinne von psychoseähnlichen Nebenwirkungen in psychische Funktionen eingreifen. Obwohl die vorliegende Klassifikation (⊡ Tab. 26.1) sich in den letzten Jahren immer mehr durchgesetzt und im Prinzip bewährt hat, hat sie auch ihre Grenzen. Die indikationsspezifische Einordnung vernachlässigt das oft sehr breite therapeutische Wirkungsspektrum der einzelnen Substanzen (z. B. den Einsatz von Neuroleptika als Antipsychotika oder als Tranquillanzien oder sogar als Schlafmittel). Dies führt dazu, dass viele Psychopharmaka in mehr als eine dieser Substanzklassen eingeordnet werden können bzw. eingeordnet werden müssten. Ein wichtiges Beispiel ist hier die aktuelle Differenzialtherapie der Angsterkrankungen. Hier werden heute Substanzen aus praktisch allen Psychopharmakaklassen eingesetzt, wobei Antidepressiva sogar die Hauptrolle spielen.
26.2
Praktische Pharmakokinetik
Die Entscheidung zum Einsatz eines bestimmten Medikaments wird zunächst von seinen pharmakodynamischen Eigenschaften bestimmt, d. h. der qualitative Aspekt der erwünschten Wirkung steht initial im Vordergrund. Quantitative Fragen schließen sich an, denn die Substanz sollte in genau richtiger Konzentration an den Wirkort, im Falle der Psychopharmaka das zentrale Nervensystem (ZNS), gebracht werden. Ist die Konzentration am Wirkort zu hoch, können unerwünschte Arzneimittelwirkungen dominieren, ist die Konzentration zu niedrig, wird die therapeutische Wirkung nicht ausreichend sein. Gute Kenntnisse der pharmakokinetischen Kerndaten einer eingesetzten Substanz sind die Voraussetzung dafür, dass der richtige Medikamenteneffekt in richtiger Intensität zur richtigen Zeit in ausreichender Wirkdauer mit einem Minimum an unerwünschten Wirkungen erreicht wird. Im vorliegenden Kapitel ist keine allgemeine Einführung in die Grundlagen der Pharmakokinetik intendiert. ⊡ Abb. 26.1. Schematische Darstellung eines Plasmaspiegelverlaufes nach oraler Applikation
Es soll nur versucht werden, praxisrelevante pharmakokinetische Basisdaten als Voraussetzung einer rationalen Therapie mit Psychopharmaka aufzuzeigen.
26.2.1
Resorption, Verteilung und Elimination
Die Pharmakokinetik beschreibt den Zeitverlauf der Wirkstoffkonzentration im Organismus. Wünschenswert wäre die Kenntnis der Wirkstoffkonzentration am Wirkort (ZNS). Dies ist beim Menschen nicht möglich; die Wirkstoffkonzentration kann nur im Blut ermittelt werden. Trotz dieser Limitierung sind pharmakokinetische Informationen wichtig und können für eine Therapie mit Psychopharmaka dienlich sein. Ein typischer Blutspiegelverlauf nach oraler Applikation ist in ⊡ Abb. 26.1 gezeigt. Nach Einnahme nimmt der Blutspiegel der Substanz mit der Zeit langsam zu, erreicht bei ausreichender Dosis den minimalen therapeutischen Bereich (Invasionsphase), liegt dann für eine bestimmte Zeit im therapeutisch benötigten Plasmakonzentrationsbereich und wird danach durch Eliminationsprozesse langsam abgebaut (Evasionsphase). Die Evasionsphase ist somit für die Dauer, in der sich das Medikament in einem therapeutisch erwünschten Plasmakonzentrationsbereich befindet, von essenzieller Bedeutung.
Evasionsphase Bei vielen Substanzen kann sich die Evasionsphase aus verschiedenen Prozessen zusammensetzen (⊡ Abb. 26.2). Wie hier am Beispiel einer intravenösen Applikation gezeigt, kann in der halblogarithmischen Darstellung der Abbau der Plasmakonzentration in 2 lineare Prozesse zerlegt werden, eine α-Phase mit kurzer und eine β-Phase mit längerer Zeitkonstante. α-Phase. Die α-Phase, die im gewählten Beispiel sehr deutlich ausgeprägt ist, wird meist von Umverteilungsphänomenen bestimmt. Der Wirkstoff erscheint zunächst
26
586
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
von Rückverteilungsphänomenen (aus dem Gehirn in periphere Gewebe) bestimmt wird und nicht etwa von einer terminalen Eliminationsgeschwindigkeit (β-Phase), die z. B. beim Diazepam mehrere Tage betragen kann. Neben der Narkose spielen aber solche Umverteilungsphänomene bei sehr vielen Psychopharmaka eine Rolle. Sie äußern sich immer dann, wenn nach akuter (parenteraler, aber auch oraler) Applikation initial sehr ausgeprägte, zentrale erwünschte oder auch unerwünschte Wirkungen gesehen werden, die sehr viel schneller sistieren, als man es von der pharmakokinetischen Eliminationsgeschwindigkeit her erwarten würde.
26
⊡ Abb. 26.2. Plasmaspiegelverlauf nach i.v.-Applikation in halblogarithmischer Auftragung. Die Plasmaspiegelverlaufskurve kann in 2 lineare Phasen zerlegt werden: α-Phase, bei der die Abnahme des Plasmaspiegels durch Verteilung ins Gewebe bestimmt ist, und β-Phase, die die terminale Elimination beschreibt. Die Zeit, in der in der β-Phase der Plasmaspiegel um die Hälfte abnimmt, wird als Eliminationshalbwertszeit (t1/2) bezeichnet
β-Phase. Die eigentliche terminale Eliminationsphase (βPhase, ⊡ Abb. 26.2) wird nur bei wenigen Psychopharmaka durch eine direkte renale Elimination bestimmt (z. B. Lithium). Bei den meisten Substanzen ist eine Metabolisierung in der Leber ( Kap. 26.2.2) der geschwindigkeitsbestimmende Schritt der Evasion (⊡ Abb. 26.3; ⊡ Tab. 26.2).
Verteilung in sehr hoher Konzentration im Blut und wird dann in Abhängigkeit von der Durchblutung in die einzelnen Organe verteilt. Dies bedeutet, dass in der initialen Phase der sehr hohen Plasmakonzentration der Wirkstoff v. a. in den Organen, die sehr stark durchblutet werden, angereichert wird. Dies gilt besonders für das ZNS. Da in diesen Organen die Substanzkonzentration mit abfallendem Plasmaspiegel wieder abnimmt, verhält sich hier der Konzentrationsverlauf ähnlich wie der Plasmaverlauf. Dieses Phänomen nutzt man z. B. bei der i.v.-Narkose aus (Barbiturate oder Benzodiazepine), wo die Determinierung der Bewusstseinseintrübung ausschließlich
Nach Erscheinen in der Blutbahn verteilt sich der Wirkstoff über den Organismus. Während in der Initialphase die Durchblutung der einzelnen Gewebe eine wichtige determinierende Größe ist (s. oben), bestimmen im Weiteren die Größe des jeweiligen Gewebekompartiments und die Fettlöslichkeit des Arzneimittels (Lipophilie) die Verteilung. Dies ist schematisch in ⊡ Abb. 26.4 gezeigt. Hat der Wirkstoff eine ausreichende Affinität zu Gewebestrukturen (das gilt für die meisten gut fettlöslichen Arzneistoffe), wird er sich nicht nur gleichmäßig in alle Kompartimente verteilen, sondern sich auch in Gewebestrukturen anreichern. Hierbei spielen quantitativ gesehen die
⊡ Abb. 26.3. Schema der wesentlichen hepatischen Eliminationsschritte von Citalopram und Imipramin (Nach Eckert et al. 1998)
587 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
⊡ Tab. 26.2. Unterteilung der hepatischen Eliminationsprozesse und ihre Veränderung im Alter. (Nach Müller 1997 b) Phase-I-Reaktionena (oft im Alter relevant verlangsamt)
Phase-II-Reaktionena (meist im Alter nicht relevant verändert)
Hydroxylierung
Glukuronidierung
N-Desalkylierung
Sulfatierung
Nitro-Reduktion
Azetylierung
Sulfoxidierung
–
Hydrolyse
–
Phase-I-Reaktionen beinhalten direkte chemische Veränderungen am Wirkstoffmolekül und erfordern andere metabolisierende Enzyme als die Phase-II-Reaktionen, bei denen gut wasserlösliche Moleküle an aktive Gruppen des Wirkstoffmoleküls angekoppelt werden. a
Plasmaproteine nur eine geringe Rolle. Aus dem Verteilungsschema wird ersichtlich, dass der Wirkstoff zum größten Teil in dem großen Kompartiment der Gewebeproteine gebunden sein wird. Während dieses Verteilungsprozesses steht die freie Konzentration im Plasma mit den freien Konzentrationen des Wirkstoffs in anderen Kompartimenten im Gleichgewicht. In Kompartimenten, in denen anreichernde Proteine fehlen (z. B. Liquor), kann die Gesamtkonzentration
der freien Konzentration in anderen Geweben entsprechen. Wichtig an dem Verteilungsschema (⊡ Abb. 26.4) ist die Tatsache, dass bezogen auf den Gesamtorganismus das Plasma nur ein sehr kleines Kompartiment darstellt. Besitzt der Wirkstoff zudem eine hohe Affinität zu Gewebekomponenten, erklärt das Verteilungsschema sehr deutlich, warum für Wirkstoffe mit hoher Gewebebindung nur der geringste Teil der verabreichten Dosis im Plasma als Plasmaspiegel nachweisbar ist. Solche Stoffe haben als pharmakokinetische Kenngröße ein sehr großes Verteilungsvolumen (⊡ Tab. 26.3). Je größer das Verteilungsvolumen, desto kleiner ist der Anteil der applizierten Dosis, der sich im Plasma befindet. Die Tabelle zeigt, dass sehr viele Psychopharmaka extrem große Verteilungsvolumina haben, d. h. bei diesen Substanzen liegt nur ein Bruchteil der verabreichten Dosis im Plasma in freier oder gebundener Form vor.
⊡ Tab. 26.3. Verteilungsvolumina (VD) und terminale Eliminationshalbwertszeiten (β-Phase; t1/2) wichtiger Psychopharmaka am Menschen Wirkstoff
VD [l/kg]
t1/2 [h]
Amisulprid Amitriptylin Carbamazepin Chlorpromazin Citalopram Clonazepam Desipramin Diazepam Doxepin Haloperidol Imipramin Lithium Lorazepam Nitrazepam Nortriptylin Olanzapin Oxazepam Phenytoin Quetiapin Sertralin Reboxetin Risperidon Temazepam Triazolam Venlafaxin
5 14 1,4 21 14 3 34 1,1 20 18 23 0,8 1,3 1,9 18 15 1,0 0,6 10 25 32 1 1,1 1,1 6
12 16 15 30 33 23 18 43 17 18 18 22 14 26 31 7 8 6–24 4 30 12 4 8 2,3 4
a VD
⊡ Abb. 26.4. Schematische Darstellung der Verteilung eines plasmaproteingebundenen Pharmakons im Organismus. Über die freie Konzentration stehen alle Verteilungsräume miteinander in Verbindung. Im Liquor entspricht oft die Gesamtkonzentration der freien Konzentration
errechnet sich aus der Formel VD D/CO, wobei D die i.v. gegebene Dosis ist und C die fiktive Ausgangskonzentration im Plasma (unter der Annahme einer vollständigen Verteilung der Dosis ohne schon stattfindende Elimination). Eine Substanz, die sich nur im Blutwasserraum verteilen würde, hätte in diesem System ein Verteilungsvolumen von 0,06. Das Verteilungsvolumen von Phenytoin (0,6) entspricht ungefähr dem Körperwasserraum. Verteilungsvolumina >1 sind nur möglich, wenn sich die Substanz in bestimmten Organen in wesentlich höherer Konzentration befindet als im Plasma.
26
588
26
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
Elimination
First-pass-Metabolismus. Ein Sonderfall der Elimination
Sind die Umverteilungsprozesse abgeschlossen, wird die Abnahme des Plasmaspiegels ausschließlich von den Eliminationsprozessen getragen. Aus der linearen Komponente der β-Phase lässt sich die terminale Eliminationshalbwertszeit (t1/2) errechnen. Sie gibt an, in welcher Zeit sich eine vorhandene Plasmakonzentration in der β-Phase (Eliminationsphase) um die Hälfte reduziert. Die terminale Eliminationshalbwertszeit ist unabhängig von der tatsächlich vorliegenden Plasmakonzentration. Sie ist die wichtigste pharmakokinetische Kenngröße eines bestimmten Arzneimittelstoffes (⊡ Tab. 26.3) beim Menschen. Sie gibt Auskunft darüber, wie schnell der Wirkstoff aus dem Organismus eliminiert wird. Sie kann natürlich von Individuum zu Individuum schwanken und sich v. a. bei pathologischen Veränderungen der Eliminationsorgane deutlich verlängern. Zusammen mit der Dosis ist sie die wesentliche Determinante für die Höhe des zu erreichenden Arzneistoffspiegels bei einer Dauermedikation ( Kap. 26.2.3).
ist die sog. präsystemische hepatische Elimination oder auch als »First-pass-Metabolismus« bezeichnet. Hierunter versteht man das Phänomen, dass der venöse Abfluss des Magen-Darm-Trakts zunächst über die Pfortader in die Leber gelangt (⊡ Abb. 26.5). Haben die Mukosa des Dünndarms oder die Leber nun eine besonders hohe Kapazität, einen bestimmten Wirkstoff zu metabolisieren, so wird schon bei der ersten Passage ein Großteil des aus dem Magen-Darm-Trakt resorbierten Wirkstoffs metabolisiert und damit eliminiert. Dies bedeutet, dass nur ein kleiner Teil der oral applizierten Dosis systemisch zur Verfügung steht. Ein ausgeprägter First-pass-Metabolismus ist der wichtigste Grund für eine geringe orale Bioverfügbarkeit. Er erklärt, dass eine Substanz trotz 100%iger Resorptionsquote nur eine orale Bioverfügbarkeit von wenigen Prozent aufweisen kann. Viele Psychopharmaka, besonders Antidepressiva und Neuroleptika weisen einen ausgeprägten First-pass-Metabolismus und eine schlechte orale Bioverfügbarkeit auf. Natürlich kann eine niedrige Bioverfügbarkeit durch eine entsprechend höhere orale Dosis ausgeglichen werden. Da aber die Bioverfügbarkeit direkt von interindividuellen oder auch alters- bzw. krankheitsbedingten Schwankungen der hepatischen Elimination beeinflusst wird, ist die interindividuelle Varianz der Plasmaspiegel bei Substanzen mit schlechter Bioverfügbarkeit besonders ausgeprägt. Die Pfortader wird umgangen bei der Resorption aus der Mundhöhle oder aus dem Rektum (⊡ Abb. 26.5). Da
Cave Die pharmakokinetische Eliminationshalbwertszeit darf jedoch nicht mit einer biologischen Halbwertszeit oder einer Halbwertszeit der therapeutischen Wirkung verwechselt werden. Diese pharmakodynamischen Größen können, müssen aber nicht mit der pharmakokinetischen Eliminationshalbwertszeit übereinstimmen.
⊡ Abb. 26.5. Venöser Abfluss aus Mundhöhle und Gastrointestinaltrakt. Ein hoher First-pass-Metabolismus nach oraler Applikation ist immer dann zu sehen, wenn der Wirkstoff schon während der Resorption in der Dünndarmwand oder bei der 1. Passage durch die Leber (Pfortader) zu einem hohen Prozentsatz metabolisiert wird. Neben ungenügender Resorption ist der First-passMetabolismus der Hauptgrund für schlechte orale Bioverfügbarkeit
26
589 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
aber die Resorption bei diesen Applikationsformen aus anderen Gründen unsicher ist, sind bukkale bzw. rektale Arzneiformen für die meisten Psychopharmaka keine Alternative.
formation in Phase I oft erst die Voraussetzung für die Konjugation in Phase II und für die nachfolgende Elimination des Pharmakons (⊡ Abb. 26.3).
Zytochrom P-450 26.2.2
Hepatischer Metabolismus
Da lipophile Substanzen wie die meisten Psychopharmaka nach der glomerulären Filtration in den Nierentubuli weitgehend wieder rückresorbiert werden, können sie nur langsam – wenn überhaupt – renal ausgeschieden werden. Um die Elimination fettlöslicher Stoffe zu beschleunigen, verwendet der Körper Enzymsysteme, die diese Stoffe in hydrophilere und somit leichter renal ausscheidbare Substanzen umwandeln. Die Metabolisierung von Fremdsubstanzen erfolgt v. a. in der Leber und nur in untergeordnetem Maße in anderen Organen (z. B. Darm, Niere, Lunge). Die an der Biotransformation beteiligten Enzyme sind weitgehend substratunspezifisch. Man unterscheidet die strukturgebundenen Enzyme, die hauptsächlich in der Membran des endoplasmatischen Retikulums (z. B. Monooxygenasen, Glukuronyltransferasen) vorkommen, und die strukturungebundenen Enzyme, die als lösliche Enzyme im Zytosol vorliegen (z. B. Esterasen, Amidasen; ⊡ Tab. 26.2).
Phase-I- und Phase-II-Reaktionen Als Phase-I-Reaktionen werden Biotransformationsmechanismen bezeichnet, die eine oxidative, reduktive und hydrolytische Veränderung der Pharmakonmoleküle bewirken. Dagegen erfolgt bei Phase-II-Reaktionen eine Konjugation eines Arzneistoffmoleküls bzw. eines aus Phase I entstandenen Metaboliten an körpereigene Substanzen (z. B. aktivierte Glukuronsäure, Glyzin, S-Adenosylmethionin). Somit schafft in vielen Fällen die Biotrans-
In der Phase I sind v. a. Oxidationsreaktionen besonders wichtig. Die weitaus größte Bedeutung für die oxidative Biotransformation von Pharmaka kommt den mikrosomalen Monooxygenasen zu, welche die Hämproteine Zytochrom P-450 enthalten. Die Grundfunktion der Monooxygenasen vom P-450-Typ besteht in der Einführung von molekularem Sauerstoff in das Zielmolekül. Dadurch wird die Wasserlöslichkeit erhöht. Dies bewirkt eine verbesserte renale Ausscheidung und somit eine Verkürzung der Halbwertszeit und häufig, aber nicht zwangsläufig, eine Abnahme der pharmakologischen Wirkung aufgrund der Bildung von Metaboliten mit geringerer Aktivität. Beim Zytochrom P-450 handelt es sich nicht um ein einzelnes Enzym, sondern um eine durch eine Supergenfamilie kodierte Gruppe von Enzymen (CYP-Enzyme; ⊡ Tab. 26.4). Um eine sichere Zuordnung dieser Enzyme zu ermöglichen, wurde eine Nomenklatur entwickelt, die die Enzyme auf der Basis von Homologien der Aminosäuresequenzen in Familien und Subfamilien unterteilt (⊡ Tab. 26.4). Die CYP-Isoenzyme können in 2 Klassen eingeteilt werden: mitochondriale und mikrosomale Enzyme. Die CYP-Enzyme der inneren Mitochondrienmembran sind bei der Steroidsynthese von Bedeutung (Familien 7, 11, 17, 19, 21, 27), während die Enzyme in den mikrosomalen Membranen (Familien 1, 2, 3, 4) Xenobiotika wie z. B. die Arzneistoffe metabolisieren. In der letzten Gruppe zählen CYP1A2, CYP2C9/10, CYP2C19, CYP2D6 und CYP3A3/4 zu den wichtigsten Isoenzymen (Nebert et al. 1991), die sich allerdings in ihrer Substratspezifität erheblich unterscheiden (⊡ Tab. 26.5).
⊡ Tab. 26.4. Klassifizierung der humanen CYP-Enzyme. (Mod. nach Preskorn u. Magnus 1994) CYP 1
2
3
4
1A1 1A2
2A6 2A7 2B6 2C8 2C9/10 2C18 2C19 2D6 2E1 2F1
3A3/4 3A5 3A7
4A9 4B1 4F2 4F3
7
11 11A1 11B1 11B2
17
19
21
27
21A2
Klassifizierungsschlüssel: erste arabische Zahl = Familie; Buchstabe = Subfamille; zweite arabische Zahl = individuelles Gen innerhalb der Sübfamilie.
26
Phenobarbital
Rifampicin
Rifampicin
Antiepileptika S-Mephenytoin Fluvoxamin
Barbiturate Hexobarbital β-Blocker Propranolol
Benzodiazepine Diazepam
Phenobarbital
Verschiedene S-Warfarin Phenytoin Tolbutamid
Fluoxetin Norfluoxetin
Paroxetin Chinidin
Quetiapin Perphenazin Trifluperidol
Carbamazepin Dexamethason Phenytoin Rifampicin
Statine Lovastatin Ketoconazol Itraconazol
Benzodiazepine Alprazolam Midazolam Triazolam Diazepam
Opiate Kodein Dextramethorphan
Antipsychotika Clozapin Risperidon Haloperidol Chlorpromazin Remoxiprid Fluphenazin
Andere Antidepressiva Venlafaxin Mianserin Maprotilin m-CPP-Metabolit von Nefazodon
Andere Antidepressiva Nefazodon Desmethyl-Venlafaxin
Antiarrhythmika Flecainid Propafenon
Imipramina Amitriptylina Clomipramina
Propranolol Timolol Metoprolol
Desimpraminb Notriptylinb Amitriptylinb Imipraminb Clomipraminb
Phenobarbital Johanniskrautextrakt
Erythromycin Nefazodon
Antiarrhythmika Propafenon Lidocain Chinidin Antipsychotika Clozapin Risperidon Quetiapin Sertindol Haloperidol Perazin Perphenazin
Antikonvulsiva Carbamazepin
Terfenadin Astemizol
Analgetika Paracetamol Cimetidin Grapefruitsaft
Steroide Kortisol Estradiol Dexamethason Testosteron
Makrolidantibiotika Erythromycin
Immunsuppressiva Ciclosporinb
Diltiazem Verapamil Nifedipin
Kalziumblocker
β-Blocker
TZA
Antihistaminika
TZA
Sertralin? N-Desmethylcitalopram
29%
CYP3A3/4
SSRI Sertralin Norfluoxetin und Fluoxetin (beide erst in höheren Konzentrationen)
SSRI Paroxetin Fluoxetin Norfluoxetin
1,5%
CYP2D6
N-Demethylierung ; b Hydroxylierung; ? Metabolismus noch nicht vollständig geklärt; m-CPP: meta-Chlorophenylpiperazin.
Omeprazol Phenobarbital Phenytoin Rifampicin Tabakrauch
Potenter Induktor
a
Fluvoxamin Cimetidin
Verschiedene Koffein Theophyllin Paracetamol R-Warfarin Tacrin
Antipsychotika Clozapin Haloperidol Olanzapin β-Blocker Propranolol
Andere Antidepressiva MAOH: Moclobemid
Clomipramina Imipramina
Amitriptylina Imipramina Clomipramina
TZA
Nichtsteroidale Antirheumatika Diclofenac Piroxicam Naproxen Ibuprofen
TZA
CYP2C19
SSRI Citalopram Fluoxetin (erst in höherer Konzentration)
CYP2C 18%
CYP2C9/10
SSRI Fluvoxamin?
13%
CYP1A2
Potenter Inhibitor
Substrat
(Enzymgehalt in der Leber)
Isoenzym
⊡ Tab. 26.5. Die wichtigsten am Metabolismus von Arzneistoffen beteiligten Zytochrom-P 450-Isoenzyme und ihre Substrate sowie potente Inhibitoren bzw. Induktoren. (Mod. nach Eckert et al. 1998; s. auch Preskorn 1996, Riesenman 1995 und Lane 1996)
590 Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
591 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
Arzneimittelinteraktionen. Die Zuordnung der Substrate
zu den Enzymen hat erhebliche Konsequenzen für das Interaktionspotenzial des Arzneistoffes: Wenn 2 Arzneistoffe über dasselbe Enzym verstoffwechselt werden, besteht die Möglichkeit einer metabolischen Interaktion. Insbesondere die Kombination eines Substrates mit einem Enzyminhibitor bzw. -induktor führt zu erheblichen Veränderungen der Plasmaspiegelkonzentation des Substrates: Im Falle des Inhibitors erhöht sich der Substratplasmaspiegel infolge eines verringerten Metabolismus; im Falle des Induktors wird das Substrat schneller abgebaut und die Substratplasmaspiegel können unter den therapeutischen Bereich absinken. Es sollte ferner nicht außer Acht gelassen werden, dass auch Nahrungsmittel solche Interaktionen bewirken können, so ist z. B. Grapefruitsaft ein Inhibitor des CYP3A/4. Viele andere Nahrungsmittelinteraktionen sind allerdings bisher nur sehr wenig untersucht. ⊡ Tab. 26.5 zeigt die wichtigsten am Stoffwechsel von Arzneimitteln beteiligten CYP-Enzyme und ihre Substrate. Erbfaktoren als Ursache variabler Aktivität von CYP-Enzymen. Etwa 8–10% unserer Bevölkerung besitzen nur eine
Im Fall der Substanz Temazepam wird kurz nach abendlicher Einnahme ein ausreichender substanzspezifischer Plasmaspiegel aufgebaut, der sich zunächst durch Umverteilungsphänomene, dann aber determiniert durch die β-Phase der Elimination (t1/2 = 8 h) langsam wieder abbaut. 24 h nach der Einnahme von Temazepam ist nur noch ein minimaler Plasmaspiegel vorhanden, so dass eine neue Einnahme in den folgenden Nächten nicht zu wesentlich anderen Plasmaspiegelverläufen führt. Etwas anders sieht es beim Nitrazepam aus, wo bedingt durch die wesentlich längere Eliminationshalbwertszeit von (t1/2 = 26 h) 24 h nach Einnahme der ersten Dosis der Plasmaspiegel nicht vollständig gesunken ist. Deshalb kommt es bei weiterer Einnahme in den folgenden Nächten zu einer deutlichen Kumulation, d. h. es bildet sich mit der Zeit ein zunehmender Nitrazepamplasmaspiegel tagsüber aus; nach etwa 5 Eliminationshalbwertszeiten (ca. 5 Tagen) wird ein Fließgleichgewicht (»steady state«) erreicht. Diese Kumulation ist bei der Substanz N-Desalkylflurazepam (einer der hypnotisch wirksamen Metaboliten des Flurazepams) infolge einer sehr langen Eliminationshalbwertszeit (t1/2 = 50 h) sehr stark ausgeprägt. Das
geringe bis keine Aktivität von CYP2D6. Hier liegt ein genetischer Polymorphismus vor. Dieser Defekt wird autosomal-rezessiv vererbt. Personen mit diesem Merkmal sind langsame Metabolisierer oder »poor metabolizer« im Unterschied zu schnellen Metabolisierern oder »extensive metabolizer«. Nur zu einem geringeren Ausmaß (ca. 3%) spielt der CYP2C19-Polymorphismus eine Rolle in unserer Bevölkerung. Bei den orientalischen Völkern kommt dem CYP2C19-Defekt jedoch eine sehr viel größere Bedeutung zu (ca. 20%). bei der schwarzen Bevölkerung sind nur ungefähr 4% von einem CYP2D6-Defekt betroffen. In Deutschland sind 8–10%, somit ungefähr 6–8 Mio. Menschen Träger eines CYP2D6-Defekts. Diese genetische Variante ist demnach bei uns v. a. für interindividuelle Variabilität verantwortlich.
26.2.3
Dosis, Dosierungsintervall und Eliminationshalbwertszeit
Einmalanwendung Der in ⊡ Abb. 26.1 gezeigte Plasmaspiegelverlauf einer Substanz nach oraler Applikation und die damit verbundene Wirkungsdauer gilt nur für den kleinen Teil der therapeutischen Anwendungen von Psychopharmaka, bei denen eine Einmalwirkung ausgenutzt werden soll. Wichtigstes Beispiel ist der Einsatz eines Medikaments als Schlafmittel. Die Bedeutung von Dosis und Eliminationshalbwertszeit bei einer solchen Einmalanwendung ist in ⊡ Abb. 26.6 für verschiedene Benzodiazepinhypnotika gezeigt (Breimer 1984).
⊡ Abb. 26.6. Plasmakonzentrationsverlauf von Desalkylflurazepam (aktiver Metabolit von Flurazepam), Nitrazepam und Temazepam bei abendlicher Verabreichung als Hypnotikum. Bedingt durch die unterschiedliche Halbwertszeit kommt es bei täglicher Einnahme zu einer unterschiedlich ausgeprägten Kumulation. (Nach Breimer 1984)
26
592
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
Fließgleichgewicht wird hier erst nach ca. 10 Tagen erreicht.
scheiden sich bei beiden Dosierungsschemata, bei denen ja die gleiche tägliche Dosis gegeben wurde, nicht.
Dauermedikation ist das Erreichen eines ausreichend stabilen Wirkstoffspiegels Ziel der Dauermedikation. Dabei sind Dosierungsintervall, Dosis und Eliminationshalbwertszeit zu beachten. Die Auswirkung unterschiedlicher Dosierungsintervalle ist in ⊡ Abb. 26.7 dargestellt. Hierbei wird in beiden Fällen die gleiche Dosis gegeben; das Medikament hat eine t1/2 von 20 h. Im Fall der gestrichelten Kurve wird die Gesamtdosis auf einmal genommen, und im Fall der durchgezogenen Kurve wird die Gesamtdosis aufgeteilt in 3 gleiche Einzeldosen. Das Dosierungsintervall beträgt damit im ersten Fall 24 h, im zweiten Fall 8 h. Bei Mehrfachdosierung mit der gleichen Dosis wird das Fließgleichgewicht der Plasmakonzentration nach ungefähr 5 Eliminationshalbwertszeiten erreicht. Dies trifft im vorliegenden Fall für beide Dosierungsschemata zu, Maxima und Minima bleiben nach ca. 5 Tagen konstant. Der wesentliche Unterschied beider Applikationsarten sind aber die Schwankungen zwischen maximalen und minimalen Plasmaspiegeln innerhalb des Dosierungsintervalls. Die mittleren Plasmaspiegel im Fließgleichgewicht unter-
Dosishöhe. Die Höhe des im Fließgleichgewicht zu erreichenden mittleren Plasmaspiegels wird direkt determiniert von der Dosis. In ⊡ Abb. 26.8 wird ein Medikament bei gleichem Dosierungsintervall in einem Fall in der doppelten Dosierung, im anderen Fall in einfacher Dosierung appliziert. Der Zeitverlauf bei Erreichen des Fließgleichgewichts ist identisch, aber wie zu erwarten, führte die doppelte Dosis zu einem doppelt so hohen Fließgleichgewicht. Nimmt man eine reziproke Dosisänderung vor, erhöht man die niedrige Dosis bzw. erniedrigt die hohe Dosis, dauert es wiederum 5 Eliminationshalbwertszeiten, bis sich in beiden Fällen das neue Fließgleichgewicht eingestellt hat. Nach Absetzen der Dosis fällt in beiden Fällen der Plasmaspiegel mit der Eliminationshalbwertszeit der Substanz von 36 h ab. Dieses Beispiel macht deutlich, dass über die Dosis einer bestimmten Substanz am individuellen Patienten eine Veränderung des Plasmaspiegels erreicht werden kann und dass nach jeder Dosisänderung wiederum 5 Eliminationshalbwertszeiten benötigt werden, bis sich ein neues Fließgleichgewicht eingestellt hat.
⊡ Abb. 26.7. Zeitverlauf der Plasmaspiegel bei Mehrfachdosierung im unterschiedlichen Intervall. In beiden Fällen wird die gleiche orale Tagesdosis eines Medikamentes mit einer Eliminationshalbwertszeit
von 20 h gegeben, im Fall der gestrichelten Kurve als Einmaldosis (Dosierungsintervall tint = 24 h) und im Fall der durchgezogenen Linie aufgeteilt in 3 Einzeldosen (tint = 8 h)
Dosierungsintervall. Bei den meisten anderen Substanzen
26
593 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
⊡ Abb. 26.8. Plasmaspiegelverlauf eines Medikamentes (t1/2 = 36 h) nach oraler Applikation im Dosierungsintervall von 8 h bei Gabe zweier unterschiedlicher Dosen: einfache Dosis (durchgezogene Linie) und
Eliminationshalbwertszeit. Im interindividuellen Ver-
gleich wird für das gleiche Medikament die Höhe des im Fließgleichgewicht zu erreichenden Plasmaspiegels auch sehr stark von der individuellen Eliminationshalbwertszeit bestimmt. Dies wird in ⊡ Abb. 26.9 dargestellt. Hier ⊡ Abb. 26.9. Verlauf des Plasmaspiegels eines Medikamentes nach Beginn der Einnahme einer fixen Tagesdosis (2-mal täglich, 12 h Intervall) bei einem jungen Patienten mit einer hepatischen Eliminationshalbwertszeit (t1/2) des Medikamentes von 24 h und bei einem alten Patienten mit einer Verlängerung von tl/2 auf 48 h. Beim alten Patienten wird durch diese Dosierung ein doppelt so hoher Plasmaspiegel als beim jungen Patienten erreicht. Darüber hinaus ist beim alten Patienten noch die Zeit bis zur Einstellung des "steady state" (Fließgleichgewichts) verdoppelt (ca. 10 Tage im Vergleich zu 5 Tagen beim jungen Patienten) und auch die Zeit verlängert, die nach Absetzen der Einnahme benötigt wird, bis der Plasmaspiegel sich auf annähernd 0 eingestellt hat
doppelte Dosis (gestrichelte Linie). Nach 6 Tagen wird das Dosisschema gerade getauscht
wurde die gleiche Dosis eines Medikaments einem jungen und einem alten Patienten verabreicht. Aufgrund einer Einschränkung der metabolischen Kapazität der Leber ist beim alten Patienten die Eliminationshalbwertszeit des Medikaments verdoppelt. Obwohl die gleiche Dosis gege-
26
594
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
ben wird, wird beim alten Patienten ungefähr der doppelte Plasmaspiegel im Fließgleichgewicht erreicht. Darüber hinaus benötigt der alte Patient ebenfalls 5 Eliminationshalbwertszeiten zur Erreichung des Fließgleichgewichts, was im vorliegenden Fall bedeutet, dass der maximale bei dieser Dosis zu erreichende Plasmaspiegel beim älteren Patienten erst nach 10 Tagen erreicht wird im Vergleich zu 5 Tagen beim jungen Patienten. Der möglicherweise zu hohe Plasmaspiegel beim alten Patienten kann problemlos durch Gabe einer geringeren Dosis reduziert werden (⊡ Abb. 26.8). Keinen Einfluss hat der Therapeut aber auf den Zeitverlauf bis zum Eintreten des Fließgleichgewichts, das sich bei jeder Dosisänderung neu einstellen muss. ! Im interindividuellen Vergleich wird die Höhe des Plasmaspiegels wesentlich von der Eliminationshalbwertszeit determiniert.
26.2.4
Önanthat
Depotarzneiformen
Durch eine tägliche Dauermedikation können mehr oder weniger gleichmäßige Plasmaspiegel über längere Zeit aufrechterhalten werden. Ist die Compliance der Patienten schlecht, stellt sich oft die Frage nach einer Depotarzneiform, die einen gleichmäßigen Wirkstoffspiegel im Organismus über viele Tage mit einer einmaligen Applikation gewährleisten soll. Dieses Problem stellt sich in der Psychiatrie v. a. bei der Rezidivprophylaxe schizophrener Psychosen mit Neuroleptika. Hier werden besondere galenische Darreichungsformen benötigt, wie in ⊡ Abb. 26.10a veranschaulicht wird. Die gleiche Dosis des Neuroleptikums Fluphenazin wurde in 3 unterschiedlichen Zubereitungsformen verabreicht. Im einfachsten Falle wird das Fluphenazin als Dihydrochlorid (also nicht als Depot) intramuskulös appliziert. Wie zu erwarten, findet man hier gleich nach Applikation sehr hohe Plasmaspiegel von fast 50 ng/ml, die dann in guter Übereinstimmung mit der Eliminationshalbwertszeit der Substanz (t1/2 = 15 h) exponenziell abfallen. Ein therapeutisch erwünschter Plasmaspiegel im Bereich von 0,5–1 ng/ml wird bei dieser Applikationsform praktisch nur am letzten Tag erreicht. In den ersten Tagen wäre bei dieser Applikationsform aufgrund des sehr hohen Plasmaspiegels mit extremen Nebenwirkungen zu rechnen. Gibt man die gleiche Dosis des Fluphenazins als Depotform (entweder als Önanthat oder als Dekanoat), so wird aus beiden Zubereitungsformen der Wirkstoff langsam freigegeben. Man erhält einen wesentlich gleichmäßigeren Plasmaspiegel über die Zeit. Dieser schwankt beim Önanthat aber immer noch erheblich zwischen einem Wert von ungefähr 3 ng/ml am Tag 3, der dann am Tag 14 auf <0,5 ng/ml abfällt. Im Falle des Dekanoats bleibt der Plasmaspiegel wesentlich konstanter und be-
Dekanoat
a
Plasmaspiegelverläufe von Methylphenidat bei Kindern mit ADHS Methylphenidat-Plasmaspiegel (ng/ml)
26
20
3-mal tägl. 36 mg (langsame Freisetzung, Oros -Technologie, Concerta®) 1-mal tägl. 10 mg (schnelle Freisetzung)
16 12 8 4 0 0
b
2
4
6
8
10
12
Zeit nach oraler Einnahme (h)
⊡ Abb. 26.10a,b. Plasmaspiegelverläufe von a Fluphenazin nach i.m.Gabe von jeweils 25 mg unterschiedlicher Fluphenazinzubereitungen (nach Kapfhammer u. Rüther 1987); b von Methylphenidat nach Einnahme (3-mal täglich) einer schnell freisetzenden Tablette oder nach Einmaleinnahme einer Retard-Kapsel (Concerta®). Die Retardierung wird hier durch eine spezielle Kapsel erreicht (OrosTechnologie), wo der Wirkstoff langsam aus der Kapsel durch Osmose freigesetzt wird. (Nach Vulkow u. Swanson 2003)
wegt sich zwischen Tag 1 und Tag 14 sehr eng im Bereich um 0,7 ng/ml. Der steile Anstieg des Fluphenazin-Plasmaspiegels am ersten Tag auch bei der Gabe von Dekanoat ist in diesem Fall wahrscheinlich auf eine Verunreinigung des Dekanoats mit freiem Fluphenazin zurückzu-
595 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
führen und ist bei heutigen Präparaten nicht mehr zu sehen. Von den neueren atypischen Neuroleptika steht bis heute nur das Risperidon als parenterales (i.m.) Depot-Neuroleptikum zur Verfügung. Die 14-tägigen Dosierungsintervalle werden hier durch eine verzögerte Freisetzung des Wirkstoffs aus Mikropellets erreicht. Bei den meisten anderen Atypika ist wegen der hohen benötigten Tagesdosen eine Depotarzneiform nicht realisierbar. Methylphenidat, was heute als Standardtherapie der ADHS gilt, hat eine kurze Halbwertszeit und muss daher meist 3-mal täglich eingenommen werden. Für die Kinder und Jugendlichen bedeutet dies mindestens eine Einnahme während der Schulzeit, was mit einer erheblichen Stigmatisierung verbunden sein kann. Dies wird bei oralen Depotarzneiformen (⊡ Abb. 26.10b) umgangen, die eine kontinuierliche Freigabe vom Morgen bis in den Nachmittag gewährleisten.
werden häufig mit anderen psychotropen Arzneimitteln kombiniert, was zu Veränderungen der Pharmakokinetik der Substanzen führen kann. Hinzu kommt, dass bei psychiatrischen Patienten und hier speziell bei älteren Patienten häufig eine internistische Komorbidität vorliegt, die mit den entsprechenden Arzneimitteln behandelt wird. Ebene der Interaktion. Interaktionen auf der Ebene der
hepatischen Metabolisierung nehmen v. a. bei Psychopharmaka einen bedeutenden Stellenwert ein, während Interaktionen auf der Ebene der Verteilung (z. B. Plasmaproteinbindung) oder der Elimination (Lithium) nur eine untergeordnete Rolle spielen. Im Folgenden werden die pharmakokinetischen Interaktionen der hepatischen Metabolisierung am Beispiel der Antidepressiva ausführlicher dargestellt.
Hepatische Metabolisierung 26.2.5
Pharmakokinetische Interaktionen
Bei der Behandlung mit Arzneimitteln fallen immer wieder Patienten auf, die nach Gabe von Standarddosen ungewöhnlich im Hinblick auf erwünschte oder unerwünschte Wirkungen reagieren. Dieses Phänomen beruht teilweise auf den erheblichen interindividuellen Unterschieden des Arzneimittelstoffwechsels. Hierbei ist insbesondere das Zytochrom P-450-System involviert. Ursachen dieser Variabilität von Patient zu Patient können außer in genetischen Polymorphismen (z. B. CYP2D6: 8% der Bevölkerung sind »poor metabolizers«) in der Induktion oder Hemmung der Zytochrom P-450-Enzymaktivitäten durch gleichzeitig verabreichte Arzneimittel oder Nahrungsbestandteile liegen. Es tritt häufig eine erwartete Response bei einer ungewöhnlichen Dosis auf. So kann z. B. bei einem Patienten die Wirkung bei einer Dosis ausbleiben, die normalerweise therapeutisch wirksam ist. Umgekehrt kann ein Patient eine dosisabhängige Nebenwirkung bei einer Dosis entwickeln, die sonst gut toleriert wird. Pharmakokinetische Interaktionen werden oft fälschlicherweise dem Patienten zugeschrieben, der als »resistent« oder »sensibel« eingestuft wird, und haben ein ähnliches Resultat wie eine Dosisveränderung. ! Besonders relevant sind pharmakokinetische Interaktionen bei Arzneimitteln mit kleiner therapeutischer Breite. Durch eine bestimmte Komedikation kann eine Plasmaspiegelerhöhung des Arzneimittels hervorgerufen werden, die mit einem starken Anstieg der Nebenwirkungen bis hin in den toxischen Bereich verbunden ist. Kombination mit anderen Arzneimitteln. Wechselwir-
kungen zwischen Medikamenten spielen in der Psychopharmakologie eine wichtige Rolle. Psychopharmaka
Die Kenntnisse über Arzneimittelinteraktionen erweitern sich ständig und wurden durch die Einführung der neueren Antidepressiva aus der Gruppe der selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) intensiviert. Antidepressiva der ersten Generation. Bei den schon lan-
ge zur Verfügung stehenden tri- und tetrazyklischen Antidepressiva (TZA) stellten v. a. die pharmakodynamischen Interaktionen ein wichtiges Problem dar, da sie nicht nur Rezeptorsysteme im ZNS, sondern auch in der Peripherie beeinflussen können. Darüber hinaus sind additive Effekte mit ähnlich wirkenden Substanzen möglich (z. B. das Auftreten des zentralen Serotoninsyndroms oder des anticholinergen Delirs). Zudem sind mit diesen Substanzen auch pharmakokinetische Interaktionen, v. a. auf der Ebene der hepatischen Metabolisierung, häufig. Diese Interaktionsprobleme sind für alle Vertreter der strukturverwandten Gruppe der TZA ähnlich. Da die meisten dieser älteren Substanzen nur eine geringe therapeutische Breite haben, ist v. a. eine Wirkungsverstärkung des TZA gefürchtet. Neuere Antidepressiva. Diese Situation hat sich durch die
Einführung der Antidepressiva der 2. bzw. 3. Generation, den SSRI, wesentlich gebessert, denn diese haben: Eine größere therapeutische Breite, ein erhöhtes Sicherheitsprofil gegenüber Überdosierungen mit Mortalitätsrisiko und in der Regel kein kardiales Risiko. Bei diesen Substanzen muss man mit weniger pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Interaktionen rechnen, so dass mit den SSRI ein echter therapeutischer Fortschritt vorliegt. Aber auch die SSRI sind als Gruppe nicht ganz frei von Interaktionsproblemen. Einige SSRI (Fluoxetin, Fluvoxamin und Paroxetin) wirken als po-
26
596
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
tente Enzyminhibitoren des hepatischen Zytochrom P450-System. Somit kann – im Gegensatz zu den TZA – eine kritische Wirkungsverstärkung des Kombinationsarzneimittels auftreten.
Inhibition von CYP-Isoenzymen
26
⊡ Tab. 26.5 zeigt, welche CYP-Isoenzyme von Fluoxetin, Fluvoxamin und Paroxetin inhibiert werden. Die aufgeführten Substrate, die über die entsprechenden Enzyme metabolisiert werden, stellen somit potenzielle Interaktionspartner dar. So ist z. B. die Kombination von Fluvoxamin und Theophyllin kritisch, da Fluvoxamin den Abbau von Theophyllin über CYP1A2 inhibiert. Theophyllin besitzt außerdem nur eine geringe therapeutische Breite. Die Komedikation kann somit zu einer Theophyllinplasmaspiegelerhöhung führen, die das klinische Erscheinungsbild einer Theophyllinüberdosierung, wie Tremor und eine ausgeprägte Tachykardie, zeigt. Eine derartige Interaktion würde sich nach dem heutigen Wissensstand voraussagen lassen.
! Exaktes Wissen über die Mechanismen, die solche Interaktionen auslösen können, muss daher heute als Grundlage für den rationalen Umgang mit den SSRI gelten. Basierend auf den metabolischen Grundlagen sind einige kritische Interaktionspartner der SSRI und von Carbamazepin exemplarisch in ⊡ Tab. 26.6 zusammengefasst. Klinische Einschätzung. Die klinische Einschätzung einer
pharmakokinetischen Interaktion erfolgt dabei je nach
Ausmaß des Plasmaspiegelanstiegs bzw. der Vergrößerung der »area under the curve« (AUC) des gleichzeitig verabreichten Substrats von nicht klinisch relevant (<20%) über leicht (20–50%), mittelgradig (50–150%) bis stark (>150%). Auch hier gilt: Cave Arzneimittel mit kleiner therapeutischer Breite! ⊡ Tab. 26.6 zeigt v. a. kritische Interaktionspotenziale mit mittelgradiger bis starker klinischer Relevanz. Auch Carbamazepin ist ein Arzneimittel mit kleiner therapeutischer Breite. Kombinationen mit Substanzen wie Erythromyzin, die das Abbauenzym CYP3A3/4 inhibieren, sollten somit auf jeden Fall vermieden werden.
Zwei Substrate des gleichen Enzyms Bei den bisher beschriebenen Interaktionen handelte es sich hauptsächlich um eine Kombination eines potenten Inhibitors mit einem Substrat des gleichen CYP-Isoenzyms. Bei dieser Kombination sind die ausgeprägtesten Arzneimittelinteraktionen zu erwarten. Aber auch 2 Substrate können die Enzymaktivität ihres gemeinsamen Abbauenzyms in einem gewissen Maße beeinflussen. So besitzen z. B. auch Neuroleptika eine inhibitorische Potenz auf bestimmte CYP-Isoenzyme, was den Plasmaspiegel von z. B. gleichzeitig verabreichten Antidepressiva ansteigen lässt. Meist kommt es allerdings hier nicht zu klinisch relevanten Interaktionen.
Beitrag zur Gesamtclearance Für die Abschätzung einer möglichen Interaktion muss außerdem noch beachtet werden, in welchem Umfang ein Abbauweg zur gesamten Clearance des Arzneimittels bei-
⊡ Tab. 26.6. Kritische Interaktionspotenziale einzelner Psychopharmaka basierend auf pharmakokinetischen Interaktionen Psychopharmaka
Pharmakokinetische Interaktionspartner
Art der Interaktion und klinische Relevanz
Citalopram
–
Keine Enzyminhibition, deshalb keine klinisch relevanten Interaktionen bekannt
Fluoxetin und Norfluoxetin
β-Blocker, trizyklische Antidepressiva, Mianserin, Venlafaxin, Maprotilin, Haloperidol, Clozapin, Propafenon, Opiate
CYP2D6-Enzyminhibition durch Fluoxetin und Norfluoxetin: Klinisch relevante Erhöhung der Plasmaspiegel der Interaktionspartner, dadurch vermehrte Nebenwirkungen
Fluvoxamin
Trizyklische Antidepressiva, Clozapin, Propranolol, Theophyllin, Koffein, Tacrin Trizyklische Antidepressiva, Moclobemid, Hexobarbital, Diazepam, Propranolol
CYP1A2- und CYP2C19-Enzyminhibition durch Fluvoxamin: Klinisch relevante Erhöhung der Plasmaspiegel der Interaktionspartner, dadurch vermehrte Nebenwirkungen
Paroxetin
(Analog Fluoxetin) β-Blocker, trizyklische Antidepressiva, Mianserin, Venlafaxin, Maprotilin, Haloperidol, Clozapin, Propafenon, Opiate
CYP2D6-Enzyminhibition durch Paroxetin: Klinisch relevante Erhöhung der Plasmaspiegel der Interaktionspartner, dadurch vermehrte Nebenwirkungen
Sertralin
–
Keine Enzyminhibition, deshalb keine klinisch relevanten Interaktionen bekannt
Ketoconazol, Itraconazol; Makrolidantibiotika (z. B. Erythromycin)
CYP3A3/4-Enzyminhibition durch Komedikation: Höhere Carbamazepin-Plasmaspiegel, dadurch vermehrte Carbamazepin-Nebenwirkungen bis hin zur Neurotoxizität
SSRI im Vergleich:
Carbamazepin
597 26.2 · Praktische Pharmakokinetik
trägt. Dies soll am Beispiel von Citalopram verdeutlicht werden (⊡ Abb. 26.3). Der initiale Metabolisierungsschritt ist die Demethylierung von Citalopram zu Desmethylcitalopram. In diesen Schritt scheinen die Isoenzyme CYP2C19 und/oder CYP3A3/4 involviert zu sein. Desmethylcitalopram wird im 2. Schritt zumindest teilweise über das Isoenzym CYP2D6 zu Didesmethylcitalopram demethyliert. Das Verhältnis der Plasmakonzentration von Citalopram zu den Metaboliten Desmethylcitalopram soll 2– 3:1 und von Citalopram zu Didesmethylcitalopram 10–15:1 bei erwachsenen Patienten und Probanden betragen. Demzufolge spielt der Metabolismus von Citalopram über das CYP2D6-Enzym nur eine untergeordnete Rolle in der Gesamtclearance. Ein CYP2D6-Inhibitor würde somit keine klinisch relevante Interaktion bewirken. Im Gegensatz dazu wird bei der Metabolisierung von Imipramin – neben einer direkten Hydroxylierung – durch Demethylierung der aktive Metabolit Desipramin gebildet. Ein CYP2D6-Inhibitor würde somit eine deutliche pharmakokinetische Interaktion erzeugen.
⊡ Tab. 26.7. Einfluss des Alters auf die terminale Eliminationshalbwertszeit (t1/2) verschiedener Benzodiazepine. (Nach Klotz u. Laux 1996) Wirkstoff
Zunahme von t1/2 [%]
Hypnotika Brotizolam Flunitrazepam Flurazepam Lorazepam Lormetazepam Nitrazepam Temazepam Triazolam
±35–95 ±0 ±35–135 ±0 ±0 ±40 ±0 ±0
Tranquillanzien Alprazolam Bromazepam Chlordiazepoxid Diazepam Lorazepam Oxazepam
±40 ±75 ±80–370 ±125–200 ±0 ±0
Pharmakokinetische Veränderungen im Alter. Die Herab-
Enzyminduktion Neben den bisher aufgeführten Interaktionen aufgrund einer CYP-Enzyminhibition kann umgekehrt auch eine Enzyminduktion stattfinden. Somit kann es zu einer stärkeren Metabolisierung und folglich zu konsekutiv erniedrigten Plasmaspiegelkonzentrationen kommen. Wichtige Induktoren sind Phenobarbital, Carbamazepin, Rifampicin, Nikotin, Alkohol, orale Kontrazeptiva und andere Östrogenpräparate. Diese Kombinationen führen demnach nicht zu einem kritischen Anstieg der Nebenwirkungen, sondern zu einer »Unterdosierung« und demnach zu einer herabgesetzten Wirkung des Arzneimittels.
26.2.6
Pharmakokinetik im Alter
Im Alter können praktisch alle Einzelparameter der Pharmakokinetik von Psychopharmaka verändert sein (Müller 1997 b). Von Praxisrelevanz sind für Psychopharmaka Veränderungen der Elimination im Sinne einer verlängerten Eliminationshalbwertszeit. Dies gilt für das einzige primär renal eliminierte Psychopharmakon (Lithium), aber ganz besonders für alle anderen Psychopharmaka, die hepatisch eliminiert werden. Betroffen sind v. a. Psychopharmaka, die in einer Phase-I-Reaktion metabolisch verändert werden müssen (⊡ Tab. 26.2). Weniger stark betroffen von altersabhängigen Veränderungen der Pharmakokinetik sind Psychopharmaka, die nur über eine Phase-II-Reaktion (z. B. Glukoronidierung) eliminiert werden. Wie differenziert das Alter die Elimination auch innerhalb einer Substanzklasse beeinflussen kann, ist am Beispiel einiger Benzodiazepine in ⊡ Tab. 26.7 gezeigt.
setzung der metabolischen Aktivität der Leber im Alter kann 2 wichtige pharmakokinetische Parameter beeinflussen. Einerseits wird, wie ⊡ Abb. 26.9 zeigt, durch eine Verlängerung der Eliminationshalbwertszeit bei beibehaltener Dosis der im Fließgleichgewicht zu erreichende Plasmaspiegel erhöht. Andererseits wird durch eine Reduktion der hepatischen Metabolisierung der First-passMetabolismus verringert, was zu einer Verbesserung der Bioverfügbarkeit führt (⊡ Abb. 26.5). Beide Prozesse führen aber letztlich dazu, dass bei gleicher Dosierung die Plasmaspiegel bei älteren Patienten deutlich höher sein können als bei jungen Patienten. Dies impliziert immer die Gefahr einer relativen Überdosierung. ! Durch Reduktion der Dosis beim älteren Patienten kann zwar die Höhe des Plasmaspiegels im Fließgleichgewicht angepasst werden, nicht aber das verlängerte Zeitintervall, bis das Fließgleichgewicht erreicht wird. Deswegen sollten Dosisveränderungen beim älteren Patienten erst nach längeren Zeitintervallen vorgenommen werden als bei jüngeren Patienten. Pharmakodynamische Empfindlichkeit. Darüber hinaus
kann sich die Therapie mit Psychopharmaka bei älteren Patienten dadurch komplizieren, dass selbst bei Substanzen, deren Pharmakokinetik im Alter nicht verändert ist (z. B. einige Benzodiazepinderivate, ⊡ Tab. 26.7), aufgrund einer Erhöhung der pharmakodynamischen Empfindlichkeit älterer Patienten eine Dosisreduktion angebracht ist. Allerdings benötigt nicht jeder ältere Patient eine geringere Dosis als jüngere Patienten, so dass im Einzelfall auch bei älteren Patienten der zur Verfügung ste-
26
598
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
hende Dosisbereich ausgeschöpft werden muss. Die Eingangs- oder Initialdosis sollte aber stets niedriger sein als bei jüngeren Patienten.
26.2.7
26
Dosis, Plasmaspiegel und Wirkung
Nur für sehr wenige der in Psychiatrie und Neurologie eingesetzten Medikamente können Patienten auf einen optimalen Plasmaspiegelbereich eingestellt werden. Neben einigen Antiepileptika gilt das v. a. für das Lithium. Pharmakokinetisch gesehen ist allen diesen Substanzen gemeinsam, dass sie ein relativ kleines Verteilungsvolumen haben (⊡ Tab. 26.3). Das bedeutet, dass ein relativ großer Prozentsatz der im Körper vorhandenen Dosis sich im Plasma nachweisen lässt. Nur dann gibt das Kompartiment Plasma einen relativ guten Einblick in den Gesamtkonzentrationsverlauf im Organismus. Dies gilt für die meisten in der Regel sehr lipophilen Psychopharmaka nicht. Diese ungünstigen pharmakokinetischen Voraussetzungen erklären letztlich, warum für viele Psychopharmaka die individuelle Dosis nicht anhand eines Plasmaspiegels, sondern anhand der therapeutischen Situation festgelegt werden muss. Andererseits können aber trotzdem bei einer ganzen Reihe von Substanzen Plasmaspiegelbestimmungen sehr hilfreich sein und sollten deshalb zumindest im stationären Bereich zur Verfügung stehen ⊡ Abb. 26.11. Schematische Darstellung einer chemischen Synapse als Kommunikationsprinzip zwischen 2 Nervenzellen. Der Transmitter selbst – oder meist seine Vorstufe – wird von spezifischen Systemen ins Neuron aufgenommen (A). Der aufgenommene bzw. aus der Vorstufe im Neuron synthetisierte Transmitter wird über axonalen Transport an die Nervenendigungen transportiert (B) und dort in Vesikeln gespeichert (C). Durch ein Aktionspotenzial des Axons und ein damit verbundener Ca2+-Einstrom wird der Transmitter durch Exozytose aus den Vesikeln in den synaptischen Spalt freigesetzt (D) und kann nach Diffusion (E) mit Rezeptoren auf der post-synaptischen Seite reagieren (F). Die Inaktivierung des Transmitters erfolgt durch Abbau oder Aufnahme an der postsynaptischen Seite (G) durch Rückdiffusion (H) und Aufnahme ins präsynaptische Neuron (I) bzw. in Synapse-begleitende Gliazellen (J)
(Baumann et al. 2004). Viele Untersuchungen gerade bei Neuroleptika und Antidepressiva haben gezeigt, dass durch konsequent angewandte Plasmaspiegelbestimmungen sehr leicht diejenigen Patienten herausgefunden werden können, die sich an den Randbereichen bewegen. So sind viele unter normalen klinischen Dosierungen als Non-Responder einzuordnende Patienten deshalb NonResponder, weil sie ungenügende Plasmaspiegel zeigen. Die Ursache hierfür kann auf metabolischer Ebene liegen, aber auch durch eine Non-Compliance bedingt sein. ! Durch konsequent durchgeführte Plasmaspiegelbestimmungen können gerade bei einer Antidepressivatherapie Patienten sowohl vor Intoxikationen als auch vor anderen belastenden Nebenwirkungen geschützt werden ( Kap. 23, S. 522 f).
26.3
Die zentrale Neurotransmission als Angriffspunkt der Psychopharmaka
Aufgrund der zentralen Rolle der chemischen Neurotransmission für die Kommunikation innerhalb des Netzwerkes von Nervenzellen in unserem Gehirn ( Kap. 7) ist es nicht weiter verwunderlich, dass fast alle Psychopharmaka über einen Angriff in die chemische Neurotransmission wirken (⊡ Abb. 26.11). Hierbei können praktisch
599 26.3 · Die zentrale Neurotransmission als Angriffspunkt der Psychopharmaka
alle prä- und postsynaptischen Mechanismen (⊡ Abb. 26.11) zentraler Synapsen beeinflusst werden. Eine wichtige Ausnahme sind die meisten Phasenprophylaktika oder »mood stabilizer«, die meist direkt die Erregbarkeit von Nervenzellen reduzieren, häufig über Veränderungen von Ionenleitfähigkeitsmechanismen. Dies ist vor dem Hintergrund, dass diese Substanzen häufig primär als Antikonvulsiva eingesetzt werden, nicht weiter verwunderlich.
26.3.1
Akute pharmakologische Beeinflussung durch Psychopharmaka
Transmittersynthese. Veränderungen der Biosynthese von Neurotransmittern ( Kap. 7) spielen für Psychopharmaka fast keine Rolle. Das klassische Beispiel für einen solchen Mechanismus ist die Verstärkung der relativen dopaminergen Unteraktivität im nigrostriatalen dopaminergen System durch die Gabe der DA(Dopamin)Vorstufe L-Dopa und deren erfolgreicher Einsatz in der Behandlung des idiopathischen Parkinson. Man hat versucht, weitere rationale Pharmakotherapien zentralnervöser Erkrankungen, bei denen als Ursache ein relativer Mangel eines bestimmten Neurotransmitters vermutet wird, zu entwickeln. Beispiele hierfür wären die Behandlung der Alzheimer-Erkrankung mit Azetylcholinvorstufen wie Cholin und Lezithin oder die Depressionsbehandlung mit L-Tryptophan bzw. 5-Hydroxytryptophan. Im Gegensatz zu den guten therapeutischen Erfolgen der L-Dopa-Behandlung des Morbus Parkinson haben die anderen Behandlungsstrategien keine oder nur minimale klinische Erfolge gezeigt. Ebenso wenig erfolgreich waren Behandlungsversuche der Depression mit der NA(Noradrenalin)-Vorstufe L-Tyrosin.
rum von Neuroleptika, v. a. bei ihrem Einsatz in niedriger Dosierung als Tranquilizer, von Bedeutung ( Kap. 26.5, ⊡ Abb. 26.15) Inaktivierung. Um eine repetitive Aktivierung postsynap-
tischer Rezeptoren zu ermöglichen, muss der in die Synapse freigesetzte Transmitter sehr schnell wieder aus der Synapse entfernt werden. Neben enzymatischem Abbau sind hier v. a. die Wiederaufnahme ins präsynaptische Neuron bzw. die Aufnahme in die Synapse umgebende Gliazellen von Bedeutung. Der Wiederaufnahme-Carrier befördert den Transmitter mit hoher Affinität. Er erlaubt ein »Recycling« des Transmitters. Den Nachbarzellen fehlen solche hochaffinen Carrier meist, und in ihnen folgt der Aufnahme stets der Abbau. Für Dopamin, Noradrenalin, Serotonin, Glutamat, GABA und Glyzin gibt es jeweils verschiedene spezifische Wiederaufnahme-Carrier im präsynaptischen Axolemm. Sie sind nicht verwandt mit den vesikulären Carriern. Der Wiederaufnahmetransporter für Noradrenalin wird z. B. durch das Antidepressivum Desipramin, nicht aber durch Reserpin blockiert, das nur die vesikuläre Speicherung zu blockieren vermag. Eine Blockade solcher Inaktivierungsmechanismen stellt einen für Psychopharmaka wichtigen Angriffspunkt dar. So blockieren z. B. viele klassische Antidepressiva die neuronale Wiederaufnahme der Transmitter Noradrenalin und Serotonin. Inhibitoren des u. a. in den Mitochondrien (⊡ Abb. 26.13a,b) lokalisierten Enzyms MAO hemmen den intra- und extraneuronalen Abbau aminerger Transmitter. Verschiedene Substanzen, die über eine Hemmung der Azetylcholinesterase die synaptische Konzentration von Azetylcholin im ZNS erhöhen, werden z. Z. für die Behandlung der Alzheimer-Erkrankung therapeutisch genutzt. Rezeptoren. Die Informationsweitergabe wird auf der
Transmitterfreisetzung. Während die durch Exozytose
vermittelte Freisetzung des Transmitters in die Synapse als Angriffspunkt von Psychopharmaka keine Rolle spielt, ist eine Beeinflussung regulativer Faktoren der Transmitterfreisetzung als Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka durchaus relevant. Zum Beispiel kann die Menge des synaptisch freigesetzten Noradrenalins durch inhibitorische Autorezeptoren (vom α2-Typ) im Sinne einer negativen Rückkopplung reguliert werden. Autorezeptoren können entweder die Menge des freigesetzten Transmitters beeinflussen oder können auch seine Syntheserate regulieren. Eine Blockade inhibitorischer α2Rezeptoren und einer damit verbundenen initialen Erhöhung der NA-Konzentration an zentralen Synapsen spielt für die Wirkung des Antidepressivums Mirtazapin eine große Rolle ( Kap. 26.4 und ⊡ Abb. 26.13a,b). Darüber hinaus ist eine Blockade dopaminerger inhibitorischer Autorezeptoren (vom Typ D2) im Gesamtwirkungsspekt-
postsynaptischen Seite von Rezeptoren übernommen, die vom freigesetzten Transmitter besetzt werden und das hierüber ausgelöste Signal dann über verschiedene Transduktionsmechanismen in das rezeptive Neuron weiterleiten. Ähnlich wie im peripheren Nervensystem ist dieser Teil der chemischen Neurotransmission im ZNS ein ganz wesentlicher Angriffspunkt für Pharmaka. Neben Agonisten, die die Funktion des physiologischen Transmitters nachahmen, gibt es hier Antagonisten, die durch eine Blockade der Rezeptoren die Informationsweitergabe unterbinden. In den letzten Jahren bekommen sog. partielle Agonisten eine zunehmende Bedeutung. Sie können zwar den Rezeptor aktivieren, die Signalübertragung in das rezeptive Neuron ist aber nur abgeschwächt. In Gegenwart hoher synaptischer Konzentrationen des physiologischen Transmitters wirken sie eher als Antagonisten.
26
600
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
26.3.2
26
Adaptionsphänomene und klinischer Wirkungseintritt
Die bisher beschriebenen Effekte sind alle mehr oder weniger akuter Natur, d. h. nach Applikation des Psychopharmakons sind sie in relativ kurzer Zeit vorhanden und deutlich ausgeprägt. Dieser sehr schnelle Eintritt der akuten pharmakologischen Wirkung steht bei einer Reihe von Psychopharmaka im Gegensatz zum Zeitverlauf der gewünschten klinischen Wirkung, die sich oft erst über einen Zeitraum von Tagen oder Wochen ausbildet. Dies hat zu der Annahme geführt, dass die oben beschriebenen akuten Effekte möglicherweise nicht den eigentlichen Wirkungsmechanismus einer Reihe von Substanzen darstellen, sondern dass sie nur den Anstoß zu adaptiven Veränderungen der Funktionalität bestimmter zentraler Neurone geben. Die extrem komplexe Verschaltung aller zentraler Neurone untereinander bringt es mit sich, dass viele zentrale Neurone zu einer Reihe von adaptiven Leistungen fähig sind, d. h. sie können ihren Funktionszustand den vorliegenden Bedingungen anpassen und damit überschießende oder ungenügende Aktivitäten in bestimmten Bereichen des ZNS kompensieren bzw. ausgleichen. Dies kann in größeren Regelkreisen erfolgen, in die verschiedene Neurone involviert sind, dies kann aber auch schon an einer einzelnen Synapse passieren, wo in vielen Fällen die postsynaptische Seite in der Lage ist, Perioden chronischer Über- bzw. Unteraktivität der Präsynapse durch bestimmte Adaptationen der Rezeptorkonzentration, aber auch der Rezeptorfunktionalität zu kompensieren.
⊡ Abb. 26.12. Mögliche adaptive Veränderungen verschiedener Mechanismen der serotonergen Neurotransmission unter chronischer Gabe von Antidepressiva; 5-HT 5-Hydroxytryptophan/Serotonin, MAO Monoaminooxidase, PLC Phospholipase C. (Nach Leonhard 1995, 1996; Müller u. Eckert 1997)
Adaptionsphänomene bei Antidepressiva. Wichtigstes
Beispiel dafür, dass der eigentliche Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka mit der Ausbildung solcher kompensatorischer Mechanismen verbunden ist, sind die Antidepressiva. Bei den Antidepressiva geht man heute davon aus, dass, z. B. angestoßen durch die akute Blockade der neuronalen Wiederaufnahme und der damit verbundenen initialen Konzentrationserhöhung der Transmittersubstanzen Noradrenalin bzw. Serotonin in den jeweiligen Synapsen, solche adaptiven Veränderungen auf der postsynaptischen Seite ausgelöst werden. Diese Veränderungen lassen sich im noradrenergen wie auch im serotonergen System finden und betreffen Veränderungen von Dichte und Funktionalität der postsynaptischen Rezeptoren. Die heutigen Vorstellungen solcher adaptiver Veränderungen an der serotonergen Synapse, wie sie von sehr vielen Antidepressiva ausgelöst werden, sind in ⊡ Abb. 26.12 zusammengefasst. Hiermit soll auch die Komplexität dieser Phänomene alleine auf der Ebene der klassischen Neurotransmission dokumentiert werden. Weitere Adaptionsphänomene. Ein anderes Beispiel für adaptive Veränderungen der Funktionalität zentraler Neurone, die wahrscheinlich sehr eng mit dem eigentlichen Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka verbunden sind, wäre der sich erst langsam ausbildende Depolarisationsblock dopaminerger Neurone des mesolimbischen bzw. nigrostriatalen dopaminergen Systems unter chronischer Therapie mit Neuroleptika.
601 26.4 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva
26.3.3
Pharmakologische Selektivität und funktionelle Spezifität
Bei unserem heutigen Verständnis zentralnervöser Funktionen müssen wir davon ausgehen, dass einzelne Funktionen unseres Gehirns bestimmten Kerngebieten bzw. bestimmten Verbänden von Neuronen zugeordnet werden können, die allerdings dann zusätzlich noch über verschiedenartige Querverbindungen modulierende Impulse aus anderen Arealen des Gehirns erhalten. Ausgehend von dem klinischen Vorhaben, bestimmte psychopathologische Symptome bzw. Syndrome möglichst selektiv korrigieren zu können, sind solche Psychopharmaka wünschenswert, die gezielt bestimmte Funktionen oder ggf. bestimmte Areale des ZNS beeinflussen können. Pseudoselektivität der Benzodiazepine. Ein typisches
Beispiel hierfür ist die Meinung, dass Benzodiazepine hauptsächlich in Arealen des limbischen Systems wirken. Sie wird in noch sehr vielen Lehrbüchern vertreten. Diese Aussage ist in dieser Vereinfachung mehrfach falsch. Zum einen wissen wir heute, dass Benzodiazepine praktisch alle Bereiche des ZNS beeinflussen, da ja eben in praktisch allen Bereichen des ZNS auch Benzodiazepinrezeptoren vorhanden sind. Dass sie auch und möglicherweise sogar besonders gut bestimmte emotionelle Funktionen beeinflussen, die wir mit dem limbischen System assoziieren, ist nicht dadurch zu erklären, dass die Benzodiazepine bevorzugt im limbischen System angreifen, sondern ist damit zu erklären, dass Areale des limbischen Systems eine sehr hohe Dichte an Benzodiazepinrezeptoren aufweisen. Das heißt, Benzodiazepine sind spezifisch für die mit ihrer Wirkung eng verbundenen Rezeptoren, sie sind aber nicht spezifisch für einzelne Hirnareale oder einzelne funktionelle Abläufe unseres ZNS. Funktionelle Selektivität. Dass Psychopharmaka über-
haupt unterschiedliche Wirkungsqualitäten zeigen, muss dadurch erklärt werden, dass ein bestimmter Effekt, den man mit einer gegebenen Substanz über einen spezifischen biochemischen Mechanismus (z. B. an einem Rezeptor) erreichen kann, in einem Hirnareal funktionell relevant ist, in einem anderen Hirnareal aber bei der Fülle von neurochemischen Impulsen funktionell keine große Rolle spielt. Die Strategie, biochemisch hochselektive Psychopharmaka zu entwickeln, die z. B. nur noch eine Unterklasse eines Rezeptors aktivieren, erhöht die Chance, dass eine Beeinflussung dieses hochselektiven Systems nur noch in sehr wenigen Arealen des ZNS funktionell relevant wird. Insofern kann diese Strategie durchaus zu funktionell spezifischen Pharmaka führen. Klinische Spezifität kann leider oft nicht durch die experimentelle Pharmakologie vorhergesagt werden, sondern muss erst durch die klinische Praxis erwiesen werden.
Cave Es muss davor gewarnt werden, von vornherein ein Psychopharmakon, das pharmakologisch hochselektiv ist (im Hinblick auf seinen biochemischen Angriffspunkt), auch in der klinischen Einschätzung als funktionell spezifisch zu betrachten.
Selektivität vs. Spezifität. Als Beispiel für diese kritische
Aussage sind die neuen hochselektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer zu erwähnen, die im Vergleich zu den klassischen trizyklischen Antidepressiva eine hohe pharmakologische Selektivität aufweisen. Eine klinische Spezifität im Sinne eines besseren oder schlechteren Ansprechens bestimmter Untergruppen depressiver Patienten konnte für diese Substanzen allerdings bis heute nicht belegt werden. Darüber hinaus entwickelt man heute, nach einer Phase hochselektiver Substanzen, ganz bewusst auch Psychopharmaka mit mehreren biochemischen Wirkungsmechanismen (z. B. die dualen Antidepressiva oder die atypischen Neuroleptika). Die Selektivität verschiedener Antidepressiva ist in ⊡ Tab. 26.8 dargestellt.
26.4
Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva
26.4.1
Biochemische Wirkungsmechanismen
Der Wirkungsmechanismus der Antidepressiva ist trotz intensiver Forschungsarbeiten in den letzten 50 Jahren noch nicht vollständig geklärt worden. Zwar sind die neurobiochemischen Wirkungen antidepressiver Substanzen relativ gut aufgeklärt. Jedoch herrscht über den Stellenwert dieser Wirkungen für die Beeinflussung der Depression weiterhin Unklarheit, da wegen des Fehlens valider Modelle der Depression die biochemischen Grundlagen der Krankheit selbst letztlich noch nicht geklärt sind (Müller 1997 a; Frazer 1997; Leonhard 1995, 1996; Müller 2006; Ebmeier et al. 2006). Wirkung an der monoaminergen Synapse. Seit der Entde-
ckung der thymoleptischen Wirkung von Imipramin vor über 40 Jahren steht bei der Erforschung der Wirkungsmechanismen von Antidepressiva die Übertragung an monoaminergen Synapsen des ZNS im Mittelpunkt des Interesses. Zunächst bezogen sich die biochemischen Hypothesen über die Ursachen der Depression auf einen Mangel an Transmittern im synaptischen Spalt, später auch auf eine reduzierte Sensibilität postsynaptischer Rezeptoren. Die Wirkungsweise der Antidepressiva wurde als ein spezifischer Effekt (s. unten) auf diese hypothetischen Defizite angesehen. Bis heute gibt es praktisch
26
602
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
⊡ Tab. 26.8. Inhibitionskonstanten und Rezeptorprofile der wichtigsten Antidepressiva für die Hemmung der neuronalen Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin. Das 5-HT-Selektivitätsverhältnis gibt an, um wieviel die Substanz die Serotonin(5-HT)-Aufnahme stärker als die Noradrenalin(NA)-Aufnahme hemmt Wirkstoff
26
NA-Aufnahme
5-HT-Aufnahme
TZA Amitriptylin Clomipramin Desipramin Dosulepin Doxepin Imipramin Lofepramin Maprotilin Mianserin Mirtazapin Nortriptylin Trazodon Trimipramin Viloxazin
14 28 0,6 34 18 14 2 7 42 >1000 2 5000 510 170
84 5 180 110 220 41 2400 >1000 >1000 >1000 154 190 >1000 >1000
SSRI Citalopram Fluoxetin Fluvoxamin Paroxetin Sertralin Venlafaxin
>1000 143 500 33 220 210
1 14 7 0,7 3 39
5-HTSelektivität
H1Rezeptor
MRezeptor
α1Rezeptor
α2Rezeptor
5-HT2Rezeptor
0,17 5.6 0,003 0,3 0,08 0,3 0,001 0,002 0,01 – 0,01 26 0,02 0,01
1 31 60 3.6 0,2 37 360 2 0,4 0,5 6 350 0,3 >1000
10 37 66 25 23 46 67 570 820 500 37 >>1000 58 >>1000
24 38 100 470 24 32 100 90 34 500 55 36 24 >1000
940 >1000 >1000 2400 >1000 >1000 2700 >1000 73 10 >1000 490 680 >>1000
18 54 350 258 27 150 200 120 7 5 41 7 32 >1000
>1000 590 >1000 110 630 >1000
>1000 >1000 >1000 >1000 380 >1000
>1000 >1000 >1000 >1000 >1000 >1000
>1000 280 >1000 >1000 >1000 >1000
3076 10 71 47 73 5
kein wirksames Antidepressivum, das nicht zumindest auch über die Monoamine wirkt (Berton u. Nestler 2006). Wirkungen im gesamten neuronalen System. Zuneh-
mend wird auch die Möglichkeit diskutiert, dass die antidepressive Wirkung der Antidepressiva nicht solchen spezifischen Prozessen zuzuschreiben ist. So vermuten bereits Paioni et al. (1983), dass vielmehr monoaminerge Synapsen lediglich als besonders günstige Interventionspunkte zur pharmakologischen Beeinflussung neuronaler Systeme zu betrachten sind, und zwar im Sinne eines Anstoßes an einem Punkt mit der Folge einer langsamen Normalisierung des zuvor gestörten Gesamtregulationssystems. Hierfür sprechen die unter allen Antidepressiva nachweisbaren adaptiven Veränderungen in vielen Neurotransmittersystemen ( Kap. 26.3.1) und die Tatsache, dass die primär von den Antidepressiva angestoßenen zentralen Transmittersysteme (Noradrenalin, Serotonin, Dopamin) modulierend viele unterschiedliche anatomische Strukturen oder viele unterschiedliche Funktionsabläufe des ZNS beeinflussen. Auch Stassen et al. (1996) kommen über die Auswertung von Zeitverläufen unter Antidepressiva und Plazebotherapie zu dem Schluss, dass die Antidepressiva eher nur einen physiologisch ablaufenden Normalisierungsprozess beschleunigen.
470 >1000 >1000 >1000 >1000 >1000
Neuordnung statt Defizitregulierung. Dies würde bedeu-
ten, dass weder die akut zu sehenden pharmakologischen Effekte (Aminwiederaufnahmehemmung, MAO-Hemmung) noch die mit einer gewissen Latenzzeit auftretenden adaptiven Veränderungen verschiedener Signaltransduktionsmechanismen direkt neurochemische Defizite der Depression korrigieren, sondern nur Ausdruck einer Neuordnung bestimmter Funktionen der zentralen Neurotransmission darstellen, die letztlich zur depressionslösenden Wirkung beim Patienten führen. Da viele sehr unterschiedliche Substanzklassen (Trizyklika, SSRI, MAO-Hemmer, Johanniskrautextrakt), aber auch Therapiemaßnahmen wie Elektrokrampftherapie (EKT) und Schlafentzug auf der Ebene der adaptiven Veränderungen konvergieren, könnte diese »Neuordnungshypothese« erklären, dass viele pharmakologisch sehr unterschiedliche antidepressive Therapiemaßnahmen klinisch gesehen doch sehr analoge Wirkungen zeigen können. Ein wichtiges Argument für diese Hypothese ist auch die Tatsache, dass diese adaptiven Veränderungen auch im Tierexperiment eine gewisse Latenz zeigen (1–2 Wochen), was wiederum besser mit der verzögert auftretenden antidepressiven Wirkung am Patienten korreliert als die akuten Effekte. Wirkung durch Wiederaufnahmehemmung. Das bioche-
mische Profil der Antidepressiva wird hauptsächlich ab-
26
603 26.4 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva
geleitet aus den akuten Wirkungen auf die NA- und Serotoninwiederaufnahmehemmung (⊡ Abb. 26.13a, b und ⊡ Tab. 26.8) und den mit einer gewissen Latenz auftretenden adaptiven Veränderungen bestimmter zentraler Signaltransduktionsmechanismen (⊡ Abb. 26.13a, b und ⊡ Tab. 26.9). Wir unterscheiden somit zwischen: Selektiven NA-Wiederaufnahmehemmern (z. B. Maprotilin und besonders Reboxetin) bzw. hochselektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (z. B. alle SSRI) und solchen Antidepressiva, die bezüglich dieser beiden Systeme z T. auch über aktive Metabolite einen gemischten Einfluss haben (z. B. Amitriptylin, Imipramin, Clomipramin und Venlafaxin). Nachdem Nomifensin vor einigen Jahren vom Markt genommen wurde, ist das kürzlich auch für die Depressionsbehandlung zugelassene Bupropion das einzige Antidepressivum, das unter therapeutischen Bedingungen in relevantem Maß die Dopamin-Wiederaufnahme hemmt. Eine weitere Ausnahme bildet Johanniskrautextrakt, der über den wichtigsten Inhaltsstoff Hyperforin etwa gleich stark die synaptosomale Aufnahme von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin hemmt (Müller 2003). Wirkung auf Rezeptoren. Neben diesem Charakteristi-
kum ist aber auch der Effekt der einzelnen Antidepressiva auf die prä- und postsynaptischen Rezeptoren für das Profil zu berücksichtigen, die allerdings weniger für die antidepressive Wirkung (Ausnahme α2-Antagonismus, primärer Wirkungsmechanismus bei Mirtazapin), sondern eher für erwünschte (Sedation, Anxiolyse), beson-
ders aber für die vielen unerwünschten vegetativen Nebenwirkungen der Antidepressiva verantwortlich sind (⊡ Tab. 26.10). Wirkung durch verzögerten Abbau. Auch die reversiblen
und irreversiblen MAO-Hemmer passen in dieses Schema, da sie über eine Hemmung des enzymatischen Abbaus von Noradrenalin und Serotonin letztlich auch zu einer erhöhten synaptischen Verfügbarkeit führen. ⊡ Tab. 26.9. Effekte verschiedener TZA, SSRI und von Venlafaxin auf adaptive Veränderungen der β-adrenergen und 5-HT2-vermittelten Neurotransduktion im Tierversuch. (Nach Müller u. Eckert 1997) β-Downregulation
5-HT-Downregulation
TZA Amitriptylin Clomipramin Desipramin Doxepin Imipramin Maprotilin Mianserin Nortriptylin Trimipramin
+ + + + + + + + −
+ + + + + + + + +
SSRI Citalopram Fluoxetin Fluvoxamin Paroxetin Sertralin Venlafaxin
− (+) + − + +
− (+) + − + −
Wirkstoff
⊡ Abb. 26.13a,b. Effekte verschiedener Antidepressivagruppen an noradrenergen (a) und serotonergen (b) zentralen Synapsen
604
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
⊡ Tab. 26.10. Mögliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen der Hemmung der neuronalen Wiederaufnahme von Noradrenalin (NA), Serotonin (5-HT) und Dopamin (DA) und der Blockade von Neurorezeptoren
26
Wiederaufnahmesysteme
Unerwünschte Wirkungen
NA-Wiederaufnahme
Verstärkung der Effekte von Sympathomimetika Tachykardie RR ↑ Unruhe, Tremor Erektions- bzw. Ejakulationsstörungen
5-HT-Wiederaufnahme
Gastrointestinale Störungen, Übelkeit, Erbrechen Unruhe, Schlafstörungen EPS (?) Appetitminderung, Gewichtsabnahme Kopfschmerzen Sexuelle Funktionsstörungen
DA-Wiederaufnahme
Psychomotorische Aktivierung Psychoseauslösung bzw. -verstärkung Anti-Parkinson-Wirkung
Neurorezeptoren M-
Trockener Mund Verschwommenes Sehen, Akkommodationsstörungen Sinustachykardie Verstopfung Harnretention, Miktionsstörungen Gedächtnisstörungen
H1
Sedation, Müdigkeit, Schläfrigkeit Verstärkung anderer zentral dämpfender Substanzen Gewichtszunahme (?)
α1
D2
EPS Prolaktin ↑ Sexuelle Funktionsstörungen
5-HT2
Appetitzunahme, Gewichtszunahme RR ↓
5-HT3
Antiemetische Wirkung Anxiolyse (?)
vorgeschlagene schematische Darstellung unterscheidet 3 Wirkungsmerkmale (Antriebssteigerung, Stimmungsaufhellung und Anxiolyse) der Antidepressiva, ohne dass es in klinischen Studien gelungen ist, Antidepressiva mit unterschiedlichem Wirkungsprofil für syndromal verschiedene Subgruppen von Depressiven zu klassifizieren. Auch im Hinblick auf die stimmungsaufhellende, also eigentliche antidepressive Kernwirkung, ist es nicht gelungen, quantitative Unterschiede zu belegen. Die unterschiedliche pharmakologische Wirkung steht eher in einer Beziehung zu den typischen Nebenwirkungen als zu den therapeutischen Effekten dieser Präparate. So scheinen im Gegensatz zu den Trizyklika die SSRI weniger sedativ zu wirken und häufiger Schlafstörungen, innere Unruhe und Tremor hervorzurufen. Man geht daher heute davon aus, dass sich die Antidepressiva in ihrer eigentlichen »antidepressiven« Kernwirkung eher nicht unterscheiden, sich aber aufgrund ihrer unterschiedlichen primär sedierenden bzw. schlafanstoßenden Eigenschaften untergliedern lassen (⊡ Abb. 26.14). Nur die sedierenden Substanzen lassen sich bei bestimmten Indikationen als primäre Hypnotika einsetzen, während alle anderen Substanzen nur Schlafstörungen im Rahmen des depressiven Syndroms verbessern.
Wirkung auf das noradrenerge System Die traditionellen Hypothesen gingen davon aus, dass bei depressiven Patienten bzw. bei einer Subgruppe von depressiven Patienten ein Mangel des Neurotransmitters Noradrenalin in noradrenergen zentralen Synapsen besteht. Obwohl sich diese pathophysiologischen Vorstellungen heute nicht mehr halten lassen, ist eine vermehrte synaptische Verfügbarkeit von NA ein wichtiger initialer
Orthostase, RR ↓ Schwindel, Benommenheit, Sedation Reflextachykardie (+ α2-Blockade?) Verstärkung der Wirkung anderer α1-Blocker
Klinische Wirkprofile In Anbetracht der erheblichen Unterschiede in den pharmakologischen Profilen zwischen den Antidepressiva stellt sich zwangsläufig die Frage, inwieweit diese für die klinische Wirkung der Präparate von Bedeutung sind. Von verschiedenen Autoren wurde versucht, diese klinischen Wirkungsprofile der Antidepressiva untereinander abzugrenzen. Die bekannteste von Kielholz (1971)
Amitriptylin Amitriptylinoxid Dosulepin Doxepin Mianserin Mirtazapin Trazodon Trimipramin Trimipramin
Clomipramin Imipramin Lofepramin Maprotilin
Bupropion Tranylcypromin Citalopram Desipramin Escitalopram Fluoxetin Fluvoxamin Moclobemid Moclobemid Nortriptylin Nortriptylin Paroxetin Reboxetin Reboxetin Sertralin Venlafaxin Viloxazin
⊡ Abb. 26.14. Initiale Sedierungspotenz der Antidepressiva
605 26.4 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva
Wirkungsmechanismus vieler Antidepressiva (Montgomery 1997). Eine Konzentrationserhöhung lässt sich medikamentös auf 3 Wegen erreichen (⊡ Abb. 26.13a): Wiederaufnahmehemmung (»re-uptake-inhibition«).
Verschiedene Antidepressiva hemmen relativ selektiv (z. B. Maprotilin, Reboxetin) oder nichtselektiv (z. B. Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin und Venlafaxin) die Wiederaufnahme des Noradrenalin in die präsynaptische Nervenendigung.
5-HT1A-Rezeptorenaktivierung. Es gibt auch im serotonergen System 5-HT1A-Autorezeptoren, die analog den α2-Rezeptoren im noradrenergen System die Freisetzung regulieren. Neben dem Anxiolytikum Buspiron gibt es einige Entwicklungssubstanzen (z. B. Gepiron), die als partielle 5-HT1A-Agonisten zwar durch Aktivierung der 5-HT1A-Autorezeptoren die Aktivität der serotonergen Neurone senken, dafür aber postsynaptische 5-HT1A-Rezeptoren direkt aktivieren, und als Antidepressiva geprüft wurden. Hemmung des Abbaus. Der intra- und extraneuronale
Präsynaptische α2-Rezeptorblockade. α2-Rezeptoren re-
gulieren die NA-Konzentration im synaptischen Spalt in dem Sinne, dass sie bei zu hoher Konzentration die Freisetzung und die Syntheserate von Noradrenalin bei den nachfolgenden Nervenimpulsen vermindern. Die Blockade dieser Rezeptoren erfolgt z. B. durch das Antidepressivum Mianserin und noch spezifischer durch Mirtazapin. Im Gegensatz zu Mianserin antagonisiert Mirtazapin α1-Rezeptoren (⊡ Abb. 26.13b) auf serotonergen Neuronen nicht, so dass die erhöhte noradrenerge Aktivität auch zu einer Aktivitätszunahme des serotonergen Systems führt. Hemmung des Abbaus. Der Abbau von Noradrenalin er-
folgt vorwiegend über die Monoaminoxidase-(MAO-)A. Wird diese Substanz durch selektive (Moclobemid) und nichtselektive (Tranylcypromin) MAO-Hemmer inhibiert, verbleibt mehr Noradrenalin in der Synapse bzw. im synaptischen Vesikel. Eine unlimitierte Erhöhung der NA-Konzentration in der Synapse gibt es aber bei keinem dieser synaptischen Eingriffe, da die Syntheserate von NA (auch bei α2-Blockade) durch polysynaptische Rückkopplungsmechanismen abnimmt.
Wirkung auf das serotonerge System Traditionelle Hypothesen gingen auch davon aus, dass bei Depressiven bzw. bei Subgruppen von Depressiven im ZNS ein Serotoninmangel im synaptischen Spalt besteht. Obwohl sich auch diese pathophysiologischen Vorstellungen bis heute nicht belegen lassen, ist die erhöhte Verfügbarkeit von synaptischem Serotonin ein ebenfalls wichtiger initialer Wirkungsmechanismus vieler Antidepressiva. Bei der heute sehr aktuellen Gruppe der SSRI ist es der alleinige initiale Effekt. Auch an der serotonergen Synapse (⊡ Abb. 26.13b) greifen Antidepressiva über unterschiedliche Mechanismen ein (Müller u. Eckert 1997).
Abbau von Serotonin erfolgt auch über die MAO-A, deren Hemmung durch selektive (Moclobemid) und nichtselektive (Tranylcypromin) MAO-Inhibitoren zu einer Konzentrationserhöhung von Serotonin in der Synapse führt. Zentraler α2-Antagonismus. Diese Antagonisten, z. B. das
Mirtazapin, blockieren die noradrenerge Hemmung von serotonergen Neuronen und führen so zu einer erhöhten synaptischen Aktivität des serotonergen Systems. 5-HT2-Antagonismus. Dieser Antagonismus, z. B. auch bei
Mirtazapin, kann über noch nicht abschließend geklärte Verschaltungsmechanismen zu einer Zunahme der neuronalen Serotoninfreisetzung und damit zu einer verstärkten 5-HT1A-Aktivierung führen. Dieser Mechanismus gilt auch für einige atypische Neuroleptika ( Kap. 26.6.2).
Wirkung auf das dopaminerge System Das dopaminerge System (⊡ Abb. 26.15) ist dem noradrenergen System sehr ähnlich (Dopamin ist die Vorstufe von Noradrenalin, der Syntheseweg der beiden Neurotransmitter ist bis zu dieser Stufe gleich!). Die Wirkungen der Antidepressiva auf dieses System und ihre Bedeutung für die Beeinflussung der Depression sind weniger gut untersucht. Die meisten Antidepressiva haben keine relevante Wirkung auf die neuronale DA-Wiederaufnahme. Eine Ausnahme bilden neben dem wegen gravierender Nebenwirkungen aus dem Handel genommenen Nomifensin 2 neuere Substanzen, die ebenfalls als Antidepressiva eingesetzt werden: Amineptin und Bupropion. Nur Buproprion ist bei uns seit kurzem im Handel. Auch Johanniskrautextrakt hemmt die neuronale DA-Aufnahme etwa gleichstark wie die NA-Aufnahme (Müller 2003). Für eine antidepressive Wirkung sind folgende dopaminerge Mechanismen relevant: Hemmung des Abbaus. Beim Menschen wird Dopamin
Wiederaufnahmehemmung (»re-uptake-inhibition«).
Verschiedene Antidepressiva hemmen selektiv (z. B. SSRI) bzw. nichtselektiv (z. B. Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin und Venlafaxin) die Wiederaufnahme von Serotonin in die präsynaptische Nervenendigung.
intra- und extraneuronal durch MAO-A, hauptsächlich aber durch MAO-B abgebaut. Daher führen v. a. die älteren nichtselektiven MAO-Inhibitoren (Tranylcypromin) auch zu einer vermehrten synaptischen Verfügbarkeit von Dopamin.
26
606
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
⊡ Abb. 26.15. Dopaminerge Synapse und NeuroleptikaWirkung
Nervenendigung DOPAC Tyr
Tyrosin
DOPAC TH
Mito
Abbau in der Glia zu HVS
MAO
MAOHemmer
Vesikel
DOPA DDC DA
DA
Amphetamin
+
Reserpin DA
Freisetzung D 2 -Rezeptor
Amphetamin Methylphenidat
26
DA
Abbau in Gliazellen zu HVS (via COMT)
Neuroleptika
D 1 -Rezeptor
D 2 -Rezeptor
Postsynaptisches Neuron
Hemmung präsynaptischer Rezeptoren. Neuroleptika blockieren in Dosierungen deutlich unterhalb der antipsychotischen Dosen präferenziell präsynaptische DAD2-Autorezeptoren (⊡ Abb. 26.15), die analog wie in den anderen Systemen die Transmitterfreisetzung regulieren. Die damit verbundene vermehrte synaptische Verfügbarkeit von Dopamin ist die Basis des Einsatzes niedrig dosierter Neuroleptika als Anxiolytika bzw. Antidepressiva (z. B. Fluspirilen, Sulpirid, Thioridazin; Müller 1991). Der gleiche Mechanismus ist wahrscheinlich auch für das atypische Trizyklikum Trimipramin relevant, das ein relativ starker D2-Antagonist ist.
Adaptive Veränderungen bei längerer Anwendung von Antidepressiva Wie in den vorangegangenen Abschnitten dargestellt, kommen Antidepressiva über eine ganze Reihe unterschiedlicher Primäreffekte im ZNS zur Wirkung. Gemeinsam ist allen diesen akuten Wirkungsmechanismen, dass sie direkt nach Applikation auftreten und damit nicht mit der verzögerten Ausbildung der antidepressiven Wirkung am Patienten übereinstimmen. Man geht daher heute davon aus, dass sekundär zu diesen akuten Beeinflussungen der zentralen Neurotransmission es v. a. auf der Ebene von Rezeptoren und rezeptorgekoppelten Transduktionsmechanismen zu adaptiven Veränderungen als Antwort auf den akuten Eingriff in die zentrale Neurotransmission kommt (⊡ Abb. 26.16), von denen eine Downregulation von Dichte und Empfindlichkeit zentraler β-Rezeptoren am besten untersucht ist (β-Downregulation). Nicht alle Antidepressiva bewirken eine β-Downregulation und viele Antidepressiva bewirken neben der βDownregulation noch zusätzliche adaptive Verände-
rungen im Bereich der serotonergen und auch der dopaminergen Neurotransmission (⊡ Tab. 26.9 und ⊡ Abb. 26.16). Von solchen adaptiven Veränderungen sind möglicherweise auch GABAerge Mechanismen, glutamaterge Mechanismen, die Empfindlichkeit von Glukokortikoidrezeptoren und die Regulation von Transkriptionsfaktoren betroffen. Wir sind heute nicht in der Lage, eine dieser adaptiven Veränderungen ausschließlich mit der antidepressiven Wirksamkeit in Verbindung zu bringen, sondern sehen diese im Tierexperiment bestimmbaren adaptiven Veränderungen eher als Ausdruck einer Anpassung oder funktionellen Plastizität, die möglicherweise ein direktes Korrelat der antidepressiven Wirkung darstellt (Müller 1997 a).
Neue Aspekte im Bereich adaptiver Veränderungen Die Ebene der Transkriptionsfaktoren. Während sich die
bisherigen Untersuchungen zu adaptiven Veränderungen von Mechanismen der Neurotransmission nach chronischer Behandlung mit Antidepressiva im Wesentlichen auf Veränderungen von Dichte und Empfindlichkeit der neuronalen Rezeptoren bzw. der direkt nachgeschalteten sekundären Transmitter (z. B. cAMP) konzentriert hatten, gehen neuere Untersuchungen noch eine oder 2 Stufen weiter auf der Kaskade von Mechanismen, die letztlich zelluläre Funktionen unter dem Einfluss von Signaltransduktionsmechanismen kontrollieren ( Kap. 7). Verschiedene Arbeitsgruppen konnten zeigen, dass als mögliche Folge der Beeinflussung von sekundären Transmittern verschiedene intrazelluläre Transkriptionsfaktoren unter der chronischen Behandlung mit Antidepressiva
607 26.4 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva
⊡ Abb. 26.16. Generelle Bedeutung von akuten Effekten und adaptiven Veränderungen für die antidepressive Wirkung
Downregulation
Upregulation
beeinflusst werden (Torres et al. 1998; Malberg u. Blendy 2005; ⊡ Abb. 26.17). In der aktuellen Diskussion nimmt hier v. a. das CREB (»cAMP response element binding protein«) eine ganz besonders wichtige Rolle ein, da hier wieder einmal die Hoffnung auf eine gemeinsame intrazelluläre Endstrecke verschiedener Antidepressivaklassen besteht. Obwohl wir heute davon ausgehen, dass CREB als Folge der intrazellulären Bildung von cAMP aktiviert wird ( Kap. 7), weisen die aktuellen Befunde auf eine Zunahme von CREB unter Antidepressiva hin, obwohl, wie bereits erwähnt, die Konzentration von cAMP eher herunterreguliert wird. Trotz dieser noch offenen Fragen ist die Aktivierung bestimmter Transkriptionsfaktoren, die dann gezielt die Ablesung bestimmter Zielgene und bestimmter Zielproteine aktivieren, immer noch von großer Aktualität. So haben verschiedene Autoren nachweisen können, dass es nach chronischer Antidepressivabehandlung z. B. zur Hochregulation des Transkriptionsfaktores CREB und anderer Transkriptionsfaktoren kommt (Duncan et al. 1993; Hope et al. 1994; Morinobu et al. 1995). Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Überexpression von CREB in bestimmten Arealen des Rattenhirns mit einer antidepressiven Wirkung in 2 wichtigen tierexperimentellen Modellen der Depression (Porsolt-Test und erlernte Hilflosigkeit) führte (Chen et al. 2001). Damit ist in einer Zunahme der Aktivität des Transkriptionsfaktors CREB ein möglicher gemeinsamer Nenner vieler Antidepressiva zu sehen. Man sollte aber hier aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt haben und auch diese Befunde mit einer gewissen kritischen Distanz interpretieren, bis diese mögliche gemeinsame Endstrecke und ihre kausale Einbindung in den antidepressiven Wirkungsmechanismus tatsächlich zweifelsfrei belegt ist. Die Ebene der neuronalen Plastizität. Zu den Zielgenen
bzw. Zielproteinen der CREB gehört auch der Wachs-
Downregulation
Downregulation
tumsfaktor BDNF (»brain derived neurotrophic factor«). BDNF stellt im ZNS einen wichtigen Wachstumsfaktor für die neuronale Funktion dar. Unter dem Einfluss von
⊡ Abb. 26.17. Auch in der psychiatrischen Pharmakotherapie eingesetzte Antiepileptika senken über verschiedene Mechanismen die Erregbarkeit zentraler Neurone. Verstärkung der GABA-ergen inhibitorischen Neurotransmission: Benzodiazepine erhöhen die Öffnungswahrscheinlichkeit des GABAA-Rezeptors als ligandengesteuerter Chloridkanal; Valproat und Gabapentin steigern die GABA Synthese aus L-Glutamat; Vigabatrin hemmt die vesikuläre GABA-Aufnahme, Tiagabin den neuronalen GABA-Transporter und Vigabatrin und Valproat hemmen den GABA-Abbau zu Succinatsemialdehyd (SSA). Hemmung von Ionenkanälen: Spannungsabhängige Na+- und Ca2+Kanäle werden in unterschiedlichem Maße von einigen Substanz gehemmt; Lamotrigin ist relativ spezifisch für Na+-Kanäle, während Pregabalin spezifisch an der α2δ-Untereinhait angreift, die verschiedenen spannungsabhängigen Ca2+-Kanälen gemeinsam ist. Reduktion der erregenden glutamatergen Neurotransmission: Lamotrigin scheint besonders gut Na+-Kanäle zu hemmen, die präsynaptisch an glutamatergen Nervenendigungen lokalisiert sind (nicht gezeigt) mit der Folge einer reduzierten Freisetzung des erregenden Neurotransmitters L-Glutamat
26
608
26
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
BDNF kommt es zu Dendriten- und Synapsenwachstum neuronaler Zellen, ohne den stimulierenden Effekt von BDNF zur Atrophie bis zum Risiko des Zelltodes (⊡ Abb. 26.17). Die Tatsache, dass das BDNF auch ein Zielgen des Transkriptionsfaktors CREB ist, hat nun zu der Spekulation geführt, dass unter der chronischen Behandlung mit Antidepressiva die Konzentration von BDNF verändert sein könnte. Interessanterweise konnte dies bestätigt werden; verschiedene Untersuchungen konnten zeigen, dass die BDNF-m-RNA in verschiedenen Hirnarealen, hauptsächlich aber im Hippokampus unter subchronischer Behandlung mit verschiedenen Antidepressiva hochreguliert ist (Duman et al. 1997, 1999; Duman 2004). Zusammen mit aktuellen Befunden aus der modernen bildgebenden klinischen Forschung, in der gewisse Hinweise auf neurodegenerative Veränderungen im Hippokampus depressiver Patienten beschrieben werden, hat dieser Befund zu der sog. neurodegenerativen Hypothese der Depression und der neuroprotektiven Wirkung von Antidepressiva geführt (⊡ Abb. 26.18). Die Perspektive aber auch die Grenzen der aktuellen Datenlage zu dieser Hypothese sind im Folgenden am Beispiel von typischen Effekten im Hippokampus dargestellt, wobei besonders auf die CA3-Region eingegangen wird. Neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung. Un-
ter Normalbedingungen sieht man hier im erwachsenen Gehirn ein normales Wachstum von Dendriten und Synapsen. Es gibt nun schon seit vielen Jahren Hinweise darauf, dass chronischer Stress, verbunden mit einer Hochregulation der Glukokortikoide, neben anderen bioche-
mischen Veränderungen (Duman et al. 1999) auch zu atrophischen Veränderungen bzw. zu degenerativen Veränderungen besonders der CA3-Regionen führen kann (Sapolsky et al. 1985). Interessanterweise – und das bringt uns wieder auf den Wachstumsfaktor BDNF – ist unter chronischem Stress die hippokampale Konzentration von BDNF eher reduziert. Auch andere, besonders auch genetische Faktoren, die ja auch für die Depression relevant sein können, scheinen ebenfalls einen negativen Einfluss auf das Wachstum von CA3-Neuronen zeigen zu können. Welche Faktoren hier bei depressiven Patienten zusammenspielen, ist noch weitgehend Spekulation; tatsächlich weisen, wie bereits erwähnt, die modernen bildgebenden Verfahren zunehmend darauf hin, dass es im Rahmen depressiver Erkrankungen in verschiedenen Hirnregionen, u. a. auch dem Hippokampus, zu einer Volumenabnahme kommen kann (Rajkowska et al. 1999; Soares u. Mann 1997; Ebmeier et al. 2006). Antidepressiva können nun über einen Eingriff in die serontonerge und noradrenerge Neurotransmission die Konzentrationen von BDNF hochregulieren und die von Glukokortikoiden eher senken (Malberg et al. 2000). In Übereinstimmung mit dem Schema in ⊡ Abb. 26.18 hat man hier unter gewissen Bedingungen tatsächlich auch unter biologischen antidepressiven Therapien eine verbesserte Überlebensrate von hippokampalen Neuronen mit verbessertem Dendritenwachstum und Synapsenbildung (s. oben) und darüber hinaus Neubildung von Nervenzellen (Neurogenese) gesehen, zu der allerdings nur ein relativ kleines Areal im Hippokampus (subgranuläre Zone des Gyrus dentatus) befähigt ist (Malberg et al. 2000).
⊡ Abb. 26.18. Die neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung. Unter chronischem Stress, genetischen und anderen Risikofaktoren kann es zu einer Reduktion von Synapsen- bzw. Dendritenwachstum bzw zur Atrophie kommen, hier dargestellt für die CA3-Zellen des Hippokampus. Die Hochregulation von BDNF durch Antidepressiva könnte diesem Effekt entgegensteuern. (Nach Duman et al. 1997)
Hippokampus
609 26.4 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidepressiva
Inkonsistente Befunde. Trotz dieses zunächst sehr gut zu-
sammenpassenden Schemas sind wir noch weit davon entfernt, diese sog. neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung global akzeptieren zu können. Zu viele inkonsistente Befunde stehen dem noch entgegen, z. B. konnte unter Elektrokrampftherapie im Tiermodell zwar eine Zunahme des Synapsenwachstums von Körnerzellen ⊡ Abb. 26.19) gezeigt werden, Antidepressiva hatten hier aber keinen Effekt (Vaidya et al. 1999). Darüber hinaus sind die degenerativen Veränderungen im Hippokampus eher auf der Ebene der CA3-Zellen (⊡ Abb. 26.18) zu sehen. In Übereinstimmung mit dem Schema in ⊡ Abb. 26.18 hat man zeigen können, dass das eher atypische Antidepressivum Tianeptin die stressinduzierte Atrophie von CA3-Neuronen hemmen konnte, der Standard-SSRI Fluoxetin war allerdings hier ohne Wirkung (Watanabe et al. 1992). Auch die Frage, ob Antidepressiva tatsächlich über eine vermehrte Neurogenese antidepressiv wirken, wird unterschiedlich diskutiert (Sapolski 2004). Während Santarelli et al. 2003 nach Ausschalten der Neurogenese durch Bestrahlung keine Effekte mehr von Antidepressiva in einem Verhaltensmodell sahen, gehen Henn u. Vollmayr (2004) aufgrund anderer tierexperimenteller Daten und auch aufgrund der nicht übereinstimmenden Zeitverläufe eher nicht von einer direkt kausalen Beziehung aus. Zweifel von klinischer Seite. Damit ist auch auf experi-
menteller Ebene dieser neuartige Mechanismus noch lange nicht zweifelsfrei belegt. Außerdem gibt es natürlich auch von klinischer Seite Zweifel, die stark fluktuierende und phasenförmig verlaufende Erkrankung Depression mit der häufig absolut symptomfreien Remission zwischen den Phasen mit einer eher globalen degenerativen Veränderung im ZNS in Verbindung zu bringen, so dass man schon geneigt ist zu zweifeln, ob wirklich jede depressive Episode gleich mit degenerativen Veränderungen verbunden ist. Darüber hinaus ist die Antidepressiva-induzierte Neurogenese auf diese kleine Struktur des Hippokampus beschränkt, die die antidepressive Wirkung nicht alleine erklären kann. Chronifizierte Patienten. Attraktiv wird die neurotrophe Hypothese der Antidepressivawirkung bzw. die neurodegenerative Hypothese der Depression schon eher dann, wenn man sich chronifizierte Patienten betrachtet. Hier ist eher vorstellbar, dass es unter den langen Phasen der depressiven Erkrankung, verbunden mit der hohen Kortisolbelastung, ggf. zu neurodegenerativen Veränderungen in bestimmten Hirnstrukturen kommt. Sie beeinflussen vielleicht weniger direkt kausal die depressive Symptomatik, können aber möglicherweise im Sinne einer Vulnerabilitätsnarbe das rezidivierende Krankheitsbild der Depression im Zusammenhang mit anderen Faktoren erklären. Dass hier eine chronische Therapie mit einer Aktivierung von Wachstumsfaktoren ggf. sinnvoll ist, liegt auf der Hand. Spannend wird diese Anschauung
auch dadurch, dass das bewährteste Phasenprophylaktikum Lithium, aber auch andere Phasenprophylaktika wie z. B. Valproinsäure neueren Untersuchungen zufolge nach nicht nur auf der Ebene der intrazellulären Signalmoleküle wirken, sondern auch eine sehr deutliche und schon in therapeutischen Konzentrationen nachweisbare neuroprotektive Wirkung aufweisen (Manji et al. 2000). Damit kann man spekulativ die neurodegenerative Hypothese der Depression und die neuroprotektive Wirkung von Antidepressiva bevorzugt mit chronischen Krankheitsverläufen und eher mit der rezidiv-prophylaktischen Wirkung als mit der akut antidepressiven Wirkung in Verbindung bringen. Wie weit sich dies allerdings in den nächsten Jahren bestätigen lässt, bleibt abzuwarten.
26.4.2
Verhaltenspharmakologische Wirkungen der Antidepressiva
Ebenso wie die chemische Struktur sind auch die pharmakologischen Eigenschaften der als Antidepressiva eingesetzten Präparate recht unterschiedlich. Das Grundproblem der Forschung in diesem Bereich ist das Fehlen eines adäquaten Tiermodells der Depression. Nach rund 30 Jahren Forschungsarbeit werden zur Beurteilung der Antidepressivaeigenschaften hauptsächlich die folgenden Tiermodelle herangezogen (Willner 1984). Diese sind allerdings nur z. T. eigentliche »Tiermodelle der Depression«, während andere an den pharmakologischen Eigenschaften der Trizyklika orientiert sind und primär deren NA- bzw. serotoninverstärkenden Effekte erfassen. Spontanverhalten. Antidepressiva, insbesondere Trizyk-
lika, hemmen das Spontanverhalten bei Tieren, und sie zeigen in mittleren und höheren Dosen zentral dämpfende Effekte. Damit prüft dieses Modell die sedierenden, nicht aber die antidepressiven Eigenschaften. Im Gegensatz zu den Neuroleptika, die ähnliche Wirkungen hervorrufen, bewirken Antidepressiva aber nach zunehmenden Dosen eine geringe bis starke Steigerung der Erregbarkeit. Reserpinantagonismus. Antidepressiva, insbesondere
Trizyklika, heben die durch Reserpin ausgelösten Wirkungen (psychomotorische Hemmung, verminderte autonome Reaktionen) auf. Potenzierung verschiedener Katecholaminwirkungen.
Trizyklische Antidepressiva verstärken (wahrscheinlich durch die Hemmung der Rückresorption von Noradrenalin und die dadurch bedingte Konzentrationssteigerung von Noradrenalin am Rezeptor) die durch diesen Transmitter bedingten Blutdrucksteigerungen. Separationsmodell. Werden Jungtiere sozial isoliert
(Trennung von Elterntieren), so kommt es nach einiger
26
610
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
Zeit zu erheblichen Aktivitätsverlusten und deutlichen Veränderungen der Körperhaltung. Diese Verhaltensweisen werden durch Antidepressiva aufgehoben. Allerdings ist dieses Modell nicht spezifisch, da ähnliche Wirkungen auch durch Alkohol, Benzodiazepine und Opiate erzielt werden können. Behavioral-Despair-Test. In diesem »Schwimmtest« wird
ermittelt, wie lange die Tiere nach Eintauchen in einem kleinen wassergefüllten Behälter schwimmen, bevor sie eine immobile Haltung einnehmen. Antidepressiva verlängern die Schwimmphase, allerdings wird dies auch durch Antihistaminika und Anticholinergika erreicht.
26
Beurteilung Keines dieser Modelle ist für sich alleine ausreichend, eine antidepressive Wirkung am Menschen sicher vorauszusagen. Die Trefferquote lässt sich aber durch eine Kombination mit verschiedenen der erwähnten Tests erheblich steigern, die alle eine gewisse »Depressionsanalogie« zeigen. Allerdings ist es bis heute mit allen diesen Modellen noch nicht gelungen, Substanzen zu entwickeln, die über die übliche ca. 70%ige Responderquote bei therapeutischer Anwendung hinauskommen.
26.5
Chronischer Stresstest. In diesem Versuch werden Ratten
längere Zeit chronischem Stress (Nahrungskarenz, elektrische Schläge, Isolation, Eintauchen in kaltes Wasser) ausgesetzt. Das dadurch verminderte Explorationsverhalten wird durch Antidepressiva, insbesondere Trizyklika, wieder gesteigert. Auch die reduzierte Zuckerpräferenz als Anhedonie-Korrelat wird durch Antidepressiva korrigiert. Learned-Helplessness-Test. In diesem Test erlernen die
Tiere durch für sie unvermeidbare Stimuli eine »Hilflosigkeit«, die sie auch nach Wegfall der Versuchssituation nicht mehr befähigt, Aufgaben durch eigene Verhaltensreaktionen zu beeinflussen. Diese Hilflosigkeit wird durch Antidepressiva, nicht aber durch Neuroleptika und Tranquilizer aufgehoben. Bulbektomierte Ratten. Ratten zeigen nach operativer Entfernung des Bulbus olfactorius verschiedene Verhaltensänderungen, die depressionsähnlich sind und durch Antidepressiva korrigiert werden können.
Psychopharmakologische Grundlagen von Lithium und anderer Phasenprophylaktika bzw. Mood Stabilizer
Biochemische Wirkungsmechanismen Lithiumionen sind natürlicherweise im Organismus vorhanden, jedoch in wesentlich niedrigeren Konzentrationen als die ähnlichen Alkalimetallionen Natrium und Kalium. Die Lithiumkonzentrationen im Serum liegen unter Behandlung etwa 250-mal so hoch wie im unbehandelten Zustand. Es wird angenommen, dass die Lithiumionen in Konkurrenz zu den anderen Alkalimetallionen treten und dann sekundär die intrazelluläre Kalziumhomöostase modulieren. Darüber hinaus beeinflusst Lithium verschiedene Mechanismen der Signaltransduktion (⊡ Tab. 26.11). Von diesen wird die Hemmung der Inositolphosphathydrolyse (⊡ Abb. 26.17) als sekundärer Transmitter der Phospholipase-C-Stimulation und die danach auftretende relative zentrale Inositolverarmung als besonders wichtig angesehen. Als alternativer Mechanismus, besonders auch im Hinblick auf relativ gut belegte neuropro-
⊡ Tab. 26.11. Biochemische Effekte von Lithium und Carbamazepin, die als potenzielle Wirkungsmechanismen diskutiert werden. (Nach Keck u. McElroy 2005) Wirkstoff
Effekte
Konzentration
Lithium Plasmakonzentrationsbereich: 0,5–1,5 mmol/l
Hemmung der Inositolmonophosphathydrolyse
EC50: 0,5 mmol/l
Carbamazepin Plasmakonzentrationsbereich: 10–30 μmol/l
Hemmung der Adenylatzyklase
EC: 1 mmol/l
Hemmung der Guanylatzyklase
Biphasischer Konzentrationsbereich: 0,2–10 mmol/l
Hemmung der GTP-Bindung an G-Proteinen
Konzentrationsbereich: 0,6–1,0 mmol/l
Hemmung der Adenylatzyklase
Signifikanter Effekt ab Konzentrationen >100 μmol/l
Antagonismus am Adenosin-A1-Rezeptor
Ki = 20 μmol/l
Hemmung der GTP-Bindung an G-Proteinen
Konzentration: 1 mmol/l
Hemmung der Membranpermeabilität für Natrium-, Kalium- und Kalziumionen
Konzentrationsbereich: 30–500 μmol/l
Hemmung der Guanylatzyklase
EC50: 13 μmol/l
EC50 halbmaximale Wirkkonzentration; Ki Dissoziationskonstante des Inhibitors.
611 26.6 · Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika
tektive Effekte von Lithium, gilt die Hemmung der Glykogen-Synthase-Kinase-3β (Gsk3β), die neben anderen Kinasen von Lithium im oberen therapeutischen Bereich gehemmt wird (Manji et al. 2000; Lenox u. Manji 2005; Chuang u. Priller 2006). Eine Vielzahl von experimentellen Befunden gibt weiterhin Anlass zu der Annahme, dass Lithium Einfluss auf die Empfindlichkeit verschiedener Rezeptoren hat und beispielsweise die Entwicklung von Supersensitivität bei den DA- und Muskarinrezeptoren verhindern kann (Jope u. Williams 1994). ! Trotz oder vielleicht auch wegen der Vielzahl biochemischer Effekte des Lithiums lässt sich keine endgültige Aussage über den Wirkungsmechanismus in der Rezidivprophylaxe affektiver Psychosen formulieren. Carbamazepin. Auch Carbamazepin bewirkt eine Viel-
zahl biochemischer Veränderungen im Organismus (⊡ Abb. 26.17, ⊡ Tab. 26.11), ohne dass sich aus diesen Effekten eine allgemein akzeptierte Theorie für die antimanische oder prophylaktische Wirksamkeit bilden lässt (Keck u. McElroy 2005). Während man der Hemmung von Natriumkanälen die größte Bedeutung für die antiepileptischen Eigenschaften zuspricht, kommen den zusätzlich Effekten (z. B. ⊡ Tab. 26.11) möglicherweise eine größere Rolle bei der phasenstabilisierenden Wirkung zu. Oxcarbazepin wirkt ähnlich.
zu wirken (Sills 2006; Wedekind et al. 2005). Dieser bei Gabapentin weniger ausgeprägte Effekt könnte auch erklären, dass Pregabalin offensichtlich eine spezifische anxiolytische Wirkung, v. a. bei generalisierten Angsterkrankungen, zeigt.
Wirkung im Tiermodell Gemäß einer schon etwas älteren Übersicht von Smith (1986) bleibt die Spontanaktivität von Versuchstieren durch Lithium unbeeinflusst, hingegen wird die explorative Aktivität der Tiere in neuem Milieu vermindert. Auch zeigen sich Lithiumeffekte auf pharmakologisch bedingte Hyperaktivitäten und Stereotypien. Die Effekte sind jedoch nicht einheitlich, sondern variieren in Abhängigkeit von der Wahl des experimentellen Vorgehens. Pharmakologisch induzierte Hypoaktivitäten können ebenfalls und zumindest partiell durch geringe Lithiumgaben aufgehoben, jedoch durch hohe Dosen auch verstärkt werden. Einflüsse sowohl auf Hypo- als auch auf Hyperaktivität können es verständlich machen, dass der Stoff antidepressive und antimanische Wirkungen besitzt. Trotz der großen Anzahl der durch Lithium beeinflussten Mechanismen der Signaltransduktion scheint Lithium besonders in das serotonerge System einzugreifen. Dadurch lässt sich der Effekt von Lithium auf selbstund fremdaggressives Verhalten erklären, z. B. in der Rezidivprophylaxe affektiver Psychosen, wo Lithium zu einer Reduktion von Suiziden führt.
Valproinsäure. Der Wirkungsmechanismus von Valpro-
insäure ist auch nicht sicher bekannt. Die Substanz verstärkt über mehrere Effekte die Funktion des inhibitorischen Neurotransmitters GABA (verstärkte Synthese, verlangsamter Abbau; ⊡ Abb. 26.17). Darüber hinaus wirkt Valproinsäure aktivierend auf Kaliumkanäle und wahrscheinlich hemmend auf Natriumkanäle (Keck u. McElroy 2005). Neuroprotektive Eigenschaften der Valproinsäure hat man in den letzten Jahren auch mit einer Hemmung der Histondeazetylase in Verbindung gebracht (Berton u. Nestler 2006). Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin. Die pharmakolo-
gischen Angriffspunkte der auch in der psychiatrischen Pharmakotherapie verwendeten Antiepileptika Lamotrigin, Gabapentin und Pregabalin sind in ⊡ Abb. 26.17 schematisch dargestellt. Lamotrigin scheint besonders über eine Hemmung spannungsabhängiger Natriumkanäle die neuronale Erregbarkeit zu senken, wobei möglicherweise ein Angriff an präsynaptischen glutamatergen Nervenendigungen eine besondere Rolle spielt, so dass die erregenden glutamaterge Neurotransmission reduziert wird. Während Gabapentin noch ein breiteres Wirkungsspektrum zu haben scheint, scheint die neuere Substanz Pregabalin spezifisch über eine Bindung an die α2δ-Untereinheit verschiedener spannungsabhängiger Kalziumkanäle
Carbamazepin und Valproinsäure. Durch eine Vielzahl
von Befunden aus Modellen zur antikonvulsiven Wirkung (u. a. »Kindling-Experimente«) sind Carbamazepin und Valproinsäure als Antiepileptika pharmakologisch profiliert. Gerade die Wirksamkeit in den Kindling-Experimenten wird auch im Zusammenhang mit den rezidivprophylaktischen Wirkungen der Substanz gesehen. Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin. Gemeinsame Eigen-
schaft dieser Substanzen ist die Senkung der Erregbarkeit zentraler Neurone als Ausdruck ihrer antiepileptischen Wirksamkeit. Wie auch schon bei Valproinsäure und Carbamazepin sind die Grundlagen ihrer Wirksamkeit als Phasenprophylaktika nicht erklärt.
26.6
Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika
26.6.1
Biochemische Wirkungsmechanismen
Wirkung auf das dopaminerge System Die Wirkmechanismen der Neuroleptika sind dank intensiver Forschungsarbeiten in den letzten 30 Jahren, ins-
26
612
26
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
besondere wegen der Fortschritte in der Rezeptorenforschung, relativ gut aufgeklärt. Alle heute in der Therapie der Schizophrenie eingesetzten Neuroleptika greifen in das dopaminerge System ein. Der eigentliche Interventionspunkt ist dabei der prä- und postsynaptische lokalisierte D2-Rezeptor (⊡ Abb. 26.15). Alle antipsychotisch wirksamen Präparate sind D2-Rezeptorantagonisten. Nur die Bindungsstärke zu diesem Rezeptor korreliert mit der klinischen Wirksamkeit (Seeman 1987; Müller 1998 b; Wadenbert et al. 2001). Der gemeinsame hemmende Effekt auf die dopaminerge Neurotransmission erklärt auch, trotz aller Fortschritte bei der Therapie, gemeinsame Probleme bei den Nebenwirkungen (Stroup et al. 2006). Wieweit der Erkrankung ein dopaminerges Übergewicht zugrunde liegt, ist immer noch nicht absolut belegt (Miyamoto et al. 2003) Diese spezifische Wirkung an D2-Rezeptoren erklärt, warum zumindest bei den klassischen Neuroleptika erwünschte (antipsychotische) und einige der unerwünschten Wirkungen (z. B. extrapyramidalmotorische Störungen/EPS, Prolaktinanstieg) so eng miteinander verbunden sind. In den 3 wichtigen dopaminergen Kernsystemen des menschlichen Gehirns spielen D2-Rezeptoren eine wichtige Rolle bei der postsynaptischen Signaltransduktion (⊡ Tab. 26.12).
Dosierung und Wirkung. Bei unter der antipsychotischen (neuroleptischen Schwelle) liegenden Neuroleptikadosierungen bleibt die vermehrte DA-Freisetzung auch langfristig erhalten (wichtig für die Anwendung niedrigdosierter Neuroleptika als Antidepressiva). Im weiteren Verlauf bei ausreichender (neuroleptischer) Dosierung nimmt aber die Impulsfrequenz der dopaminergen Neurone ab (Depolarisationsblock), der dann zusammen mit der postsynaptischen Rezeptorblockade zur Reduktion der dopaminergen Übertragung im nigrostriatalen und im mesolimbischen dopaminergen System führt. Der verzögerte Wirkungseintritt gilt weniger für die Hypophyse, wo man schon sofort den D2-Antagonismus funktionell über den Prolaktinanstieg nachweisen kann. Nach Langzeittherapie mit Neuroleptika kann es weiterhin zu Spätdyskinesien kommen, deren Mechanismus auch heute noch nicht sicher geklärt ist. Die bisherigen Betrachtungen zeigen, warum es bei den klassischen Neuroleptika nicht gelungen ist, die erwünschten von den mit dem gleichen Wirkungsmechanismus (D2-Blockade) assoziierten unerwünschten Wirkungen (EPS, Spätdyskinesien, Prolaktinanstieg) zu differenzieren. Dies gelang erst mit den sog. «atypischen« Substanzen (s. unten).
Wirkmechanismus und Wirklatenz. Die Rezeptorblockade
Auch die klassischen Neuroleptika unterscheiden sich erheblich in ihren zusätzlichen antagonistischen Eigenschaften an einer Reihe verschiedener Rezeptorsysteme. Diese zusätzlichen Eigenschaften sind wahrscheinlich für die eigentlichen antipsychotischen Eigenschaften nicht relevant, erklären aber ähnlich wie bei den Antidepressiva sehr stark die Profile der unerwünschten Wirkungen der einzelnen Substanzen, die auch innerhalb der klassischen Neuroleptika erheblich schwanken.
durch die Neuroleptika erfolgt praktisch unmittelbar nach Verabreichung. Durch die Blockade präsynaptischer Autorezeptoren und die damit verbundene deutliche Zunahme der DA-Freisetzung ist aber initial die dopaminerge Transmission eher erhöht (⊡ Tab. 26.13). Dies hat z. B. in den Frühdyskinesien ein klinisches Korrelat. Der Eintritt der vollen antipsychotischen Wirkung ist jedoch erst nach Tagen bis Wochen beobachtbar. ⊡ Tab. 26.13 erläutert schematisch die Gründe für die Wirklatenz: Nach Besetzung der präsynaptischen Autorezeptoren (D2-Typ) durch Neuroleptika wird die Syntheserate des Dopamins gesteigert. Somit kann die Blockade der DA-Rezeptoren vorübergehend durch ein vermehrtes DA-Angebot an die postsynaptischen Rezeptoren kompensiert werden.
Wirkung auf andere Transmittersysteme
26.6.2
Wirkungsmechanismus der atypischen Neuroleptika
Da die Blockade zentraler D2-Rezeptoren zur antipsychotischen Wirkung und zu extrapyramidalmotorischen Ne-
⊡ Tab. 26.12. Die wesentlichen dopaminergen Projektionsbahnen im ZNS von Mensch und Tier Name
Kerngebiet
Projektionsareale
Physiologische Bedeutung
Tuberoinfundibuläres System
Nucleus arcuatus des Hypothalamus
Eminentia medialis
Regulation der Prolaktinfreisetzung
Nigrostriatales System
Zona compacta der Substantia nigra (A9-Region)
Striatum (Nucleus caudatus, Putamen) Globus pallidus
Regulation der unwillkürlichen und der willkürlichen Motorik
Mesolimbisches (mesokortikales) System
Area ventrialis tegmentalis (A10-Region)
Nucleus accumbens, Mandelkern, Hippokampus, Septum, kortikale Areale (frontalis, cingularis, entorhinalis)
Regulation von Affekt und Emotion
613 26.6 · Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika
⊡ Tab. 26.13. Schematische Darstellungen der Neuroleptikawirkungen im Zeitverlauf der Behandlung. Effekte auf verschiedenen Ebenen (präsynaptisch, rezeptorbezogen, metabolisch, topisch und klinisch) Zeitraum
Präsynaptische Prozesse
Postsynaptische Prozesse
Klinische Wirkungen Erwünschte Wirkungen
Unmittelbare Effekte
Besetzung der D2-Rezeptoren (Autorezeptoren) ↓ Erhöhte Impulsfrequenz ↓ Erhöhte DA-Synthese und Freisetzung (gesteigerter Dopamin-Turnover)
Blockade der D2-Rezeptoren, jedoch unvollständig wegen erhöhten Dopaminangebots Prolaktin im Serum vermehrt durch D2-Blockade in Hypophyse
Nach Tagen bis 2 Wochen
Vermehrt DA-Metaboliten (HVA und DOPAC) im Liquor Impulsfrequenz sinkt (Depolarisationsblock) Dopamin-Turnover verlangsamt sich ↓ HVA- und DOPAC-Konzentrationen im Liquor sinken ab
Wirksame D2-Blockade
Nach längerer Zeit (frühestens 6 Monaten) bei einigen, bevorzugt älteren Patienten, auch bei Dosisreduktionen oder Absetzen a
a) Hippokampus → b) Striatum →
Im Striatum Supersensitivität der D2-Rezeptoren Neurotoxische Effekte?
Unerwünschte Wirkungen Psychomotorische Dämpfung, ggf. extrapyramidale Störungen und andere Symptome (Dyskinesien)
Antipsychotische Wirkung →
Frühdyskinesien, Parkinsonoid (bei vielen Patienten) und andere Symptomea
→
Spätdyskinesien (irreversibel)
Vegetative, kardiovaskuläre und sedative Symptome durch Interaktionen des Präparats mit Rezeptoren in anderen als dem dopaminergen System (⊡ Tab. 26.19).
benwirkungen führt, wurde über Jahre das Dogma vertreten, dass therapeutische und unerwünschte Nebenwirkungen von Neuroleptika unabdingbar miteinander verknüpft seien. Das einzige Neuroleptikum, dessen Wirkprofil sich nicht mit dieser Annahme vereinbaren ließ, war Clozapin. Clozapin induziert kaum extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen und keinen oder nur einen geringen Anstieg des Prolaktinspiegels. Dennoch verfügt es über eine gute antipsychotische Wirksamkeit, die pharmakologisch vermutlich ebenfalls im Wesentlichen in einer Blockade von D2-Rezeptoren begründet ist (Seeman 1987).
Klinische Eigenschaften Das einzige Kriterium, das sicher auf alle sog. atypischen Substanzen zutrifft, ist die Eigenschaft, keine oder weniger extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen hervorzurufen als klassische Neuroleptika. Ein wichtiges Korrelat dieser klinischen Eigenschaft im Tierexperiment ist der Befund, dass man mit atypischen Substanzen praktisch keine Katalepsie auslösen kann (Clozapin) oder dass zur Auslösung einer Katalepsie wesentlich höhere Dosen (im Vergleich zu anderen antidopaminergen Effekten) benötigt werden (⊡ Abb. 26.19).
Diskutierte Wirkmechanismen Begriffsbestimmung Clozapin wurde durch die genannten, nichthypothesenkonformen (atypischen) Eigenschaften zum Prototyp der »atypischen Neuroleptika«. Dieser Begriff wurde unkritisch auf andere Substanzen übertragen. Im Gegensatz zum Begriff »klassische Neuroleptika« ist er nicht klar definiert und beinhaltet heute Substanzen, die sich pharmakologisch und klinisch nicht nur von den klassischen Neuroleptika (⊡ Tab. 26.13), sondern auch untereinander unterscheiden (Müller 1998 a) ( Kap. 27, S. 647 f., Bd. 2, Kap. 52, S. 295 f.) .
Grundlegend kann also die antipsychotische Wirkung sowohl der klassischen als auch der atypischen Substanzen über die Blockade von DA-D2-Rezeptoren erklärt werden. Die heute diskutierten Hypothesen zur Erklärung atypischer Eigenschaften beruhen daher meist auf der Annahme von »D2-Blockade plus zusätzliche Eigenschaft« (⊡ Tab. 26.14). Eine gewisse Ausnahme ist die präferenzielle mesolimbische D2-Bindung einiger Substanzen.
26
614
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
Antagonismus von AmphetaminAmphetamininduzierter Erregung durch typische und atypische Neuroleptika Typische Neuroleptika-induzierte Neuroleptika-induzierte Katalepsie Atypische Antipsychotika-induzierte Antipsychotika-induzierte Katalepsie
26 ⊡ Abb. 26.19. Vergleich der Pharmakologie typischer und atypischer Antipsychotika auf der Basis von Studien an Primaten und Nagern. Bei Dosiskonzentrationen, die vergleichbar mit den zur Auslösung einer Katalepsie erforderlichen Konzentrationen sind, wirken typische Neuro-
⊡ Tab. 26.14. Die wichtigsten Hypothesen zum Wirkungsmechanismus der atypischen Neuroleptika D2- und D1-Blockade
D3- bzw.-D4-Blockade zusätzlich zu D2Blockade
Amisulprid (D2) Sulpirid (D3) Clozapin (D4)
D2- und 5-HT2-Blockade
Clozapin Olanzapin Quetiapin Zotepin
Clozapin Olanzapin Paliperidon Risperidon Quetiapin Sertindol Zotepin
D2- und M-Rezeptor-Blockade
Clozapin Olanzapin
Präferenzielle Bindung an mesolimbische bzw. mesokortikale D2-Rezeptoren
Clozapin Sertindol Sulpirid
Partieller D2-Agonismus
Aripiprazol
leptika antagonistisch auf Amphetamin-induzierte Erregung (A). Atypische Substanzen erzielen ihre Wirkungen bei Dosierungen, die signifikant unter ihrem schwachen Potenzial zur Auslösung einer Katalepsie liegen (B). (Nach Ereshefsky u. Lacombe 1993)
Gemeinsame Blockade von DA-D1- und DA-D2-Rezeptoren. Ausgehend von dem Befund, dass Clozapin in etwa
gleich stark an den D1-Rezeptor wie an den D2-Rezeptor bindet, hat man vermutet, dass aufgrund der parallelen Blockade der beiden dopaminergen Rezeptoren durch Clozapin weniger D2-Rezeptoren für eine ausreichende antipsychotische Wirksamkeit besetzt werden müssen. Diese Hypothese ist allerdings nicht unumstritten, da das eher klassische Neuroleptikum Flupenthixol auch etwa gleich stark an den D1- wie an den D2-Rezeptor bindet. Gemeinsame Blockade von Serotonin-5-HT2-Rezeptoren und DA-D2-Rezeptoren. Schon lange vermutet man, dass
die beim Clozapin eine sehr starke Blockade von Serotonin-5-HT2-Rezeptoren bei gleichzeitiger DA-D2-Rezeptorblockade eine wichtige Rolle spielt für die relativ geringe Inzidenz von extrapyramidalmotorischen unerwünschten Arzneimittelwirkungen und für die bessere Wirksamkeit bei Minussymptomatik. Ein dem Clozapin ähnliches Bindungsverhalten zeigen verschiedene andere atypische Substanzen. Gemeinsame Blockade von D2und 5-HT2-Rezeptoren gilt heute als primärer Wirkungsmechanismus vieler atypischer Substanzen.
Gemeinsame Blockade von D2- und Muskarinrezeptoren.
Die älteste Hypothese, wie atypische neuroleptische Eigenschaften erklärt werden könnten, geht von der Tatsache aus, dass Clozapin selbst sehr stark anticholinerge Eigenschaften hat und praktisch die Anticholinergikazugabe mit dem Clozapinmolekül verbunden ist. Gegen diese Hypothese spricht, dass Spätdyskinesien unter Clozapin kaum vorkommen, dieses schwerwiegende Risiko dagegen unter einer Therapie mit klassischen Neuroleptika nicht durch die Zugabe von Anticholinergika vermindert werden kann.
Präferenzielle mesolimbische Bindung. Eine wichtige Hypothese, atypische neuroleptische Eigenschaften zu erklären, fußt auf Beobachtungen von Clozapin und Sulpirid. Danach blockieren beide Substanzen D2-Rezeptoren in mesolimbischen Arealen schon in einem Dosisbereich, der nur zu einer geringen Blockade von D2-Rezeptoren in nigrostriatalen Arealen führt. Diese präferenzielle Bindung an mesolimbische D2-Rezeptoren (nicht nur deren präferenzielle funktionelle Blockade) ist allerdings auf molekularer Ebene z. Z. noch nicht erklärbar.
615 26.6 · Psychopharmakologische Grundlagen der Neuroleptika
Bedeutung von D3- und D4-Rezeptoren. Die erst vor eini-
gen Jahren mit Hilfe molekularbiologischer Methoden identifizierten zur D2-Familie gehörenden D3- und D4-Rezeptoren (Sokoloff et al. 1990; van Tol et al. 1991) sind mit der Pharmakologie besonders atypischer Neuroleptika in Verbindung gebracht worden. Grund dafür war die relativ hohe Affinität von Benzamiden wie dem Sulpirid und dem Amisulprid zum D3-Rezeptor und die sehr hohe Affinität von Clozapin zum D4-Rezeptor. Da beide Rezeptoren auch besonders stark in limbischen bzw. kortikalen Arealen lokalisiert sind, hat man ihnen sehr schnell eine wichtige Rolle für die atypischen Eigenschaften zugesprochen. Weiterführende Bindungsstudien sprechen aber gegen eine besonders spezifische Bindung von Sulpirid an den D3-Rezeptor im Vergleich zu dem typischen Neuroleptikum Haloperidol. Auch die dominierende Bedeutung des D4-Rezeptors für die atypischen Eigenschaften des Clozapins muss heute in Frage gestellt werden. Am wahrscheinlichsten hat der D4-Rezeptor eine Bedeutung für die überlegene antipsychotische Wirkung von Clozapin, da diese atypische Eigenschaft bisher nur für diese Substanz gilt (Reynolds 1996; Müller 1998 a, b). Gemeinsame Blockade von α-adrenergen und D2-Rezeptoren. Clozapin, Risperidon und Zotepin sind starke Ant-
agonisten an α1-adrenergen Rezeptoren, was u. a. für die sedierenden Eigenschaften, aber auch für kardiovaskuläre UAW (Orthostase) von Bedeutung ist. Es gibt aber auch Vermutungen, dass ein starker α1-Antagonismus zusammen mit der D2-Blockade atypische Eigenschaften erklären kann (Cohen u. Lipinski 1986). Das Loose-Binding-Concept. Schon vor über 10 Jahren
wurde aus der Arbeitsgruppe von Seeman spekuliert, dass die meisten atypischen Neuroleptika eine schwache Bindungsaffinität zum Dopamin-D2-Rezeptor aufweisen und daher leichter durch endogenes Dopamin vom Rezeptor verdrängt werden. Dies sollte besonders für das Striatum
Partieller D2-Agonismus. Ein anderer Weg geht die neuere
Substanz Aripiprazol, die als partieller Agonist an D2-Rezeptoren wirkt (Müller 2002). Durch die immer noch vorhandene leichte Aktivierung im nigrostriatalen System bleiben EPS als Nebenwirkung weitgehend aus, während die D2-antagonistische Komponente wahrscheinlich im mesolimbischen System für eine gute antipsychotische Wirkung ausreicht. Nimmt man Clozapin als »Goldstandard« für atypische Neuroleptika, so muss man davon ausgehen, dass verschiedene Mechanismen auf neuronaler Ebene zu dem atypischen Wirkungsspektrum von Clozapin beitragen. Dies eröffnet auf der einen Seite die Möglichkeit, Substanzen zu finden, bei denen nur bestimmte Aspekte der atypischen Eigenschaften vorhanden sind (⊡ Tab. 26.15). Es
100
Olanzapin
10 K i (nM)
⊡ Abb. 26.20. Die Beziehung zwischen Gleichgewichtsdissoziationskonstante und der Geschwindigkeitskonstante für die dissoziative Affinität ist im Wesentlichen durch die Dissoziationsgeschwindigkeit determiniert. (Nach Kapur u. Seeman 2000)
gelten, wo physiologisch sehr hohe Dopaminkonzentrationen vorliegen. Die gleiche Arbeitsgruppe hat dieses Konzept wieder aufgegriffen und verfeinert (Kapur u. Seeman 2000, 2001): Typische und atypische Neuroleptika unterscheiden sich nicht im Bereich der Assoziationskonstanten, die die schnelle Bindung der Substanzen an den Dopaminrezeptor bedingen; die meisten atypischen Neuroleptika dissoziieren aber wieder besonders schnell vom Rezeptor, unterscheiden sich also von typischen Neuroleptika im Hinblick auf die Dissoziationskonstante (⊡ Abb. 26.20). Es ist allerdings noch nicht sicher, ob sich diese neuartige und im Prinzip sehr einfache Klassifikation durchgehend aufrechterhalten lässt, da bei weitem noch nicht alle Substanzen durchgetestet sind und es eine ganze Reihe eher niederaffiner klassischer Neuroleptika gibt, die eigentlich keine atypischen Eigenschaften haben. Andererseits könnte aber eine schnelle Dissoziation vom Dopamin-D2-Rezeptor tatsächlich bei den atypischen Eigenschaften einiger Substanzen eine Rolle spielen (z. B. Quetiapin, Clozapin) und möglicherweise auch erklären, dass diese Substanzen nur zu einer geringen Prolaktinfreisetzung aus der Hypophyse führen.
Chlorpromazin
Sertindol Racloprid
1
Haloperidol Spiperon 0,1 Nemonaprid
0,01 0,001
0,01
0,1
1
10
k off (min -1)
26
616
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
⊡ Tab. 26.15. Therapeutische Qualitäten, die atypische Neuroleptika von den klassischen Neuroleptika unterscheiden Weniger extrapyramidalmotorische Symptome
Amisulprid Aripiprazol Clozapin Olanzapin Paliperidon Quetiapin Risperidon Sertindol Sulpirid Zotepin
Bessere Wirkung bei Minus-Symptomatik
Amisulprid Aripiprazol Clozapin Olanzapin Paliperidon Quetiapin Risperidon Sertindol Zotepin
26 Bessere Wirkung bei Nonrespondern
Clozapin
erklärt aber auf der anderen Seite auch, warum es so schwer ist, neue, in allen atypischen Eigenschaften dem Clozapin analoge Neuroleptika zu entwickeln.
zeptor wie Dopamin, und Amphetamin (setzt Dopamin frei und erhöht somit die Konzentration am DA-Rezeptor) eingesetzt. Sie erzeugen bei Nagern in niedriger Dosis zunächst eine Hypomotilität (als Ausdruck der Aktivierung von D2-Rezeptoren im mesolimbischen System) und in höheren Dosen stereotyp sich wiederholende Bewegungsabläufe (»Stereotypien« als Ausdruck der Aktivierung von D2-Rezeptoren im nigrostriatalen System). Bei anderen Tierarten kann durch Apomorphin eine Emesis, bei Mäusen eine gesteigerte Lauf- und Kletteraktivität erreicht werden. Alle diese beispielhaft genannten Wirkungen der DA-Agonisten werden durch Neuroleptika aufgehoben. Tierexperimentelle Modelle für Atypika. Die bisherigen
pharmakologischen Modelle sind im Wesentlichen auf der Basis der Eigenschaften von Chlorpromazin entwickelt worden, bilden daher primär typische Neuroleptika ab. Einige tierexperimentellen Modelle, die eine Differenzierung der Eigenschaften typischer Neuroleptika von denen atypischer Substanzen erlaubt, sind in ⊡ Tab. 26.16 zusammengefasst.
26.7 26.6.3
Wirkung im Tiermodell
Auch bei den Neuroleptika besteht das Grundproblem, dass ein adäquates Tiermodell der Schizophrenie nicht existiert. Die meisten der folgenden (klassischen) Tiermodelle werden in der experimentellen Forschung zur Beurteilung von antidopaminergen (nicht antipsychotischen) Eigenschaften herangezogen. Sie werden komplementiert durch eine Vielzahl von biochemischen Invitro- und In-vivo-Methoden zur Erfassung antidopaminerger Eigenschaften. Spontanverhalten. Neuroleptika bringen bei Versuchs-
tieren das Spontanverhalten völlig zum Erliegen (Akinese), steigern den Muskeltonus (Rigor) und lassen die Tiere in meist unnatürlicher Haltung (gekrümmter Rumpf, weit abgestreckte Extremitäten) verharren (Katalepsie). Die benötigte Dosis zur Erzielung dieser Effekte gilt als Maß für die extrapyramidalen Nebeneffekte eines Neuroleptikums (⊡ Abb. 26.19). Fluchtverhalten. Das konditionierte Fluchtverhalten von
Tieren, z. B. das trainierte Ausweichen in die andere Käfighälfte nach Ertönen eines akustischen oder optischen Signals zur Vermeidung eines elektrischen Schlages, wird durch Neuroleptika aufgehoben und zwar in Dosen, die die Motorik noch nicht beeinflussen. Wechselwirkungen mit DA-Agonisten. Hier werden Apo-
morphin, ein DA-Agonist mit gleicher Wirkung am Re-
Psychopharmakologische Grundlagen der Tranquilizer
Biochemische Wirkungsmechanismen Benzodiazepine greifen über spezifische Bindungsstellen am GABAA-Rezeptorkomplex (rezeptorgesteuerter Chloridkanal, bestehend aus 5 Untereinheiten der Klassen α, β, γ) an und verstärken damit das wichtigste inhibitorische Transmittersystem GABA (γ-Aminobuttersäure) in unserem zentralen Nervensystem. Die Affinität zu den Rezeptoren ist unterschiedlich und korreliert hoch mit der pharmakologischen Potenz und den für die klinische Wirkung notwendigen Tagesdosen (Müller 1995). Die Benzodiazepinbindungsstellen bilden zusammen mit den GABA-Bindungsstellen und verschiedenen anderen regulatorischen Bindungsstellen eine komplexe strukturelle und funktionale Einheit (⊡ Abb. 26.21a,b). Die Benzodiazepine verstärken die postsynaptischen GABA-Effekte mit der Folge, dass die Durchlässigkeit für Chloridionen durch die Chloridionenkanäle erhöht und damit die GABAerge Hyperpolarisation des Zellinnern verstärkt wird. Damit wird die Zelle weniger empfindlich für erregende Impulse.
Wirkung der Benzodiazepine. Praktisch alle pharmakolo-
gischen und klinischen Effekte der Benzodiazepine (⊡ Tab. 26.17) werden über ihren agonistischen Angriff an den »Benzodiazepinrezeptoren« vermittelt, wobei viele Hirnareale eine Rolle spielen. Erwünschte wie unerwünschte Wirkungen können daher durch Benzodiaze-
617 26.7 · Psychopharmakologische Grundlagen der Tranquilizer
⊡ Tab. 26.16. Typische tierexperimentelle Modelle zur Verhaltenstestung typischer, besonders aber atypischer Neuroleptika. (Nach Nemeroff et al. 2002) Konditioniertes Vermeidungsverhalten (Tiere werden trainiert, eine aktive Verhaltensänderung vorzunehmen, um einen Fußschock zu vermeiden)
Neuroleptika reduzieren spezifisch das konditionierte Verhalten Indikator für antipsychotische Wirkung
Pfotenwegziehtest
Typische Neuroleptika beeinflussen den Wegzieh-Reflex von Vorderund Hinterpfoten nach einem Schmerzreiz Atypische Substanzen beeinflussen die Stärke des Hinterpfotenreflex Indikativ für geringe EPS
Katalepsie
Typische Neuroleptika induzieren Katalepsie bei Dosen, die dopaminerge Verhaltensmuster antagonisieren Atypika benötigen sehr viel höhere Dosen Indikativ für geringe EPS
Haloperidol-sensitivierte Affen (Tiere erhalten Haloperidol bis zum Auftreten von Dyskinesien)
Typische Neuroleptika wirken ähnlich, Atypika bewirken weniger Dyskinesien Indikativ für geringe EPS
Durch Apomorphin und Ketamin gehemmte Reduktion des »Startle-Reflexes« durch ein vorgeschaltetes Signal (»prepulse inhibition«)
Atypika aber nicht Typika stellen die Reduktion des Reflexes durch ein vorgeschaltetes Signal wieder her Modell für eingeschränkte sensomotorische Kontrolle bei Schizophrenen
Soziale Isolation bei Affen
Besonders Atypika reduzieren die soziale Isolation von Affen nach chronischer Amphetamin-Gabe Modell für schizophrene Negativsymptomatik
EPS Extrapyramidalmotorische Störungen.
pinrezeptorantagonisten (Flumazenil, Anexate) sehr schnell im Sinne eines kompetitiven Antagonismus aufgehoben werden, z. B. zur schnellen Terminierung therapeutischer Effekte oder bei Überdosierungen bzw. Intoxikationen. Antidepressiva. Antidepressiva werden als Tranquilizer
häufig in sehr viel niedrigeren als den antidepressiven
Dosen eingesetzt, während bei der Behandlung von spezifischen Angsterkrankungen (Panik, Zwang) eher gleiche z. T. auch über die antidepressive Dosis hinausgehende Dosierungen eingesetzt werden (besonders auch bei den SSRI). Wie weit hier andere Wirkungsmechanismen als bei der Depressionsbehandlung eine Rolle spielen, ist nicht bekannt. Im Gegensatz zur Depression, wo noradrenalinbetonte und serotoninbetonte Antidepres-
⊡ Abb. 26.21. a Schematische Darstellung des Wirkungsmechanismus und des funktionellen Zusammenhangs zwischen GABA-Benzodiazepin-Rezeptorkomplex und Chloridionenkanal. b Elektrische Vorgänge am postsynaptischen Neuron: Rechts ist das Membranpotenzial (Em) durch inhibitorischen Input (i) negativer geworden (Hyperpolarisation), so dass der Schwellenwert (T) zur Auslösung eines Aktionspotenzials (AP) auch bei mehrfachen exzitatorischen Input (e) nicht erreicht wird
26
618
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
⊡ Tab. 26.17. Benzodiazepine: Wichtigste pharmakologische Wirkungen und therapeutische Anwendung. (Nach Haefely et al. 1983)
26
Pharmakologische Wirkungen
Klinische Indikationen
Anxiolyse, Antikonflikt- und Antifrustrationswirkung; Enthemmung gewisser Verhaltensformen
Angst, Phobien, Ängstliche Depression, Neurotische Hemmungen
Antikonvulsive Wirkungen
Verschiedenste Formen epileptischer Aktivität (Epilepsien, Konvulsivavergiftungen)
Dämpfung der psychischen Reaktionsbereitschaft auf Reize (»Sedation«)
Hyperemotionelle Zustände, Schizophrenie (?)
Schlaffördernde Wirkung
Schlafstörungen
Dämpfung zentral vermittelter vegetativ nervöser und hormonaler Antworten auf emotionelle und psychische Reize
Psychosomatische Störungen (kardiovaskuläre, gastrointestinale, urogenitale, hormonelle)
Zentrale Verminderung des Skelettmuskeltonus
Somatisch bedingte und psychogene Muskelspasmen, Tetanus
Verstärkung der Wirkung von zentral dämpfenden Pharmaka; anterograde Amnesie
Anästhesiologie für chirurgische und diagnostische Eingriffe
Fehlen direkter Wirkungen außerhalb des Zentralnervensystems; ungewöhnlich geringe Toxizität
Breites Indikationsfeld wegen guter allgemeiner Verträglichkeit in therapeutischen Dosen
siva eher gleichwertig sind, scheinen bei spezifischen Angsterkrankungen (z. B. Zwang) nur serotoninbetonte Antidepressiva klinisch wirksam zu sein. Neuroleptika. Zum Wirkungsmechanismus der als Tran-
quilizer eingesetzten niedrig dosierten Neuroleptika Kap. 26.5.
Frustrationssituationen. Reduziert man bei konditio-
nierten Tieren die Belohnungen für ein bestimmtes Verhalten, so verlieren die Tiere zunehmend das Interesse an diesen Handlungen. In diesem Modell wird durch Benzodiazepine erreicht, dass die Tiere eine erheblich höhere Frustrationsschwelle zeigen, sie lassen sich also nicht so schnell durch das Ausbleiben einer Belohnung entmutigen.
Wirkungen der Tranquilizer im Tiermodell Ähnlich wie bei den Antidepressiva und Neuroleptika werden auch bei den Tranquilizern bestimmte Tiermodelle eingesetzt, um das Vorhandensein bzw. die Stärke der anxiolytischen und sedierenden Wirkung zu ermitteln. Im Wesentlichen sind es folgende Modelle, die zum Screening herangezogen werden:
Angst- und aggressivitäterzeugende Situationen. Hier
Konflikttest. Mit den Tieren wird trainiert, dass nach Be-
Weitere Modelle. Daneben werden noch zahlreiche ande-
tätigung eines Schalters eine Futterration freigesetzt wird. Ist dieses positiv verstärkte Verhalten konditioniert, werden in unregelmäßigen Intervallen nach optischer und/ oder akustischer Anzeige bei Betätigung des Schalters zusätzlich zur Futterabgabe Elektroschocks verabreicht. Die Tiere geraten in eine Konfliktsituation und lernen sehr schnell, bei Wahrnehmung der Anzeige auf das Drücken des Schalters zu verzichten. Benzodiazepine erhöhen die Anzahl dieser bestraften Antworten; sie vermindern also den hemmenden Einfluss der Bestrafung auf positiv verstärktes Verhalten.
re Modelle angewendet, die entweder Hinweise auf anxiolytische Effekte oder auf Schlafinduktion, Muskelrelaxation und Erhöhung der Krampfschwelle geben.
Exploratives Verhalten im Hell-Dunkel-Käfig. Setzt man
Mäuse in einen Käfig mit 2 Kammern, von denen eine beleuchtet, die andere aber dunkel ist, so erreicht man durch Benzodiazepine, dass die Tiere häufiger in den hellen Bereich wechseln.
werden die psychomotorischen und emotionalen Reaktionen auf Schrecksituationen bzw. angst- und aggressivitäterzeugende Reize gemessen. Benzodiazepine dämpfen diese Reaktionen, was als sedierende Wirkung interpretiert werden kann.
Pregabalin als Anxiolytikum. Pregabalin wird in jüngster Zeit auch zur Behandlung von Angsterkrankungen, besonders generalisierter Angst eingesetzt. Als spezifischer Wirkungsmechanismus gilt eine Hemmung verschiedener spannungsabhängiger Kalziumkanäle über eine ihnen gemeinsame Untereinheit vom α2δ-Typ.
26.8
Psychopharmakologische Grundlagen der Antidementiva
Zur Behandlung neurodegenerativer (Alzheimer) und vaskulärer Demenzen stehen verschiedene neuere und ältere Antidementiva zur Verfügung (⊡ Tab. 26.18). Ihnen
619 26.8 · Psychopharmakologische Grundlagen der Antidementiva
gemeinsam ist das therapeutische Ziel, bei Patienten mit neurodegenerativer bzw. vaskulärer Demenz eine Verbesserung herbeizuführen – besonders im dem Bereich der Kognition (Gedächtnis, Lernfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit) und somit der Alltagskompetenz. Zur Belegung dieses therapeutischen Anspruches werden heute aufwendige klinische Studien gefordert, die mindestens in 2 von 3 Bereichen eine der Plazebotherapie überlegene Effektivität aufweisen müssen (kognitive Leistungsfähigkeit, globales ärztliches Urteil, Alltagskompetenz). Diese, durch die Zulassungsbehörden definierten Kriterien werden von den einzelnen Antidementiva etwas unterschiedlich erfüllt, allerdings haben alle in ⊡ Tab. 26.18 gelisteten Substanzen eine Zulassung bzw. eine Nachzulassung für neurodegenerative und/oder vaskuläre Demenzen bzw. Hirnleistungsstörungen im Alter (was die frühere Indikation dieser Substanzen war). Damit ist den aktuellen Anforderungen nach zwangsläufig die Datenlage für die Azetylcholinesterasehemmstoffe und Memantine besser als für die älteren Substanzen wie Nimodipin und Piracetam. Ginkgo-biloba-Extrakt ist die einzige der älteren Substanzen, für die mehrere positive Studien entsprechend den modernen Prüfungskriterien vorliegen. Im Zeitalter der Evidenz-basierten Bewertungen schneiden daher bei vielen Einschätzungen die älteren Substanzen schlechter ab. Kritisch anmerken sollte man allerdings hier, dass schlechtere wissenschaftliche Datenlagen entsprechend modernerer Prüfungskriterien nicht zwangsläufig schlechtere Wirksamkeit bedeuten muss. Daher gibt es auch viele Stimmen, die die älteren Substanzen auch weiterhin für eine Bereicherung des therapeutischen Repertoires bei Demenzen halten. Azetylcholinesterasehemmer. Die heute wichtigsten
Substanzen zur Behandlung der Alzheimer-Demenz (Donepezil, Rivastigmin, Galanthamin) sind Hemmer des Enzyms Azetylcholinesterase, das den Abbau des Neurotransmitters Azetylcholin im Gehirn aber auch an peri⊡ Tab. 26.18. Die wichtigsten derzeit in Deutschland einge-
pheren Synapsen vermittelt. Sie sollen damit einen spezifischen Verlust bestimmter cholinerger Nervenzellen im Nucleus basalis im Verlauf der Alzheimer-Erkrankung ausgleichen, die spezifisch in die Steuerung kognitiver Funktionen involviert sind. Die therapeutischen Möglichkeiten bleiben trotzdem hinter den Erwartungen zurück, weil im Rahmen einer neurodegenerativen Demenz zwar diese cholinergen Neurone überproportional stark zugrunde gehen, aber auch viele andere Neurone und Neurotransmittersysteme vom neurodegenerativen Prozess betroffen sind. Azetylcholinesterasehemmer sind darüber hinaus nicht spezifisch für die Alzheimer-Demenz, da sie auch kognitive Leistungsverbesserungen bei Patienten mit vaskulärer Demenz und altersassoziierter Gedächtnisstörung (MCI) zeigen. Die Substanzklasse der Azetylcholinesterasehemmstoffe zeigt spezifische UAW-Probleme (besondere Vorsicht ist geboten bei der Anwendung an Patienten mit Magen-Darm-Ulzera, asthmatischen Erkrankungen und Herzrhythmusstörungen) mit besonders häufigen gastrointestinalen Nebenwirkungen, die bei einem deutlichen Teil der Patienten die notwenige Langzeitbehandlung erschweren. Ginkgo-biloba-Extrakt und Piracetam. Standardisierter
Ginkgo-Extrakt (EGb 761) ist durch die darin enthaltenen Flavonoide ein recht guter Radikalfänger, während das klassische Nootropikum Piracetam die Fließeigenschaften des Blutes durch Formveränderungen der Blutzellen positiv beeinflusst. Beiden Substanzen gemeinsam ist eine Verbesserung der mitochondrialen Funktion und damit der Bereitstellung von ATP nach Schädigungen, wie sie im Rahmen des Alterungsprozesses und auch bei Demenzen auftreten (Eckert et al. 2005; Keil et al. 2006 a). Damit verbunden ist eine verbesserte zerebrale Leistungsfähigkeit, besonders im Bereich kognitiver Funktionen. Darüber hinaus können beide Substanzen, besonders aber EGb 761, wahrscheinlich auch über eine Verbesserung der mitochondrialen Funktion neurodegenerative Veränderungen über eine antiapoptotische Wirkung verbessern.
setzten Antidementiva
Memantin. Memantin ist ein Antagonist an zentralen Wirkstoff
Handelsname
Wirkungsmechanismus
Donepezil
Aricept
Azetylcholinesteraseinhibitor
Galantamin
Reminyl
Azetylcholinesteraseinhibitor
Rivastigmin
Exelon
Azetylcholinesteraseinhibitor
Memantin
Ebixa, Axura
NMDA-Antagonist
Nimodipin
Nimotop
Ca2+-Antagonist
Piracetam
Nootrop
Mitochondrialer Schutz
Ginkgo-biloba-Extrakt
Tebonin
Mitochondrialer Schutz, Radikalfänger
Glutamatrezeptoren vom N-Methyl-D-Aspartat-Typ (NMDA; Müller et al. 1995). Über beide Mechanismen lassen sich die akuten leistungsverbessernden und möglicherweise auch längerfristig protektiven Wirkungen dieser Substanz erklären. Nimodipin. Nimodipin ist ein Antagonist von spannungsabhängigen Kalziumkanälen (L-Typ) ähnlich den peripher angreifenden Substanzen Verapamil und besonders Nifedipin. Die ursprüngliche These, dass Nimodipin das ZNS vor einer Überladung mit freiem intrazellulärem Kalzium [Ca2+]i schützt, ist wahrscheinlich eine Vereinfachung (Müller et al. 1996). Möglicherweise schützt Ni-
26
620
Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
modipin das alternde ZNS weniger vor einer Überladung mit [Ca2+]i als vor einer erhöhten Empfindlichkeit gegen [Ca2+]i. Darüber hinaus scheint Nimodipin eher bei vaskulären als bei neurodegenerativen Demenzen wirksam zu sein.
Entwicklung neuer Therapiekonzepte
26
Bei der Alzheimer-Demenz ist eine Beseitigung der Ursachen oder eine Prophylaxe z. Z. nicht möglich. Oberstes Ziel der Grundlagenforschung ist es demnach, nach Mechanismen zu suchen, die am neurodegenerativen Prozess beteiligt sind und somit »Targets« für neue Interventionsstrategien darstellen. Hier hat man endlich die an β-Amyloid-haltigen Plaques orientierte ältere β-Amyloid-Kaskadenhypothese dahingehend modifiziert, dass für den degenerativen Prozess eher kleine und lösliche oligomere β-Amyloidaggregate verantwortlich sind und initial zu einer Störung der Synapsen- und Mitochondrienfunktion führen (Haass u. Selkoe 2007; Hauptmann et al. 2006; Keil et al. 2006 b). Basierend auf der β-Amyloid-(Aβ-)Hypothese der Alzheimer-Krankheit bestehen viele Forschungsansätze darin, eine Aβ-bezogene Therapie zu entwickeln. So könnte die Entstehung des Aβ-Proteins einerseits durch eine Reduktion der Syntheserate des Vorläuferproteins APP und andererseits durch eine Reduktion der Umwandlungsrate des APP in das Aβ-Protein verlangsamt werden. Letzteres kann über die Beeinflussung der an der APP-Prozessierung beteiligten Sekretasen, die zur Bildung von Aβ führen (β- und γ-Sekretase), umgesetzt werden. Neben der Produktion des Aβ-Proteins erscheint es auch sinnvoll, den Degradations- und Abbauweg von Aβ zu beeinflussen, der den Lebenszyklus des Aβ vervollständigt. Deshalb wird auch die Entwicklung von Substanzen, die die Aggregation von Aβ zu dessen Plaques verhindern, als vielversprechend angesehen. Klinische Wertungen dieser Ansätze zeigen allerdings, dass bis heute sich noch keine Substanzklasse abzeichnet als nächste Generation therapeutisch einsetzbarer Antidementiva (Schüssel u. Müller 2007; Mattson 2004). Aufsehen erregte ebenfalls eine Studie mit APP-transgenen Mäusen, die zeigte, dass eine auf Aβ1-42 basierende Impfung diffuse Aβ-Plaques entsorgen bzw. auflösen kann (Schenk et al. 1999). Die
nachfolgende Humanstudie musste wegen schwerer UAW (aseptische Meningoenzephalitis als Ausdruck einer Autoimmunreaktion) abgebrochen werden. Ein weiteres Target für eine pharmakologische Intervention stellt die intrazelluläre Zelltodkaskade dar ( Kap. 7). Auf dem kontrovers diskutierten Gebiet der neuronalen Apoptose bei neurodegenerativen Erkrankungen wurden im Laufe der letzten Jahre entscheidende Fortschritte beim Verständnis der Pathogenese erzielt. Neue Therapieansätze zeichnen sich ab und die ersten Substanzen, die direkt mit der Apoptosekaskade interagieren, gelangen in die Klinik. Es ist zu hoffen, dass mit der Entwicklung spezifischer Substanzen es in den nächsten Jahren gelingen wird, den neuronalen Zelltod bei Demenzpatienten wenn nicht zu verhindern, so doch zumindest verlangsamen zu können.
26.9
Psychopharmakologische Grundlagen der Therapie von ADHS
Pharmakologische Grundlagen der Stimulanzien Zur Therapie von ADHS kommen hauptsächlich die beiden Stimulanzien Methylphenidat und Amphetamin und der neuere Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Atomoxetin zum Einsatz (Rappley 2005). Während das am meisten eingesetzte Methylphenidat die neuronale Aufnahme von Dopamin stärker als von Noradrenalin hemmt, ist Atomoxetin ein selektiver Noradrenalinwiederaufnahmehemmstoff (⊡ Tab. 26.19). Dass unter Atomoxetin trotzdem das für die Aufmerksamkeit wichtige präfrontale dopaminerge System beeinflusst wird, liegt an der physiologischen Besonderheit, dass im präfrontalen Kortex praktisch keine Dopamintransporter vorhanden sind, so dass die Inaktivierung freigesetzten Dopamins vom Noradrenalintransporter vermittelt wird. Daher wird dieses System auch unter Atomoxetin ähnlich wie durch Metylphenidat beeinflusst. Während Amphetamin selbst in der Behandlung von ADHS bei uns nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, führt die Gleichstellung beider Substanzen im Hinblick auf das mögliche Abhängigkeitsrisiko immer wieder zu einer Verunsicherung von
⊡ Tab. 26.19. Angriffspunkte der aktuellen ADHS-Therapeutika an zentralen monoaminergen Synapsen. (Nach Fone u. Nutt 2005) Wirkstoff
Halbmaximale Hemmkonstantenkonzentration in vitro in nmol/l DAT
NET
SERT
VMAT
d-Amphetamin
400
59
>1000
2100
Methylphenidat
34
339
>10000
–
1450
5
77
–
Atomoxetin
Dargestellt sind halbmaximale Hemmkonstanten (in vitro) (nmol/l) für den neuronalen Dopamintransporter (DAT), den neuronalen Noradrenalintransporter (NET), den neuronalen Serotonintransporter (SERT), und den zentralen vesikulären Transporter VMAT. Näheres s. Text.
621 Literatur
Arzt und Patient. Hier lassen sich allerdings beide Substanzen, sowohl von der klinischen Erfahrung (unter der Therapie mit Methylphenidat kommen Abhängigkeitsentwicklungen so gut wie gar nicht vor), wie auch von der Pharmakologie im Hinblick auf Abhängigkeitsentwicklungen klar abgrenzen. Während Methylphenidat nur den Dopamin- und Noradrenalintransporter hemmt, damit eine Verstärkung der jeweiligen Neurotransmission abhängig von der neuronalen Entladungsfrequenz bewirkt, hemmt Amphetamin zum einen den Noradrenalintransporter stärker als den Dopamintransporter führt aber auch zu einer Blockade der vesikulären Aufnahme beider Neurotransmitter, verbunden mit einer vermehrten Freisetzung und damit einer auch dopaminergen Stimulation unabhängig von der neuronalen Entladungsfrequenz. Dies bedeutet, dass im direkten Vergleich das Abhängigkeitspotenzial von Methylphenidat auch im Experiment deutlich geringer ist als bei Amphetamin (Fone u. Nutt 2005).
26.10
Weiterführende Lehrbücher und Nachschlagewerke
Der interessierte Leser, der sich auf dem Gebiet der pharmakologischen Grundlagen der Anwendung von Psychopharmaka weiterbilden möchte, sei auf die Lehrbücher von Benkert u. Hippius (2001), Laux u. Dietmaier (2006) und Möller et al. (1999) hingewiesen, sowie auf das 6-bändige Standardwerk über Neuro-Psychopharmaka (Riederer et al. 2002–2006). Eine sehr gute Zusammenfassung bieten auch die beiden Handbücher der American Psychiatric Association (Perry et al. 1997; Schatzberg et al. 1997) und das große US-amerikanische Lehrbuch (Schatzberg u. Nemeroff 2005). Gute Einführungen in die Neurochemie bieten das Handbuch von Cooper et al. (1996) und in die Neurobiologie der Band von Herdegen et al. (1997).
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Kapitel 26 · Psychopharmakotherapie – Pharmakologische Grundlagen
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26
III Therapeutische Grundlagen 27
Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen – 627 S. Kasper, H.-J. Möller
28
Sonstige biologische Therapieverfahren (EKT, Schlafentzugsbehandlung, Lichttherapie, TMS, VNS) – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien – 669 S. Kasper
29
Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung – 691 K. Schonauer
30
Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen – 703 M. Ermann, B. Waldvogel
31
Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien – 743 M. Linden, M. Hautzinger
32
Entspannungsverfahren – 777 M. Zaudig, R. D. Trautmann-Sponsel, A. Pielsticker
33
Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien – 815 A. Retzer
34
Humanistische Psychotherapieverfahren – 841 W. Butollo, M. Krüsmann, M. Hagl
35
Soziotherapie – 871 S. Weinmann, Th. Reker, T. Becker
36
Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie C. Habermann, J. Unterberger, A. Broocks
37
Berufliche und sonstige Rehabilitationsverfahren – 911 W. Weig
38
Psychoedukation und Angehörigenarbeit – 923 R. Borbé, W. P. Hornung, G. Buchkremer
39
Versorgungsstrukturen W. Rössler
40
Integrierte Versorgung/Disease-Management W. Kissling
41
Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie – 971 H.-J. Möller
42
Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung – 985 M. Philipp, G. Laux
– 883
– 937 – 963
27 27 Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen S. Kasper, H.-J. Möller
27.1
Einleitung
– 628
27.2
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidepressiva – 630 27.2.1 Akutbehandlung mit Antidepressiva – 631 27.2.2 Langzeitbehandlung unipolar depressiver Patienten – 633 27.2.3 Weitere Indikationsgebiete – 637 27.3
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Phasenprophylaktika – 637 27.3.1 Lithium – 637 27.3.2 Antiepileptika – 637 27.4 27.4.1 27.4.2 27.4.3
Tranquilizer und Hypnotika – 638 Benzodiazepintranquilizer – 638 Benzodiazepinhypnotika – 641 Neuere Tranquilizer und Hypnotika – 642
27.5
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika – 643 27.5.1 Akutbehandlung schizophrener Psychosen – 643 27.5.2 Langzeitbehandlung schizophrener Psychosen – 653 27.6
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidementiva – 660 27.6.1 Wirksamkeit von Azetylcholinesterasehemmern – 660 27.6.2 Verträglichkeit von Azetylcholinesterasehemmern – 661 Literatur
– 663
> > Die klinisch-psychopharmakologische Forschung ist die empirische Grundlage der klinischen Psychopharmakotherapie. Während viele frühere Studien über Psychopharmaka aus heutiger Sicht mit methodischen Mängeln behaftet waren, werden an neuere Studien höhere methodische Anforderungen gestellt, z. B. in Form von plazebokontrollierten Doppelblindstudien. Nach einer Einleitung zur klinisch-empirischen Methodik werden für die einzelnen Substanzen wichtige Studien zur Wirksamkeit und Verträglichkeit exemplarisch dargestellt.
628
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
27.1
27
Einleitung
Zur Methodik klinisch-psychopharmakologischer Studien sind eine Reihe von grundlegenden Übersichtsarbeiten publiziert worden (z. B. Wittenborn 1977; Möller u. Benkert 1980; Müller-Oerlinghausen 1986; Angst et al. 1989; Möller 1992 b) über den jeweils aktuellen methodischen Standard für zulassungsrelevante Psychopharmakastudien in den diesbezüglichen Richtlinien der Zulassungsbehörden, z. B. die Guidelines der europäischen Zulassungsbehörde (CPMP 2002, 1998, 1997). Die in der klinischen Evaluation von Psychopharmaka gebräuchlichen Methoden kann man einteilen in retrospektive und prospektive, nichtexperimentelle, quasiexperimentelle und experimentelle Verfahren, die je nach Fragestellung und Verfügbarkeit des Datenzuganges angewandt werden. Um Hypothesen zu generieren, werden nichtexperimentelle Studien eingesetzt, mit dem Ziel Zusammenhänge herauszufinden, die später in prospektiven Studien experimentell geprüft werden. Prinzipiell haben prospektive Untersuchungen gegenüber retrospektiven Untersuchungen sowie experimentelle gegenüber nichtexperimentellen Verfahren eine höhere wissenschaftliche Wertigkeit, da deren Ergebnisse eine größere Garantie für unverfälschte Ergebnisse bieten. Da experimentelle Untersuchungen in der Klinik häufig stark reduktionistisch sind (z. B. Ausschluss von schweren bzw. suizidalen Depressionen) ist die Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf
die im klinischen Alltag vorhandenen Patienten erschwert (Woggon 1977; Riedel et al. 2005). Dies gilt insbesondere für plazebokontrollierte Studien. Deshalb ist es wichtig, neben den rigorosen experimentellen Studiendesigns auch andere, weniger restriktive Studien durchzuführen, um eine komplementive, besser generalisierbare Sichtweise zu bekommen. Insgesamt gibt es keinen allgemein gültigen, idealen Versuchsplan. Allenfalls gibt es für bestimmte Fragestellungen und unter bestimmten Bedingungen optimale Versuchspläne, wobei als Randbedingungen neben der eigentlichen wissenschaftlichen Fragestellung pragmatische, ökonomische, ethische und juristische Probleme zu berücksichtigen sind (Helmchen u. Müller-Oerlinghausen 1978; zur Methodik klinisch-empirischer Forschung Kap. 15). Nachfolgend wird, nach einer kurzen Darstellung der klinischen Prüfmethodik von Psychopharmaka, auf die Ergebnisse der klinischen Prüfung von verschiedenen Psychopharmakagruppen eingegangen. Dabei ist nicht das Ziel, ein umfassendes systematisches Review zu geben, sondern an exemplarisch ausgewählten Einzelstudien bzw. zusammenfassenden Analysen klinisch relevante Ergebnisse darzustellen.
Phasenmodell der klinischen Prüfung Die klinische Untersuchung von Pharmaka wird konventionsgemäß in 4 Phasen eingeteilt (⊡ Tab. 27.1). Während in Phase I an gesunden Probanden vorwiegend die Verträglichkeit einer vorher pharmakologisch und tierexperimentell untersuchten Substanz geprüft
⊡ Tab. 27.1. Phasen der klinischen Prüfung Phase I
Phase IIA
Phase IIB
Phase III
Phase IV
Stichprobe
Wenige gesunde Probanden
Begrenzte homogene Patientenstichproben
Größere homogene Patientenstichproben bei längerer Behandlungsdauer
Große heterogene Patientenstichproben
Viele tausend Patienten unter unterschiedlichen Bedingungen
Ziel
Bestimmung der pharmakologischen Wirkungen, der Verträglichkeit und des Arzneimittelstoffwechsels bei erster Gabe am Menschen
Nachweis der potenziellen therapeutischen Wirksamkeit und der Unbedenklichkeit; Festlegung des wirksamen Dosisbereichs
Nachweis der potenziellen therapeutischen Wirksamkeit und der Unbedenklichkeit. Ergänzende Daten über Arzneimittel-Stoffwechsel und pharmakologische Wirkung. Galenische Entwicklung verschiedener Darreichungsformen
Nachweis von Wirksamkeit und Sicherheit; Nachweis der Gleichwertigkeit oder Überlegenheit bezüglich Standardtherapie
Verträglichkeits-, Wirksamkeits- und Anwendungsüberprüfung unter Routinebedingungen
Methodik
Experimentelle Designs verschiedener Art
Offene bzw. einfachblinde Prüfungen
Randomisierte doppelblinde ParallelgruppenVergleichsstudien
Randomisierte doppelblinde ParallelgruppenVergleichsstudien
Unterschiedliche Designs
Untersucher
Klinische Pharmakologen
Klinische Pharmakologen und in der Arzneimittelprüfung erfahrene Ärzte
Ärzte in Kliniken und Ambulanzen
629 27.1 · Einleitung
wird, werden in den Phasen IIA und IIB der Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit an einer kleineren Patientengruppe untersucht. In Phase III wird bereits an einer größeren Patientenstichprobe versucht, die Ergebnisse der Phase II zu bestätigen. Nach Einführung eines Präparates wird in Phase IV größtenteils im Rahmen naturalistischer Anwendungsbeobachtungen die Effektivität und Tolerabilität überprüft (Linden 1989). In Phase IV werden weiterhin noch 3 Schwerpunkte der Beurteilung unterschieden (Ochsenfahrt 1983): Frühe Nachzulassungsphase in den ersten 2 Jahren, fortlaufende Anwendungsüberwachungsphase (Untersuchung von Akutwirkungen gut eingeführter Therapien), sowie Langzeitüberwachungsphase in der die Spät- und Langzeitwirkungen, wie z. B. tardive Dyskinesie untersucht werden (Helmchen et al. 1985; Grohmann et al. 1994).
Versuchsanordnungen Zum Nachweis der Wirksamkeit eines Pharmakons im zulassungsrechtlichen Sinne ist der doppelblind durchgeführte Parallelgruppenvergleich die wichtigste Methode (Nies 1990). Dabei werden die Effekte einer zu prüfenden Substanz auf die Patienten der Experimentalgruppe mit den Effekten eines Plazebos und/oder eines bereits eingeführten Pharmakons gleicher Indikation (Standardpräparat) auf die Patienten der Kontrollgruppe verglichen (randomisierte Kontrollgruppenverfahren). Die Patienten werden beiden Gruppen nach Zufallsprinzip (randomisiert) zugeordnet. Sowohl die Wirksamkeit eines Pharmakons als auch Dosierung oder Applikationsweise (peroral, intramuskulär etc.) kann dabei hinsichtlich Wirkungen und Nebenwirkungen untersucht werden. Die erforderliche Stichprobengröße wird anhand der statistischen Fallzahlberechnung festgestellt, die sowohl die erwartete Differenz bezüglich des gewählten Untersuchungsinstruments als auch die Streuung der Maßgröße in Rechnung stellt (Baumann 1974; Ferner 1977). ! Abhängig von der Fragestellung der Diagnosegruppe werden Vergleichsuntersuchungen unterschiedlich lang durchgeführt. Während z. B. bei Prüfung von Antidepressiva und Neuroleptika ein Zeitraum von 6–8 Wochen meistens ausreicht, muss für die Prüfung von Antidementiva ein deutlich längerer Zeitraum (z. B. 6 Monate) zugrunde gelegt werden.
Einflussgrößen Zahlreiche Probleme ergeben sich hinsichtlich verschiedener Einflussgrößen (Störfaktoren), die als »Zufallsfehler« in das Endergebnis eingehen. Das doppelblinde, randomisierte Kontrollgruppendesign verteilt die stichprobenbedingten Einflussgrößen nach dem Zufallsprinzip auf beide Vergleichsgruppen. Trotzdem kann es, insbe-
sondere bei kleinen Stichproben zu Verzerrungen hinsichtlich relevanter Einflussgrößen – z. B. Alter, Geschlecht, Diagnose, Erkrankungsdauer, Ausprägungsgrad der Symptomatik – kommen, die ggf. in ihrer Relevanz für das Ergebnis überprüft werden müssen. Je weniger Unterschiede in den diesbezüglichen Basisdaten zwischen den Gruppen bestehen, desto eher ist mit einem eindeutigen Ergebnis zu rechnen. Gründe für eine systematische Verfälschung der Beobachtung seitens des Beurteilers können wie folgt zusammengefasst werden (Möller 1992 b): Rosenthal-Effekt: Das Ergebnis einer Untersuchung wird durch die Erwartungshaltung des Untersuchers mitgeprägt; Halo-Effekt (Thorndike): Das Ergebnis einer Untersuchung wird durch Kenntnisse anderer Eigenschaften (z. B. anticholinerge Nebenwirkungen von Antidepressiva) bzw. durch den Gesamteindruck vom Probanden stark beeinflusst. Logischer Fehler (Newcomb): Das Ergebnis einer Untersuchung wird dadurch mitgeprägt, dass ein Untersucher nur solche Detailbeobachtungen heranzieht, die ihm im Rahmen seines vorgegebenen theoretischen und logischen Konzepts sinnvoll erscheinen. Durch das Doppelblinddesign, die Anwendung von standardisierten Beurteilungsverfahren sowie die sorgfältige Auswahl des Vergleichspräparates können Einflussgrößen und systematische Verfälschungstendenzen weitgehend reduziert werden. Die Beurteilung des Therapieerfolges sollte anhand von validierten Skalen (CIPS 2000) erfolgen. Die primären und sekundären Wirksamkeitskriterien sollten a priori festgelegt werden. Neben der Effizienzbeurteilung ist die Beurteilung der Nebenwirkungen in standardisierter Weise von großer Bedeutung. Die nosologische Diagnostik sollte auf der Basis anerkannter operationalisierter Diagnosesysteme – ICD 10, DSM IV – durchgeführt werden.
Problematik und Notwendigkeit plazebokontrollierter Studien Am aussagekräftigsten, obwohl kritisch diskutiert (z. B. Plutchnik et al. 1969; Rothman u. Michels 1994; Aspinall u. Goodwin 1995), sind plazebokontrollierte Untersuchungen (Carpenter et al. 1997; Laporte u. Figueras 1994). Sie werden von den Zulassungsbehörden für die Psychopharmaka u. a. in den Indikationsgebieten Depression, Angststörungen, Schizophrenien und Demenz gefordert. Selbstverständlich sind die dabei notwendigen ethischen Standards zu beachten (Baldwin et al. 2003; Adam et al. 2005; Schön u. Möller 2006) – nur dann sind sie als ethisch vertretbar anzusehen. Zu den ethischen Standards bei der Durchführung plazebokontrollierter Studien gehören besondere Anforderungen hinsichtlich der Patientenselektion (z. B. Ausschluss suizidaler Patienten), eine spezielle Regelung bei Nichtansprechen (d. h. A-priori-Definition,
27
630
27
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
wann Patienten aus den Studien zu nehmen sind), eine bedarfsgerechte Regelung der Komedikation, sowie eine gute Gesamtbetreuung durch ein »studienerfahrenes« Team. Die Problematik plazebokontrollierter Studien wird gerade in der deutschen Psychiatrie intensiv diskutiert, mit z. T. unterschiedlichen Positionen hinsichtlich der ethischen Rechtfertigung (Helmchen 2005; Fritze u. Möller 2001; Baldwin et al. 2003). Auf die Details dieser kritischen Diskussion kann hier nicht eingegangen werden. Die eindeutige Position wichtiger Zulassungsbehörden, wie der amerikanischen (FDA) und der europäischen (EMEA), die plazebokontrollierte Studien fordern, basiert im Wesentlichen darauf, dass nur plazebokontrollierte Studien in den meisten psychiatrischen Indikationsgebieten, eine ausreichend sichere Aussage über die Wirksamkeit eines Psychopharmakons mit einer möglichst geringen Zahl von Patienten, die der Prüfsubstanz ausgesetzt werden, zulässt, da angesichts der hohen Plazeboresponse und einer Reihe sonstiger Besonderheiten klinisch-psychopharmakologischer Prüfungen nur bei diesem Vorgehen weitgehend Fehlschlüsse vermieden werden können. Die allgemeine Prüfung gegen Standardpräparate ist demgegenüber erheblich fehleranfälliger und führt häufig zu einer Überschätzung der Wirksamkeit der Prüfsubstanz. Wichtig ist aber – was von der europäischen Zulassungsbehörde nahe gelegt wird – die Prüfsubstanz möglichst nicht nur gegen Plazebo, sondern auch gegen Standardpräparate des jeweiligen Indikationsgebietes zu untersuchen. Die Plazeboforschung, d. h. welche Patienten unter welcher Bedingung auf Plazebo ansprechen ist in diesem Zusammenhang eine interessante Forschungsrichtung (Brown et al. 1992; Quitkin et al. 1991; Lavin 1991; Walsh et al. 2002; Klosterhalfen u. Enck 2005; Miller u. Rosenstein 2006).
Statistische Auswertung Die statistische Auswertung klinisch-psychopharmakologischer Studien erfolgt nach modernen statistischen Standards. Bei der statistischen Auswertung werden verschieden definierte Stichproben untersucht: »Intent-to-treat-Stichprobe« (»last observation carried forward«-, LOCF-Methode): Alle Patienten, die in die Studie eingeschlossen wurden, einmal »beurteilt« TZA MAOH
1957
SSRI
1980
Imipramin Amitriptylin Tranylcypromin
Die Observed-case-Methode gibt Auskunft darüber, wie gut das Ansprechen prinzipiell möglich ist, wenn ein Patient durchgehend die Medikation eingenommen hat. Diese Analyse führt zur Überschätzung der Wirksamkeit. Bei der statistischen Analyse ist zwischen a priori festgelegten Analysen hinsichtlich der Wirksamkeits- und Verträglichkeitsparameter und ex post durchgeführten Analysen zu unterscheiden. Die höhere Wertigkeit haben die a priori festgelegten Analysen. Die Intent-to-treat-Stichprobe ist diesbezüglich kritischer und stellt deshalb aus Sicht der Zulassungsbehörden die wichtigere Methode dar.
27.2
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidepressiva
Der Terminus Antidepressivum wurde in den 1950er Jahren eingeführt, nachdem gezeigt werden konnte, dass durch Imipramin die Zeichen einer mittleren bis schweren Depression behandelt werden konnten, ohne dass diese Substanz als Psychostimulans wirkte. Für die Entwicklung der Antidepressiva der ersten Generation wurde entweder die chemische Struktur von Imipramin (trizyklische Struktur) als Grundlage genommen oder der Wirkmechanismus einer Monoaminoxidase-(MAO-) Hemmung. Die Entwicklung neuerer Antidepressiva wurde hingegen vorwiegend aufgrund des Wirkmechanismus (z. B. selektiver Serotoninwiederaufnahmehemmer/SSRI) durchgeführt. In ⊡ Abb. 27.1 sind die verschiedenen Antidepressiva(Klassen) nach ihrer Einführung aufgelistet. Dabei zeigt sich, dass in den letzten 20 Jahren eine rasante Weiterentwicklung der Antidepressiva stattgefunden hat.
SSNRI NaSSA SNRI
HYP RIMA
1990
wurden und einmal eine aktive Medikation bekamen, werden ausgewertet. Der jeweils letzte Wert wird in die weiteren Beurteilungszeitpunkte übernommen. »Observed-case-Stichprobe«: Alle Patienten, die zu den jeweils zu beurteilenden Zeiträumen in der Untersuchung waren und die Medikation während dieses Zeitraums eingenommen haben. Die mit dieser Methode analysierte Fallzahl ist geringer als die der Intent-to-treat-Stichprobe.
1995 Fluvoxamin Moclobemid
⊡ Abb. 27.1. Zeitliche Entwicklung der Antidepressiva. TZA trizyklische Antidepressiva, MAOH Monoamin-Oxidase-Hemmer, SSRI selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, HYP Hyperikum-Extrakte, RIMA reversible Hemmer der Monoamin-Oxidase-A, SSNRI selektive
SNDRI
2000 Venlafaxin Mirtazapin
2005 Reboxetin Escitalopram Duloxetin
2007 Bupropion
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. NaSSA Noradrenalin-Serotonin-spezifische Antidepressiva, SNRI selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, SNDRI selektive Noradrenalin-DopaminWiederaufnahmehemmer
631 27.2 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidepressiva
Akutbehandlung mit Antidepressiva HAM-D Gesamtscore
27.2.1
Die Einführung standardisierter Klassifikationssysteme, wie das DSM bzw. ICD und reliabler Ratingskalen, wie die Hamilton-Depressionsskala (HAM-D) bzw. die Montgomery-Asberg-Ratingskala (MADRS), hat zur Qualitätssteigerung der antidepressiven Studien entscheidend beigetragen. Diese Beurteilungsinstrumente ermöglichen es, auch die Schwere der Depression sowie verschiedene Untertypen, d. h. mit oder ohne Angst, mit oder ohne Zwangssymptome, mit oder ohne psychotische Merkmale, bzw. Patienten mit einer bipolaren Erkrankung zu klassifizieren. Während bei Studien mit älteren Antidepressiva bipolare Patienten mit eingeschlossen wurden, ist dies bei Untersuchungen mit neueren Antidepressiva nicht mehr geschehen. Bei Einführung der Antidepressiva in den 1950er Jahren stand als Vergleichsuntersuchung lediglich die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) zur Verfügung, während für die neueren Antidepressiva jeweils Trizyklika und nun bereits SSRI als Referenzsubstanzen verwendet werden. Die gleichzeitige Mitführung einer Plazebogruppe wurde bereits frühzeitig in die Untersuchungsanordnungen mit aufgenommen und gehört auch heute noch zur Standarduntersuchungstechnik.
durchgeführt wurden, fanden erstmals durch Porter (1970) auch Studien in der Allgemeinpraxis statt. In dieser Studie konnte gezeigt werden, dass Imipramin eine Response-Rate von 64% aufwies, während Plazebo eine von 58%. Dieser Unterschied war statistisch nicht signifikant und wies erstmals darauf hin, dass eine hohe Plazeboresponserate in der Allgemeinpraxis gefunden wird.
Trizyklika
Vergleich verschiedener Trizyklika. Innerhalb der Trizyk-
Die ersten Vergleichsstudien der Trizyklika wurden gegenüber EKT sowie MAO-Hemmern durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass EKT Imipramin überlegen war, während Imipramin sich als signifikant besser als Plazebo auswies (MRC 1965). Der Vergleich von Trizyklika (meist Imipramin, später gefolgt von Amitriptylin) ergab einen signifikanten Unterschied im Vergleich zur Plazebomedikation. Eine elegante Untersuchung wurde von Frank et al. (1990) durchgeführt, in welcher gezeigt wurde, dass die Dosierung, die in der Akutbehandlung eingesetzt wurde, auch in der Erhaltungs- und prophylaktischen Therapie Verwendung finden sollte. In ⊡ Abb. 27.2 ist eine Summe der plazebokontrollierten Untersuchungen mit trizyklischen Antidepressiva (TZA) aufgeführt. Daraus geht hervor, dass nach 5-wöchiger Behandlung mit Antidepressiva der Unterschied zwischen Trizyklika und Plazebo mindestens 5 Punkte auf dem Gesamtscore der HAM-D ausmacht, was nicht nur als statistisch signifikant, sondern auch als klinisch relevant angesehen wird (Bech 1978).
lika fanden Vergleichsuntersuchungen zwischen z. B. Amitriptylin und Imipramin statt. Während Amitriptylin als sedativ-anxiolytisches Antidepressivum angesehen wurde, wurde Imipramin als aktivierendes Antidepressivum charakterisiert (Hordern et al. 1965).
Studien in Allgemeinpraxen. Während die ersten Unter-
suchungen an Populationen psychiatrischer Kliniken
⊡ Abb. 27.2. Summe der plazebokontrollierten Untersuchungen mit trizyklischen Antidepressiva (TZA). Nach 5-wöchiger Behandlung mit Antidepressiva ist der Unterschied zwischen Trizyklika und Plazebo 5 Punkte am Gesamtscore der Hamilton-Skala für Depression (HAMD). Dies wird nicht nur als statistisch signifikant, sondern auch als klinisch relevant angesehen. (Bech 1978)
Nebenwirkungen. Obwohl die TZA als große Bereiche-
rung für die klinische Praxis galten, zeigte sich bereits frühzeitig, dass sie mit einer großen Inzidenz unerwünschter Wirkungen (UAW) mit Absetzkonsequenz verbunden sind (⊡ Tab. 27.2). Vorwiegend die anticholinergen Nebenwirkungen (Mundtrockenheit, Obstipation, kardiovaskuläre Nebenwirkungen auf das Herzreizleitungssystem, Probleme bei Prostatahypertrophie und Glaukom), α -adrenolytischen Nebenwirkungen (Orthostase), 1 sowie antihistaminergen Nebenwirkungen (Gewichtszunahme, Sedierung) haben den Gebrauch der TZA über die Akutbehandlung hinaus häufig limitiert. Dadurch war es auch nur schwer möglich, die Patienten zu überzeugen, dass sie die Medikation über die Akutphase hinaus weiter einnehmen sollten.
27
632
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
⊡ Tab. 27.2. Geschätzte Inzidenz unerwünschter Wirkungen (UAW) mit Absetzkonsequenz pro 106 Verschreibungen (CSM/1985) der älteren Antidepressiva. (Aus Fritze u. Laux 1993) Medikament
27
Einführungsjahr
UAW total
UAW letal
Imipramin
1959
15–20
1–2
Amitriptylin
1961
10–15
<1
Nortriptylin
1963
20–30
1–2
Trimipramin
1966
10–15
<1
Dothiepin (Dosulepin)
1969
20–30
<1
Doxepin
1969
20–30
<1
Clomipramin
1970
Maprotilin
1975
400
<1
Mianserin
1976
200
2–3
Nomifensina
1977
500
7
a
60–80
Zurückgezogen.
⊡ Abb. 27.3a,b. Häufigkeit der Nebenwirkungen, die zumindest einmal unter der Behandlung mit Citalopram (CIT) oder trizyklischen Antidepressiva (TZA) im Rahmen des Citalopram-Entwicklungsprogramms berichtet wurden. (Daten der Firma Lundbeck, unpubliziert)
a
b
5
Selektive Serotoninbzw. Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Mit Einführung der neueren Antidepressiva in den 1980er Jahren wurden auch die randomisierten, kontrollierten Untersuchungen in deren Methodologie deutlich verbessert. Dies beinhaltete die Einhaltung von Diagnosekriterien nach DSM-III bzw. ICD-10 und der Hamilton-Depressionsskala (HAM-D) bzw. Montgomery-Asberg-Ratingskala (MADRS) in über 90% der Untersuchungen. Diese standardisierte Methodologie machte es auch möglich Metaanalysen durchzuführen mit den dabei verbundenen spezifischen Problemen. Eine der Metaanalysen, die von Anderson u. Tomenson (1994) durchgeführt wurde, ergab, dass die SSRI insgesamt in ihrer Wirkung den älteren TZA vergleichbar waren, dass sie jedoch eine signifikant bessere Tolerabilität aufweisen. Aus ⊡ Abb. 27.3a,b kann man entnehmen, dass eines der SSRI, Citalopram, serotoninspezifische Nebenwirkungen gegenüber Plazebo, wie Nausea, vermehrtes Schwitzen, sowie Tremor aufweist. Hingegen treten bei
633 27.2 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidepressiva
über 10 Parametern signifikant bessere Ergebnisse hinsichtlich der Tolerabilität als bei TZA auf. Ähnliche Daten wurden auch für Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin gefunden. Schon früh zeigte sich, dass die unter SSRI auftretenden Nebenwirkungen lediglich am Anfang der Behandlung vorkommen und im Behandlungsverlauf, im Gegensatz zu Trizyklika, nicht mehr von Plazebo zu unterscheiden sind ⊡ Abb. 27.4). Noradrenalinwiederaufnahmehemmer. Inzwischen wur-
de erstmals ein selektiver Hemmer der Noradrenalinwiederaufnahme, Reboxetin, eingeführt, der zusätzlich das Spektrum der Behandlungsmöglichkeiten bereichert. In ersten Studien konnte gezeigt werden, dass diese Medikation nicht nur eine antidepressive Effektivität entfaltet, sondern auch spezifisch auf den Antrieb wirkt, was sich in einer besseren sozialen Funktion niederschlägt (⊡ Abb. 27.5).
und Milnacipran der Medikation von Fluoxetin bzw. Fluvoxamin in der Effektivität signifikant überlegen waren. Hinsichtlich der Nebenwirkungen ergibt sich ein spezifisches rezeptorabhängiges Profil. ⊡ Abb. 27.6 zeigt, dass Mirtazapin in verschiedenen Parametern von Plazebo unterschieden werden kann. Dabei ist z. B. die Sedierung als ein Effekt/Nebeneffekt von Mirtazapin, sowie die Reduzierung von Kopfschmerz unter Mirtazapin hervorzuheben. SSRI-typische Nebenwirkungen wie Nausea, Kopfschmerz oder verminderte Libido treten bei dieser Medikation nicht auf. Während unter Trizyklika die anfangs auftretenden Nebenwirkungen im Verlauf der Untersuchung weiter fortbestehen, konnte in der Untersuchung von Reimherr et al. (1988) dargestellt werden, dass die SSRI-spezifischen Nebenwirkungen ab der 3. bzw. 4. Woche von der Plazebomedikation nicht mehr zu unterscheiden sind.
Langzeitbehandlung unipolar depressiver Patienten
Antidepressiva mit dualem Wirkmechanismus
27.2.2
Unter diese Kategorie fallen sowohl die Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer, wie z. B. Venlafaxin, Duloxetin und Milnacipran, als auch das Noradrenalin-Serotonin-spezifische Antidepressivum Mirtazapin und Nefazodon als ein dual-serotonerges Antidepressivum. Generell konnte gefunden werden, dass Medikamente dieser Gruppe den älteren trizyklischen Antidepressiva in der Effektivität gleichzusetzen sind. Zu Mirtazapin liegen Untersuchungen bei schweren depressiven Erkrankungen vor, die z. B. eine vergleichbare Effektivität wie Clomipramin aufweisen (Richou et al. 1995). Bei den wenigen bis jetzt verfügbaren Vergleichsuntersuchungen zwischen Antidepressiva mit einem dualen Wirkmechanismus und SSRIs zeigte sich, dass Mirtazapin, Venlafaxin, Duloxetin
Ein Großteil depressiver Erkrankungen neigt zu Rezidiven, die deutliche Einschränkungen der Leistungsfähigkeit und Lebensqualität der Patienten mit sich bringen. Die Ergebnisse von kontrollierten klinischen Untersuchungen weisen darauf hin, dass im Anschluss an eine akute Phase einer Depression für den Zeitraum von 4–6 Monaten eine Erhaltungstherapie (»continuation therapy«) durchgeführt werden sollte, um sicher zu stellen, dass kein Rückfall auftritt. Bei Patienten, bei denen bereits mehrere Phasen aufgetreten sind, bzw. bei älteren Patienten, sollte eine prophylaktische Therapie (»maintenance therapy«) über den Zeitraum von mehreren Jahren durchgeführt werden.
⊡ Abb. 27.4. Nebenwirkungen bei einer plazebokontrollierten Vergleichsuntersuchung zwischen Sertralin und Amitriptylin. (Reimherr et al. 1988)
⊡ Abb. 27.5. Soziale Funktion unter Reboxetin. (Aus Dubini et al. 1997; Kasper 1999)
27
634
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
⊡ Abb. 27.6. Tolerabilität von Mirtazapin im Vergleich zu Plazebo. Gezeigt werden der prozentuelle Anteil der Patienten, der entweder unter Mirtazapin oder Plazebo Nebenwirkungen aufweist, sowie der Differenzwert von Plazebo und Mirtazapin. (Daten aus Montgomery 1995) *p<0,05
27 Langzeitverlauf und Studiendesign In ⊡ Abb. 27.7 findet sich eine schematisierte Darstellung des Langzeitverlaufs einer depressiven Erkrankung, die als Modell für verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen dient. Man kann demnach sog. »continuation studies« unterscheiden, bei denen im Anschluss an die Akuttherapie, die entweder durch ein Plazebo oder eine aktive Substanz kontrolliert ist, eine Fortführung unter Doppelblindbedingungen über den Zeitraum von 6 Monaten im Sinne einer Erhaltungstherapie durchgeführt wird. Dadurch kann eine Aussage über die ersten 6 Monate nach Abklingen der Akutphase im Sinne einer Erhaltungstherapie gemacht werden. Von den europäischen Zulassungsbehörden wird dies als Standard einer Langzeittherapie angesehen. Darüber hinaus ist jedoch wünschenswert, dass die Substanz auch mindestens über den Zeitraum eines Jahres geprüft wird, so dass man häufig eine Untersuchungsanordnung vorfindet, bei der zunächst eine offen geführte Akuttherapie und Erhaltungstherapie durchgeführt wird. Dann werden die Patienten, die auf diese Therapie anspre⊡ Abb. 27.7. Schematisierte Darstellung des Langzeitverlaufs einer depressiven Erkrankung. (Nach Kupfer 1991; Übertragung ins Deutsche durch Kasper et al. 1994. Nähere Beschreibung s. Text)
chen, nach dem Ablauf von 6 Monaten unter Doppelblindbedingungen auf die zu untersuchende Substanz bzw. Plazebo randomisiert. Dadurch ist das Ausmaß des Wiederauftretens einer depressiven Erkrankung feststellbar.
Interpretation von Langzeitstudien Länge der Krankheitsphase. Bei der Interpretation von
Langzeitstudien sind verschiedene methodologische Probleme von Bedeutung. Eines davon ist es, das Ende einer Krankheitsphase zu bestimmen. Für Langzeitstudien ist das insofern von Wichtigkeit, da festgelegt werden sollte, ob es sich bei dem Wiederauftreten von Symptomen bzw. einem Syndrom um eine neue Episode handelt oder nur um die Manifestation von Symptomen im Rahmen der gleichen Indexepisode, die ursprünglich behandelt wurde. ! In den europäischen Richtlinien für die Arzneimittelbehandlung wurde festgelegt, dass neue Antidepressiva neben dem Nachweis der Wirkung auf die akute Phase auch eine Wirksamkeit für die Phase der Erhaltungstherapie und der prophylaktischen Therapie erkennen lassen sollen.
635 27.2 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidepressiva
Symptomfreies Intervall. Das für die Beurteilung des Wie-
derauftretens einer depressiven Phase notwendige symptomfreie Intervall nach der akuten Phase der Erkrankung wurde bei einigen Studien unipolar depressiver Patienten entweder nicht definiert, oder es variiert erheblich, so dass die Studien dadurch untereinander schwer vergleichbar sind. Die Notwendigkeit eines symptomfreien Intervalls ergibt sich insbesondere für plazebokontrollierte Studien, da bei der Plazebogruppe hohe Abbruchraten auftreten, die natürlich um so größer sind, wenn bereits während der Phase der Erhaltungstherapie auf eine Plazebomedikation umgestellt wird. Dies führt letztlich dazu, dass die Fallzahl in der Plazebogruppe im Vergleich zur Verumgruppe zu klein wird, um die Frage der differenziellen Wiederauftretenswahrscheinlichkeit (»recurrence«) beantworten zu können. Zeitdauer der Erhaltungstherapie. Um eine Studie zur
prophylaktischen Therapie adäquat beurteilen zu können, ist man übereingekommen, als Zeitdauer für die Erhaltungstherapie 4–6 Monate anzusetzen. Es wäre wahrscheinlich eine sinnvolle Ergänzung, wenn man dieser Zeitvariablen auch eine psychobiologische Variable zur Seite stellen würde, die die psychobiologische Vulnerabilität genauer charakterisieren würde. Obwohl jedoch verschiedene diesbezügliche Anstrengungen unternommen wurden, gibt es z. Z. noch keine zuverlässigen psychobiologischen Variablen, die eine kriteriologische Aufnahme rechtfertigen würden. Stichprobengröße und Studiendauer. Ein weiteres Pro-
blem bei der Beurteilung von Langzeitstudien depressiver
⊡ Abb. 27.8. Rückfallraten am Ende der 3-Jahres-Studie von Frank et al. (1990). In einem 5-armigen kontrollierten Design wurden folgende Therapien verabreicht: 1. Imipramin und unstrukturierte Gespräche. 2. Imipramin und interpersonelle Psychotherapie (IPT). 3. Plazebomedikation und IPT. 4. IPT. 5. Plazebomedikation und unstrukturierte Gespräche
Erkrankungen ist, dass z. T. nur eine geringe Anzahl von Patienten in den Studien untersucht wurde bzw. eine Selektion im Rekrutierungsprozess stattfand. Studien mit kleinen Fallzahlen können mit dem Risiko eines β-Fehlers (Typ-II-Fehler) verbunden sein, und man kann daher aus diesen Studien nicht mit Sicherheit eine Aussage über die Effektivität der Antidepressiva im Vergleich zu Plazebo machen. Ein weiteres methodologisches Problem stellt die Dauer der Studien dar. Ein Großteil der Studien wurde lediglich über den Zeitraum von maximal einem Jahr durchgeführt. Da depressive Phasen jedoch häufig erst in längeren Abständen wiederkehren, sollte als minimale Zeitdauer dieser Studien der Zeitraum von 2 Jahren gelten.
Ergebnisse der Langzeitstudien ! Trotz der methodologischen Einschränkungen kann man jedoch davon ausgehen, dass die Therapie mit Antidepressiva und/oder Lithium der Plazebobehandlung bei einem Großteil der Patienten signifikant überlegen ist. Es besteht daher in der Literatur eine weitgehende Übereinstimmung, dass mit Hilfe dieser Medikamente neue Episoden depressiver oder manischer Erkrankungen wirkungsvoll verhindert werden können. Pharmako- vs. Psychotherapie. In ⊡ Abb. 27.8 ist die klas-
sische, von Frank et al. (1990) publizierte 3-Jahres-Studie dargestellt, bei der in einem 5-armigen kontrollierten Design sowohl die medikamentöse, als auch die psychotherapeutische und die Plazebobehandlung verglichen wur-
27
636
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
de. Es zeigte sich dabei eindeutig, dass die medikamentöse Behandlung mit Imipramin der Plazebobehandlung und auch der Psychotherapie signifikant überlegen war. Einfluss der Dosierung. In ⊡ Abb. 27.9 ist der Verlauf von
27
2 Studien, bei denen ein vergleichbares Design, jedoch mit unterschiedlichen Dosierungen von Imipramin, verwendet wurde, dargestellt. Man kann daraus entnehmen, dass die Rückfallrate bei höheren (d. h. therapeutischen) Dosierungen von Imipramin geringer als bei den niedrigeren Dosierungen war. Dieses Ergebnis wurde auch von anderen Arbeitsgruppen, bei denen andere Substanzen verwendet wurden, bestätigt. Man kann aus den vorliegenden Daten daher ableiten, dass auch für die Langzeitbehandlung die gleiche Dosierung verwendet werden sollte, mit der die Remission erzielt wurde. Dies war bei den älteren Antidepressiva, den sog. TZA, nicht immer einfach, weil die dabei auftretenden Nebenwirkungen für die Langzeittherapie intolerabel waren. Mit den neuen Antidepressiva ist dies jedoch kein Problem mehr. Studien mit SSRIs. Unter den neueren Antidepressiva wurden die SSRIs ausführlich untersucht. Wie in ⊡ Abb. 27.10 dargestellt, ergab sich für sämtliche der z. Z. im Handel verfügbaren Antidepressiva eine signifikante Überlegenheit von Verum- über die Plazebomedikation. Auch für Escitalopram, Duloxetin, Mirtazapin, Milnacipran, Venlafaxin sowie Reboxetin wurden vergleichbare Daten publiziert bzw. Ergebnisse auf internationalen Kongressen vorgetragen.
⊡ Abb. 27.9. Kumulativer Prozentsatz der Patienten, die keinen Rückfall bzw. kein Wiederauftreten einer Krankheitsphase erlebt haben. Gemeinsame Darstellung von 2 plazebokontrollierten Studien, die ein vergleichbares Design, aber unterschiedliche Dosierungen verwendet haben. Daten der Studie von Prien et al. (1984; n = 150) und Frank et al. (1990, n = 128). : Imipramin, Frank et al. (1990); : Plazebo, Frank et al. (1990); : Imipramin, Prien et al. (1984); : Plazebo, Prien et al. (1984)
9
38%
27%
Plazebo Escitalopram
(1988)
⊡ Abb. 27.10. Rückfall-/Wiedererkrankungsraten von plazebokontrollierten Studien, in denen verschiedene SSRI mit Plazebo verglichen wurden. Alle Studien wurden über die Dauer von 12 Monaten durchgeführt, außer der Studie mit Citalopram (6 Monate) sowie Escitalopram (9 Monate). Dadurch erklärt sich auch die geringere Plazebo-
Rapaport et al. (2004) rückfallrate von 31% in der Citalopram- bzw. Escitalopramstudie. Die durchschnittlichen Rückfallraten der einjährigen Behandlungsdauer liegen unter Plazebo bei 45% und unter der aktiven Behandlung mit SSRI bei 16%
637 27.3 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Phasenprophylaktika
27.2.3
Weitere Indikationsgebiete
Bereits früh zeigte sich, dass Antidepressiva nicht nur unter der Indikation »Depression« verwendet werden können. Eine Anwendung bei Angsterkrankungen, Zwangserkrankung, Essstörung sowie Suchterkrankungen wurde ausführlich untersucht. Insbesondere für die Gruppe der SSRI konnte gezeigt werden, dass sie einen günstigen therapeutischen Effekt bei Angsterkrankungen, Panikstörung, sozialer Phobie, posttraumatischen Stresserkrankungen und Zwangserkrankung entfalten. Einige der SSRI haben für diese Bereiche bereits von den entsprechenden Zulassungsbehörden eine Indikation erhalten. Auch für diese weiteren Indikationsgebiete war das Vorliegen von diagnostischen Kriterien sowie standardisierten Untersuchungsinstrumenten von vorrangiger Bedeutung.
27.3
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Phasenprophylaktika
Während ursprünglich lediglich Lithium zur Verfügung stand, wurden inzwischen Carbamazepin, Lamotrigin und Valproinsäure zur Behandlung bipolarer Erkrankungen zugelassen. Weitere Kandidaten sind z. Z. in Abklärung wie z. B. Topiramat bzw. Gabapentin.
27.3.1
Lithium
Nahezu alle der plazebokontrollierten Studien zur Langzeitbehandlung von bipolaren Erkrankungen mit Lithium zeigen eine signifikante Überlegenheit von Lithium gegenüber Plazebo. Da ein Großteil dieser Studien in Lithiumambulanzen durchgeführt wurde, fehlen meist die Angaben über das symptomfreie Intervall. Aufgrund der geschilderten Methodologie in diesen Studien kann man jedoch davon ausgehen, dass sich die Patienten bereits über einen längeren Zeitraum in einem euthymen Zustand befunden haben, so dass diese Studien am ehesten als sog. »Recurrence-Studien« zu werten sind. Die Dauer der Studien variierte zwischen 5 Monaten und 2 1/2 Jahren, und die Anzahl der in diese Studien eingeschlossenen Patienten zeigt ebenso eine große Streubreite auf. Dadurch ist es schwierig, die Ergebnisse der einzelnen Studien untereinander zu vergleichen. Wenn man die Ergebnisse der Studien jedoch zusammenfasst, kann man trotz dieser methodischen Einschränkung daraus schlussfolgern, dass Lithium bei bipolaren Erkrankungen als ein effektives Medikament angesehen werden kann, um sowohl manische als auch depressive Episoden zu verhüten. ⊡ Abb. 27.11 zeigt, dass die Wiederauftretensraten von depressiven bzw. manischen Erkrankungen inner-
halb eines Jahres unter einer Behandlung mit Lithium bei 20% lagen, während diese Zahl für Plazebo bei 73% lag. Bei unipolar depressiven Erkrankungen ist dieser Unterschied nicht gegeben.
27.3.2
Antiepileptika
! Etwa ein Drittel der Patienten mit einer bipolaren Störung spricht nicht adäquat auf eine Langzeitbehandlung mit Lithium an. Als Alternativen stehen z. Z. Carbamazepin und Valproinsäure zur Verfügung. Gegenstand der Untersuchung sind weitere Antiepileptika, wie Lamotrigin, Topiramat sowie Gabapentin. Es liegt keine differenzierte Indikation für Carbamazepin bzw. Valproinsäure vor, bei der die Medikamente untereinander im Vergleich zu Lithium untersucht wurden. Aus den verschiedenen Studien kann man jedoch entnehmen, dass Antiepileptika in einem späteren Stadium der Erkrankung, wahrscheinlich unter Heranziehung der »Kindling-Hypothese« als Erklärungsmodell eine günstigere therapeutische Effektivität entfalten. In einer deutschsprachigen Studie (MAP) wurde herausgefunden, dass Carbamazepin eine günstigere therapeutische Effektivität bei schizoaffektiven Psychosen entfaltet und dass unter einer Therapie mit Lithium, im Vergleich zu Carbamazepin geringere Suizidraten gefunden werden können (Greil et al. 1996). Während die neueren Studien zur Valproinsäure methodisch klarer durchgeführt wurden, sind die Carbamazepinstudien nur unter Einschränkung beurteilbar, da ein Großteil der in diese Studien eingeschlossenen Patienten
⊡ Abb. 27.11. Ergebnisse nach einem Jahr bei Patienten mit unipolarer (UP) oder bipolarer (BP) Depression, die mit Lithium oder trizyklischen Antidepressiva behandelt wurden. (Daten aus Goodwin u. Jamison 1990)
27
638
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
Carbamazepin zusätzlich zu Lithium oder anderen Behandlungsstrategien erhalten hat, so dass eine endgültige Stellungnahme zur Monotherapie nicht möglich ist. Um die Effektivität von Carbamazepin abschließend beurteilen zu können, sind weitere Langzeitstudien notwendig (zur Übersicht: Kasper et al. 1999).
Neuere Antiepileptika
27
Die Weiterentwicklung von neueren Medikamenten aus der Gruppe der Antiepileptika war insofern von Wichtigkeit, da sowohl bei Carbamazepin als auch bei Valproinsäure Nebenwirkungen auftreten, die zu einer Verringerung der Compliance führen, wie z. B. Gewichtszunahme. Darüber hinaus sind auch pharmakologische Gesichtspunkte als therapielimitierende Faktoren zu beachten, wie z. B. die Enzyminduktion unter Carbamazepin bzw. eine Abbauhemmung von Psychopharmaka unter Valproingabe. Die neueren Antiepileptika, wie z. B. Lamotrigin bzw. Topiramat zeigen hinsichtlich der Tolerabilität bessere Ergebnisse und führen dazu, dass die Compliance der Patienten erhöht wird.
27.4
Tranquilizer und Hypnotika
Unter einem Tranquilizer versteht man eine Substanz, die spezifische anxiolytische, d. h. angst- und spannungslösende Wirkungen, sowohl auf psychischer als auch auf vegetativer Ebene zeigt, aber keine oder nur geringe sedierende Eigenschaften hat. Hypnotika werden dagegen zur Erzeugung von Schläfrigkeit und zur Induktion von Schlaf herangezogen. Durch die Entwicklung spezifischer Tranquilizer ist der frühere Begriff »Sedativa« stark in den Hintergrund getreten. Wenn er angewandt wird, meint man dabei häufig eine Tagessedation bzw. eine Anxiolyse. Die Vorläufer der Tranquilizer und Hypnotika waren Bromide und Barbiturate, bis 1961 im Rahmen einer routinemäßigen Screeningprozedur als zufälliges Synthese⊡ Abb. 27.12. Schematische Darstellung des tranquilisierenden bzw. sedativ-hypnotischen Wirkprofils verschiedener anxiolytisch wirksamer Substanzen
Bewusstseinsverlust
produkt das Chlordiazepoxid und damit die Gruppe der Benzodiazepine entdeckt wurde. 1963 wurde Diazepam eingeführt. Das sedativ-hypnotische bzw. tranquilisierende Wirkprofil verschiedener anxiolytisch wirksamer Substanzen ist in ⊡ Abb. 27.12 dargestellt. Während für die älteren Anxiolytika/Sedativa keine kontrollierten Untersuchungen vorliegen, wurden für die Benzodiazepine, insbesondere für die Indikation Angststörung, aber auch für Hypnotika kontrollierte klinische Studien durchgeführt. Die neueren Tranquilizer und Hypnotika wurden ebenfalls nach neuen psychopharmakologischen Untersuchungsdesigns beforscht.
27.4.1
Benzodiazepintranquilizer
Benzodiazepintranquilizer zählen weltweit zu den am häufigsten verordneten Medikamenten, die in nahezu allen Disziplinen der Medizin Anwendung finden. Die therapeutischen Anwendungen der Benzodiazepine sind in einer Übersicht zusammengefasst worden (Laux 1995). In den vergangenen 10–15 Jahren hat sich insbesondere in Deutschland die Zahl der Benzodiazepin-/Tranquilizerverordnungen deutlich verringert, da zum einen eine intensive Aufklärungskampagne hinsichtlich des Abhängigkeitspotenzials dieser Substanzklasse erfolgte und da sich alternative Behandlungsstrategien, wie z. B. moderne antidepressive Verfahren, etablierten. Durch Einführung der operationalisierten Diagnostik psychischer Erkrankungen in den 1980er Jahren war erstmals eine differenzierte Beurteilung der Wirksamkeit der Benzodiazepine bei verschiedenen definierten Krankheitsbildern, parallel zu der Entwicklung bei Depressionen, möglich.
Angsterkrankungen Etwa ein Viertel der Patienten, die an einer generalisierten Angsterkrankung leiden, werden medikamentös behan-
27
639 27.4 · Tranquilizer und Hypnotika
delt, wobei etwa 15% Benzodiazepine kontinuierlich länger als ein Jahr einnehmen (Mellinger et al. 1984). In zahlreichen kontrollierten Studien konnte eindrucksvoll gezeigt werden, dass Benzodiazepine in ihrer angstlösenden Wirkung Plazebos signifikant überlegen sind (zur Übersicht: Hollister et al. 1993). Wie auch sonst in der Psychopharmakologie sind die älteren Studien unter methodologischen Ansprüchen problematisch, da Patientenselektion, Diagnostik und Klassifikation ungenügend operationalisiert wurden. Aber auch wenn man nach heutigen Gesichtspunkten diese Studien erneut betrachtet und Faktoren, wie »Spontanremission«, unspezifische Therapieeffekte oder Umgebungsfaktoren berücksichtigt, muss die Wirkung der Benzodiazepine uneingeschränkt anerkannt werden. In Vergleichsstudien gegenüber anderen anxiolytisch wirksamen Substanzen, wie Antidepressiva, β-Blocker und Neuroleptika, fand sich meist eine überlegene Wirkung der Benzodiazepine. Im Vergleich zu den zuletzt genannten Studien setzt die anxiolytische Wirkung charakteristisch früh ein, wobei ein Wirkungseintritt in der ersten Behandlungswoche als Prädiktor für das Ansprechen nach einer 6-wöchigen Behandlung angesehen werden kann (Downing u. Rickels 1985). Unterschiede zwischen den einzelnen Benzodiazepinen wurden nicht dargestellt, wobei meist Diazepam als Standardreferenzsubstanz gewählt wurde.
Therapeutische Anwendungen der Benzodiazepine
Angststörungen Schlafstörungen Somatoforme Störungen Affektive Störungen Depression Manie Psychosen Zerebrale Krampfanfälle, Epilepsie Unwillkürliche Bewegungsstörungen Spastik, Muskelspasmen Entzugsbehandlung Prämedikation
Panikstörung Für die Indikation Panikstörung wurde insbesondere Alprazolam ausführlich untersucht. Dabei zeigte sich im Vergleich zu Imipramin ein rascherer Wirkungseintritt (z. B. Cross-National Collaborative Panic Study 1992). Interessanterweise haben Patienten, die bereits eine Vorerfahrung mit Benzodiazepinen aufwiesen, eine schlechtere Response auf Antidepressiva gezeigt (Wilkinson et al. 1991).
Studienergebnisse zur Panikstörung In ⊡ Abb. 27.13 und ⊡ Tab. 27.3 sind exemplarisch die Daten der zahlenmäßig größten je durchgeführten 8-wöchigen Vergleichsstudie zwischen Alprazolam (Durchschnittsdosierung: 5,7 mg/Tag), Imipramin (Durchschnittsdosierung: 150 mg/Tag) und Plazebo dargestellt (Cross-National Collaborative Panic Study 1992). In dieser Studie wurden 1168 Patienten den 3 Behandlungsgruppen randomisiert zugeteilt. 1122 erfüllten die Kriterien für die »Intent-to-treat (ITT)-Analyse« (d. h. 46 Patienten wurden ausgeschlossen, da sie die Baseline-Untersuchungen nicht vollständig abgeschlossen hatten), 1010 (86%) haben 3 Wochen an der Untersuchung teilgenommen (d. h. diese Patienten konnten für die Effizienzanalyse herangezogen werden) und 812 (69% der Gesamtgruppe bzw. 80% der 1010 Patienten für die Effizienzanalyse) haben die gesamte 8-wöchige Untersuchung abgeschlossen. Aus Tabelle 27.3 kann man die verschiedenen Studiencharakteristika entnehmen. Dabei ist ersichtlich, dass signifikante Unterschiede hinsichtlich der Effizienz und
⊡ Abb. 27.13. Behandlungsverlauf (Beeinträchtigung durch Krankheitssymptomatik) der mit Alprazolam (durchschnittliche tägliche Dosierung: 5,7 mg), Imipramin (durchschnittliche tägliche Dosierung: 155 mg) bzw. Plazebo behandelten Patienten mit der Diagnose einer Panikstörung. (Daten aus der Cross National Collaborative Panic Study 1992)
⊡ Tab. 27.3. Gründe für das vorzeitige Ausscheiden aus der Studie. (Daten aus der Cross-National Collaborative Panic Study 1992) Alprazolam (n = 386) [%]
Imipramin (n = 391) [%]
Plazebo (n = 391) [%]
83
70
56
Nebenwirkungen
3
6
3
Ineffizienz
3
3
13
Behandlungsverweigerung
4
14
16
Andere
7
7
12
Gesamte Dauer (8 Wochen) in Studie Gründe für Ausscheiden
640
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
Nebenwirkungsrate bestanden, zwischen den Patienten, die mit Alprazolam, Imipramin und Plazebo behandelt wurden. Die Alprazolamgruppe schnitt insgesamt am besten ab. Für die Akzeptanz der Medikation ist die Zahl der Verweigerung der Medikation von Bedeutung; hier schnitt die Alprazolamgruppe am besten ab. Effizienzparameter. Zur Beurteilung der Wirksamkeit
27
wurden verschiedene Effizienzparameter herangezogen: 1. allgemeine Effektivität und Besserung anhand der Verweildauer für die gesamte Zeit von 8 Wochen in der Studie, sowie eine 10-stufige Skala zur Fremdsowie Selbstbeurteilung, 2. die Sheehan & Sheehan-Panikattackenskala, 3. eine modifizierte Phobieskala, 4. die Zeit, die der Patient für antizipatorische Angst aufwendet, 5. soziale Rollenfunktion, 6. Depressionssymptomatik anhand der Hamilton-Depressionsskala sowie 7. die Hopkins-SCL-90-Selbstbeurteilungsskala für eine Reihe von Symptomen. Die Nebenwirkungen wurden ebenso anhand einer Reihe eingeführter Untersuchungsinstrumente erhoben. Aus methodischen Gründen, um keinen sog. Deckeneffekt in der Studie zu haben – d. h. dass kein Raum mehr für eine Verbesserung für ein Pharmakon vorhanden ist – war während der 8-wöchigen Pharmakotherapie keine eingeführte Psychotherapie (d. h. für die ein Manual vorhanden ist bzw. die von Fachgesellschaften als Psychotherapie anerkannt ist) erlaubt. Ebenso durften keine Entspannungsübungen sowie verhaltenstherapeutische Interventionen (wie z. B. Exposition) erfolgen. Therapeutisches Ansprechen. Wie von den pharmakody-
namischen Eigenschaften der verwendeten Psychopharmaka zu erwarten war, zeigte sich in der Alprazolamgruppe das rascheste therapeutische Ansprechen (bereits in der 1. und 2. Woche), während dies für die mit Imipramin behandelten Patienten erst ab der 4. Woche zu beobachten war. Ab der 5. Woche zeigte sich für beide aktiven Medikamentengruppen kein Unterschied. Beide Gruppen waren signifikant effektiver als Plazebo. ! Für die Praxis ergibt sich dabei die wichtige Schlussfolgerung, dass für die Medikation mit Alprazolam bereits kurzfristig, d. h. innerhalb von Tagen eine therapeutische Effektivität erreicht wird, während Patienten und auch Therapeuten unter der Therapie mit Imipramin, ähnlich wie bei der Depressionstherapie, mit einem verzögerten Wirkbeginn rechnen müssen. In ⊡ Abb. 27.13 ist der Verlauf des therapeutischen Ansprechens dargestellt. Es zeigt sich, dass initial eine Ko-
medikation mit Alprazolam sinnvoll ist, falls für die notwendig längerfristige Behandlung die Entscheidung für ein Antidepressivum fällt. Nebenwirkungen. Wie zu erwarten war, wurde die Alpra-
zolammedikation signifikant besser vertragen als die Medikation mit Imipramin, bei der die für Trizyklika typischen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Verstopfung, Schwitzen usw. auftraten. Sedierung war eine häufig beobachtete Nebenwirkung in der Alprazolamgruppe. In der Plazebogruppe traten krankheitsspezifische Symptome wie z. B. Aufregung, Tachykardie und Hyperventilation vermehrt auf. Verlauf. Im Gegensatz zu klinischen Gepflogenheiten und in der Zwischenzeit erarbeiteten internationalen Empfehlungen, wurde bei einem Großteil der Patienten nach dem Abschluss der Studie die Medikation wieder abgesetzt. Dies war mit dem Auftreten einer Symptomatik verbunden, die als krankheitsspezifisch anzusehen ist, aber auch medikationsspezifische Entzugssymptome darstellen kann. Aufgrund der in der Zwischenzeit vorliegenden Langzeitstudien weiß man, dass parallell, wie es für die Depressionstherapie gebräuchlich ist, eine längerfristige Pharmakotherapie bei der Indikation Panikstörung notwendig ist. Weitere Studien. Diese unter methodischem Aspekt elegant angelegte Kurzzeitstudie für die Behandlung der Panikstörung war der Beginn für eine Reihe weiterer Vergleichsuntersuchungen, nicht nur für Panikstörungen, sondern auch z. B. für soziale Phobie bzw. generalisierte Angsterkrankung. Alprazolam wurde allerdings in den vergangenen Jahren für diese Indikationen nicht in demselben Umfang wie für die Indikation Panikstörung weiter untersucht, was dann für die Gruppe der SSRI geschah. Dabei zeigte sich, dass die SSRI ähnlich wie Imipramin, im Vergleich zu Alprazolam, durch einen langsameren Wirkungseintritt charakterisiert sind.
Andere Indikationen Andere Indikationen von Angsterkrankungen, wie z. B. Phobien, akute situative Angst, posttraumatische Stresserkrankung und Zwangsstörungen wurden nur sehr viel weniger systematisch untersucht als die generalisierte Angsterkrankung und die Panikstörung. Häufig wurden Benzodiazepine im Zusammenhang mit Verhaltenstherapie gegeben. Bei der Zwangsstörung konnte kein befriedigender Effekt der Kernproblematik gefunden werden. Depressive Erkrankungen. Ein wichtiges Einsatzgebiet von Benzodiazepinen stellen auch akute depressive Erkrankungen dar, um die Symptomatik Schlafstörung und Unruhe zu behandeln. Systematische Untersuchungen ergaben, dass Benzodiazepine Antidepressiva bei der Behandlung depressiver Erkrankungen unterlegen sind
641 27.4 · Tranquilizer und Hypnotika
(Schatzberg u. Cole 1978). Dies gilt auch für das neuere Triazolobenzodiazepin Alprazolam (Übersicht: Warner et al. 1988), das bei leichten Depressionen zwar eine antidepressive Wirkung aufwies, bei Stratifizierung nach Schwere der Erkrankung jedoch bei schweren Depressionen dem trizyklischen Antidepressivum Amitriptylin unterlegen war. Eine fixe Kombination von einem Benzodiazepin mit Amitriptylin wurde z. T. im Handel vertrieben; wegen der bei Depression notwendigen Langzeitbehandlung ist man jedoch heute von diesem Therapieschema abgekommen. Manie. Zur Behandlung der Manie und akuter schizophrener Psychosen haben sich Lorazepam und Clonazepam bewährt. Erste Studien weisen darauf hin, dass sich im Rahmen der bipolaren Erkrankung bei einer »Rapidcycling-Problematik« neben Valproat auch Clonazepam bewährt hat (Mauri et al. 1990). Katatone Symptome. Lorazepam wurde bei katatonen
Symptomen untersucht und dabei eine günstige Wirkung beschrieben (Wetzel u. Benkert 1988). Von den Benzodiazepinen kommt in der Behandlung von Psychosen vorwiegend Lorazepam in Frage. Für Alprazolam wurde gefunden, dass Neuroleptika-Nonresponder unter diesem Medikament exazerbieren können (Übersicht: Wolkowitz u. Pickar 1991). Alkoholentzug. Eine weitere klinisch systematisch unter-
suchte Indikation ist die Alkoholentzugsbehandlung. Insbesondere in den USA gelten Benzodiazepine als Medikamente der Wahl für diese Indikation (Palestrine u. Alatorre 1976). Im Gegensatz dazu zeigte sich, dass Intoxikationen mit Kokain, LSD und anderen Halluzinogenen durch Benzodiazepine nicht effektiv behandelt werden können.
27.4.2
Benzodiazepinhypnotika
Je nach Subgruppe können Benzodiazepine anxiolytisch, muskelrelaxierend, antiepileptisch und sedativ-hypnotisch wirken. Die sedativ-hypnotischen und anxiolytischen Wirkungen der Benzodiazepine sind meist schwer voneinander zu trennen. Trotzdem werden einige Derivate bevorzugt als Hypnotika eingesetzt (⊡ Tab. 27.4).
Anforderungen an Hypnotika Von den Hypnotika wird erwartet, dass sie relativ rasch (d. h. die Resorption darf nicht zu langsam erfolgen) und ausreichend lange (während der Nacht), aber ohne Restwirkung (»hangover«) wirken, d. h. sie sollten »mittelschnell« eliminiert werden (damit keine Kumulationsgefahr besteht) und möglichst wenige Interaktionen mit anderen Medikamenten aufweisen (Leutner 1993). Die Eliminationshalbwertszeiten und der geschätzte Akkumulationsfaktor ist in ⊡ Abb. 27.14 angegeben. Daraus ist ersichtlich, dass Medikamente mit einer längeren Halbwertszeit eine größere Gefahr der Akkumulation mit sich tragen.
Wirksamkeit Die verschiedenen in ⊡ Abb. 27.14 dargestellten Benzodiazepine sind hinsichtlich pharmakokinetischer Parameter ausführlich untersucht. Dabei zeigte sich, dass Benzodiazepine der Plazebogabe in einem Großteil der Studien signifikant überlegen waren. Kritisch sind die Dosierungsempfehlungen, die in kontrollierten klinischen Studien differenziell ausgetestet wurden. Zusammenfassend war auffallend, dass der hypnotische Effekt der Substanzen von den Patienten bereits in einem niedrigeren Dosis-
⊡ Tab. 27.4. Klinische Studien zu Benzodiazepinhypnotika Substanz
Halbwertszeit [h]
Dosierungsempfehlung [mg]
Klinische Studien
Studienergebnis
Brotizolam
4–8
0,125–0,25
Dominguez et al. 1985
0,25–0,5 mg Brotizolam > Plazebo
Flunitrazepam
18
0,5–1
Murri et al. 1983
1 mg Flunitrazepam = 1 mg Lormetazepam > Plazebo
Flurazepam
1,5 Metabolit: 50–100
15–30
Mendelson et al.1982 Vogel et al. 1976 Kripke et al. 1987
25 mg > Triazolam
Lormetazepam
9–15
0,5–2
Rettig et al. 1988
2 mg Lormetazepam = 2 mg Flunitrazepam
Temazepam
5–13
10–40
Fisher u. Dean 1985 Scharf et al. 1990
20 mg Temazepam <1 mg Flunitrazepam <0,25 mg Triazolam
Triazolam
2–4
0,125–0,25
Rickels et al. 1975 Kales et al. 1976 Cordingly et al. 1984
Triazolam > Plazebo, 0,25 mg Triazolam = 1 mg Flunitrazepam
27
642
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
Nebenwirkungen
Flunitrazepam
⊡ Abb. 27.14. Vergleichende Halbwertszeiten (Bereiche) einiger Benzodiazepine und die daraus resultierende mögliche Kumulationsgefahr
27
bereich empfunden wurde, ohne dass bereits objektiv messbare Veränderungen der schlafpolygrafischen Parameter dokumentiert werden konnten. Die verschiedenen Studienergebnisse können untereinander nur begrenzt verglichen werden, da verschiedene methodologische Variablen vorlagen, wie Alter der Patienten, stationäre oder ambulante Patienten, unterschiedlich lange Therapiedauer sowie unterschiedliche Schlafvariablen, wie z. B. Einschlaflatenz, Schlafkontinuität und Schlafqualität. Häufig besteht auch kein Unterschied zwischen einem Benzodiazepintranquilizer und einem Benzodiazepinhypnotikum. Der Zusammenhang zwischen Absorptionszeit und klinischer Anwendung von Benzodiazepinen als Hypnotika oder Anxiolytika ist in ⊡ Abb. 27.15 dargestellt. Kontrollierte Langzeituntersuchungen zu Benzodiazepinen liegen nicht vor. ! Es wird wegen der Gefahr der Toleranzentwicklung jedoch abgeraten, die Medikamente über einen längeren Zeitraum einzunehmen.
Unter den unerwünschten Wirkungen, die bei der Einnahme von Benzodiazepinhypnotika auftreten können, sind neben der Toleranzentwicklung auch »Hangover-Effekte« mit Sedierung am nachfolgenden Tag beschrieben (Oswald et al. 1979). Insbesondere bei Benzodiazepinen mit einer längeren Halbwertszeit, wie z. B. Flurazepam, kommt es zur Kumulation und damit zu deutlich ausgeprägter Beeinträchtigung der Tagesfunktion. Angstzustände tagsüber (Adam u. Oswald 1989), Beeinträchtigung der mnestischen Funktionen (Bixler et al. 1979) sowie bei älteren Menschen Verwirrtheitszustände bzw. paradoxe Reaktionen werden als Nebenwirkungen beschrieben.
27.4.3
Neuere Tranquilizer und Hypnotika
In der Gruppe der chemisch neuartigen Tranquilizer und Hypnotika werden z. Z. die Substanzklassen der Azaspirodecandione (Buspiron), Imidazopyridine (Zolpidem) und Cyclopyrrolone (Zopiclon) gerechnet. Weiterhin kann auch der Kalziumkanalmodulator Pregabalin zu dieser Gruppe gezählt werden. Buspiron. Als Wirkmechanismus von Buspiron ist eine
5-HT1A-agonistische pharmakodynamische Wirkung beschrieben. Aufgrund der vorliegenden Untersuchungen (Rickels et al. 1988) wurde es in Deutschland als Anxiolytikum zugelassen. Zolpidem und Zopiclon. Zolpidem und Zopiclon entfal-
ten ihre Wirkung am Benzodiazepinrezeptorkomplex (Rüther et al. 1992; Langtry u. Benfield 1990). Wegen der hohen hypnoselektiven Wirkung und der minimalen Begleitwirkungen, wie Anxiolyse, Muskelrelaxation oder antikonvulsive Effekte, wird davon ausgegangen, dass es nicht in die Reihe der zur Sucht führenden Medikamente eingeordnet werden muss. Dennoch liegen kontrollierte Untersuchungen lediglich über den Zeitraum von wenigen Wochen vor, so dass eine abschließende Beurteilung erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist. Pregabalin. Pregabalin ist ein Medikament, das seine Wir-
⊡ Abb. 27.15. Absorptionszeit und klinische Anwendung von Benzodiazepinen als Hypnotika und Anxiolytika. (Mod. nach Nicholson 1989)
kung an der α2-Untereinheit spannungsabhängiger Kalziumkanäle ausübt und dadurch Systeme wie Noradrenalin, Substanz P oder Glutamat beeinflusst, die mit einer Verminderung von Angstsymptomen in Verbindung gebracht werden. Pregabalin wurde in mehreren Doppelblindstudien untersucht und zeigte in einigen Studien eine Überlegenheit zu Plazebo (Pande et al. 2003; Pohl et al. 2005; Montgomery et al. 2006 b). Es wurden Vergleichsstudien gegenüber Lorazepam, Alprazolam und Venlafaxin durchgeführt. In der Vergleichsstudie zu Venlafaxin waren sowohl Pregabalin (400 und 600 mg/ Tag) als auch Venlafaxin (75 mg/Tag) signifikant besser
643 27.5 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika
wirksam als Plazebo. Bei Pregabalin konnte ein Wirkeintritt bereits in der 1. Woche nachgewiesen werden, während Venlafaxin zu diesem Zeitpunkt noch nicht von Plazebo zu unterscheiden war (Montgomery et al. 2006 a). Unter Pregabalin fand sich gegenüber der Plazebogruppe eine signifikante Verbesserung des Schlafs, gemessen durch das HAM-A-Item 4 (Schlafstörung). Benommenheit und Schläfrigkeit wurden als häufig auftretende Nebenwirkungen unter einer Therapie mit Pregabalin gefunden. Es konnten sich für Pregabalin sowohl in präklinischen als auch in klinischen Studien keine Hinweise für eine Abhängigkeit, Toleranzentwicklungen oder Absetzphänomene finden.
27.5
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika
Neuroleptika sind Medikamente, die therapeutische Wirkung auf psychotische Symptome zeigen, wie sie insbesondere im Rahmen schizophrener Psychosen auftreten. Neuroleptika wirken aber nicht spezifisch auf die Symptomatik schizophrener Psychosen, sondern z. B. auch auf psychotische Symptomatik im Rahmen anderer endogener sowie exogener Psychosen. Als pharmakologischer Wirkungsschwerpunkt der Neuroleptika wird die Blockade postsynaptischer D2-Rezeptoren im zentralen Nervensystem angesehen. Für die neueren atypischen Neuroleptika scheint obendrein ein 5HT2A-Antagonismus von besonderer Bedeutung für das klinische Wirkprofil dieser Substanzen zu sein.
27.5.1
Akutbehandlung schizophrener Psychosen
In einer Vielzahl plazebokontrollierter Doppelblindstudien konnte die antipsychotische Wirksamkeit der Neuroleptika in der Akuttherapie schizophrener Erkrankungen nachgewiesen werden. Die Prüfmethodologie wurde dabei zunehmend verfeinert. Nachfolgend seien einige exemplarisch ausgewählte Studien dargestellt.
Phenothiazine Von den Studien zu den Phenothiazinen wird wegen ihrer Bedeutung als früher Meilenstein der Neuroleptikaprüfung die Studie der NIMH Collaborative Study Group (Cole u. NIMH 1964) exemplarisch dargestellt. In ihrem für die damalige Zeit methodisch vorbildlichen Ansatz stand diese Studie weit über dem Niveau anderer Neuroleptikastudien und war wegweisend für die danach durchgeführte klinische Evaluation von Neuroleptika und für die weitere methodische Entwicklung der klinischen Psychopharmakologie überhaupt.
Die 6-wöchige Multicenterstudie verglich 3 der zu diesem Zeitpunkt in den USA verfügbaren Neuroleptika: Chlorpromazin als klassischer Prototyp der Neuroleptika vom Phenothiazin-Typ (ein Phenothiazin mit aliphatischer Seitenkette), Thioridazin, ein wie das Chlorpromazin niedrigpotentes Neuroleptikum (ein Phenothiazin mit Piperidyl-Seitenkette), und das hochpotente Neuroleptikum Fluphenazin (ein Phenothiazin mit Piperazin-Seitenkette). Versuchsdesign. Alle 3 Verumsubstanzen wurden im
doppelblinden Versuchsansatz und mit randomisierter Patientenzuweisung gegen Plazebo hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit geprüft. Es wurde ein sog. »fixed-flexible«-Dosisdesign gewählt, d. h. in einem vorgegebenen Dosierungsrahmen waren individuell ausgerichtete Dosisanpassungen möglich. Obendrein war auch die Wahl zwischen oraler und parenteraler Behandlung freigestellt. Der Dosierungsrahmen für Chlorpromazin und Thioridazin lag bei 200–1600 mg/Tag, der für Fluphenazin bei 2–16 mg/Tag. Dosierung. Wie ⊡ Tab. 27.5 zeigt, betrug die durchschnitt-
liche Dosierung bei Chlorpromazin und Thioridazin etwa 700 mg/Tag, die für Fluphenazin etwa 6 mg/Tag. Diese unterschiedlichen Dosierungen charakterisieren Chlorpromazin und Thioridazin als niedrigpotente Neuroleptika, Fluphenazin hingegen als hochpotentes Neuroleptikum. Ein- und Ausschlusskriterien. Insgesamt wurden in die
Studie nach sorgfältiger Vordiagnostik und unter Berücksichtigung verschiedener Ein- und Ausschlusskriterien 463 Patienten mit akuten schizophrenen Psychosen eingeschlossen. Eine zu weit gehende Chronifizierung der Patienten wurde u. a. durch das Kriterium, dass keine stationäre Behandlung in den letzten 12 Monaten vorliegen durfte und dass die Patienten in die Klinik neu aufgenommen worden waren, ausgeschlossen. 50% der Patienten wiesen eine Erstmanifestation der Erkrankung auf; die Mehrzahl der anderen Patienten hatte eine Remanifestation der Psychose. Wegen verschiedener Gründe mussten insgesamt 119 Patienten vor Ablauf der Studie aus der Studie ausgeschlossen werden. Die Zahl der Ausschlüsse war in den 3 Verumgruppen etwa gleich groß, in der Plazebogruppe doppelt so groß (n = 51; ⊡ Tab. 27.6). Wirksamkeitsbeurteilung. Zur Beurteilung der Wirksam-
keit wurde einerseits eine den »Clinical Global Impressions« entsprechende Globalbeurteilung der Schwere der psychischen Erkrankung und der Besserung unter der Therapie durchgeführt, andererseits wurde für die differenzierte psychopathologische Beschreibung der Symptomverläufe die »Inpatient Multidimensional Psychiatric
27
644
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
⊡ Tab. 27.5. Dosierung der verschiedenen Psychopharmaka. (Nach Cole u. NIMH 1964) Dosierung
Behandlung Chlorpromazin
Fluphenazin
Thioridazin
Plazebo
Oral (täglich) Minimum [mg]
200
2
Maximum [mg]
1.600
16
200
2 Dosen
Minimum [mg]
50
1
50
2 Injektionen
Maximum [mg]
400
8
400
16 Injektionen
654,8
6,4
700
1.600
16 Dosen
Parenteral (täglich)
Durchschnittliche tägliche Dosis bei oraler Verabreichung [mg] % mit parenteraler Verabreichung
27
8,5 Dosen
35
20
26
22
Durchschnittliche Anzahl Ampullen pro Patienta
4
6
3
6
% mit Verabreichung von Anti-Parkinson-Mitteln
37
44
16
6
a
Dieser Punkt beinhaltet nur die Patienten, die die parenterale Form der Medikation erhielten.
⊡ Tab. 27.6. Drop-out-Gründe. (Nach Cole u. NIMH 1964) Chlorpromazin
Fluphenazin
Thioridazin
Plazebo
Gesamt
112
115
111
125
463
Inkorrekte Diagnose
4
1
3
1
9
Interkurrente Krankheit
1
0
1
0
2
Andere Gründe: Gerichtsfälle, Überweisung, Ausreißen etc.
9
12
11
13
45
Anzahl der Patienten zu Beginn der Studie Administrativ bedingte Drop-outs
Behandlungsbedingte Drop-outs Früher Rückgang der Symptome
3
2
4
1
1
Ernsthafte Komplikationen der Behandlung
4
6
1
0
11
Versagen der Behandlung
3
3
1
36
43
Gesamte Anzahl der Drop-outs
24
24
20
51
119
Anzahl der Patienten am Ende der Studie
88
91
91
74
344
Scale (IMPS)« angewandt. Diese Skala ist der Vorläufer der später in der klinischen Neuroleptikaforschung zu einer Art »Urmeter« gewordenen, wesentlich kürzeren »Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS)«. Neben der Arztbeurteilung wurde vom Pflegepersonal eine differenzierte Beurteilung unter Verwendung der »Ward Behavior Rating Scale (WBRS)« durchgeführt. Die auf der Basis der klinischen Globalbeurteilung resultierenden Wirksamkeitsbeurteilungen ergeben ein eindeutiges Resultat, wenn man alle verumbehandelten Patienten den plazebobehandelten Patienten gegenüberstellt (⊡ Abb. 27.16 und 27.17). Ergebnisse. Bemerkenswert ist, dass bei keinem der ver-
umbehandelten Patienten eine Verschlechterung eintrat, nur 5% zeigten keine Änderung des Zustandsbildes, während bei 95% der verumbehandelten Patienten eine mehr
oder minder starke Besserung zu beobachten war (bei 75% starke oder sehr starke Besserung). Die Verteilung bei den Plazebopatienten ist völlig anders. Insgesamt ist die Zahl der Besserungen wesentlich geringer, wenn es auch Plazeboeffekte in dieser Richtung gibt. Der Befund, dass die Zahl der Verschlechterungen unter Plazebo wider Erwarten relativ klein ist, muss allerdings kritisch gesehen werden. Denn die dargestellte Plazebokurve ist dadurch geprägt, dass fast ein Drittel der plazebobehandelten Patienten wegen Therapieversagen vorzeitig aus der Studie herausgenommen werden musste und somit in die »Observed case-Analysestichprobe« nicht einging. Würde man diese 36 Patienten einbeziehen, würden die Resultate noch wesentlich ungünstiger für die Plazebogruppen ausfallen. In den Verumgruppen wären jeweils nur in etwa ein Fünftel der Patienten Drop-outs wegen Therapieversagen.
645 27.5 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika
⊡ Abb. 27.16. Globale Beurteilung der Besserung durch den Arzt. (Nach Cole u. NIMH 1964)
⊡ Abb. 27.17. Globale Beurteilung des Schweregrades der Erkrankung durch den Arzt vor und nach der Behandlung. (Nach Cole u. NIMH 1964)
Im Vergleich der 3 Neuroleptika ließ sich hinsichtlich der globalen therapeutischen Wirksamkeit kein relevanter Unterschied finden.
Butyrophenone Obwohl Haloperidol der erste und, gemessen an der späteren klinischen Bedeutung, wichtigste Repräsentant dieser Gruppe ist, gibt es bemerkenswerterweise keine der eben dargestellten Phenothiazin-Studie vergleichbare Studie zu Haloperidol. Die meisten Studien zu Haloperidol aus den ersten 20 Jahren nach Entdeckung der antipsychotischen Wirkung von Haloperidol sind offene Studien bzw. Kontrollgruppenstudien gegenüber Chlorpromazin oder anderen Phenothiazinen. Die Fallzahlen liegen in der Regel unter 100 Patienten, in den offenen Studien größtenteils weit darunter. Diese sind größtenteils repräsentativ für das damalige durchschnittliche Niveau von Neuroleptikaprüfungen.
Studie von Hollister et al. Die Arbeit von Hollister et al. (1962) ist eine unter den wenigen frühen doppelblinden Kontrollgruppenstudien mit einer im Vergleich zu den anderen Haloperidolstudien relativ großen Fallzahl. Es handelt sich um eine doppelblind durchgeführte Parallelgruppenvergleichsstudie von Haloperidol und dem Phenothiazinderivat Thiopropazat. Thiopropazat ist ein Piperazinylphenothiazin mit Eigenschaften, die denen von Perphenazin ähneln. Fünf »Veterans-Administration-Kliniken« nahmen an der Studie teil. 112 männliche schizophrene Patienten unter 55 Jahren, die einer Pharmakotherapie bedurften, wurden ausgewählt. Komplette Daten lagen für 96% von ihnen nach 6 Wochen und für 56% nach 12 Wochen vor. Dosierung. Es wurde angenommen, dass die Wirksubstanzgehalte der in ihrer äußeren Erscheinungsform gleichen Tabletten für Haloperidol (1 mg) und Thiopropazat (10 mg) therapeutisch in etwa äquipotent waren.
27
646
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
Während der ersten 2 Behandlungswochen wurde ein festes, frühe Komplikationen vermeidendes Dosierungsschema eingesetzt: 2 Tabletten täglich während der ersten 3 Tage, 4 Tabletten täglich während der nächsten 5 Tage und 6 Tabletten täglich während der folgenden 6 Tage. Danach wurde je nach klinischer Response eine flexible Dosierung von 6–12 Tabletten angewandt. Die durchschnittliche tägliche Dosierung während der letzten 4 Wochen betrug 8 mg Haloperidol und 80 mg Thiopropazat. Beurteilung. Der psychopathologische Verlauf des Pati-
27
entenzustands wurde mit Hilfe der BPRS vor und nach 6 und 12 Wochen bewertet. Außerdem wurden Globalbeurteilungen des therapeutischen Erfolgs durchgeführt. Schließlich wurde vom jeweils behandelnden Arzt für jeden Patienten eine Liste häufig unter Psychopharmaka auftretender Symptome vor der Behandlung und wöchentlich während der Behandlung ausgefüllt. Wirksamkeit. Nach 6 und 12 Behandlungswochen hatten beide Behandlungsgruppen signifikante Fortschritte gemacht im Vergleich zu den Vorbehandlungswerten, wie sich u. a. in der Gesamtpathologieskala und in den meisten der 14 Items der BPRS zeigte. Ein Unterschied in der Wirksamkeit wurde nicht gefunden. Varianzanalysen, die berechnet wurden für Sechswochenänderung und Zwölfwochenänderung, zeigten keinen signifikanten Unterschied zwischen den Pharmaka in der Gesamtpathologie (⊡ Tab. 27.7). Eine globale Bewertung durch Kliniker erfolgte am Ende von mindestens 6 Behandlungswochen für 49 mit Thiopropazat behandelte und für 37 mit Haloperidol behandelte Patienten (der Zahlenunterschied ist auf eine unvollständige Datenerhebung zurückzuführen). Bei beiden Pharmaka gab es einen Patienten, dessen Zustand sich verschlechterte; 9 Patienten (Thiopropazat) und 6 (Haloperidol) blieben gleich, 13 bzw. 9 Patienten erfuhren eine leichte Verbesserung und 26 bzw. 21 erfuhren eine starke Verbesserung. Die prozentualen Ver-
⊡ Tab. 27.7. Gesamtscores auf der BPRS (Brief Psychiatric Rating Scale) für Patienten, die mit Haloperidol oder Thiopropazat behandelt wurden. (Nach Hollister et al. 1962) Haloperidol
Thiopropazat
a) 6 Wochen Behandlungszeit Vor Behandlung Nach 6 Wochen
(n = 52)
(n = 44)
52,1 32,2
53,2 30,0
b) 12 Wochen Behandlungszeit Vor Behandlung Nach 12 Wochen
(n = 28)
(n = 28)
53,2 25,1
50,0 22,7
besserungen in letzterer, klinisch relevanter Kategorie waren mit 53 und 57% fast gleich. Tendenziell syndromspezifische Wirksamkeit. Die Studie
gab Hinweise für syndromspezifische Vorteile bei beiden Substanzen: Thiopropazat war überlegen bei den Patienten mit Paranoidsymptomatik, Haloperidol bei den anderen Patienten (eine Analyse, die auf dem Gesamtpathologiescore basierte; die Signifikanzgrenze von 0,05 wurde dabei nicht ganz erreicht). Drop-outs. Insgesamt brachen 56 Patienten, das ist die Hälfte der ursprünglichen Stichprobe, die Studie ab. 34 Patienten beendeten aus positiven Gründen die Studie, in den meisten Fällen mit einer Entlassung aus der Klinik. Nur 4 Patienten schieden aus wegen Komplikationen, die vermutlich auf die Behandlung zurückzuführen waren. Zwei weitere Patienten konnten wegen gleichzeitiger interkurrenter körperlicher Krankheit die Behandlung nicht beenden. Neun Patienten verließen das Krankenhaus gegen ärztlichen Rat. Die übrigen Patienten wurden Dropouts wegen Noncompliance oder aus anderen administrativen Gründen. Die Anzahl der Drop-outs war bei beiden Medikamenten gleichmäßig verteilt, sowohl die Gesamtzahl wie auch die spezifischen Ursachen betreffend. Nebenwirkungen. 12 der 52 Thiopropazatpatienten und 10 der 44 Haloperidolpatienten berichteten nicht über Nebenwirkungen irgendeiner Art. Nebenwirkungen, die in den ersten 6 Behandlungswochen berichtet wurden, sind in ⊡ Tab. 27.8 aufgeführt. Nur selten traten weitere Symptome nach 6 Behandlungswochen auf, v. a. Müdigkeit und extrapyramidale Nebenwirkungen. Es wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Substanzen hinsichtlich der Nebenwirkungen festgestellt. Auch wurde keine Beziehung zwischen der Dosierung und den Nebenwirkungen beobachtet.
Übersichtsarbeit von Crane Angesichts dieser und anderer relativ kleindimensionierter Haloperidolstudien, die für die Frühphase der klinischen Psychopharmakotherapie durchaus die Regel waren, sei zum weiteren Überblick auf die interessante Übersichtsarbeit von Crane (1967) über die Haloperidolstudien der ersten 10 Jahre hingewiesen. Sie beruht auf 98 Originalarbeiten, die mehr als 5300 Patienten einbezogen.
Neuere Studien Wie schon erwähnt, erfüllen die dargestellten Haloperidolstudien nicht die heutigen methodischen Ansprüche. Unter diesem Aspekt ist es besonders erfreulich, dass alle neueren Neuroleptika in den Phase-III-Studien (s. unten) gegen Haloperidol als Standardneuroleptikum und z. T. zusätzlich gegen Plazebo geprüft wurden (Möller 2000 d). Dadurch sind diese nach heutigen methodischen Stan-
647 27.5 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika
⊡ Tab. 27.8. Unerwünschte Begleitwirkungen während den ersten 6 Behandlungswochen bei Patienten, die mindestens eine Woche lang behandelt wurden. (Nach Hollister et al. 1962) Begleitwirkungen
Schläfrigkeit Depression Angst Unruhe Parkinsonismus Bewegungsstörung Starre Tremor Spasmen Schwäche Akathisie Ohnmächtig werden Optische Störungen Übelkeit Trockener Mund Obstipation Hypotoniea Dyspepsiea Harnverhaltunga Impotenza a
Thiopropazat (n = 52)
Haloperidol (n = 44)
18 3 7 11 11 7 13 6 3 13 16 1 17 5 19 4 2 2 1 0
13 2 10 7 8 6 8 2 0 6 8 0 8 5 9 8 0 0 1 1
Nebenwirkungen, die auf den Protokollblättern nicht aufgelistet waren, die aber beobachtet wurden.
niedrige Haloperidoltagesdosis von 10 mg verwendet wurde, nur bei 30% diese Medikation erforderlich war (Möller 1995; Möller et al. 1995). In der 7-armigen Sertindolstudie (s. unten), in der u. a. unter doppelblinden Bedingungen die verschiedenen Dosierungen von Haloperidol verglichen wurden – 4, 8, 16 mg/Tag –, waren die Unterschiede in den extrapyramidalen Nebenwirkungen nicht so ausgeprägt. Für alle 3 Dosierungen ergaben sich Häufigkeitsangaben zwischen 40 und 50% hinsichtlich der Verordnung von Anticholinergika. Dabei war die Verordnungshäufigkeit für die 8mg-Tagesdosis tendenziell etwas höher als bei der niedrigeren bzw. höheren Dosisstufe (Zimbroff et al. 1997).
Neue atypische Neuroleptika Der Begriff »atypische Neuroleptika« ist nicht eindeutig definiert. Es werden darunter Substanzen verstanden, die im Vergleich zu traditionellen Neuroleptika ein geringeres Risiko extrapyramidaler Begleitwirkungen haben. Manchmal wird auch eine im Vergleich zu traditionellen Neuroleptika bessere Wirksamkeit auf die Negativsymptomatik in die Definition einbezogen (Möller 1997 a). Alle neuen Neuroleptika – auch Neuroleptika bzw. Antipsychotika der 2. Generation genannt – sind »atypisch« im Sinne dieser Definition. Phase-III-Studien. Die wichtigsten Phase-III-Studien zu
dards durchgeführten Studien neben ihrer Aussagekraft über die neuen Neuroleptika von großem Erkenntnisgewinn über die Wirksamkeit und die Nebenwirkungen von Haloperidol. Wirksamkeit. Die Wirksamkeit auf die positive Sympto-
matik wurde in allen plazebokontrollierten Studien bestätigt. Sie lag in der Größenordnung der geprüften neuen Neuroleptika. Hinsichtlich der Negativsymptomatik zeigte sich Haloperidol in den meisten Studien den neueren Neuroleptika unterlegen, wobei allerdings die Unterschiede z. T. nicht so groß waren wie ursprünglich erwartet (Möller 2003). Nebenwirkungen. Besonders interessant sind jeweils die Befunde zu den extrapyramidalen Nebenwirkungen. Insgesamt ergaben sich eindeutige Vorteile zugunsten der neuen atypischen Neuroleptika. Dosiseffekte. Hinsichtlich des Vergleichs verschiedener
Haloperidoldosierungen untereinander ergeben sich gewisse, aber nicht völlig konsistente Hinweise für dosisabhängige Effekte. So zeigte sich in der nordamerikanischen Risperidonstudie (s. unten), dass unter 20 mg Haloperidoltagesdosis 50% der Patienten Anticholinergika wegen extrapyramidalen Nebenwirkungen benötigten, während in der internationalen Risperidonstudie, bei der eine
den neuentwickelten Neuroleptika entsprechen dem modernen Standard der klinischen Evaluation von Neuroleptika, der fordert, dass zur Prüfung der Wirksamkeit eines Neuroleptikums der Vergleich eines neuen Präparates gegen Standardpräparate allein nicht ausreichend ist, um die Zulassung zu bekommen. Prüfungen gegen Standardpräparate sind unter anderen Aspekten anfällig für Fehlinterpretationen (z. B. β-Fehler-Problematik, neuroleptikainsensitive Stichprobe). Dies kann aus heutiger methodischer Sicht nur durch die Plazebokontrolle ausgeschlossen werden. Auch die Forderung nach einer methodisch akzeptablen Dosisfindung lässt sich am besten im Rahmen von plazebokontrollierten Studien erfüllen. Häufige Studiendesigns. Die meisten Untersuchungen
über neuere Neuroleptika, wie z. B. Risperidon, Olanzapin, Quetiapin und Ziprasidon, wurden nach dem folgenden Design geprüft: Vergleich mehrerer Dosierungen der Prüfsubstanz, evtl. plazebokontrolliert, gegenüber einer Dosierung des Standardneuroleptikums, was möglicherweise das Standardneuroleptikum benachteiligt. Für alle neuen Neuroleptika konnten u. a. eine in der Regel im Vergleich zu Haloperidol gleich starke Wirkung auf Positivsymptomatik, eine bessere Wirksamkeit auf Negativsymptomatik und eine erheblich bessere extrapyramidalmotorische Verträglichkeit gefunden werden (Möller 2000 a, b, c).
27
648
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
7-Arm-Studie zu Sertindol
Studiendesign. In dieser in den USA und Kanada durch-
geführten Studie wurden 497 schizophrene Patienten nach dem Zufallsprinzip einer von 7 Behandlungsgruppen zugeteilt: Plazebo, Sertindol (12 mg, 20 mg oder 24 mg/Tag) oder Haloperidol (4 mg, 8 mg oder 16 mg/ Tag). Hinsichtlich der demografischen oder klinischen Charakteristika bestanden keine signifikanten Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen. Auch hinsichtlich der von den Patienten vor der Studie eingenommenen Neuroleptika bestanden keine relevanten Unterschiede: 37% der Patienten (n = 185) hatten Haloperidol eingenommen, 22% Fluphenazin (n = 111) und 22% Risperidon (n = 107). Die Drop-out-Quote während der Stu⊡ Abb. 27.18. Mittlere Änderung des Gesamtwertes auf der PANSS bei schizophrenen, mit Plazebo, Sertindol, oder Haloperidol behandelten Patienten. a Vergleich mit Plazebo: Varianzanalyse F=7,59, df=3,233 p<0,001; die bereinigten p-Werte für die mit 12 mg, 20 mg und 24 mg behandelten Gruppen betrugen 0,01, <0,001 und 0,008 (Dunnett-Test). b Vergleich mit Plazebo: Varianzanalyse F=6,50, df=3,226 p<0,001; die bereinigten p-Werte für die mit 4 mg, 8 mg und 16 mg behandelten Gruppen betrugen 0,008, <0,001 und 0,005 DunnettTest). (Nach Zimbroff et al. 1997)
Änderung des Gesamtwerts auf der Skala der positiven und negativen Syndrome
27
Die Tatsache, dass das Standardneuroleptikum, zumeist Haloperidol, in der Regel in diesen klinischen Phase-IIIStudien nur in einer Dosierung gegeben wurde, während das zu prüfende Neuroleptikum meistens in mehreren Dosierungen verabreicht wurde, führt möglicherweise zu einer Benachteiligung des Standardneuroleptikums, das ggf. im Hinblick auf Wirksamkeit zu niedrig oder in Hinblick auf Nebenwirkungen zu hoch dosiert ist. Diese Problematik wurde kritisch diskutiert, insbesondere unter dem Aspekt, dass Haloperidol in vielen dieser Studien relativ hoch und damit möglicherweise nebenwirkungsträchtig dosiert wurde. Unter methodischen Aspekten ist deshalb die Prüfung des Sertindols in einer Siebenarmstudie besonders erwähnenswert. Durch den Ansatz, mehrere Sertindoldosierungen gegen mehrere Haloperidoldosierungen und beide gegen Plazebo zu vergleichen, erreicht diese Studie eine optimale Aussagekraft bezüglich der Prüfsubstanz wie auch des Standardneuroleptikums Haloperidol. Mit dieser Studie wurde ein neuer methodischer Standard in der klinischen Psychopharmakologie gesetzt, der die Limitierungen der Aussagekraft bisheriger Studien hinsichtlich der Standardsubstanz überwindet. Nachfolgend werden die wichtigsten Ergebnisse der 7-Arm-Studie zu Sertindol (Zimbroff et al. 1997) deshalb exemplarisch vorgestellt.
die betrug 51% (n = 255), wobei keine wesentlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Behandlungsgruppen bestanden. Die 3 Hauptursachen für einen Studienabbruch waren: Mangelnde Wirksamkeit (25%, n = 122), Nebenwirkungen (6%, n = 32) und mangelnde Therapietreue (4%, n = 22). Wirksamkeit. Sämtliche Sertindoldosen waren, gemessen am Gesamtwert der PANSS (⊡ Abb. 27.18), nach der psychiatrischen Kurzbewertungsskala und nach der Skala zur Bewertung des klinischen Gesamteindrucks (⊡ Tab. 27.9), signifikant wirksamer als Plazebo. Auch alle Haloperidoldosen waren aufgrund der Ergebnisse nach denselben Skalen wesentlich wirksamer als Plazebo. Die einzige Ausnahme stellte Haloperidol in der Dosierung von 4 mg/ Tag dar. Bei dieser Dosis war Haloperidol auf der Skala zur Bewertung des klinischen Gesamteindrucks nicht signifikant wirksamer als Plazebo. Bei der Positivsymptomatik erwiesen sich die Sertindoldosierungen von 20 und 24 mg sowie die Haloperidoldosierungen von 8 und 16 mg anhand der Ergebnisse auf der Positivsymptomatikskala der PANSS als wesentlich wirksamer als Plazebo (⊡ Abb. 27.19). Entsprechende Ergebnisse wurden auch auf der positiven Unterskala der psychiatrischen Kurzbewertungsskala erzielt, wobei in diesem Fall jedoch ein signifikanter Unterschied zwischen Plazebo und der mit 12 mg behandelten Sertindolgruppe festzustellen war, während sich die Ergebnisse der mit 4 mg Haloperidol behandelten Gruppe nicht signifikant von den Resultaten der Plazebogruppe unterschieden. Wirkung auf die Negativsymptomatik. Während bei allen
Behandlungsgruppen eine gewisse Verringerung der negativen Symptome gemessen an den Veränderungen der Werte auf der Negativsymptomskala, der PANSS (⊡ Abb. 27.20), zu verzeichnen war, konnte nur bei der mit 20 mg Sertindol behandelten Gruppe eine statistisch signifikant bessere Wirkung als unter Plazebo festgestellt werden. Bei der 20-mg-Sertindolgruppe waren in Woche 4 signifi-
0
- 10
- 20 Plazebo
12 mg
20 mg 24 mg Sertindol a
4 mg
8 mg 16 mg Haloperidol b
27
649 27.5 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika
⊡ Tab. 27.9. Ergebnisse auf der CGI-Skala, der PANSS, der BPRS-Skala und der SANS-Skala bei schizophrenen, mit Plazebo, Sertindol oder Haloperidol behandelten Patienten. (Nach Zimbroff et al. 1997) Variable
Plazebo
(n = 71)
Sertindol
Haloperidol
12 mg/ Tag
20 mg/ Tag
24 mg/ Tag
Gesamt
(n = 72)
(n = 65)
(n = 70)
4 mg/ Tag
8 mg/ Tag
16 mg/ Tag
(n = 68)
(n = 63)
(n = 68)
CGIa Grundlinienwert Mittel SD
4,7 0,8
4,7 0,9
4,9 0,8
4,6 1,0
4,9 0,8
4,7 0,8
4,9 0,9
Endwert Mittel SD
4,2 1,6
3,5 1,7
3,3 1,8
3,6 1,8
3,7 1,7
3,1 1,5
3,5 1,5
Gesamt
vs. Plazebob χ2 (df = 1)
7,25
9,95
7,44
3,07
14,03
5,56
p
0,007
0,002
0,006
0,08
<0,001
0,002
PANSS (Unterskala der positiven Symptome) Varianzanalysec F df p Grundlinienwert Mittel SD Änderung Mittel SD pd bereinigt
5,18 3,223 0,002
23,0 5,6
23,3 7,1
24,9 5,9
23,5 6,7
24,7 6,8
23,7 6,1
24,3 6,7
0,0 7,3
−2,4 8,7 0,09
−4,8 8,5 <0,001
−3,2 7,8 0,03
−2,7 7,8 0,04
−5,6 6,6 <0,001
−4,3 7,4 0,001
SANS Varianzanalysec F df p Grundlinienwert Mittel SD Änderung Mittel SD pd bereinigt a b c d
7,96 3,226 <0,001
4,68 3,211 0,003
2,52 3,211 0,06
50,7 22,1
51,4 25,0
53,9 223,9
51,6 23,6
53,3 22,2
49,1 21,6
50,9 21,6
−2,1 20,0
−7,9 17,0 0,05
−13,2 19,5 <0,001
−7,1 18,9 0,20
−10,9 18,4
−10,8 22,8
−7 20,6
23,1
Der Grundlinienwert repräsentiert die Schwere auf einer Skala von 1–7 (1 = normal und 7 = extrem krank). Das Endergebnis entspricht der Verbesserung auf einer Skala von 1–7 (1 = stark verbessert und 7 = viel schlechter) Cochran-Mantel-Haenszel-Analyse Der Dunnett-Test wurde nur bei signifikanter Gesamt-F-Statistik durchgeführt Vergleich mit Plazebo, Dunnett-Test
kante Verbesserungen zu verzeichnen, und auch während der restlichen Dauer der Studie konnte eine kontinuierliche Verbesserung festgestellt werden. In Woche 8 war bei sämtlichen Sertindolgruppen eine fortwährende Verbesserung der negativen Symptome zu erkennen, während die Werte der mit Haloperidol behandelten Gruppen stagnierten. Extrapyramidale Nebenwirkungen. Die extrapyramida-
len motorischen Nebenwirkungen wurden anhand ver-
schiedener standardisierter Beurteilungsskalen sowie an der Verordnungshäufigkeit von Anticholinergika gemessen. Sertindol verursachte weder klinisch noch statistisch gesehen bei einem größeren Prozentsatz der Patienten mehr extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen als Plazebo. Im Gegensatz dazu lösten alle Haloperidoldosen wesentlich stärkere motorische Nebenwirkungen aus als Plazebo oder Sertindol (⊡ Tab. 27.10). Der Prozentsatz der Patienten, die Nebenwirkungen im Zusammenhang mit extrapyramidalen Symptomen beklagten oder Medika-
650
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
⊡ Abb. 27.19. Mittlere Änderung auf der PANSS-Positivskala (*p<0,05 vs. Plazebo). (Nach Zimbroff et al. 1997)
⊡ Abb. 27.20. Mittlere Ände-
27
rung des Wertes auf der Unterskala der negativen Symtome der PANSS bei schizophrenen, mit Plazebo, Sertindol, oder Haloperidol behandelten Patienten. Ein Sternchen (*) weist auf einen signifikanten Unterschied gemäß dem Dunnett-Test im Vergleich zur Plazebobehandlung hin. (Nach Zimbroff et al. 1997)
mente zur Behandlung extrapyramidaler Symptome einnahmen, war zwischen den einzelnen Sertindolgruppen und der Plazebogruppe nicht unterscheidbar. Bei den mit Haloperidol behandelten Gruppen waren im Vergleich zu den Plazebo- und den Sertindolgruppen bei jeder Dosis – abgesehen von der 4 mg Haloperidoldosierung – ein signifikant höheres Ausmaß an Nebenwirkungen im Zusammenhang mit extrapyramidalen Symptomen (⊡ Tab. 27.10; ⊡ Abb. 27.21 und 27.22) zu verzeichnen. Die höchste Sertindoldosis verursachte durchweg weniger motorische Nebenwirkungen als die niedrigste Haloperidoldosis. Weder bei den extrapyramidalen Nebenwirkungen noch bezüglich der Häufigkeit von Anticholinergikaverordnungen konnte bei Sertindol ein Hinweis auf eine Dosisabhängigkeit festgestellt werden. Weitere Nebenwirkungen. Sertindol erwies sich i. Allg. als
gut verträglich. Nur bei 5,6% der Patienten wurde die Be-
handlung mit Sertindol aufgrund von Nebenwirkungen abgesetzt, während Haloperidol bei 9,1% abgesetzt wurde (bei 1,4% wurde die Behandlung mit Plazebo abgesetzt). In ⊡ Tab. 27.11 sind die bei den aktiven Behandlungsgruppen festgestellten Nebenwirkungen aufgeführt, die sich wesentlich von Plazebo unterschieden. Als wichtigste Nebenwirkung von Sertindol ist die QT-Verlängerung zu erwähnen, die nach Markteinführung des Sertindols zu dem Verdacht letaler kardialer Risiken führte (Kasper et al. 1999). Bei keiner Behandlungsgruppe waren klinisch signifikante Änderungen der hämatologischen und sonstigen Laborwerte zu beobachten. Metaanalytische Wirksamkeit in der Akutbehandlung. Im
Rahmen von Metaanalysen wurden die Wirksamkeitsergebnisse der zahlreichen Einzelstudien zusammengefasst und im Sinne der Effektstärke (»effect size«) bewertet. Dabei zeigte sich, dass Neuroleptika Plazebo in der Akut-
27
651 27.5 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika
⊡ Tab. 27.10. Extrapyramidale Symptomprofile von schizophrenen, mit Plazebo, Sertindol oder Haloperidol behandelten Patienten. (Nach Zimbroff et al. 1997) Variable
Plazebo
(n = 69) Werte der Bewertungsskalaa Simpson-Angus-Bewertungsskala Ausgangswert Mittel 2,3 SD 2,7 Änderung Mittel SD
−0,6 2,8
Varianzanalyseb vs. Plazebo F df p
Sertindol
Haloperidol
12 mg/Tag
20 mg/Tag
24 mg/Tag
4 mg/Tag
8 mg/Tag
16 mg/Tag
(n = 70)
(n = 64)
(n = 66)
(n = 68)
(n = 61)
(n = 67)
2,4 2,6
2,4 3,8
2,1 2,7
2,5 3,3
1,8 2,7
2,6 4,0
−1,0 1,9
−0,8 3,4
−0,3 2,7
−1,0 4,9
−0,5 2,9
−1,3 4,2
1,13 1,66 0,29
0,00 1,63 0,98
0,52 1,62 0,47
vs. Sertindol (p) 12 und 24 mg jede Dosis
5,05 1,57 0,03
≤0,05
≤0,05
6,45 1,64 0,01
≤0,05
Barnes-Akathisie-Skala Ausgangswert Mittel 1,2 SD 1,8 Änderung Mittel SD
6,35 1,64 0,01
0,2 2,2
Varianzanalyseb vs. Plazebo F df p
1,1 1,8
1,9 2,8
1,6 2,4
1,8 2,7
1,4 2,2
1,7 2,8
−0,2 1,8
−1,1 2,7
−0,6 2,2
−0,7 3,4
−0,9 3,1
−0,6 3,1
2,83 1,65 0,10
5,09 1,62 0,03
2,61 1,61 0,11
vs. Sertindol (p) 20 mg jede Dosis
0,99 1,63 0,32
3,21 1,57 0,08
2,38 1,63 0,13
≤0,05
≤0,05
≤0,05
AIMS Ausgangswert Mittel SD
3,0 4,1
2,7 3,3
3,7 5,0
3,0 4,0
3,2 4,5
2,2 3,2
2,5 3,5
Änderung Mittel SD
0,6 3,8
−0,4 2,7
−1,7 3,3
−0,7 3,5
−0,4 3,3
−0,3 3,3
−0,2 3,5
Varianzanalyseb vs. Plazebo F df p
3,90 1,66 0,052
7,89 1,63 0,007
2,86 1,62 0,10
vs. Sertindol (p) 20 mg Andere Messungen extrapyramidaler Medikamentös behandelte Patienten n 14 % 19,2 Fisher-Text (p) vs. Plazebo vs. Sertindol (jede Dosis)
2,31 1,64 0,13
0,00 1,57 0,96
2,03 1,64 0,16
≤0,05
≤0,05
30 42,3
33 49,3
33 47,1
0,004 ≤0,05
0,001 ≤0,05
0,001 ≤0,05
Symptomec 14 18,4 0,99
6 8,8 0,09
14 19,4 0,99
652
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
(Fortsetzung) Symptomprofile von schizophrenen, mit Plazebo, Sertindol oder Haloperidol behandelten Patienten. (Nach ⊡ Tab. 27.10. Extrapyramidale Zimbroff et al. 1997) Variable
Plazebo
(n = 69) Berichtete Nebenwirkungen n 20 % 27,4 Fisher-Test (p) vs. Plazebo vs. Sertindol (jede Dosis) a b c
Sertindol
Haloperidol
12 mg/Tag
20 mg/Tag
24 mg/Tag
4 mg/Tag
8 mg/Tag
16 mg/Tag
(n = 70)
(n = 64)
(n = 66)
(n = 68)
(n = 61)
(n = 67)
16 21,1
9 13,2
17 23,6
31 43,7
37 55,2
39 55,7
0,06 ≤0,05
0,001 ≤0,05
0,001 ≤0,05
0,45
0,06
0,70
Niedrigere Werte bedeuten eine Verbesserung. Letzte Beobachtung wurde übertragen (»last observation carried forward«, LOCF) Plazebogruppe: n = 73, Sertindolgruppen: n = 76, n = 68 und n = 72 (12 mg, 20 mg und 24 mg/Tag), Haloperidolgruppen: n = 71, n = 67, n = 70 (4 mg, 8 mg und 16 mg/Tag).
27
⊡ Abb. 27.21. Einnahme von Medikamenten gegen extrapyramidale Symptome durch schizophrene, mit Plazebo, Sertindol oder Haloperidol behandelte Patienten. Ein Sternchen (*) weist auf einen signifikanten Unterschied zwischen der Haloperidolgruppe und allen 3 Sertindolgruppen sowie der Plazebogruppe hin (Fisher-Test, p≤0,05). (Nach Zimbroff et al. 1997)
behandlung schizophrener Psychosen deutlich überlegen sind und dass die neuen Neuroleptika den klassischen Neuroleptika in der Gesamtwirkung mindestens ebenbürtig sind. Auch konnten Vorteile der neuen Neuroleptika, v. a. bezüglich einer besseren extrapyramidalmotorischen Verträglichkeit, aber auch bezüglich einer besseren Wirksamkeit auf die Negativsymptomatik belegt werden (Geddes et al. 2000; Leucht et al. 1999, 2002 a; Davis at al. 2003). Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Vorteile der neuen Neuroleptika im Bereich der Negativsymptomatik, nicht von der Effektstärke sind wie die Vorteile bezüglich der extrapyramidalmotorischen Symptomatik. Dies zeigte sich auch im Rahmen von systematischen Reviews zur Negativsymptomatik und analog auch zur depressiven Symptomatik (Möller 2003, 2005 a). ⊡ Abb. 27.22. Mittlere Änderung auf 3 Bewegungsbeurteilungsskalen; * p<0,05 vs. Plazebo; p<0,05 vs. Sertindol 12 mg; p<0,05 vs. Sertindol 20 mg; ** p<0,05 vs. Sertindol 24 mg; SAS Simpson-AngusScale, BAS Barnes-Akathisia-Scale, AIMS Abnormal Involuntary Movement Scale. (Nach Zimbroff et al. 1997)
653 27.5 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika
0,03 0,03
0,003 <0,001
0,05
0,001 0,002
15 17 24 16 7 7 7 3 0 18 12 37 16 10 4 7 6 4
b
a
15 7 30 20 13 4 7 1 5 11 5 21 14 9 3 5 1 3 <0,001 39 17 11 6 8 8 4 1 12 0,01
28 12 8 4 6 6 3 1 6 0,003
34 21 3 9 12 4 0 4 19 23 14 2 6 8 3 0 3 10 0,03
0,02
0,006
32 9 12 8 17 3 0 4 16 24 7 9 6 13 2 0 3 10 12 19 12 1 4 1 1 0 4 9 14 9 1 3 1 1 0 2 Verstopfe Nase Somnolenz Akathisie Hypertonie Übelkeit Amblyopie Zahnradsteifigkeit Fieber Verringertes Ejakulationsvolumen (nur Männer)b
Vergleich mit Plazebo: Fisher-Test. Plazebogruppe: n = 57, Sertindolgruppen: n = 61, n = 52 und n = 50 (12, 20 und 24 mg/Tag), Haloperidolgruppen: n = 59, n = 54 und n = 53 (4, 8 und 16 mg/Tag).
12 8 25 11 7 3 5 4 2 0,05 0,01 0,001
% n % n % n % n % n % n
Langzeitbehandlung schizophrener Psychosen
Studien zur Rezidivprophylaxe
21 24 34 23 10 10 10 4 0
pa % n
(n = 70) (n = 67)
pa pa pa
(n = 68) (n = 73)
(n = 76)
(n = 72)
pa (n = 71)
pa
16 mg/Tag 8 mg/Tag 4 mg/Tag 20 mg/Tag 12 mg/Tag
24 mg/Tag
Haloperidol Sertindol Plazebo Nebenwirkung
⊡ Tab. 27.11. Nebenwirkungen bei schizophrenen, mit Plazebo, Sertindol oder Haloperidol behandelten Patienten. (Nach Zimbroff et al. 1997)
27.5.2
Der rezidivprophylaktische Effekt der Neuroleptikamedikation ist empirisch gut gesichert, wie bereits aus der 1980 erschienenen Übersichtsarbeit von Davis et al. (⊡ Tab. 27.12) über plazebokontrollierte Rezidivprophylaxestudien hervorgeht. Dies ist auch das Fazit späterer Übersichtsarbeiten, die neuere Studien einbezogen (Kissling 1991; Möller 1990, 2004a; ⊡ Abb. 27.23). Wegen ihrer sorgfältigen prospektiven Untersuchungsmethodik und der langen Untersuchungsdauer von 2 Jahren werden in der Literatur immer wieder Untersuchungen aus der Forschungsgruppe von Hogarty erwähnt, die in einer ersten Studie (Hogarty et al. 1973; 1974 a, b) eine orale Chlorpromazinbehandlung mit Plazebo und in einer 2. Untersuchung (Hogarty et al. 1979) eine Fluphenazindepotbehandlung mit einer oralen Fluphenazinbehandlung verglich.
Chlorpromazinstudie (Hogarty et al. 1973) Die erste große Chlorpromazinstudie von Hogarty et al. (1973, 1974 a, b) untersuchte den Einfluss des Neuroleptikums und »Major Role Therapy (MRT)«, einer intensiven psychosozialen Betreuung (s. unten), auf die Rezidivrate und andere Variablen. Design. Schizophrene Patienten wurden nach der Entlassung aus der stationären Behandlung zuerst über 2 Monate unter einer Chlorpromazinbehandlung stabilisiert und dann randomisiert auf 4 Gruppen verteilt (Plazebo, Plazebo und MRT, Chlorpromazin, Chlorpromazin und MRT). Die Behandlung erfolgte hinsichtlich der Medikation unter Doppelblindbedingungen. Dosierung. Die als Minimaldosierung vorgeschriebene
Chlorpromazinmedikation betrug 100 mg/Tag. Patienten, die kein Rezidiv erlitten, bekamen im Durchschnitt 270 +/– 140 mg/Tag während der 2 Studienjahre. Major Role Therapy. Die MRT wurde von ausgebildeten
und berufserfahrenen Sozialarbeitern durchgeführt. Sie wurde als psychosoziale Problemlösungsmethode angesehen, die konzipiert worden war, um persönliche, zwischenmenschliche, soziale und rehabilitative Bedürfnisse der Studienpatienten und ihrer Familien anzugehen. Das primäre Ziel der Sozialarbeiter war die Lösung persönlicher und/oder umweltbezogener Probleme, die direkt die Leistung des Patienten im Haushalt oder als aktueller oder potenzieller Arbeitnehmer betrafen. Ansonsten reichten die therapeutischen Ziele von der Verbesserung der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen und der sozialen Isolierung bis hin zu Schulung von Selbstpflege, Hilfe beim Heranziehen von finanzieller Unter-
27
654
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
⊡ Tab. 27.12. Rezidivprophylaxe mit Antipsychotika. (Nach Davis et al. 1980) Studie
Adelson u. Epstein 1962
Rezidive unter Plazebo (n)
Rezidive unter Medikament (n)
Differenz der Rezidivquoten (Plazebo – Medikament) (n)
281
90
49
41
31
35
7
28
Baro et al. 1970
26
100
0
100
Blackburn u. Allen 1961
53
54
24
30
259
45
5
40
Chien u. Cole 1975
31
87
12
74
Clark et al. 1971
19
70
44
26
Clark et al. 1975
35
78
27
51
Engelhardt et al. 1967
294
30
15
15
Freeman u. Alson 1966
86
31
14
17
Andrews et al. 1976
Caffey et al. 1964
27
Patienten (n)
Garfield et al. 1966
27
31
11
20
Gross 1975
61
65
34
31 44
Gross u. Reeves 1961
109
58
14
Hershon et al. 1972
62
28
7
21
Hirsch et al. 1973
75
66
8
58
Hogarty et al. 1973
361
67
31
36
Leff u. Wing 1971
30
83
33
50
Kinross-Wright u. Charalampous 1965
40
70
5
65
Melnyk et al. 1966
40
50
0
50
Morton 1968
40
70
25
45
Prien u. Cole 1968
762
42
16
26
Prien et al. 1969
325
56
20
36
84
58
34
24
Rassidakis et al. 1970 Rifkin et al. 1977 a, b
62
68
7
61
Schawver et al. 1959
80
18
5
13
Schiele et al. 1961
80
60
3
57
Troshinsky et al. 1962
43
63
4
59
39
65
8
57
3.519
55
19
36
Whitaker u. Hoy 1963 Zusammenfassung
⊡ Abb. 27.23. Rezidivprophylaxe mit oralen Neuroleptika. (Nach Möller 1990)
655 27.5 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika
stützung und Überprüfung der Medikamenteneinnahme. Die Prinzipien der praktischen Durchführung der Therapie beinhalteten Akzeptanz, Klärung, materielle und emotionale Unterstützung und adäquate Versicherung. Wirksamkeit von Chlorpromazin. Chlorpromazin war si-
gnifikant effektiver als Plazebo in der Verhinderung von Rezidiven (p<0,001). Rezidive wurden definiert als klinische Verschlechterung solchen Ausmaßes, dass eine Rehospitalisierung notwendig war. Für chlorpromazinbehandelte Patienten betrug die durchschnittliche Dauer der rezidivfreien Episode 17,4 Monate, für plazebobehandelte Patienten betrug sie dagegen nur 10,3 Monate Im 2Jahres-Zeitraum hatten 80% der plazebobehandelten Patienten ein Rezidiv, aber nur 48% der medikamentenbehandelten Patienten (⊡ Abb. 27.24). Wirksamkeit der psychologischen Betreuung. Die MRT
konnte Rezidive nicht signifikant verhindern. Die kumulative Rezidivquote der nur mit MRT behandelten Patienten gleicht der Plazebokurve. Hingegen kam es zu gewissen additiven Effekten bei der Kombination von MRT und Chlorpromazin im Vergleich zur alleinigen Chlorpromazinbehandlung.
Fluphenazinstudie (Müller 1982) Neben dieser und vielen anderen Untersuchungen aus dem angloamerikanischen Bereich existieren leider in der deutschsprachigen Psychiatrie nur wenige Studien zur neuroleptischen Rezidivprophylaxe. Wegen ihrer besonderen methodischen Sorgfalt sei aus diesem Bereich die Untersuchung der Arbeitsgruppe von Müller (1982) genannt, die den rezidivprophylaktischen Effekt von Fluphenazindecanoat in einer plazebokontrollierten Studie prüf⊡ Abb. 27.24. Überlegenheit der Neuroleptikarezidivprophylaxe im Vergleich zu Plazebo bezüglich der kumulativen Rückfallhäufigkeit. (Nach Hogarty et al. 1974 b)
te. Diese Studie zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass durch ein neuroleptikafreies Intervall nach der neuroleptischen Akutbehandlung garantiert wurde, dass die in die Studie eingeschlossenen Patienten wirklich vollremittierte Patienten waren. Insofern können aus den Ergebnissen dieser Studie Aussagen über die Rezidivprophylaxe im engeren Sinne gemacht werden. Bei den meisten anderen Studien wurden jeweils teil- und vollremittierte Patienten eingeschlossen, was evtl. zu einer Überschätzung des Rezidivrisikos führt. So ist die Rezidivquote in der Untersuchung von Müller deutlich niedriger als die in der Untersuchung von Hogarty et al. (1973, 1974 a, b).
Absetzstudien Aus mehreren einfachen oder plazebokontrollierten Absetzstudien (Hirsch et al. 1973; Hogarty et al. 1976; Leff u. Wing 1971; Cheung 1981) ergibt sich, dass nach einer neuroleptischen Langzeitmedikation von bis zu 2, in einer Studie sogar 3 Jahren, ein erhebliches Rezidivrisiko weiterbesteht. Exemplarisch sei die Absetzstudie von Hogarty et al. (1976) kurz dargestellt.
Absetzstudie von Hogarty et al. (1976) In die Absetzstudie von Hogarty et al. (1976) gingen 43 der 104 schizophrenen Patienten ein, die ohne Rezidiv an der oben beschriebenen 2–3 Jahre langen rezidivprophylaktischen Studie (Hogarty et al. 1973, 1974 a, b) teilgenommen hatten. Die ausgewählten Patienten hatten seit der Entlassung aus der Klinik Chlorpromazin bekommen (Durchschnittswert der Dosierung vor dem Absetzen: 225 mg/Tag) und wurden als »weniger anfällig« für ein Rezidiv beurteilt. Sie wurden als besser angepasst und weniger krank angesehen, sowohl global als auch hinsichtlich spezieller psychopathologischer Parameter.
27
656
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
Design. Die Medikation wurde schrittweise über einen
Spiegelmethode
Zeitraum von 1–7 Wochen abgesetzt bei allen Patienten außer bei 5, die minimale Dosierungen (50 oder 100 mg/ Tag) vor dem Absetzen bekommen hatten. Die Studie wurde offen und ohne Kontrolle durchgeführt. Die Patienten wurden 1 Jahr lang beobachtet und aufgrund von Berichten durch die Patienten selbst, Psychiater, Sozialarbeiter und Angehörige evaluiert. Rezidive wurden hier als Notwendigkeit der Medikationswiederaufnahme nach eindeutiger Verschlechterung der Symptome definiert.
Wegen erheblicher organisatorischer Schwierigkeiten und auch aus ethischen Gründen sind plazebokontrollierte Studien über mehrjährige Zeiträume kaum durchführbar. Über den rezidivprophylaktischen Wert einer langjährigen Neuroleptikatherapie können deshalb nur Untersuchungen nach der sog. »Spiegelmethode« eine Aussage machen. Hier werden intraindividuell identische Zeiträume eines Patienten unter 2 verschiedenen medikamentösen Bedingungen verglichen: Zeiten, in denen der Patient keine oder relativ kurzfristig Neuroleptika bekommen hat, und Zeiten, in denen er langfristig Neuroleptika bekommen hat.
Ergebnisse. Von den 43 Patienten schlossen 2 aus admi-
nistrativen Gründen frühzeitig ab. Von den 41 übrig bleibenden rezidivierten 27 (65,8%) im Jahr nach dem Beginn des Absetzens. 21 von diesen 27 Patienten rezidivierten zwischen dem 1. und dem 7. Monat nach Absetzen, 2 während des Absetzens.
27
! Folglich ist die Rezidivrate nach Absetzen des Medikaments im 3. und 4. Jahr nach Entlassung aus der Klinik fast identisch mit der Rezidivrate, die im 1. Jahr nach Entlassung bei den plazebosubstituierten Patienten beobachtet wurde. Die Medikamente wurden nicht auf einer doppelblinden randomisierten Basis abgesetzt. Die Annahme erscheint aber richtig, dass, wären die Patienten unter Medikamentenbehandlung geblieben, die Rezidivrate unter 31% gelegen hätte (Rezidivrate der Patienten mit Medikament im 1. Jahr nach der Entlassung) und sogar eher unter 17% (Rezidivrate der Patienten mit Medikament 2 Jahre nach Entlassung). ⊡ Abb. 27.25. Neuroleptische Langzeitbehandlung mit Perazin. Rehospitalisierungsrate bei 33 Patienten vor und nach Aufnahme der ambulanten Behandlung (Spiegelmethode). Rehospitalisierungsrate (Ordinate) = Anzahl Rehospitalisierungen pro Jahr (Durchschnittswerte pro Jahr). N Anzahl Patienten pro Subgruppe, R Gesamtanzahl Rehospitalisierungen pro Subgruppe innerhalb des Spiegelzeitraums. (Nach Pietzcker et al. 1981)
Wegen der methodischen Probleme solcher Studien ist aber eine besonders kritische Interpretation erforderlich (Möller 1986). Insgesamt weisen diese Studien darauf hin, dass auch eine langjährige Neuroleptikatherapie einen deutlichen rezidivprophylaktischen Effekt hat (Freeman 1984; Gottfries 1978; Pietzcker et al. 1981; Tegeler et al. 1980). So haben z. B. Pietzcker et al. (1981) bei 33 Schizophrenen, die durchschnittlich 18 Jahre kontinuierlich mit Perazin behandelt worden waren, eine Reduktion der jährlichen Rehospitalisierungsrate von 0,58 vor auf 0,07 während der Behandlung festgestellt. Die rezidivprophylaktische Wirksamkeit der Neuroleptika war noch nach 10 Jahren nachweisbar, da es bei der Mehrzahl der Kranken nach dem Absetzen der Medikation innerhalb weniger Monate zu einer erneuten Exazerbation der Psychose kam (⊡ Abb. 27.25).
657 27.5 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika
Orale Rezidivprophylaxe mit atypischen Neuroleptika Von atypischen Neuroleptika kann erwartet werden, dass sie klare Vorteile besonders bezüglich extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen haben (Möller 2000 c, d, 2005 b). Das breitere Wirkungsspektrum der atypischen Neuroleptika, z. B. in Bezug auf die Negativsymptomatik (Volz et al. 2003), depressive Symptomatik (Möller 2004 b) und zugehörige Suizidalität (Meltzer et al. 2003), ist definitiv von Vorteil. Mehrere Langzeitstudien zur Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe wurden in der Zwischenzeit mit atypischen Neuroleptika durchgeführt. Insgesamt haben sie bestätigt, dass atypische Neuroleptika Vorteile bei der oralen Rezidivprophylaxe im Vergleich zu klassischen Neuroleptika haben. Leucht et al. (2003) präsentierte eine Übersicht von allen Studien zusammen mit einer metaanalytischen Einschätzung der Hauptergebnisse. Dennoch, die orale Verabreichung von atypischen Neuroleptika kann die Compliance nur bis zu einem gewissen Maß verbessern. Als ein Beispiel wird hier die doppelblinde Ein-JahresStudie von Risperidon vs. Haloperidol beschrieben (Csernansky et al. 2002). Eine tägliche Dosis von 2-8 mg Risperidon oder 5–20 mg Haloperidol waren erlaubt. Die durchschnittliche Dosis über die ganze Studienperiode war 4,9±1,9 mg für Risperidone und 11,7±5,0 mg für Haloperidol. Am Ende dieser Studie hatten 25,4% der Patienten in der Risperidongruppe (45 von 177) und 39,9% der Patienten in der Haloperidolgruppe (75 von 188) einen Rückfall erlitten. Die Kaplan-Meier-Schätzung über das Rückfallrisiko betrug 34% in der Risperidongruppe und 60% in der Haloperidolgruppe (p<0,001). In metaanalytischen Zusammenfassungen der Studien zu atypischen Neuroleptika wurde die Wirksamkeit der rezidivprophylaktischen Langzeittherapie mit Neuroleptika bestätigt. Dabei zeigte sich ein gewisser Vorteil für die Neuroleptika der 2. Generation (Leucht et al. 2002 b). Abb. 27.26. Noncompliance in der neuroleptischen Langzeitbehandlung (ca. 1 Jahr) schizophrener Patienten. (Nach Möller 1990)
Schlussfolgerungen Die meisten plazebokontrollierten Studien zur neuroleptischen Rezidivprophylaxe beziehen sich auf einen Zeitraum von bis zu einem Jahr, selten bis zu 2 Jahren. Wenn man auch die Absetzstudien in die Überlegungen einbezieht, so kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass der rezidivprophylaktische Effekt der neuroleptischen Rezidivprophylaxe zumindest über 3–5 Jahre eindeutig gesichert ist. Untersuchungen nach der sog. »Spiegelmethode« (s. oben) geben darüber hinaus Hinweise für eine noch viel längere Wirksamkeit. Atypische Neuroleptika sind mit einer besseren Compliance, einer besseren rezidivprophylaktischen Wirksamkeit und besseren extrapyramidalmotorischen Verträglichkeiten verbunden. Depotneuroleptika. Schon Hogarty et al. (1973, 1974 a, b)
wiesen darauf hin, dass ein wesentlicher Grund für die hohe Rezidivrate unter Neuroleptika darin zu sehen sei, dass ca. 50% der Kranken die Neuroleptika vorzeitig abgesetzt hatten. Die hohe Noncompliancerate schizophrener Patienten wurde auch in anderen Studien beschrieben (Chien u. Cole 1975; Crawford u. Forrest 1974; Falloon et al. 1978; Leff u. Wing 1971; McCreadie et al. 1980; ⊡ Abb. 27.26). Auch Depotneuroleptika können zwar nicht prinzipiell verhindern, dass ein Patient die ärztliche Betreuung und damit die neuroleptische Medikation abbricht. Aber bei solchen Patienten, die in der ärztlichen Betreuung bleiben, ist eine bessere Compliance durch die Depotneuroleptika garantiert. Damit sind theoretisch auch bessere Therapieresultate zu erwarten. Die Ergebnisse (⊡ Abb. 27.27) kontrollierter Studien, in denen eine orale Neuroleptikabehandlung mit einer Depotneuroleptikabehandlung verglichen wurde, weisen allerdings nicht eindeutig in diese Richtung (Crawford u. Forrest 1974; del Giudice et al. 1975; Falloon et al. 1978; Hogarty et al. 1979; Rifkin et al. 1977 a, b; Schooler et al. 1980).
27
658
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
⊡ Abb. 27.27. Rezidivprophylaxe Depotneuroleptika vs. orale Neuroleptika. (Nach Möller 1990)
27 Es wäre falsch, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass es in der praktischen Routineversorgung irrelevant wäre, ob man ein orales Neuroleptikum gibt oder ein Depotpräparat. Statt dessen sollten die Ergebnisse dieser kontrollierten Studien kritisch unter dem Aspekt betrachtet werden, dass bei diesen wissenschaftlichen Studien der Vorteil der Depotneuroleptika wegen des hohen Engagements und hohen personellen Aufwands bei der Durchführung der Studie nicht zum Tragen kommt, da eine gute Compliance bei der oralen Behandlung garantiert werden kann. In der allgemeinen Routineversorgung liegen andere Bedingungen vor, die die Vorteile der Depotneuroleptika eher erkennbar werden lassen (Kane et al. 1998; Möller 1986, 2007). Mit der Einführung von Depotpräparaten der neuen/atypischen Neuroleptika ergeben sich wahrscheinlich neue Perspektiven und ggf. breitere Anwendungsgebiete für die Behandlung mit Depotneuroleptika (Möller et al. 2005; Möller 2005 b).
Verträglichkeit der Rezidivprophylaxe mit Neuroleptika Die Verträglichkeitsprobleme im Rahmen der Langzeitbehandlung entsprechen im Wesentlichen denen der Akutbehandlung. Allerdings sind die Rate und das Ausmaß unerwünschter Begleitwirkungen nach klinischen Erfahrungen insgesamt nicht so hoch wie bei der Akutbehandlung. Dies ist dadurch bedingt, dass die Rezidivprophylaxe mit z. B. wesentlich geringeren Dosierungen durchgeführt wird und es außerdem insbesondere bei vegetativen Nebenwirkungen durch Adaptationsvorgänge zu einer Verringerung der ursprünglichen Nebenwirkungen trotz gleichbleibender Dosis kommt. Das gilt neben den vegetativen Begleiteffekten auch für die Sedierung, z. T. auch für die extrapyramidale Symptomatik.
Spätdyskinesien Das gravierendste Nebenwirkungsproblem im Rahmen einer lang dauernden Rezidivprophylaxe ist die Entwicklung von Spätdyskinesien. Von den diesbezüglichen prospektiven Studien sei die von Kane et al. (1986) kurz dargestellt. Die einbezogenen Patienten waren stationäre Patienten oder Nachbehandlungspatienten aus einer Klinik, die unabhängig von ihrer Diagnose und von der Medikamentenvorgeschichte ausgewählt wurden. Ein Anteil von ca. 10% hatte daher nie Neuroleptika bekommen. Letztere Patienten wurden als Kontrollgruppe einbezogen. Das Durchschnittsalter betrug bei Beginn der Studie 27 Jahre. Bei der Mehrheit der Patienten bestand insgesamt weniger als 1 Jahr kumulierte Neuroleptikaeinnahme. 75% der Patienten, die in die Studie eingingen, bekamen Neuroleptika zum Zeitpunkt der ersten Evaluierung. Die Daten von 616 Patienten mit Neuroleptikabehandlung und 52 Patienten mit schweren extrapyramidalen Nebenwirkungen in Folge der Neuroleptikatherapie wurden analysiert. ⊡ Abb. 27.28 zeigt die Ergebnisse von »Life-table-Analysen«, die die Inzidenz von tardiven Dyskinesien (TD) als Folge der Dauer der Neuroleptikabehandlung für die 616 neuroleptikabehandelten Patienten darstellt. Drei Kurven sind dargestellt: Die 1. zeigt die Häufigkeit von allen TD, die 2. die Häufigkeit von TD, die 3 Monate oder länger andauerten, die 3. die Häufigkeit von Fällen, die 6 Monate oder länger andauerten. Die Häufigkeit aller TD (95%iges Vertrauensintervall) ist 18,5% (+/–4,5%) nach 4 Jahren kumulierter Neuroleptikaeinnahme und 40% (+/–7%) nach 8 Jahren Einnahme.
659 27.5 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Neuroleptika
⊡ Abb. 27.28. Auftreten von Spätdyskinesien während 8-jähriger Neuroleptikabehandlung. (Nach Kane et al. 1986)
Die Häufigkeit von TD, die mindestens 3 Monate andauerten, ist 13% (+/–3%) nach 4 Jahren und 29% (+/–7%) nach 8 Jahren. Die Häufigkeit von TD, die mindestens 6 Monate andauerten betrug 11% (+/–3%) nach 4 Jahren und 22% (+/–6%) nach 8 Jahren. Als Risikofaktoren bei TD wurden ermittelt (⊡ Abb. 27.29):
Alter, weibliches Geschlecht, affektive Psychose, EPS in der Vorgeschichte.
Niedrigdosierungsstrategie. Durch niedrige Dosierungen,
wie sie insbesondere im Rahmen der Studien zur Niedrigdosierungsstrategie überprüft wurden, lässt sich die Rate vieler Nebenwirkungen, insbesondere der extrapyramidalen Nebenwirkungen, möglicherweise verringern. Dies wurde u. a. in der Niedrigdosierungsstudie von Kane et al. (1983) für die Spätdyskinesien dargestellt. Allerdings konnte dieser Befund in der Studie von Marder et al. (1987) nicht repliziert werden. Jedoch wurden in dieser Studie deutliche Vorteile der Niedrigdosierung bei parkinsonoider Symptomatik gefunden (⊡ Tab. 27.13). Atypische Neuroleptika haben ein deutlich niedrigeres Risiko tardiver Dyskinesien als typische Neuroleptika (Correll et al. 2004, ⊡ Abb. 27.30).
⊡ Abb. 27.29. Extrapyramidale Symptome (EPS) während der Anfangsbehandlung als Risikofaktor für Spätdyskinesien. (Nach Kane et al. 1986)
keine EPS
27
660
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
Durchschnittliche Rate der tardiven Dyskinesie (in %)
⊡ Abb. 27.30. Durchschnittliche, gewichtete 1-Jahres-Rate von tardiven Dyskinesien bei Patienten, die mit Antipsychotika der 2. Generation (n = 2769) bzw. Haloperidol (n = 408) behandelt wurden; Daten aus 12 Studien mit einer Dauer ≥1 Jahr, die über neu aufgetretene Fälle der tardiven Dyskinesie bzw. Dyskinesie berichtet haben; SGA Antipsychotika der 2. Generation, FGA Antipsychotika der 1. Generation. a In einer Studie wurden Raten der tardiven Dyskinesie bei erwachsenen und älteren Patienten getrennt angegeben. (Mod. nach Correll et al. 2004)
27
7 6 5 SGA 4 3
FGA
2 1 0 Gesamt SGA
Erwachsene Patienten
Ältere Patienten
n = 2769 (9 Studien)
n = 1964 (6 Studiena )
n = 521 (4 Studiena )
⊡ Tab. 27.13. Nebenwirkungenscores nach 3 Monaten (Mittelwerte an Kovariaten
angepassta).
(Nach Marder et al. 1987)
Nebenwirkung
5-mgDosierung (n = 32) Mittelwert ± SD
25-mgDosierung (n = 32) Durchschnitt ± SD
Akinesie Retardierung Tardive Dyskinesie Akathisie
0,65±1,14 1,05±1,35 0,56±0,81 0,92±1,21
1,00±1,10 1,93±1,73b 0,47±0,56 2,15±1,60c
a
Haloperidol behandelte Patienten n = 408 (3 Studien)
im affektiv-emotionalen Bereich, wie sie im Rahmen demenzieller Erkrankungen oft zu finden sind, positiv beeinflusst. Dieser Aspekt gehört aber nicht zur Definition des Antidementivums. Nachfolgend seien beispielhaft einige empirische Ergebnisse zu den Azetylcholinesterasehemmern z. Z. wichtigsten Gruppen von Antidementiva dargestellt.
27.6.1
Wirksamkeit von Azetylcholinesterasehemmern
Baseline-Werte von jedem Item als Kovariate. b p<0,05; c p<0,01.
Nachfolgend werden beispielhaft die Ergebnisse einer klinischen Studie des Azetylcholinesterasehemmers Donepezil dargestellt.
27.6
Wirksamkeit und Verträglichkeit Design von Antidementiva
Unter Antidementiva werden zentralnervös wirksame Arzneimittel verstanden, die höhere integrative Hirnfunktionen, wie Gedächtnis, Lernen, Auffassungs-, Denkund Konzentrationsfähigkeit, im Rahmen demenzieller Erkrankungen verbessern. Seit Einführung der Azetylcholinesterasehemmer als Therapeutikum für die senile Demenz von AlzheimerTyp, wird international zunehmend dem Begriff »Antidementiva« der Vorzug gegeben gegenüber den Nootropika, der früher in der Therapie demenzieller Erkrankungen gebräuchliche Medikamente bezeichnete. Unter Nootropika im engeren Sinne werden Substanzen mit typischen vigilanzsteigernden Effekten im EEG verstanden, wie z. B. Piracetam und Pyritinol (Giurgea 1972). Neben den kognitiven Störungen, die zur Kernsymptomatik hirnorganischer bzw. demenzieller Erkrankungen gehören, werden von den Antidementiva häufig auch Effekte auf hirnorganisch bedingte Veränderungen
In diese Phase-III-Studie (Rogers et al. 1996) wurden 468 Patienten mit leichter bis mittelschwerer AlzheimerDemenz eingeschlossen. Der plazebokontrollierten, doppelblinden, aktiven Behandlungsphase von 12 Wochen Dauer schloss sich eine einfachblinde Plazeboauswaschphase von 3 Wochen Dauer an. Die 3 Arme der aktiven Behandlungsphase gliederten sich wie folgt: a) Plazebo für 12 Wochen, b) Donezepil 5 mg/Tag für 12 Wochen, c) Donezepil 5 mg/Tag für eine Woche, gefolgt von 10 mg/Tag für 11 Wochen. Die Auswaschphase sollte Erkenntnisse zu eventuellen Absetz- bzw. Reboundphänomenen liefern. Primäre Zielgrößen waren ADAS-cog und CIBIC–plus (Clinician’s Interview-Based Impression of Change – plus), als sekundäre Zielgrößen wurden MMST (Mini Mental State Test) und CDR-SB (Clinical Dementia Rating – Sum of Boxes) beurteilt. Die Studie zeigte für beide Dosierungen (5 mg
661 27.6 · Wirksamkeit und Verträglichkeit von Antidementiva
und 10 mg/Tag) statistisch signifikante Verbesserungen gegenüber Plazebo, sowohl im kognitiven Bereich als auch in der global-klinischen Beurteilung.
Ergebnisse Den Verlauf der mittleren Änderungen im ADAS-cog gegenüber dem Ausgangswert zu Therapiebeginn zeigt ⊡ Abb. 27.31. Die kognitiven Verbesserungen unter der Therapie mit Donepezil wurden durch die global-klinische Beurteilung nach CIBIC-plus bestätigt. Zum Studienendpunkt (Woche 12) zeigten 38% der Patienten unter 10 mg/Tag Donepezil eine Verbesserung im CIBIC-plus (Rating 1–3), unter 5 mg/Tag betrug der Anteil der als »verbessert« beurteilten Patienten 32% (Plazebo: 18%; Eisai GmbH 1997). Auch im MMST, einem eher weniger sensitiven Instrument, zeigten sich in dieser Studie statistisch signifikante Verbesserungen unter der Therapie mit Donepezil. Während der Plazeboauswaschphase wurden keinerlei Reboundphänomene beobachtet. Die Resultate der Zielgrößen zeigten eine Tendenz zur Rückkehr auf das Niveau der Plazebogruppe. Absetzversuch. Unter inhaltlichen und methodischen As-
pekten ist die Plazebophase nach der Therapiephase von besonders großem Interesse. Sie zeigt, dass der Therapieeffekt von Donepezil – und das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit generalisierbar auf alle anderen Azetylcholinesterasehemmer – nach Absetzen aufhört und die verumbehandelten Patienten in ihrem kognitiven Wert auf das Niveau der Patienten des Plazebotherapiearms absinken. ! Das bedeutet für die Praxis, dass bei Respondern die Therapie unbedingt fortgeführt werden muss (Winbald et al. 2006; Gasper et al. 2005; Johannsen 2004; Wilcock et al. 2003). ⊡ Abb. 27.31. Zeitlicher Verlauf der ADAS-cog (gegenüber Ausgangswert) über 12 plus 3 Wochen. (Nach Rogers et al. 1996)
Langzeiteffekte der Azetylcholinesterasehemmer. Hin-
sichtlich der Effekte von Azetylcholinesterasehemmern unter Langzeitbedingungen sind Befunde über die Verzögerung der Heimunterbringung von großer Bedeutung. Sie zeigen, dass in einem so versorgungs- und gesundheitsökonomisch relevanten Aspekt die Langzeitbehandlung mit Azetylcholinesterasehemmern positive Effekte zeigt. Die Verzögerung der Heimunterbringung wurde u. a. demonstriert in einer offenen Weiterbehandlung von Patienten, die an der oben genannten 30-Wochen-Studie mit dem ersteingeführten, heute wegen seiner Nebenwirkung nicht mehr eingesetzten Azetylcholinesterasehemmer Tacrin teilgenommen hatten (Knapp et al. 1994). Es zeigte sich, dass im Vergleich zu den nicht weiter behandelten Patienten die tacrinbehandelten Patienten signifikant seltener im Einjahreszeitraum im Alters- oder Pflegeheim untergebracht werden mussten. Dieser Effekt ist, wie weitere Analysen zeigten, nicht als positiver Selektionseffekt der mit Tacrin behandelten Patienten zu interpretieren, da sich eine eindeutige Dosis-Wirkungs-Beziehung (höhere Dosierung, besserer Effekt) zeigte (Gracon et al. 1997; ⊡ Abb. 27.32).
27.6.2
Verträglichkeit von Azetylcholinesterasehemmern
Unter Medikation mit Azetylcholinesterasehemmern kann es zu cholinergen Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Dyspepsie, Bauchschmerzen u. a. kommen. Sie liegen in dem Wirkungsmechanismus dieser Substanzen begründet. Durch Dosisanpassung oder ggf. einer symptomatischen Therapie (z. B. Antiemetika) können sie beherrscht werden. Das Ausmaß dieser und anderer Nebenwirkungen ist zwischen den einzelnen Azetylcholinesterasehemmern unterschiedlich. Als Beispiel werden hier die diesbezüglichen Ergebnisse der eben dargestellten Donezepilstudien aufgeführt.
27
662
Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
⊡ Abb. 27.32. Verzögerung der Heimunterbringung unter Langzeitbehandlung mit verschiedenen Tacrindosierungen. Nach 300 Tagen waren 25% der Patienten der niedrig dosierten Gruppe in ein Pflegeheim eingetreten, verglichen mit 5% der Patienten, die höhere Dosen erhielten. Zusätzliche 400 Tage verstrichen, bevor 25% der Patienten in der höher dosierten Gruppe in ein Pflegeheim eingetreten waren. (Nach Gracon et al. 1997)
27 ⊡ Abb. 27.33 enthält einen Vergleich der häufigsten unerwünschten Ereignisse, die in klinischen Studien unter Donepezil an insgesamt 1211 Patienten registriert wurden (Eisai GmbH 1997; Rogers u. Friedhoff 1997). Dabei zeigte sich, dass das Nebenwirkungsprofil der Therapie mit 5 mg Donepezil/Tag in etwa dem Plazeboniveau entsprach. Nur für die Symptome Durchfall, Müdigkeit und Muskelkrämpfe zeigte sich eine leicht erhöhte Inzidenz im Vergleich zu Plazebo. Die 10-mg-Gruppe schnitt bezüglich der Nebenwirkungen deutlich ungünstiger ab. Interessant sind die unterschiedlichen Nebenwirkungsraten für 2 verschiedene Patientengruppen unter
10 mg Donepezil pro Tag: in der einen Gruppe wurde die Dosis nach nur 1 Woche von 5 mg auf 10 mg gesteigert, die 2. Gruppe wurde über 6 Wochen mit 5 mg täglich therapiert, bevor die Behandlung auf 10 mg einmal täglich umgestellt wurde. In dieser zweiten Gruppe zeigte sich ein Nebenwirkungsprofil, das weitestgehend mit demjenigen der 5 mg-Gruppe bzw. der Plazebogruppe identisch war. Das bedeutet, dass eine einschleichende Dosierung bei der Behandlung mit 10 mg zu deutlich günstigeren Ergebnissen im Hinblick auf die Nebenwirkungen führt.
Diarrhö
⊡ Abb. 27.33. Vergleich der Häufigkeit von unerwünschten Ergebnissen aufgeschlüsselt nach Therapiegruppen. (Nach Rogers u. Friedhoff 1997)
663 Literatur
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Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
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Kapitel 27 · Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen
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28 28 Sonstige biologische Therapieverfahren (EKT, Schlafentzugsbehandlung, Lichttherapie, TMS, VNS) – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien S. Kasper
28.1 28.1.1 28.1.2 28.1.3 28.1.4 28.1.5
Elektrokrampftherapie – 671 Wirkmechanismus – 671 Praktische Durchführung – 672 Indikation, Prädiktion – 673 Nebenwirkungen, Kontraindikationen Elektrokrampftherapie und Psychopharmaka – 675
28.3.4 Nebenwirkungen – 683 28.3.5 Lichttherapie und Psychopharmaka – 683
28.2 28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4 28.2.5
Schlafentzugstherapie – 675 Wirkmechanismus – 675 Praktische Durchführung – 676 Indikation, Prädiktion – 678 Nebenwirkungen, Risikopopulation – 678 Schlafentzug und Psychopharmaka – 679
28.3 28.3.1 28.3.2 28.3.3
Lichttherapie – 679 Wirkmechanismus – 680 Praktische Durchführung – 681 Indikation, Prädiktion – 683
– 674
28.4 28.4.1 28.4.2 28.4.3 28.4.4 28.4.5
Transkranielle Magnetstimulation – 683 Wirkmechanismus – 684 Praktische Durchführung – 685 Indikation – 685 Nebenwirkungen – 685 Zukunftsperspektiven der TMS – 685
28.5 28.5.1 28.5.2 28.5.3 28.5.4 28.5.5
Vagusnervstimulation – 685 Wirkmechanismus – 686 Praktische Durchführung – 686 Indikation – 686 Nebenwirkungen – 686 Ausblick – 687 Literatur
– 687
> > Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurden mehrere pharmakologische, aber auch nichtpharmakologische, biologisch fundierte Therapien zur Behandlung der Depression eingeführt (⊡ Abb. 28.1). Unter den nichtpharmakologischen Behandlungen hat sich die Elektrokrampftherapie (EKT) weltweit als eine effektive Behandlungsform bei einer spezifischen Indikationsstellung etabliert (ECT Review Group 2003; American Psychiatric Association/APA 2001; Folkerts et al. 1996). Der therapeutische Schlafentzug (SE) wird hingegen vorwiegend in Deutschland und mit wenigen Ausnahmen, hauptsächlich in Forschungszentren, auch in den USA, durchgeführt. Das therapeutische Potenzial sowie die darin einbegriffenen Wirkmechanismen sind monografisch zusammengefasst worden (Kasper u. Möller 1996). Untersuchungen über die Lichttherapie (LT) wurden von der Gruppe am NIMH (National Institute of Mental Health, USA) um Rosenthal (Rosenthal et al. 1984) zuerst veröffentlicht, jedoch auch umfangreich im deutschsprachigen Raum durchgeführt (Winkler et al. 2002). Sie gilt heute als die Standardbehandlung für die Herbst-Winter-Depressionen (saisonal abhängige Depression/ SAD) und deren subsyndromale Form. Durch eine klinische Beobachtung und durch Hinweise aus der Literatur, dass bei gesunden Kontrollpersonen eine Veränderung der Befindlichkeit auftritt, wurde die bei den Neurologen als Diagnostikum angewandte transkranielle Magnetstimulation (TMS) erstmals von der Bonner Arbeitsgruppe um Kasper und Möller bei depressiven Patienten eingesetzt (Höflich et al. 1991).
Die wenigen bis jetzt verfügbaren Untersuchungen müssen noch als vorläufig betrachtet werden; sie weisen jedoch darauf hin, dass diese Methode potenziell vielversprechend sein kann. Ebenfalls aus der Neurologie kommend, hat die Vagusnervstimulation (VNS) eine gewisse Wirksamkeit bei chronischen therapieresistenten Depressionen erkennen lassen.
671 28.1 · Elektrokrampftherapie
28.1
Elektrokrampftherapie
28.1.1
Wirkmechanismus
Die Auslösung eines epileptischen Anfalls und eine sich daran anschließende Verbesserung der psychischen Befindlichkeit wurden in den 1930er Jahren beschrieben. Der Anfall wurde zuerst durch die Verwendung von Kampfer und Kardiazol (von Meduna 1937), Insulin (Sakel 1935) und später durch die Anwendung von elektrischem Strom (Cerletti u. Bini 1938) ausgelöst. Da keine adäquate andere Therapiemethode in der Psychiatrie zur Verfügung stand, fand die damals als Elektroschockbehandlung bezeichnete Therapie eine rasche weltweite Verbreitung. Ursprünglich wurde diese Therapie für die Behandlung von schizophrenen Psychosen entwickelt. Es zeigte sich jedoch bald, dass eine höhere Wirksamkeit bei depressiv Erkrankten zu verzeichnen ist. Häufig wird die Ansicht vertreten, dass bei einer richtigen Anwendung der Psychopharmako-, Sozio- und Psychotherapie auf die Anwendung der EKT weitgehend verzichtet werden kann. Demgegenüber steht jedoch die klinische Praxis, dass eine schwere Symptomatik bei Therapie-Non-Respondern (Möller 1991) durch die EKT rasch beseitigt werden kann und dass die Patienten nicht den belastenden, oft lebensgefährlichen Spontanverlauf ihrer Erkrankung abwarten müssen. Die EKT wird in der Öffentlichkeit häufig unsachlich dargestellt und als eine gefährliche und den Patienten stark belastende, unwirksame »Foltermethode« beschrieben. Aber auch das andere Extrem, dass die EKT als Wundermittel angesehen wird, wird manchmal von Ärzten oder Patienten vertreten; so sollen z. B. Patienten mit einem jahrelangen Krankheitsverlauf bereits nach 5–10 Anwendungen gesunden. Beiden Standpunkten stehen exakte klinische Studien gegenüber, die diese Therapie rational begründen. Durch die substanzielle Verbesserung der Methodik und dem Vorliegen klarer Behandlungsstandards (Abrams 2002) kann die EKT nach wie vor als ein unverzichtbares Therapieverfahren gesehen werden, dessen Nebenwirkungsrisiko nicht über dem anderer psychiatrischer Behandlungsverfahren liegt (Sauer u. Lauter 1987 b).
Das Wirkprinzip der EKT ist ebenso wie das anderer Antidepressivaverfahren noch nicht vollständig geklärt (Sackeim et al. 1995; s. Übersicht). Im Tierversuch kommt es unter der EKT zu einer Zunahme des Umsatzes von Noradrenalin und gleichzeitig zu einer Minderung der Noradrenalinwiederaufnahme. Weiterhin wird die Zunahme serotonerger und dopaminerger Funktionen sowie verschiedener biochemischer Effekte diskutiert, wie z. B. unter der Anwendung von Antidepressiva eine βDown-Regulation.
⊡ Abb. 28.1. Verschiedene pharmakologische (oben) und nichtphar-
aufnahmehemmer (Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin), NaSSA Noradrenalin-Serotonin-spezifisches Antidepressivum (Mirtazapin), SNRI Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Venlafaxin, Milnacipran, Duloxetin), NRI: Noradrenalinwiederaufnahmehemmer (Reboxetin), RIMA reversible Hemmer der Monoaminoxidase-A (Moclobemid), HYP Hypericum-Extrakte]
makologische (unten), jedoch biologisch begründete Therapien der Depression [EKT Elektrokrampftherapie, LT Lichttherapie, SE Schlafentzug, TMS transkranielle Magnetstimulation, VNS Vagusnervstimulation, MAO-I Monoaminoxidasehemmer (Tranylcypromin), TZA trizyklische Antidepressiva (Amitriptylin u. a.), SSRI selektive Serotonin-Wieder-
Untersuchungen zum Wirkmechanismus der Elektrokrampftherapie (EKT) Neurophysiologische Effekte Zunahme langsamer EEG-Aktivität (δ-θ-Aktivität), Abnahme von zerebralem Blutfluss (CBF) und Glukosemetabolismus reversible Hemmung der Proteinsynthese vermehrte Permeabilität der Blut-HirnSchranke Biochemische Effekte auf Neurotransmitter, Rezeptordichte, Peptidkonzentrationen und Signal-VerarbeitungsMechanismen Zunahme von folgenden Funktionen: noradrenerger, serotonerger, dopaminerger, endogener Opioide, Adenosin1-Rezeptoren, Gen-Expression (C-fos, C-jun und weiterer protoonkogener Produkte) Reduktion der cholinergen Hypersensibilität Gammaaminobuttersäure (GABA): unklar
In verschiedenen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass der therapeutische Effekt an den generalisierten zerebralen Krampfanfall gebunden ist, der eine Dauer von 5 s erreichen soll (APA 2001). Spezifische Plazeboeffekte konnten durch kontrollierte Untersuchungen ausgeschlossen werden (Sauer u. Lauter 1987 a).
28
672
Kapitel 28 · Sonstige biologische Therapieverfahren
28.1.2
28
Praktische Durchführung
Es liegen verschiedene Konsensus-Statements zur Durchführung der EKT vor (ECT Review Group 2003; APA 2001; Folkerts et al. 1996; ⊡ Tab. 28.1). Danach werden je nach klinischer Notwendigkeit zwischen 6 und 12 Einzelbehandlungen in einer Frequenz von 2–3 Anwendungen pro Woche empfohlen. Die Behandlung erfolgt in Kurznarkose (Methohexital) unter Muskelrelaxation (Sukzinylcholin) und O2-Beatmung. Wegen der geringen Wirkung auf die Krampfschwelle hat sich Methohexital im Vergleich zu Propofol bewährt (Simpson et al. 1988). Es wird empfohlen mit einer unilateralen Elektrodenposition (⊡ Abb. 28.2) über der nichtdominanten Hirnhälfte zu beginnen, da dadurch im Vergleich zur bilateralen Anwendung die Verträglichkeit besser gegeben ist. Nach 6–8 unilateralen Behandlungen sollte allerdings bei Therapieversagern die bilaterale Methode angewandt werden. Um das Ausmaß der Gedächtnisstörungen zu reduzieren, ist die Verabreichung einer möglichst geringen Strommenge zur Auslösung des generalisierten Krampfanfalles anzu-
⊡ Abb. 28.2. Lokalisation der Stimulationselektroden (nach APA 2001): Bei bilateraler Elektrokrampftherapie werden beide Elektroden an Position 1 links und rechts angebracht. Bei rechts unilateraler EKT (nach d`Elia u. Raotma 1975) wird eine Elektrode an Position 1 und die andere an Position 2 knapp neben der Mittellinie am Mittelpunkt der Verbindung zwischen Nasion und Inion aufgesetzt
⊡ Tab. 28.1. Praktische Richtlinien zur Elektrokrampftherapie (EKT) Voraussetzungen
Apparative Voraussetzungen
Apparat mit biphasischen Kurzimpuls-Rechteck-Wechselstromreizen, Ausgangsstrom: 0,9 A ± 7,5% konstant, Impedanzmessung: Ladung: 25 (minimal) bis 504 (maximal) mC (Millicoulomb) bei Gerät »Thymatron«, Stimulusdauer 8–10 s EEG (und eventuell EMG) zum Monitoring des Krampfanfalls, z. B. »Thymatron« Narkoseeinrichtung für O2-Maskenbeatmung Verfügbarkeit eines Intubationsbestecks, im Idealfall Respirator für den Narkosezwischenfall sowie Monitoring des EKG und der transakuten O2-Sättigung
Vorbereitung
Nüchtern, keine Fettcremes, kein Haarspray, keine Zahnprothese Beißkeil als Zahnschutz des Krampfanfalls
Anästhetische Substanzen
Zuvor Anticholinergikum (z. B. 0,5 mg Atropin i. v.), damit Verlangsamung der Herzfrequenz verhindert wird; Methohexital (z. B. 1–2 mg/kg KG), Sukzinylcholin (z. B. 0,6 mg/kg KG) Initial forcierte Oxygenierung, da während des Krampfanfalls in der Routine keine Beatmung erfolgt
Begleitmedikation
Lithium und Antikonvulsiva: Dosis bis zum untersten therapeutischen Bereich reduzieren Sparsam mit Benzodiazepinen
Platzierung der Elektroden
Unilaterale EKT an nichtdominanter Hemisphäre (meist rechte, auch bei 90% der Linkshänder: Abb. 28.2) Bilaterale EKT bifrontotemporale Platzierung (Position 1, Abb. 28.2 beidseits)
Stimulusdosis
Erste Behandlung: Stimulustitration zur Festlegung der Krampfschwelle Folgebehandlung: 3- bis 4fache Initialdosis bei unilateraler, 2fache Initialdosis bei bilateraler EKT
Krampfanfall
Krampfanfall sollte mindestens 20 s dauern (EEG registrierter Anfall), ansonsten bis zu 2-mal mit höherer Ladungsdosis restimulieren Gesamtanfallsaktivität bei Serie von EKT: etwa 300–400 s
Frequenz und Anzahl der Behandlungen
3-mal bzw. 2-mal die Woche Durchführung der EKT-Serie bis zur Besserung (meist 12 Behandlungen), zusätzliche Anwendungen über Besserung hinaus nicht empfehlenswert Behandlungsbeginn mit unilateraler, bei Therapieversagen Wechsel auf bilaterale EKT nach 4.–6. Anwendung
Erhaltungs-EKT
Wenn Antidepressiva nicht erfolgreich, z. B. in monatlichen Abständen Cave: bilaterale Anwendung (kognitive Störung)
Qualifiziertes EKT-Team Interne Freigabe für die Narkose Einverständniserklärung Geeignete Dokumentation
28
673 28.1 · Elektrokrampftherapie
Klinische Abteilung für Allgemeine Psychiatrie, Medizinische Universität Wien ❏ ❏ ❏ ❏
unilateral = 1 / bilateral = 2 Energie (%) statische Impedanz (Ohm) dynamische Impedanz (Ohm) EEG-Anfallsdauer (s) EMG-Anfallsdauer (s) Ruhefrequenz / max. Herzfrequenz Konvulsions-Energie-Index postiktaler Unterdrückungsindex Zeit bis zur max. EEG-Amplitude (s) Konvulsions-Konkordanz-Index (%) Zeit bis zur max. Kohärenz (s)
Robinul sonstige sonstige
❏ ❏
intubiert
❏ ❏
❏ ❏ ❏ ❏
❏ ❏ ❏ ❏
❏ ❏ ❏
❏ ❏
❏ ❏ ❏
❏ ❏
❏
Arzt:
sonstiger Dekurs:
⊡ Abb. 28.3. Beispiel eines Elektrokrampftherapieprotokolls
streben. Besonders günstig hat sich die sog. »Kurzpulstechnik« erwiesen. Zur Dokumentation während der EKT sind verschiedene Kliniken zu einer standardisierten Befunderhebung (⊡ Abb. 28.3; Tauscher et al. 1997) übergegangen.
28.1.3
Indikation, Prädiktion
Es liegen ausführliche Untersuchungen zu folgenden Indikationen vor (Sauer u. Lauter 1987 b; Sackeim et al. 1995; Tauscher et al. 1997): Depressive Störungen, depressive Störungen mit psychotischen Symptomen, therapieresistente depressive Störungen, produktive schizophrene Störungen, sowie febrile Katatonie. Als Mittel der ersten Wahl sollte die EKT bei depressivem Stupor, therapieresistenter depressiver Störung sowie bei der febrilen Katatonie angewandt werden. Weitere günstige Effekte sind auch bei depressiven Störungen mit psychotischen Symptomen (wahnhafte Depression) beschrieben worden (z. B. Tauscher et al. 1997). Die antide-
pressive Wirkung der EKT kann aus ⊡ Abb. 28.4 b entnommen werden. Wirksamkeit. In verschiedenen Untersuchungen konnte
gezeigt werden, dass die EKT der Plazebostimulierung überlegen ist (Sauer u. Lauter 1987 b). Die Wirksamkeit der EKT scheint größer zu sein als die der älteren und neueren Antidepressiva. Darüber hinaus setzt der depressionslösende Effekt unter der EKT-Anwendung früher ein als unter der Anwendung von Antidepressiva. Die Ansprechrate wird in der Literatur bei der Indikation depressiver Störungen zwischen 75 und 95% angegeben. Bei den wahnhaften depressiven Störungen traten unter der EKT günstigere Effekte auf als unter der Behandlung entweder mit trizyklischen Antidepressiva alleine oder unter der Kombination von Neuroleptika mit Antidepressiva. Bei der Diagnose einer therapieresistenten depressiven Störung (Möller 1991; Kuhs 1995) konnte gezeigt werden, dass etwa 50% dieser Patienten noch günstig auf die EKT ansprechen. Bei der Behandlung von produktiven schizophrenen Störungen zeigten sich allerdings Neuroleptika der EKT überlegen. Bei schizophrenen Patienten, die als resistent für eine Neuroleptikatherapie angesehen wurden, ließ sich noch bei etwa 60% ein günstiger Effekt darstellen.
674
Kapitel 28 · Sonstige biologische Therapieverfahren
⊡ Abb. 28.4a, b. Therapeutisches Ansprechen auf Elektrokrampftherapie. a In der Untersuchung von Abrams et al. (1991) wurde die unilaterale mit der bilateralen Methode verglichen. b In dem Bericht von Tauscher et al. (1997) wurden 12 Patienten mit schweren depressiven Episoden mit psychotischen Symptomen behandelt
28
Weitere Indikationen. Es werden diskutiert: Morbus Par-
kinson, therapieresistente Zwangsstörung sowie organische Psychosyndrome und Persönlichkeitsstörungen. Da für diese Indikationen jedoch keine aussagekräftigen Studien vorliegen, sollte dies jeweils individuell kritisch geprüft werden (Folkerts 1995).
28.1.4
Nebenwirkungen, Kontraindikationen
Unter der lege artis durchgeführten EKT ist mit einer nur geringen Nebenwirkungsrate zu rechnen. Auf etwa 40.000 Anwendungen wird ein Todesfall beobachtet. Hiermit ist das Risiko nicht höher einzuschätzen als das bei einer Zahnextraktion in Vollnarkose. Früher, als noch keine Muskelrelaxation eingesetzt wurde, musste man mit Luxationen und Knochenbrüchen, insbesondere Wirbelkörperbrüchen rechnen. Kardiale Nebenwirkungen sind wegen der internistischen Abklärung vor der Narkose und der intensivmedizinischen Überwachung ebenfalls selten. Hinweise auf eine durch diese Behandlungsform induzierte Schädigung des Gehirns bestehen nicht (Devanand et al. 1994).
Gedächtnisstörungen. Als häufigste Nebenwirkungen, insbesondere unter der bilateralen Anwendung der EKT (Sackeim et al. 1993), sind die anterograde und retrograde Gedächtnisstörung zu nennen, die im Regelfall jedoch meist innerhalb von wenigen Stunden bis Tagen wieder abklingen. Sie sind bei biphasischen Kurzimpuls-Rechteck-Wechselstromreizen geringer als unter sinusförmigen Stimuli (Weiner 1980). Höherfrequente EKT-Behandlungen am selben Tag oder an darauffolgenden Tagen sind nicht empfehlenswert, da wahrscheinlich kein rascher Wirkungseintritt, aber eine höhere Inzidenz an kognitiven Beeinträchtigungen die Folge ist.
Kontraindikationen Cave Absolute Kontraindikationen für die Anwendung einer EKT sind ein kürzlich überstandener Herzinfarkt, zerebrale oder aortale Aneurysmen, zerebrale Angiome und ein erhöhter Hirndruck.
Als relative Kontraindikationen sind eine koronare Herzerkrankung, eine schwere arterielle Hypertonie, sowie ein Zustand nach zerebralem Insult und pulmonale Erkrankungen zu sehen.
675 28.2 · Schlafentzugstherapie
28.1.5
Elektrokrampftherapie und Psychopharmaka
Während einer EKT empfiehlt es sich, die zuvor gegebene Medikation in derselben Dosierung fortzuführen. Dies erscheint insofern notwendig, da nach der EKT keine Remissionsstabilität besteht und erneut eine Medikation eingeleitet werden muss. In einer kontrollierten Untersuchung konnten Sackeim et al. (2001 b) feststellen, dass die nachfolgende Behandlung mit Nortriptylin mit einem günstigen Langzeiteffekt verbunden war. Während der EKT ist von allen Medikamenten Abstand zu nehmen, die die Krampfschwelle anheben, so z. B. Benzodiazepine, aber auch Phasenprophylaktika wie Carbamazepin und Valproinsäure. Weiterhin ist wegen der höheren Inzidenz von Gedächtnisstörungen von einer Lithiummedikation während der EKT abzuraten (Small u. Millstein 1990), eine Beobachtung, die jedoch aufgrund anderer Ergebnisse relativiert werden muss (Lippmann u. El-Mallakh 1994; Jha et al. 1996).
28.2
Schlafentzugstherapie
Obwohl nicht alle Patienten mit einer depressiven Erkrankung Schlafstörungen aufweisen, zeigt sich bei einem Großteil, dass Veränderungen des Schlaf-Wach-Rhythmus einen wichtigen Faktor in der Erkrankung darstellen. Das Verhältnis zwischen Schlaf und depressiver Erkrankung ist jedoch schwierig aufzudecken, da der SchlafWach-Rhythmus auch auf Umgebungsvariablen, wie soziale oder sonstige Faktoren, die ebenfalls eine depressive Erkrankung beeinflussen können, sensibel reagiert. Trotz dieser Schwierigkeit konnten die Untersuchungen eindeutig belegen, dass der therapeutische Schlafentzug (SE) bei Patienten mit einem depressiven Syndrom unterschiedlicher Genese einen akuten antidepressiven Effekt bewirkt (Kuhs u. Tölle 1986; Wirz-Justice et al. 2005). Im Gegensatz dazu fühlen sich gesunde Menschen nach einer durchwachten Nacht eher dysphorisch (Kasper et al. 1989 c).
28.2.1
Wirkmechanismus
Der therapeutische Effekt des SE gab immer wieder Anregung zur Diskussion verschiedener Wirkmechanismen. An verschiedenen Theorien sind zu nennen: Plazeboeffekt (intensive Behandlung), psychologischer Effekt (»Selbstbestrafung«), unspezifischer Stress, Resynchronisation eines biologischen Rhythmus. Kein Schlaf in der sog. »kritischen Phase«, Phase-advance-Hypothese,
Verhinderung des »depressiogenen« REM-Schlafs, Herabsetzung der Körperkerntemperatur (Prävention einer »relativen Hyperthermie«), vermehrte hypothalamisch-hypophysäre Aktivität, Veränderung monoaminerger Stoffwechselwege, Verhinderung der Freisetzung einer depressiogenen Substanz im Schlaf, Freisetzung einer antidepressiven Substanz während Wachperiode in der Nacht. Während ein Plazeboeffekt, der aufgrund der vermehrten Zuwendung während des SE auftreten könnte, als möglicher Wirkmechanismus weitgehend ausgeschlossen wurde (Buddeberg u. Dittrich 1978), sehen van den Burg u. van den Hoofdakker (1975) eine mögliche hypothetische Erklärung der therapeutischen Wirksamkeit des SE in der Erniedrigung des Arousalniveaus. Die Phase-advance-Hypothese (Phasenvorverlagerung) geht von der Vorstellung aus, dass der therapeutische Effekt des SE dadurch erreicht wird, dass die Patienten in einer sog. »kritischen Phase« nicht schlafen (Wehr u. Wirz-Justice 1981). Diese kritische Phase ergibt sich aufgrund der Autoren dadurch, dass bei den Patienten ein Rhythmus (z. B. der Temperaturrhythmus) gegenüber dem Schlaf-Wach-Zyklus vorverschoben ist (»phase-advance«). Die Untersuchungen von Vogel et al. (1968, 1980) konnten zeigen, dass eine Unterdrückung der REMSchlaf-Produktion antidepressiv wirkt; dabei soll die Unterdrückung des REM-Schlafs durch eine Verstärkung der aminergen Aktivität therapeutisch wirksam sein. Da der therapeutische SE ein energieverbrauchender Eingriff ist und da Responder auf den therapeutischen SE höhere nächtliche Körperkerntemperaturen aufweisen (Gerner et al. 1979; Elsenga u. van den Hoofdakker 1988), wurde die Veränderung des Energiehaushalts im Zusammenhang mit dem antidepressiven Effekt des therapeutischen SE diskutiert (Wehr et al. 1988; Kasper et al. 1989 c). Weiterhin haben vereinzelte Studien auch erkennen lassen, dass die Veränderungen der hypothalamischhypophysären Aktivität, der monoaminergen Stoffwechselwege sowie elektrophysiologische Parameter für den therapeutischen Effekt der SE von Bedeutung sein können (Post et al. 1976; Matussek et al. 1974; Gerner et al. 1979; Sack et al. 1985; Kasper et al. 1988 b, c; Neumeister et al. 1998 a). Bildgebende Verfahren (Positronemissionstomografie/PET, Singlephotonemissionscomputertomografie/ SPECT) haben Veränderungen im anterioren Zingulum (Abnahme der Aktivität) als bedeutsam erscheinen lassen (Ebert et al. 1991; Wu et al. 1992). Mehrere Studien zum Metabolismus fanden übereinstimmend einen limbischen Hypermetabolismus bei SE-Respondern vor SE, der durch den SE normalisiert wurde (Ebert 1996). Obwohl diese verschiedenen Erklärungsansätze z. T. interessante Zusammenhänge aufzeigen, müssen sie als
28
676
Kapitel 28 · Sonstige biologische Therapieverfahren
vorläufig angesehen werden, da sie z. T. unvollständige oder sogar widersprüchliche Ergebnisse beinhalten.
28.2.2
28
Praktische Durchführung
In ⊡ Tab. 28.2 sind die möglichen Arten der klinischen Behandlung durch SE zusammengefasst. Während der totale und der partielle SE (der 2. Nachthälfte) sowohl unter stationären als auch unter ambulanten Bedingungen gut durchgeführt werden kann, sind die Phase-advance-Therapie und der REM-Schlafentzug wegen des hohen Personalaufwands bzw. der Notwendigkeit einer apparativen Ausstattung vorwiegend den Forschungsabteilungen vorbehalten (Berger et al. 1995). Beim totalen SE beginnt die Behandlung am Morgen vor der zu durchwachenden Nacht und reicht bis zum Abend nach der durchwachten Nacht, am besten bis zu einem für den Patienten gewohnten Zeitpunkt des Zubettgehens. Dabei ist es wichtig, dass der Patient über diesen gesamten Zeitraum (meist 40 h) nicht schläft, d. h. weder vor- noch nachschläft. Insbesondere eine Schlafphase in den Morgenstunden oder auch nur ein Einnicken (»nap«) nach durchwachter Nacht sollte aufgrund der neueren Nap-Untersuchungen vermieden werden, da gezeigt werden konnte, dass sich dadurch die depressive Verstimmung rasch wieder einstellt (Wiegand et al. 1987). Vielleicht etwas weniger belastend für den Patienten und therapeutisch gleich effektiv ist der partielle SE der 2. Nachthälfte (Schilgen u. Tölle 1980), bei dem die Patienten angehalten werden, ab 1 bzw. 2 Uhr morgens bis zum Abend dieses Tages wach zu bleiben. Der partielle SE in der 1. Hälfte der Nacht hat sich als antidepressiv unwirksam dargestellt (Goetze u. Tölle 1981; Sack et al. 1988).
Die Phase-advance-Therapie (Wehr et al. 1979; Berger et al. 1995), die praktisch einen fortgesetzten partiellen SE der 2. Nachthälfte (z. B. für die Dauer von 14 Tagen) darstellt, wurde bis jetzt lediglich, ebenso wie der REMSchlafentzug (Vogel et al. 1968, 1980), an Forschungseinrichtungen untersucht und bedarf weiterer praktischer und theoretischer Absicherung. Bei der Phase-advanceTherapie wird eine Vorverschiebung des Schlaf-WachRhythmus im Sinne einer Schlafrhythmusänderungstherapie durchgeführt. Nach Aufklärung des Patienten wird bei der Schlafrhythmusänderungstherapie folgendes Schlafschema realisiert: Tag 1: 21.00–1.00 Uhr Tag 5: 20.00–4.00 Uhr Tag 2: 17.00–1.00 Uhr Tag 6: 21.00–5.00 Uhr Tag 3: 18.00–2.00 Uhr Tag 7: 22.00–6.00 Uhr Tag 4: 19.00–3.00 Uhr Durch diese Therapie wird eine angenommene, der Depression zugrunde liegende zirkadiane Störung beeinflusst. In ⊡ Tab. 28.3 sind einige Vorschläge zum praktischen Vorgehen beim SE zusammengefasst. Häufig lernt der Patient den SE erstmals im Rahmen der stationären Behandlung kennen. Im Anschluss daran kann der SE im ambulanten Bereich z. B. derart erfolgen, dass der Patient nur für die Schlafentzugsnacht in die Klinik kommt oder gemeinsam mit einem Angehörigen die Nacht durchwacht. Für die Schlafentzugsbehandlung ist eine Aufklärung des Patienten von großer Bedeutung, da diese Maßnahme sonst evtl. zu Missverständnissen führt und z. B. als Bestrafung erlebt werden kann. Bei diesem Gespräch sollte es vermieden werden, beim Patienten zu große Erwartungen zu wecken. Der Patient sollte erklärt bekommen, dass es sich um eine physiologische Maßnahme handelt, durch die biologische Prozesse der Genese günstig beeinflusst werden können.
⊡ Tab. 28.2. Arten der Schlafentzugsbehandlung 1. Praktisch gut durchführbar: Totaler Schlafentzug
Beginnend am Morgen vor der SE-Behandlung bis zum Abend nach SE (max. 40 h)
Partieller Schlafentzug (der 2 Nachthälfte)
Beginnend ab 1 bzw. 2 Uhr morgens bis zum Abend dieses Tages (d. h. SE der 2. Hälfte der Nacht). Cave: Der partielle Schlafentzug der 1. Hälfte der Nacht ist nicht antidepressiv wirksam
2. Eher für Forschungsabteilungen geeignet: Phase-advance-Therapie
Vorverschiebung des Schlaf-Wach-Rhythmus um etwas 6 h, d. h. fortgesetzter partieller SE der 2. Nachthälfte über die Dauer von z. B. 14 Tagen. Personal- und organisationsintensiv
REM-Schlafentzug
Selektiver Entzug des REM-Schlafs. Nur im Schlaflabor möglich
SE therapeutischer Schlafentzug, REM »rapid eye movement«
677 28.2 · Schlafentzugstherapie
⊡ Tab. 28.3. Praktische Richtlinien zur Schlafentzugsbehandlung Stationär oder ambulant?
Patient sollte den SE nicht alleine durchführen. Am besten sollte der Effekt stationär im Beisein einer Nachtwache kennengelernt werden. Dann kann später evtl. zuhause, z. B. gemeinsam mit einem Angehörigen, ein SE durchgeführt werden
Aufklärung des Patienten
Sollte als »physiologische« Maßnahme neben anderen Therapien dargestellt werden. Keine zu großen Erwartungen wecken
Tätigkeit während des SE
Patient kann allen ihm möglichen und sinnvollen Tätigkeiten nachgehen. Auch körperliche Betätigung, wie z. B. Gymnastik oder ein Spaziergang, ist möglich
Einschlafen während des SE
Der Patient sollte genau aufgeklärt werden, dass er am Tag nach der durchwachten Nacht nicht schlafen soll
Schlafen am Tag vor und nach SE
Den Tag vor und nach SE soll der Patient in üblicher Weise verbringen. Kein »Vor- oder Nachschlafen«. Der Patient soll am Tag nach SE zu einer für ihn üblichen Zeit schlafen gehen
Wiederholung des SE
Der SE kann bei noch nicht ausreichend behandelter depressiver Symptomatik 1- bis 2-mal pro Woche wiederholt werden
Verschlechterung am 2. Tag nach SE
Darüber muss mit dem Patienten am besten an diesem Tag gesprochen werden. Häufig kann auch die nur kurzfristig aufgetretene positive Erfahrung der Besserung dem Arzt für die Psychotherapie von Nutzen sein
Psychopharmaka während SE
Der Patient kann die Medikamente wie gewohnt weiter nehmen. Ein sedierendes Psychopharmakon am Abend des SE sollte jedoch weggelassen werden, um dem Patienten das Wachbleiben nicht unnötig zu erschweren
SE therapeutischer Schlafentzug
! Mit dem Patienten sollte insbesondere am 2. Tag nach SE gesprochen werden. Denn zu dieser Zeit tritt meist ein, wenngleich nur partieller, Rückfall auf. Häufig kann eine sich auch nur kurzfristig einstellende positive Erfahrung der Besserung durch den Arzt psychotherapeutisch verwendet werden.
Effektivitätsbeurteilung Bei der Beurteilung der Effektivität des SE ist es wichtig, den Zeitverlauf zu berücksichtigen. In ⊡ Abb. 28.5 ist ein typischer Verlauf von SE-Respondern und -Non-Respondern dargestellt. Es zeigt sich dabei, dass etwa 50–60% der Patienten einen eindeutigen antidepressiven Effekt am ersten Tag nach SE (Tag-1-Response) aufweisen. Ähnliche Zahlen kann man auch Zusammenstellungen der publizierten SE-Studien entnehmen (Kasper 1990; Wirz-Justice et al. 2005)). Wie aus ⊡ Abb. 28.5 ebenso hervorgeht, ist jedoch der Verlauf am 2. Tag nach SE unterschiedlich (Tag-2-Response). Etwa die Hälfte der Patienten, die am ersten Tag nach SE gut darauf angesprochen haben, zeigt einen Rückfall. Etwa der gleiche Prozentsatz der Patienten, die am ersten Tag nicht angesprochen haben, verbessert sich. Aus den publizierten Studien kann man ebenfalls entnehmen, dass in den Tagen nach dem SE – bei gleichzeitig gegebener antidepressiver Medikation (Kasper et al. 1990) bzw. bei gleichzeitiger Lichttherapie (Neumeister et al. 1996) – nicht das Ausmaß der depressiven Verstimmung erreicht wird, das zum Zeitpunkt vor der SE-Nacht bestand, bzw. der Rückfall z. T. verhindert werden kann. Eine vollständige und andauernde Besserung nach einem
⊡ Abb. 28.5.a, b. Psychopathologische Veränderungen nach totalem Schlafentzug (SE) bei 42 Patienten mit Major Depression. a 22 Patienten (= 53%) wurden als Tag-1-Responder und b 20 Patienten (= 47%) als Tag-1-Non-Responder klassifiziert. Es ist deutlich, dass es am zweiten Tag nach dem totalen SE noch immer Patienten gab, die auf den totalen SE ansprachen, unabhängig davon, ob sie am ersten Tag nach SE ansprachen oder nicht. Die vertikalen Rechtecke zeigen die Nacht des totalen SE (links) und die Nacht, in der die Patienten wieder schliefen (Erholungsnacht; rechts) an [HDRS (modifiziert) Hamilton Rating Skala für Depressionen, ohne Punkte 4, 5, 6, 16, 18]. (Aus Kasper et al. 1990)
28
678
Kapitel 28 · Sonstige biologische Therapieverfahren
einmaligen SE kann jedoch nur bei einem geringen Prozentsatz der Patienten (etwa 5%) erwartet werden. Deshalb sind in einem therapeutischen Setting wiederholte Schlafentzüge (z. B. 2-mal wöchentlich) empfehlenswert (Dessauer et al. 1985; Wiegand 1995).
28.2.3
28
Indikation, Prädiktion
Erste systematische Untersuchungen über die therapeutische Wirksamkeit des SE wurden bereits von der Arbeitsgruppe um Pflug u. Tölle (1971) durchgeführt, fehlen jedoch in der neueren Literatur. Aus den Erfahrungen dieser und nachfolgender Untersuchungen kann man entnehmen, dass ein depressives Syndrom unterschiedlicher Genese auf den SE anspricht. Das Indikationsspektrum schließt daher sowohl uni- als auch bipolare (endogene) Depressionen in der akuten Phase der Erkrankung und auch in einem chronifizierten oder therapieresistenten Verlaufsstadium mit ein. Vereinzelte Untersuchungen haben auch günstige Effekte bei den sog. »neurotischen Depressionen« erkennen lassen, wenn dabei Vitalstörungen auftraten. Nach der neueren psychiatrischen Nomenklatur (DSM-IV-TR bzw. ICD-10) sind diese Formen wahrscheinlich einer milden Ausprägung einer Major Depression bzw. einer Dysthymie zuzuordnen. Die Gruppe um Fähndrich (1982) konnte darstellen, dass depressive Syndrome bei schizophrener Grunderkrankung günstig auf SE ansprechen, ohne dass es zu einem Wiederauftreten einer produktiven Symptomatik kommt. Bis jetzt liegen keine größer angelegten Prädiktionsstudien vor, um voraussagen zu können, ob ein Patient
überhaupt und zu welchem Zeitpunkt der Erkrankung er auf den SE anspricht. Dennoch lassen klinische Erfahrungen einen positiven Behandlungseffekt bei Vorliegen von depressiven Vitalstörungen sowie bei typischen Tagesschwankungen mit einer Befindlichkeitsverschlechterung am Morgen und einer Besserung in den Nachmittags-/Abendstunden, erkennen. Darüber hinaus zeigt sich, dass der SE-Effekt offenbar von anderen Faktoren, wie vom aktuellen Lebensalter oder vom Geschlecht des Kranken, unabhängig ist. Dies hat auch praktische Bedeutungen, da daraus geschlossen werden kann, dass das höhere Lebensalter keine Kontraindikation für die Durchführung der Schlafentzugstherapie darstellt. Ohne Bedeutung für den Effekt der SE-Behandlung scheint auch der Schweregrad der Erkrankung zu sein. Naturgemäß können jedoch bei stärker – im Vergleich zu geringer – ausgeprägter Depression relativ größere therapeutische Effekte erzielt werden. Eine Non-Response auf Antidepressiva stellt keine Kontraindikation für einen SE dar, wie aus einer Literaturzusammenstellung in ⊡ Tab. 28.4 entnommen werden kann (s. auch Kasper 1990).
28.2.4
Nebenwirkungen, Risikopopulation
Die möglichen Nebenwirkungen, Risiken oder Komplikationen während der SE-Behandlung sind insgesamt gering und weitgehend unbedenklich. Häufig finden sich bei den Patienten in den frühen Morgenstunden der durchwachten Nacht vegetative Befindlichkeitsstörungen, die wahrscheinlich damit zusammenhängen, dass in
⊡ Tab. 28.4. Untersuchungen über den Effekt des therapeutischen Schlafentzugs bei Antidepressiva-Non-Response Autoren
Design
Ergebnis
Pflug u. Töller (1971)
Diskussion
SE ähnliche Indikation wie EKT
Lit (1973)
Offen (n = 10)
SE ähnliche Indikation wie EKT
Bhanji u. Roj (1975)
Offen (n = 39)
Ansprechen auf die Kombination von Antidepressiva (Trizyklika, MAOHemmer) und wiederholten SE bei Resistenz auf Antidepressiva und/ oder EKT
Van Scheyen (1977)
Offen (n = 29)
68–70% der Patienten sprechen auf die Kombination von Antidepressiva (Amitriptylin, Clomipramin) und wiederholten SE (2–14) an, auch wenn sie sowohl auf Antidepressiva als auch auf EKT refraktär waren
Sack et al. (1985)
Offen (n = 4)
Phase-advance-Therapie + gleichzeitige Medikation (Trazodon, Imipramin, Clorgylin, Phenelzin)
Dessauer et al. (1985)
Offen (n = 18)
Wiederholter PSE (5-mal) + trizyklische Antidepressiva. 38% der Patienten vollständige Remission bzw. Symptomfreiheit
Sidorowicz (1976) Wasik u. Puchalka (1978) Manthey et al. (1983) Zimanova u. Voijtechowsky (1974)
Hinweise für das Ansprechen auf einmalige bzw. wiederholt SE bei Antidepressiva-Non-Response. Potenzierung des therapeutischen Effekts der Antidepressiva
SE totaler Schlafentzug; PSE partieller Schlafentzug; EKT Elektrokrampftherapie
679 28.3 · Lichttherapie
dieser Zeit auch die Körpertemperatur physiologisch abfällt. Sehr selten kommt es zum Auftreten von manischen Erscheinungen, während hypomanische Zustände relativ häufig beobachtet werden können (Wehr 1990; Kasper u. Wehr 1992). Eine Provokation psychotischer Zustände bei der SE-Behandlung von depressiv-anergischen Zuständen im Rahmen schizophrener Grunderkrankungen wurde ebenfalls sehr selten beobachtet (Fähndrich 1982). Bei einer erhöhten Krampfbereitschaft, z. B. nach Suchtmittelentzug oder bei einer zuvor nicht bekannten Epilepsie, wurden in seltenen Fällen auch Krampfanfälle berichtet. Bei der Kombination von SE mit Antidepressiva sollten bei einer erhöhten Krampfbereitschaft Antidepressiva, die zusätzlich die Krampfschwelle senken, vermieden werden (Kasper et al. 1990).
28.2.5
Schlafentzug und Psychopharmaka
Die psychopharmakologische Behandlung sollte während der SE-Behandlung möglichst weiter fortgesetzt werden. Eine Ausnahme stellen jedoch sedierende Psychopharmaka dar, die am Abend vor der zu durchwachenden Nacht (SE-Nacht) abgesetzt werden sollten, um dem Patienten das Wachbleiben nicht unnötig zu erschweren. Für den therapeutischen Effekt des SE am Tage unmittelbar nach durchwachter Nacht (Tag-1-Response) ist es nicht von Bedeutung, ob und welche Medikation der Patient in der Zeit vor oder während des aktuellen SE erhalten hat (⊡ Tab. 28.5). Die gegebene antidepressive Medikation scheint jedoch für die Tage nach SE von Bedeutung zu sein, da in einer Reihe von Untersuchungen gezeigt werden konnte, dass bei Patienten unter einer gleichzeitigen antidepressiven Therapie kein so deutlicher Rückfall auftrat, wie bei Patienten, bei denen der SE unter medikamentenfreien Bedingungen angewandt wurde. Darüber hinaus lassen Forschungsergebnisse vermuten, dass gerade Antide-
⊡ Tab. 28.5. Ansprechen auf Schlafentzug und antidepressive Medikation. (Zusammenfassung der in Wehr 1990 veröffentlichten Studien) Medikation
Totaler Schlafentzug
Partieller Schlafentzug
n
n
% Responder
% Responder
Keine ≥ 2 Wochen
99
56,6
53
56,7
Keine < 2 Wochen
456
62,1
36
50,0
Unter Medikation
318
51,0
94
61,7
Gesamt
873
56,6
183
56,1
pressiva mit einem serotonergen Wirkmechanismus den antidepressiven Effekt des SE auch über den ersten Tag hinaus wirkungsvoll verlängern können (Kasper et al. 1990). Ein entsprechender Effekt konnte für die nach dem SE angewandte Lichttherapie gefunden werden (Neumeister et al. 1996).
28.3
Lichttherapie
Obwohl die Sonne immer als lebensspendende Kraft angesehen wurde, ist die Bedeutung des Sonnenlichts zur Heilung von Krankheiten erst mit dem Eintreten in das Industriezeitalter beobachtet worden. Parallel mit der Industrialisierung veränderten die Menschen ihre Lebensgewohnheiten, zogen in die Städte, und ein Großteil der Bevölkerung arbeitete und lebte, im Vergleich zu der zuvor gewohnten, nun in einer meist dunkleren Umgebung. Vorwiegend als eine allgemein roborierende Maßnahme, aber auch mit einer speziellen Indikation für verschiedene Erkrankungen, v. a. der Tuberkulose und Rachitis, war die Lichtexposition (damals Heliotherapie genannt) in Europa am Anfang des 20. Jahrhunderts ein viel beachtetes Therapieprinzip (Kasper et al. 1988 a). Aus dem Schrifttum dieser Zeit kann man entnehmen, dass eine ganze Reihe von Erkrankungen damit behandelt wurde, und es mag vielleicht erstaunen, dass sich dabei die Depression nicht findet. Bei genauerem Studium zeigt sich, dass den Patienten wegen der schädigenden Wirkung des dabei verwendeten ultravioletten Anteils des Lichts die Augen verdeckt wurden. Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass die für die Depressionsbehandlung notwendige Wirkung des Lichts (das den ultravioletten Anteil nicht zu enthalten braucht) wahrscheinlich ausschließlich über das Auge vermittelt wird (Wehr et al. 1987). In den vergangenen Jahren wurde nun die weiter unten beschriebene Form der Lichttherapie (LT) in die Medizin eingeführt, die die Behandlung saisonal abhängiger Depression (SAD; Rosenthal et al. 1984) und deren subsyndromale Form (S-SAD; Kasper et al. 1989 a) möglich macht. Die klinischen Charakteristika der Patienten mit einer SAD und deren subsyndromalen Form können aus ⊡ Tab. 28.6 entnommen werden. Seit der ersten publizierten Fallstudie (Lewy et al. 1982) hat sich das Wissen um diese Therapieform eindrucksvoll vermehrt, und aufgrund der bis jetzt vorliegenden Untersuchungen, die z.T. auch in Europa durchgeführt wurden, kann die LT bei SAD-Patienten als wirksame Therapieform angesehen werden (Kasper et al. 1988 b). In ersten epidemiologischen Untersuchungen, die in den USA stattfanden, konnte gezeigt werden, dass die SAD und deren subsyndromale Form keineswegs selten ist, sondern im Laufe eines Lebens bei etwa 4–13% der
28
680
Kapitel 28 · Sonstige biologische Therapieverfahren
⊡ Tab. 28.6. Charakteristika der saisonal abhängigen Depression (SAD) und deren subsyndromaler Form
28
Auftreten
Regelmäßige, mit jeweils unterschiedlicher Intensität auftretende Symptomatologie im Herbst/Winter
Remission
Im Frühjahr/Sommer, evtl. Hypomanie
Dauer
Etwa 5–6 Monate, d. h. Dauer des Herbstes und Winters
Diagnosekriterien
Erfüllen diagnostische Kriterien der depressiven Episode (ICD-10) bzw. Major Depression (DSM-IV) und sind als deren Subgruppe anzusehen
Symptomatologie
Verminderte Energie im Vordergrund, nicht so sehr die ebenso auftretende Verstimmung. Meist: vemehrter Appetit mit Kohlenhydratheißhunger, Hypersomnie mit vermehrter Müdigkeit am Tage, insbesondere in den Nachmittags- und Abendstunden
Subsyndromale SAD
Quantitativ zur SAD geringer ausgeprägte Symptomatologie. Erfüllen nicht Diagnosekriterien der depressiven Episode (ICD-10) bzw. Major Depression (DSM-IV)
Behandlung
Lichttherapie mit hellem weißen Licht bzw. Antidepressiva (z. B. Serotoninwiederaufnahmehemmer)
Menschen in der Allgemeinbevölkerung beobachtet werden kann (Kasper et al. 1989 b). Die Häufigkeit des Auftretens einer SAD hängt auch vom Breitengrad ab, da in mehr nördlich gelegenen Gebieten im Vergleich zu südlicheren Gegenden höhere Prävalenzraten gefunden wurden (Rosen et al. 1990; Kasper u. Praschak-Rieder 1997).
28.3.1
Wirkmechanismus
Die Psychobiologie der SAD ist eng mit den pathophysiologischen Veränderungen unter LT verbunden. Biologische Untersuchungen von SAD-Patienten beinhalten deshalb die einzigartige Möglichkeit, dass die Ursachen des Syndroms und die Therapie auf dieselben biologischen Mechanismen zurückgeführt werden können. Während erste Studien vorwiegend die Melatonin- und Phase-shift-Hypothese zur Grundlage hatten, sind neuere Ansätze auch für andere Untersuchungsstrategien offen und beziehen sowohl weitere neuroendokrine Systeme als auch Neurotransmitter- und Immunfunktionen und elektrophysiologische Mechanismen mit ein. Melatoninhypothese. Ihr liegt der zentrale Einfluss dieses Hormons auf die Regulation saisonaler Rhythmen in der Tierphysiologie zugrunde. Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Symptomatologie der SAD-Patienten im Zusammenhang mit der Melatoninsekretion steht und dass der antidepressive Effekt der LT nur dann auftritt, wenn dadurch der Melatoninspiegel relativ zur Ausgangslage oder Kontrollpopulation gesenkt oder modifiziert werden kann (Rosenthal et al. 1986). In der Folgezeit wurde eine Reihe von Studien durchgeführt, die diese Hypothese aber wieder in den Hintergrund treten ließen (zur Übersicht Kasper et al. 1988 b). Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Melatoninspiegel waren bei SAD-Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollen im Winter nied-
riger. Die Behandlung mit LT veränderte weder die Amplitude noch die Dauer der Melatoninsekretion. Durch die zusätzliche Gabe von Melatonin während einer erfolgreichen LT konnten keine depressiven Symptome reinduziert werden. Die Gabe von Atenolol war der Plazebobehandlung nicht überlegen; unter Atenolol kommt es zu einer Reduktion der Melatoninspiegel. Patienten, bei denen LT am Morgen und Abend angewandt wurde, wiesen eine geringere Melatoninsekretion auf, als Patienten, bei denen die LT während des Tages erfolgte. Die antidepressive Wirksamkeit beider Therapieverfahren war aber mit einer signifikanten Reduktion der Symptomatologie verbunden und im Ergebnis nicht voneinander unterscheidbar. Aufgrund dieser Studien kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass Melatonin in der Pathophysiologie der SAD dieselbe zentrale Bedeutung zukommt wie bei der Regulierung von verschiedenen Verhaltensmustern im Tierreich. Phasenverschiebungshypothese (Phase-shift-Hypothese). Sie wird v. a. von Lewy et al. (1987) vertreten und be-
ruht darauf, dass bei SAD-Patienten der Beginn der nächtlichen Melatoninsekretion in den Wintermonaten im Vergleich zu den Sommermonaten eine Phasenverspätung (»phase-delay«) aufweisen soll. Daraus lässt sich ableiten, dass die LT in den Morgenstunden eine bessere Effektivität erreichen müsste. Dies konnte jedoch in mehreren kontrollierten Untersuchungen nicht bestätigt werden. In der von Terman et al. (1989) durchgeführten Metaanalyse ergab sich der Hinweis auf ein besseres Ansprechen der LT in den Morgenstunden bei milderen, im Vergleich zu schwereren depressiven Erkrankungen. Die am NIMH durchgeführten biologischen Studien (Skwerer et al. 1988), bei denen u. a. auch zirkadiane Messungen von Temperatur, Kortisol, Melatonin und Prolaktin vorgenommen wurden, ließen keinen Hinweis auf eine Pha-
681 28.3 · Lichttherapie
senverspätung von SAD-Patienten erkennen. Diese Befunde erlauben zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die Schlussfolgerung, dass der antidepressive Effekt der LT durch die Phasenverschiebungshypothese erklärt werden kann. Eventuell trifft dies für eine noch näher zu bestimmende Subgruppe von SAD-Patienten zu. Photochemische Hypothese. Sie beruht auf den Untersu-
chungen von Hollwich (1955) sowie von Wehr et al. (1987), die ergaben, dass der antidepressive Wirkmechanismus der LT über das Auge und nicht über die Haut erfolgt. Lichtimpulse, die die Retina erreichen, werden in Nervenimpulse umgewandelt und dann an das Gehirn, wahrscheinlich über den Tractus retinohypothalamicus weitergegeben. Entsprechend der photochemischen Hypothese werden dadurch im Hirn biochemische Veränderungen hervorgerufen, die eine bei SAD bestehende Störung korrigieren und damit die psychopathologische Symptomatologie zurückdrängen sollen. In den vergangenen Jahren wurden sowohl Neurotransmitter, bzw. deren Abbauprodukte, als auch neuroendokrinologische Parameter untersucht. Die in den vergangenen Jahren von uns durchgeführten Untersuchungen zum serotonergen System (Kasper et al. 1996; Neumeister et al. 1997 b) lassen erkennen, dass das serotonerge System bei SADPatienten vulnerabel ist, da sowohl nach einer erfolgreich durchlaufenen LT, als auch bei SAD-Patienten in den symptomfreien Sommermonaten, eine Absenkung des Serotoninspiegels mit dem Auftreten einer milden depressiven Symptomatik verbunden ist. Darüber hinaus konnte jedoch auch eine katecholaminerge Beteiligung festgestellt werden (Neumeister et al. 1998 b).
28.3.2
Praktische Durchführung
Die im Folgenden beschriebene Technik ist nicht die einzig mögliche, aber sie wurde mit einer nur geringen Abänderung in den meisten publizierten Studien angewandt und als effektiv und sicher bei etwa 80% der SAD- und subsyndromalen SAD-Patienten beurteilt. Meist wird als Lichtquelle ein fluoreszierendes Licht verwendet, das das gesamte Spektrum, außer dem ultravioletten Anteil, beinhaltet und von 6–8 40-Watt-Leuchtstoffröhren stammt (⊡ Abb. 28.6), die in einem etwa 60–40 cm großen und 8 cm tiefen, rechtwinkeligen Kunststoffgehäuse untergebracht sind (mit einem elektronischen Vorschaltgerät zur Vermeidung von Flimmerlicht). Hinter den Leuchtstoffröhren befindet sich oftmals eine reflektierende Oberfläche und das Licht wird meist durch einen Plastikschirm abgegeben, der das Licht zerstreut, um eine Blendung zu vermeiden. Diese Lichtquelle wird im angloamerikanischen Sprachraum als »full-spectrum fluorescent bright light« (helles weißes fluoreszierendes Licht mit vollem Spektrum) bezeichnet.
a
⊡ Abb. 28.6.a, b. Praktische Anordnung der Lichttherapie. a Die kleine Lampe ist für den ambulaten, b die größere Lampe eher für den stationären Bereich geeignet (Handhabbarkeit)
Es wird empfohlen, dass die Patienten die Lichtfixierung in Augenhöhe vertikal auf einem Tisch oder vertikal am Boden aufstellen. Der Beleuchtungskörper soll etwa 90 cm von den Augen entfernt sein und die Patienten werden angehalten, jede Minute ein paar Sekunden lang in das Licht zu schauen. In der Therapiezeit können die Patienten lesen, schreiben bzw. sonstigen Tätigkeiten nachgehen, die ihnen jedoch erlauben, mit dem Kopf (d. h. mit den Augen) in dem oben angegebenen Abstand vor dem Beleuchtungskörper zu bleiben (⊡ Abb. 28.6). Die Lichtintensität, die bei dieser Anordnung auf das Auge trifft, beträgt, abhängig von der Lichtquelle, zwischen 2500 und 10.000 Lux. Dies entspricht ungefähr der Lichtmenge, wenn man an einem Frühlingstag aus dem Fenster schaut. Sie ist etwa 5- bis 20-mal so groß wie eine normale Raumbeleuchtung. In letzter Zeit werden von verschiedenen Herstellern auch deutlich kleinere Lichtapparate angeboten, die den Vorteil der leichteren Handhabung haben. Als Nachteil mag gelten, dass nicht die gesamte Retina ausgeleuchtet wird und dadurch der therapeutische Effekt eingeschränkt ist. Eine Zusammenstellung der praktischen Richtlinien findet sich in ⊡ Tab. 28.7.
28
682
Kapitel 28 · Sonstige biologische Therapieverfahren
⊡ Tab. 28.7. Praktische Richtlinien zur Lichttherapie Wirkmechanismus
Der antidepressive Effekt wird über das Auge vermittelt
Lichtquelle
Die Augen des Patienten sollen etwas 90 cm von der Lichtquelle entfernt sein
Während Lichttherapie
Patient kann lesen, schreiben, essen, telefonieren. Er sollte nur den Abstand zwischen Lichtquelle und Auge einhalten und etwas einmal pro Minute direkt in die Lichtquelle schauen (kurz)
Lichtintensität
2.500-10.000 Lux (gemessen in den Augen)
Wellenlänge
Volles Spektrum
Dauer
½–4 h pro Tag (je nach Intensität), vom Herbst bis zum Frühjahr
Tageszeit
Therapeutischer Erfolg davon unabhängig, wenn es für den Patienten günstig ist
Latenz bis zum Auftreten des antidepressiven Effekts
3–7 Tage
Non-Responder
Sprechen auf antidepressive Medikation an
Teilweises Ansprechen
Lichttherapie + antidepressive Medikation empfehlenswert
Nebenwirkungen
Gering, wenn überhaupt, dann Kopfschmerzen, Augenbrennen, Irritabilität, evtl. Hypomanie. Bei Kombination mit trizyklischen Psychopharmaka sowie Lithium augenärztliche Kontrolle empfehlenswert
SAD saisonal abhängige Depression
28 Dauer der täglichen Behandlung. Meist kann der antide-
pressive Effekt der Lichttherapie bereits nach 3–4 Tagen erreicht werden (⊡ Abb. 28.7). Diese Erfahrungen beziehen sich auf die Behandlung von SAD-Patienten. Bei depressiven Syndromen anderer Genese ist erst nach einer längeren Exposition (mindestens 1 Woche) mit einer deutlichen Effektivität zu rechnen. Weiterhin besteht bei der LT eine Dauer-(Dosis-)Wirkungs-Beziehung, was bedeutet, dass Patienten, die nicht auf die Erstbehandlung ansprechen, wahrscheinlich einen antidepressiven Effekt zeigen, wenn in weiterer Folge die Dauer der täglichen Behandlung verlängert wird. Darüber hinaus besteht auch die Erfahrung, dass der therapeutische Effekt zurückgeht, wenn die Dauer der täglichen Behandlung reduziert wird. Es ist aus praktischer Sicht empfehlenswert, bei einer Exposition durch 2500 Lux mit 2 h LT (bei 10.000 Lux 1/2 h), ⊡ Abb. 28.7. Charakteristischer Verlauf unter Lichttherapie mit hellem weißem Licht (2.500 Lux) und der Kontrollsituation mit gedämpftem Licht (<300 Lux) bei 15 Patienten mit einer saisonal abhängigen Depression (SAD; VAS visuelle Analogskala, hoher Wert zeigt Besserung an)
entweder morgens und/oder abends, zu beginnen und, wenn nach 3–4 Tagen kein eindeutiger antidepressiver Effekt erreicht werden kann, zusätzlich noch einmal dieselbe Zeit morgens und/oder abends hinzuzufügen. Dies mag jedoch nur als eine allgemeine Richtlinie gelten; im Einzelfall kann die notwendige Dauer der täglichen Therapie an der Effektivität abgelesen werden. In der Literatur findet sich kein eindeutiger Beweis dafür, dass sich die Wirksamkeit der LT auf deren Anwendung zu einer speziellen Tageszeit beschränkt. Da jedoch die Sensitivität des Auges für den antidepressiven Effekt der LT über den Tag verteilt wechseln kann, ist es möglich, dass eine längere Anwendungsdauer in den Abendstunden notwendig ist, um den gleichen antidepressiven Effekt wie am Morgen zu erreichen.
683 28.4 · Transkranielle Magnetstimulation
28.3.3
Indikation, Prädiktion
Eindeutige Erfolge der LT konnten nur bei Patienten, die an SAD und deren subsyndromaler Form leiden, gefunden werden. Die Charakteristika dieser Gruppe sind in ⊡ Tab. 28.6 zusammengefasst und an anderer Stelle (Kasper et al. 1988 a; Kasper 1994) ausführlicher dargestellt. Neben der SAD werden in der Literatur noch weitere Indikationen für die erfolgreiche Anwendung der LT genannt (Kasper et al. 1994 b; Wirz-Justice et al. 2005), die zwar nicht in demselben Ausmaß systematisch studiert wurden, jedoch z. T. bereits in der Praxis angewandt werden (Kasper et al. 1994 a, b). Es handelt sich dabei um das sog. Delayed-sleep-phase-Syndrom (d. h. die Angewohnheit, erst in den frühen Morgenstunden schlafen zu gehen), das Jet-lag-Syndrom, die gesundheitlichen Folgen der Schichtarbeit, das prämenstruelle Syndrom sowie um die kurzdauernde Form der SAD (Kasper et al. 1992). Als add-on zu Antidepressiva potenziert und verkürzt die LT die Response offenbar auch bei nicht-saisonaler Depression, v. a. bei SE-Respondern (Wirz-Justice et al. 2005; Tuunainen et al. 2004).
Studien (Berichte) zur Behandlungsindikation der Lichttherapie (s. Kasper u. Neumeister 1998)
28.3.4
Saisonal abhängige Depression Subsyndromale SAD Nicht-SAD-Depression Recurrent-brief-SAD Jet-lag-Syndrom Schichtarbeit Delayed-sleep-phase-Syndrom Prämenstruelle dysphorischeStörung (PMDD) Negativsymptomatik bei Schizophrenie Zwangsstörung – saisonal Bulimie Post-partum-Depression
fänglich gewählte (tägliche) Therapiedauer entweder verkürzt, oder wenn die LT ganz abgesetzt wird. Aus praktischen Überlegungen ist es beim Auftreten von Nebenwirkungen empfehlenswert, die tägliche Dauer der LT zu reduzieren und sie dann bei einer besseren Verträglichkeit wieder zu steigern. Cave Bei der Kombination der LT mit Psychopharmaka sollte aufgrund neuerer Ergebnisse bei trizyklischen Antidepressiva und trizyklischen Neuroleptika sowie bei Lithium eine begleitende augenärztliche Untersuchung und Verlaufskontrolle erfolgen, um evtl. auftretende retinale Schäden frühzeitig erkennen und ausschließen zu können.
28.3.5
Lichttherapie und Psychopharmaka
SAD-Patienten sprechen auch auf Psychopharmaka an, wie aus ⊡ Tab. 28.8 hervorgeht. Dabei zeigte sich, dass insbesondere den Medikamenten mit einem serotonergen Wirkmechanismus (SSRI) der Vorzug gegeben werden sollte. Sedierende Psychopharmaka (wie z. B. Trizyklika) haben sich dagegen in der Praxis nicht bewährt.
28.4
Transkranielle Magnetstimulation
Seit etwa 10 Jahren wird die transkranielle Magnetstimulation (TMS; ⊡ Abb. 28.8) in der neurologischen Diagnos-
Nebenwirkungen
Obwohl bis jetzt keine systematischen Studien über die Nebenwirkungen der LT vorliegen, kann aufgrund der Literaturergebnisse geschlossen werden, dass während der LT keine ernsthaften Nebenwirkungen auftreten. Wenn überhaupt, klagen Patienten über Spannungen in den Augen, Kopfschmerzen und Gereiztheit. In seltenen Fällen kann es auch zu hypomanischen Verstimmungen kommen (Fleischhacker u. Kasper 1991). Die Nebenwirkungen treten jedoch meistens in den ersten Tagen der Behandlung auf und gehen wieder zurück, wenn die an-
⊡ Abb. 28.8. Praktische Anordnung bei der transkraniellen Magnetstimulation (TMS). (Abb. Univ.-Klinik/Bezirksklinikum Regensburg)
28
684
Kapitel 28 · Sonstige biologische Therapieverfahren
⊡ Tab. 28.8. Antidepressive Medikation bei Patienten mit SAD
28
Autor
Anzahl der Patienten
Antidepressiva
Outcome
Offene Studien O`Rourke et al. 1989 Jacobson et al. 1989 McGrath et al. 1990 Dilsaver et al. 1990 Dilsaver u. Jaeckle 1990 Teicher u. Glod 1990 Wirz-Justice et al. 1992 Lingjaerde u. Haggag 1992 Heßelmann et al. 1998 Pjrek et al. 2007 Pjrek et al. 2007
7 3 9 47 14 6 1 5 8 20 37
d-Fenfluramin Fluoxetin, Trazodon L-Tryptophan Bupropion, Desipramin, Tranylcypromin Tranylcypromin Alprazolam Citalopram Moclobemid Mirtazapin Escitalopram Agomelatine
+ + + + + + + + + + +
Kontrollierte Studien Ruhrmann et al. 1993 Martinez et al. 1994 Partonen u. Lönnqvist 1996
40 20 32
Fluoxetin vs. helles weißes Licht Hypericum ± helles weißes Licht Fluoxetin vs. Moclobemid
FLX = LT HYP = LT FLX = MOC
Plazebokontrollierte Studien Lingjaerde et al. 1993 Schlager 1994 Oren et al. 1994 Lam et al. 1995 Moscovitch et al. 2004 Martiny et al. 2004 Leppamaki et al. 2003 Modell u. Rosenthal
34 23 25 78 187 282 58 1.042
Moclobemid vs. Plazebo Propanolol vs. Plazebo Levodopa + Carbidopa vs. Plazebo Fluoxetin vs. Plazebo Sertralin vs. Plazebo Citalopram vs. Plazebo Melatonin vs. Plazebo Bupropion vs. Plazebo
MOC = PLZ PRO > PLZ LEV = PLZ FLX ≥ PLZ SER > PLZ CIT > PLZ MEL > PLZ BUP > PLZ
BUP Bupropion; CIT Citalopram; FLX Fluoxetin; HYP Hypericum; MEL Melatonin; LEV Levodopa + Carbidopa; LT Lichttherapie; PLZ Plazebo; SER Sertralin
tik verwendet (Puri u. Lewis 1996). Sie dient der Untersuchung der zentrifugalen Systeme der motorischen Bahnen (Barker et al. 1985). Da erste Untersuchungen bei gesunden Kontrollen, aber auch bei neurologischen Patienten, eine Veränderung der Stimmung in einen hypomanischen Bereich beobachtet haben, erforschte erstmals die Arbeitsgruppe um Kasper und Möller an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Bonn, inwiefern dieses Wirkprinzip in einer antidepressiven Therapie Anwendung finden könnte (Höflich et al. 1991, 1993; Kolbinger et al. 1995). Das Wirkprinzip und die praktische Anwendbarkeit sind in mehreren Übersichtsarbeiten zusammengefasst (Marcolin u. Padberg 2007; Padberg u. Möller 2002).
28.4.1
Wirkmechanismus
Das Prinzip der TMS beruht darauf, dass der motorische Kortex durch ein von außen am Kopf appliziertes Magnetfeld gereizt wird. Mit diesem Magnetfeld kann sowohl der Skalp, die Schädelkalotte als auch der Liquorraum durchdrungen werden, um tiefere Hirnstrukturen zu erreichen. Das Magnetfeld wird durch eine Spule erzeugt, die an den Kopf gehalten wird. Dabei wird ein Stromfluss von etwa 8000 A für die kurze Dauer von ungefähr 1 ms
mit einer Feldstärke von 1,5–2,4 Tesla (Energiefluss einer Einzelstimulation; 50 μC) erzeugt und eine Depolarisation der Neuronen erreicht, die eine motorische Antwort im entsprechenden Muskel auslöst (durch Elektromyogramm registrierbar). Dadurch kann man die zentralmotorische Latenz bestimmen und eine Aussage über die motorischen Bahnen gewinnen. Der induzierte Strom kann sowohl exzitatorisch als auch inhibitorisch auf die jeweilige Kortexregion wirken und somit räumlich und zeitlich Hirnregionen vorübergehend in ihrer Funktion hemmen. Dieses Prinzip wurde auch von Grundlagenforschern zur Untersuchung von höheren Hirnfunktionen verwendet (Kammer u. Spitzer 1996). Eine erfolgreiche EKT ist durch das Auftreten eines generalisierten Krampfanfalls gekennzeichnet. Demgegenüber ist ein derartiges Phänomen bei der TMS nicht zu beobachten. Kritiker haben daher den Effekt der TMS angezweifelt (Sackeim 1994). Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass bis heute nicht geklärt ist, was der generalisierte Krampf bei der EKT auf neuronaler Ebene bewirkt. Es wäre denkbar, dass die durch die TMS induzierte Veränderung direkt an den Membranen zu ähnlichen Rezeptoroder Membranveränderungen führt, wie ein generalisierter Krampfanfall bei der EKT. Zukunftsweisend könnte auch die Erkenntnis sein, dass nicht die Aktivierung des
685 28.5 · Vagusnervstimulation
gesamten Gehirns durch einen generalisierten Krampf erforderlich ist, sondern eine selektive Stimulation umschriebener Hirnregionen für einen therapeutischen Effekt ausreichend ist (Bolwig 1984).
leren Response bei SSRI-Therapie führte (Rossini et al. 2005).
28.4.4 28.4.2
Praktische Durchführung
Eine allgemein gültige Technik für die Durchführung der TMS kann bis heute nicht empfohlen werden, da bestätigende Untersuchungen noch ausstehen. In den ersten Untersuchungen, die an der Bonner Universitätsklinik durchgeführt wurden, sind die Patienten an jeweils 10 Tagen mit niederfrequenter 0,3 Hz-motorisch-überschwelliger-TMS und mit insgesamt 2500 Stimuli, entsprechend einer Gesamtenergie von 125 mC (Millicoulomb), was ungefähr einer einzelnen EKT-Anwendung entspricht, behandelt worden (Höflich et al. 1993). In einer Folgeuntersuchung dieser Gruppe wurde in einer einfachblinden plazebokontrollierten Pilotstudie sowohl motorisch unter- als auch überschwellig behandelt (Kolbinger et al. 1995). Es stellte sich heraus, dass eine TMS unterhalb der motorischen Schwelle eine bessere Wirkung hatte, als die TMS mit einer Energiedosis, die zur motorischen Antwort führte. In beiden Untersuchungen wurde über dem Vertex stimuliert. Die Arbeitsgruppe um Belmaker (Grisaru et al. 1994) fand nach Stimulierung über dem motorischen Kortex eine rasche antidepressive Antwort. Die NIMHArbeitsgruppe um George et al. (1995) behandelte mit höheren Frequenzen (20 Hz), einem Stimulationsort links präfrontal und mit ebenfalls günstigem Effekt. Von der Arbeitsgruppe Pascual-Leone et al. (1996) wurde untersucht, ob eine repetitive Stimulation (rTMS) von Erfolg ist. ! Derzeitiger Konsens ist die hochfrequente repetitive links-dorsolaterale präfrontale Kortex-Stimulation (Hajak et al. 2005; Simons u. Dierick 2005).
28.4.3
Indikation
Die TMS wurde bis jetzt vorwiegend bei depressiven Patienten durchgeführt, die darüber hinaus in den meisten Untersuchungen auch als therapierefraktär einzuschätzen waren. Zusammengefasst konnten bei diesen Patienten milde antidepressive Effekte gefunden werden (Haag et al. 1997). Vereinzelte Untersuchungen weisen darauf hin, dass auch Patienten mit anderen depressiven Erkrankungen, v. a. Angst- und Zwangsstörungen, günstig ansprechen (Greenberg et al. 1997). Bei der Beurteilung der Studien ist jedoch einschränkend festzuhalten, dass viele der untersuchten Patienten gleichzeitig Antidepressiva erhielten, sodass der Effekt der TMS nicht mit Sicherheit festgeschrieben werden kann. Eine neue Doppelblindstudie kam zu dem Ergebnis, dass TMS zu einer schnel-
Nebenwirkungen
Der Mangel an Nebenwirkungen der TMS ist ein hervorstechendes Merkmal. In den vergangenen Jahren wurden unter TMS sowohl Tierversuche, als auch Probandenstudien durchgeführt. Weder in kernspintomografischen noch in histopathologischen Untersuchungen am Gehirn ergaben sich nachweisbare strukturelle Veränderungen nach TMS (Counter 1993). Da Einbußen der kognitiven Leistungen eine Hauptnebenwirkung der EKT darstellen, wurde dieser Bereich auch für die TMS untersucht, und bei den verschiedenen Untersuchungsansätzen wurden keine Beeinträchtigungen gefunden (Hufnagel et al. 1993). Die Wirkung der raschen (oder repetitiven) TMS (rTMS) wurde von Pascual-Leone et al. (1993) untersucht. Bei einem Patienten kam es dabei zu einem fokalen, sekundär generalisierten Krampfanfall. Daher sollte diese Anwendung nicht bei bekannter erhöhter Krampfbereitschaft erfolgen, um nicht unkontrolliert einen Krampfanfall zu provozieren. In der Untersuchung konnten jedoch bei den restlichen Probanden keine wesentlichen Nebenwirkungen auf dem kognitiven und physiologischen Bereich gefunden werden. Insgesamt kann die TMS daher als eine nebenwirkungsarme Therapie angesehen werden und gerade unter diesem Aspekt sollte die Weiterentwicklung von vorrangiger Bedeutung sein.
28.4.5
Zukunftsperspektiven der TMS
Es bleibt zu hoffen, dass die TMS in der Zukunft das Spektrum der Depressionsbehandlung bereichern wird. Zurzeit gibt es jedoch noch eine Vielzahl offener Fragen, so ist z. B. noch nicht geklärt, ob eine unterschwellige und damit für den Patienten angenehmere TMS effektiver ist als eine Stimulation oberhalb der motorischen Schwelle. Weiterhin ist nicht geklärt, ob eine repetitive Stimulation (rTMS) effektiver ist als eine niederfrequente; dies wäre möglicherweise mit einer höheren Nebenwirkungsrate verbunden. Außerdem ist noch die Frage der Lokalisation abzuklären. Hier zeichnen sich bereits die präfrontalen Regionen ab, auch wegen der dort beschriebenen funktionell-biologischen Veränderungen bei depressiven Erkrankungen.
28.5
Vagusnervstimulation
In der Neurologie wurde die Beobachtung gemacht, dass eine Stimulation des Vagusnervs (Vagusnervstimulation, VNS) erfolgreich bei der Behandlung von Patienten ein-
28
686
Kapitel 28 · Sonstige biologische Therapieverfahren
gesetzt werden kann, die an einer Epilepsie leiden. Ausgehend vom Hirnstamm werden bei der VNS verschiedene Hirnbezirke beeinflusst, ohne dass zum jetzigen Zeitpunkt eine genauere Physiologie verfügbar wäre. Das in der Neurologie und Psychiatrie verwendete System (FNS™ Neurocybernetic Prothesis NTP) wurde seit 1994 in Europa und den USA bei etwa 9000 Patienten, die an Epilepsie leiden, eingesetzt. Durch diese Methode konnte die Anfallsfrequenz im Durchschnitt auf bis zu 30% reduziert werden. Da beobachtet wurde, dass auch depressive Verstimmungen der Patienten, die primär an einer Epilepsie litten, gebessert wurden, fand auch eine umfangreiche Untersuchung bei behandlungsresistenten depressiven Patienten statt, die zzt. noch keine abschließende Beurteilung erlaubt (Übersicht: George et al. 2000).
28.5.1
28
Wirkmechanismus
Seit längerer Zeit wird diskutiert, inwiefern autonome Funktionen Bereiche des limbischen Systems beeinflussen. Der Vagusnerv trägt sowohl efferente als auch afferente Fasern, aber interessanterweise ist die Rolle der afferenten Fasern in der Literatur bis jetzt noch nicht genügend berücksichtigt worden. Die afferenten Bahnen des Vagusnervs gehen über den Nucleus tractus solitarius (NTS) an verschiedene Gehirnregionen weiter. Bereits 1938 wurde z. B. von Bailey und Kollegen (Bailey u. Bremer 1938) die Aktivität des Vagusnervs an den orbitalen Kortex berichtet. Im Jahr 1949 berichtete MacLean (1990), dass bei Stimulation des Vagusnervs eine elektroenzephalografische Aktivität an der Gehirnrinde bei anästhesierten Affen gefunden wurde. Im Jahr 1984 wurde von Zabara (1985) die antikonvulsive Wirksamkeit der VNS an Tieren dokumentiert, und Penry und Dean (1990) haben erstmals 1988 die VNS für die Behandlung der Epilepsie in die Medizin eingeführt.
28.5.2
Praktische Durchführung
Die Vagusnervstimulation wird mit einer kommerziell vertriebenen Apparatur durchgeführt, die über Neurocybernetic Prothesis (NCP) erhältlich ist (RNS™). Vergleichbar mit der Implantation eines Herzschrittmachers wird über der linken Brustseite ein Gerät von etwa 5 cm Durchmesser implantiert, das über eine Elektrode mit dem N. vagus verbunden ist. Dieser wird von Neurochirurgen durch entsprechende Elektroden umschlossen, und subkutan werden die Elektroden von dort aus mit dem implantierten Schrittmacher verbunden. Dabei wird der linke N. vagus herangezogen, da es bei einer Stimulation des rechten N. vagus zu unerwünschten kardialen Nebenwirkungen kommen würde. Es erfolgt eine intermittierende Stimulation, wobei alle 5 min etwa 30 s lang
stimuliert wird. Die eingebaute Batterie hat eine Lebensdauer von etwa 8–12 Jahren.
28.5.3
Indikation
Erste offene Untersuchungen wiesen darauf hin, dass therapieresistente Depressionen günstig auf die VNS ansprechen. Rush et al. (2000) konnten in einer Multicenter-Studie, die an insgesamt 60 Patienten durchgeführt wurde, bei denen die Depression im Durchschnitt 4,7 Jahre betrug, zeigen, dass es zu einem signifikanten Abfall der Depressionswerte kam und dass sich die Werte darüber hinaus im Laufe eines Jahres noch weiter verbesserten. Die Behandlung wurde gleichzeitig mit einer medikamentösen antidepressiven Therapie durchgeführt. Die VNS wurde in den USA von der FDA im Jahr 2005 zur Depressionsbehandlung zugelassen, wird inzwischen aber von mehreren Kostenträgern nicht mehr erstattet. Offene Studien ergaben nach einem Jahr bei sog. therapieresistenten Depressionen signifikante Ergebnisse zugunsten einer zusätzlichen VNS-Behandlung im Vergleich zu Standardtherapien (Responserate 27 vs. 13%; George et al. 2005). Eine randomisierte, kontrollierte Akutstudie bei therapieresistenten Depressionen ergab aber keine signifikante Überlegenheit gegenüber »Schein-Stimulation« (Responserate 15 vs. 10%; Rush et al. 2005).
28.5.4
Nebenwirkungen
Die Nebenwirkungen der VNS können einerseits im Zusammenhang mit der durchgeführten Operation und andererseits von der angewandten VNS selbst stammen. Die chirurgische Intervention kann eine perioperative Infektion bewirken. Bei den im Rahmen der Epilepsie durchgeführten Studien musste anfänglich bei 3 von 499 Fällen der Schrittmacher wieder entfernt werden. Weitere mit der Chirurgie zusammenhängende Nebenwirkungen treffen eine Paralyse des linken Stimmbandes (1%), eine Parese des linken N. facialis (1 %) sowie eine Entzündung über dem Schrittmacher (0,5%). Die kardialen Nebenwirkungen der VNS™ sind geringer, als ursprünglich angenommen. Während der Implantation wurde allerdings in 6 Fällen eine Asystolie von 10–20 s Dauer berichtet. Diese Nebenwirkungen traten noch im Operationsraum auf. Derartige Nebenwirkungen außerhalb des Operationsraumes wurden nicht berichtet. Kognitive Nebenwirkungen, wie sie unter EKT beobachtet wurden, traten unter VNS nicht auf (Sackheim et al. 2001 a). Nach der Operation wurden folgende Nebenwirkungen berichtet: Schmerzen (29%), Räuspern (14%), Veränderung der Stimme (13%), Brustschmerzen (12%) und Übelkeit (10%). Kognitive, sedative, affektive oder koordinative Nebenwirkungen traten nicht auf. Während
687 Literatur
der gesamten bis jetzt durchgeführten Untersuchungen waren keine Todesfälle zu verzeichnen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die unter VNS auftretenden Nebenwirkungen insgesamt gering und als beherrschbar einzustufen sind.
28.5.5
Ausblick
Die erfolgreiche Verwendung von VNS™ in der Epilepsie hat zur Untersuchung dieser Methode auch für die Behandlung therapieresistenter refraktärer Depressionen geführt. Weitere Untersuchungen müssen zeigen, inwiefern die VNS klinische Bedeutung für die Depressionsbehandlung erlangen wird. Zu den experimentellen Therapieverfahren mit möglicher zukünftiger Bedeutung zählen des Weiteren die Tiefenhirnstimulation (DBS) und die Magnetkonvulsionstherapie (MKT), die sich derzeit in klinischer Erprobung befinden.
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Kapitel 28 · Sonstige biologische Therapieverfahren
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29 29 Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung K. Schonauer
29.1 29.1.1 29.1.2 29.1.3 29.2
Einleitung – 692 Begriffsbestimmung – 692 Historische Fundamente – 692 Therapeutische Grundeinstellung – 693
Psychotherapeutische Basisaspekte des ärztlichen Gesprächs – 694 29.2.1 Voraussetzungen und Arten von Gesprächen – 694 29.2.2 Bestandteile des ärztlichen Gespräches – 695
29.3
Prinzipien supportiver Psychotherapie
29.4 29.4.1 29.4.2 29.4.3
Indikationsfragen – 697 Einschätzung von Patientenvariablen – 697 Indikationsspektrum – 698 Kontraindikationen – 699
29.5
Verfahrensweisen Literatur
– 699
– 701
> > Supportive Psychotherapie ist ein Element der psychotherapeutischen Grundversorgung und wird häufig dem Arbeitsbereich von Nichtfachärzten zugeordnet. Aber auch im psychiatrischen Alltag spielt sie eine wichtige Rolle. Die therapeutischen Maßnahmen sind pragmatisch orientiert und vom Patienten unmittelbar nachzuvollziehen. Sie folgen jedoch keiner kanonisierten Praxis. Indiziert ist supportive Psychotherapie v. a. bei Patienten, die für eine »spezifische« Psychotherapie zu gesund, zu krank oder nicht geeignet bzw. nicht motiviert sind. Eine spezielle Indikation stellt besonders die Schizophrenie dar, sowie alle Erkrankungen, bei denen es um den langfristigen Aufbau von Kompetenz geht.
– 696
692
29
Kapitel 29 · Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung
29.1
Einleitung
29.1.1
Begriffsbestimmung
Obgleich im klinischen Sprachgebrauch wie auch im Schrifttum weit verbreitet, ist der Begriff »supportiv« als qualifizierende Bezeichnung psychotherapeutischer Arbeit nicht leicht zu präzisieren. Da im Grunde jegliche therapeutische Bemühung auf eine Unterstützung von Patienten ausgerichtet ist, schrumpft das Begriffspaar »supportive Psychotherapie« scheinbar zu einer Tautologie zusammen. Crown (1988) hat dieses Begriffspaar hingegen mit dem Verweis darauf, dass Psychotherapie den Patienten notwendigerweise auch mit belastenden Affekten konfrontiere, aber auch als eine »contradiction in terms« in Frage gestellt. Viele Autoren beklagen die traditionelle Vernachlässigung der supportiven Perspektive bei der Erforschung und Vermittlung psychotherapeutischer Kompetenz und beschreiben sie als »stepchild« (Werman 1984) oder gar »Cinderella of psychotherapies« (Winston et al. 1986). Verallgemeinernd kann man vermuten, dass ein beträchtlicher Anteil dieser Vernachlässigung mit der Einschätzung zusammenhängt, »Unterstützung«, mit der man krankheitsbedingtem Leiden ja ohnehin von allen Seiten beizukommen suche, sei nicht so recht mit psychotherapeutischem Expertentum und professionell gebotener Zurückhaltung vereinbar.
Fraglos spielt sie aber auch im fachärztlichen Alltag des Psychiaters eine wichtige Rolle und wurde etwa von Heim (1980) als die »häufigste vom Psychiater praktizierte Methode« gewürdigt. Aber ist sie überhaupt eine »Methode«?
Definitionsversuche meist »Negativbestimmung« Der Wirkungsweg supportiver Psychotherapie steht dem relativ nahe, was Grawe et al. (1994) als »Problembewältigungsperspektive« beschrieben haben. Sie ist schulenunabhängig und begründet keine eigene Metapsychologie. Ihre metatheoretische Neutralität hat auch zur Folge, dass es schwierig erscheint, positiv zu bestimmen, was »supportive Psychotherapie« denn nun eigentlich sei. Diese Unschärfe wiederum ist ein wichtiger Grund dafür, dass nur sehr wenige kontrollierte Studien zur Effektivität supportiver Psychotherapie existieren (Conte 1994), ja dass sie sich denjenigen Prüfmethoden weitgehend entzieht, die man als evidenzbasierend bezeichnen könnte. Definitionsversuche verfolgen meist den Umweg über die Negativbestimmung, indem sie supportive Psychotherapie als »Subtraktionsform« (Hellerstein et al. 1994) etablierter Verfahren beschreiben. Dies hat wesentlich historische Gründe (Kernberg 1999; Berlincioni et al. 2004).
29.1.2
Historische Fundamente
Modifikation der psychoanalytischen Technik Etymologie. Kind (1982) hat demgegenüber darauf hinge-
wiesen, dass der Begriff »supportiv« im psychotherapeutischen Kontext historisch im englischen Verb »to support« verwurzelt sei, dessen Wortfeld wesentlich mehr und anderes als nur »Unterstützung« berge, sondern etwa auch Förderung, Rechtfertigung, Beistand, Zulieferung und Begründung. Ergänzen ließe sich dieser Hinweis noch durch den etymologischen Befund, dass die romanischen Äquivalente dieses Verbs, wie z. B. das französische »supporter« mit den Hauptbedeutungen »aushalten« und »ertragen« einen weiteren Akzent setzen, der einem wesentlichen und sogar recht spezifischen Behandlungsziel supportiver Psychotherapie entspricht.
Element der psychotherapeutischen Grundversorgung Supportive Psychotherapie wird kaum systematisch unterrichtet, aber häufig praktiziert. Im Gegensatz zu »spezifischeren« psychotherapeutischen Ansätzen gründet sie nicht auf einem behandlungstechnisch umschriebenen Kanon. Traditionell wird sie als eine Art Basiselement der psychotherapeutischen Grundversorgung betrachtet, eher dem Arbeitsbereich von Nicht-Fachärzten zugeordnet und didaktisch in thematischem Zusammenhang mit den psychologischen Grundlagen der Arzt-Patient-Beziehung und der ärztlichen Gesprächsführung abgehandelt.
Nach Menthas (1987) Recherche wurde der Begriff »supportive« zu Beginn der 1950er Jahre vorzüglich im amerikanischen Schrifttum in den psychotherapeutischen Kontext eingeführt. Er wurde dort keineswegs programmatisch zur Identifikation einer umschriebenen Methode verwendet, sondern zunächst eher als Sammelbezeichnung für eine Reihe von Modifikationen der psychoanalytischen Behandlungstechnik, schließlich als Komplementärbegriff zur graduellen Abgrenzung der supportiven von den eher aufdeckenden (»uncovering«) Verfahren. Etwa zur gleichen Zeit entwickelte sich in Europa eine – in besonderer Weise mit dem Namen Balints (1984) verbundene – Tradition allgemeinärztlicher Psychotherapie, die ebenfalls als pragmatisch orientierter Modifikationsversuch des psychoanalytischen Ansatzes aufgefasst wurde und die zur heutigen Praxis supportiver Psychotherapie Wesentliches beigetragen hat, ohne allerdings jemals den Begriff des »Supportiven« zu konzeptualisieren. Wolberg (1967) hat die behandlungstechnisch relevanten Aspekte der Modifikationvorschläge jener Epoche aus zeitgenössischer Perspektive zusammengefasst. In ihrem Kern liegt der weitgehende Verzicht auf den Versuch, bewusstseinsfernes Material durch Deutungsarbeit im Rahmen einer Übertragungsbeziehung und entlang einer dadurch geförderten Persönlichkeitsreifung dem
693 29.1 · Einleitung
Bewusstsein zugänglich zu machen. »Supportive« Psychotherapie konzipiert die therapeutische Beziehung demgegenüber als reale Präsenz des Therapeuten ohne erweiterten Deutungsspielraum.
Eklektische Orientierung Zielbezogenheit und Handlungsaspekt des konzeptu-
ellen Rahmens supportiver Psychotherapie lassen die beiden wesentlichen Fundamente ihrer eklektischen Orientierung erkennbar werden. Diese lässt sich historisch als Öffnung der »evokativen«, d. h. auf die (eher mittelbare) Anregung von Einsicht beschränkten, im Wesentlichen tiefenpsychologisch orientierten Tradition gegenüber den »direktiven« (Frank 1981), d. h. auf das Verhalten und seine (unmittelbare) Modifikation ausgerichteten, weitestgehend lerntheoretisch orientierten Verfahren betrachten. Die Theorie des Unbewussten und die tiefenpsychologische Metapsychologie spielten als Orientierungsrahmen supportiver Psychotherapie dennoch eine durch diese pragmatische Wendung wenig gebrochene Rolle.
Diätetik Schließlich führt das Konzept »supportive Psychotherapie« noch zu einem dritten, seinem historisch wohl ältesten Fundament zurück: Es ist dies die in der antiken »Diätetik« verwurzelte Bewältigungsstrategie, durch regelgeleitete und vernunftgemäße Lebensführung gesundheitsfördernde Ressourcen zu aktivieren. Diese Strategie fußt auf einem Urmotiv heilkundlicher Rationalität, nämlich auf der Nutzung der menschlichen Vernunftbegabung in Lebensbereichen, die auf den ersten Blick vornehmlich der Gewalt der Natur zu unterliegen scheinen. Sie ist im heutigen Begriff »Diät« auf den Bereich der Nahrungsaufnahme reduziert erhalten, umfasste ursprünglich aber alle Lebensbereiche, in denen heilkundlich motivierte Regulierungsversuche des Naturgewaltigen, Notdürftigen und Triebhaften etabliert wurden. Ziel dieser Regulierungsversuche ist die Vermittlung der Erfahrung, dass selbst ein Leiden, welches eindeutig als äußerlich verursacht erlebt wird, innerlich beeinflusst werden kann, in heutiger Terminologie: die Fundierung einer erfahrungsgestützten internen »Kontrollüberzeugung«. In der griechischen wie auch in der arabischen Medizin galt die Diätetik neben der Pharmazeutik und der Chirurgie als dritter Grundpfeiler der gesamten Heilkunde (Koelbing 1985). »Stoische Lebenseinstellung«. Der für das diätetische
Fundament in psychotherapeutischer Hinsicht wahrscheinlich wichtigste Regulierungsbereich betrifft die Bewältigung von Angst, Unlust, Verlust und Schmerz. Die Annahme, dass derartige Affekte, Emotionen und Sensationen nicht allein als Reaktion auf äußere Ereignisse aufzufassen sind, sondern auch mit einem subjektiven Faktor zusammenhängen, welcher wiederum Regulierungs-
versuchen zugänglich ist, markiert den Ausgangspunkt einer der bedeutendsten vorsokratischen Philosophenschulen: der Stoa. Der Erwerb einer gelassenen, »stoischen«, souveränen (d. h. der relativen Autonomie des Subjekts vertrauenden) Lebenseinstellung und v. a. die Verteidigung dieser Einstellung in Lebenskrisen stehen im Mittelpunkt einer geistesgeschichtlichen Kontinuität, die ideologisch ansonsten sehr weit divergierende Traditionen miteinander verbindet. Verbindung diätetischer und psychotherapeutischer Konzepte. Von diesen weitgehend in weltanschaulichen
Überbausystemen verankerten, gleichwohl lebenspraktisch orientierten Theoremen lassen sich Verbindungen zu einigen der diätetischen Tradition nahestehenden, im engeren Sinne psychotherapeutischen Konzepten des frühen 20. Jahrhunderts knüpfen. Dazu gehört etwa Dubois’ (1905) radikal aufklärerischer, u. a. als »psychische Orthopädie« bezeichneter Versuch, die Rationalität des Patienten »auszubilden« und sie zum Aufbau einer individuellen Gesundheits- und Lebensphilosophie zu nutzen. Kronfelds (1925) »psychagogisches« Konzept ist in der gleichen Tradition zu sehen, bleibt jedoch mehr der interaktionellen, von ihm bisweilen auch als »Re-edukation« bezeichneten Beziehungsarbeit (im tiefenpsychologischen Sinn) verpflichtet. Coués (1925) auf eine »SelbstMeisterung« (»maîtrise de soi-même«) ausgerichtete Autosuggestion schließlich legt den Grundstein für eine Reihe von Strategien der Angstreduktion und der Selbstkontrolle körperlicher Alarmreaktionen, zu denen auch die Entspannungsverfahren zu zählen sind.
29.1.3
Therapeutische Grundeinstellung
Sucht man nach einem Konzept, das die therapeutische Grundeinstellung supportiver Psychotherapie anschaulich und ihre theoretischen Fundament übergreifend charakterisiert, so bietet sich besonders der von Rogers (1977) im Zusammenhang mit der klientenzentrierten Psychotherapie entwickelte Begriff der »Empathie« (»empathy«) an. Sie ist das Ergebnis eines zugleich um Präzision und Einfühlung bemühten Verständigungsversuches mit dem Patienten. Auf dem Weg zu diesem Ziel bewegt sich der »supportive« Therapeut jedoch ungleich direktiver als sich dies ein klientenzentrierter (oder auch ein analytischer) Psychotherapeut erlauben würde. Er bleibt mehr den Dispositionen und Grenzen, dem protektiv-autoritären Potenzial und der »apostolischen Funktion« (Balint 1984) seiner Rolle verhaftet. Zielbestimmung. Der supportiv psychotherapeutische
Ansatz verfolgt auf direktem Weg bewusst avisierte, umschriebene, von nosologischen Überlegungen relativ unabhängige, hingegen auf die Nettosumme der krankheits-
29
694
Kapitel 29 · Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung
Pharmakomorphie und "apostolische Funktion" des Arztes (Balint)
29
⊡ Abb. 29.1. Supportive Psychotherapie, theoretische Fundamente und behandlungstechnische Konzepte in ihrem Umfeld
assoziierten Verluste und Gewinne des einzelnen Patienten und der ihm zugänglichen Ressourcen zugeschnittene Ziele. Diese können beispielsweise in einer Umgestaltung der Tagesstruktur, einer Veränderung der Schlafgewohnheiten, im Erwerb des Führerscheins, im Erlernen eines Entspannungsverfahrens oder einer Protokollierungstechnik, in der Planung eines Kurzurlaubs oder in der Aneignung patientengerecht aufbereiteten empirischen Wissens über die Erkrankung liegen. Ihre Richtschnur ist – nach einer Definition Kinds (1982) – »die Stärkung und Unterstützung bestehender Abwehrkräfte im seelischen Haushalt und die Erarbeitung neuer und besserer Verhaltensweisen, um die Kontrolle über sich selbst zu bewahren und eine angemessene Anpassung an Umweltbedingungen zu erreichen.« Direkte Interventionen. Die damit zusammenhängenden
Interventionen sind häufig ausgesprochen direktiv. Aus diesem Grunde spielt der kontinuierliche Abgleich der jeweiligen Handlungsanteile von Therapeut und Patient eine wichtige Rolle, um zu verhindern, dass der Therapeut sich im »kompletten Management« (Möller 1978) der Angelegenheiten seines Patienten verliert oder aber an dessen realen Einsichts- und Handlungsmöglichkeiten
vorbei interveniert. In beiden Fällen würde ein wesentliches Ziel handlungsorientierter Psychotherapie, nämlich die Erfahrung der »Selbst-Effizienz« (Bandura 1977) des Patienten von vornherein verpasst (⊡ Abb. 29.1).
29.2
Psychotherapeutische Basisaspekte des ärztlichen Gesprächs
29.2.1
Voraussetzungen und Arten von Gesprächen
Die Fähigkeit, sich im Gespräch mit anderen zu verständigen, wird allgemein als elementarer Bestandteil der kognitiven und sozialen Grundausstattung des Menschen betrachtet. Die Selbstverständlichkeit dieser Zuordnung ist trügerisch. Die Verständigung im Gespräch unterliegt einer Reihe von Voraussetzungen, deren Erfüllung nicht selbstverständlich, sondern nur als Produkt von Mühe und Sorgfalt der Gesprächspartner möglich ist. Diese Voraussetzungen hängen mit dem Gewicht, der Komplexität und »Morphologie« des Gesprächsgegenstandes zusammen, mit dem kulturellen Hintergrund und der inter-
695 29.2 · Psychotherapeutische Basisaspekte des ärztlichen Gesprächs
aktionellen Beziehung der Gesprächsteilnehmer, schließlich auch mit den situativen Rahmenbedingungen, unter denen sie sich zusammenfinden. Diese Faktoren strukturieren die Kontaktaufnahme und führen zur Aktivierung von Konventionen. Sie prägen verschiedene Gesprächsarten (z. B. Auskunft, Beichte, Beratung, Flirt, Interview, Prüfung, Verhandlung, Verhör), in deren »Rahmen« (Goffman 1977) sich umschriebene Grundrisse der Verständigung entwickeln können. Ärztliches Gespräch. Auch das ärztliche Gespräch ist eine
in diesem Sinne konventionalisierte Gesprächsart. Wesiack (1990) definiert es als »Sammelbegriff für alle zwischen Arzt und Patient gewechselten Worte«. Seine räumliche und zeitliche Ausdehnung werden durch das »Sprechzimmer« und die »Sprechstunde« geregelt. Die Rollenerwartungen der Gesprächspartner aneinander sind asymmetrisch, wechselseitig transparent und erwartbar. Die Schweigepflicht und die Ausrichtung auf den gesundheitlichen Themenbereich sind die wichtigsten seiner geregelten Rahmenbedingungen. Bei näherer Betrachtung lassen sich verschiedene Unterarten ärztlicher Gespräche differenzieren, von denen besonders das Visitengespräch (Köhle u. Raspe 1982), das Aufklärungsgespräch (Hindelang 1986) und das psychotherapeutische Gespräch (Flader et al. 1982) Gegenstand empirischer Einzeluntersuchungen waren. Einführung psychotherapeutischer Prinzipien. Ein beson-
derer Impetus der mit dem Namen Balints verbundenen Tradition gilt dem Versuch, die im Kontext psychotherapeutischer Gespräche gültigen und bewährten Prinzipien auch in andere, nicht primär psychotherapeutisch motivierte Arten des ärztlichen Gesprächs einzuführen. Deshalb lesen sich manche Übersichtsdarstellungen ärztlicher Gesprächsführung beinahe wie Einführungstexte in Prinzipien der Psychotherapie (Meerwein 1974; Reimer 1985). Für die Praxis supportiver Psychotherapie wiederum ist der Versuch, ubiquitär anwendbare psychotherapeutische Basisaspekte des ärztlichen Gesprächs zu formulieren, geradezu »stilbildend« gewesen. Darum werden diese beiden Themengebiete häufig – wie auch im vorliegenden Beitrag – didaktisch in wechselseitiger Bezugnahme entwickelt.
29.2.2
Bestandteile des ärztlichen Gespräches
»Zu-Wort-Kommen« des Patienten. Ziel des ärztlichen
Gespräches ist, dass der Patient es als geglückten Verständigungsversuch erlebt. Dazu muss er – mit den Worten Meerweins (1974) – »sein eigenes Selbstverständnis fördern können«. Wenn dieses Ziel erreicht wird, wird dies für die Mehrzahl der Patienten eine ungewöhnliche
und unerwartete Erfahrung sein. Um es zu erreichen, muss der Patient »zu Wort kommen«. Er muss – v. a. im Erstgespräch – zunächst einen Ausgangspunkt finden, von dem aus er sein Anliegen entwickeln und in eine Darstellung hineinfinden kann, die sein Erleben widerspiegelt. Je nach seinen Verbalisationsfähigkeiten wird er dabei auf Starthilfen des Arztes angewiesen sein. Diese bestehen im Wesentlichen in der an den Patienten gerichteten Ermutigung, das krankheitsbezogene Erleben mit seinen eigenen Worten zu schildern. In der Phase des »Zu-Wort-Kommens« muss der Arzt sich um Unvoreingenommenheit bemühen, schließlich auch darum, die »Ontogenese« der dargestellten Probleme aus der Sicht des Patienten und möglichst exakt in den von ihm erlebten »Proliferationsstadien« nachzuvollziehen. Das bedeutet, dass er zu fremdanamnestischen Informationen, über die er bereits verfügen mag, vorübergehend auf Distanz gehen muss. Thematisierung von Verständnisschwierigkeiten. Ver-
ständnisschwierigkeiten des Arztes sollten frühzeitig thematisiert werden. Sie sind Bewährungschancen für den Kontakt. Seine explizite Bitte an den Patienten, lauter oder langsamer zu sprechen, zu einem bestimmten Punkt noch mehr Informationen beizusteuern oder auch sein Bekenntnis, an einer bestimmten Stelle den thematischen Faden verloren zu haben, machen auf authentische Weise erfahrbar, dass Verständigung im Gespräch Mühe und Sorgfalt voraussetzt. Authentisches Verstehenwollen. Die besondere Chance
des ärztlichen Gespräches liegt darin, dass der Patient in der realen, und durch die transparente Rollendefinition für ihn überschaubaren Person des Arztes auf jemanden treffen kann, der sich darum bemüht, seinen Standpunkt zu verstehen, ohne ihn zu teilen. In dieser Absicht wird der Arzt Fragen stellen, um Erläuterung bitten, das vermeintlich Verstandene mit dem vermutlich Gemeinten abgleichen müssen. Mit besonderem Interesse sollte er danach fragen, welche Arten von Zusammenhängen der Patient zwischen den von ihm geschilderten Ereignissen und Wahrnehmungen sieht, wie sein eigenes Krankheitskonzept konstelliert ist. Das Interesse des Patienten an Kausalität sollte gewürdigt, seine dadurch induzierten Hypothesen aber auch zum Gegenstand von Plausibilitätserwägungen gemacht werden. Überhaupt ist es ausgesprochen nützlich, die »Geschichte« der krankheitsbezogenen Einstellungen, die Ausbildungsstufen und Festigung seiner Überzeugungen zumindest in groben Zügen zu rekonstruieren. Entscheidend für die Begründung eines Arbeitsbündnisses im ärztlichen Gespräch ist, dass der Patient die Fragen des Arztes in dieser Phase nicht als Ausdruck von Skepsis und Zweifel sondern als authentisches Verstehenwollen erlebt. Fragen sollten offen und dennoch genau, explizit
29
696
Kapitel 29 · Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung
und überschaubar sein. Sie haben in erster Linie die Funktion, das – zumindest im Erstgespräch – beträchtliche Informationsbedürfnis des Arztes zu stillen, darüber hinaus können sie aber auch die Schilderung des Patienten strukturieren, thematische Stränge, rote Fäden und deren Knoten namhaft machen. Ermutigung zur Subjektivität. Die Ermutigung zur eige-
29
nen – und im günstigen Fall als »eigene« reflektierten – Subjektivität befreit den Kranken von der Last, sein Kranksein »unter Beweis« stellen zu müssen. Sie führt ihn zugleich an die Aufgabe heran, bei der Bewältigung seiner Krankheit die Möglichkeiten und Grenzen der Welt außerhalb der subjektiven Sphäre mit zu berücksichtigen. Die »reale Präsenz« des Arztes als Gesprächspartner erlaubt es, diese Möglichkeiten und Grenzen in Erinnerung zu rufen. Dies wird zunächst durch manche der Rahmenbedingungen des Gespräches erleichtert, welches ja auch z. B. zeitliche Grenzen hat, schließlich v. a. aber dadurch, dass der Arzt die »Arbeit des Verstehens« vorantreibt, der Subjektivität des Gesprächpartners ungewohnt viel Raum gibt, ihr aber auch seinen eigenen Standpunkt und seine Erfahrung an die Seite stellt. Einfluss weiterer Informationsquellen. Identifikations-
prozesse und die durch sie gestiftete Annäherung zwischen den Gesprächspartnern wirken sich im rechten Maß günstig auf die Entwicklung von Empathie aus, verhindern im Übermaß aber auch das eigentliche Gesprächsziel, nämlich die Förderung des Selbstverständnisses beim Patienten. Er ist im »Rahmen« des ärztlichen Gesprächs fraglos die primäre Informationsquelle, sollte die mit diesem Monopol verbundenen Möglichkeiten zunächst auch ausschöpfen können. Andererseits kommt es im weiteren Gesprächsverlauf aber auch darauf an, sekundäre Informationsquellen (Fremdanamnese, Vorbefunde), schließlich auch die Frage der möglichen Auswirkungen der Erkrankung für Dritte (Angehörige, Betreuungspersonen, Kollegen) zu thematisieren und für den Patienten erlebbar zu machen. Abgesehen davon, dass grundsätzlich alle verfügbaren Informationsquellen genutzt werden sollten, ermöglicht diese Wendung auch eine gewisse Regulierung der Näheverhältnisse zwischen den Gesprächspartnern. Schließlich stimuliert sie wichtige Bezugnahmen auf die »äußere Welt« und erschließt für die spätere Nettosummenbildung der krankheitsassoziierten Gewinne und Verluste bedeutende »Posten«. Arbeitsbündnis. Im günstigen Fall fundiert das ärztliche
Gespräch ein Arbeitsbündnis, das sich im Zuge der bereits geleisteten »Arbeit am Verstehen« als produktiv erwiesen hat. Arzt und Patient haben zu diesem Produkt unterschiedliche, im Hinblick auf ihre Rollenzuweisung meist komplementäre Beiträge geleistet. Im Mittelpunkt dieser
Arbeit stand die Erkrankung des Patienten, ihre Geschichte, ihre Auswirkungen auf ihn und die ihn Umgebenden, seine bislang unternommenen Bewältigungsversuche und deren Effekte, schließlich seine entlang dieser Erfahrungen gewachsenen Überzeugungen. Der Arzt kann sich dem Patienten nun als sein höchstpersönlicher Interessenvertreter in gesundheitlichen Belangen anbieten. Er kennt dessen Interessen auf einem Konkretisierungsniveau weit oberhalb des globalen Wunsches nach Wiederherstellung der Gesundheit. Er hat aber auch eine im Gespräch gewachsene Vorstellung davon, welche der Interessen des Patienten in diesem Sinne ärztlich »vertretbar« sind und welche nicht.
29.3
Prinzipien supportiver Psychotherapie
Rolle des Arztes Ausgangspunkt supportiver Psychotherapie ist eine Art therapeutischer »Vorweg«-Aktivität im Rahmen des geschlossenen Arbeitsbündnisses. Ratschläge und direktive Empfehlungen sind durchaus sinnvoll. Der Therapeut verhält sich initiativ. Er hat in der Beziehungsgestaltung mit dem Patienten eine führende, d.h. richtungweisende Rolle, die weder abstinent noch fraternisierend ist. Übertragungsprobleme, die dadurch entstehen, dass Erwartungen spürbar werden, die im gesetzten Rahmen des Arzt-Patienten-Kontakts nicht unterzubringen sind, müssen frühzeitig angesprochen und mit der Realität dieses Rahmens abgeglichen werden. ! Übertragung ist in der supportiven Psychotherapie kein Element der Behandlungstechnik, sondern unmittelbarer Anlass zur kritischen Realitätsprüfung. Nach Gabbards (1997) Untersuchung ist der supportive Ansatz empirisch betrachtet besonders anfällig für sexuelle Grenzverletzungen im Rahmen von Psychotherapien. Andererseits ist es aber auch wichtig, diesen Rahmen nicht zu eng einzugrenzen. »Väterliche« oder »mütterliche« Verhaltensweisen sind mit dem protektiv-autoritären Potenzial der Arztrolle, das in der supportiven Psychotherapie große Bedeutung hat, sicher noch gut vereinbar. Ebenso sinnvoll kann es sein, wenn der Patient den supportiven Therapeuten als Lernmodell adoptiert.
Umgang mit Regression Ähnlich den Übertragungsphänomenen sollte auch die Regression des Patienten in der supportiven Psychotherapie auf niedrigem Niveau gehalten und sicher nicht aktiv gefördert werden. Dazu ist es nützlich, die Ziel- und Handlungsorientierung der therapeutischen Arbeit in Erinnerung zu rufen. Gerade an dieser Stelle ist besondere Sensibilität des Arztes für eventuelle Gegenübertragungs-
697 29.4 · Indikationsfragen
phänomene vonnöten. Er sollte den Patienten nicht mit »Hausaufgaben« oder gar mit »Strafarbeit« aus der Sprechstunde entlassen, sondern ihm durch eigene Aktivität einen Einstieg in die Erfahrung der »Selbst-Effizienz« (Bandura 1977) vermitteln, ihm Umbaumöglichkeiten seiner »persönlichen Nische« (Willi et al. 1999). In der Praxis bewährt hat sich deshalb die Orientierung, den Ausgangspunkt gesundheitsförderlicher Aktivität von den bereits unternommenen Bewältigungsversuchen des Patienten zu nehmen und diese schrittweise zu modifizieren.
Adaptive Ressourcen des Patienten Grundsätzlich ist es wichtig, die adaptiven Ressourcen, die sich auf dem bisherigen Weg des Patienten z. T. auch in seinen Widerstandsformen entwickelt haben, die aber von ihm in der Regel kaum jemals systematisch reflektiert wurden, zu »inventarisieren«, zu fördern und sie von den maladaptiven Bewältigungsversuchen unterscheiden zu lernen. Zu den Erstgenannten zählen: die kognitive Differenzierungsfähigkeit und Empfänglichkeit für theoretische Erklärungen bei intellektualisierenden Patienten, die Disziplin Rigider, die Nehmerqualitäten Depressiver; Zu den Letztgenannten: die »Crash Diäten« der Adipösen, die protrahierte Einnahme von Analgetika und Tranquilizern, die Regenerationsverweigerung beim Burnout-Syndrom, der »kompensatorische« Mittagsschlaf, schließlich jegliche Art von Kontrollzwang.
Beziehungsgestaltung Auch wenn die »Beziehungsperspektive« im Vergleich zur »Problembewältigungsperspektive« (Grawe et al. 1994) in der supportiven Psychotherapie eher in den Hintergrund tritt, so bleibt die ausgewogene Beziehungsgestaltung über den Tag hinaus ein wichtiges behandlungstechnisches Element. Sie ist atmosphärisch wohlwollend, vom Respekt für die vom Patienten bereits unternommenen Versuche der Krankheitsbewältigung getragen. Sie hat im Gegensatz zur »spezifischen« Psychotherapie auf der Zeitachse selten explizite Anfangs- und Endpunkte, entwickelt sich häufig streckenweise und wird auch nach dem Erreichen selbstgesetzter Ziele eher unterbrochen als beendet (Rockland 1995). Entlang dieser Strecken kommt es darauf an, dass der Patient einerseits unter den Rahmenbedingungen des ärztlichen Gespräches Erwartbares vorfindet, eigene Einschätzungen und Prognosen als zuverlässig und mithin entängstigend erlebt, andererseits aber auch Veränderungserfahrungen sammelt und die Begegnung mit Unerwartetem als Entwicklungschance erkennt.
Eine zwischen diesen beiden Polen »ausgewogene« Beziehungsgestaltung setzt beim Therapeuten eine besondere Art von Flexibilität voraus, die sich im Erleben des Patienten nicht auf Kosten von Zuverlässigkeit, Erreichbarkeit oder Echtheit entwickeln darf. Lazarus (1993) hat hierfür eine anschauliche Metapher geprägt und den in einem solchen Sinne flexiblen Psychotherapeuten mit einem »authentischen Chamäleon« verglichen. Er sollte seinen Umgangsstil keineswegs »von Grund auf«, aber eben doch »ein Stück weit« der Struktur des Patienten anpassen, dessen Abwehrfunktionen eher unterstützen, statt sie zu konterkarieren und vornehmlich bewusstseinsnahe Affekte aufgreifen. Flexibilität ist auch bei der Gestaltung des Settings erwünscht.
29.4
Indikationsfragen
29.4.1
Einschätzung von Patientenvariablen
Bei der Indikationsstellung psychotherapeutischer Verfahren ist zunächst eine Einschätzung wesentlicher Patientenvariablen hilfreich. Dazu ist es nützlich, im direkten Kontakt mit dem Patienten, aber auch noch einmal mit einer gewissen Distanz dazu über einige Kernfragen zu reflektieren. Im Hinblick auf die Indikation des supportiven Ansatzes sind dies v. a. die folgenden: Introspektionsfähigkeit
Inwieweit ist der Patient dazu in der Lage, seine innere Verfassung, die Motive seines Suchens und Meidens authentisch, aber zugleich mit einer gewissen Distanz und Differenzierung wahrzunehmen? Vermag der Patient auch Motive zu beschreiben, die in unserer Kultur oder in seinem Selbstkonzept widersprüchlich, problematisch, anrüchig erscheinen? Ich-Stärke
Verfügt der Patient über ein individuell manifestes und im Kontakt vermitteltes Bewusstsein seiner selbst, das sich gegenüber äußeren Einflüssen und Widerständen zugleich berührbar und stabil zeigt? Kann er konstruktiv selbstkritisch sein? Übertragungsaspekte
Welche – v. a. unausgesprochenen – an den Arzt gerichteten Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen sind im Gespräch spürbar geworden? In welche Richtung hat sich die Einstellung des Arztes gegenüber dem Patienten entwickelt? Fühlt der Arzt sich müde, interessiert, aktiviert, teilnahmslos, überfordert, aufgewertet, eingenommen?
29
698
Kapitel 29 · Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung
Krankheitsgewinn und -verlust
Zu welchen Veränderungen führt die Erkrankung im Alltagsleben des Patienten über die unmittelbar krankheitsassoziierten Beschwerden hinaus? Welche zuvor aversiv erlebten Aktivitäten kann er, welche mit Genuss betriebenen muss er meiden? Hat die Erkrankung zu Rollenwechseln oder Hierarchieveränderungen in einer »Systemumgebung« (Familie, Kollegenkreis, »peer group«) des Patienten geführt? Welche dieser Veränderungen haben sich im Krankheisverlauf initial und welche erst mit größerer Latenz entwickelt? Adaptive Ressourcen
29
Hat der Patient eigene Bewältigungsversuche beschrieben, dabei systematische Erfahrungen mit den Determinanten ihrer Effektivität gesammelt? Oder hat er bestimmte Strategien häufig wiederholt, ohne sie zu modifizieren? Zeigte er maladaptive Verhaltensweisen, die im eigenen Erleben als Bewältigungsversuch initiiert wurden, schließlich aber zu einer Verschlechterung der Gesamtsituation führten? Gibt es aktuell maladaptive, vom Patienten gleichwohl als »Bewältigung« deklarierte Verhaltensweisen? Gibt es verfügbare Bewältigungsressourcen, die bislang – möglicherweise auch als Ausdruck des krankheitsassoziierten Vermeidungsverhaltens – nicht genutzt wurden?
29.4.2
Indikationsspektrum
Supportive Psychotherapie hat ihre Indikationsdomänen an den Randbereichen, also am Anfang und am Ende des Spektrums psychischer Erkrankungen. Diese Domänen umfassen einerseits prämorbid gut integrierte, Ich-starke, introspektionsfähige Patienten mit einem guten Potenzial ungenutzter Ressourcen, andererseits aber auch strukturell inflexible, Ich-schwache, wenig therapiemotivierte, sozial eher isolierte Patienten mit unterduchschnittlicher Ausbildung und minimaler Introspektionsfähigkeit. Im Hinblick auf die verschiedenen Erkankungstypen kommen einerseits akute Störungen mit kurzzeitiger und mutmaßlich vorübergehender Einbuße prästabilisierter Balance durch außergewöhnliche Belastungen in Frage, andererseits aber auch chronische Erkrankungen, bei denen die Therapie u. U. eher palliative als kurative Ziele avisiert. Indikationsbeispiele wären etwa Trauer-, Belastungs- und Erschöpfungsreaktionen, Prüfungsangst, chronische, insondere infauste körperliche Erkrankungen, chronische Schmerzerkrankungen, sofern sie nicht Ausdruck einer Konversionsstörung sind, protrahierte neurotische Entwicklungen, Persönlichkeitsstö-
rungen, Oligophrenien und Demenzen. Die folgende Übersicht fasst die verschiedenen Indikationsbereiche zusammen.
Differenzialindikationen supportiver Psychotherapie Patienten mit guten strukturellen Ressourcen und akutem Verlust prästabilisierter Balance (Trauerreaktion, Belastungsreaktion) → zeitlich befristete Stützung Patienten mit schlechten strukturellen Ressourcen und geringer »Eignung« für andere Psychotherapieformen → langfristige Begleitung (»guidance«) Patienten mit mutmaßlichem Bedarf aber schlechter Motivation zur Psychotherapie → Motivationsarbeit (»first-pass«-Psychotherapie) schizophrene Psychosen in Remission → Sekundärprävention chronische Erkrankungen (besonders bei invariantem Bewältigungsstil) → adaptatives Probehandeln progrediente und infauste Erkrankungen → palliativ supportive Therapie
Anstelle »spezifischer« Psychotherapie. Auch die Indika-
tionsfrage wird also – ähnlich der nach der Behandlungstechnik – tendenziell durch eine Art Subtraktionsverfahren beantwortet: Supportiv werden v. a. diejenigen Patienten behandelt, die für eine »spezifische« Psychotherapie zu gesund, zu krank, nicht geeignet oder nicht motiviert sind. Insbesondere bei den Letztgenannten kann sie aber durchaus auch mit dem Ziel aufgenommen werden, die Motivation des Patienten zu fördern, um damit möglicherweise die Voraussetzungen für eine konfliktbearbeitende Psychotherapie erst zu schaffen (Freyberger u. Freyberger 1997). Schizophrene Psychosen. Eine eindeutig positiv, d. h.
nicht durch Ausschluss bestimmte Domäne der supportiven Psychotherapie ist die Behandlung von Patienten mit schizophrenen Psychosen außerhalb akuter Erkrankungsphasen. Historisch betrachtet scheinen sogar die in der Sekundärprophylaxe dieser Erkrankungen gesammelten Erfahrungen Wesentliches zur Formierung des konzeptuellen Rahmens supportiver Psychotherapie beigetragen zu haben (Kates u. Rockland 1994; Penn et al. 2004). Auch die Einbeziehung von Angehörigen und Bezugspersonen des schizophrenen Indexpatienten in die therapeutische Arbeit ist in diesem Zusammenhang etabliert und im Konzept des »psycho-educational approach« (Anderson et al. 1980) systematisiert worden, der in
699 29.5 · Verfahrensweisen
Kap. 38 ausführlicher dargestellt wird. Die Stützung des Patienten unter Einbeziehung der für ihn wichtigsten Bezugspersonen ist ein genuines Anliegen des supportiven Ansatzes. Es hat sein ursprüngliches Arbeitsfeld in der Arbeitsumgebung des Haus-(und Familien-)Arztes. Aufbau von Kompetenz. Grundsätzlich kann man sagen,
dass diejenigen Erkrankungen, deren Bewältigung langfristig den Aufbau einer besonderen Art der Kompetenz beim Patienten erforderlich machen, besondere Indikationsschwerpunkte supportiver Psychotherapie bilden. Dazu gehören v. a. chronisch oder rezidivierend verlaufende Erkrankungen. Beispiele für den supportiven Aufbau solcher Kompetenzen wären etwa die Selbstwahrnehmung psychotischer Frühsymptome schizophrener Patienten oder die erfahrungsgeleitete zirkadiane Aktivitätsverteilung bei Insomnien.
29.4.3
Kontraindikationen
Ebenfalls positiv lassen sich die – insgesamt recht umschriebenen – Kontraindikationen supportiver Psychotherapie bestimmen: Diese bestehen namentlich bei Patienten mit beträchtlichem sekundärem Krankheitsgewinn, antisozialen Persönlichkeitsstörungen, ausgeprägt anaklitischer (= in abhängigkeitsfördernder Weise anlehnender) Beziehungsgestaltung oder einer ausgeprägten Tendenz zu Ich-syntonem Agieren. In allen genannten Fällen würde die dem supportiven Ansatz eigene Einstiegsweise in die therapeutische Arbeit zumindest einen Teil der pathoplastischen Verhaltensweisen und Strukturen des Patienten aus naheliegenden Gründen eher fördern. Allen kontraindizierenden Konstellationen ist gemeinsam, dass der Beziehungsaspekt in der therapeutischen Arbeit eine gewichtigere und differenziertere Rolle spielen sollte, als dies im Rahmen supportiver Arbeit möglich und sinnvoll erscheint. Wöller et al. (1996) weisen darauf hin, dass auch die Frage nach dem Ansprechen auf konfliktaufdeckende Psychotherapie bei der Indikationsprüfung berücksichtigt werden sollte und empfehlen im positiven Fall im Hinblick auf die Verfolgung des supportiven Ansatzes Zurückhaltung. Allgemein kann man festhalten, dass die Indikationsstellung unter Berücksichtigung der Struktur des Patienten und seiner Problemlage, des Verlaufs und auch der regional verfügbaren Therapiemöglichkeiten getroffen werden sollte. In Zweifelsfällen wird eine als probatorisch deklarierte Arbeitsphase Klärung ermöglichen, ohne Alternativwege zu verschließen.
29.5
Verfahrensweisen
Auch wenn die Praxis supportiver Psychotherapie behandlungstechnisch in keiner Weise kanonisiert ist, so lassen sich doch Verfahrensweisen abgrenzen, die sich praktisch bewährt haben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen im Folgenden, im Wesentlichen orientiert an Wolbergs (1967) umfassenderer Systematik, einige von ihnen umrissen werden. Dabei ist es wichtig, 2 prinzipiell sehr unterschiedliche Ansätze voneinander abzugrenzen, nämlich einerseits diejenigen, die das Prinzip der Transparenz weit mehr noch als die meisten anderen Psychotherapieverfahren betonen, indem sie die vernunftgeleitete, an intersubjektiven Plausibilitätskriterien orientierte, der gemeinsamen Realität verpflichtete Aufklärungsarbeit in den Mittelpunkt rücken und andererseits diejenigen, die eher manipulative Elemente einsetzen, den Patienten ablenken, für ihn nicht durchschaubare, der Rationalität unzugängliche Strategien verfolgen. Die folgende Darstellung wird auf einem gedachten Kontinuum zwischen »transparenten« und »manipulativen« Verfahrensweisen entwickelt.
Klärung Crown (1988) hat ein Elementarprinzip supportiver Psychotherapie auf den Satz reduziert: »Transparency is the essence«. Die Bemühung um Klärung lässt sich als eine Art Reinform dieses Prinzips beschreiben. Sie ist darauf aus, dem Patienten seine eigene Situation durchschaubar zu machen. Dazu muss diese in der Regel zunächst übersichtlicher strukturiert und in verschiedene Themen-, Erlebnis- oder Problembereiche gegliedert werden. Diese lassen sich durch – im Idealfall gemeinsam erstellte – Skizzen verständnisfördernd visualisieren, oder auch durch andere Aufzeichnungsarten in eine reproduzierbare Form bringen. Dadurch kann der Patient ein Stück Distanz gewinnen, seinen Alltag von »außen« oder von »oben«, wiederholt, unter verschiedenen Blickwinkeln betrachten, sein Augenmaß schärfen oder zurückgewinnen, Strukturgewinne erzielen. Diese wiederum fördern nicht nur das rationale Verständnis, sondern auch die Differenzierung affektiver Erlebnisanteile. Patienten, die durch Entscheidungsschwierigkeiten in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt oder außerstande sind, Prioritäten zu setzen, bedürfen dieser Arbeit besonders. Die Vermittlung und Aneignung von Informationen, insbesondere Detailfragen der Erkrankung des einzelnen Patienten betreffend, spielen dabei eine wichtige Rolle, die allein durch die Lektüre von Broschüren und Beipackzetteln nicht ausgefüllt wird.
29
700
Kapitel 29 · Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung
Abreaktion In affektiver Hinsicht bietet das ärztliche Gespräch einen fördernden und schützenden Rahmen für die Abreaktion, die für die Selbstwahrnehmung und das Selbstverständnis des Patienten ebenfalls klärende, bisweilen sogar kathartische Auswirkungen haben kann. Für viele Patienten eröffnet sich dadurch eine in ihrem Alltag ansonsten entbehrte Gelegenheit. Im Gegensatz zur »aufdeckenden« Psychotherapie liegt das Augenmerk des therapeutischen Interesses keineswegs auf möglicherweise verborgenen oder verdrängten, sondern erklärtermaßen auf den bewusstseinsnahen Inhalten. Wichtig und für den Patienten nützlich ist neben der Verfügbarkeit auch die zeitliche, räumliche und interaktionelle Begrenztheit dieses Rahmens.
Umgebungsveränderung, Externalisierung
29
Ein wichtiger, in der geborgenen Enge des Sprechzimmers häufig vernachlässigter Teilaspekt adaptiven Verhaltens ist das Probehandeln. Das Verhaltensrepertoire von chronisch Kranken ist oft zu einem resignativen Minimum an Alternativen eingeschmolzen, obwohl eine beachtliche Anzahl von Bewältigungsmöglichkeiten vom Patienten aus Unkenntnis, Phantasielosigkeit oder durch das im Krankheitsverlauf kontinuierlich anwachsende Vermeidungsverhalten noch gar nicht ausprobiert wurde. Um von supportiver Psychotherapie profitieren zu können, muss der Patient nicht nur Aktivitäten entwickeln, sondern auch die in ihrem Vollzug gesammelten Erfahrungen in sein Handeln und seine Alltagsgestaltung integrieren. Dazu muss er Schwellen überwinden, die ihm durch Regressionswünsche, sein Vermeidungsverhalten und systemkonservative Impulse aus seiner Umgebung gesetzt werden. Die Anpassung der Schwellenhöhe an die individuellen Möglichkeiten des Patienten, die »Unterstützung«, »Förderung«, »Begründung«, »Zulieferung« von Anregungen bei der Überwindung dieser Schwelle und bei der Einstellung darauf, dass auch hinter ihr noch aversive und leidvolle Erfahrungen auf ihn warten können, die »ertragen« werden müssen: Dies sind die genuinen Aufgaben supportiver Psychotherapie, welche unmittelbar zum etymologischen Ursprung des Verbs »to support« zurückführen. Diese Aktivitäten können auf die Symptomatik der Erkrankung zugeschnitten sein, z.B. das Essverhalten bei Essstörungen, die Abendgestaltung bei Schlafstörungen, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bei Angsterkrankungen betreffen. Grundsätzlich vermag aber jede gezielte Umgebungsveränderung – die Aufnahme einer Freizeitbeschäftigung, die Renovierung oder Umgestaltung des Wohnraums, die Umstrukturierung von Arbeitsabläufen – dem Patienten die Erfahrung der Selbsteffizienz auf dem Wege einer »Externalisierung von Interessen« (Wolberg 1967) zu vermitteln. Dabei ist es wichtig, Veränderungen in jedem Fall in kleinen Schritten einzuführen, und der Sammlung und
Auswertung der dabei gesammelten Erfahrung in etwa ebenso viel Raum und und Zeit einzuräumen, wie der Aktivität selbst.
Entspannung Eine besondere Domäne der supportiven Psychotherapie ist die Einführung und Pflege unspezifischer, auf der gesamten Breite des Verhaltens- und Erlebensspektrums gesundheitsförderlicher Aktivitäten. Hierzu zählen besonders diejenigen Praktiken, die psychophysiologisch normalerweise autonom regulierte Ruhe- und Regenerationszustände durch Willküraktivität hervorzurufen oder zumindest zu simulieren suchen. Diese Entspannungsverfahren sind körpernah und eignen sich besonders für Patienten, die tendenziell zum Rationalisieren und Intellektualisieren neigen. Vom Zugangsweg unterscheidet man körperlichübende (Jacobson 1990), autosuggestive (Schultz 1940) und Biofeedbackverfahren (Bruns u. Praun 2002). Nicht unterschätzt werden sollte, dass sie in der Lernphase recht aufwändig sind und beim Patienten in der Praxis auch darüber hinaus beträchtliche Selbstdisziplin voraussetzen. Therapeutisch vermittelbar sind sie v. a. dann, wenn derjenige, der sie vermittelt, dabei auf ein Fundament an Selbsterfahrung am eigenen Leibe zurückgreifen kann. Die Indikationsstellung hängt auch hier mehr von den individuellen Ressourcen des Patienten als von nosologischen Überlegungen ab. Besonders geeignet sind rigide strukturierte Persönlichkeiten, die von der Erfahrung des selbstinduzierten Kontrollverlusts profitieren können. Auch wenn die Entspannungsverfahren reich an ritualisierenden Verhaltenselementen sind, so sind sie dennoch in dem Sinne transparent, dass derjenige, der sie anwendet, das ihnen zugrunde liegende Konzept kritisch und »mündig« zu durchschauen vermag. Dieses Transparenzkriterium wird bei den folgenden, im Sinne dieses Definitionsversuches eher verdeckten Verfahrensweisen in der Regel nicht erfüllt.
Persuasion Sie gründet auf dem diätetischen Fundament supportiver Psychotherapie und hier beispielhaft auf dem Werk Dubois’ (1905). Der Arzt verfolgt dem Patienten gegenüber die Absicht, ihn zu einer Modifikation bestimmter Verhaltenselemente oder bestimmter Einstellungen zu überreden. Er argumentiert, appelliert, beschwichtigt, alarmiert, entwickelt ein für Gesundheit und Wohlbefinden des Patienten parteinehmendes Plädoyer. Dabei sollte er sich weitgehend auf die vom Patienten selbst geschilderten Fakten und die ihm zugänglichen Grundtatsachen beschränken und auf Deutungsversuche verzichten. Die detaillierte Kenntnis der Krankheitskonzepte des Patienten ermöglicht es ihm, dessen Plausibilitätskriterien beim Aufbau von Argumentationsfiguren zu verwenden, um diese für ihn zugänglicher zu gestalten.
701 Literatur
Bei der Wahl rhetorischer Mittel sollte er sich am Bildungsniveau des Patienten orientieren. Die Persuasion ist weniger an wissenschaftlichen, aussagenlogischen und empirischen Evidenzkriterien orientiert als die »Klärung«, sondern eher an den Sozialkonstrukten des »common sense« oder des »gesunden Menschenverstandes«. Sie wird weniger sachlich betrieben als jene, sondern vielmehr enthusiastisch, dennoch aber im Rahmen eines dialogischen Wechsels, der den Gesprächspartnern beachtliche Beträge an Energieeinsatz und Beharrungsvermögen abverlangen kann.
Suggestion Die Suggestion hingegen bleibt auf die einseitig ausgerichtete Einflussnahme des Arztes beschränkt. Sie ist nicht argumentativ, nicht in einem umschriebenen Begründungszusammenhang verankert, hat keinen Bezug zu einer äußeren »dritten Sache« sondern lebt vorzüglich vom protektiv-autoritären Potenzial des Arztes und seiner Rolle. Dessen suggestive Aussagen, Ermutigungen, Gebote, Verbote und Verschreibungen sind nicht im empirischen Sinne vernunftgeleitet, sondern für den Patienten allein aufgrund ihrer Simplizität und ihrer eindeutig erkennbaren Orientierung am Behandlungsziel verständlich. Sie befriedigen sein Bedürfnis nach Irrationalität im Angesicht von Krankheit und Leiden. Der irrationale Charakter des Suggestiven wird in der Interaktion zwischen Arzt und Patient zwar nicht reflektiert, dennoch in der Regel stillschweigend einvernehmlich vorausgesetzt, weshalb die Suggestion eher noch zu den »opaken« (d. h. nichttransparenten) Verfahrensweisen gehört.
Symptomverschreibung, paradoxe Intervention, Plazeboanaloga Demgegenüber haben sich im ärztlichen Alltag eine Reihe von Praktiken eingebürgert, bei denen die Patienten durchaus im unklaren über die Hintergründe therapeutischer Maßnahmen und Empfehlungen bleiben und häufig bleiben sollen. Meist sind sie die Folge unreflektierter Gegenübertragungsprozesse oder aber Ausdruck therapeutischer Hilflosigkeit. In bestimmten Konstellationen kann es aber auch sinnvoll sein, entsprechende Verfahren reflektiert und gezielt zu verwenden. Bevor man dies im Rahmen supportiver Psychotherapie auch nur erwägt, sollte man sich zunächst noch einmal in Erinnerung rufen, dass es grundsätzlich unmöglich ist, einen Kranken zur Gesundheit zu überrumpeln. Möglich und bisweilen auch sinnvoll ist lediglich, ihn zu provozieren, Grundregeln seines Überzeugungssystems ins Wanken zu bringen oder es vorübergehend zu suspendieren, um ihn schließlich zu einer Umstrukturierung und Reorganisation desselben anzuregen. Bei psychotherapeutischen Verfahren, bei denen die »Beziehungsperspektive« im Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses steht, spielt diese Vorgehensweise häu-
fig eine wichtige Rolle. In der supportiven Psychotherapie, die grundsätzlich eher dem Prinzip der Transparenz verpflichtet ist, ist sie nur punktuell sinnvoll, und zwar meist in thematischem Zusammenhang mit der therapeutischen Arbeit am Problem des Krankheitsgewinns bzw. der »Nettosummenbildung« der krankheitsassoziierten Gewinne und Verluste: Um diese auch für den Patienten erlebbar zu machen, kann es sinnvoll sein, ihn dazu zu animieren, sein Symptom so intensiv wie möglich wahrzunehmen, sich gezielt darauf zu konzentrieren, u. U. die Umgebungsbedingungen so einzustellen, dass sein Auftreten möglichst wahrscheinlich erscheint. In diesem Rahmen kann der Patient mit der Maladaptivität seines Vermeidungsverhaltens und insbesondere mit den dadurch induzierten Veränderungen in seiner Umgebung konfrontiert werden. Plazeboanaloga. Chancen und Gefahren des Manipula-
tiven in der Arzt-Patient-Beziehung lassen sich paradigmatisch am Plazeboproblem in der Pharmakotherapie und seinen Analoga in anderen therapeutischen Bereichen illustrieren. Versuche, dieses Problem systematisch im Rahmen psychotherapeutischer Arbeit zum Nutzen des Patienten auszubeuten (Fish 1973), haben sich nicht bewährt. Dennoch kann auch ein Pharmakon, wenn es im Einklang mit der therapeutischen Beziehung verordnet oder verwendet wird, die Entwicklung adaptiver Verhaltensweisen u. U. katalysieren.
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29
702
29
Kapitel 29 · Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung
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30 30 Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen M. Ermann, B. Waldvogel
30.1 Einführung – 704 30.1.1 Begriffsbestimmung: Was ist psychodynamische Psychotherapie? – 704 30.1.2 Zur Geschichte der Psychoanalyse – 704 30.2
Das psychoanalytische (psychodynamische) Krankheitskonzept für neurotische Störungen – 705
30.3
Die psychoanalytische Methode als Basis der psychodynamischen Psychotherapie – 709 Der methodische Rahmen – 709 Beziehung und Übertragung – 710 Ermöglichen, Deuten und Durcharbeiten – 714 Psychoanalytische Behandlungsstrategien für neurotische Störungen – 717
30.3.1 30.3.2 30.3.3 30.3.4
Psychodynamische Psychotherapieverfahren – 718 30.4.1 Indikation und Differenzialindikation – 719 30.4.2 Analytische Psychotherapie – 721
30.4.3 Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie – 724 30.5 Klinische Anwendungen – 729 30.5.1 Psychodynamische Psychotherapie bei neurotischen Störungen – 729 30.5.2 Der psychodynamische Ansatz für das Verständnis und die Behandlung von Psychosen – 733 30.5.3 Psychodynamisch orientierte stationäre Psychotherapie – 735 30.6
Wirkungsnachweise psychodynamischer Psychotherapie – 737 30.6.1 Wissenschaftliche Evidenzkriterien in der Psychotherapieforschung – 738 30.6.2 Naturalistische Studien psychodynamischer Langzeitbehandlungen – 739
30.4
Literatur
– 740
> > Unter »psychodynamischer Psychotherapie« versteht man Psychotherapieverfahren, die sich auf der Grundlage der Psychoanalyse entwickelt haben und von dieser abgeleitet sind. Ihnen liegt die Persönlichkeitsund Krankheitstheorie der Psychoanalyse zugrunde, während sie bezüglich der Methoden z. T. erhebliche Modifikationen gegenüber dem ursprünglichen »Standardverfahren« entwickelt haben. Im Versorgungssystem in Deutschland wird sie zumeist als »tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« bezeichnet und mit der »analytischen Psychotherapie« zu den psychoanalytisch begründeten Verfahren zusammengefasst. In der anglo-amerikanischen Terminologie wird der Begriff »psychodynamic psychotherapy« als Oberbegriff verwendet und synonym mit dem deutschen »psychoanalytisch begründet« gebraucht. Psychoanalyse ist eine anthropologische Wissenschaft, die das Erleben und Verhalten als ein Zusammenwirken von bewussten und unbewussten seelischen Prozessen erforscht. Auf ihrer Basis wurde u. a. eine psychoanalytische Persönlichkeits- und Krankheitslehre sowie Therapiemethode entwickelt. Elemente der psychoanalytischen Methode sind Erforschung des Unbewussten durch freie Assoziationen und Deutungen des Erlebens und Verhaltens. Ziel ist die Lösung unbewusster Konflikte und der Ausgleich von erworbenen Entwicklungsdefiziten. Sowohl analytische als auch tiefenpsychologische Psychotherapien können in verschiedenen Settings, z. B. als Einzel- oder Gruppentherapie, durchgeführt werden. Sie zählen zu den heute am meisten angewandten psychotherapeutischen Behandlungsverfahren.
704
Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
30.1
Einführung
Die psychodynamische Psychotherapie hat sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Basis der Psychoanalyse entwickelt. Sie stellt heute eine der am meisten angewandten Behandlungsformen für Neurosen und psychosomatische Störungen und Erkrankungen dar. Auch in der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen ist sie eine der maßgeblichen psychotherapeutischen Verfahren. Derzeit werden in Deutschland in der kassenfinanzierten Psychotherapie ca. 60% der Patienten mit psychoanalytischen Verfahren und 40% mit Verhaltenstherapie behandelt. Die psychodynamische Behandlung von Psychosen hat nach einer Blüte in den 1940er und 1950er Jahren, v. a. in den USA, seit der Einführung der neuroleptischen und antidepressiven Psychopharmaka dagegen stark an Bedeutung verloren. In diesem Feld spielt sie heute, zusammen mit der Verhaltens- und Sozialtherapie, zumeist die Rolle eines ergänzenden Behandlungsverfahrens.
30.1.1
Begriffsbestimmung: Was ist psychodynamische Psychotherapie?
30 ! Mit dem Begriff Psychodynamik beschreibt man den von der Psychoanalyse vertretenen Ansatz, psychische Phänomene als ein Zusammenspiel von Kräften zu erklären, die dem Seelenleben zugeschrieben werden und zum größeren Teil unbewusst sind. Das psychodynamische Denken bezieht sich auf das gesunde Erleben und auf krankhafte seelische Prozesse. Es betrachtet auch psychosoziale Phänomene unter dem Aspekt unbewusster Prozesse, z. B. Abläufe in sozialen Organisationen wie Gruppen und Institutionen.
unbewusst weitgehend unbewusst sind. Alles Erleben, so die Psychoanalyse, ist mehrfach determiniert und hat eine Basis im Unbewussten. Bewusstseinsnahe Manifestationen des Unbewussten sind Träume und Fehlleistungen. Neurotische Symptombildungen werden als produktivdefensive Leistungen im Spannungsfeld zwischen unbewussten Strebungen und Anforderungen an die Erfordernisse des sozialen Lebens erklärt oder als Manifestationen von Leistungsdefiziten bei der Bewältigung psychosozialer Aufgaben. Die Inhalte des persönlichen (dynamischen) Unbewussten stammen aus bewussten Erfahrungen, die durch Verdrängung unbewusst werden (Freud 1900). Daneben bestehen primäre, erblich determinierte und kollektiv-kulturell vermittelte Inhalte des Unbewussten (Jung 1916). Neuerdings werden auch prozedurale Inhalte diskutiert, die aus basalen, begrifflich nicht gefassten Beziehungs- und Seins-Erfahrungen stammen, die im impliziten Gedächtnis abgelagert werden (Edelman 1992). Terminologie. In diesem Kapitel werden die auf der Psychoanalyse aufbauenden und von ihr abgeleiteten Behandlungsverfahren als psychodynamische Psychotherapie bezeichnet. Diese Bezeichnung lehnt sich an die amerikanische Terminologie an. Sie hat im deutschsprachigen Bereich keine Tradition. Hier spricht man traditionell von psychoanalytisch begründeter, psychoanalytisch orientierter oder tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Die gültige Weiterbildungsordnung für Ärzte von 1993 spricht von tiefenpsychologischer Psychotherapie. Die Psychotherapierichtlinien für die kassenärztliche Versorgung unterscheiden unter dem Dachbegriff »psychoanalytisch begründete Verfahren« zwischen analytischer und tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie; diese Unterscheidung wird Abschn. 30.4 näher erläutert.
30.1.2 Das Unbewusste. Ursprünglich wurde vom Konzept eines seelischen Apparates ausgegangen. Als Instanzen des see-
lischen Apparates hat Freud (1923) das »Es« als Triebreservoir, das »Ich« als Steuerungsinstanz und das »ÜberIch/Ich-Ideal« als normative Größe beschrieben. Heute orientiert die Psychoanalyse sich überwiegend am Beziehungsparadigma und stellt die Verinnerlichung von Beziehungserfahrungen und die Manifestationen von unbewussten Objektrepräsentanzen und Phantasien in das Zentrum des psychodynamischen Denkens. Als Objektrepräsentanzen werden dabei dynamisch wirksame unbewusste Komplexe bezeichnet, die eine Vorstellung vom Selbst, vom Anderen und beziehungsregulierende Wünsche und Affekte enthalten (Kernberg 1976). Entscheidend für das psychodynamische Denken ist die Annahme, dass seelische Abläufe und Erlebnisinhalte
Zur Geschichte der Psychoanalyse
Die Psychoanalyse wurde zwischen 1890 und 1920 von Sigmund Freud und seinen Schülern aus der Hypnosebehandlung heraus entwickelt (Freud 1925; Ellenberger 1985). Mit Hypnose behandelte man damals hysterische Störungen, indem man die Patienten im hypnotischen Zustand traumatische Erlebnisse wiedererinnern ließ, die in der Hysterie abgewehrt wurden. Bei der Psychoanalyse handelte es sich ursprünglich um einen rein psychotherapeutischen Ansatz, mit dem verdrängte Erinnerungen in einem Zustand optimaler Entspannung ins Bewusstsein zurückgeholt wurden. Im Laufe der Ausarbeitung ihrer wissenschaftlichen Grundlagen entstanden die Persönlichkeits- und später die Gesellschaftstheorie, die Krankheitslehre und die differenzierte Heilkunde.
705 30.2 · Das psychoanalytische (psychodynamische) Krankheitskonzept für neurotische Störungen
Klassische Psychoanalyse
Adler und Jung. Unterschiedliche Bewertungen der theo-
In der von Freud entwickelten klassischen Psychoanalyse steht die Analyse von Übertragung und Widerstand als Manifestationen des Unbewussten im Vordergrund. Sie befasste sich ursprünglich mit der Behandlung der »klassischen« Neurosen, d. h. der Neurosen auf höherem Strukturniveau ( Abschn. 30.2). Als Material der Analyse wurden v. a. auch Träume verwendet, die von Freud (1900) in seiner berühmten »Traumdeutung« als »Königsweg zum Unbewussten« bezeichnet worden waren. Freud beschrieb als Ziel der Psychoanalyse die Liebesund Arbeitsfähigkeit und forderte programmatisch: »Wo Es ist, soll Ich werden« (Freud 1933). Damit war gemeint, dass die verdrängten Triebkonflikte durch die Analyse aufgedeckt und die Triebe besser in das Ich integriert und von diesem beherrscht werden sollten. Die klassische Psychoanalyse war vornehmlich eine Trieb- bzw. Konfliktpsychologie. In ihrem Zentrum standen die Sexualkonflikte, die mit dem Höhepunkt der Libidoentwicklung zwischen dem Kind, der Mutter und dem Vater zum Ödipuskomplex eskalieren. In der Bearbeitung von Triebwünschen, Identifikationen, Normen und Verboten im Spannungsfeld des Ödipuskomplexes sah sie die zentrale Aufgabe der Psychotherapie. Damit zentrierte sie auf intrapsychische Konflikte zwischen den Instanzen Ich, Es und Über-Ich. Insofern handelte es sich bei Freud um ein Ein-Personen-Modell der Behandlung.
retischen Formulierungen und der kasuistischen Befunde führten mehrfach zur Bildung eigenständiger Forschungsrichtungen, den sog. tiefenpsychologischen Schulen. Die bekanntesten wurden von Alfred Adler und C. G. Jung gebildet. Adlers Individualpsychologie (Adler 1912) betont besonders das Machtstreben und tritt für eine aktive, weniger abwartende Behandlungstechnik ein. Die Komplex- oder analytische Psychologie von Jung (Jacobi 1972) widmet sich dem Studium der kulturellen und sozialen Aspekte des Unbewussten. Neopsychoanalyse. In den 1940er Jahren entstanden die
neopsychoanalytischen Richtungen. Sie nahmen an der Psychoanalyse Freuds durch Ergänzungen, Erweiterungen oder Einengungen starke Veränderungen vor und gingen im Laufe der späteren Entwicklung wieder im Hauptstrom der Psychoanalyse auf. Zu ihnen zählt die Berliner neopsychoanalytische Schule von Schultz-Hencke (1940), der eine Verknüpfung der Ansätze von Freud, Adler und Jung vornahm. In den USA entstanden die neoanalytischen Kulturschulen von Horney, Fromm und Sullivan, die beim Verständnis der Neurosenentstehung stärker als die Vertreter der Richtung von Freud auch sozialpsychologische Faktoren berücksichtigten und sich insbesondere um die psychoanalytische Behandlung von Psychosen bemühten.
Weiterentwicklungen der Psychoanalyse Im Laufe der Jahrzehnte hat die Psychoanalyse vielfältige Richtungen hervorgebracht (Wyss 1961). Im Hauptstrom der Entwicklung entstanden Erweiterungen der Theorie und Behandlungstechnik, die v. a. Patienten mit narzisstischen und Borderline-Störungen einbezogen. Diese Entwicklung wurde von Psychoanalytikern wie Abraham, Alexander, Ferenczi, Anna Freud, Melanie Klein und Reich betrieben. Später entwickelten sich innerhalb der Psychoanalyse weitere Richtungen: Die Ich-Psychologie: Sie beschäftigt sich v. a. mit den Anpassungsleistungen des Menschen an seine Umwelt; die Objektbeziehungstheorie: Sie rückt die Erfahrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen in das Zentrum ihres Interesses und vollzog den Paradigmenwechsel vom Ein-Personen-Modell der klassischen Psychoanalyse zum Zwei-Personen-Modell des heutigen psychoanalytischen Denkens; die Selbstpsychologie: Sie beschreibt Entwicklung und Störungen des Selbst- und Selbstwertgefühls und seiner Regulation; ein integrativer Ansatz, der diese verschiedenen Richtungen zusammenfasst (Kernberg 1976). Er bestimmt heute den sog. Mainstream der Psychoanalyse.
30.2
Das psychoanalytische (psychodynamische) Krankheitskonzept für neurotische Störungen
Die Psychoanalyse ist eine anthropologische Wissenschaft, die das Erleben und Verhalten als ein Zusammenwirken von bewussten und unbewussten seelischen Prozessen erforscht. Auf dieser Basis wurden u. a. eine psychoanalytische Persönlichkeitslehre, eine psychoanalytische Krankheitslehre und eine psychoanalytische Heilkunde entwickelt. Die Psychologie des Unbewussten, die auf der Psychoanalyse beruht, wird als Tiefenpsychologie bezeichnet. Das Krankheitskonzept der Psychoanalyse beschreibt die seelischen Aspekte des Krankseins als Folge unbewusst gewordener Erfahrungen, die bis in die frühe Kindheit zurückreichen. Es beschäftigt sich insofern insbesondere mit den neurotischen, d. h. auf disponierenden Vorerfahrungen beruhenden Störungen. Allerdings bestehen auch für die reaktiven und posttraumatischen Belastungsstörungen psychodynamische Konzepte, die hier nicht näher erörtert werden (vgl. Ermann 2007). Diese Erfahrungen hinterlassen aus psychoanalytischer Sicht unbewusste Konflikte und Entwicklungsdefizite, die dazu disponieren, dass die Betroffenen in aktu-
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
ellen psychosozialen Belastungssituationen dekompensieren und mit Symptombildungen reagieren. Wenngleich die psychoanalytische Betrachtung auf diese psychodynamischen Aspekte der Krankheitsentstehung fokussiert, werden, je nach Art der Erkrankung, durchaus auch andere, z. B. erbliche und somatische Krankheitsfaktoren in Rechnung gestellt. Das gilt insbesondere für die Betrachtung der Psychosen, bei denen psychodynamische Faktoren heute als Kofaktoren bei der Krankheitsentstehung angenommen werden. Bei der Betrachtung der Krankheitsentstehung hat also die Verarbeitung von Bedürfnissen, Phantasien, Konflikten, Kränkungen usw. die entscheidende Bedeutung. Daneben spielen in den meisten neuzeitigen Krankheitskonzepten aktualgenetische Krankheitsfaktoren eine zunehmend wichtigere Rolle (Gill 1979; Sandler u. Sandler 1985). Im Mittelpunkt steht damit die Innenwelt der Betroffenen. Ferner wird in letzter Zeit immer stärker auch die Bedeutung traumatischer Erlebnisse, d. h. die Außenwelt, hervorgehoben. Es wird also die Traumatogenese neurotischer Störungen, insbesondere beim Verständnis der Borderline-Persönlichkeitsstörungen betrachtet. Entwicklungskrisen. Zeitgerechtes Erleben der üblichen
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Entwicklungskrisen und Belastungen in einer im durchschnittlichen Maße fördernden Umgebung führt i. Allg. zur problemlosen Entwicklung. Übermäßige, im Hinblick auf Art, Zeitpunkt, Dauer und Intensität nicht zu bewältigende Belastungen führen hingegen zu Störungen beim Aufbau der Persönlichkeit, die als neurotische Entwicklung beschrieben werden. Entwicklungsstörungen. Dabei kommt es zu einer Anpas-
sung an unzureichende Entwicklungsbedingungen. Das geschieht, wenn sich das Ich der Betroffenen, also z. B. der noch völlig unreife, unerfahrene, angewiesene kleine Säugling, vor überwältigenden Aufgaben sieht. Diese erzeugen Spannungszustände, welche zwar bewusst erlebt, aber noch nicht begrifflich erfasst werden können und als prozedurale Erfahrungen in das präsemantische implizite Gedächtnis eingehen (Edelman 1992). Sie können z. B. darin bestehen, dass er durch eine Krankheit eine lange Trennung von seiner Pflegeperson erfährt und auf die Orientierungslosigkeit und den Verlust mit starken Ängsten und Verlassenheitsgefühlen reagiert. Wenn es sich um andauernde Spannungen handelt, können daraus Störungen der Bewältigung phasenspezifischer Entwicklungsaufgaben entstehen. So kann z. B. der Aufbau eines adaptativen Bindungsmusters beeinträchtigt werden. Auf diese Weise entstehen Entwicklungsstörungen. Sie beruhen auf Entwicklungsdefiziten. Sie betreffen v. a. das Selbstgefühl, die Entwicklung reifer Objektbeziehungen, die Trieb- und Affektregulation, das Bindungsverhalten und die Bildung des Gewissens und der Ideale. Wenn sie später nicht durch verständnisvolle Haltungen
ausgeglichen und aufgeholt werden können, dann kann eine dauerhafte Verformung der Persönlichkeit mit einer spezifischen Ich-Schwäche, unzureichend integrierten Vorstellungen von sich selbst und seinen Objekten und einer basalen Störung des Selbstgefühls bestehen bleiben, die zur Disposition für psychogene Störungen auf niederem Strukturniveau, sog. Borderline-Störungen, werden kann. Konfliktstörungen. Ein anderer Weg der neurotischen Verarbeitung übermäßiger Belastungen ist die Bewältigungsform der Verdrängung. Sie wird insbesondere dann eingesetzt, wenn die Betroffenen sich unlösbaren Konflikten ausgesetzt sehen. Die Voraussetzung ist dabei ein Entwicklungsstand, auf dem sie über die Fähigkeit zur Verdrängungsabwehr verfügen, durch die ein Konflikt unbewusst gemacht werden kann. Dieser Entwicklungsstand ist an die Entwicklung von Begriffen und Sprache gebunden und wird i. Allg. am Ende des 2. Lebensjahres erreicht. Die unbewusst gewordenen, ungelösten, d. h. neurotischen Konflikte bewirken, dass die Betroffenen auch später ähnliche Konflikte nicht bewältigen können. Damit ist die Basis für Konfliktstörungen (»klassische Neurosen«) gegeben.
Neurotische Persönlichkeit Entwicklungsdefizit und Konfliktabwehr schließen einander nicht aus. Sowohl in den Entwicklungsdefiziten als auch im unbewussten neurotischen Konflikt sind Spannungen und Ängste gebunden, die aus den überwältigenden Erfahrungen stammen. Sie finden in unbewussten Beziehungsrepräsentanzen, also unbewussten Abbildern dieser Erfahrungen, einen Niederschlag. Sie müssen dauernd durch Abwehr unbewusst gehalten werden. Dazu werden Abwehrmechanismen eingesetzt, die der neurotischen Persönlichkeit ihr charakteristisches Gepräge geben (s. Übersicht). Neurotische Persönlichkeiten sind durch Erlebnisund Reaktionsweisen gekennzeichnet, die durch eine andauernde Abwehr von unbewussten Konflikten oder die Kompensation von Entwicklungsdefiziten eingeengt sind. Sie sind ein Erkrankungsrisiko für die Entstehung neurotischer Störungen, d. h. unter spezifischen Belastungen kann die Abwehr zusammenbrechen und eine neurotische Erkrankung entstehen. Die neurotische Persönlichkeit selbst ist keine eigentliche Störung, sondern sie bildet lediglich die psychodynamische Basis einer neurotischen Erkrankung. So kann z. B. die ständige Suche nach narzisstischer Anerkennung zu einer unselbstständigen Lebensweise und zur Unfähigkeit führen, allein zu sein. Ständige Identifikation mit den Erwartungen anderer kann dazu führen, dass die eigenen Bedürfnisse chronisch verleugnet und auf Dauer überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden. Die andauernde Unterdrückung von aggressiven
707 30.2 · Das psychoanalytische (psychodynamische) Krankheitskonzept für neurotische Störungen
Regungen kann bewirken, dass die Betroffenen ihre Selbstbehauptung anderen gegenüber gar nicht mehr spüren und ihnen übergefügig und unterwürfig begegnen. Typische Bewältigungsmuster. Das unbegrenzte Spek-
trum der Lebensbedingungen bewirkt, dass die Persön-
lichkeit des einzelnen Menschen ganz verschiedenen Einflüssen ausgesetzt ist und dass ganz verschiedene Muster der Lebensbewältigung entwickelt werden. Dennoch gibt es einige Grundmuster der Entwicklungs- und Konfliktbewältigung. Man kann sie als typische Bewältigungsmodi oder Muster neurotischer Persönlichkeiten beschreiben (s. Übersicht).
Entwicklungsdiagnostische Systematik der neurotischen Persönlichkeiten. (Ermann 2005) Neurotische Persönlichkeiten auf höherem Strukturniveau Die hysterische Persönlichkeit mit neurotischer Ziellosigkeit und Unbeständigkeit, Dramatisierung und Exaltiertheit, leichter Beeinflussbarkeit und naiver Unbefangenheit. Sie beruht auf der Abwehr von sexuellen Phantasien, Beziehungskonflikten und von zugehörigen Gewissensängsten durch Verdrängung u. a. Die zwanghafte Persönlichkeit mit neurotischer Aggressionsgehemmtheit, Unflexibilität und Pedanterie. Sie steht im Dienst der Abwehr aggressiver und sexueller Triebkonflikte und der dazugehörigen Strafängste durch Reaktionsbildung und Ungeschehenmachen. Neurotische Persönlichkeiten auf mittlerem Strukturniveau Die depressive Persönlichkeit mit der Neigung, eigene Bedürfnisse schuldhaft zu erleben, sich anzupassen und zu unterwerfen, mit Neigung zu Altruismus und zu Bescheidenheitsideologien. Sie beruht auf der Abwehr von Konflikten zwischen expansiven, autonomen Triebbedürfnissen und Angst vor Liebesverlust, überwiegend mit den Abwehrmechanismen der Identifizierung und der Reaktionsbildung. Die narzisstische Persönlichkeit mit labiler Selbstwertregulation, Minderwertigkeitskomplexen und Größenphantasien. Die Betroffenen sind abhängig von Anerkennung und Bestätigung und deshalb leicht kränkbar und bereit zum Rückzug. Es liegen Selbstwertkonflikte und Verlustängste aus der gescheiterten Autonomieentwicklung zugrunde, die
durch Identifizierung mit den Erwartungen anderer, Idealisierung und Entwertung und durch Kontrollieren abgewehrt werden. Eine offen abhängige narzisstische Persönlichkeit wird von einer pseudounabhängigen narzisstischen Persönlichkeit unterschieden. Neurotische Persönlichkeiten auf niederem Strukturniveau Die Borderline-Persönlichkeit, bei der gravierende Unsicherheit des Selbst-Gefühls mit einer geringen Frustrationstoleranz, Affektlabilität und Impulsivität (Ich-Schwäche) verbunden sind. Sie beruht auf einer basalen Grundstörung der frühen Individuationsentwicklung und ist mit der Abwehr von Verlassenheitsängsten durch Spaltung und Projektion (projektive Identifizierung) verbunden. Wenn Pobleme des basalen Selbst-Gefühls dominieren, handelt es sich um eine narzisstische Borderline-Persönlichkeit (Narzissmus auf niederem Strukturniveau). Wenn das Agieren und die Sexualisierung der Beziehungen vorherrschen, um eine hysteriforme Borderline-Persönlichkeit (maligne Hysterie, Hysterie auf niederem Strukturniveau). Die schizoide Persönlichkeit ist eine Variante der Persönlichkeit auf niederem Niveau mit neurotischer Kontakthemmung, Verleugnung von Gefühlen und Misstrauen. Im Hintergrund stehen Konflikte der Nähe-Distanz-Regulierung und Verfolgungsängste aus der frühen Individuationsentwicklung, die vor allem durch Spaltung, Projektionen, Rationalisierung und Gefühlsverdrängung abgewehrt werden.
Versagen der Abwehr
Bei Konfliktstörungen. Wenn nun bei einer neurotischen
Trotz des Panzers gegen Defizit und Erinnerung, der durch die neurotische Ausformung einer Persönlichkeit aufgebaut wird, kann der unbewusste Konflikt jederzeit reaktiviert oder die Ich-Schwäche manifest werden, wenn im späteren Leben ähnliche Konflikte wie der verdrängte entstehen oder wenn die Kompensationsmechanismen durch die Herausforderung spezieller Aufgaben oder durch traumatische Erlebnisse überfordert sind.
Persönlichkeit ein aktueller Konflikt auftritt, für den keine Konfliktlösung gefunden werden kann, und wenn dieser ungelöste Konflikt mit einem gleichartigen unbewussten Konflikt zusammentrifft, dann entsteht eine Notsituation. Eine einfache Abwehr der aktuellen Konflikte ist erschwert, weil die vorbestehenden verdrängten Konflikte die Kraft der Konfliktabwehr binden. Die Folge ist, dass die Konfliktabwehr versagt. In dieser Situation kann das
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
seelische Gleichgewicht nur durch eine Notreaktion aufrechterhalten werden: Es entsteht eine pathologische, d. h. die Anpassung nicht mehr gewährleistende Konfliktlösung in Gestalt von neurotischen Symptomen. Diese Dynamik der Symptomentstehung ist typisch für Konfliktstörungen (klassische Neurosen). Bei Entwicklungsstörungen. Dagegen misslingt bei Pati-
enten mit Entwicklungsstörungen eine solche Anpassung aufgrund ihrer spezifischen Ich-Schwäche. Die Folge ist, dass Ängste und andere Zeichen der Ich-Schwäche wie Impulsivität oder Destruktivität die Persönlichkeit dominieren und als Symptome in Erscheinung treten. Sekundär kann als Notreaktion eine Abwehr, v. a. in Form von Spaltung, Verleugnung oder projektiver Prozesse einsetzen und die Desintegration mäßigen.
ellen Belastungen »alte Wunden wieder aufreißen«. Diese »alten Wunden« sind die Entwicklungsdefizite und verdrängten Konflikte, die latent als unbewusste Erfahrungen nachwirken: misslungene Beziehungserfahrungen aus dem früheren Leben, die niemals verarbeitet werden konnten und durch Anpassung oder Verdrängung unbewusst geworden sind. Sie stellen die Disposition für die Entstehung von psychogenen Symptomen dar. ⊡ Tab. 30.1 gibt eine Synopsis über die Phänomenologie und Terminologie der neurotischen Störung auf der Basis der psychodynamischen Entwicklungsdiagnostik. Danach lassen sich 3 Strukturniveaus bzw. Grundformen der neurotischen Pathologie unterscheiden, denen einzelne Formen von Persönlichkeitsstörungen bzw. Symptomneurosen zugeordnet werden.
Weitere psychogene Störungen
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Auslösesituation
Sekundäre neurotische Störungen. Neben den primären
Für das Verständnis von neurotischen Störungen hat die Auslösesituation der Symptomentstehung eine zentrale Bedeutung: Durch alltägliche, aber unbewusst besonders bedeutungsvolle Erlebnisse werden verdrängte Konflikte und kompensierte Entwicklungsdefizite aktiviert. Es sind zumeist zwischenmenschliche Probleme, die in ihrer Bedeutung von den Betroffenen nicht erkannt werden. Die Symptome sind Zeichen einer unzureichenden Bewältigung. Außer bei Belastungsstörungen, werden sie aber nicht durch beliebige Belastungen hervorgerufen, sondern nur unter der besonderen Bedingung, dass die aktu-
gibt es auch sekundäre neurotische Störungen. Darunter versteht man Neurosen, die als Zweitkrankheit nach einer körperlichen Erkrankung auftreten. Zunächst besteht ein körperliches Leiden, z. B. ein Herzinfarkt. Durch subjektive Bedeutungen werden dadurch neurotische Konflikte aktiviert. Aufgrund der krankheitsbedingten Regression und Schwächung der Abwehrfunktionen entsteht eine Dekompensation. So kann z. B. der Herzinfarkt zur psychologischen Auslösesituation für eine Herzneurose werden, wenn er die Erinnerung an einen geliebten Menschen wachruft, zu dem eine ungelöste neurotische Bin-
⊡ Tab. 30.1. Übersicht über die Entwicklungsdiagnostik der neurotischen Störungen Entwicklungsdiagnostik
Niederes Strukturniveau
Mittleres Strukturniveau
Höheres Strukturniveau
Grundform der Neurosenpathologie
BorderlinePathologie
Narzisstische Pathologie
Pathologie der »klassischen Neurosen«
Persönlichkeitsstörung:
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Narzisstische Persönlichkeitsstörung
Persönlichkeitsstörung auf höherem Strukturniveau (früher: »Charakterneurose«), spezifiziert als: Hysterische, zwanghafte bzw. depressive Persönlichkeitsstörung
Symptomneurosen:
Borderline-Syndrom Zwangssyndrom (bei Borderline-Persönlichkeit) Münchhausen-Syndrom (bei Borderline-Persönlichkeit)
Narzisstische Krise Depressive Neurose (bei narzisstischer Persönlichkeit) Herzneurose (bei narzisstischer Persönlichkeit)
Depressive Neurose (z. B. bei depressiv-hysterischer Persönlichkeit) Psychogene Abasie (z. B. bei hysterischer Persönlichkeit) Psychogene Diarrhö (z. B. bei zwanghafter Persönlichkeit)
Allgemeine Disposition
Neurotische Persönlichkeitsentwicklung
Spezifische Disposition
Störung der basalen Ich- und Selbst-Entwicklung
Störung der Selbstwertregulation
Störung der Fähigkeit zur Lösung von Konflikten
Entwicklungspsychologischer Angelpunkt
Störung der sensorischen und Individuationsentwicklung
Fixierung der Autonomieentwicklung
Fixierung im Ödipuskomplex
Klinische Phänomene
709 30.3 · Die psychoanalytische Methode als Basis der psychodynamischen Psychotherapie
dung besteht, und der selbst an einem Herzinfarkt gestorben ist. Reaktive Störungen. Belastungsreaktionen und Anpas-
sungsstörungen als Folge von andauernden oder schwerwiegenden seelischen und psychosozialen Belastungen ohne spezifische Disposition. Ihre Ursache ist eine Überforderung der Fähigkeit, aktuelle psychische oder psychosoziale Belastungen ausreichend zu verarbeiten und sie zu bewältigen. Posttraumatische Störungen. Diese Störungen als Folge von Traumaerfahrungen, die einen Zustand extremer Hilflosigkeit und Verzweiflung hervorrufen und die Bewältigungsmöglichkeiten völlig überfordern. Klinisch unterscheidet man aus psychoanalytischer Sicht zwischen Traumatisierungen, die in vulnerablen Entwicklungsphasen eintreten und die Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen, und Traumatisierungen nach Abschluss der Basisentwicklung, insbesondere im Erwachsenenalter, welche pathogene Kerne in der gesunden Persönlichkeit bilden.
30.3
Die psychoanalytische Methode als Basis der psychodynamischen Psychotherapie
Die psychoanalytische Methode hat sich als Erforschung des Unbewussten durch freie Assoziation und Deutung des manifesten Erlebens und Verhaltens entwickelt. Das Ziel der psychoanalytischen Methode war ursprünglich mit der Erkundung und die Lösung unbewusster Konflikte auf Konfliktstörungen begrenzt. Später kam der Ausgleich von Entwicklungsdefiziten hinzu. Wenn diese Störungen im analytischen Prozess ausgeglichen werden können, dann bewirkt die Psychoanalyse eine Nachreifung bzw. eine Normalisierung der Persönlichkeitsstruktur. Die psychoanalytische Methode ist dadurch gekennzeichnet, dass sie Veränderungen des Erlebens und Verhaltens insbesondere durch Einflussnahme auf die unbewusste Psychodynamik bewirkt und dabei der Manifestation des Unbewussten in der Patient-Therapeut-Beziehung besonderes Interesse widmet.
Ziele und Behandlungsstrategie Es ergeben sich für die verschiedenen Grundformen der Neurosenpathologie unterschiedliche Zielvorstellungen und Behandlungsstrategien bei neurotischen Störungen: Bei neurotischen Entwicklungsstörungen auf niederem Strukturniveau (Borderline-Störungen) steht der Erwerb reifer Bewältigungsstrategien im Vordergrund, womit der Ausgleich der für diese Neurose-
form typischen Entwicklungsdefizite und der Aufbau reifer zwischenmenschlicher Beziehungen verknüpft sind. Bei »klassischen Neurosen« auf höherem Strukturniveau wird die Umstrukturierung der Persönlichkeit durch die Lösung fixierter unbewusster Konflikte angestrebt. Bei Störungen auf mittlerem Strukturniveau, den narzisstischen Störungen, sind diese beiden Zielsetzungen miteinander verknüpft.
30.3.1
Der methodische Rahmen
Die Psychoanalyse ging ursprünglich von einem sog. Standardverfahren aus, das noch immer die methodische Basis darstellt. Es wird in der individuellen Behandlung modifiziert und den Erfordernissen des einzelnen Patienten angepasst. Äußerer Rahmen. Der äußere Rahmen des Standardver-
fahrens umfasst in der ursprünglichen Form 5 oder 6 wöchentliche Behandlungsstunden über einen Zeitraum von mehreren Monaten bis zu einigen Jahren. Durch diese große Intensität und bisweilen lange Dauer wird eine äußerst intensive Beziehung geschaffen, in der sich der Analysand beim Erleben unbekannter innerer Prozesse und bei Veränderungen seines äußeren Lebens gehalten fühlen kann. Der Analysand liegt während der Analyse auf der Couch, der Analytiker sitzt außerhalb seines Blickfeldes am Kopfende. Diese Anordnung führt zu einer Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung der inneren Welt – auf Phantasien, Gefühle, Erinnerungen – und vermindert die Orientierung an alltäglichen Konventionen und an den Reaktionen des Analytikers. Sie fördert auch für den Analytiker die Möglichkeit, sich den eigenen Einfällen zu öffnen, die durch den Analysanden in ihm wachgerufen werden. Freie Assoziation. Die Grundlage des psychoanalytischen Dialogs ist die Grundregel: Der Analysand soll in die Lage kommen, ohne Vorauswahl alles mitzuteilen, was ihm an Empfindungen, Einfällen, Körperwahrnehmungen usw. durch den Sinn geht. Dabei treten an die Stelle der rationalen Alltagslogik freie Assoziationen, also Einfälle, die einem kommen, wenn man im entspannten Zustand seinen Gedanken und Empfindungen freien Lauf lässt. Gleichschwebende Aufmerksamkeit. Der Analytiker
überlässt sich ebenfalls seinen Einfällen, während er dem Analysanden zuhört. Die Grundregel für ihn besteht darin, mit gleichschwebender Aufmerksamkeit für innere und äußere Eindrücke den Assoziationen des Analysanden zu folgen. Dabei werden Bilder, Fantasien und
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
Empfindungen in ihm wach, die gleichsam die Beziehung zwischen beiden illustrieren und ihr eine bildhafte, lesbare Gestalt verleihen. Der Analytiker wird auf diese Weise zum Resonanzraum, in dem das Innere des Analysanden zum Klingen kommt. Abstinenz. Im Übrigen hält er sich an die Vorgabe der
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psychoanalytischen Abstinenzregel und vermeidet Ratschläge oder Handlungen. Insbesondere werden die in der Analyse aufkommenden Bedürfnisse, z. B. nach Berührungen, Geschenken oder Informationen über den Analytiker, nicht durch Befriedigung gestillt, sondern auf ihre unbewussten Motive hin analysiert. Diese »Versagung« kann aber nur fruchtbar verarbeitet werden, wenn Bedürfnisse als solche vom Analytiker wohlwollend aufgenommen werden. Außerdem bedeutet Abstinenz, dass der Kontakt zwischen Analysand und Analytiker auf die Behandlungsstunden beschränkt bleibt und, im Sinne einer technischen Neutralität, dass keine Bewertungen des Verhaltens und Erlebens des Analysanden durch den Analytiker getroffen werden. Die Abstinenz bewirkt, dass Übertragungen und Gegenübertragungen sich ungestört entwickeln und leichter zugänglich werden. Der Patient nimmt seine Bedürfnisspannungen, Fantasien und Affekte deutlicher wahr, als wenn der Analytiker sie durch beschwichtigende Handlungen vermindern oder auflösen würde. Aber auch der Analytiker kann die Gegenübertragungsspannungen und -empfindungen leichter in sich erfassen, wenn er sie aushält und nicht durch Handeln davon ablenkt. Die Abstinenzhaltung ist daher der Angelpunkt, an dem sich die unbewusste Dynamik der analytischen Beziehung konstelliert (Cremerius 1984; Körner u. Rosin 1985). Gelegentlich wurde die Abstinenz als Dogma missverstanden. Das führte zu einer kühlen, für die Behandlung schädlichen Haltung gegenüber dem Analysanden. Solche Auffassungen sind heute überholt. Es besteht zwar weiterhin keinerlei Zweifel daran, dass Verzicht auf Bedürfnisbefriedigung, Bewertungen und Einschränkung des Kontaktes auf der Realebene unabdingbar sind, um die Übertragung nicht zu manipulieren. Das schließt einen warmherzigen, zugewandten Umgang aber keineswegs aus. Die Kunst einer angemessenen analytischen Haltung besteht vielmehr darin, ein entwicklungsförderndes, annehmbares Klima unter Wahrung der Abstinenz zu schaffen.
der Atmosphäre einer gut laufenden Analyse zu machen, muss man sich vorstellen, dass beide, Analysand und Analytiker, sich miteinander in ein Gespräch vertiefen, in dem sie sich in einer unverkrampften Weise von der Einstellung leiten lassen, möglichst viel über das Innere des Analysanden und die Art und Weise zu verstehen, wie er sein Leben und seine Beziehungen, auch die zum Analytiker, gestaltet. Dabei entwickelt sich eine Haltung, in der Einfälle, Nachspüren von Stimmungen, Nachsinnen, Erinnern, das gemeinsame gefühlsmäßige Nachdenken und Deutungen in lockerer Weise zusammenspielen.
30.3.2
Beziehung und Übertragung
Die Beziehung zwischen dem Analysanden und dem Psychoanalytiker lässt sich auf 3 Ebenen beschreiben (Greenson 1965): Ebene der Realbeziehung. Sie kommt zum Tragen, wenn
Patient und Analytiker sich als autonome erwachsene Menschen begegnen, z. B. bei der Begrüßung oder zufälligen Begegnungen außerhalb der Behandlungssituation. Dieser Bereich ist eine selbstverständliche Beziehungsebene, die durch Konventionen geregelt ist und auch in allen anderen Alltagsbeziehungen des Patienten vorkommt. Sie wird in der Psychoanalyse i. Allg. therapeutisch nicht gezielt genutzt. Ebene des Arbeitsbündnisses. Sie betrifft das rationale,
bewusste Verhalten als Arzt und Patient, als Analytiker und Analysand. Sie umfasst spezielle Funktionen und ein spezielles Rollenverhalten: Der Psychoanalytiker bietet seine Behandlungsmethode an, erklärt die Behandlungsbedingungen und stellt bestimmte Verhaltensregeln auf, die erforderlich sind, um ein optimales Ergebnis zu erreichen. Der Patient willigt in die Behandlung ein, verpflichtet sich zur Einhaltung der Regeln, z. B. der Grundregel der völligen Offenheit, und richtet sein Verhalten so ein, dass Behandlungsfortschritte erzielt werden können. Ebene der Übertragungsbeziehung. Auf dieser Ebene kommen die unbewussten Beziehungsmuster ins Spiel, bewirken Verzerrungen im Erleben und Verhalten und geben der Beziehung damit die für die Psychoanalyse typische Dynamik. Diese Ebene ist das Zentrum des psychoanalytischen Prozesses.
Material der Analyse Die Einfälle des Patienten im Rahmen der freien Assoziation, sein unmittelbares Verhalten gegenüber dem Analytiker, Schilderungen seines Erlebens und Verhaltens anderen Menschen gegenüber, sein Umgang mit der Behandlung, seine Träume und Fehlleistungen – alle seine psychischen und sozialen Aktivitäten bilden das Material, das der Analyse unterzogen wird. Um sich ein Bild von
Regression und therapeutische Ich-Spaltung Eine wirksame Behandlung in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten, erfordert die Fähigkeit der Beteiligten, alle 3 Ebenen zu integrieren, d. h. anzuerkennen, dass Realverhalten regressive Übertragungsaspekte enthält. Das bedeutet, umgekehrt betrachtet, in der Analyse auf die unmittelbare Befriedigung aufkeimender Wünsche zu
711 30.3 · Die psychoanalytische Methode als Basis der psychodynamischen Psychotherapie
verzichten und ihre Hintergründe im analytischen Dialog zu klären. Diese Fähigkeit, regressives Erleben zuzulassen und es gleichzeitig von einem beobachtenden Standpunkt aus zu betrachten, ist die therapeutische Ich-Spaltung (Sterba 1934). Sie ist die Grundvoraussetzung für eine wirksame Psychoanalyse. Im Hinblick auf den Analytiker gewährleistet sie, dass die psychodynamische Behandlung ein lebendiger, wirklicher Prozess ist, an dem er erlebend beteiligt ist. Sie schützt ihn davor, die Grenzen der Abstinenz zu überschreiten, und bewahrt zugleich davor, dass die Analyse zu einem nur rationalen Geschehen verflacht. In Hinblick auf den Patienten gewährleistet sie, dass er sich außerhalb der analytischen Situation in seinem Leben autonom (»erwachsen«) verhalten und innerhalb der Analyse in kindliche Erlebnisweisen regredieren kann. Dieses auf den analytischen Prozess begrenzte regressive Erleben wird als Regression im Dienste des Ichs (Kris 1935) bezeichnet. Wenn diese Fähigkeit verloren geht, entsteht die Gefahr, dass der Analysand davon abhängig wird, dass die kindhaften Bedürfnisse tatsächlich vom Analytiker befriedigt werden. Eine solche unglückliche Entwicklung wird als maligne Regression (Balint 1968) bezeichnet und ist die wichtigste Gefahr bei unsachgemäß durchgeführten Psychoanalysen.
Analyse als Prozess Übertragungen. Die Beziehung zwischen Analysand und Analytiker verändert sich im Verlauf einer Analyse und unterliegt einem Entwicklungsprozess. Er wird durch die psychoanalytische Methode, speziell durch den Rahmen und die Regeln in Gang gesetzt: Durch die psychoanalytische Methode entsteht ein Erleben, das vom Erleben des Alltags deutlich unterschieden ist: die Regression. Durch sie werden verdrängte Erlebnisse, Reaktionen, Einstellungen und Bedürfnisse lebendig und in aktuelle Beziehungen hineingetragen. Der Analytiker bekommt dabei eine ungewohnt starke Bedeutung für den Patienten. Dadurch können seine ganz persönlichen unbewussten Beziehungsmuster, seine Erfahrungen aus früheren Beziehungen auf den Analytiker übertragen werden. Damit entfaltet sich die innere Welt des Patienten, die ihm im Alltagserleben verborgen bleibt, allerdings in gleichsam chiffrierter Weise, auf der Bühne der psychoanalytischen Beziehung. Widerstände. Diesen Übertragungen und Regressionen
stehen unbewusste innere Widerstände als Abwehrbewegungen entgegen, weil sie oft mit beschämenden Erlebnissen, mit Schuldgefühlen, mit peinlichen Fantasien, bedrückenden Empfindungen und kränkenden Erinnerungen verbunden sind, die Übertragungswiderstände. Deutungen. So ist der analytische Prozess eine oft
schmerzhafte und mühevolle Entwicklung. Wenn es aber
gelingt, die Übertragungen und Widerstände durch Deutungen aufzuklären und die darin enthaltenen Beziehungsmuster zu bearbeiten, bewirkt er eine Nachreifung der Persönlichkeit bzw. eine nachträgliche Konfliktlösung.
Einflussfaktoren auf den Verlauf Der Verlauf des analytischen Prozesses ist von vielen Faktoren abhängig und schwer voraussagbar. Einige Faktoren, die den Verlauf beeinflussen, sind die Ich-Stärke des Patienten, seine Frustrationstoleranz und Fähigkeit zur therapeutischen Ich-Spaltung; die Art der Inszenierung seiner Beziehungserfahrungen in der Analyse: Wird die Beziehung zum Analytiker benutzt, um eine neurotisierende Erfahrung mit dem Analytiker zu wiederholen (Übertragung im engeren Sinne) oder wird sie genutzt, um sich gegen die Wiederholung seiner Erfahrungen zu wehren (Übertragungswiderstand)? Die Wirkungen der Übertragung auf den Analytiker: Kann der Analytiker sich den Reaktionen in seinem inneren »Resonanzraum« unbefangen öffnen (Gegenübertragung) oder wehrt er sie aus persönlichen Gründen ab (Gegenübertragungswiderstand)? Kann er also die Inszenierung des Patienten zutreffend entschlüsseln?
Übertragungen Mit der psychoanalytischen Methode werden durch Regression unbewusste Repräsentanzen von früheren, verdrängten bzw. verinnerlichten Erfahrungen aktiviert und auf den Analytiker projiziert. Dieses Phänomen wird als Übertragung bezeichnet. Man kann es auch als ein regressives Bewältigungsverhalten beschreiben. Danach stellt die psychoanalytische Situation und die damit verknüpfte Beziehung zum Analytiker eine ungewohnte Bewältigungsaufgabe dar, auf die der Analysand mit Bewältigungsstrategien aus früheren, erlebnismäßig analogen Situationen reagiert. Die analytische Situation aktiviert also, vom Betroffenen unbemerkt, die gespeicherte Information über Problemlösungen (Edelman 1989). Diese werden nun auf aktuelle Beziehungen übertragen. Mit der Regression ist also eine Veränderung des Beziehungserlebens verbunden. Andere Menschen werden unter der Wirkung solcher Übertragungen nicht nur so erlebt, wie sie »tatsächlich« sind, sondern ihre »realen« Verhaltensweisen werden unbewusst mit Erfahrungen aus früheren Beziehungen in Verbindung gebracht, ihr Verhalten wird nach unbewussten inneren Vorbildern interpretiert. Dabei muss man allerdings bedenken, dass es sich nicht um die historischen Abbilder objektiv so gewesener Ereignisse, sondern um die Spuren subjektiv, also mit den Mitteln der damaligen Zeit wahrgenom-
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
mener und durch spätere modifizierende Erfahrungen weiterverarbeitete Erlebnisinhalte handelt (Freud 1905, 1910; Greenson 1975; Edelman 1992).
Übertragungsformen Übertragungen treten als positive und als negative Gefühlseinstellungen auf; dementsprechend unterscheidet man positive und negative Übertragungen. Je nach dem entwicklungsdiagnostischen neurotischen Strukturniveau einer Störung gibt es außerdem verschiedene Übertragungsformen: die reife (objekthafte), die narzisstische und die Borderline-Übertragung (⊡ Tab. 30.2). Die psychotischen Übertragungen, die durch Verlust des Realitätsbezuges gekennzeichnet sind, nehmen dabei eine Sonderstellung ein. Reifes strukturelles Entwicklungsniveau. Patienten mit
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klassischen Neurosen übertragen Erfahrungen mit Menschen ihres früheren Lebens auf aktuelle Beziehungen. Das ist die reifste Form der Übertragung. Im Prinzip kann jede frühere Beziehung auf jede heutige übertragen werden, auch unabhängig vom Geschlecht der beteiligten Personen. So werden Mutterübertragung, Vaterübertragung, Geschwisterübertragung usw. in der Beziehung zu ein und demselben Analytiker beobachtet. Man spricht einfach von Übertragung oder, im präziseren psychoanalytischen Sprachgebrauch, von objektaler oder objekthafter Übertragung (Übertragung einer neurotischen Objektrepräsentanz). Diese Übertragungsform war es, die Freud in seinen Behandlungen entdeckte und die er als »falsche Verknüpfungen« (Freud 1895) zwischen gegenwärtigen und vergangenen Beziehungen bezeichnete. Zunächst sah er darin das größte Hindernis für eine Psychoanalyse und später ihr wichtigstes Werkzeug. Sie stellt seither den wichtigsten Zugang zu unbewussten Erfahrungen und Beziehungen dar und wird dadurch zum bedeutendsten Weg, um diejenigen unbewussten Beziehungsmuster aufzuarbeiten, in denen die Entwicklung von klassischen Neurosen ihren Ursprung hat. ⊡ Tab. 30.2. Strukturniveau, Psychopathologie und Übertragungsformen Strukturniveau
Psychopathologie
Übertragungsformen
Niederes Niveau
BorderlineStörungen
Teilobjektübertragung
Mittleres Niveau
Narzisstische Störungen
Selbstobjektübertragung Spiegelübertragung Selbstübertragung
Reifes Niveau
Klassische Neurosen
(Objektreale) Übertragung
Mittleres strukturelles Entwicklungsniveau. Für Patienten
des mittleren strukturellen Entwicklungsniveaus sind andere Übertragungsformen typisch (Kohut 1971, 1977). Sie sind ein Abbild von Objektbeziehungen, mit denen die Betroffenen andere verwenden, um ihr labiles Selbstgefühl zu stabilisieren oder ihre latenten Versorgungsbedürfnisse zu kompensieren. Speziell bei den narzisstischen Übertragungsformen unterscheidet man die Selbstobjektübertragung, bei der der Analytiker idealisiert oder entwertet wird, je nachdem, ob er eine stützende Funktion erfüllt oder in dieser Funktion versagt. So gibt es z. B. eine idealisierende Elternübertragung: Der Analysand neigt dabei dazu, den Analytiker in unrealistischer Weise zu verherrlichen. Das Gegenstück dazu ist die entwertende Elternübertragung; die Spiegelübertragung: Hier tritt in der Übertragung an die Stelle der Bewunderung des anderen das Bedürfnis, vom anderen bewundert zu werden. Dabei erlebt der Patient sich, wenn diese Übertragung wirksam wird, in selbstverständlicher Übereinstimmung mit dem Analytiker; die Selbstübertragung: Sie ist die Übertragung von Aspekten der eigenen Person auf andere. Es ist damit gemeint, dass die Erlebnisweisen auf den aktuellen Partner übertragen werden, die der Patient selbst in der früheren Beziehung gehabt hat: z. B. Depressionen, Größenphantasien oder Wutgefühle. Niederes strukturelles Entwicklungsniveau. Patienten des
niederen strukturellen Entwicklungsniveaus, insbesondere Borderline-Patienten, haben einen anderen Übertragungsmodus (Kernberg 1975). Sie übertragen nichtintegrierte Teilaspekte von Beziehungen, z. B. den versorgend-fürsorglichen oder den hassenden Anteil. Hier handelt es sich um sog. Teilobjektübertragungen des Beziehungserlebens der frühen Individuationsentwicklung, die für Patienten des niederen Strukturniveaus typisch sind (Klein 1946). Darin wird auch die Dynamik der Spaltungsabwehr der Borderline-Pathologie deutlich. Meistens handelt es sich um ein komplexes Geschehen, indem in der Beziehung zum Analytiker »gute« und »schlechte« Anteile auseinander gehalten werden. Um diese Spaltungen in der Übertragung zu stabilisieren, werden zusätzliche Abwehrmechanismen eingesetzt: So kann z. B. der positiv getönte, »gute« Übertragungsanteil verleugnet oder auf eine außenstehende dritte Person projiziert werden. Das führt dann dazu, dass der Analytiker als »nur böses Teilobjekt« erlebt wird. Außerdem werden in der Regression begrifflich nicht gefasste sensomotorische und affektive Zustände aktiviert, die aus dem frühen präsemantischen Beziehungserleben stammen und als prozedurales Beziehungswissen im impliziten Gedächtnis enthalten sind (Edelman 1989, 1992; Leuzinger-Bohleber et al. 1998; Stern et al. 1998; Ermann 2007).
713 30.3 · Die psychoanalytische Methode als Basis der psychodynamischen Psychotherapie
Psychotische Übertragung. Psychotische Übertragungen
bilden ein eigenes Phänomen, das sich nicht ohne weiteres in das Kontinuum der o. a. Entwicklungsdiagnostik einordnen lässt. Sie können sich durch regressive Desintegration auf der Basis aller 3 Strukturniveaus entwickeln, scheinen aber bevorzugt aus der Borderline-Pathologie hervorzugehen. Ihre Besonderheit ist der Verlust des Realitätsbezuges, in dem sich ein spezifisches persönliches Dilemma niederschlägt (Benedetti 1983).
Gegenübertragung ! In der Analyse ist das Gegenstück zur Übertragung die antwortende Reaktion des Analytikers. Sie wird als Gegenübertragung bezeichnet. Sie beruht auf der unbewussten Tendenz des menschlichen Verhaltens, auf der Neigung, andere zu veranlassen, sich so zu verhalten, wie man es von ihnen erwartet, und auf der Bereitschaft, auf Erwartungen anderer einzugehen und sie zu erfüllen (Sandler 1976). Gegenübertragungen beruhen also auf der unbewussten Identifikation des Analytikers mit den Übertragungsangeboten des Analysanden, wobei wahrscheinlich neurophysiologische Induktionsprozesse (Aktivierung von Siegelneuronen« eine Rolle spielen. So entsteht ein unbewusstes Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung. Die bewussten Einstellungen des Analytikers zum Analysanden sind dabei ein Abkömmling der Gegenübertragung; die Gegenübertragung selbst ist aber unbewusst und muss aus dem Verlauf heraus indirekt erschlossen werden. Dabei können die bewussten Fantasien, Einfälle und Gefühlsreaktionen des Analytikers verschiedene Bedeutungen haben (Racker 1959): Komplementäre Gegenübertragung: Sie ist ein Abbild der unbewussten Phantasien, die der Patient seinen inneren Objekten (Beziehungspersonen) zuschreibt: Der Analytiker kann sich sadistisch fühlen wie der unbewusste sadistische Elternteil des Patienten; konkordante Gegenübertragung: Sie ist ein Abbild der (unbewussten) Gefühlssituation des Analysanden, d. h. eine Reaktion auf einer Übertragung von Selbstaspekten. In Identifizierung mit einem Selbstanteil des Patienten erlebt der Analytiker in sich, z. B. die unbewusste Leere und Depression des Analysanden; Gegenübertragungswiderstand: Der Analytiker wehrt sich dagegen, die Übertragungsangebote des Analysanden in sich aufzunehmen und in seinem Innern zum Klingen kommen zu lassen; er spürt dann z. B. Wut, mit der er sich gegen die Depression des Patienten in sich selbst wehrt.
Psychoanalyse besteht gegenüber Alltagsbeziehungen jedoch eine Sondersituation: Die psychoanalytische Methode und die spezielle Ausbildung des Analytikers fördern seine Selbstbeobachtung und versetzen ihn in die Lage, sich seine Reaktionen auf Übertragungen des Analysanden bewusst zu machen. Auf diesem Wege kann er sich die ursprüngliche Übertragungsreaktion des Patienten zugänglich machen und klären. Diese Möglichkeit, über die Klärung der Reaktion des Analytikers zu einem Verständnis von Übertragungen der Patienten zu gelangen, gibt der Gegenübertragung die hervorragende Bedeutung, welche ihr heute in der psychodynamischen Behandlungstechnik beigemessen wird (Heimann 1950).
Widerstand Die psychoanalytische Methode, die Regression, das Auftreten von Übertragungserlebnissen und die Aktualisierung unbewusster Beziehungsmuster erwecken in der Behandlung Ängste. Die Patienten reagieren darauf mit Bewältigungs- und Abwehrphänomenen. In der Behandlung von Störungen auf höherem Strukturniveau werden sie traditionell als Widerstand bezeichnet, der sich gegen das Arbeitsbündnis richtet. ! Widerstand in der Psychoanalyse »klassischer« neurotischer Störungen ist die Bewältigung der psychoanalytischen Situation, insbesondere die Abwehr der Ängste, die durch die psychoanalytische Methode und ihre Wirkungen hervorgerufen wird. Davon sind Manifestationen der Ich-Schwäche abzugrenzen, die bei Behandlungen von Patienten mit Störungen auf niederem Strukturniveau auftreten. Sie kommen durch eine protrahierte Regression zustande, welche die therapeutische Ich-Spaltung bedroht und bewirkt, dass Spannungen nicht mehr reflektiert werden können und »agiert« werden (Ermann 2007). Widerstände können bewirken, dass sich trotz des Hilfeersuchens und der Einwilligung des Patienten in die Behandlung unbewusste Kräfte in ihm gegen die Behandlung richten und eine Aufarbeitung der krankheitsverursachenden Beziehungsmuster behindern. Daraus können Störungen der therapeutischen Zusammenarbeit entstehen. Entweder zeigen sie sich innerhalb der Behandlung als Schweigen, Fehlleistung (Verspätung, Vergessen), Verheimlichen bis hin zum Boykott der Behandlung und zum Behandlungsabbruch. Oder sie werden auf die alltäglichen Beziehungen des Patienten verlagert und gegenüber Außenstehenden als Verliebtheit, Hass, Streit usw. agiert; dabei richten die unbewussten Motive sich nicht eigentlich auf diese Außenstehenden, sondern auf den Analytiker.
Bedeutung der Gegenübertragung Das Wechselspiel zwischen Übertragung und Gegenübertragung prägt jede Art menschlicher Beziehungen. In der
Funktion von Widerständen. Widerstände haben ver-
schiedene Motive: Sie dienen der Abwehr von unbewuss-
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
ter Angst vor der Analyse, stehen für Beschämung vor Bloßstellung oder Furcht vor Konflikten usw. Häufig ist die Übertragung selbst das Motiv für Widerstände; diese Widerstände, die aus der Übertragung gespeist sind, werden als Übertragungswiderstände bezeichnet. Umgang mit Widerständen. Die Überwindung von Ängs-
ten und Widerständen gegen die Behandlung ist die notwendige Voraussetzung für die angestrebte Aufarbeitung der unbewussten Beziehungsmuster. Dazu werden die Widerstände wie Assoziationen als Material betrachtet und auf unbewusste Motive hin untersucht und gedeutet. Es wird im Einzelnen geklärt, welche Befürchtungen und Erwartungen, welche Verhaltensweisen des Analytikers, welche Ereignisse in der Analyse usw. den Patienten dazu veranlassen, sich unbewusst gegen die Behandlung, gegen das Aussprechen seiner Erlebnisse und Empfindungen und speziell gegen das Erleben seiner Übertragungen zur Wehr zu setzen.
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! Die Analyse der Widerstände legt meistens auch zentrale Ängste des Patienten offen, die in enger Beziehung zu seinen neurotischen Symptomen oder zur Übertragung stehen. Sie bildet einen Einstieg zum Verständnis der Übertragungen und der Symptombildung. Die Widerstandsanalyse ist deshalb ein Grundpfeiler der psychoanalytischen Methode. Störungen auf niederem Strukturniveau erfordern einen modifizierten Umgang mit den widerstandsähnlichen regressiven Phänomenen. Hier sind neben klärenden Interventionen zumeist strukturgebende Maßnahmen erforderlich.
30.3.3
Ermöglichen, Deuten und Durcharbeiten
Analysieren bedeutet Aufklärung der unbewussten Hintergründe und Motive von Verhalten und Erleben. Die Aufgaben des Analytikers beschränken sich dabei aber nicht auf Deutungen. Sie sind zwar im Selbstverständnis der Methode das spezifische technische Mittel. Um einen analytischen Prozess und eine Reifung des Patienten zu ermöglichen und aufrechtzuerhalten, sind aber weitere Schritte erforderlich, die in der Übersicht zusammengestellt sind. Dabei ist der deutungszentrierte Ansatz das Charakteristikum, der Behandlung »klassischer« neurotischer Störungen, während bei niederstrukturierten Störungen der Umgang mit der therapeutischen Beziehung den Behandlungsschwerpunkt bildet.
Deutungen Deutungen sind die spezifischen Interventionen im psychoanalytischen Dialog und in der Behandlung von Stö-
rungen auf höherem und mittlerem Strukturniveau. Es sind Interventionen, in denen der Analytiker dem Analysanden mitteilt, wie er seine Einfälle und sein Verhalten versteht, d. h. welche unbewussten Erlebnisinhalte er darin erkennt. Sie enthalten also die Einsichten des Analytikers. Sie bewirken beim Patienten, wenn sie zutreffend sind und nicht aufgrund von Widerständen abgelehnt werden müssen, Einsichten und vermitteln ihm v. a. das Erlebnis, vom Analytiker verstanden zu werden.
Aufgaben des Analytikers im analytischen Prozess Herstellen einer hilfreichen psychotherapeutischen Beziehung: Wohlwollen, Akzeptanz, Einfühlung Aufbau eines psychoanalytischen Arbeitsbündnisses: Rahmensetzung, technische Neutralität und Abstinenz, Primat des Verstehens vor dem Handeln Einlassen auf die Übertragung: aufnehmen, aushalten, verarbeiten Verarbeitung der Gegenübertragung: erkennen, verstehen, schlussfolgern Umsetzung der Gegenübertragung: Aufrechterhaltung der Beobachterfunktion, Vermeiden der Wiederholung traumatischer Erfahrungen, Entwicklung von Interventionskonzepten Intervenieren: deuten und durcharbeiten, substituieren, Neuerfahrung vermitteln
Deutungen sind nicht einmalige Aussagen, sondern ein komplexer Prozess (Greenson 1973): Der erste Schritt ist die sog. Konfrontation, d. h. der Analytiker macht den Analysanden auf taktvolle und einfühlsame Weise auf ein bestimmtes, näher zu untersuchendes Phänomen aufmerksam, z. B. auf ein bestimmtes Verhalten (besonders rasches Reden, Schweigen usw.) in der Behandlungsstunde. Der zweite Schritt ist die Klärung: So kann z. B. geklärt werden, wie der Patient sich beim Schweigen fühlt, was ihm währenddessen durch den Sinn geht oder woran ihn sein Schweigen erinnert. Die Klärung kann Material zutage fördern, das das Verständnis des Schweigens erleichtert. Der eigentliche erklärende Schritt ist dann die Interpretation. Der Analytiker kann dem Patienten z. B. mitteilen, dass das Schweigen ihm helfen soll, Gefühle der Unsicherheit zu verbergen, die sich daraus ergeben, dass er den Analytiker eindringend und bevormundend erlebt. Es gibt verschiedene Deutungstypen (Mertens 1990): Die Inhaltsdeutungen,
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die Übertragungsdeutungen und die Widerstandsdeutungen.
Inhaltsdeutungen Der Patient berichtet von einem Problem. Der Analytiker deutet also den Inhalt des Berichtes z. B. in Bezug auf einen dahinter liegenden Konflikt, der dem Patienten nicht bewusst ist. Aktualgenetische Deutungen beziehen sich auf die Klärung der Erlebnishintergründe im Hier und Heute. Genetische Deutungen beziehen die lebensgeschichtlichen Wurzeln des jeweiligen Erlebens mit ein. Dabei führt er den Inhalt auf eine frühere Erfahrung zurück und deutet das jetzige Problem als eine Wiederholung des ungelösten früheren Konfliktmusters. Inhaltsdeutungen helfen dem Patienten, sich selbst besser zu verstehen und anzunehmen. Sie sind die hauptsächliche Deutungsform in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. In der analytischen Psychotherapie, in der sie gegenüber den Übertragungsdeutungen eine zweitrangige Bedeutung haben, werden sie verwendet, um eine spätere Übertragungsdeutung vorzubereiten oder Einfälle, die durch Übertragungsdeutungen wachgerufen werden, lebensgeschichtlich zu vertiefen.
Übertragungsdeutungen Ist eine psychoanalytische Behandlung erst einmal in Gang gekommen und hat sich eine Übertragungsbeziehung entwickelt, so wird das Material bevorzugt daraufhin untersucht, welche Bedeutung es im Übertragungskontext hat. Ist die Bedeutung »in der Übertragung« klar geworden, dann wird sie dem Patienten als Übertragungsdeutung mitgeteilt. Prinzipiell bestehen dabei 2 Möglichkeiten: Übertragungsdeutung im Hier und Jetzt. In diesem Fall
würde der Analytiker sein Hauptinteresse daraufhin ausrichten, welcher Aspekt der aktuellen Beziehung zwischen ihm und dem Patienten darin zum Tragen kommt. So würde das aktuelle unbewusste Motiv für das Verhalten des Analysanden »in der Übertragung« durch eine Deutung, die solche Hintergründe von Einfällen beschreibt, herausgearbeitet, »konstruiert« werden (Gill 1979). Genetische Übertragungsdeutung. Dabei würde der Analytiker sein Augenmerk darauf richten, welche frühere Beziehungserfahrung sich in der jetzigen Erfahrung mit dem Analytiker wiederholt und einen Aspekt der Erlebnisgeschichte des Patienten »rekonstruieren« (Freud 1916/17). Übertragungsdeutungen sind das Charakteristikum der analytischen Psychotherapie, sie sind aber nicht die einzige Form der Deutungen. Heute wird das Material einer Behandlungssequenz i. Allg. zuerst im Hier und Jetzt der analytischen Beziehung bearbeitet und gedeutet. Die genetische Deutung der Übertragung dient der Vertiefung.
Von der Deutung der Übertragung im Hier und Jetzt wird die größte emotionale Beteiligung erwartet und insofern auch der stärkste verändernde Effekt, weil die kontextgespeicherten unbewussten Repräsentanzen (= die Übertragungen) auf diese Weise mit neuen Erfahrungen verschmolzen und in veränderter Form »neu abgespeichert« werden können (Edelman 1992; Pfeiffer u. Leuzinger-Bohleber 1986).
Widerstandsdeutungen Widerstand zeigt das Bewältigungs- und Abwehrverhalten innerhalb der analytischen Situation. Er kann zu einem Hindernis für den analytischen Prozess und den Fortschritt der Entwicklung werden und muss dann bearbeitet werden. Dazu muss der Analysand zunächst in einer einfühlenden Weise auf das bestehende Widerstandsphänomen aufmerksam gemacht werden und dann selbst dazu beitragen, die verschiedenen Aspekte seines dazugehörigen Erlebens zu klären. Dann kann der Analytiker ihm schließlich deuten, mit welchen unbewussten Erlebnissen sein Verhalten verbunden ist, z. B. mit Schamgefühlen im Hier und Jetzt. Widerstandsdeutungen haben in der psychoanalytischen Technik bei der Behandlung der »klassischen« neurotischen Störungen eine große Bedeutung, weil sie sich auf das Hier und Jetzt beziehen und damit eine starke emotionale Wirkung entfalten. Auf die Besonderheit widerstandsähnlicher Phänomene bei niederem Strukturniveau wurde bereits hingewiesen. Bevor die »Übertragungsdeutungen im Hier und Jetzt« in das Zentrum rückten, waren es die Widerstandsdeutungen, von denen man die stärkste Veränderung erwartete. So galt in der Psychoanalyse der Jahrhundertmitte die technische Regel, stets den Widerstand vor dem Inhalt zu deuten. Diese Haltung lässt den Analytiker allerdings überaus eindringend und kontrollierend erscheinen und wird heute nicht mehr als verbindlich betrachtet.
Deutungen im analytischen Prozess Eine richtige Deutung muss gut vorbereitet sein, den rechten Zeitpunkt haben, inhaltlich zutreffend sein und berücksichtigen, ob der Patient sie voraussichtlich auch annehmen kann. Wenn Widerstände die Bereitschaft, eine Deutung anzunehmen, beeinträchtigen, müssen zuerst die Widerstände analysiert werden. Vorschnelle Deutungen sind nutzlos. Wesentlicher als eine rationale Einsicht ist, dass sie gefühlsmäßige Betroffenheit bewirken. Es ist auch zu berücksichtigen, dass Deutungen Distanz schaffen und auch einen Versuch des Analytikers darstellen können, unübersichtliche Behandlungssituationen vorschnell zu strukturieren, um Gegenübertragungsgefühle zu vermeiden. Solche Deutungen sind nutzlos, weil sie sich nicht in einer annehmbaren Weise auf das tatsächliche Erleben im Patienten zentrieren. Ein
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
Analytiker muss dagegen über die Fähigkeit verfügen, Übertragungen zur Entwicklung gelangen zu lassen, er muss die Übertragung in sich annehmen und die damit verbundenen Erlebnisse in sich selbst tolerieren, bevor er angemessen deuten kann.
Durcharbeiten Einzelne Deutungen können in der Regel keine dauerhaften Veränderungen bewirken. Die Aufarbeitung lebensgeschichtlich verwurzelter Konflikte erfordert meistens einen langen Zeitraum, in dem die Konfliktdynamik sich immer wieder in neuer Gestalt in der Übertragung darstellt und durch Widerstände verdeckt wird und in dem immer wieder von neuem über Deutungen Widerstand aufgeklärt und beseitigt und Einsichten errungen werden. Dieser Prozess wird als Durcharbeiten bezeichnet und bewirkt letzten Endes die Veränderungen in der Persönlichkeit, die zur dauerhaften Symptombeseitigung erforderlich sind.
Deutung und Nichtdeutung
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Der deutende Umgang mit der therapeutischen Beziehung ist das Charakteristikum der psychoanalytischen Methode bei den »klassischen« neurotischen Störungen, d. h. bei den Konfliktstörungen auf höherem Strukturniveau. Daneben bestehen weitere spezifische Wirkfaktoren, die in der analytischen Behandlung zum Tragen kommen und die sich wechselseitig beeinflussen und ergänzen. ⊡ Tab. 30.3 nennt einige dieser Faktoren und einige der Wirkungen bzw. Zielvorstellungen im analytischen Prozess. Es gibt heute allerdings noch keine ausreichenden Erkenntnisse über die Wechselwirkung zwischen Wirkfaktoren und Wirkungen, sodass man, wissenschaftlich unbefriedigend, zunächst nur ein komplexes Zusammenspiel annehmen kann. Die Zentrierung der Methodik auf Deutungen schließt freilich nicht aus, dass auch in der Psychoanalyse suggestive Aspekte, Lernerfahrungen oder stützende Wirkungen der Haltung und der Interventionen des Analytikers
⊡ Tab. 30.3. Wirkungen des analytischen Prozesses Wirkfaktoren
Wirkungen
Annehmen der Übertragungen
Erlebnis von Akzeptanz, Selbstwertverstärkung
Valide Deutungen der Übertragung
Deutung als alternative Beziehungserfahrung
Klärung psychosozialer Konflikte
Einsicht in unbewusste Erlebniszusammenhänge
Verknüpfung zwischen aktueller Situation und Kindheitserfahrung
Förderung des Selbstverständnisses
wichtige Wirkfaktoren sind. Sie wurden lange als unspezifische Einflussnahme betrachtet. Erst in letzter Zeit werden sie als explizit psychoanalytische Wirkfaktoren systematisch konzeptualisiert (Stern et al. 1998; Rudolf 2004). Ebenso ist bisher nicht befriedigend untersucht worden, in welchem Verhältnis »unspezifische«, d. h. nichtdeutende Interventionen und Deutungen in einem nützlichen Behandlungsprozess zueinander stehen. Diese Fragen ergeben sich, seit zunehmend Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen mit psychoanalytisch begründeter Psychotherapie behandelt werden und der »Umgang mit der Übertragung«, das sog. »handling«, als Behandlungsprinzip neben das traditionelle Prinzip der psychoanalytischen Deutung der Übertragung tritt (vgl. Will 2001; Ermann 2007).
Konzepte zur Behandlung von neurotischen Entwicklungsstörungen Es gibt allerdings Vorläufer zu solchen Konzepten. So entwickelte Winnicott (1965) mit seinem Konzept der »primären Mütterlichkeit« das technische Prinzip der haltenden Funktion des Analytikers. Balint (1968) beschrieb im Zusammenhang mit der tiefen Regression bei Patienten mit »Grundstörungen« (d. h. Regressionszuständen im Bereich präverbaler Erfahrungen) die störende Funktion von Deutungen und empfahl für entsprechende Behandlungsphasen eine abwartend-begleitende Haltung des Analytikers. Bion (1962) entwarf ein interaktionelles Modell, indem er die unbewussten Austauschprozesse zwischen Patient und Analytiker auf der Basis von Projektionen und Identifikationen beschrieb. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Analytiker die Projektionen des Patienten wie einen Container in sich aufnehmen und verarbeiten muss, um Entwicklungen anzustoßen. Im deutschsprachigen Bereich haben v. a. Fürstenau sowie Heigl-Evers und Heigl zu diesen Entwicklungen beigetragen: Fürstenau (1977) fordert, strukturelle IchStörungen durch stellvertretende Ausübung defizitärer Ich-Funktionen zu normalisieren, während Heigl-Evers u. Heigl (1988) für die Behandlung von Borderline-Patienten ein Prinzip »Antwort« entwickelt haben ( Abschn. 30.4.2). Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen ist auch die stark auf die Einhaltung des therapeutischen Rahmens und Strukturierung bedachte expressive Borderline-Therapie der amerikanischen Arbeitsgruppe von Kernberg (1989) zu sehen. Haltgebende tiefenpsychologische Psychotherapie. Da-
neben zeichnet sich ab, dass die psychodynamische Behandlung von Patienten mit Entwicklungsstörungen zunehmend auch gezielt Suggestion, Beratung und supportive Techniken einsetzt. Anders als in einer rein supportiven Psychotherapie beruht der Einsatz solcher Techniken und Interventionsformen hier auf dem Verständnis der unbewussten Dynamik, speziell in Gestalt
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der Übertragung. Es handelt sich dabei um eine gezielte Substitution von entwicklungshemmenden Defiziten mit dem Ziel, unbewusste Entwicklungsblockaden zu beseitigen. Dabei findet auch der systemische Aspekt von Beziehungsgestaltungen Berücksichtigung (Fürstenau 1992). In der kassenärztlichen Versorgung hat diese Entwicklung in der »langfristig haltgebenden tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie« einen Niederschlag gefunden.
30.3.4
Psychoanalytische Behandlungsstrategien für neurotische Störungen
Die traditionelle Anwendung der psychoanalytischen Methode sind die neurotischen Symptombildungen im seelischen, körperlichen und verhaltensmäßigen Bereich sowie die neurotischen Charakter- bzw. Persönlichkeitsstörungen, während psychoanalytische Verfahren anfangs als kontraindiziert für die Behandlung psychotischer Patienten galten.
Analyse »klassischer Neurosen« Ursprünglich waren es nur die neurotischen Störungen auf höherem Strukturniveau, die psychoanalytisch behandelt wurden und die deshalb auch »klassisch« genannt werden. Auf die relative Reife der Struktur dieser Patienten ist die Methode daher zugeschnitten: Sie entwickeln reife (objekthafte) Übertragungen, die im Szenario ihrer Lebensgeschichte verstehbar sind; sie sind in der Lage, in der psychoanalytischen Arbeit auf Bedürfnisbefriedigung zu verzichten und stattdessen in einen Prozess der Selbstreflektion einzutreten; sie verfügen über genügend günstige Grunderfahrungen, die es ihnen ermöglichen, auch die Beziehung zum Analytiker als hilfreiche Beziehung zu verwenden. Übertragungsneurose. Aufgrund dieser Voraussetzungen
können ihre Übertragungen überkommener konflikthafter Objektbeziehungen und die damit verbundenen Ängste und Widerstände in der Beziehung zum Analytiker durch Deutungen aufgedeckt und angemessen durchgearbeitet werden. Auf diese Weise wird die Neurose des Patienten nach und nach in die Beziehung zum Analytiker überführt. Es entsteht eine Übertragungsneurose. Die wesentlichen krankmachenden Beziehungskonflikte können auf diese Weise in der Übertragung nacherlebt und zu neuen, weniger neurotischen Lösungen gebracht werden. Damit ist auch das Ziel solcher Behandlungen abgesteckt: eine weniger neurotische Lebensbewältigung. Mit der zunehmenden Behandlung von Patienten des mittleren und niederen Strukturniveaus und dem Verständnis der narzisstischen und der Borderline-Übertra-
gungen mussten neue Strategien für die Behandlung dieser Patienten entwickelt werden.
Analyse narzisstischer Neurosen Die narzisstische Übertragungsneurose auf mittlerem Strukturniveau, die mit der psychoanalytischen Methode hergestellt und bearbeitet wird, besteht in der Etablierung der narzisstischen Übertragungen (idealisierende oder Spiegelübertragung; Kohut 1971, 1977) in der Beziehung zum Analytiker. Der Widerstand richtet sich zunächst dagegen, die Bedürfnisse nach Idealisierung, v. a. aber die oft beschämend erlebten Wünsche, vom Analytiker bewundert zu werden, überhaupt zuzulassen. Ist Übertragung aber in Gang gekommen, verschiebt sich der Fokus der Bearbeitung. Es geht nun v. a. darum, Störungen der narzisstischen Selbstwertregulation zu erkennen, die im Zusammenhang mit Störungen der narzisstischen Objektverwendung des Analytikers durch den Patienten auftreten, also dann, wenn der Patient sich nicht genügend gespiegelt und anerkannt fühlt. Die Analyse der narzisstischen Übertragungen ist eine »Rekonstruktion« der unbewussten Ängste und Befürchtungen, die in der psychoanalytischen Situation entstehen. Im Laufe der Zeit kann der Prozess vertieft werden. Dann kann immer mehr die Bedeutung der narzisstischen Charakterabwehr erkennbar werden: Die Bedeutung von Größenphantasien, narzisstischer Wut, von Hass, Kühle, Überheblichkeit usw., die aus Störungen des Selbstwertgefühls resultieren. Dadurch kann der Patient mehr und mehr in die Lage kommen, sein Selbstwertgefühl stabil zu halten und auch Kränkungen oder Trennungen ohne einen Einbruch zu tolerieren. In der damit verbundenen reiferen Beziehungsform liegt das Ziel einer psychodynamischen Behandlung narzisstischer Störungen.
Analyse der Borderline-Persönlichkeit Während die Analyse von klassischen Neurosen und narzisstischen Störungen im Wesentlichen eine nachträgliche Aufarbeitung unbewusster Beziehungskonflikte ist, muss die Analyse der Borderline-Persönlichkeiten deren spezifische Reifungsstörung besonders beachten. Daraus ergibt sich eine spezielle Behandlungsstrategie. Sie zielt darauf ab, Entwicklungsdefizite zu überwinden, indem die spezifischen Probleme der Selbst- und Beziehungsregulation in der analytischen Beziehung aktualisiert und durchgearbeitet werden. Borderline-Übertragung. Der Weg dorthin geht über die
Bearbeitung der Borderline-Übertragungen. Dabei besteht die Aufgabe des Analytikers darin, Manifestation präsemantischer Ich-Zustände in der therapeutischen Beziehung zu erkennen und ihre Bedeutung bzw. ihre Funktion zu verstehen. In diesen Zuständen äußern sich Spaltungsphänomene als Identitätsdiffusion, Störungen der Objektverwendung und Wechsel von einer idealisierenden
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
zu einer entwertenden Übertragungseinstellung. Der Fokus der Deutungsarbeit richtet sich darauf, destruktive Affekte, sexualisierte Kontroll- und Bemächtigungsimpulse, das Agieren von destruktiven Impulsen und Affekten oder schizoiden Kontaktabbrüchen als Abwehr und Ausdruck bisher nicht »begriffener« Hilflosigkeit, Verworrenheit, Verlorenheit und Selbst-Verlustängste in der Übertragung zu verstehen, dieselben anzuerkennen und reparative Tendenzen, z. B. Wiedergutmachung, anzuerkennen. »Verstehen« bedeutet in der Borderline-Behandlung, aus dem Verlauf und insbesondere aus der Art der Übertragung heraus zu erkennen, worauf der Patient mit einem solchen Wechsel reagiert und was er damit zu bewältigen und abzuwehren versucht. Auslösesituationen. Wegweisend sind dabei meistens die
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Ereignisse, die den Wechsel der Übertragung herbeigeführt haben und die Auslösesituation für ein Agieren, einen Kontaktabbruch usw. bilden. Meistens handelt es sich dabei um Störungen in der therapeutischen Beziehung, die der Patient als Gefährdung erlebt. Die Anerkennung des Anteils, den der Psychoanalytiker daran hat, ist ein maßgeblicher therapeutischer Faktor, während es sich als kontraproduktiv erweist, den Patienten von seinem Anteil am Misslingen der Kommunikation überzeugen zu wollen. Integration von Beziehungsaspekten. Wenn solche Zu-
sammenhänge verständnisvoll, geduldig und beharrlich aufgeklärt und immer von neuem beachtet und verstanden werden können, identifiziert der Patient sich auf Dauer mit der verstehenden und annehmenden Funktion des Analytikers und mit seiner Fähigkeit, Brüche zu überbrücken. Damit stabilisiert sich das Selbstgefühl und es kann sich eine Integration von Beziehungsaspekten vollziehen, die sich bei genügend Zeit stabilisiert.
Beziehung als Teil und Ganzes Diese Bearbeitung von Spaltungsprozessen fordert eine doppelte Orientierung des Analytikers: Es ist unumgänglich, dass er sich einerseits den destruktiven Seiten der Beziehung aussetzt und sie nicht verleugnet, also nicht selbst die Beziehung spaltet. Ebenso notwendig ist es, dass er sich dabei bewusst bleibt, dass es sich hier um »nur« einen Teilaspekt der Beziehung handelt, und dass er das Ganze der Beziehung in sich bewahrt.
ben müssen, solange der Patient dazu neigt, die Behandlung durch destruktives oder autoaggressives Verhalten zu unterlaufen. Bei weniger schwer gestörten Patienten kann es ausreichen, dass der Analytiker defiziente Funktionen durch entsprechende Interventionen ausgleicht, bis dieser soweit ist, sie selbst für sich zu übernehmen (Fürstenau 1977).
30.4
Psychodynamische Psychotherapieverfahren
Die dynamische Psychotherapie leitet sich von dem bisher beschriebenen Standardverfahren ab. Es wird in Hinblick auf den formal-äußeren Rahmen und die Inhalte mehr oder weniger stark modifiziert und den Gegebenheiten des Patienten bzw. der klinischen Situation angepasst. Auf diese Weise ergeben sich zwei grundsätzlich verschiedene Vorgehensweisen: die analytische und die tiefenpsychologische Psychotherapie. Sie werden als psychoanalytisch begründete Psychotherapieverfahren zusammengefasst (s. Übersicht).
Psychoanalytisch begründete Psychotherapieverfahren
Analytische Psychotherapie analytische Einzelpsychotherapie modifizierte analytische Einzelpsychotherapie psychoanalytische Gruppentherapie (= analytische Gruppenpsychotherapie) Tiefenpsychologische Psychotherapie (= analytisch orientierte Psychotherapie) tiefenpsychologische Einzeltherapie dynamische Psychotherapie interaktionelle Psychotherapie expressive Psychotherapie tiefenpsychologische Gruppenpsychotherapie tiefenpsychologische (sog. analytische) Paarbzw. Familientherapie Spezielle tiefenpsychologische Verfahren Bewegungstherapie Gestaltungs- bzw. Maltherapie Musiktherapie
Die analytische Psychotherapie. Sie umfasst die Verfah-
Wahrung des Behandlungsrahmens Je nach dem Ausmaß der Störung basaler Ich-Funktionen im Bereich des Denkens, der Wahrnehmung, der Gefühlsund Impulskontrolle usw. kann die Borderline-Therapie sich allerdings oft nicht auf die Deutungsarbeit beschränken. Insbesondere Kernberg (1989) betont, dass die Beachtung eines vorab ausgehandelten Behandlungspaktes und die Wahrung des Behandlungsrahmens Vorrang ha-
ren, die sich vom Standardverfahren nur im Hinblick auf den Rahmen unterscheiden, z. B. durch Verminderung der Stundenfrequenz, Begrenzung der Behandlungsdauer, durch Behandlung des Patienten im Sitzen statt im Liegen, durch die Anwendung in Gruppen statt in der Zweiersituation oder durch Eingrenzung des Bezugsfeldes von Deutungen auf einen zentralen Konflikt. Dabei bleibt die Technik (Priorität von Deutungen, Zentrierung
719 30.4 · Psychodynamische Psychotherapieverfahren
auf Übertragung und Widerstand, Einhaltung des Abstinenzprinzips usw.) unverändert.
verfügbar. Die vorliegenden Ergebnisse werden allerdings auch nur zögerlich rezipiert. Die folgende Grundorientierung basiert daher auf klinischem Erfahrungswissen:
Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Sie
umfasst die Verfahren, die auf der Krankheits- und Persönlichkeitstheorie der Psychoanalyse beruhen, jedoch z. T. weitgehende Modifikationen der Behandlungstechnik zeigen. Sie äußern sich z. B. in der häufigen Anwendung nichtdeutender Interventionen, im Umgang mit der Übertragung, in der Vereinbarung von Rahmenbedingungen und in der Handhabung der Abstinenz.
30.4.1
Indikation und Differenzialindikation
Bei der adaptiven Indikation geht es um die Frage, mit welcher Psychotherapie mit vertretbarem Aufwand das beste Behandlungsergebnis zu erwarten ist. Dabei unterscheidet sich die Beurteilung der Indikation für psychodynamische Behandlungen stark von Indikationsstellungen in der übrigen Medizin und speziell auch in der Psychiatrie und der Verhaltenstherapie. ! Der Grund dafür ist der persönlichkeitsorientierte Ansatz der psychoanalytisch begründeten Psychotherapieverfahren: sie orientieren sich an der Persönlichkeits- bzw. Entwicklungsdiagnostik und nicht an symptomzentrierten Diagnosen. Erfahrung des Psychotherapeuten. Bei der Indikationsentscheidung spielt außerdem eine wichtige Rolle, welche Erfahrungen ein Psychotherapeut in vergleichbaren Fällen gemacht hat. Die Grundorientierung, die er in seiner Ausbildung erworben hat, wird dabei oft der entscheidende Maßstab sein: Verhaltenstherapeuten werden i. Allg. dazu neigen, wenn überhaupt eine Wahl besteht, einer Verhaltenstherapie den Vorzug zu geben, Psychoanalytiker einer psychoanalytisch begründeten Therapie.
Psychoanalytisch begründete Verfahren. Für eine psy-
chodynamische Psychotherapie muss bei den Patienten eine nicht nur vordergründige Bereitschaft vorhanden sein, sich in ihrer Persönlichkeit, Lebensorientierung und Beziehungsgestaltung zu verändern. Dieser Veränderungswunsch beruht auf einem subjektiven Leidensdruck und bildet – neben dem Leiden an der Symptomatik – die Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung. Außerdem sind bestimmte kommunikative Fähigkeiten auf Seiten des Patienten erforderlich, insbesondere Introspektionsfähigkeit, Reflektions- und Ausdrucksvermögen. Verhaltenstherapeutische Verfahren. Für verhaltensthe-
rapeutische bzw. übende Verfahren, die vorwiegend auf Symptome und Problemlösungsverhalten zentriert sind, muss v. a. ein symptombedingter Leidensdruck vorhanden sein, der zur Mitarbeit motiviert. Ein ausgeprägter sekundärer Krankheitsgewinn steht einem Behandlungserfolg in der Verhaltenstherapie ebenso entgegen wie in der psychodynamischen Behandlung.
Bevorzugte Indikationsgebiete Darüber hinaus kann man aus den Ergebnissen neuerer Forschungen (Grawe et al. 1994) einige bevorzugte Indikationsgebiete für die psychodynamischen vs. verhaltenstherapeutischen Verfahren ableiten: Psychoanalytisch begründete Behandlungen erweisen sich als besonders wirksam bei typischen neurotischen Störungen und bei Persönlichkeitsstörungen sowie zur Veränderung problematischer zwischenmenschlicher Beziehungen. Bei einfach strukturierten Angstneurosen (z. B. spezifische Phobien, Agoraphobie) und bei schwereren Zwangsneurosen erscheinen verhaltenstherapeutische Verfahren besonders effektiv.
Selektive Indikation. Bezogen auf die Praxis kann man
demnach sagen, dass es sich bei der Indikationsstellung zur psychoanalytisch begründeten Psychotherapie zunächst ganz überwiegend um eine selektive Indikation handelt, d. h. es werden Patienten nach den genannten Kriterien für ein solches Verfahren ausgewählt. In Institutionen wie Polikliniken und Beratungsstellen spielt die Frage der Differenzialindikation dagegen bei Behandlungsempfehlungen eine zentrale Rolle.
Grundvoraussetzungen Verbindliche objektive Kriterien für eine adaptive Differenzialindikation zwischen psychodynamischen und verhaltenstherapeutischen Verfahren sind trotz einiger Forschungen auf diesem Gebiet für die Praxis noch nicht
Voraussetzungen für psychoanalytisch begründete Verfahren Die selektive Indikation zu den psychodynamischen Verfahren ist an mehrere Voraussetzungen gebunden. Sie ergibt sich, wenn diagnostisch eine durch unverarbeitete Konflikte und erworbene Entwicklungsdefizite bedingte Störung besteht, deren Dynamik in Untersuchungsgesprächen hinreichend geklärt werden konnte; wenn der Betroffene nicht nur an den Symptomen seiner neurotischen Störung leidet und daraus einen Behandlungsanspruch ableitet, sondern auch an den Beeinträchtigungen und Einengungen leidet, die durch seine neurotische Entwicklung selbst hervorge-
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
rufen werden (subjektiver Leidensdruck), z. B. an mangelnder Lebensfreude und misslingender Beziehungsgestaltung; der subjektive Leidensdruck muss eine ausreichende Motivation für eine psychodynamische Behandlung darstellen; wenn er über ausreichende instrumentelle und kommunikative Fähigkeiten verfügt, um eine an seine Belange angepasste psychoanalytische Methode für sich nutzen zu können, insbesondere Introspektions- und Reflektionsvermögen; wenn er darüber hinaus in seinem Leben wenigstens in Teilbereichen und punktuell genügend gute Beziehungserfahrungen gemacht hat, die die Erwartung rechtfertigen, dass die geplante Behandlung von ihm als eine helfende Beziehung genutzt werden kann; wenn der potenzielle Behandler schließlich aufgrund der bisherigen Lebensbewältigung, der Entwicklungspotenziale und Ressourcen des Patienten zu der Einschätzung gelangt, dass er ihm mit der dynamischen Behandlung zu einer Neuorientierung verhelfen kann.
Solange die psychoanalytische Methode vornehmlich auf die Aufdeckung verdrängter Triebbedürfnisse zentriert war, betrachtete man Borderline-Störungen als Kontraindikationen für die analytisch begründete Psychotherapie und bevorzugte, wenn überhaupt, supportive Verfahren. Inzwischen hat sich das Verständnis der Borderline-Pathologie durch die jahrzehntelange Entwicklung der Objektbeziehungstheorie und Ich-Psychologie vertieft und zu 2 grundsätzlich verschiedenen Ansätzen geführt: Deutung der pathogenen Kernkonflikte. Manche Autoren, z. B. Benedetti (1983), Rosenfeld (1990) und Kernberg (1989) gehen davon aus, dass die Borderline-Pathologie im Prinzip mit Verfahren behandelt werden könne, bei denen die Deutung der pathogenen Kernkonflikte und ihre Manifestation in der Übertragung im Zentrum stehen; sie unterscheiden sich in Hinblick auf spezielle Modifikationen, z. B. bezüglich der Vereinbarungen der Rahmenbedingungen; beispielhaft für ein relativ stark modifiziertes Verfahren wird unten die expressive bzw. übertragungsfokussierte Psychotherapie dargestellt.
Äußere Bedingungen
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In der Praxis müssen außerdem die konkreten äußeren Lebensbedingungen Berücksichtigung finden: Die Finanzierung der Behandlung, z. B. über die gesetzliche oder eine private Krankenversicherung, muss gesichert sein, der Patient muss voraussichtlich ausreichend lange am Ort sein und die Termine der Behandlungen mit seinen Alltagsbelangen vereinbaren können, um nur einige äußere Voraussetzungen zu nennen.
Auswahl und Modifikation des Verfahrens Neben der Beurteilung der generellen Behandelbarkeit im Rahmen einer psychoanalytisch begründeten Therapie ist bei der Indikationsstellung darüber zu entscheiden, welches aus dem Spektrum der Verfahren für einen Patienten am günstigsten ist und welche Art und welches Ausmaß an Modifikationen den besten Effekt erwarten lässt. Dabei gilt als Grundorientierung, dass man bei Patienten mit Störungen der Ich-Entwicklung, v. a. bei Borderline-Patienten, den Fokus der Behandlung auf die Ich-Entwicklung und die Integration dissoziierter Ich-Zustände ausrichtet, während gut integrierte Patienten mit einer stabilen Basisentwicklung, also die mit »klassischen« neurotischen Störungen, aber auch narzisstische Patienten, gut von der Konfliktbearbeitung durch Übertragungsanalyse profitieren.
Behandlung von Borderline-Störungen Unterschiedliche Auffassungen bestehen allerdings bezüglich der Auswahl der am besten geeigneten Behandlung von Borderline-Störungen.
Strukturbildende Interventionen. Andere, z. B. Blanck u.
Blanck (1979), Fürstenau (1977), Heigl-Evers u. Heigl (1988), legen die Auffassung zugrunde, dass BorderlinePatienten aufgrund ihrer spezifischen Ich-Schwäche, die als ein strukturelles Defizit in der Ich-Entwicklung angesehen wird, nicht in der Lage sind, Deutungen als hilfreiche Interventionen zu verarbeiten, und bevorzugen strukturbildende Interventionen, z. B. die Klarifikation oder die »Antwort«; beispielhaft für diese Ansätze wird unten die interaktionelle Psychotherapie dargestellt.
Objektive vs. subjektive Faktoren Bei der Indikation zur Psychotherapie kommen neben objektiven auch viele subjektive Faktoren zum Tragen, so das prospektive Bild, das ein Patient während der Untersuchung im Untersucher per Gegenübertragung entstehen lässt, und das »Zusammenpassen«, das sich aus der Gegenübertragungswahrnehmung ergibt, für diesen Patienten ein psychoanalytisch kompetenter Behandler sein zu können. Gerade wenn man die Wirkung solcher interaktioneller Faktoren anerkennt, ist die Orientierung an Indikations- und Prognosekriterien nützlich, die sich aus jahrzehntelanger Praxis ergeben haben. Die Beurteilung wird es im konkreten Einzelfall erleichtern, auf unbemerkte subjektive Einstellungen, z. B. eine Antipathie oder eine schädliche Kollusion, aufmerksam zu werden und Indikationen auf eine Erfahrungsbasis zu stellen. Die nachfolgende Übersicht zeigt einige strukturelle klassische Indikationskriterien, die Heigl (1972) herausgearbeitet hat.
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Strukturelle Kriterien zur Beurteilung der Prognose und Indikation bei psychoanalytischen Behandlungen. (Nach Heigl 1972) Art des Leidensgefühls: Leidet ein Patient »nur« an den Symptomen und nicht auch an seiner »Art«, so ist das ein prognostisch ungünstiges Merkmal Gestörtheit des Selbstwertgefühls: Ausgeprägte Kränkbarkeit vermindert die Frustrationstoleranz Ausmaß illusionärer Riesenerwartungen: Magische Erwartungen an den Psychotherapeuten beeinträchtigen die Fähigkeit zur Mitarbeit in der Psychotherapie Über-Ich- und Ich-Ideal-Struktur: Destruktive Selbstkritik erfordert ein besonders behutsames Vorgehen. Allmachtsphantasien beeinträchtigen die (soziale) Lernfähigkeit Ich-Stärke: Defizite bezüglich Ich-Funktionen schränken die Prognose ein. Prognostisch günstig wirken ausreichend vorhandene autonome Ich-Funktionen, z. B. befriedigende Freizeitgestaltung
30.4.2
Analytische Psychotherapie
Unter dem Begriff »analytische Psychotherapie« werden Behandlungsverfahren zusammengefasst, die die psychoanalytische Technik in der ursprünglichen »klassischen« Form weitgehend übernehmen, jedoch gegenüber dem sog. Standardverfahren Modifikationen in Hinblick auf das Setting vornehmen. Sie sind also durch die Zentrierung auf Übertragung und Widerstand, also durch die Fokussierung auf die Regression im analytischen Prozess und durch das Primat der Deutungsarbeit gekennzeichnet.
Analytische Einzelpsychotherapie Die psychoanalytische Einzelbehandlung ist durch die folgenden »Standards« gekennzeichnet: Drei (gelegentlich auch mehr) Behandlungsstunden pro Woche, Ruhelage des Patienten auf der Couch, Orientierung an der Grundregel der freien Assoziation für den Patienten und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit für den Analytiker, Abstinenzhaltung und technische Neutralität des Analytikers, Vorherrschen der Deutung als spezifisches Mittel der Einflussnahme,
Zentrierung auf die Übertragungs- und Widerstandsanalyse zur Klärung und Durcharbeitung der krankheitsbedingenden Beziehungsmuster. In dieser Anwendungsform lässt die Methode Übertragungs- und Widerstandsphänomene besonders deutlich hervortreten: Die Analyse erhält einen wichtigen Platz im Leben des Patienten, der eine besondere Abhängigkeit vom Analytiker entwickelt, aber auch starke Ängste, die sich dagegen richten. Auf diese Weise entwickelt sich eine dichte Übertragungsdynamik, die es gestattet, die wesentlichen Konflikte in der Beziehung zum Analytiker zur Entfaltung zu bringen und durchzuarbeiten. Das stellt hohe Forderungen an die Fähigkeit des Patienten, die Regression auf die therapeutische Situation zu begrenzen und die Fähigkeit zur therapeutischen IchSpaltung (s. oben) herzustellen, ebenso wie sie dem Analytiker eine große persönliche Kapazität und fachliche Kompetenz zum Umgang mit regressiven Prozessen abverlangt. Andererseits gibt die Intensität der Behandlung dem Patienten auch genügend Halt und Sicherheit, um die deutlich werdenden regressiven Erlebnisweisen zu verarbeiten. Diese beiden Aspekte sind insbesondere bei der frequenten analytischen Behandlung von schweren narzisstischen Störungen und Borderline-Patienten gegeneinander abzuwägen, für die dieses Verfahren i. Allg. nicht geeignet ist.
Indikationen und Ziele Bei speziellen Indikationen und Zielen der analytischen Einzeltherapie sind Störungen des höheren und mittleren Strukturniveaus von schweren Störungen zu unterscheiden. Störungen des höheren und mittleren Strukturniveaus.
Patienten, deren Störung auf Einschränkungen der Konfliktverarbeitung und mittlere Beeinträchtigungen des Selbstgefühls begrenzt und deren Ich-Entwicklung nicht wesentlich beeinträchtigt ist, stellen einen Indikationstyp dar. Wie einleitend dargestellt, ist die Diagnose des Krankheitsbildes aber nur die Voraussetzung für die Indikationsstellung, während Persönlichkeits- und Beziehungsfaktoren den Ausschlag geben. Das führt dazu, dass mit der analytischen Einzelpsychotherapie bevorzugt eine Gruppe von Patienten behandelt wird, die einem bestimmten »positiven Indikationsstereotyp« entspricht: Jung, attraktiv, verbal befähigt, intelligent und erfolgreich (YAVIS-patients). Wenngleich diese Feststellung wiederholt polemisierend gegen die Psychoanalyse ins Feld geführt wird, ist es richtig und empirisch belegt (Wallerstein 1986), dass dieses Verfahren tatsächlich von relativ gesunden Patienten mit am besten genutzt werden kann.
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
Behandlung von »schweren« Störungen. Daneben wird
die analytische Einzelpsychotherapie bisweilen aber auch in der Behandlung von »schweren« Störungen angewandt (z. B. Rosenfeld 1990). Dazu ist zu bedenken, dass man eine Behandlung, die die Kernkonflikte, also tiefe Schichten des Unbewussten berührt, bei schwerer gestörten Patienten wahrscheinlich nur unter dem Schutz einer dichten therapeutischen Beziehung vertreten kann. Die dichte Frequenz wirkt dabei supportiv, sofern sie mit einer spezifischen Deutungstechnik verbunden ist: Mit der Deutung der abgewehrten aktuellen Beziehungskonflikte im Hier und Jetzt der Übertragung (s. oben), während man es vermeidet, aggressive oder Triebimpulse konfrontativ aufdeckend anzugehen. Die Differenzialindikation gegenüber einem mehr Ich-stützenden tiefenpsychologischen Vorgehen ist einerseits von der Motivation und den Ressourcen des Patienten abhängig, mehr als bei anderen Störungen aber noch von der Erfahrung und Persönlichkeit des Behandlers und dem »Zusammenpassen«.
oft mit begrenzter Stundenzahl; dann spricht man von psychoanalytischer Kurztherapie; sie umfasst i. Allg. bis zu 50 Sitzungen. ! Durch diese Modifikationen des analytischen Verfahrens entwickelt sich die Übertragungsdynamik weniger intensiv. Meistens verhält der Analytiker sich aktiver, d. h. er interveniert häufiger. Er behält jedoch die psychoanalytische Grundhaltung mit der Priorität der Übertragungs- und Widerstandsanalyse, der Deutungstechnik und das Abstinenzprinzip bei. Der Nachteil der verminderten Behandlungsintensität besteht darin, dass der Patient auch eine geringere Stütze durch die Präsenz des Analytikers und die Dichte der Beziehung erhält. Diese Behandlungen müssen daher mit einer stärker begrenzten Zielsetzung arbeiten als analytische Einzeltherapien.
Indikation Veränderung und Reifung der Persönlichkeit. Die psycho-
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analytische Einzelbehandlung ist ein aufwendiges, lang dauerndes Vorgehen mit weitgehenden Zielsetzungen: Es wird beabsichtigt, die Grundkonflikte der Persönlichkeit aufzuarbeiten und dadurch nicht nur zur Symptombeseitigung, sondern zur Veränderung und Reifung der Persönlichkeit zu gelangen. Das Ziel ist die Fähigkeit zur weniger neurotischen Konfliktverarbeitung. Dieses Ziel geht teilweise über eine Krankenbehandlung, die als Symptomheilung verstanden wird, hinaus. Es zeigt sich nämlich, dass die dauerhafte Reduzierung der Symptomatik, jedenfalls bei leichteren und mittelschweren Störungen, meistens schon dann einsetzt, wenn diejenigen Konfliktbereiche bearbeitet werden können, die unmittelbar zur Symptomentstehung beitragen. Dementsprechend ist die Finanzierung der analytischen Psychotherapie durch Krankenkassen in der Regel auf maximal 300 Behandlungsstunden begrenzt.
Modifizierte analytische Einzelpsychotherapie Aufgrund der weitreichenden Zielsetzung, des großen Aufwands und wegen der anspruchsvollen Voraussetzungen für das analytische Einzelverfahren sind im Laufe der Jahrzehnte verschiedene modifizierte analytische Einzelverfahren entwickelt worden. Diese Verfahren haben für die Behandlungspraxis große Bedeutung erlangt. Ihre Vielfalt gestattet es, je nach Störung, Motivation, Persönlichkeit und individueller Situation des Patienten ein begrenztes Ziel festzulegen und dafür ein geeignetes Verfahren auszuwählen. Dabei wird eine Begrenzung der therapeutischen Regression beabsichtigt. Diese Verfahren arbeiten deshalb meistens im Gegenübersitzen, mit niedriger Behandlungsfrequenz (1–2 Wochenstunden)
In der modifizierten Form eignet sich die analytische Psychotherapie, wenn das analytische Einzelverfahren aus zeitlichen, finanziellen oder Motivationsgründen nicht in Frage kommt und man dennoch nicht auf eine psychoanalytische Intervention verzichten will. Dabei ist der Vorteil, wenigstens eine begrenzte Hilfe anbieten zu können, gegen die Gefahr abzuwägen, dass der Patient in einen Behandlungsprozess verstrickt werden kann, der innerhalb des gesetzten Rahmens nicht zu einem befriedigenden Abschluss gelangt. Außerdem sind diese Verfahren bei leichteren Störungen besonders geeignet, bei denen ein relativ geringer Behandlungsaufwand mit der Bearbeitung der psychodynamisch wirksamen Hauptkonflikte einen befriedigenden Erfolg verspricht.
Psychoanalytische Fokaltherapie Eine Sonderform dieser Verfahren ist die psychoanalytische Fokaltherapie (Malan 1962; Lachauer 1993). Sie kommt in Frage, wenn es möglich und sinnvoll erscheint, die Behandlung von vornherein so anzulegen, dass nur der Hauptkonflikt bearbeitet wird, der die gegenwärtige Symptomatik bedingt. Sie ermöglicht es, die psychoanalytische Methode in einer Kurztherapie mit geringem zeitlichen und finanziellen Aufwand anzuwenden und damit v. a. ökonomische Aspekte bei der Anwendung der Psychoanalyse besonders zu berücksichtigen. Der Fokalkonflikt wird dabei durchaus in seiner »Tiefendimension« bearbeitet. Die Beschränkung liegt in der Einschränkung der Breite und nicht der Tiefe. Es handelt sich um eine äußerst anspruchsvolle Anwendung der Psychoanalyse, die eine hohe beidseitige Motivation und Konzentration verlangt. Die Behandlungstechnik ist durch die Begrenzung der Deutungen auf den Hauptkonflikt gekennzeichnet. Die Behandlungsstrategie besteht darin, dass der Hauptkon-
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flikt im Wesentlichen auf der Übertragungsebene durchgearbeitet wird, d. h. dass geklärt wird, wie sich der Hauptkonflikt in der Behandlungsbeziehung äußert und welche Widerstände sich dagegen entwickeln. Später im Behandlungsverlauf hinzutretende andere Konfliktthemen werden ausgeklammert oder nur soweit berücksichtigt, wie sie im Zusammenhang mit dem Fokalkonflikt stehen. Dadurch wird der Behandlungsprozess konzentriert und zugleich die Regression begrenzt. Ein ausreichender psychotherapeutischer Effekt ist an die Ich-Stärke und positive bisherige Lebensbewältigung der Patienten gebunden. Es sollte sich auch nicht um chronifizierte Störungen und Konflikte handeln. Entscheidend ist aber die Motivation und die Fähigkeit des Patienten zur therapeutischen Ich-Spaltung (s. oben). Typische Indikationen sind daher aktuelle Krisensituationen, z. B. Entscheidungskrisen bei der Partnerwahl, im Berufsleben sowie leichtere, kurzfristig bestehende Neurosen des höheren oder mittleren Strukturniveaus, bei denen sich spontan reife objekthafte oder narzisstische Übertragungen entwickeln. Borderline-Störungen lassen sich dagegen in der Fokaltherapie nicht befriedigend handhaben.
Weise soll der Effekt gefördert werden, dass die einzelnen sich mit anderen Arten von Problemen, Strukturen und Lösungsmustern auseinandersetzen und identifizieren als den eigenen. Gelegentlich bildet man zu speziellen Zwecken auch homogene Gruppen, z. B. Frauengruppen, Gruppen mit Essgestörten usw. Verhalten innerhalb der Gruppe. Für das Verhalten in der
Gruppe wird keine besondere Grundregel vereinbart; die Patienten werden aber aufgefordert, die Eindrücke aus ihrem Innern und aus der Gruppensituation so frei wie möglich zu äußern. Dadurch entwickelt sich ein spontanes, wenig strukturiertes Gespräch, in dem die Patienten ihre Phantasien, Eindrücke, Einfälle, Affekte und Empfindungen, Wünsche und Erwartungen usw. austauschen und in dem Erlebnisse aus dem Alltag, aus Gegenwart und Vergangenheit sowie Eindrücke aus dem gemeinsamen Erleben in der Gruppe besprochen werden. Auf diese Weise entwickeln sich lebendige Beziehungen zwischen den Gruppenteilnehmern und zum Gruppenpsychotherapeuten. Sie sind das eigentliche »klinische Material«.
Übertragungen Analytische Gruppenpsychotherapie Die analytische Gruppenpsychotherapie verwendet die Theorie der Psychoanalyse, Elemente der psychoanalytischen Methode und Technik sowie Erfahrungen der Gruppendynamik für die psychotherapeutische Behandlung in der Gruppensituation. Es bestehen grundsätzlich die gleichen Behandlungsprinzipien wie in der analytischen Einzelpsychotherapie. Durch die gleichzeitige Behandlung mehrerer Patienten ergeben sich jedoch einige wesentliche Abwandlungen. In der Regel behandelt ein Psychotherapeut 8 Patienten. Das Gruppengespräch findet im Sitzen im Kreis statt. Die Interaktionen bleiben auf das Gespräch begrenzt. Eine Gruppensitzung dauert 1 1/2 oder 2 h, meistens aber 100 min. Die übliche Frequenz ist eine oder 2 Gruppensitzungen pro Woche. In der kassenärztlichen Versorgung ist die Gesamtdauer der Behandlung auf 150 Sitzungen begrenzt.
Die Beziehungen enthalten nicht nur bewusste Einstellungen und Absichten, sondern auch Übertragungen unbewusster Motive und Fantasien, Widerstände sowie Gegenübertragungen als Reaktionen auf die Übertragungen. Die Besonderheit besteht in der Gruppensituation darin, dass jeder einzelne im Kontakt mit mehreren anderen nicht nur eine einzige Einstellung übertragen kann, sondern zu verschiedenen Teilnehmern verschiedene, d. h. »multipersonale« Übertragungsbeziehungen entwickeln kann. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die Gruppe auch als Ganzes eine unbewusste Intention und Motivation entwickelt, mit der sie dem Gruppentherapeuten begegnet; die Gruppe entwickelt eine Gruppenübertragung auf den Therapeuten, z. B. das unbewusste Bedürfnis, vom Gruppenleiter mütterlich versorgt zu werden.
Gruppenabwehr Zusammensetzung der Gruppe. Sie bleibt im Idealfall über die gesamte Behandlungszeit konstant. Solche geschlossenen Gruppen lassen sich in der Praxis aber nur schwer verwirklichen, weil immer wieder einmal Patienten ausscheiden. Wenn die freiwerdenden Plätze dann durch neu hinzukommende Patienten belegt werden, spricht man von offenen Gruppen. Bei der Zusammenstellung der Patienten achtet man i. Allg. darauf, dass ein möglichst breites Spektrum relevanter Merkmale in der Gruppe repräsentiert ist: Die Patienten werden in solchen heterogenen Gruppen nach Alter, Geschlecht, Art der Symptomatik und Persönlichkeit gemischt. Auf diese
Schließlich ist für die Psychotherapie in Gruppen eine spezielle Gruppenabwehr kennzeichnend. Sie ergänzt die individuellen Abwehrmechanismen und dient dazu, den Bestand der Gruppe zu wahren und latente Spannungen und Konflikte, die zwischen einzelnen oder zwischen der Gesamtgruppe und dem Gruppenleiter oder der Umgebung aufkommen, unbewusst zu halten. Dabei handelt es sich um spezielle soziale Abwehr- und Bewältigungsstrategien, die es nur in Gruppen gibt: Sog. Grundannahmen (Bion 1961) umfassen die zur Abwehr eingesetzte Tendenz von Gruppen, sich vom Leiter abhängig zu machen, alle Hoffnung auf das Er-
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
scheinen eines Retters zu setzen (sog. Paarbildung) oder sich kämpferisch oder fliehend wie einem Feind gegenüber zu verhalten. Soziale Kompromissbildungen (Heigl-Evers u. Heigl 1979) führen dazu, dass die latenten Konflikte innerhalb von Gruppen, z. B. Interessengegensätze zwischen einzelnen Teilnehmern, abgewehrt werden; dabei reagieren nicht nur die beiden Betroffenen, sondern im Geflecht der Gruppeninteraktionen wird unbewusst eine Lösung »ausgehandelt«, an der alle beteiligt sind. Solche Kompromissbildungen äußern sich zunächst in den Interaktionen, können aber auch in Normen und Rollenzuweisungen einen Niederschlag finden.
Deutungen
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In der analytischen Gruppe wird v. a. das Verhalten der Patienten untereinander und zum Gruppenpsychotherapeuten im Hier und Jetzt der Gruppensituation beobachtet und unter dem Gesichtspunkt von Übertragungen gedeutet. Dafür gibt es eine Vielzahl von Konzepten, in denen der individuelle Aspekt und der Aspekt der Pluralität unterschiedlich stark betont werden. Die beiden Pole, die in der Praxis der gruppenanalytischen Psychotherapie (Foulkes 1964) eng miteinander verknüpft werden, bilden die folgenden Auffassungen: Die Behandlung »des einzelnen in der Gruppe« (Slavson 1943): Die Verhaltensweisen der einzelnen Patienten können unter dem Gesichtspunkt analysiert werden, dass Beziehungsgefüge aus früheren Lebenszeiten übertragen werden. Dabei können einzelne Übertragungsbeziehungen, z. B. bestimmte Geschwisterübertragungen, herausgearbeitet und in Beziehungen zu Mitpatienten bearbeitet werden. Die Behandlung der »Gruppe als Ganzheit« (Argelander 1963/64; Bion 1961): Man kann die Gruppe als ein Individuum beobachten und die gruppendynamischen Rollen der einzelnen Teilnehmer als Ausdruck bestimmter Bedürfnisse, Abwehrformen oder psychischer Strukturen des Individuums »Gruppe« betrachten. Von dieser Warte aus vermittelt der Gruppentherapeut mit seinen Deutungen Einsichten in den Regressions- bzw. Übertragungszustand der Gruppe als Ganzes und verdeutlicht, durch welche Faktoren im Gruppenprozess, z. B. durch welches Verhalten des Leiters, diese Entwicklung hervorgerufen worden ist. Er beschreibt dabei die unbewusste gemeinsame Gruppenphantasie, die im Verhalten »der Gruppe« zum Ausdruck kommt.
Voraussetzungen Die Voraussetzung für eine effektive Gruppenpsychotherapie ist die Fähigkeit, hilfreiche Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Die Teilnahme an einer Psychotherapiegruppe erfordert außerdem eine ausreichend
vorhandene Gruppenfähigkeit: Damit ist die Fähigkeit gemeint, konstruktiv an der Entwicklung einer Gruppe teilzuhaben und davon für die individuelle Entwicklung zu profitieren. Insofern ist die Indikation zur Gruppenpsychotherapie am ehesten bei leichteren Neurosen ohne extreme Beeinträchtigungen und Chronifizierungen gegeben, insbesondere bei leichteren klassischen Neurosen oder leichteren narzisstischen Störungen.
Vorteile der Gruppentherapie Wenn eine Gruppenbehandlung grundsätzlich in Betracht kommt, dann gibt es gegenüber der Einzelbehandlung einige spezifische Vorteile der Gruppenpsychotherapie: Erlebnisinhalte wie Neid, Eifersucht, Geltungsdrang usw. können in der Gruppe unmittelbar beobachtet und bewusst gemacht und schließlich bearbeitet werden. Auch starre unbewusste Charakterhaltungen, z. B. Unterwürfigkeit, Opferhaltungen, Hochmut oder Bevormundung, werden in der Gruppe durch Rückmeldungen bewusster und können bearbeitet werden. Besonders günstig ist die Gruppe für Patienten, die mit Rivalitäts- und Autoritätsproblemen belastet sind. Für sie kann die Gruppe ein Erlebnisfeld darstellen, in dem sie Entwicklungsdefizite erkennen und aufarbeiten können.
Spezifische Verfahren Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen und chronifizierten Neurosen werden i. Allg. nicht ausreichend von einer analytischen Gruppenpsychotherapie profitieren können; meistens sind für sie spezifische stützende Gruppenverfahren entwickelt worden, z. B. die interaktionelle Gruppentherapie (s. unten). Von besonders in Gruppenbehandlungen geschulten Psychotherapeuten werden allerdings auch schwer gestörte Patienten, z. B. Psychosekranke, in analytischer Gruppenpsychotherapie behandelt (Pohlen 1972).
30.4.3
Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
Als tiefenpsychologisch fundiert werden Behandlungsverfahren bezeichnet, welche die Persönlichkeits- und Krankheitstheorie der Psychoanalyse zugrunde legen, in der Technik jedoch sehr weitgehend von der psychoanalytischen Methode abweichen können oder eigene Methoden entwickelt haben. Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie findet in den verschiedenen Bereichen Anwendung: Als ambulante und stationäre Behandlung, als Einzel-, Gruppen-, Paar- und Familienbehandlung, als Behandlung mit nicht festgelegter Dauer und als Kurzbehandlung, als Fokalthe-
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rapie, Krisenintervention und psychotherapeutische Beratung. Gegenüber der analytischen Psychotherapie bestehen mehrere Unterschiede (Loch 1979; Heigl-Evers u. Heigl 1982): Behandlungsfrequenz. Durch niedere Behandlungsfre-
quenz wird beabsichtigt, die therapeutische Regression und speziell die Übertragung gering zu halten und den Behandlungsprozess auf die aktuellen Konflikte des Patienten zu zentrieren. Umgang mit der Übertragung. In der Patient-Therapeut-
Beziehung konstellieren sich bei diesem Vorgehen bewusstseinsnähere, meistens positiv getönte Übertragungen, die der positiven Grundbeziehung zuzuordnen sind. Sie werden als Vehikel der Behandlung genutzt und i. Allg. nicht unter dem Gesichtspunkt darin enthaltener Widerstände gegen negative Erlebnisweisen betrachtet. Es wird zugleich darauf geachtet, dass Übertragungsreaktionen nicht zum Widerstand gegen die Bearbeitung von Konflikten eingesetzt werden. Wenn das geschieht und der Patient beginnt, sich mehr mit dem Therapeuten als mit anderen Beziehungen zu beschäftigen, wird die Angst, die dahinter steht, ergründet und bearbeitet. Feindselige Übertragungen werden besprochen, sobald sie sichtbar werden, um durch das Verständnis des Therapeuten und die Erfahrung mit ihm als realer Person korrigiert zu werden. Deutungsstrategie. Die Probleme der Patienten werden
in den alltäglichen Beziehungszusammenhängen gedeutet und bearbeitet: Partnerschaftsprobleme werden z. B. auf die dahinter stehenden Schwierigkeiten des Patienten untersucht. Deutungen beziehen sich auf die Schwierigkeiten im aktuellen Leben des Patienten. Sie beziehen ggf. den lebensgeschichtlichen Hintergrund, d. h. die Entstehungsgeschichte der Schwierigkeiten mit ein. Im Gegensatz zur analytischen Psychotherapie wird aber nicht die Bedeutung des Materials (z. B. des Angebotes »Partnerschaftsproblem«) im Kontext der Übertragung betrachtet und gedeutet. Systematisch betrachtet, stehen in der tiefenpsychologischen Behandlung also Inhaltsdeutungen im Vordergrund. Handhabung der Abstinenz. Das Abstinenzprinzip wird
in den tiefenpsychologisch fundierten Verfahren recht unterschiedlich gehandhabt. Je mehr der Psychotherapeut Deutungen der unbewussten Konfliktdynamik zum Schwerpunkt seiner Technik macht, umso klarer hält er sich meistens an das Abstinenzprinzip, sodass diese Haltung oft nicht von jener in der analytischen Psychotherapie abgrenzbar ist. Häufig treten aber Deutungen gegenüber anderen Interventionen wie Stützung, Entlastung, Ermutigung, Grenzsetzung oder Beratung in den Hintergrund.
In solchen Behandlungen hält der Psychotherapeut sich dann meistens auch nicht an die Abstinenz im Sinne der Handlungs- und Wertneutralität und verzichtet darauf, sie als Mittel für die Diagnose der Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik zu benutzen. Er wählt stattdessen einen strategischen Umgang, in dem er einerseits eine gleichbleibende wohlwollende Distanz anstrebt, andererseits davon abweicht, wenn die Behandlung es geboten erscheinen lässt: Er kann eingreifen und Bedingungen setzen, wenn der Patient sich oder andere oder den Fortgang der Behandlung gefährdet; er kann Ratschläge erteilen, Anleitungen geben, damit der Patient bestimmten Schwierigkeiten nicht ausweicht; er kann aktiv Nähe und Distanz regulieren und z. B. auf einen Patienten, der sich isoliert und abschirmt, emotional aktiv zugehen. In der Praxis mancher Psychotherapeuten erhält die Behandlungsbeziehung durch diese Modifikationen einen gewissen privaten Zug. Sie sind umstritten, weil offensichtlich unterschiedliche Erfahrungen darüber bestehen, ob die Verfahren dadurch in der Wirkung verstärkt werden oder kurzfristige, suggestive Wirkungen einer »freundschaftlichen« Beziehung die Hintergrundprobleme nur zudecken.
Vorteile der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie Die häufige Anwendung hat mehrere patientenbezogene Gründe: Viele leichtere neurotische Störungen bedürfen keiner ausführlichen Analyse der tieferliegenden Persönlichkeitskonflikte. Behandlungen unter Nutzung einer stärkeren therapeutischen Regression sind bei ihnen nicht erforderlich. Oft sind die Patienten dazu auch gar nicht bereit. Andererseits sind manche schwer gestörte Borderline-Patienten durch Behandlungen mit weitergehenden Zielsetzungen nicht erreichbar. Bisweilen ist die tiefenpsychologische supportive Behandlung eine Art ultima ratio bei Patienten, die sich in einer dringlichen Notlage befinden, aber weder bereit noch in der Lage sind, sich einer aufwendigeren Psychotherapie zu unterziehen. Oft bestehen prognostisch auch keine ausreichenden Perspektiven, z. B. bei Suchtpatienten oder nach mehrfachen abgebrochenen Behandlungsversuchen. Institutionelle Vorteile. Institutionelle Gründe kommen
hinzu: Die Verfahren sind inzwischen didaktisch gut aufgearbeitet, werden in Manualen (Dührssen 1988; Kernberg 1989; Luborsky 1984) vermittelt und erscheinen relativ »leicht« erlernbar (was allerdings umstritten ist). Sie kommen dem gewaltigen Bedarf an Psychotherapie auf ökonomisch sparsame Weise nach. Schließlich lassen sich tiefenpsychologische Behandlungen mit niederer, häufig
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
unregelmäßiger Frequenz im Gegensatz zur psychoanalytischen Therapie recht gut nicht nur in psychotherapeutischen Fachpraxen anwenden, sondern auch mit der ärztlichen und fachärztlichen nichtpsychotherapeutischen Tätigkeit in verschiedenen Fachgebieten verknüpfen: Außer in der Allgemeinmedizin und Psychiatrie auch in der Inneren Medizin, Gynäkologie oder Dermatologie, in denen ein Großteil psychosomatischer Patienten zur Behandlung kommen.
Effizienz
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Die Effizienz der Verfahren zeigt sich v. a. bei leichteren neurotischen und narzisstischen Störungen. Oft reicht es diesen Patienten völlig aus, eine Restabilisierung und Symptomfreiheit zu erreichen. Die Frage, welchen Effekt die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei schwereren Neurosen und Persönlichkeitsstörungen hat, ist allerdings schwer zu beantworten. Als Vorteil wird immer wieder geltend gemacht, dass zusätzliche Regressionen bei ohnehin regredierten Patienten gering gehalten werden und die progressiven Kräfte der Patienten optimal genutzt werden können. Der mögliche Nachteil, dass eine zeitliche und von der Kontaktgestaltung her geringe Behandlungsintensität wie eine Redeprivation erlebt werden kann, wird demgegenüber selten formuliert. Gute Ergebnisse lassen sich am ehesten erreichen, wenn Teilziele angestrebt werden, die mehr auf die Überwindung aktueller Schwierigkeiten, z. B. im Arbeitsbereich, ausgerichtet sind als auf weitgehende Veränderung tief in der Persönlichkeit verankerter Verhaltensweisen. Wahrscheinlich ist es der entscheidende Faktor für die Zufriedenheit mit dem Ergebnis, ob der Therapeut und der Patient sich bewusst und weitgehend auch unbewusst auf ein begrenztes Ziel und einen begrenzten Effekt einigen können; weiterhin, ob sie die Zuversicht entwickeln können, auch unter diesen Bedingungen, Nützliches für den Patienten zu erreichen.
Tiefenpsychologisch fundierte Einzelpsychotherapie Die tiefenpsychologische Psychotherapie (Heigl-Evers u. Heigl 1982; Wöller u. Kruse 2001; Ermann 2004) ist die von in der Psychotherapie speziell ausgebildeten Allgemeinärzten, Psychiatern oder anderen Fachärzten am häufigsten verwandte konfliktzentrierte Behandlungsform. Sie wird meistens als Einzelbehandlung mit einer Wochenstunde über einen Zeitraum von etwa 50 Sitzungen durchgeführt. Die Behandlung findet im Sitzen statt. In Anlehnung an die analytische Psychotherapie wird oft (aber nicht immer) die Grundregel der freien Assoziation vereinbart. Der Psychotherapeut deutet die Konflikte, die damit zu Tage treten, in Bezug auf abgewehrte Ängste, Erwartungen, Ansprüche usw. und zieht gelegentlich Parallelen zu lebensgeschichtlichen Vorläufern der jetzigen Konflikte in der Beziehung zu Eltern,
Geschwistern oder anderen wichtigen Personen der Kindheit. Übertragungsdeutungen werden vermieden. Das Ziel dieses Verfahrens ist die Umgestaltung der zentralen, pathogenen Konfliktdynamik. Seine Wirkung beruht auf der Kontinuität der Zuwendung und des Interesses, der Einsicht in die Unzweckmäßigkeit des Verhaltens und der Abwehr, der Akzeptanz abgewehrter Erlebnisse durch den Psychotherapeuten und die Identifizierung mit dieser Haltung sowie der (unausgesprochenen) emotionalen Unterstützung durch den Psychotherapeuten, wenn der Patient neue, für ihn angemessenere und befriedigendere Erlebnisweisen entwickelt. Es wird deutlich, dass die eigentliche Einsicht dabei nur einer der Wirkfaktoren ist und dass Ähnlichkeiten mit verhaltenstherapeutischen Verfahren bestehen.
Dynamische Psychotherapie Als eine spezielle Variante der tiefenpsychologischen Einzeltherapie wurde die sog. dynamische Psychotherapie (Dührssen 1972, 1988) entwickelt. Sie enthält folgende Besonderheiten: Die Gespräche werden teils assoziativ gestaltet, teils durch stimulierende und klärende Fragen strukturiert. Dabei wird auf das erlebnisnahe Konfliktfeld zentriert. Übertragung und Regression werden in die Bearbeitung einbezogen, jedoch nicht gefördert oder vertieft. Es wird mit einem Gesamtaufwand von zumeist 50–80 Sitzungen gearbeitet, diese werden aber durch eine niedere Frequenz über einen langen Zeitraum verteilt. Die Stundenfrequenz wird flexibel gehandhabt. Die Indikation betrifft Patienten, für die eine analytische Psychotherapie wenig sinnvoll oder sogar kontraindiziert erscheint, z. B. Jugendliche, die ein starkes Autonomiebedürfnis haben und mitten im Entwicklungsprozess stehen und deren psychische Kräfte nicht durch beziehungsintensive Behandlungen gebunden werden sollen. Im Übrigen hatte die Entwicklung des Verfahrens eine soziale Implikation: Sie soll die psychoanalytische Methode auch auf Patienten aus der niederen Sozialschicht anwendbar machen, die aufgrund ihrer Sozialisation und Bildung i. Allg. für ein streng selbstreflektives Verfahren weniger zugänglich erscheinen.
Expressive (übertragungsfokussierte) Psychotherapie Speziell für die Behandlung von Borderline-Störungen wurde die expressive Psychotherapie (Kernberg 1989) mit der Absicht konzipiert, gezielt die typischen Entwicklungsdefizite dieser Patienten auszugleichen. Sie wurde inzwischen zur übertragungsfokussierten Psychotherapie (Clarkin et al. 2000; Kernberg 2000) weiterentwickelt und
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manualisiert. Sie geht von einer gezielten Diagnostik der Entwicklungspathologie der Patienten aus, beachtet dabei insbesondere den Umgang mit früheren Hilfsangeboten, mit dem Diagnostiker in der Untersuchungssituation und mit Destruktivität schlechthin. In einem Behandlungsvertrag werden dann Behandlungsbedingungen festgelegt, die Faktoren vorbeugen, die den Patienten, andere oder den Fortgang der Behandlung gefährden könnten. Außerdem wird die Möglichkeit besonders berücksichtigt, dass der Patient sich nicht an den Vertrag halten und unehrlich mit dem Psychotherapeuten umgehen könnte.
von der Annahme aus, dass Borderline-Patienten mit der üblichen Technik der Deutung ihrer zentralen Beziehungskonflikte in der Übertragung nicht angemessen erreicht werden. An die Stelle der Deutungsarbeit tritt deshalb das Prinzip »Antwort«: Der Therapeut teilt nach bestimmten Regeln etwas von den Gefühlsreaktionen mit, die der Patient in ihm auslöst. Durch solche Mitteilungen tatsächlich erlebter Gefühle will der Therapeut in seiner realen Präsenz für den Patienten greifbar und bis zu einem gewissen Grad auch kontrollierbar werden. Dadurch sollen reifere Beziehungsformen gefördert werden.
Behandlungsvertrag. Er stellt das besondere Element ge-
Tiefenpsychologische Gruppenpsychotherapie
genüber anderen Verfahren dar. Er nimmt in dieser Therapie eine wichtige Stellung ein, an der sich ein großer Teil der zentralen Behandlungsdynamik mit Übertragungen und Widerständen manifestiert. Er ist aber in erster Linie als ein Schutz für den Patienten konzipiert und nicht als Katalysator für eine bestimmte Dynamik.
Die tiefenpsychologische Gruppenpsychotherapie ist, ähnlich wie die Einzelbehandlung, insbesondere für Patienten mit leichten Störungsformen konzipiert worden, bei denen eine Behandlung umgrenzter Problembereiche und aktueller Konflikte möglich und ausreichend erscheint. Der entscheidende Unterschied zwischen der tiefenpsychologischen und der analytischen Gruppenpsychotherapie besteht im Umgang mit der Pluralität.
Handhabung der Abstinenz. Das zweite besondere Ele-
ment ist die Handhabung der Abstinenz. Um einerseits eine angemessene Deutungsarbeit leisten zu können, wird eine technisch neutrale, d. h. annehmende, aber Distanz wahrende Haltung zugrunde gelegt. Wenn allerdings erkennbar wird, dass der Patient sich selbst oder andere schädigt oder den Fortgang der Behandlung gefährdet, dann kann der Behandler mit direktiven Interventionen eingreifen. Er kann den Patienten z. B. auffordern, ein bestimmtes gegen andere gerichtetes Protestverhalten einzustellen, und ihm zeigen, dass er sich damit verstrickt und selbst in Schwierigkeiten bringt, statt die erhoffte Abgrenzung zu erreichen.
! Die tiefenpsychologische Gruppenpsychotherapie ist eine »Behandlung des einzelnen in der Gruppe«; das Medium der Gruppe wird dabei als unspezifisch wirksamer, den Behandlungseffekt verstärkender Faktor genutzt. Die Gruppe als Ganze ist jedoch nicht Gegenstand und Ziel der Interventionen des Psychotherapeuten. Daraus ergibt sich ein besonderer Umgang mit den Problemen, die einzelne Patienten in die Gruppe hineintragen. Beobachtung des Einzelnen und der Gruppe. In der tie-
Deutungen im Hier und Jetzt. Im Übrigen zentriert die
Behandlung auf die Bearbeitung der Spaltungen und der damit verbundenen typischen Borderline-Übertragung durch Deutungen im Hier und Jetzt. Das Ziel ist die Entwicklung einer besseren Kapazität für die Integration der widersprüchlichen, gespaltenen Selbst- und Objektaspekte, eine Verbesserung der Affektregulation, der Impulskontrolle usw., d. h. eine Nachreifung des Ichs.
Interaktionelle Psychotherapie Ebenfalls für die Behandlung von Borderline-Störungen wurde die interaktionelle Psychotherapie (vgl. zusammenfassend Heigl-Evers et al. 1993) entwickelt. Ursprünglich als Gruppentherapie konzipiert, findet sie heute sowohl als Einzelbehandlung als auch als Gruppenbehandlung statt. Das Verfahren nimmt auf die spezifische Art der Beziehungen und auf die Ich-Funktions-Defizite der Borderline-Patienten Bezug: Störungen in der Abgrenzung zwischen dem Selbst und den Objekten, Spaltungspathologie, mangelhafte Affektregulation usw. Es geht
fenpsychologischen Gruppe verfolgt der Gruppentherapeut 2 Strategien: Er wird einerseits, auf den Einzelnen bezogen, die unbewussten Motive der Schwierigkeiten des Patienten mit seiner Umwelt und die dahinter stehenden verdrängten Affekte, Triebkonflikte und Kränkungen klären. Andererseits wird er, gruppenbezogen, beobachten, welche Reaktionen das Problem eines Patienten bei den Übrigen auslöst. In den Reaktionen äußern sich Mechanismen der individuellen Abwehr, die den einzelnen Patienten in Bezug auf ihre eigene Problematik gedeutet werden kann. Deutungsarbeit. Sie bezieht sich dabei auf die aktuellen
Außenprobleme der Patienten und darauf, wie diese sich in den Beziehungen innerhalb der Gruppe wiederholen. Es sind also Inhaltsdeutungen (s. oben). Die Deutung von Übertragungen regressiver Beziehungsmuster auf Mitpatienten oder auf die Gesamtgruppe steht dagegen nicht im Zentrum der tiefenpsychologischen Gruppenpsychotherapie.
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
Tiefenpsychologische Paarund Familientherapie
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In der sog. analytischen Paar- und Familientherapie geht man davon aus, dass die Aufdeckung und Durcharbeitung langfristiger Familienkonflikte zu einer kontinuierlichen und schrittweisen Veränderung der Beziehungen innerhalb der Familie führt. Methodisch steht dabei die Aufarbeitung der Familiengeschichte und der Beziehungen über die Generationen hinweg im Mittelpunkt (Richter 1967, 1970). Bei der Behandlung neurotischer Paarkonflikte wird die Aufarbeitung der Kollusionen (Willi 1978), also der wechselseitigen Übertragungen zwischen Partnern, in den Mittelpunkt gestellt. Übertragungen innerhalb der Familie und zwischen Partnern ziehen Einstellungs- und Wahrnehmungsverzerrungen nach sich: Der erwachsene Sohn sieht die Mutter mit den Augen des Kindes, ihre Anteilnahme erscheint ihm als infantilisierende Gängelung und Einmischung. Die Frau überträgt auf ihren Mann die Enttäuschung durch den Vater – nichts kann er ihr recht machen. Aber auch die Eltern können bestimmte Erwartungen, z. B. nach Fürsorge und Liebe, die in der Beziehung zu den eigenen Eltern unerfüllt blieben, auf die eigenen Kinder übertragen. Die Bewusstwerdung und Auflösung solcher Übertragungen ist das Ziel der analytischen Paar- und Familientherapie.
Vorgehen Die Sitzungen finden wöchentlich bis 14-tägig meist über einen Zeitraum von 2–3 Jahren statt. Technisch geht man von der familientherapeutischen Grundregel (Boszormenyi-Nagy u. Spark 1973) aus: Alle sollen offen über alle Themen miteinander sprechen, v. a. über die bisher vermiedenen Themen. In weitgehend unstrukturierten Gesprächen entstehen charakteristische Übertragungs-Gegenübertragungs-Reaktionen, sowohl innerhalb der Familie als auch gegenüber den Therapeuten. Deren Deutung ruft meist intensive angst- oder schambegründete Widerstände hervor, deren Durcharbeitung einen wesentlichen Teil der Behandlung ausmacht. Der Therapeut fungiert in erster Linie als Vermittler eines Familiendialogs, der eine Begegnung zwischen den Beteiligten ermöglichen soll. Es handelt sich im Sinne der hier verwendeten Systematik also um ein tiefenpsychologisches Verfahren, da die Übertragungen zwischen den Familienmitgliedern im Zentrum stehen und nicht die Übertragungen auf den Familientherapeuten.
Indikation Der Ansatz stellt relativ hohe Anforderungen an die Motivation und Veränderungsbereitschaft des Paares bzw. der Familie. Er wird heute bevorzugt zur Bearbeitung von aktuellen Partnerschaftsproblemen und umgrenzten Familienkonflikten, z. B. Ablösungskonflikten zwischen
den Generationen, angewandt. Die typischen familientherapeutischen Indikationen, insbesondere verkrustete Kommunikationsstörungen und ausgeprägte wechselseitige Abhängigkeiten in Familien mit schwerkranken Indexpatienten, sind heute dagegen das bevorzugte Arbeitsfeld der systemischen (Harley 1976) und strukturellen (Minuchin 1974) Familientherapie.
Tiefenpsychologische Spezialverfahren Während in der ambulanten Tätigkeit psychotherapeutisch arbeitender Ärzte die tiefenpsychologische Psychotherapie in Form einer reinen Verbalbehandlung im Vordergrund steht, finden im Rahmen von Institutionen, wie z. B. Psychotherapiekliniken, verschiedene Formen von tiefenpsychologischen Spezialverfahren Anwendung. Zu ihnen gehören die tiefenpsychologische Musiktherapie, Gestaltungstherapie, Bewegungstherapie usw. Sie sind von einer reinen Beschäftigungstherapie (Werkoder Arbeitstherapie) zu unterscheiden. Das Kennzeichen der tiefenpsychologischen Spezialverfahren ist die Verwendung von speziellen Techniken (malen, musizieren, sich bewegen), die eine Abreaktion von Gefühlen (Katharsis), den körperlichen Ausdruck und die körperliche Erlebnisfähigkeit, die schöpferische Gestaltung von Erlebnis und Empfindung oder das Phantasieerleben fördern und anregen. Diese Techniken stützen einerseits das Ausdrucks- und Erlebnispotenzial, richten sich andererseits auf die Verstärkung und deutlichere Wahrnehmung latenter (Vorbewusster) und unbewusster Erlebnisweisen.
Vorgehen Technisch wird i. Allg. so vorgegangen, dass zunächst die speziellen Techniken (malen, musizieren, sich bewegen) angewandt werden und anschließend tiefenpsychologische Nachbesprechungen stattfinden. Die Nachbesprechung konzentriert sich bei den tiefenpsychologischen Spezialtherapien auf die Aufarbeitung von Erfahrungen, Empfindungen und Erlebnissen, die durch die speziellen Techniken angestoßen sind. Im Gruppengespräch bezieht sie zusätzlich die Gruppendynamik mit ein. Es sollten möglichst viele Erfahrungen zur Sprache kommen. Einfälle dazu, Parallelen im aktuellen Leben und lebensgeschichtliche Hintergründe werden besprochen. Probleme einzelner bewirken im Gruppengespräch die Mitbeteiligung anderer. Dadurch kann es zu neuen Sichten der eigenen Situation kommen und schließlich zur Neuorientierung im Selbsterleben.
729 30.5 · Klinische Anwendungen
Erlebnisbezogene Therapieformen In einer umfassenden Darstellung der von der Psychoanalyse abgeleiteten Behandlungsverfahren sind schließlich auch eine Reihe von erlebnisbezogenen Therapieformen zu nennen, die ihren tiefenpsychologischen Ansatz allerdings nurmehr in z. T. begrenzter Weise erkennen lassen. Hierzu gehören insbesondere die konzentrative Bewegungstherapie (KBT; Stolze 1959) als eine tiefenpsychologische Körpertherapie, die katathym-imaginative Psychotherapie (KIP), früher »katathymes Bilderleben« oder »Psychotherapie mit dem Tagtraum« genannt (Leuner 1985), als eine spezielle tiefenpsychologische Imaginationstherapie sowie das Psychodrama (Moreno 1959). Sie haben sich jedoch in deutlicher Abgrenzung von der Psychoanalyse weiterentwickelt und inzwischen eigenständige Methoden hervorgebracht.
30.5
Klinische Anwendungen
Die psychodynamische Psychotherapie ist ein methodenbezogener Behandlungsansatz, der auf Persönlichkeitsfaktoren der behandelten Patienten zentriert und primär nicht auf bestimmte klinische Fragestellungen. Dementsprechend wird im Rahmen einer selektiven Indikationsstellung für psychodynamische Behandlungen, zumindest bei neurotischen Symptomneurosen und Persönlichkeitsstörungen, die Frage geklärt, ob der psychodynamische Ansatz geeignet ist, einem bestimmten Patienten aufgrund seiner inneren Verfassung zu helfen. Konkret heißt das, ob seine Psychodynamik im Rahmen einer psychodynamischen Therapie wahrscheinlich im Sinne einer progredienten Entwicklung verändert werden kann.
30.5.1
Psychodynamische Psychotherapie bei neurotischen Störungen
Diese Sichtweise impliziert für die Neurosenbehandlung, dass der psychodynamische Ansatz weniger als z. B. die Verhaltenstherapie auf bestimmte Syndrome hin ausgerichtet ist. Behandlungserfahrungen und daraus abgeleitete Leitlinien für die Therapie bzw. Modifikationen bei der Anwendung der Methode beziehen sich daher auch nicht primär auf klinisch-deskriptive Phänomene und Fragestellungen, also nicht auf Symptome und Syndrome, sondern auf entwicklungsdiagnostische Aspekte der behandelten Persönlichkeiten. Dazu wurden bereits im Zusammenhang mit der psychoanalytischen Methodik auch die Strategien der psychodynamischen Behandlung bei Patienten des niederen, mittleren und höheren neurotischen Strukturniveaus dargestellt. Diesen Ansatz haben
wir an anderer Stelle (Ermann 2005) ausführlich dargelegt. Es sei nochmals betont, dass Psychosen nicht ohne Weiteres in dieses entwicklungsdiagnostische Konzept eingeordnet werden können, sondern (ähnlich wie Psychosomatosen) als besondere Formen der Dekompensation aus allen 3 Strukturniveaus hervorgehen können.
Störungen auf höherem Strukturniveau »Klassische« neurotische Störungen, d. h. Störungen auf höherem Strukturniveau, beruhen auf neurotisierenden Erfahrungen nach Abschluss der basalen Ich- und Selbstentwicklung. Es handelt sich also um relativ reife, entwicklungspsychologisch späte Entwicklungsstörungen, die durch Verdrängung unverarbeiteter Konflikte der präödipalen und ödipalen Entwicklungsphasen bedingt sind. Als pathognomonisches Merkmal ergibt sich daraus die Unfähigkeit, mit bestimmten, die individuelle Entwicklung prägenden Konflikten angemessen umzugehen. Darin liegt die Disposition, in entsprechenden Konfliktsituationen zu dekompensieren und Symptome zu entwickeln. Die entwicklungsdiagnostischen Kriterien der Neurosen auf höherem Strukturniveau sind in der nachfolgenden Übersicht zusammengestellt. Aus der Phänomenologie eines Syndroms kann man nicht ohne Weiteres schließen, welches Strukturniveau der Persönlichkeit bzw. der Symptombildung zugrunde liegt. Es gibt aber Erfahrungswerte, die als erster Anhalt dienen können. Danach erweisen sich die meisten leichteren und mittelschweren Zwangsstörungen, die meisten einfachen (isolierten) Phobien sowie viele Konversionsstörungen als »klassische« neurotische Störungen. Die früher als Charakterneurosen bezeichneten hysterischen, zwangsneurotischen und depressiven Persönlichkeitsstörungen mit ihren vielfältigen Beziehungsproblemen, Erlebnis- und Verhaltensstörungen sind ebenfalls dieser Strukturebene zuzuordnen.
Differenzialtherapie Für diese Erkrankungen ist die analytische Psychotherapie als Einzel- oder Gruppentherapie die klassische Indikation. Bei umgrenzter Konfliktdynamik kommt auch eine Fokalbehandlung in Betracht. In leichteren Fällen kann eine tiefenpsychologische Einzel- oder Gruppentherapie zu einem angemessenen Ergebnis führen. Für Beziehungsprobleme in Partnerschaften, die sich speziell aus einer der o. a. Persönlichkeitsstörungen ergeben, kann eine tiefenpsychologische Paartherapie indiziert sein. Die speziellen Indikationen wurden bei der Darstellung der Verfahren erörtert. Die Prognose ist davon abhängig, wie sehr die Störung chronifiziert ist, und von der neurotischen Verwurzelung, d. h. von den Folgen der neurotischen Entwicklung in Hinblick auf Partnerwahl, Familiendynamik, Berufswahl, Arbeitsfähigkeit usw.
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
Entwicklungsdiagnostik der klassischen Neurosen. Neurosen auf höherem Strukturniveau. (Ermann 1999) Selbst- und Objektrepräsentanzen sind klar voneinander getrennt, integriert, werden ganzheitlich erlebt und enthalten realistische Vorstellungen von der eigenen Person und von Bezugspersonen; sie sind durch Ambivalenz (sowohl gut als auch böse) geprägt Objektkonstanz schafft die Voraussetzungen, dass die Vorstellungen vom Selbst und von anderen beim Alleinsein aufrechterhalten werden Objektbeziehungen: Es bestehen Beziehungen zu mehreren Personen. Im präödipalen Stadium wird deren Beziehung untereinander noch nicht erkannt,
Spezielle Aspekte Angsterkrankungen. Bei ihnen ist das Ausmaß der Angst-
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bindung i. Allg. ein Hinweis auf das Strukturniveau. Umgrenzte Angst, z. B. in Gestalt isolierter Phobien, weist auf ein reifes Strukturniveau hin. Es ist zumeist mit unbewussten Sexual- und Aggressionskonflikten verknüpft. Daraus ergeben sich die o. a. Indikationen. Hoffmann u. Bassler (1995) haben für die Behandlung solcher Angstpatienten eine spezielle psychodynamische Fokaltherapie entwickelt. Im Rahmen tiefenpsychologisch orientierter stationärer Behandlungen wird die Konfliktklärung, einer alten Empfehlung von Freud folgend, mit gezielter Angstexposition verknüpft. Zwangsneurosen. Für Zwangsstörungen im Sinne klas-
sischer Neurosen gilt die frequente analytische Einzelbehandlung als bevorzugte Indikation im Rahmen der psychodynamischen Verfahren. Das Ziel ist die Auflösung der Schuldgefühle und Über-Ich-Konflikte um Anpassung und Expansivität (Quint 1988). Allerdings gestalten die Behandlungen sich oft zäh und stellen starke Belastungen für den Behandler dar. Insbesondere sind die Gegenübertragungen auf die »anale Aggressivität« der Patienten schwierig. Außerdem führen die Selbstauflösungsängste bei Lockerung der Abwehr im Verlauf wirksamer analytischer Behandlungen oft zu schwierigen entwicklungsdiagnostischen Fragen: Manche zunächst an sich höher strukturierte Patienten regredieren im Verlauf einer psychoanalytischen Behandlung auf Borderline-Niveau. Klassische Konversionsneurosen. Sie beruhen zumeist auf
Über-Ich-Konflikten, die auf den Körper projiziert werden, sodass eine symbolische körperliche Inszenierung entsteht. Für die Behandlung muss man sich (und dem Betroffenen) immer wieder vergegenwärtigen, dass Konversionssymptome nicht simuliert werden. Bei der Bearbeitung der individuellen Konfliktdynamik der Betrof-
später wird sie anerkannt. Dadurch wird das Erleben von Eifersucht und Rivalität möglich Im Trieberleben dominieren phallisch-narzisstischer Exhibitionismus und später genitale Sexualität, bei regressiver Abwehr anal-aggressive oder orale Triebbedürfnisse Die zentralen Ängste umfassen zunächst Angst vor Liebesverlust und Angst vor Strafe, später Gewissensangst Abwehr: Verdrängung und andere reifere Abwehrmechanismen sowie Regression des Trieb- und Beziehungserlebens
fenen muss man bedenken, dass sie es als Bloßstellung und Beschämung erleben können, wenn sie ihre somatischen Inszenierungen aufgeben. Bei der Behandlung von Konversionsneurosen ist besonders der sog. sekundäre Krankheitsgewinn zu berücksichtigen, der gerade bei diesen dramatisch erscheinenden Störungen zu einer intensiven Rückwirkung auf die gesamte Familie und zur Ausbildung einer sekundären Familienneurose führen kann. Bei der Indikationsstellung ist daher die Frage einer einleitenden oder begleitenden Familienintervention zu bedenken.
Störungen auf mittlerem Strukturniveau Das mittlere Strukturniveau ist durch Selbstwertprobleme bei sonst konsolidierter Ich-Entwicklung gekennzeichnet. Pathognomonisch ist die Unfähigkeit, unter Belastungen wie Kränkungen, Enttäuschungen oder Krisen ein realistisches Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten sowie die Tendenz, sich zur Stabilisierung der Anerkennung durch andere Menschen zu bedienen. Durch Idealisierungen entstehen fragile narzisstische Bindungen, die leicht an reaktiven Entwertungen wieder zerbrechen und dann durch Selbstidealisierungen (Größenselbst) kompensiert werden. Diese Störung ist das Ergebnis einer unzureichenden Autonomieentwicklung. Die entwicklungsdiagnostischen Kriterien der narzisstischen Störungen sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt. Narzisstische Pathologie. Die Pathologie des mittleren
Strukturniveaus wird als narzisstische Pathologie von der reifen und der Borderline-Pathologie abgegrenzt (Ermann 2007). Sie manifestiert sich in narzisstischen Persönlichkeitsstörungen und Krisen. Ebenso sind die typischen depressiven Neurosen und ein großer Teil der Angstneurosen Störungen auf mittlerem Niveau. Auch der größere Teil der Somatisierungsyndrome ist dieser Gruppe zuzurechnen.
731 30.5 · Klinische Anwendungen
Entwicklungsdiagnostik der narzisstischen Störungen. Neurosen auf mittlerem Strukturniveau. (Ermann 1999) Selbst- und Objektrepräsentanzen: Es besteht ein weitgehend kohärentes Selbst. Das labile Selbstgefühl wird durch die Anwesenheit stützender, bewundernder Selbstobjekte gesichert; Objektabhängigkeit: Die Vorstellung von anderen und ihrer stützenden Funktion ist beim Alleinsein bedroht, kann aber sonst i. Allg. aufrechterhalten werden; die Selbst- und Objektrepräsentanzen bleiben auch unter Belastungen klar voneinander getrennt; sie sind weitgehend integriert und durch Ambivalenz (sowohl gut als auch böse) geprägt, werden jedoch unter Belastungen durch Idealisierung und Entwertung einseitig wahrgenommen.
Therapieziele und Vorgehen Patienten aus dieser Gruppe machen heute den größten Teil der Klientel in der psychoanalytisch ausgerichteten Praxis aus. Das Behandlungsziel ist eine Verbesserung der Lösung von Konflikten, die immer wieder in Selbstwertkrisen hineinführen. Es handelt sich dabei v. a. um Krisen, die durch Kränkungen entstehen und Wut und andere aggressive Affekte hervorrufen. Im Zentrum der Behandlungen steht daher eine behutsame Aufdeckung und Bearbeitung dieser aggressiven Affekte, im analytischen Verfahren speziell die Bearbeitung der Verknüpfung von Übertragungskrisen und der Labilisierung der Selbstwertregulation. Cave Diese Behandlungen setzen allerdings voraus, dass keine akute Suizidalität besteht. Andernfalls wäre diese zunächst im Rahmen einer Krisenintervention zu behandeln. Wenn im Verlauf der Behandlung Suizidalität auftritt, müssen besondere Vereinbarungen in Hinblick auf Verfügbarkeit getroffen werden und ggf. – neben medikamentöser Stützung – eine Klinikaufnahme erfolgen.
Spezielle Aspekte Narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Bei den narziss-
tischen Persönlichkeitsstörungen, die klinisch zumeist durch Beziehungs- und Arbeitsprobleme sowie wiederkehrende suizidale Krisen geprägt sind, ist die psychoanalytische Einzeltherapie die maßgebliche Behandlungsform. Die langfristige Zuwendung in einer exklusiven Beziehung und die geduldige Bearbeitung der immer wie-
Objektbeziehungen sind nach narzisstischen Bedürfnissen strukturiert. Sie werden dyadisch erlebt, das Eigenleben der Beziehungspartner und ihre Beziehung untereinander werden verleugnet. Die zentralen Ängste sind Ängste, das Selbstobjekt und seine Bewunderung zu verlieren (Objektverlustangst), auf einer tieferen Ebene Fragmentierungsängste. Abwehr: Idealisierung und Entwertung der eigenen Person und anderer, Identifizierung mit Erwartungen anderer, Kontrollieren ihrer Gefühle, Verdrängung und Verleugnung von Kränkungen
der auftretenden Kränkungs- und Trennungsproblematik im Rahmen der narzisstischen Übertragungen führt auf Dauer zu einer Stabilisierung des Selbstwertgefühls und einem Zuwachs an Autonomie (Kohut 1973). Depressive Neurosen. Bei neurotischen depressiven Stö-
rungen besteht das Ziel darin, neben der stets auch vorhandenen narzisstischen Problematik einen Zugang zu unbewussten Versorgungswünschen und destruktiven Affekten wie Hass und Neid zu erlangen und einen angemessenen Umgang mit aggressiven und oralen Impulsen zu schaffen. Dazu eignet sich die analytische Einzel- oder Gruppentherapie. In leichteren Fällen kann man sich auf tiefenpsychologische Einzel- oder Gruppenbehandlungen beschränken. Somatisierungsstörungen. Unter den psychodyna-
mischen Verfahren ist für Patienten mit Somatisierungssyndromen die analytische Gruppenpsychotherapie das Verfahren der Wahl. Bei diesen Patienten, die stark zur Verleugnung von Konfliktspannungen neigen, fördert die Konfrontation und Identifizierung mit anderen Patienten einen Zugang zum introspektiven Erleben und bringt nützliche Anstöße für die Autonomieentwicklung. Im Zentrum der Behandlung steht i. Allg. die Analyse der auslösenden Belastungssituation, sodass man sich bisweilen auch auf eine Fokalbehandlung beschränken kann.
Störungen auf niederem Strukturniveau Das niedere Strukturniveau beruht auf einer Störung der Frühentwicklung. Diese kann durch Traumatisierungen im frühen und späteren Leben zusätzlich verstärkt sein. Sie bedingt, dass frühe sensomotorische und affektive Re-
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
gulationsstörungen im Rahmen von Dekompensationen und Regressionen aktiviert werden und die Beziehungsgestaltung überlagern. Aufgrund der Entwicklungsstörung gibt es im psychischen Raum weder eine markante Unterscheidung zwischen der eigenen Person und anderen noch eine Integration der verschiedenen, z. T. widersprüchlichen Aspekte in der Wahrnehmung und Vorstellung von einem Selbst und anderen.
Pathognomonisch sind daher Spaltungen, d. h. Polarisierungen im Wahrnehmen, Denken und Fühlen, sowie eine Identitätsdiffusion (Kernberg 1975) in Gestalt unkonturierter Selbst- und Objektvorstellungen (s. Übersicht). Als weiteres Merkmal kommt eine allgemeine Ich-Schwäche mit Impulsivität, Affektlabilität und geringer Frustrationstoleranz hinzu.
Entwicklungsdiagnostik der Borderline-Pathologie. Neurosen auf niederem Strukturniveau. (Ermann 1999)
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Selbst- und Objektrepräsentanzen: Die Grenze zwischen dem Selbst und den anderen kann unter Belastungen verschwimmen die Vorstellungen von sich selbst und anderen sind durch Spaltungen in Nur-Gut oder Nur-Böse gekennzeichnet sie sind widersprüchlich und können kaum vermittelt werden (Identitätsdiffusion) sie sind labil. Unter Belastung geht die Vorstellung von sich selbst verloren, ebenso die Vorstellung von anderen, wenn sie nicht real anwesend sind (mangelnde Konstanz der Selbst- und Objektrepräsentanzen) Objektangewiesenheit: Bei Abwesenheit »guter« Personen werden destruktive Objektvorstellungen übermächtig und es entsteht die Gefahr der Desintegration Die Objektbeziehungen sind monadisch bzw. dyadisch; »dritte« Personen dienen der Nähe-DistanzRegulation (Pseudo-Ödipuskomplex).
Borderline-Pathologie Klinisch manifestiert sich die Borderline-Pathologie in einer Vielfalt von Syndromen, die in der Psychiatrie heute überwiegend den schweren Persönlichkeitsstörungen und den Verhaltensstörungen zugerechnet werden. Neben den eigentlichen Borderline-Syndromen im Sinne der Panneurose sind insbesondere autoaggressive Verhaltensstörungen, Sucht und Abhängigkeitsstörungen zu nennen. Aber auch viele dissoziative Störungen, Essstörungen, Angstsyndrome (v. a. mit diffuser Angst), Zwangssyndrome und Schmerzsyndrome sowie einige depressive Syndrome sind unter entwicklungsdiagnostischen Aspekten dem niederen Strukturniveau zuzuordnen.
Verschiedene Behandlungsansätze Auf die besonderen Anforderungen dieser Patientengruppe an eine psychoanalytisch begründete Behandlung ist im Zusammenhang mit der Darstellung der Behandlungsverfahren mehrfach hingewiesen worden. Das Pro-
Zentrale Ängste sind die Verlassenheits-, Verfolgungs- und tieferliegende Desintegrationsängste: Bei Wahrnehmung der Getrenntheit treten Verlassenheitsängste auf sie werden zunächst durch Wünsche, mit anderen zu verschmelzen, abgewehrt da durch Wut und Hass zugleich Angst vor anderen entsteht, wird ein eigentlich sekundärer Konflikt zwischen Verschmelzungswünschen und Verfolgungsängsten geschaffen Abwehr: Affektabwehr und Abwehr beängstigender Vorstellungen und Wahrnehmungen durch Spaltung, Projektion und projektive Identifikation, Introjektion, Verleugnung, Sexualisierung Im Trieberleben dominiert eine impulsive orale und oral-aggressive Triebhaftigkeit
blem besteht darin, einerseits der Impulsivität und dem destruktiven Agieren einen tragfähigen Behandlungsrahmen entgegensetzen zu müssen und andererseits über rein psychoedukative Maßnahmen hinaus einen Entwicklungsraum zu schaffen, der letztlich zu einer Überwindung der Entwicklungsdefizite beiträgt. Diese schwierige Aufgabe hat dazu geführt, dass in der Borderline-Behandlung wie in keinem anderen Bereich der psychodynamischen Therapie stark divergierende methodische Ansätze zum Tragen kommen. Unveränderte analytische Methode. Einige dieser Ansät-
ze verwenden die analytische Methode mehr oder weniger unverändert und behandeln Borderline-Patienten wie Neurotiker, z. T. in besonders zeitintensiven, d. h. hochfrequenten Settings (Rosenfeld 1981). Dabei geht es um die Klärung und Aufarbeitung der Borderline-spezifischen Objektbeziehungen im Kontext der Übertragung.
733 30.5 · Klinische Anwendungen
Diese Behandlungen sind z. T. über viele Jahre angelegt. Sie durchlaufen Phasen starker Regression, die Patienten und Behandler an die Grenze ihrer Tragfähigkeit führen, mit tiefer Depression und psychotischen Verzerrungen der Übertragung. Das Ziel ist die Durcharbeitung und Überwindung der schizoiden Position (Klein 1946), also eine Reifung und Normalisierung der psychischen Struktur. Stärkung des Ichs. Andere Behandlungsansätze wie die interaktionelle, die dynamische und die expressive (übertragungsfokussierte) Psychotherapie betonen die Ichstrukturellen Störungen der Patienten und arbeiten mit Konzepten, welche die Ich-Defizite substituieren. Technisch werden außerdem bevorzugt Konfrontationen und Klarifikationen eingesetzt. Dabei verwendet insbesondere die übertragungsfokussierte Psychotherapie mit ihrer Zentrierung auf die Einhaltung eines Behandlungspaktes und die Rahmenbedingungen der Therapie deutlich verhaltenstherapeutisch geprägte Elemente. Diese Behandlungen benutzen, jedenfalls zur Behandlungseinleitung, häufig auch den Rahmen einer Psychotherapieklinik, in der das Borderline-spezifische Agieren gut beobachtet, kontrolliert und bearbeitet werden kann. Differenzialindikation. Das Nebeneinander verschiedener
psychodynamischer Verfahren führt zur Frage der Differenzialindikation in der Borderline-Therapie. Hier fehlen noch empirische Studien. Aus klinischer Sicht ist das entscheidende Kriterium die Ich-Stärke, speziell in Hinblick auf die Impulskontrolle. Wenn ausgeprägte Ich-Defizite erkennbar sind, wird ein therapeutisches Arbeitsbündnis und ein auf Deutungen zentriertes Vorgehen zugunsten Ich-stützender Techniken, zumindest bis zur Etablierung stabilerer Ich-Funktionen, zurücktreten.
30.5.2
Der psychodynamische Ansatz für das Verständnis und die Behandlung von Psychosen
Psychodynamische Aspekte der Psychosen Die psychodynamisch orientierte Psychosentherapie nahm um 1910 im Züricher »Burghölzli« ihren Anfang und fand mit den Pionierarbeiten von Paul Federn, einem Freud-Schüler, eine erste Konzeptualisierung. Ihre »große Zeit« waren die 1940er und 1950er Jahre, als insbesondere unter dem Einfluss von Frieda Fromm-Reichmann, Searles, Sullivan und der interpersonellen Schule der amerikanischen Psychoanalyse intensive und langfristige stationäre und ambulante analytisch orientierte Behandlungen psychotischer Patienten durchgeführt wurden. Seit der Einführung der Neuroleptika und dem Rückgang des Einflusses der Psychoanalyse auf die amerikanische Psychiatrie spielten solche Behandlungen eine immer geringere Rolle.
Diese Entwicklungen fanden auch im deutschsprachigen Raum einen Niederschlag, wo nach dem Zweiten Weltkrieg Erfahrungen mit Psychosenbehandlungen gesammelt wurden, die aber nicht zu einer anhaltend konsolidierten Entwicklung führten. Erst in neuerer Zeit ist hier durch den Einfluss insbesondere von Benedetti (1987) und Mentzos (1991) ein wieder wachsendes Interesse an der psychodynamischen Psychosenbehandlung zu verzeichnen, das u. a. in der Einrichtung einer überregionalen spezifischen Weiterbildung in München Ausdruck findet. Einen umfassenden Überblick über den Stand der Entwicklung geben Hutterer-Kirsch (1996) und Müller u. Matejek (2000).
Psychodynamische Modelle Nach Mentzos (1991) gibt es 3 traditionelle psychodynamische Ansätze für das Verständnis von Psychosen: 1. Das Konflikt-Abwehr-Konzept: Die Psychose ist die Folge einer Konfliktabwehr. 2. Das Ich-psychologische Konzept: Die Psychose, insbesondere die Schizophrenie, ist die Folge einer konstitutionellen oder erworbenen Ich-Schwäche. 3. Das objektbeziehungstheoretische Konzept: Störungen der basalen Beziehungen führen zu einer Defizienz der Selbst- und Objektrepräsentanzen, die u. a. als Ich-Schwäche imponiert und sich im psychotischen Symptom manifestiert. In allen 3 Konzepten werden Psychosen als eine besondere Form der Dekompensation der präpsychotischen Persönlichkeit betrachtet, die sich durch den psychotischen Verlust des Realitätsbezuges auszeichnet. Ätiologisch erscheint es heute aus psychodynamischer Sicht plausibel, für diese Art der Dekompensation i. Allg. eine somatische Grundlage im Sinne einer »Vulnerabilität« anzunehmen und die psychodynamischen Faktoren, ähnlich wie bei den Psychosomatosen, als Kofaktoren für die Symptombildung bzw. für ihre Aufrechterhaltung zu betrachten. Mentzos (1967) hat umfangreiche empirische Studien zur Psychodynamik der Psychosen durchgeführt. Er betrachtet psychotische Symptome, unabhängig von der Frage Somato- vs. Psychogenese, unter der Perspektive, dass es sich um eine Reaktion auf biologische Defekte und intrapsychische Spannungen handelt (1986, 1991). Psychotische Symptome sind für ihn primitive Bewältigungs-, Abwehr- und Kompensationsprozesse oder z. T. auch die Folge von deren Zusammenbruch. Die zentralen dynamischen Aspekte sind dabei die Einschränkung der Selbst-Nichtselbst-Unterscheidung bis hin zum Erleben von Wahn und Halluzinationen (Frosch 1983) sowie die Fragmentierung des Selbst (Kohut 1973) und die Reaktionen darauf im Sinne von Externalisierungen des zugrunde liegenden Konflikts.
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
Psychodynamische Behandlung der Psychosen
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Die psychodynamische Behandlung von Psychosen zentriert heute, von einem objektbeziehungstheoretischen Ansatz ausgehend, primär auf alternative Beziehungserfahrungen im Kontext der psychotherapeutischen Beziehung. Daher steht der haltgebende, annehmende Aspekt der therapeutischen Beziehung im Vordergrund. Die Inszenierungen im therapeutischen Prozess, die sich aus der Art der Beziehungsgestaltung ergeben, eröffnen einen Zugang zur Psychodynamik der Patienten. Um diese Phänomene zu entschlüsseln, wird die Gegenübertragung besonders beachtet. Sie stellt zumeist einen Abkömmling aus spiegelbildlichen Abbildungen der inneren Befindlichkeit des Patienten dar. Manche Behandlungskonzepte beschränken sich auf dieses Vorgehen und arbeiten mit niederer Frequenz und langer Dauer. Andere arbeiten zeitintensiver und gelangen durch die damit verknüpfte Intensivierung der therapeutischen Beziehung im späteren Verlauf zu einer analytischen Bearbeitung der Übertragungsprozesse. Dabei konzentrieren die Übertragungsdeutungen sich auf die Manifestation der psychotischen Widersprüchlichkeit in der therapeutischen Beziehung. Die lebensgeschichtliche Deutungsperspektive und die Symbol- oder Triebdeutung von psychotischen Erlebnisinhalten sind dabei i. Allg. nicht indiziert. Entwicklung reiferer Beziehungsformen. Die allgemeine
Behandlungsstrategie besteht bei der heutigen psychodynamischen Behandlung von Psychosen darin, die vorsprachlich in der therapeutischen Beziehung inszenierten psychotischen Beziehungsformen durch Substitution oder Deutung zu korrigieren und ihre Nachreifung anzuregen und sie ggf. in eine sprachliche, symbolisierte Form zu überführen. Diese Strategie beruht auf der Vorstellung, dass reifere Beziehungsformen, die in einer entwicklungspsychologisch konzipierten Interaktion entwickelt werden, die psychotischen Muster überwinden bzw. entbehrlich machen. Dabei wird der zeitgemäße psychoanalytische Ansatz von der transaktionalen Bedeutung der Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik (Bion 1962) zugrunde gelegt. Sein Kern ist die Auffassung, dass die Annahme und stellvertretende Bearbeitung der psychopathologischen Erlebnisse durch den Psychoanalytiker ein wesentlicher Wirkfaktor der psychodynamischen Behandlung ist. Ob diese Transformation nun in Übertragungsdeutungen oder besser in einem nicht-deutenden förderlichen Umgang mit der therapeutischen Beziehung erfolgt, ist Gegenstand einer heute noch nicht entschiedenen Diskussion (Cremerius 1979). Behandlungskonzepte. Im Hinblick auf praktische Be-
handlungskonzepte gibt es gegenwärtig in der psychodynamischen Behandlung von Psychotikern keinen »Standard«, sondern mehr oder weniger personengebundene
Erfahrungswerte und daraus abgeleitete Indikationen. Dazu werden hier die Konzepte von Benedetti und von Mentzos dargestellt, die im deutschsprachigen Bereich derzeit die größte Aufmerksamkeit finden.
Behandlungsmethode von Benedetti Benedetti hat sich insbesondere mit schizophrenen Patienten befasst. In seiner Behandlungsmethode (Benedetti 1983, 1987) nimmt seine Auffassung Gestalt an, dass der Psychotherapeut sich bei der Behandlung in die psychotische Welt des Patienten hineinzubegeben und sich den psychotischen Phänomenen auszusetzen habe. Er spricht von dualisierter Psychose und sieht den Therapeuten als ein Übergangssubjekt, das eine heilsame Verschränkung ermöglicht, aus der sich Wachstum, Trennung und Verselbständigung entwickeln können. Mit »dialogischer Positivierung« (s. Übersicht) von psychotischen Erfahrungen beschreibt er einen Prozess der stellvertretenden Verarbeitung von psychotischen Erlebnissen durch den Therapeuten. Er kann es schließlich ermöglichen, dem Patienten ein positives Selbstbild zurückzugeben und ihm Abstand zu seinem psychotischen und destruktiven Erleben zu verschaffen.
Techniken der dialogischen Positivierung. (Nach Benedetti 1987) Befreiung aus Widersprüchen, die im Laufe der Lebenserfahrung verinnerlicht wurden Richtigstellung psychotischer Auffassungen und Aussagen des Patienten durch korrigierende Phantasien und Assoziationen des Psychotherapeuten Zulassen einer Identifizierung mit der psychotischen Welt des Patienten, um Gefühle einer mitmenschlichen Symmetrie in ihm entstehen zu lassen Zulassen und aushalten von Kontakt- und Kommunikationsstörungen, ohne sich entwertet oder entmutigt zu fühlen Einbeziehung der eigenen »tragischen Existenz« in den Prozess des Verstehens, um Zugang zu der »tragischen Gestalt« der Psychose zu erlangen Bewältigung negativer Gegenübertragungen und Vermeidung aktiv beschützender Haltungen angesichts der psychotischen Destruktivität, um distanzierende Prozesse zu ermöglichen
Dieses Konzept stellt unerhört große Anforderungen an die Ausbildung, Motivation und Tragfähigkeit des Psychotherapeuten. Aber auch der Patient muss wenigstens zeitweise bereit und in der Lage sein, das Behandlungsangebot konstruktiv wahrzunehmen und zu verarbeiten.
735 30.5 · Klinische Anwendungen
Behandlungsmethode von Mentzos Mentzos (1986) geht davon aus, dass die Psychosentherapie 2 Aspekte beinhalten muss: Einerseits die Bearbeitung der psychotischen Phänomene in der therapeutischen Beziehung (die sog. Übertragungspsychose) und der damit verbundenen projektiven und identifikatorischen Abwehr- und Bewältigungsformen, andererseits muss die Behandlung über lange Zeit genügend zuverlässigen Halt geben, indem man wohlwollend begleitet, ohne zu hinterfragen und zu deuten. Ein nichtmodifiziertes analytisches Vorgehen, wie es sich unter dem Einfluss von Rosenfeld (1981) z. T. in England entwickelt hat, hält er daher für ebenso unzuträglich wie bloße Stützung oder Bemutterung. Stattdessen vertritt er für die Praxis ein 3-stufiges Modell (Mentzos 1986, 1991): 1. Begleitung über viele Jahre mit 20-Minuten-Gesprächen über das aktuelle Befinden und zwischenzeitliche Ereignisse. Die therapeutischen Interventionen beschränken sich auf klärende Fragen. Therapeutisch maßgeblich ist die Beziehungskonstanz. 2. Psychotherapie mit einer Wochenstunde über mehrere Jahre. Gesprächsinhalt sind aktuelle Probleme und Konflikte, im Wesentlichen also nichtpsychotisches Material, die Interventionen beinhalten vornehmlich Klärung und Erörterung von Lösungsmöglichkeiten, nur gelegentlich Deutungen. Die Übertragung wird angesprochen, wenn stärkere Ambivalenz zum Behandlungshindernis wird. Auch hier ist die Beziehungskonstanz ein zentraler therapeutischer Faktor. 3. Psychotherapie mit 2–3 Wochenstunden über mehrere Jahre. Die Intensivierung der therapeutischen Beziehung erhöht das Ausmaß der psychotischen Übertragung, die nunmehr analytisch bearbeitet wird, ohne dass der haltgebende Aspekt der Beziehung vernachlässigt wird. Die Interventionen beinhalten Benennungen von affektiven Zuständen, die sich in der therapeutischen Beziehung ereignen, und Deutungen der Übertragungspsychose im Hier und Jetzt mit dem Ziel, eine »Entwirrung« des verwirrten Patienten herbeizuführen. Differenzialindikation. Die Frage der Differenzialindi-
kation zwischen diesen Settings kann gegenwärtig nur aus klinischer Erfahrung beantwortet werden: Für leichtere Psychosen mit seltenen Dekompensationen, bei denen auch reifere neurotische Konflikte erkennbar sind, wird das niederfrequente Psychotherapie-Setting empfohlen. Damit wird einerseits die Gefahr zusätzlicher Destabilisierungen gering gehalten, die Stabilisierung zugleich aber durch die Konfliktbearbeitung gefördert. Patienten mit häufigen psychotischen Episoden werden dagegen entweder »nur« niederfrequent begleitet oder intensiver mit Bearbeitung der Übertragungspsychose behandelt. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten wird meistens durch praktische Gesichts-
punkte wie die Verfügbarkeit von Behandlungskapazität bestimmt.
30.5.3
Psychodynamisch orientierte stationäre Psychotherapie
Die Behandlung neurotischer Störungen ist vornehmlich die Aufgabe der ambulanten Fachpsychotherapie. Dabei findet in der Regel ein einziges Behandlungsverfahren über einen bestimmten, meist längeren Zeitraum Anwendung, während der Patient in seiner gewohnten Lebensund Arbeitswelt bleibt. Im Einzelfall kann es aber nützlich sein, den Patienten für einen begrenzten Zeitraum aus seinen konflikthaften täglichen Beziehungen in der Familie und am Arbeitsplatz herauszunehmen und ihn im eigens dazu geschaffenen therapeutischen Milieu einer Psychotherapieklinik stationär zu behandeln. ! Die psychodynamisch orientierte stationäre Psychotherapie eignet sich besonders für Patienten mit seelisch (mit-)bedingten Störungen, deren ambulante Behandlung prognostisch wegen Art, Schwere oder Chronizität der Erkrankung nicht möglich ist oder nicht genügend aussichtsreich erscheint. Sie verknüpft die Wirkungen eines speziellen psychotherapeutischen Milieus mit der Möglichkeit, mehrere Psychotherapieverfahren zu kombinieren. Dieses Angebot unterschiedlicher Ausdrucksformen und Beziehungsebenen provoziert spezifische Grundkonflikte, welche dadurch einer intensiven Bearbeitung zugänglich werden. Dabei finden regelmäßig mehrere Behandlungsverfahren in Kombination miteinander Anwendung (s. Übersicht).
Beispiele für Behandlungsverfahren in der stationären psychodynamischen Psychotherapie Psychodynamische Therapie als Einzel- oder Gruppengespräch Familientherapeutisches Gespräch Sog. Beschäftigungstherapien (»Ergotherapien«): Bewegungs-, Mal- und Gestaltungs- sowie Musiktherapie als tiefenpsychologisch fundierte Spezialverfahren Verhaltenstraining Entspannungsverfahren Sozialtherapeutische Beratungen Andere von der Psychoanalyse abgeleitete Verfahren wie Psychodrama, katathym-imaginative Psychotherapie und konzentrative Bewegungstherapie
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
Kombination mehrerer Verfahren Die Kombination mehrerer Verfahren bietet den Vorteil, im zeitlichen Rahmen von mehreren Wochen oder einigen Monaten selbst bei chronischen Störungen eine Auflockerung rigider Abwehrstrukturen zu erreichen, einen Zugang zu Hintergrundkonflikten der seelisch bedingten Störungen zu eröffnen und zugleich Hilfestellungen bei der Konfliktverarbeitung und -bewältigung zu geben. Cave Die Gefahr liegt in einer Überstimulation, auf die ein Patient mit Verstärkung der Abwehr und Widerständen reagieren kann, oder die zu Komplikationen wie Suizidgefahr, körperlicher Dekompensation oder psychotischen Episoden führen kann.
Psychotherapeutisches Milieu Das spezielle psychotherapeutische Milieu entwickelt sich durch mehrere Faktoren:
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Sondersituation Klinik. Die Aufnahme bedeutet einen Eingriff in das Konfliktfeld. Die Distanz bewirkt zunächst eine Befreiung, aber sie aktiviert auch Trennungsängste sowie Hingabeängste an die neue Umgebung. Die Klinik bietet einen nach außen geschützten Raum mit einem Schonklima, fordert aber auch Anpassung gegenüber Mitpatienten und im Hinblick auf Vorschriften. Therapeutischer Raum. Der Patient ist Teilnehmer an
mehreren Beziehungsfeldern, die sich z. T. überschneiden: Er ist Mitglied der therapeutischen Gemeinschaft, welche von Patienten, Ärzten, Pflegepersonal und Klinikleitung gebildet wird; Mitglied der Patientengruppe der Station; Mitglied von Untergruppen, die zu therapeutischen Zwecken zusammengestellt werden; Mitglied einer Zimmergemeinschaft und schließlich Partner in Zweierbeziehungen, die zu Therapeuten, Pflegekräften und Mitpatienten entstehen. So wird er in ein gruppendynamisches Gefüge eingebunden, das als Hintergrundszene dienen kann, um die innerseelischen Konflikte in Gestalt zwischenmenschlicher Beziehungen und Konflikte darzustellen.
Therapeutisches Prinzip Das therapeutische Prinzip besteht darin, alle Konflikte, die durch die Sondersituation Klinik, durch die Gruppensituation und durch Behandlungsverfahren in Erscheinung treten, und die damit verknüpften Abwehr- und Bewältigungsstrategien für einen Entwicklungsprozess des Patienten nutzbar zu machen (Ermann 1988). Einerseits kommt es darauf an, die konfliktbedingten pathologischen Abwehrprozesse zu mäßigen, andererseits neue Entwicklungsmöglichkeiten anzustoßen. Je nach Art der Störung steht bei Patienten mit Borderline-Pathologie die
Unterstützung reiferer Bewältigungsformen im Vordergrund, bei Patienten mit reiferen neurotischen Störungen die Aufdeckung unverarbeiteter Trieb- und Beziehungskonflikte. Ursprünglich wurden Psychotherapiekliniken in den 1950er und 1960er Jahren eingerichtet, um die damals völlig unzureichende ambulante Versorgungslage zu verbessern. Patienten wurden stationär behandelt, weil keine ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten in ihrer Region verfügbar waren. Inzwischen hat sich die Zahl der niedergelassenen Fachpsychotherapeuten erheblich vergrößert. Damit kommen den Kliniken spezifische Aufgaben als Ergänzung zur ambulanten Versorgung zu.
Indikationen Es bestehen die folgenden spezifischen Indikationen zur psychodynamisch orientierten stationären Psychotherapie (Beese 1978; Janssen 1987): Kriseninterventionen. Die psychodynamisch orientierte Psychotherapie kann zur Krisenintervention bei akuten psychischen Krisen (Panikzustände, Suizidalität) und körperlichen Dekompensationen (Komplikationen bei psychosomatischen Organkrankheiten und Anorexia nervosa) eingesetzt werden, sofern nicht Behandlungen in einer geschlossenen psychiatrischen Station bzw. in einer internistischen Intensivstation erforderlich sind. Ambulant nichtbehandelbare Störungen. Stationäre Psychotherapie ist indiziert bei Störungen, die wegen der Art der Symptomatik nicht ambulant behandelt werden können (z. B. Straßen-, Fahr-, Brückenphobie), mit denen die Kranken nicht im häuslichen Milieu verbleiben können (z. B. bei Zwangsimpulsen gegen Angehörige), oder die neben der psychotherapeutischen Behandlung eine regelmäßige medizinische Überwachung und Mitbehandlung brauchen (z. B. psychosomatische Organkrankheiten). Milieugründe. Patienten in aussichtslosen familiären Verstrickungen, z. B. bei aggressiv ausgetragenen Partnerschaftskrisen, familienneurotischen Verklammerungen oder bei Alkoholismus, Kriminalität und aggressiven Verhaltensstörungen in der Familie bedürfen oft einer stationären Behandlung. Die stationäre Aufnahme ist dabei häufig zum Schutz des Patienten oder um ihm einen Entwicklungsfreiraum zu schaffen, erforderlich. Das häusliche Konfliktfeld darf dabei aber auf Dauer nicht ausgegrenzt bleiben, sondern es muss durch familientherapeutische Interventionen einbezogen werden. Borderline-Behandlungen. Bei Patienten, die in Konflikt-
situationen zu Impulshandlungen (Alkohol- und Tablet-
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tenmissbrauch, Selbstbeschädigung, Weglaufen) neigen und kein stabiles therapeutisches Arbeitsbündnis aufrechterhalten können, kann eine Klinikbehandlung mit ihren Kontrollmöglichkeiten und dem Angebot zum sozialen Lernen stabilisierend auf die Ich-Funktionen einwirken (Lohmer 1988).
5. Essstörungen (F50), 6. Psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (F54), 7. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen (F6), 8. Abhängigkeit und Missbrauch (F1, 55), 9. Schizophrenie und wahnhafte Störungen (F2).
Behandlungsversuche und Behandlungseinleitungen.
Bei Patienten mit unzureichender Motivation für eine ambulante Psychotherapie kann stationär eine Behandlung versucht und begonnen werden. Meistens handelt es sich um Patienten mit Somatisierungsstörungen, bei denen die Vorstellung, körperlich krank zu sein, den Zugang zu den seelischen Konflikthintergründen versperrt. Sie finden durch eine Behandlung in einer Psychotherapieklinik oft den ersten Zugang zu einem Erleben seelischer Probleme, die an der Entstehung ihrer Erkrankungen beteiligt sind.
Übergang von stationär zu ambulant Dieser Indikationskatalog lässt erkennen, dass die psychodynamisch orientierte stationäre Psychotherapie in den meisten Fällen eine Teilbehandlung ist. Sie ist nur solange erforderlich, wie symptomatische, motivationale oder strukturelle Hindernisse bestehen, die eine ambulante Psychotherapie unmöglich machen. Wegen der Gefahr, dass Neurotiker sich durch den Rückzug in die Klinik gern auch vor Konfrontationen mit den Anforderungen und Belastungen der Außenwelt schützen, ist die Klinikbehandlung auch nicht länger als unbedingt erforderlich vertretbar. Als erfolgreich kann eine stationäre Psychotherapie i. Allg. betrachtet werden, wenn nach einigen Wochen oder Monaten der Übergang in eine ambulante Weiterbehandlung möglich wird.
30.6
Wirkungsnachweise psychodynamischer Psychotherapie B. Waldvogel, M. Ermann
Die Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapie ist für ein breites Spektrum an Störungsbildern und Anwendungsbereichen gut belegt. Dies wurde auch von dem durch das deutsche Psychotherapeutengesetz etablierten Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie bestätigt (2005). Der Wissenschaftliche Beirat hat in seiner Stellungnahme für folgende Anwendungsbereiche eine nachgewiesene Wirksamkeit festgestellt: 1. Affektive Störungen (F3), 2. Angststörungen (F40–42), 3. Belastungsstörungen (F43) 4. Dissoziative, Konversions- und somatoforme Störungen (F44, 45, 48),
Der wissenschaftlichen Anerkennung der psychodynamischen Psychotherapie lagen zwei umfangreiche Expertisen zugrunde, die den Forschungsstand zur Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapien zusammenfassen (Richter et al. 2002, Brandl et al. 2004). Bestandteil der von der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie vorgelegten Studie (Brandl et al. 2004, Hau u. LeuzingerBohleber 2006) ist eine methodisch hochwertige Metaanalyse, die in den »Archives of General Psychiatry« plaziert werden konnte (Leichsenring et al. 2004). Aus dieser Metananalyse geht eine hohe Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapien für Angststörungen, depressive Störungen, posttraumatische Belastungssstörungen, Essstörungen, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen und somatoformen Störungen hervor. Nachgewiesen werden konnte ein deutlicher Rückgang der krankheitsspezifischen Symptome, möglicher Begleitsymptome und der mit den psychischen Erkrankungen verbundenen sozialen Beeinträchtigungen. Die Therapieerfolge blieben nach Beendigung der Behandlung nicht nur stabil, sondern nehmen teilweise sogar noch zu. Die erhaltenen Effektgrößen sind mit denen verhaltenstherapeutischer Behandlungen vergleichbar, hier konnte keine signifikante Überlegenheit einer Methode über die andere gefunden werden. Vielmehr erwies sich als ein entscheidender Aspekt des Behandlungserfolges das psychotherapeutische Bemühen eines erfahrenen Behandlers. Dieser letzte Befund bestätigt einmal mehr das allgemeine Psychotherapie-Modell von Orlinsky und Howard (Orlinsky u. Howard 1987, Orlinsky et al. 2004), das die Ergebnisse der Prozess-Outcome-Forschung in der empirischen Psychotherapieforschung zusammenfasst. Danach hängt der Erfolg einer Psychotherapie – vereinfacht – von 4 Faktoren ab: 1. Der Person des Patienten, 2. der Störung des Patienten, 3. der Person des Therapeuten und 4. dem Behandlungsmodell des Therapeuten in Interaktion mit der Fähigkeit des Patienten, von diesem zu profitieren. Obwohl nicht zuletzt mit diesem modellhaften Resümee der bisherigen Psychotherapie-Forschung die einfachen Methodenvergleichsstudien wegen ihrer Unterkomplexität überwunden schienen (Grawe 1988; Stiles u. Shapiro
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
1989), gelten diese unter dem Einfluss des Paradigmas der evidenzbasierten Medizin in der Form randomisierter kontrollierter Studien (randomized controlled trials = RCT) in den letzten Jahren wieder vermehrt als »Goldstandard« der Wirksamkeitsforschung. Auch der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie hat sich dem – in modifizierter Form – angeschlossen und deshalb von seiner wissenschaftlichen Anerkennung der psychodynamischen Psychotherapie Langzeitbehandlungen über 100 Stunden ausgenommen, weil für diese keine Studien mit randomisiertem (oder zumindest parallelisiertem) kontrolliertem Untersuchungsdesign vorliegen.
30.6.1
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Wissenschaftliche Evidenzkriterien in der Psychotherapieforschung
Die ausschließliche oder bevorzugte Anerkennung randomisierter kontrollierter Studien als wissenschaftlicher Nachweis der Wirksamkeit von Therapieverfahren ist heftig umstritten, nicht zuletzt auch unter den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie selbst (Henningsen u. Rudolf 2000; Kriz 2005; Leichsenring u. Rüger 2004). Die höchste Evidenzstufe ausschließlich randomisierten kontrollierten Studien zuzusprechen folgt unverkennbar dem Paradigma der pharmakologischen Forschung. Der pharmakologische Doppelblindversuch zielt darauf, die spezifische Wirkpotenz des Verums von Kontexteffekten zu isolieren. Dies ist auf die Psychotherapieforschung jedoch nicht übertragbar, weil in der Psychotherapie Kontexteffekte und Verum kaum voneinander zu isolieren sind, nicht wenige »Kontexteffekte« hier vielmehr Teil des Verums sind. Wampold (2001) kommt auf der Basis einer hypothesengeleiteten Auswertung aller ihm verfügbaren empirischen Studien der Psychotherapieforschung zu dem Schluss, »that psychotherapy is incompatible with the medical model and that conceptualizing psychotherapy in this way distorts the nature of the endeavour« (S. 2). Eine wesentlich bessere Vorhersagekraft für die Ergebnisse der von ihm gesichteten Studienlage hat ein kontextuelles Modell der Psychotherapie, das dem allgemeinen Psychotherapiemodell ähnelt und in dem Psychotherapie als eine emotional hochbesetzte Beziehung zwischen einer hilfesuchenden Person und einem professionellen Therapeuten angesehen wird, in der Glauben, Hoffnung, Überzeugungen, Erklärungsschemata, Handlungspläne und -prozeduren gemeinsam eine entscheidende Rolle spielen. Die empirische Datenlage spricht nach Wampold (2001) eindeutig dagegen, den EbM-Goldstandard randomisierter kontrollierter Studien auf die Psychotherapieforschung zu übertragen.
Vor- und Nachteile randomisierter kontrollierter Studien Folgende Vor- und Nachteile randomisierter kontrollierter Studien (RCT) werden in der Diskussion gegenübergestellt (Mundt u. Backenstraß 2001; Tschuschke 2005; Westen et al. 2004, Waldvogel 1997): Mit der Maximierung der Reliabilität und internen Validität der Messungen verringert sich deren externe Validität. Die Elimination möglichst vieler »Störvariablen« schmälert nicht nur die Repräsentativität für die klinische Praxis, sondern blendet auch das für den Psychotherapieerfolg nachgewiesenermaßen maßgebliche Zusammenspiel verschiedener Faktoren aus (s. allgemeines Psychotherapiemodell). Die Technik der Randomisierung zur Ausschaltung bzw. Gleichverteilung konfundierender Variablen geht an der realen Vorgeschichte vieler Psychotherapien, dem Inanspruchnahmeprozess vorbei, weshalb viele Patienten die Teilnahme an einer solchen Studie verweigern (Selektionseffekt). Da dieser Inanspruchnahmeprozess bereits vorentscheidend für den späteren Therapieerfolg sein kann (Elkin et al 1999), ist eine randomisierte Zuweisung ohne Mitbestimmungsmöglichkeit des Patienten über einen längeren Zeitraum (= Langzeittherapien) ethisch nicht vertretbar. Die Ermöglichung anspruchsvoller statistischer Signifikanzberechnungen schwächt deren Aussagekraft über deren klinische Relevanz. Die Forderung nach störungsspezifischen Aussagen erfordert den Ausschluss aller Patienten mit Komorbidität, die in der klinischen Praxis eher die Regel denn die Ausnahme darstellen. Durch die Notwendigkeit, die unabhängige Variable »Psychotherapeutisches Vorgehen« durch Standardisierung und Manualisierung des Vorgehens konstant zu halten, wird nicht nur eine artifizielle Laborform der in der Praxis angewendeten Psychotherapien untersucht, sondern auch erneut nachgewiesenermaßen wesentliche Faktoren des Therapieerfolgs von der Untersuchung ausgeschlossen: die Persönlichkeit des Therapeuten und das aus seinen Erfahrungen erwachsene Handlungswissen sowie die jeweilige individuelle Passung zwischen Therapeut und Patient. Fonagy und Roth (2004, S. 312) haben hierzu in einer schlüssigen Analogiebildung ausgeschlossen, dass »Leitlinien, wie ausgereift auch immer, klinische Kompetenz und Erfahrung je ersetzen können werden, genauso wenig wie die Straßenverkehrsordnung geschicktes Fahren ersetzen kann«. Erfahrene Psychotherapeuten, die sich an Manuale halten, erzielen vielmehr schlechtere Behandlungsergebnisse (Lambert u. Ogles 2004).
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Auch für das Gebiet der Psychiatrie und für die Medizin im Allgemeinen werden die Prinzipien der EbM und die Auswirkungen ihrer zunehmenden Dominanz vielfach problematisiert (z. B. Spitzer 2004; Bock 2001; Kienle et al. 2003; Rothwell 2005; Wichert 2005). Die dem RCT-Design eingeräumte Vorrangstellung in der Evidenzhierarchie der EbM benachteiligt systematisch Langzeitbehandlungen, denn mit der Dauer der Behandlung nimmt die Variabilität der experimentellen Bedingungen zu, sodass deren Kontrolle immer schwerer wird, einen erheblich steigenden Aufwand erfordert und somit aus forschungspraktischen und aus forschungsökonomischen Gründen kaum noch realisierbar ist (Seligmann 1996; Waldvogel 1997). Dementsprechend gibt es keine einzige Untersuchung von Langzeitbehandlungen unter RCT-Bedingungen. Die Dauer der in den vorliegenden RCT-Studien untersuchten Psychotherapien liegt deutlich unter dem Durchschnitt der in der klinischen Praxis vorgenommenen Behandlungen (Brockmann et al. 2006). Die Selektion von Behandlungsmethoden für psychische Störungen nach den Evidenzkriterien der EbM wird folglich auch durch die jeweilige Verfügbarkeit von Forschungsgeldern beeinflusst.
Public-Health-Modell der Interventionsforschung Schließlich stellt die ausschließliche oder bevorzugte Anerkennung randomisierter kontrollierter Studien als Kriterium höchster Wirksamkeitsevidenz eine unvollständige Übertragung des pharmakologischen Prüfmodells auf die Psychotherapie dar: die in deren Stufenfolge vorgesehene Evaluation unter Bedingungen der Routineanwendung (Phase IV) wird vernachlässigt. Demgegenüber favorisiert das National Institute of Mental Health (NIHM) in den USA seit einigen Jahren ein Public-Health-Modell der Interventionsforschung: In ihrem Grundsatzpapier »Bridging science and service« (1998) hat sie zu mehr Effektivitätsforschung im Feld aufgerufen und erklärt, Fördergelder nur noch für solche Studien zu vergeben, die eine »unmittelbare klinische Relevanz« und »breite Anwendbarkeit auf das Versorgungssystem« garantieren.
5-Stufen-Modell der Psychotherapieevaluation Der Idealfall einer sowohl möglichst hohen internen als auch möglichst hohen externen Validität ist nur durch eine Übernahme aller pharmakologischen Prüfungsstufen zu erhalten, wie dies Shadish et al. (1997) in ihrem 5Stufen-Modell der Psychotherapieevaluation vorgeschlagen haben: 1. Pilotstudien zur Klärung von Effekten, Risiken, Anwendbarkeit u. a. m.; 2. Kontrollierte klinische Studien unter konstruierten Idealbedingungen; 3. Erprobung der Intervention an speziellen Populationen;
4. Evaluation im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswesens; 5. Erprobung unter realen Praxisbedingungen.
30.6.2
Naturalistische Studien psychodynamischer Langzeitbehandlungen
Alle vorliegenden Studien psychodynamischer (meist psychoanalytischer) Langzeitbehandlungen sind vom Typ der Phase-IV-Forschung. In Ermann et al. (2001) sowie in Brandl et al. (2004) wird ein Überblick über die hierzu vorliegende Studienlage gegeben. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass diese naturalistischen Studien eine gute Wirksamkeit psychodynamischer Langzeitbehandlungen in der klinischen Praxis demonstrieren. Exemplarisch sollen einige methodisch hochwertige quasi-experimentelle Feldstudien kurz vorgestellt werden: Die »Stockholm outcome of psychotherapy and psychoanalysis« (STOPP) Studie (Sandell et al. 2001) war ursprünglich als RCT-Studie geplant, was sich im Verlauf jedoch nicht durchhalten ließ. Die Patienten, die eine psychoanalytische Behandlung wünschten, ließen sich nicht auf Dauer durch die Randomisierungsauflagen von ihrem Wunsch zurückhalten. Die insgesamt 430 Patienten der miteinander verglichenen Behandlungsformen (hochfrequente Psychoanalyse, niederfrequente psychodynamische Therapie) wiesen zu Beginn der Behandlungen etwa gleiche Ausgangswerte auf. Am Ende der Behandlungen befanden sich die Behandlungsgruppen in einem subklinischen Bereich. In der posttherapeutischen Katamnesephase verbesserte sich die Psychoanalysegruppe jedoch noch weiter auf das Niveau der »Normalbevölkerung«, während die Werte der anderen Behandlungsgruppe stabil blieben. In der »Praxisstudie analytische Langzeittherapie« (Grande u. Rudolf 2006) wurden sehr aufwändige methodische Anstrengungen unternommen, um neben symptomatischen Effekten auch die von der Psychoanalyse beanspruchten spezifischen Effekte struktureller Veränderungen zu überprüfen. Im Vergleich tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapien mit höherfrequenteren längeren analytischen Psychotherapien erzielten beide Behandlungsgruppen auf der symptomatischen Ebene gleich gute Behandlungserfolge. In den analytischen Psychotherapien wurde jedoch deutlich häufiger als in den tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien positive Umstrukturierungen der Persönlichkeit erzielt, die wiederum mit höheren Ausprägungen in allgemeinen Maßen seelischer Gesundheit einherging. Erste Ergebnisse wiesen auch auf eine geringere Inanspruchnahme medizinischer Leistungen hin.
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Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
In der »Göttinger Praxisstudie« (Leichsenring et al. 2005) erzielten psychoanalytische Langzeittherapien sehr gute Behandlungseffekte, die ähnlich wie in der Stockholmer Studie nach der Behandlung noch weiter zunahmen. Die »Frankfurt-Hamburg-Studie« psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Langzeitpsychotherapien (Brockmann et al. 2006) zeigte sehr gute Behandlungserfolge für beide Therapieformen, wobei sich auch hier nach Abschluss der psychoanalytischen Behandlungen die Patienten noch weiterentwickelten, was bei den verhaltenstherapeutischen Langzeitbehandlungen nicht gefunden werden konnte. Die Ergebnisse dieser Studien zeigen, dass psychodymische Langzeitbehandlungen auch über 100 h hinaus durchaus lohnend sein können. Puschner et al. 2004 haben diesbezüglich auch Befunde vorgelegt, die der Annahme widersprechen, dass mit steigender Anzahl der Behandlungsstunden der zusätzliche »Nutzen« abnimmt (»abnehmender Grenznutzen«).
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30
742
30
Kapitel 30 · Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen
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31 31 Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien M. Linden, M. Hautzinger
31.1 Theoretische und empirische Grundlagen – 744 31.1.1 Historische Entwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie – 744 31.1.2 Lerntheoretische Grundlagen – 745
31.3.3 Stationäre Behandlung – 752 31.3.4 Wissenschaftliche Evidenz der Verhaltenstherapie – 752 31.4
31.2 Verhaltenstherapeutische Methodik – 747 31.2.1 Diagnostik – 747 31.2.2 Allgemeine therapeutische Prinzipien – 749 31.3
Verhaltenstherapie in der Krankenversorgung – 751 31.3.1 Anwendungsspektrum der Verhaltenstherapie – 751 31.3.2 Verhaltenstherapie in der ambulanten Versorgung – 752
31.4.1 31.4.2 31.4.3 31.4.4 31.4.5 31.4.6 31.4.7
Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen – 753 Depressive Störungen – 753 Manisch-depressive Störung – 757 Generalisierte Angsterkrankung – 758 Agoraphobie und Panikerkrankungen – 760 Persönlichkeitsstörungen – 762 Schizophrene Erkrankungen – 767 Alkoholabhängigkeit – 770 Literatur
– 772
> > Die Verhaltenstherapie integriert Kenntnisse der Lerntheorie, Sozialpsychologie, kognitiven Psychologie und vermehrt auch der Emotionspsychologie in der Beschreibung und Therapie psychischer und somatischer Erkrankungen. Grundlage ist die Annahme, dass der Erwerb oder die Veränderung von Verhalten oder Einstellungen auf Lernvorgängen beruhen. Dies ermöglicht den klinischen Einsatz von Verhaltenstherapie bei allen psychischen Störungen, sei es als primäre oder ergänzende Therapie und einer Großzahl körperlicher Erkrankungen.
744
Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
31.1
Theoretische und empirische Grundlagen
Wenn versucht wird zu definieren, was Verhaltenstherapie ist, dann wird einerseits Bezug genommen auf theoretische und empirische psychologische und psychiatrische Grundlagenkenntnisse, andererseits aber auch eine eindeutige theoretische Fundierung in Abrede gestellt. Von daher soll im Folgenden zunächst eine Übersicht über die der Verhaltenstherapie zugrunde liegenden Konzepte gegeben werden.
31.1.1
31
Historische Entwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie
dürfnissen des Organismus dient (Bandura 1969). Auf der Basis der sozialen Lerntheorie wurde eine Reihe von Behandlungsmethoden entwickelt, wie z. B. das Training sozialer Kompetenz oder Rollenspielverfahren (Ullrich u. Ullrich de Muynck 1996; Hollin u. Trower 1986). Ziel der Therapie ist eine soziale Kompetenz zu erwerben, die es ermöglicht, Kompromisse zwischen Selbstverwirklichung und sozialer Anpassung zu erreichen. Die genannten Methoden lehren Patienten nicht nur, wie umgrenzte Probleme zu lösen sind, sondern zielen auch darauf ab, grundsätzlich Fertigkeiten des Problemlösens zu vermitteln. Ein weiteres Axiom dieses Therapieansatzes besagt, dass es in vielen Fällen wichtiger ist, adaptives Verhalten zu stärken und weiterzuentwickeln und damit Verhaltensressourcen zu erweitern, als sich auf die Beseitigung störenden Verhaltens zu konzentrieren.
Verhaltenstherapie
Kognitive Therapie
Die Verhaltenstherapie (Synonyme: kognitive Verhaltenstherapie, lerntheoretisch orientierte Psychotherapie) nahm ihren Ausgang vor etwa 100 Jahren von lernpsychologischen Experimenten zu konditionierten Reflexen und konditioniertem Vermeidungsverhalten (Bechterew 1912; Pavlov 1927). Diese lerntheoretischen Grundlagenexperimente wurden dann erstmals von Watson (1913) mit der berühmten Konditionierung einer Tierphobie auf klinische Phänomene angewandt. Wolpe (1958) entwickelte daraus eine Behandlungsmethode, die systematische Desensibilisierung, was im engeren Sinne als Beginn der Verhaltenstherapie verstanden werden kann.
Wegen der theoretischen und praktischen Begrenzungen der bisher angesprochenen Modelle wie auch unter dem Einfluss anderer psychotherapeutischer Richtungen, kam es in den 1970er Jahren zur sog. »kognitiven Revolution« in der Verhaltenstherapie. Es war auch vorher schon experimentell gezeigt worden, dass kognitive Prozesse bereits bei scheinbar einfachen Konditionierungsexperimenten im Tierlabor eine Rolle spielen und grundsätzlich einen großen Beitrag zur Erklärung von Verhalten leisten können (Bridger u. Mandel 1964; Lundh 1993). Im Gegensatz zur klassischen Verhaltenstherapie erklärt die kognitive Theorie Verhalten als Ergebnis von überdauernden Vorstellungen oder Wahrnehmungen. Insbesondere emotionale Reaktionen werden als Konsequenz von Überzeugungen, Gedanken und Annahmen interpretiert. Es konnte empirisch gezeigt werden, dass Umweltstimuli an sich weniger bedeutsam für die Reaktion eines Menschen sind als vielmehr die Wahrnehmung und Interpretation durch die betroffene Person (Mahoney 1977; Meichenbaum 1979). Dementsprechend ist die Therapie darauf ausgerichtet, Wahrnehmungs- und Denkprozesse zu beobachten und zu analysieren. Soweit sie sich als dysfunktional erweisen, wird dann versucht, sie zu ändern, wofür eine Reihe von Interventionsmöglichkeiten entwickelt wurde, wie beispielsweise die Analyse automatischer Gedanken, Reattribuierung, kognitive Probe, Selbstinstruktion oder Gedankenstoppverfahren (Linden u. Hautzinger 2005). Ziel der Therapie ist zunächst, die Verbindung zwischen einer unangenehmen Emotion und der vorausgehenden Kognition herauszuarbeiten und in der Folge dann auch zu verändern (Beck et al. 1996; Beck 1993; Ellis 1984).
Klassisches und operantes Konditionieren. Verhaltens-
therapie war zunächst synonym mit der klinischen Anwendung von Prinzipien des klassischen und operanten Konditionierens (Skinner 1950). Grundaxiome dieses Modells waren, dass normales und pathologisches Verhalten sich nach denselben Prinzipien entwickeln und dass jegliches Verhalten nach Lernprinzipien modifiziert werden kann (Kazdin et al. 1976). Behandlungsinterventionen, die aus diesem Denkansatz abgeleitet wurden, waren neben der systematischen Desensibilisierung beispielsweise Flooding oder Token economy (Burns u. Worsley 1970). Beobachtung und Modellernen. Eine zweite theoretische
Entwicklungslinie basierte auf der Sozialpsychologie, d. h. der Beobachtung, dass insbesondere soziales Verhalten außer durch Konditionierungsprozesse auch durch Beobachtung und Modellernen erworben werden kann. In gewisser Verwandtschaft zum operanten Konditionieren war die Grundannahme, dass ein bestimmtes Verhalten sich dann ausbildet oder ändert, wenn dies den Be-
745 31.1 · Theoretische und empirische Grundlagen
Integration verschiedener Ansätze Während zunächst die Frage war, ob die kognitive Therapie als eigenständige Behandlungsrichtung anzusehen ist, war in der weiteren Theorieentwicklung sowie der praktischen Umsetzung eine zunehmende Integration von kognitiven und verhaltensorientierten Ansätzen zu beobachten (Sweet u. Loizeaux 1991; Lundh 1993). Der aktuelle Entwicklungsstand kann am ehesten durch den Oberbegriff der kognitiven Verhaltenstherapie gekennzeichnet werden (Linden u. Pasatu 1998, Hautzinger 2001). Das bedeutet, dass »inneres« und »äußeres« Verhalten in integrierten Modellen zusammengefasst und sowohl mit lern, wie sozial-, wie kognitionspsychologischen Methoden verändert wird. Neuere Entwicklungen. Eine aktuelle Entwicklungslinie
in der Verhaltenstherapie ist die Berücksichtigung der Emotionstheorien (Sulz u. Lenz 2000). Dies wurde u. a. durch die Entwicklung von Therapiemethoden angestoßen, die unmittelbar auf die Veränderung emotionaler Prozesse abzielen (Linehan 1993). Andere Entwicklungslinien berücksichtigen achtsamkeitsbasierte (»mindfulness based«) Konzepte und integrieren diese aus der Meditation kommenden Vorgehensweisen in Interventionen zur Rückfallverhinderung bei rezidivierenden Depressionen (Teasdale et al. 2002). Auch das »Cognitive Behavioral System of Psychotherapy« von McCoullugh (2001) ist eine Fortentwicklung, indem zu den kognitiven und behavioralen Elementen interpersonelle, entwicklungspsychologische und psychodynamische Ansätze hinzugefügt wurden, um behandlungsresistenten, chronischen Depressiven (insbesondere bei Vorliegen kindlicher Traumatisierung) zu helfen.
31.1.2
Lerntheoretische Grundlagen
Wenn ein Mensch Fertigkeiten erwirbt und sich neues Verhalten aneignet, oder Verhalten, das wie auch immer entstanden sein mag, verändert, dann handelt es sich hierbei stets um Lernvorgänge. Wenn Psychotherapie zum Ziel hat, neues Verhalten zu erwerben oder bestehendes Verhalten zu verändern, dann ist jegliche Form von Psychotherapie ein Lernprozess und sollte daher, wenn sie den Anspruch erhebt, auf wissenschaftlicher Evidenz zu basieren, sich auf grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse des Lernens beziehen (Eysenck 1964). Dies kann als Grundaxiom der lerntheoretisch orientierten Psychotherapie verstanden werden. Verhaltenstherapie geht von der Annahme aus, dass der Mensch ein Wesen ist, das durch Erfahrungen geprägt und prägbar ist, d. h. dass viele menschliche Reaktionen entweder gelernt sind, gelernt werden können,
verlernt werden können oder auch in Qualität und Quantität durch Lernen modifiziert werden können. Dies gilt grundsätzlich für den Erwerb von sozialer Kompetenz ebenso wie für das Konditionieren hormoneller oder immunologischer Reaktionen. Die Verhaltenstherapie ist nicht ein in sich geschlossenes System, sondern geht davon aus, dass unterschiedliche Phänomene und Reaktionsweisen auf unterschiedliche Art erworben wurden oder durch unterschiedliche Methoden modifiziert werden können. Das bedeutet, dass Verhaltenstherapie auf alle bekannten Verfahren des Lernens im weitesten Sinne zurückgreift, um die Entstehungsgeschichte von gesunden wie auch pathologischen Reaktionen verstehen zu können bzw. um Veränderungen zu bewirken (Bellack u. Hersen 1985; Reinecker 2005; Margraf 2000).
Lernprinzipien Wichtige Lernprinzipien sind: Klassisches Konditionieren, operantes Konditionieren, Modellernen, kognitives Probehandeln, (Selbst-) Instruktion, Regellernen, Üben.
Klassisches Konditionieren »Klassisches Konditionieren« besagt, dass es aufgrund eines sog. unbedingten Reizes (UCS) zu einer unbedingten Reaktion (UCR) kommt. Ein Beispiel wäre die ausgeprägte vegetative Schreckreaktion bei einem Autounfall. Durch Assoziation des unbedingten Reizes (Unfall) mit einem parallel gehenden bedingten Reiz (Auto) kann es in Zukunft zu einer bedingten Angstreaktion (CR) kommen, die allein schon durch den bedingten Stimulus (CS) ausgelöst wird. Solche Mechanismen spielen bei der Entwicklung von Phobien oder posttraumatischen Stresserkrankungen eine wesentliche Rolle.
Operantes Konditionieren »Operantes Konditionieren« umfasst eine ganze Gruppe von Lernprinzipien, deren Gemeinsamkeit ist, dass Konsequenzen eines Verhaltens dessen zukünftiges Auftreten beeinflussen. Häufige Bestrafung für Selbstständigkeit und Neugierverhalten kann zu Unselbstständigkeit und Mangel an sozialer Kompetenz führen, wie es gelegentlich bei Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungen zu finden ist. Verstärkerpläne. Operante Konditionierung ist jedoch
kein homogenes Prinzip. Verhalten kann von positiven und negativen Konsequenzen gefolgt sein. Zu den positiven Konsequenzen kann auch das Unterbleiben einer negativen Konsequenz gehören, bzw. zu den negativen
31
746
Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
das Unterbleiben einer positiven. Schließlich können positive und negative Konsequenzen auch gemischt auftreten. Sie können zudem zeitlich unterschiedliche Charakteristika haben, d. h. ein Verhalten kann z. B. kurzfristig positive und längerfristig negative Konsequenzen haben. Schließlich kann auch die Beziehung zwischen Verhalten und Konsequenz regelmäßig, intervallär oder stochastisch sein. Aus diesen verschiedenen Möglichkeiten ergibt sich eine nahezu unendliche Fülle von sog. Verstärkerplänen (»reinforcement schedule«). Die experimentelle Forschung konnte zeigen, dass unterschiedliche Verstärkerpläne unterschiedliche Konsequenzen für das weitere Verhalten haben. Verstärkung von Vermeidungsverhalten. Von besonderer
31
Relevanz für die Erklärung psychischer Erkrankungen sind solche Verstärkerpläne, die dazu führen, dass eine Verhaltensfrequenz progredient zunimmt, so dass eine inhibitorische Rückkopplung fehlt. Ein Beispiel ist Verhalten, das unter negativer Verstärkung steht. Dies bedeutet, dass auf ein bestimmtes Verhalten hin ein aversiver Zustand nachlässt. Dies führt dazu, dass auf diskriminative Hinweisreize, die als präventives Warnsignal verstanden werden können, ein präventives Vermeidungsverhalten erfolgt. Dies bedeutet, dass ein antizipatorisch ausgelöster aversiver Zustand kurzfristig besser wird. Eine derartige negative Verstärkung von Vermeidungsverhalten führt dazu, dass diskriminative Hinweisreize immer frühzeitiger verhaltenswirksam werden. Ein solcher operanter Prozess kann bei Phobien erklären, warum Patienten anfänglich nur auf der Kreuzung Beklemmungsgefühle bekommen, auf der sie einen Autounfall erlebt haben, in der Folge jedoch beginnen, Kreuzungen und schließlich Straßen grundsätzlich zu vermeiden, bis sie völlig ans Haus gebunden sind. Syndrom der Hilflosigkeit. Ein anderes Beispiel eines spe-
ziellen Verstärkerplans ist das sog. Hilflosigkeitssyndrom (Seligman 1975). Hierbei tritt eine aversive Stimulierung verhaltensunabhängig und stochastisch auf. Dies führt zunächst zu frustranem Flucht- und Kampfverhalten, um schließlich in einem Syndrom zu enden, das gekennzeichnet ist durch Einstellung aller Abwehrversuche, durch die Unfähigkeit, effiziente Strategien neu zu lernen, aber auch durch weitreichende Veränderungen auf neurobiologischer wie peripher physiologischer Ebene. Dieses Paradigma wurde u. a. zur Erklärung depressiver Störungen herangezogen.
Modelllernen Aus der sozialen Lerntheorie ist das wichtigste Lernprinzip das Modelllernen (Bandura u. Walters 1963). Damit ist jene Gruppe von Lernvorgängen gemeint, bei denen ein Individuum durch Beobachtung eines anderen dessen Verhalten in mehr oder weniger komplexer Form zu imi-
tieren imstande ist. Im Unterschied zum klassischen oder instrumentellen Konditionieren handelt es sich beim Lernen am Modell nicht selten um ein »one-trial-learning« und um sog. »verdecktes Lernen«, was bedeutet, dass ein Beobachter nicht offen reagieren muss, um zu lernen. Stattdessen werden Kodierungs- und Speicherungsvorgänge wirksam, die die Übernahme von komplexen Verhaltensweisen ohne schrittweise Zerlegung ermöglichen. Es ist eine Reihe von situationalen und persönlichkeitsspezifischen Variablen bekannt, die erklären, wann eine Person von einer anderen durch Imitation lernt. Ein klinisches Beispiel, bei dem Modelllernen eine Rolle spielen könnte, wäre die Entwicklung hypochondrischer Einstellungen bei Menschen, die »sehr gesundheitsbewusste« Eltern hatten.
Kognitives Probehandeln Eine mit dem Modellernen verwandte, jedoch in entscheidenden Punkten darüber hinausgehende Form des Lernens, die im gewissen Sinne Kernstück aller kognitiven Modelle ist, ist das sog. »kognitive Rehearsal« oder kognitive Probehandeln. ! Verhalten kann erworben und eingeübt werden durch die Vorstellung von Verhaltenssequenzen in Gedanken. Dies kann explizit in Form eines planenden Denkens geschehen oder durch eine bildhafte Vergegenwärtigung einer Verhaltenssituation. Dabei können zugleich auch Situations- und Verhaltensdeterminanten entfernt oder hinzugefügt und Verhaltensalternativen durchgespielt werden. Entscheidend ist, dass hinsichtlich der vegetativen und emotionalen Begleitreaktionen Vorstellungen z. T. wirksamer sind als die tatsächlichen Stimuli (Bridger u. Mandel 1964; Mahoney 1977; Meichenbaum 1979). Derartiges kognitives Probehandeln kann dementsprechend zum einen genutzt werden, um Determinanten pathologischen Verhaltens zu identifizieren, zum anderen um kompetenteres und funktionaleres Verhalten einzuüben. Dies hat klinische Relevanz beispielsweise bei der Therapie von Angsterkrankungen oder depressiven Störungen (Beck et al. 1996; Rapee 1991).
Üben und Lernen durch Instruktion Bereits bei der kognitiven Probe spielt »Üben« als weiteres Lernprinzip eine entscheidende Rolle. Gleiches gilt auch für »Lernen durch Instruktion«. Üben wie Lernen durch Instruktion gehören zu den expliziten Lernverfahren. Da sie die in der Schule dominierenden Lernformen sind, werden sie von vielen Menschen mit Lernen an sich gleichgesetzt. Für klinische Phänomene sind sie insofern von Bedeutung, als Selbstinstruktionen bei der Verhaltenssteuerung (Selbstkontrolle) sowie Regeln (Absprachen, Verträge) als Transferhilfe häufig Verwendung finden.
747 31.2 · Verhaltenstherapeutische Methodik
Modus des Lernens Wenn über Lernen gesprochen wird, genügt es nicht, Formen des Lernens zu betrachten, sondern es müssen auch die Lernmodi berücksichtigt werden. Je nachdem, ob immunologische, vegetative, motorische, affektive oder kognitive Prozesse beteiligt sind, muss mit jeweils eigenen Charakteristika des Lernprozesses gerechnet werden. Dies gilt sowohl für den Erwerb wie v. a. auch die Löschung des gelernten Verhaltens. Während explizites übendes Lernen (z. B. Vokabellernen) viele Wiederholungen benötigt, genügt beim sog. »One-trial-learning« ein einziger Versuch. Das One-trial-learning findet man typischerweise bei emotionalen Lernprozessen oder bei der Konditionierung auf Geruchs- oder Geschmacksstimuli. Ebenso gilt, dass manche komplexen Handlungsabläufe in vergleichsweise kurzer Zeit »vergessen« werden, wie beispielsweise die Fähigkeit, ein Zahlenschloss zu öffnen, während andere, wie z. B. Fahrradfahren, nach kurzfristigem Lernen ein Leben lang verfügbar bleiben. Viele psychische Störungen müssen erklärt werden über motorisches, vegetatives oder emotionales Lernen, das nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, wenn das Individuum erst einmal eine bestimmte Lernerfahrung gemacht hat. Dies hat weitreichende therapeutische Konsequenzen.
Verhaltensmedizin Es ist von grundsätzlicher Bedeutung, dass Verhaltenstherapie nicht nur psychologische Parameter im engeren Sinne berücksichtigt, sondern ebenfalls biologische Voraussetzungen von Verhalten in alle Modelle integriert. So bezogen sich die berühmten Konditionierungsexperimente von Pavlov (1927) auf den Speichelfluss. Operante Paradigmen wurden unter dem Begriff des »Biofeedback« (Rief u. Birbaumer 2003) zur Veränderung von muskulärer Verspannung, Blutdruck oder Vigilanzregulation eingesetzt. Ebenso werden biologische Determinanten von Verhalten auf zentralnervöser wie peripher vegetativer und motorischer Ebene als Verhaltensdeterminanten mitberücksichtigt. Hierzu gehören Verhaltensbereitschaften (Seligman 1971; Öhman 1986) ebenso, wie Kenntnisse über die psychobiologischen Regulationsmechanismen des Menschen (Birbaumer u. Schmidt 2005; Förstl et al. 2006). Aus dieser theoretischen Grundorientierung folgt, dass Verhaltenstherapie unter dem Stichwort der Verhaltensmedizin inzwischen auch eine etablierte Indikation bei der Behandlung vieler somatischer Erkrankungen hat, wie z. B. Hauterkrankungen, Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gastrointestinale Erkrankungen, Diabetes mellitus, Krebs, Migräne, Epilepsie oder chronische Schmerzzustände (Wahl u. Hautzinger 1989, Ehlert 2003).
Fazit Die kognitive Verhaltenstherapie im Sinne von Eysenck (1964) kann durchaus als lerntheoretisch orientierte Psychotherapie verstanden werden, dies setzt jedoch eine sehr weite Definition von »Lerntheorie« voraus, da ebenso Kenntnisse der Sozialpsychologie, der kognitiven Theorie, der Emotionspsychologie, der Neurobiologie oder der Handlungstheorie mitberücksichtigt werden (Reinecker 2005).
31.2
Verhaltenstherapeutische Methodik
31.2.1
Diagnostik
Die Diagnostik in der Verhaltenstherapie ist in großen Teilen identisch mit der Diagnostik psychischer Störungen beispielsweise in der Psychiatrie. Es ist inzwischen allgemeine Praxis, dass Verhaltenstherapeuten zunächst eine klassifikatorische Zuordnung der vorliegenden Störung in Anlehnung an die internationalen Klassifikationssysteme psychischer Störungen wie ICD-10 (WHO 1991) oder DSM-IV (APA 1997) vornehmen. Gleiches gilt im Prinzip auch für jegliche andere diagnostische Information, die zur präzisierenden Beschreibung eines klinischen Zustandsbildes beitragen kann, wie z. B. neuropsychologische Untersuchungen, die es ermöglichen, die Auffassungskapazität und das Leistungsprofil eines Patienten detailliert zu beschreiben, was bei der weiteren Behandlungsplanung Berücksichtigung findet.
Verhaltensanalyse und Verhaltensbeobachtung Darüber hinaus gibt es jedoch diagnostische Prinzipien, die als verhaltenstherapiespezifisch bezeichnet werden können. Dies sind die Verhaltensanalyse und die Verhaltensbeobachtung. Die Verhaltens- und Problemanalyse (Hautzinger 2005 a) ist eine Methode, Verhalten auf der Zeitachse deskriptiv in funktionale Zusammenhänge zu stellen. Man unterscheidet die Mikroanalyse und die Makroanalyse. Erstere beschreibt die Kontingenzen einer unmittelbaren Verhaltenssequenz, letztere die Kontingenzen der Störungsentwicklung im Verlauf der Biografie. Sie ist damit eine Sonderform der speziellen Anamnese.
Mikroverhaltensanalyse Als Grundmodell der Mikroverhaltensanalyse kann das sog. S-O-R-C-Modell (Stimulus-Organismus-ReaktionKonsequenz) angesehen werden (⊡ Abb. 31.1).
31
748
Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
⊡ Abb. 31.1. Horizontale (Mikro-) Verhaltensanalyse entsprechend dem SORC-Schema
Stimulus. »Stimulus« steht für jede Form von Antezedenz eines Verhaltens. Dies können singuläre Stimuli sein, wie beispielsweise der Anblick einer Schlange, jedoch auch komplexe äußere Stimuli, wie eine soziale Situation, oder auch personeninterne Ereignisse, wie somatosensorische Wahrnehmungen oder Kognitionen, z. B. Erinnerungen an ein bestimmtes Ereignis. In der Verhaltensanalyse wird versucht, die Ablaufsequenz möglichst vom ersten Stimulus aus zu beschreiben, der sich in einer aktuellen Situation identifizieren lässt. Organismus. Unter »Organismusvariable« werden alle
31
Prozesse beschrieben, die die Stimulusverarbeitung moderieren. Dies können sein eine vegetative Labilität als moderierender Faktor einer Schreckreaktion, aber auch kognitive Schemata, die beispielsweise erklären können, dass soziale Situationen stets als Rivalitäts- und Kampfsituationen wahrgenommen werden. Reaktion. Unter »Reaktion« kann jedes innere und äuße-
re Verhalten verstanden werden, das auf den auslösenden Stimulus folgt. Dies kann äußeres Verhalten sein wie beispielsweise Flucht oder Kampf, somatische Reaktionen wie Blutdruckanstieg oder Herzdruck, und schließlich auch kognitive Reaktionen im Sinne von automatischen Gedanken, die eine Situation kommentieren und bewerten. Konsequenzen. »Konsequenzen« sind schließlich die Fol-
gen des Verhaltens. Sie können kurzfristig oder auch zeitlich später folgen. Sie können sozialer Natur sein, wie beispielsweise die negative Reaktion eines Sozialpartners, sie können somatischer Art sein, wie z. B. Schmerzen aufgrund von Dauerverspannung, oder auch kognitiver Art, wie z. B. eine negative Selbstkommentierung.
Zusammenhangsbeschreibung Dieses zunächst sehr einfache lineare Modell kann zu sehr komplexen Zusammenhangsbeschreibungen führen. Unterschiedliche Stimuli können auf verschiedenen Ebenen (z. B. Kognitionen, Vegetativum) Organismusvariablen tangieren, die wiederum gleichzeitig oder versetzt zu mehrfachen Reaktionen mit jeweils unterschiedlichen Konsequenzen führen. Ebenso können Reaktionen (z. B.
Anstieg der Herzfrequenz) selbst wieder zu Stimuli für weitere Reaktionen werden (z. B. Gedanke an Herzinfarkt). Feedbackmechanismus. Auf diese Art können auch Rückkopplungsschleifen entstehen wie dies beispielsweise für den sog. »Teufelskreis der Angst« (Margraf u. Schneider 1990) beschrieben ist, wo ein Auslösereiz zu einer somatischen Reaktion führen kann, deren Wahrnehmung Angst hervorruft, die wiederum selbst eine Verstärkung der somatischen Reaktionen bewirkt, was zu weiterer Angst führt. Es kann nahezu als grundsätzliches Prinzip pathologischen Verhaltens angesehen werden, dass irgendwo in dieser Stimulus-Reaktions-Kette sich selbst verstärkende »Feedbackmechanismen« wirksam werden, die eine adaptive Gegensteuerung außer Kraft setzen. Rückerinnerung in Slow motion. Wichtig ist, dass bei dieser Verhaltensanalyse die einzelnen Elemente in z. T. ausgesprochen kurzen Zeitabständen aufeinander folgen. So sind sog. automatische Gedankenphänomene, die nach Untersuchungen zu ereigniskorrelierten Potenzialen im Millisekundenbereich ablaufen (Näätanen 1992) und möglicherweise auch ebenso schnell wieder verschwinden. Die verhaltensanalytische Technik setzt deshalb stets voraus, einen Verhaltensablauf in der Rückerinnerung zu dehnen (»slow motion«), um damit dem Untersucher wie auch dem Patienten überhaupt eine hinreichend detaillierte Beschreibung der Abläufe zu ermöglichen.
Makroverhaltensanalyse Die Mikroverhaltensanalyse wird ergänzt durch die sog. Makroanalyse. Es werden die Beschwerdenentwicklung und ihre Rahmenbedingungen und Kontingenzen über die Zeit hin beschrieben und damit versucht, Bedingungen und ggf. Ursachen für die Entstehung der Störung zu identifizieren. Dies geschieht zum einen erneut über die Beschreibung zeitlicher Zusammenhänge für das Auftreten der Symptomatik. Darüber hinaus wird aber auch nach den Entwicklungsbedingungen für Faktoren gesucht, die nicht unmittelbar als Symptomverhalten verstanden werden können, die sich jedoch im Rahmen der Mikroanalyse als wesentliche Bedingungsfaktoren des Problemverhaltens dargestellt haben.
749 31.2 · Verhaltenstherapeutische Methodik
Ein Beispiel wäre, die Entwicklung einer ausgeprägten Leistungsmotivation nachzuzeichnen, die sich in der Mikroanalyse als ein Erklärungsfaktor für eine depressive Symptomatik herausgestellt hat. Diese biografische Analyse der Symptomatik dient damit zum einen dem Zweck, Erkenntnisse aus der Mikroanalyse nochmals mit Blick auf die Entwicklung der Störung auf Plausibilität zu untersuchen. Des Weiteren gibt die Makroanalyse Hinweise auf die Chronizität einer Störung.
Erklärungsmotivation Die Makroanalyse ist aber auch insofern von Bedeutung, als Patienten nicht nur eine Änderungsmotivation, sondern in der Regel auch eine Erklärungsmotivation haben. Patienten möchten verstehen, »wie und warum« sich ein Problem entwickelt hat, selbst dann, wenn sich daraus keine unmittelbaren Implikationen für die Art der Therapie ergeben sollten. Unmittelbar therapeutisch kann die Makroanalyse genutzt werden, wenn es um die Veränderung von Einstellungen und kognitiven Grundannahmen geht. Eine Distanzierung von solchen persönlichkeitsnahen Erlebnisweisen gelingt Patienten gelegentlich eher, wenn sie deren historische Bedingtheit erkannt haben, was es leichter macht, ihre Dysfunktionalität für den jetzigen Lebensabschnitt zu akzeptieren.
Verhaltensbeobachtung Neben der Mikro- und Makroverhaltensanalyse ist die »Verhaltensbeobachtung« (Echelmeyer 2005) eine weitere spezifische diagnostische Methode der Verhaltenstherapie. Freie Beobachtung. Hierzu zählt zum einen die direkte
»freie Beobachtung«. Verhaltenstherapeuten werden mit Patienten immer wieder kritische Situationen aufsuchen, sei es die U-Bahn bei Agoraphobiepatienten oder die Wohnung beim Zwangspatienten, um eine eigene Anschauung von der Art der Störung zu erhalten und die Ergebnisse der Verhaltensanalyse in der direkten Beobachtung zu überprüfen. Verhaltensexperimente. Mit dem gleichen Ziel werden
auch »Verhaltensexperimente« durchgeführt. Dies kann ebenfalls in realen Lebenssituationen geschehen oder auch während der Therapiesitzung, beispielsweise in Form von Rollenspielen. Strukturierte Beobachtungen. Eine weitere Variante sind
»strukturierte Beobachtungen«. Patienten werden aufgefordert, Tagespläne auszufüllen, Aktivitätslisten zu führen oder die Häufigkeit bestimmter Gedanken zu zählen (Hautzinger 2005 b).
31.2.2
Allgemeine therapeutische Prinzipien
Die Darstellung jeder Psychotherapie sollte 6 Ebenen unterscheiden, die jede für sich gesondert beschrieben und ggf. gesondert gelernt und beurteilt werden können. Diese sind die Beziehungskompetenzen, die Basistechniken, die störungsspezifischen Techniken, die Stundenstrategie, die Prozessstrategie und die therapeutische Heuristik und Theorie. Am Beispiel der Musik könnte man dies mit Musikalität, Fingerläufigkeit, Fertigkeit beim Spielen spezieller Läufe, Teilabschnitte eines Musikstücks, Partitur und musiktheoretischen Kenntnissen gleichsetzen. Es ist sofort evident, dass z. B. gute theoretische Kenntnisse allein nicht unbedingt mit guten technischen Fertigkeiten einhergehen müssen und diese nicht eine gute Therapeut-Patient-Beziehung garantieren. Verhaltenstherapeutische Theoriebildung und v. a. verhaltenstherapeutische Ausbildung von Therapeuten strebt daher eine Optimierung und Qualitätssicherung auf allen 4 Ebenen parallel an (Linden u. Hautzinger 2005; Fydrich 2005; Linden et al. 2007).
Das therapeutische Basisverhalten und die therapeutische Beziehung Verhaltenstherapie setzt in besonderer Weise eine gute Therapeut-Patient-Beziehung voraus. Patienten müssen, wie in anderen Therapien auch, über z. T. peinliche Details ihres bisherigen Lebens berichten, und es werden an sie, teilweise anders als in anderen Therapien, immer wieder erhebliche Anforderungen gestellt, wie z. B. sich mit gefürchteten Situationen zu konfrontieren. Dies ist nur möglich, wenn der Therapeut vom Patienten als genuin und echt, als kompetent und verlässlich, als mitfühlend und verstehend erlebt wird. Die Therapeut-Patient-Beziehung hat von daher in der Verhaltenstherapie seit jeher große Aufmerksamkeit gefunden, wobei Anregungen und Anleihen aus anderen Therapieformen wie insbesondere der klientenzentrierten Therapie nach Rogers integriert wurden (Margraf u. Brengelman 1992; Finke 1994). In der Ausbildung von Verhaltenstherapeuten wird die Herstellung einer professionellen Therapeut-Patient-Beziehung u. a. im Rahmen von Einzel- oder Gruppenselbsterfahrung gelehrt (Bruch u. Hoffmann 1996). Dabei soll der Therapeut seinen eigenen Interaktionsstil und eigene Wahrnehmungsstereotype kennenlernen. Eine größere Bedeutung hat jedoch die unmittelbare Supervision von Therapieprozessen beispielsweise anhand von Bandaufnahmen. In den Ausbildungstherapien gehören Tonbandaufnahmen zum Standard. Diese werden dann zusammen mit dem Supervisor oder in der Supervisions-
31
750
Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
gruppe angehört. Ein wesentlicher Teil dieser unmittelbaren Supervisionsarbeit kann als Selbsterfahrung und Selbstmodifikation verstanden werden (Zimmer 2005).
Therapeutische Techniken
31
Es gibt eine Fülle von verhaltenstherapeutischen Interventionen und Techniken. Gruppen von Verfahren, die jeweils wieder eine Reihe von Einzelinterventionen zusammenfassen, sind beispielsweise Reizkonfrontationsverfahren, Rollenspielverfahren, Verfahren zum Training sozialer Kompetenz, Kommunikations- und Problemlösetraining, kognitive Verfahren, operante Verfahren, Bio- und Neurofeedbackverfahren, Entspannungsmethoden (Linden u. Hautzinger 2005; Margraf 2000). Zur Darstellung der Details muss auf die einschlägigen Spezialwerke verwiesen werden. Hier können nur einige grundsätzliche Aspekte angesprochen werden. Die therapeutischen Techniken lassen sich nochmals unterscheiden in Basistechniken und störungsspezifische Techniken. Basistechniken definieren eine bestimmte Therapierichtung. Jeder Verhaltenstherapeut muss automatische Gedanken analysieren oder eine Hausaufgabe strukturieren können, unabhängig von der Art der aktuell zu behandelnden Krankheit. Dies gehört zum Standardrepertoire eines Verhaltenstherapeuten, nicht jedoch eines Psychoanalytikers. Dieser muss Deutungen beherrschen. Störungsspezifische Techniken sind solche, die nur bei bestimmten Problemstellungen zur Anwendung kommen und die nicht in jeder Therapie oder von jedem Therapeuten eingesetzt werden, wie dies beispielsweise für »drill and practice«-Techniken bei der Behandlung bei Zerebralschäden gilt.
dass individuelle Einfälle eines Therapeuten zur Besserung einer psychischen Störung führen, die sich offenbar als resistent gegen Selbsthilfeversuche und Einflüsse von unprofessionellen Sozialpartnern gezeigt hat. Standardisierung vs. Anpassung an den Einzelfall. Eine in
der Literatur vielfach diskutierte Frage ist, wieweit eine Strukturierung und Standardisierung im Einzelfall gehen kann bzw. welche Modifikationen durch Besonderheiten des Individualfalls erzwungen werden (Schulte 1991). Die Klärung dieses Problems liegt zum einen in einer Unterscheidung zwischen therapeutischer Handlungsplanung, die weitgehend durch Regeln geleitet und insofern auch standardisiert ist, und zum anderen in der konkreten therapeutischen Umsetzung, die an den jeweiligen Einzelfall anzupassen und insofern individualisiert ist (Schulte 1995). Nachweispflicht für Therapeutencompliance. Unabhängig vom Standardisierungsproblem gilt, dass ein Therapeut schlicht inkompetent und kontraproduktiv sein kann, sei es auf der Ebene des therapeutischen Basisverhaltens, der therapeutischen Technik oder Strategie. Ein Therapeut, der von der Attitüde her den Patienten herabwürdigt und gleichzeitig fordernd ist oder der eine Expositionsaufgabe in Form einer Mutprobe ablaufen lässt, verstößt gegen professionelle Standards. Die Nachweispflicht für eine gute Therapeutencompliance, d. h. eine Übereinstimmung des Therapeutenverhaltens mit geltenden therapeutischen Standards, liegt beim Therapeuten und sollte auch ggf. haftungs- und strafrechtlich einklagbar sein. Insofern ist die Behauptung der Individualisierungsnotwendigkeit im Einzelfall stets daraufhin zu prüfen, ob es nicht eine Schutzbehauptung für mangelnde Qualität ist.
Nebenwirkungen von Verhaltenstherapie Therapeutencompliance Die Betonung technischer Aspekte in der Verhaltenstherapie hat seinen Grund zum einen in der Vielfalt der vorliegenden Interventionsmöglichkeiten und zum anderen in der Erfahrung, dass es oft technische Details sind, die über den Erfolg oder Misserfolg einer Behandlung entscheiden. Verhaltenstherapeuten geht es in diesem Punkt nicht anders als Chirurgen. Von daher gibt es in der Verhaltenstherapie erhebliche Anstrengungen, über Manuale und Ratingskalen eine möglichst hohe »Therapeutencompliance« (Linden 2005) zu garantieren. In Therapiestudien gehören Angaben zur Therapeutencompliance oder »treatment attrition« inzwischen zum gängigen Standard. ! Grundaxiom ist, dass auch Psychotherapie auf empirischer Evidenz basieren muss und dass nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann,
Es gilt die Grundregel, dass eine Therapie, die keine unerwünschten Wirkungen zeitigen kann, in der Regel auch keine Hauptwirkungen hat. Anders als in der Pharmakotherapieforschung stellt die Untersuchung von Nebenwirkungen von Psychotherapie ein vergleichsweise wenig beachtetes Thema dar. Es gibt sogar Tendenzen, unerwünschte Entwicklungen im Verlauf einer Therapie entweder als unabdingbare Krankheitsfolgen zu sehen oder sie sogar dem Patienten schuldhaft anzulasten, etwa als Widerstand oder Motivationsmangel, so als wären dies nicht ggf. Behandlungsziele. Vereinzelte Publikationen zu diesem Thema nennen eine Reihe von Möglichkeiten, wie Verhaltenstherapie zu einer Verschlechterung im Zustandsbild eines Patienten beitragen kann (Lambert et al. 1977; Grawe 1984; FischerKlepsch et al. 2000). Unter der empirischen Literatur gibt es jedoch mit Ausnahme eines missbräuchlichen Umgangs von Therapeuten mit Patienten, etwa in Form
751 31.3 · Verhaltenstherapie in der Krankenversorgung
erzwungener sexueller Kontakte (Pope et al. 1986), nahezu keine Literatur, die statt von »unzureichendem Therapieerfolg« explizit von »Nebenwirkungen und Verschlechterung durch Therapie« spricht. Hier besteht eine erhebliche Forschungslücke.
31.3
Verhaltenstherapie in der Krankenversorgung
31.3.1
Anwendungsspektrum der Verhaltenstherapie
Aus der Feststellung, dass Verhaltenstherapie die systematische Anwendung von Lernprinzipien auf den Erwerb oder die Veränderung von Verhalten im klinischen Kontext ist, lässt sich bereits ableiten, dass es ein sehr breites Spektrum von Anwendungsmöglichkeiten verhaltenstherapeutischer Interventionen geben muss. Hierbei bietet es sich an, zwischen kausalen, kompensierenden, korsettierenden, komplettierenden und korrigierenden Therapiezielen zu unterscheiden (Linden 1996). Kausale Behandlungsziele. Klassischerweise wird Psychotherapie mit kausalen Behandlungszielen in Verbindung gebracht. Es wird beispielsweise im psychoanalytischen Modell eine Störungsursache beschrieben und eine Besserung der Beschwerden von einer Veränderung eben dieses kausalen psychodynamischen Prozesses erwartet. Bei näherer Betrachtung ergeben sich solche Ansatzpunkte für eine kausale Therapie im klinischen Bereich jedoch eher selten, da bei vielen Störungen entweder die Ursachen mit der erforderlichen Genauigkeit gar nicht identifizierbar sind oder sie ihrer Natur nach psychotherapeutisch nicht angehbar sind, oder aber die Ursache, die zur Entwicklung einer Störung geführt hat, nicht identisch ist mit den Faktoren, die eine Störung aufrechterhalten.
Korsettierende Therapieziele. Bei diesen Zielen werden
weder die Erkrankung noch der betroffene Mensch selbst unmittelbar therapeutisch beeinflusst. Dies hindert jedoch nicht, das Lebensumfeld des Patienten so zu strukturieren, dass die Störung weniger Sekundärfolgen hat. Als Beispiel kann die Behandlung von Demenzkranken genannt werden. Hier liegt der Schwerpunkt der Therapie auf der Verhaltensänderung von Bezugspersonen (Hautzinger 2005 c). Komplettierende Therapieziele. Bei diesen hat die Verhal-
tenstherapie allein keinen Einfluss auf die Grunderkrankung, jedoch wird sie genutzt, um eine eigentlich wirksame Behandlung überhaupt erst zum Einsatz bringen zu können. Beispiele hierfür sind die Veränderungen von Krankheitskonzepten von Patienten, um es ihnen leichter zu machen, eine erforderliche Langzeitmedikation einzunehmen (Linden 1995). Korrigierende Therapieziele. Bei diesen soll ein Verhalten
verändert werden, das selbst keinen Krankheitswert hat, jedoch zur Entstehung oder Verschlimmerung von Krankheitszuständen beiträgt. Hierzu gehören beispielsweise Raucherentwöhnung oder Gewichtsreduktion (Hautzinger 1978; Buchkremer 1989).
Breite des Indikationsspektrums Aus dieser theoretischen Übersicht über die Vielfalt möglicher Behandlungsindikationen für Verhaltenstherapie ergibt sich, dass Verhaltenstherapie bei sehr unterschiedlichen klinischen Zuständen eingesetzt werden kann (⊡ Tab. 31.1). Die Indikationen reichen von: Organischen Psychosen (z. B. Demenz) über endogene Psychosen (z. B. Schizophrenie), alle Neurosen (z. B. Depression), Reaktionen (z. B. PTSD) oder Persönlichkeitsstörungen (Borderline-Störung) über nahezu alle chronischen somatischen Erkrankungen (z. B. Epilepsie, Hypertonie, Diabetes) bis hin zu vielfältigen präventiven Maßnahmen (z. B. Unfallopfer, Berentung, Rauchen).
Kompensierende Behandlungsziele. Wegen der eben ge-
nannten Gründe haben sog. kompensierende Therapieziele in der klinischen und speziell verhaltenstherapeutischen Praxis eine sehr viel größere Bedeutung. Hierbei ist das Ziel zu lernen, mit bestehenden Störungen, die selbst nur bedingt zu verändern sind, besser fertig zu werden bzw. Sekundärfolgen zu verhindern. Ein Beispiel ist das Training der Stressverarbeitungskompetenz bei schizophrenen Patienten (Saupe et al. 1991). Die Grunderkrankung selbst kann in diesen Fällen nicht verändert werden. Durch einen klugen Umgang mit Belastungen oder eine bessere Form sozialer Kommunikation können jedoch Folgen der Erkrankung gemildert und sogar die Rezidivhäufigkeit verringert werden.
Diese Breite an möglichen und sinnvollen verhaltenstherapeutischen Interventionsmöglichkeiten (Linden 1993; Hautzinger 2001; Ehlert 2003) ist eine Stärke wie ein Problem dieser Therapierichtung. Für die Anwendung der Verhaltenstherapie in der allgemeinen Patientenversorgung bedeutet dies, dass es theoretisch begründbar niemals eine Bedarfsdeckung durch Verhaltenstherapie geben kann. Statt dessen ist zu klären, was vordringliche Indikationen sind, wo Verhaltenstherapie die einzige Behandlungsoption darstellt und wie begrenzte Ressourcen am besten einzusetzen sind. Die Frage der Indikationssteuerung stellt ein dringendes und wissenschaftlich bislang nicht hinreichend bearbeitetes Problem dar.
31
752
Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
31.3.2
31
Verhaltenstherapie in der ambulanten Versorgung
In der Bundesrepublik Deutschland ist in den vergangenen Jahren ein erheblicher Zuwachs an Verhaltenstherapeuten in der ambulanten Versorgung zu verzeichnen. Im Jahr 2006 waren über 20.000 Richtlinienpsychotherapeuten im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung tätig. Davon waren weit über die Hälfte Verhaltenstherapeuten und der weitaus größte Teil waren psychologische Psychotherapeuten. Als Mitglieder in den Kammern für psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sind über 30.000 Diplompsychologen registriert. Die Zahl der Behandlungsfälle lag bei ca. 300.000 Patienten. Wenn man die verhaltenstherapeutische Versorgung der Bevölkerung beschreiben will, müssen auch noch etwa 10.000 Beratungsstellen berücksichtigt werden, in denen ebenfalls Psychotherapeuten ambulante Hilfe anbieten für psychisch Kranke allgemein wie für Suchtkranke sowie bei Sexual-, Familien- oder Erziehungsproblemen. Weiterhin müssen auch Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Ärzte für psychotherapeutische Medizin hinzugerechnet werden, die nach der geltenden Weiterbildungsordnung Verhaltenstherapie als Psychotherapieschwerpunkt wählen können. Insgesamt wird derzeit für Verhaltenstherapie im ambulanten Bereich über Krankenkassen über 1 Mrd. Euro pro Jahr ausgegeben.
Indikationsspektrum Trotz des breiten Indikationsspektrums ist in der Praxis eine Konzentration auf ausgewählte Störungen zu beobachten. Bei Patienten, die von niedergelassenen Verhaltenstherapeuten im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung behandelt wurden, nannten die Behandler in 47,6% sog. Symptomneurosen als Behandlungsziel, wie z. B. Phobie, Zwang oder Anorexie. In 39,7% wurden depressive Syndrome als Behandlungsziel genannt, in 6,1% Psychosen und hirnorganische Erkrankungen und in 6,6% sonstige Störungen. Damit behandeln Verhaltenstherapeuten im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung vor allem die Störungen, für die Verhaltenstherapie als primäre Indikation angesehen werden kann (Linden et al. 1993).
31.3.3
Stationäre Behandlung
In keinem anderen Land der Welt gibt es ein so großes Angebot an stationären Einrichtungen, die speziell Verhaltenstherapie anbieten, wie in der Bundesrepublik Deutschland, wobei angemerkt werden muss, dass dies weniger den Krankenkassen als vielmehr den Rentenversicherern zu danken ist, die diese Behandlungsplätze aufgebaut haben, um drohende Frühberentungen abzuwen-
den, was auch erfolgreich geschieht. Die erste ausschließlich verhaltenstherapeutisch arbeitende Klinik wurde 1976 eröffnet. In Deutschland gibt es etwa 10.000 Betten in speziellen psychotherapeutischen Fachkliniken, wovon mehr als 6000 mit verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt geführt werden (Zielke u. Sturm 1994; Potreck-Rose et al. 1994). Die verhaltenstherapeutischen Kliniken führen im Jahr etwa 20.000 stationäre Behandlungen durch. Desweiteren gibt es eine größere Zahl von psychiatrischen Abteilungen, die Stationen mit verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt eingerichtet haben.
Indikationsspektrum Das Spektrum der Störungen, die in verhaltenstherapeutischen Spezialeinrichtungen behandelt werden, umfasst mit Ausnahme akuter Psychosen nahezu alle psychischen und chronischen somatischen Erkrankungen (Zielke u. Sturm 1994). Ein wesentlicher Teil wird nach § 51 Sozialgesetzbuch V zugewiesen wegen längerer Arbeitsunfähigkeit. Abgesehen von dieser sozialmedizinischen Begründung sind grundsätzliche Indikationen für eine stationäre Behandlung: Erkrankungen, bei denen der Patient keinen ambulanten Therapeuten aufsuchen kann, wie z. B. bei ausgeprägten phobischen Störungen, Erkrankungen, die spezielle Behandlungsinterventionen erfordern, die nur im stationären Setting möglich sind, wie beispielsweise bestimmte Arten der Reaktionsverhinderung bei Zwangserkrankungen Patienten, die aus pathogenen Umwelteinflüssen herausgenommen und in ein therapeutisches Milieu aufgenommen werden müssen als Voraussetzung dafür, dass eine Änderung möglich ist. In aller Regel schließt sich an eine stationäre Behandlung dann eine ambulante Therapie an, die die im stationären Rahmen angestoßenen Entwicklungen weiterführt.
31.3.4
Wissenschaftliche Evidenz der Verhaltenstherapie
Die verschiedensten verhaltenstherapeutisch orientierten Interventionen, die zahlreichen individuellen und gruppenbezogenen Interventionsprogramme sind umfassend empirisch untersucht. Es liegen Einzelstudien in großer Zahl, Metaanalysen und Evidenznachweise vor. Es wurde durch verschiedenste Kommissionen nationaler Akkreditierungsagenturen bzw. Fachgesellschaften bestätigt, dass die Verhaltenstherapie ein hohes Maß an wissenschaftlicher Evidenz für sich in Anspruch nehmen kann. Es würde dieses Kapitel sprengen, dies für jede Störung in differenzierter Form darzustellen. Bei den im Folgenden dargestellten ausgewählten Erkrankungen ist immer auch ein Abschnitt zur wissenschaftlichen Evidenz mit einem
753 31.4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
Verweis auf Metaanalysen bzw. entsprechende Literaturquellen enthalten. Für eine knappe, doch aktuelle Darstellung zur Wirksamkeit verweisen wir auf die Expertise zur empirischen Evidenz der Verhaltenstherapie, wie sie von führenden Fachvertretern und den relevanten Fachverbänden für den Wissenschaftlichen Beirat bei der Bundesärztekammer zusammengestellt wurde (Kröner-Herwig 2004). Dieser Beirat hat aufgrund der wissenschaftlichen Arbeiten festgestellt (Margraf u. Hoffmann 2004), dass für die Indikationsbereiche (⊡ Tab. 31.1) F1, F2, F3, F4, F 5, F6, F8, F9 die Verhaltenstherapie überzeugend und auf der höchsten Stufe evidenzbasiert ist. Auch für die Indikationsbereiche F0 (hirnorganische Störungen) und F7 (Intelligenzminderung) liegen Nachweise wissenschaftlicher Evidenz vor, wie inzwischen durch dasselbe Gremium bestätigt wurde.
⊡ Tab. 31.1. Indikationsbereiche der Verhaltenstherapie entsprechend vorliegender wissenschaftlicher Evidenz (Stufe Ia, Ib) Indikation (ICD-10)
Störungsbereiche
F3
Affektive Störungen (Erwachsene, Kinder/Jugendliche)
F40–42
Angststörungen (Erwachsene, Kinder/Jugendliche)
F43
Belastungsstörungen (Erwachsene, Kinder/Jugendliche)
F44, 45, 48
Dissoziative, Konversions- und somatoforme Störungen (Erwachsene, Kinder/ Jugendliche)
F50
Essstörungen (Erwachsene, Kinder/Jugendliche)
F5
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (Erwachsene, Kinder/ Jugendliche)
F54
psychische, soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten (Erwachsene, Kinder/Jugendliche)
F6
Persönlichkeits-, Sexual- und Verhaltensstörungen (Erwachsene, Kinder/Jugendliche)
F1, F55
Abhängigkeiten und Missbrauch von Substanzen (Erwachsene, Kinder/Jugendliche)
F2
Schizophrenie und wahnhafte Störungen (Erwachsene, Kinder/Jugendliche)
F90–92, F94, F98
Verhaltensstörungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend, Ticstörungen
F8
Entwicklungsstörungen, autistische Störungen
F0, F7
hirnorganische Störungen, Intelligenzminderung
31.4
Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
Im Folgenden werden theoretische Modelle und verhaltenstherapeutische Behandlungsprinzipien bei einer Reihe ausgewählter Erkrankungen dargestellt. Zur Definition und klinischen Beschreibung der einzelnen Störungen ist auf die speziellen Kapitel an anderer Stelle dieses Buches zu verweisen. Hier können nur die funktionellen Aspekte der einzelnen Störungen dargestellt werden, soweit sie für das verhaltenstherapeutische Vorgehen relevant sind. Die Darstellung des therapeutischen Vorgehens muss sich notgedrungen auf die Zusammenfassung der therapeutischen Strategie und Heuristik beschränken. Die technischen Aspekte der angesprochenen Behandlungsinterventionen können aus Platzgründen nicht ausgeführt werden. Diese sind in Spezialwerken (Linden u. Hautzinger 2005; Markgraf 2000; Zielke u. Sturm 1994) und in der Originalliteratur nachzulesen. Die angesprochenen Störungen stellen notgedrungen eine Auswahl dar, die sich an der klinischen Häufigkeit und der praktischen Relevanz für die klinische Psychiatrie orientiert. Des Weiteren wurden auch Störungen ausgewählt, bei denen das therapeutische Vorgehen jeweils spezifische Unterschiede verlangt, um damit auch deutlich zu machen, dass Verhaltenstherapie keine uniforme Methode, sondern eine störungsspezifische Intervention ist, die bei jeder Erkrankung andere Behandlungsziele, -methoden und -strategien einsetzt.
31.4.1
Depressive Störungen
Theoretische Modelle Es gibt eine Reihe von verhaltenstherapeutischen Konzepten zur Erklärung der Entstehung wie Aufrechterhaltung depressiver Störungen. Von besonderer Bedeutung sind verstärkungstheoretische und kognitionspsychologische Modelle (Hoffmann 1976, Linden 1987; Beck et al. 1996; Hautzinger 2003 – ⊡ Abb. 31.2).
Verstärkungspsychologische Modelle Unter verstärkungstheoretischen Vorstellungen (Rehm 1981) wird davon ausgegangen, dass eine geringe Rate verhaltenskontingenter positiver Verstärkung einerseits und ein Überwiegen negativer Stimulation andererseits dazu beitragen können, dass die Rate intentionalen zielorientierten Verhaltens zurückgeht und entsprechend an seine Stelle nichtzielgerichtetes Verhalten tritt. Die zentralen pathogenetischen Mechanismen sind also Inhibierung und/oder Löschung zielgerichteten Verhaltens. Des Weiteren kann der Wegfall wichtiger Verstärker zu einem Zusammenbruch sog. »Verstärkerketten« führen. So können beispielsweise mit dem Tod eines Ehepartners auch
31
754
Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
⊡ Abb. 31.2. Kognitiv-verhaltenstheoretische Heuristik für unipolare Depressionen. (Nach Hautzinger 2003)
31
alle damit assoziierten Verstärker, wie z. B. Theaterbesuche oder Sozialkontakte, ebenfalls ihre Verstärkerwirksamkeit verlieren, so dass in der Folge ganze Verhaltenssegmente ausfallen. Verstärkermangel und -verluste können auch dadurch entstehen, dass Menschen in wichtigen Lebensbereichen keine hinreichenden sozialen Kompetenzen haben, um eine Mindestrate an positiven Verstärkern zu garantieren. So kann beispielsweise ein Mangel an sozialer Kompetenz zur Isolation mit entsprechenden psychischen Reaktionen führen. Schließlich ist es aus verstärkungstheoretischer Sicht auch vorstellbar, dass depressives Verhalten unmittelbar verstärkt wird, da es einen sehr direkten Einfluss auf das Verhalten von Sozialpartnern hat. Depressives Verhalten löst beim Gegenüber zunächst kurzfristig Zuwendung und Unterstützung aus, langfristig jedoch eher Abwehr, wenn nicht Aggression. Eine derartige Mischung aus positiven und negativen Konsequenzen ist ein besonders wirksames Verstärkermuster und daher als eine aufrechterhaltende Bedingung von Depression denkbar.
Kognitionstheoretische Modelle Grundsätzlich gilt das psychologische Axiom, dass weniger Dinge und Situationen an sich als vielmehr deren Wahrnehmung durch den Betrachter darüber entscheiden, wie die eigene Reaktion ist (Beck et al. 1996). Automatische Gedanken und Schemata. Jede Situation
wird vorbewusst durch sog. »automatische Gedanken« spezifisch interpretiert und gedeutet. Diese automatischen Gedanken können aus derselben Examensnote ein Scheitern wie einen Erfolg machen, indem beispiels-
weise ein bewertender Bezug zur Note des Bruders im selben Examen hergestellt wird. Automatische Gedanken lassen sich gruppieren zu Themen oder sog. Schemata etwa im Sinne von »Ich muss besser sein als mein Bruder«. Dies kann sehr unterschiedliche automatische Gedanken gleichen Gehalts in verschiedenem Kontext bedingen, d. h. nicht nur in der Examenssituation, sondern auch bei der Begegnung mit Frauen oder beim Umgang mit Geld. Grundannahmen. Themen lassen sich nochmals auf einer weiteren Abstraktionsebene zusammenfassen, in sog. »Grundannahmen«. Dies sind im eigentlichen Wortsinn Weltanschauungen. Im angesprochenen Beispiel könnte dieses lauten: »Nur wer sich durchsetzt, wird überleben«. Solche Grundannahmen lassen sich zu einem gewissen Teil aus der Biografie erklären.
! Diese kognitiven Strukturen sind vorbewusste Phänomene und nicht ohne weiteres der eigenen Beobachtung und Kontrolle zugänglich. Situationsabhängig können dieselben kognitiven Wahrnehmungsschablonen funktional wie dysfunktional sein. Kognitive Schemata derart, dass »nur wer etwas leistet, etwas darstellt«, können eine berufliche Karriere stimulieren, beim beruflichen Scheitern jedoch ebenso eine Katastrophenreaktion erklären. Dagegen wird jemand mit der Grundannahme, dass »der Mensch lebt um zu leben«, entgegengesetzt reagieren. Derartige kontextabhängig funktionalen oder dysfunktionalen Kognitionen können partiell erklären, warum Situationen beispielsweise zu Versagens- und Belastungsereignissen werden
755 31.4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
und wann mit welchen affektiven Konsequenzen zu rechnen ist. Allerdings ist die Beziehung zwischen Kognitionen und Emotionen nicht linear. Negatives Feedback. Ebenso bedeutsam ist, dass negative
Stimmungsveränderungen selbst ebenfalls wieder direkten Einfluss auf die kognitiven Prozesse haben (Hesse u. Spies 1993; Roth 1989). Schlechte Stimmung kann zu einer selektiven Wahrnehmungseinengung auf negative Situationsaspekte führen, zur selektiven Erinnerung an negative biografische Erlebnisse und zur Einschränkung der Fähigkeit, sich von negativ besetzten Themen zu lösen. Damit kommt es zu einer Wechselbeziehung zwischen Kognition einerseits und Affekt andererseits im Sinne eines sich gegenseitig beeinflussenden negativen Feedbacks.
Therapieprozess bei depressiven Störungen Verhaltensanalyse Am Beginn jeder Therapie steht eine sorgfältige Analyse der funktionellen Zusammenhänge zwischen Stimmung, Kognitionen, Verstärkern und Verhalten. Hierbei können die verschiedenen o. g. psychologischen Mechanismen von Patient zu Patient unterschiedliches Gewicht haben. Beim einen mögen dysfunktionale Kognitionen, beim anderen ein Mangel an positiven Verstärkern und Überwiegen negativer Stimulation oder ein Mangel im CopingRepertoire gegeben sein. Je nach Struktur des verhaltensanalytisch erarbeiteten individuellen Depressionsmodells wird der Schwerpunkt der Therapie unterschiedlich zu legen sein (Hautzinger 2003).
Therapeutisches Basisverhalten Ein zentrales Element jeder Depressionstherapie ist ein adäquates therapeutisches Basisverhalten. Des Weiteren muss sichergestellt sein, dass die vom Patienten vorgetragenen Hilfsappelle und depressiv gefärbten Situationsbeschreibungen den Therapeuten nicht dazu verführen, mit vorschnellem Verständnis und vordergründigen Empfehlungen, Ratschlägen und Hilfsaktionen zu reagieren. Ebenso wenig darf er sich durch den depressiven Negativismus und die Hoffnungslosigkeit anstecken lassen. Stattdessen ist dem Patienten im Sinne sog. beruhigender Versicherungen zu vermitteln, dass er eine Störung hat, die bekannt ist, von der man aus der Erfahrung mit anderen Patienten weiß, dass sie zu überwinden ist. Ebenso ist ihm zu vermitteln, dass vermeintlich kurzfristig notwendige Veränderungen in wichtigen Lebensbereichen, wie z. B. eine Kündigung, erst einmal einer sorgfältigen Vorklärung bedürfen und dass dies Gegenstand der Therapie sein wird.
Aktivitätsaufbau Erste Schritte der Therapie zielen darauf ab, die lähmende Inaktivität des Patienten zu durchbrechen. Zugleich soll
er von der Aufmerksamkeitsfokussierung auf den eigenen Zustand und seine derzeitige Situation weg zur Befassung mit konkreten erreichbaren Zielen hingelenkt werden, d. h. eine Lenkung der Aufmerksamkeit von sich auf intentionale Ziele. Schließlich soll in diesem Zusammenhang auch eine gewisse Entlastung des Patienten dadurch erreicht werden, dass lang aufgeschobene belastende Vorhaben angepackt und abgehakt werden, wie beispielsweise einen lange überfälligen Brief zu schreiben. Hierdurch können dem Patienten schließlich auch kurzfristige Erfolgserlebnisse vermittelt werden. Techniken zur Aktivitätssteigerung. Um diese Ziele zu er-
reichen, kann in der Einzel- wie Gruppentherapie eine Reihe von therapeutischen Techniken eingesetzt werden (Hautzinger 2003, 2000; Herrle u. Kühner 1994). Am Anfang steht in aller Regel eine Zusammenstellung der akut zu erledigenden Dinge. Des Weiteren können Selbstbeobachtungsaufgaben durchgeführt werden, mit denen zu klären ist, unter welchen Bedingungen sich der Patient schlechter oder weniger schlecht fühlt. Nächstes Ziel ist dann, solche Situationen, in denen man sich weniger schlecht fühlt, verstärkt aufzusuchen. Schließlich können auch kleine Hausaufgaben ausgearbeitet werden, die sehr konkret und überschaubar und innerhalb der Leistungsmöglichkeiten des Patienten sein sollten. Bei weniger akuten und dafür chronisch dysthymen Patienten können auch längere Aktivitätslisten eingesetzt werden, die sowohl angenehme Aktivitäten wie Pflichtaktivitäten enthalten. Eine Erhöhung der Aktivitätsrate kann direkt in einer Befindlichkeitsbesserung resultieren.
Förderung der sozialen Kompetenz Sollte es sich im Rahmen der Verhaltensanalyse gezeigt haben, dass Defizite in der sozialen Kompetenz eine wesentliche pathognetische Rolle spielen, dann leiten die genannten ersten aktivitätssteigernden Interventionen über zur Analyse der vom Patienten als Belastung und als Problem erlebten Situationen. Dabei ist die Frage zu stellen, inwieweit Verhaltensalternativen denkbar sind und wie man Problemsituationen anders angehen könnte. Hierbei werden dann Problembewältigungsalternativen und Alternativen im sozialen Kontaktverhalten ausgearbeitet. Dies kann technisch beispielsweise in Form sog. Rollenspiele (Hautzinger 2005 d) erfolgen, wobei auch ein sog. Rollentausch sinnvoll ist, bei dem der Patient zum Berater eines Dritten wird. Häufig werden erst aus dieser Perspektive für den Patienten Alternativen überhaupt erkennbar. Ebenso kann der Therapeut die Rolle eines kri-
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Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
tischen Lebenspartners spielen, wie beispielsweise die des Arbeitgebers oder Ehepartners, und der Patient dann verschiedene Varianten von Problemenlösungsverhalten im geschützten therapeutischen Rahmen durchspielen und auch gleichzeitig einüben.
hinterfragen und ändern. Eher selten wird es zu Änderungen in den Grundannahmen kommen. Allerdings erlauben viele Grundannahmen auch mehrere Alternativen bezüglich der aus ihnen folgenden Ableitungen. Techniken. Es gibt eine Fülle von kognitiven Interventio-
Kognitive Interventionen Bei Übungen zum Problemlösen wird bei vielen Patienten sehr schnell sichtbar, dass es ihnen eigentlich nicht an den nötigen Fertigkeiten mangelt, sondern dass sie inhibiert sind, ihre Kompetenzen zu nutzen. Erklärungen finden sich dann nicht selten bei der Analyse automatischer Gedanken, die dazu führen können, dass z. B. ein Mensch, der eigentlich viel erzählen könnte, in Anwesenheit einer Autoritätsperson völlig verstummt. Sammeln automatischer Gedanken. Die weiteren thera-
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peutischen Interventionen verlagern sich daher zunehmend mehr darauf, automatische Gedanken zu sammeln, sie nach gleichen Themenschwerpunkten zu ordnen und dem Patienten zunächst einmal beobachtbar zu machen. Dazu werden Methoden der Selbstbeobachtung, aber auch ein sog. »kognitives Rehearsal« eingesetzt, bei dem der Patient in Gedanken eine Situation in allen Details durchgeht. Wichtig ist, dass automatische Gedanken nicht nur unkontrolliert einschießen, sondern auch in Sekundenbruchteilen ablaufen. Wenn Patienten erst einmal sich selbst auf der Ebene der automatischen Gedanken beobachten können, kann man sie anhalten, solche »Lieblingsgedanken« kontinuierlich zu beobachten, zu zählen und v. a. den Zusammenhang zwischen Stimmungsverschlechterung und automatischen Gedanken zu beobachten. Alternative Denk- und Wahrnehmungsweisen. Im nächs-
ten Schritt wird dann der Patient angehalten, alternative Denk- und Wahrnehmungsweisen zu entwickeln. Es geht hierbei nicht darum, den Patienten davon zu überzeugen, dass er »unrecht« hat, sondern mit ihm zu klären, ob die Sicht der Dinge, die er automatisch anlegt, die einzige Denkalternative ist. Hierbei werden sich in aller Regel auch sog. »Denkfehler« zeigen, wie selektive Aufmerksamkeit für negative Ereignisse, die die eigene Hypothese stützen, oder Ignorierung von Situationsaspekten, die andere Sichtweisen nahelegen könnten. Ein anderes Beispiel ist das dichotome Denken, das beispielsweise nur noch zwischen Niederlage oder Erfolg unterscheidet, mögliche Graduierungen jedoch ignoriert. Realitätstestung. Ziel der therapeutischen Intervention
ist, dass der Patient beginnt, seine eigenen zunächst a priori evidenten Sichtweisen anzuzweifeln, alternative Sichtweisen zuzulassen und in eine Realitätstestung einzutreten. Auf diese Art lassen sich zunächst einzelne automatische Gedanken und schließlich auch Themen
nen, die zur Anwendung kommen können. Am wichtigsten sind das bereits angesprochene kognitive Rehearsal sowie interne Dialoge, Reattribuierung oder Rollentausch. Eine Basismethodik ist der »sokratische Dialog«. Dies ist keine Diskussion mit dem Patienten über die richtige oder falsche Sichtweise, sondern ein Ernstnehmen der Sichtweise des Patienten, die vom Therapeuten dann in ihrer vollen Konsequenz weitergedacht wird, um dadurch den Patienten anzuregen, zu überprüfen, ob er das wirklich gemeint hat und inwieweit dies die einzig mögliche Sichtweise ist.
Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen (Hautzinger 2003) Phase 1: Zentrale Probleme erkennen und benennen; Aufbau therapeutischer Beziehung, beruhigende Versicherungen, Akzeptanz; Anamnese und Lebensgeschichte sowie Symptomatik und Verlauf der Depression Phase 2: Erklärung und Psychoedukation bezogen auf affektive Störung, Vermittlung des therapeutischen Modells (Emotion, Kognition, Verhalten) und der Therapieschwerpunkte Phase 3: Aktivitätsaufbau, Tagesstruktur, Förderung angenehmer Tätigkeiten Phase 4: Bearbeiten kognitiver Muster und dysfunktionaler Informationsverarbeitungen Phase 5: Verbesserung der sozialen, interaktiven, problemlösenden Kompetenzen Phase 6: Vorbereitung auf Krisen, Erkennen von Krisen und Rückschlägen, Beibehaltung des Gelernten, Rückfallverhinderung, Notfallplanung.
Therapeutische Wirksamkeitsbelege Die kognitive Verhaltenstherapie in der Behandlung depressiver Störungen gehört inzwischen zu den am besten untersuchten psychotherapeutischen Bereichen. Die Ergebnisse mehrerer Metaanalysen zur Wirksamkeit der KVT (z. B. Gloaguen et al. 1998; Jorgensen et al. 1998; Wampold et al. 2002) zeigen, dass Wirksamkeitsbelege auf der höchstmöglichen Evidenzstufe vorliegen. Die PräPost-Vergleiche für die KVT erreichen Effektstärken zwischen 1.5 und 2.3. Die zwischen verschiedenen Bedingungen vergleichenden Effektstärken belegen eine Überlegenheit der KVT gegenüber Kontrollbedingungen (Warten, Plazebo) von d = .82 (20 Studien), gegenüber Medikation von d = .38 (17 Studien) und gegenüber ande-
757 31.4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
ren Psychotherapien von d = .24 (22 Studien). Durch KVT wird eine um 30% höhere Erfolgsrate erreicht als in diversen Kontrollbedingungen und eine um 15% höhere Erfolgsrate als durch antidepressive Medikation. Nach den Katamneseergebnissen einer Reihe größerer kontrollierter Studien (zuletzt Hollon et al. 2005) und der Metaanalyse von Gloaguen et al. (1998) bzw. Wampold et al. (2002) liegt ein wesentlicher Vorteil der KVT in ihrer längerfristigen Effektivität. Die Akutbehandlung mit KVT (allein oder in Kombination mit Medikamenten) senkt die Rückfallraten im Nachbehandlungsintervall deutlicher als medikamentöse Akutbehandlung allein (26% vs. 64% im 1-Jahres-Follow-up). Gloaguen et al. (1998) errechneten aus Studien mit mindestens 12-monatigem Follow-up, dass nach Akuttherapie mit Antidepressiva 60% der Patienten Rückfälle erlitten, nach kognitiver Verhaltenstherapie jedoch nur durchschnittlich 29,5% (s. zusammenfassend deJong-Meyer et al. 2007).
31.4.2
Manisch-depressive Störung
Die verhaltenstherapeutischen Interventionen bei bipolaren affektiven Störungen sind in der Regel die Medikation ergänzende Verfahren mit dem Ziel der Rückfallverhinderung, der verbesserten sozialen, beruflichen und partnerschaftlichen Anpassung, der Steigerung der Medikamentcompliance und der Verhinderung von Hospitalisierung. Patienten müssen akzeptieren, dass sie an einer chronischen Erkrankung mit einem hohen Rückfallrisiko leiden. Ausgangspunkt dabei ist das in der ⊡ Abb. 31.3 dargestellte Modell. Ausgehend von einem derartigen Krankheitsverständnis haben Meyer und Hautzinger (2004) ein psycho-
⊡ Abb. 31.3. Vereinfachtes Modell bipolar affektiver Störungen
logisches Therapieprogramm entwickelt, das mit den Patienten und ihren Angehörigen während gesunden Phasen (meist jedoch im Anschluss an eine depressive oder manische Krankheitsepisode) über einen Zeitraum von 9–12 Monaten angeboten wird und folgende Komponenten enthält: Phase 1: Motivierung, Information und Psychoedukation, Krankheitskonzept erarbeiten, Notwendigkeit von Medikation und regelmäßiger Einnahme diskutieren, Wissen über depressive und manische Symptomatik. Phase 2: Selbstbeobachtung täglicher Befindensschwankungen, Verhalten und Denken, von Ereignissen, Erkennen von Bedingungen für Befindensschwankungen, persönliche und allgemeine Warnsignale erarbeiten und auf eigene Lage anwenden. Phase 3: Alltagsgestaltung, Tagesrhythmus, regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus, Umgang mit Belastungen, angenehme und entlastende Aktivitäten, Kontrolle von dysfunktionalen depressiven und manischen Kognitionen. Phase 4: Training von neuen Verhaltensweisen zur Lösung von Problemen, zum Umgang mit anderen, zur Impulskontrolle, zur Emotionsregulation, Notfallplanung, Krisenmanagement. Metaanalysen (Hautzinger u. Meyer 2007) zeigen, dass durch diese spezifische Psychotherapie die Zeit bis zu einer neuen Krankheitsphase von 50 Wochen unter regulärer psychiatrischer Behandlung auf über 70 Wochen hinausgeschoben werden konnte. Durch diese Psychotherapien haben bipolare Patienten über 3 Jahren deutlich weniger Rezidive und sie zeigen bessere soziale, berufliche sowie familiäre Anpassung.
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758
Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
31.4.3
Generalisierte Angsterkrankung
Theoretische Modelle Funktionelle Modelle der generalisierten Angsterkrankung berücksichtigen eine konstitutionelle und/oder erworbene Ängstlichkeit und Bereitschaft zu ausgeprägteren Angstreaktionen, eine vegetative Reagibilität, eine Aufmerksamkeitspräferenz auf Gefahrenstimuli, kognitive Schemata und Grundannahmen, die dazu führen, dass sich Patienten in vielen alltäglichen Situationen in Gefahr erleben, einen Denkstil im Sinne katastrophisierender Kognitionen und den Kompetenzgrad des Individuums im Umgang mit Herausforderungssituationen (Wells u. Carter 1999; Becker u. Margraf 2002; Zubrägel u. Linden 2005).
Ängstlichkeit als angeborene oder erworbene Persönlichkeitseigenschaft
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Die Bereitschaft, auf Bedrohungsstimuli mit Angstreaktionen zu antworten, zeigt bei Tieren wie bei Menschen eine interindividuelle Streuung (Chattopadhyay et al. 1980; Chopin u. Briley 1987). Es gibt eine Fülle von Stimuli, die anlagebedingt zu Angstreaktionen führen, wie beispielsweise Höhe, Flatterbewegungen, bestimmte Mimik und Affekt oder Unbekanntes. Bei welcher Stimulusintensität welches Ausmaß an Orientierungs- und schließlich Angstreaktion auftritt, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und teilweise angeboren oder Folge individueller Lernerfahrungen. Die Extreme der Normalverteilung der Ängstlichkeit können sowohl bei pathologischer Angstfreiheit wie pathologischer Überängstlichkeit zu Anpassungsproblemen führen und Krankheitswert haben.
Vegetative Labilität Die Bereitschaft von Menschen, auf Stimulation mit erhöhtem vegetativen Arousal zu reagieren, zeigt ebenfalls erhebliche interindividuelle Variabilität. Da die Wahrnehmung von Situationen und Ereignissen partiell auch dadurch bestimmt wird, welche Qualität und Quantität die eigene affektive und vegetative Reaktion hat, stellt eine erhöhte vegetative Irritabilität einen Vulnerabilitätsfaktor für Angstreaktionen dar. Neben einer konstitutionellen Arousal-Bereitschaft kann es zu einer erworbenen erhöhten Arousal-Bereitschaft auch beispielsweise im Rahmen von zerebralen Hirnschädigungen, wie z. B. nach chronischer Alkoholintoxikation, kommen. Ein weiterer wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass vegetative Reagibilität auch gelernt werden kann. Andauerndes Arousal führt im weiteren Verlauf zu verstärktem Arousal bei zunehmend geringerer Stimulation.
Minor-Hassle-Syndrom. Eine erhöhte vegetative Reakti-
onsbereitschaft führt zu einem »minor hassle-syndrome« (Lazarus 1984). Dies bedeutet, dass alltägliche kleine Stressoren zu erhöhtem Arousal führen, mit der Folge, dass diese Personen unter Dauerstress stehen. Sie erleben dann in der Folge die Anforderungen des täglichen Lebens als permanente Herausforderung und letztlich Bedrohung.
Dysfunktionale Kognitionen Menschen haben unterschiedliche kognitive Schemata und Grundannahmen, die wesentlich über die Stimuluseigenschaften von Situationen und Ereignissen mitentscheiden (Beck et al. 1985; Eysenck 1992; Mogg et al. 1995). Je nach Art dieser kognitiven Schemata kann es im Leben eines Menschen häufiger oder seltener zu Bedrohungserlebnissen kommen. Besonders relevant sind kognitive Schemata, die viele verschiedene Situationen mit Bedrohung oder mit Scham assoziieren können. Ein Beispiel wäre die Annahme »Wer nicht perfekt ist, ist bloßgestellt«.
Wahrnehmungsfokussierung Menschen lassen sich in »Repressor-« und »Sensitizertypen« unterscheiden (Krohne 1996). Damit ist eine spezielle Art der Wahrnehmungsfokussierung gemeint. Repressortypen sind eher auf die Ziele, und Sensitizertypen eher auf die Risiken und Kosten einer Handlung zentriert. So überlegen Repressortypen vor einer Urlaubsreise, wo sie hinfahren wollen und was sie dort erleben wollen, während Sensitizertypen zunächst einmal prüfen, welche Risiken wo drohen. Diese Wahrnehmungsstile können ebenfalls als in der Bevölkerung normal verteilt angesehen werden. Sensitizertypen werden aufgrund dieser Wahrnehmungspräferenz sehr viel mehr Grund zur Sorge und Angst finden, als Repressortypen.
Katastrophisierende Kognitionsstile Bei Patienten mit generalisierter Angst findet man typischerweise eine ausgeprägte Fähigkeit, sich vorausschauend negative Konsequenzen und Katastrophen auszudenken. So kann es sein, dass ein Kind zu spät nach Hause kommt und der Betreffende nicht nur darüber nachdenkt, wo das Kind hingegangen sein könnte, sondern sich bereits Gedanken darüber macht, woher man das Lösegeld im Falle einer Entführung bekommen solle. Patienten berichten über sehr schnell ablaufende und z. T. sehr weitgehende Gedankenketten, wobei sich assoziativ ein Problem und eine Bedrohung an die andere reihen.
Coping und Kompetenzverhalten Angst entsteht typischerweise dann, wenn in einer Situation nur unbefriedigende Bewältigungsfertigkeiten zur Verfügung stehen (Zeidner u. Endler 1996). Wer keine soziale Kompetenz hat, wird soziale Situationen häufiger als Bedrohung erleben.
759 31.4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
! Bei generalisierten Angsterkrankungen ist allerdings zu beobachten, dass den Betroffenen nicht die Bewältigungsfertigkeit im engeren Sinne fehlt, sondern dass sie durch vorauslaufende Kognition an deren Umsetzung gehindert sind.
Sorgenverhalten Ein zentraler pathogenetischer Mechanismus bei generalisierten Angsterkrankungen ist, dass »sich zu sorgen« von den Betroffenen nicht als Problem, sondern als Problemlösung wahrgenommen wird (Mathews 1990; Roemer et al. 1997). Sich um etwas zu sorgen bedeutet zunächst einmal, dass man sich mit einem Problem auseinandersetzt und versucht, eine Lösung zu finden. Sorgen stellen damit partiell ein Bewältigungsverhalten dar, das Angst reduziert. Wer sich Sorgen macht, fühlt sich zunächst einmal besser. Sorgenverhalten hat damit zugleich aber auch die Qualität eines »negativen Verstärkers«. Dies bedeutet, dass das so verstärkte Verhalten, d. h. sich ständig zu sorgen, weiter zunimmt.
Therapieprozess bei generalisierten Angsterkrankungen Verhaltensanalyse In einer Verhaltensanalyse ist zunächst für den Einzelfall herauszufinden, welchem der genannten pathogenetischen Prinzipien im konkreten Fall welche Bedeutung zukommt. Hierbei können je nach den Besonderheiten des Einzelfalls kognitive Prozesse, vegetative Besonderheiten oder Verhaltensaspekte im Vordergrund stehen. Abhängig davon kann die Therapie der generalisierten Angst unterschiedliche Schwerpunkte haben.
Vegetative Umstimmung Hinsichtlich der vegetativen Syndromanteile können Entspannungsverfahren oder physio- und bewegungstherapeutische Massnahmen eingesetzt werden. Von Bedeutung ist auch eine Beratung der Patienten hinsichtlich einer angemessenen Lebensführung mit genügend körperlichem Ausgleich, Regelmäßigkeit im Schlaf-WachRhythmus und überlegtem Umgang mit vegetativ labilisierenden Substanzen, d. h. Beruhigungsmitteln, Alkohol, Koffein, Nikotin usw.
Änderung kognitiver Schemata Hinsichtlich angstfördernder kognitiver Schemata steht das gesamte Repertoire der kognitiven Therapie zur Verfügung, wie es bei der Behandlung depressiver Störungen beschrieben wurde. Im Gegensatz zu den depressiven Störungen ist bei der generalisierten Angst auf automatische Gedanken und kognitive Schemata zu achten, die aus alltäglichen Situationen, wie beispielsweise der Begegnung mit einem Vorgesetzten, eine Bedrohungssituation oder eine schamgeladene Situation machen.
Änderung des Wahrnehmungs- und Denkstils Hinsichtlich der selektiven Wahrnehmung im Sinne des Sensitizertyps und der katastrophisierenden Kognitionen beginnt die Behandlung ähnlich wie bei der Therapie der depressiven Denkstörungen mit Selbstbeobachtungsaufgaben. Mit den Patienten wird in der Erinnerung oder unter Einsatz des kognitiven Rehearsals oder auch unter Bezug auf in der Zukunft bevorstehende Situationen immer wieder beschrieben, was an Bedrohungen denkbar ist. Die Patienten werden angehalten, die ganze Kette ihrer katastrophisierenden Assoziationen möglichst weit durchzuspielen und mitzuteilen. Dies hat zwei Konsequenzen. Zum einen lernen die Patienten dadurch, dass sie eine bestimmte Art des katastrophisierenden Denkens pflegen und dass das eigentliche Problem weniger die Situation, also z. B. die verspätete Heimkehr des Kindes von der Schule ist, sondern die Art, sich dadurch zu Katastrophenfantasien anregen zu lassen. Zum anderen erreichen die katastrophisierenden Vorstellungen der Patienten, wenn man sie herausfordert, irgendwann einen Punkt, wo sie selbst für den Patienten anfangen, absurd zu erscheinen. Dies kann beim Patienten ein emotionales »Aha-Erlebnis« hervorrufen, das es ihm dann leichter macht, sich von seinen Sorgen und Bedrohungsgedanken zu distanzieren und zu akzeptieren, dass hierin das eigentliche Problem liegt. Sorgenselbstkontrolle. Im nächsten Schritt ist das Ziel,
den Prozess der sich selbstaufschaukelnden katastrophisierenden Kognitionen möglichst früh zu beenden. Der Patient soll eine Sorgenselbstkontrolle (»worry-control«) lernen (Brown et al. 1993). Mit dem Patienten wird von daher eingeübt, mittels interner Dialoge sehr frühzeitig alternative Erklärungen zu suchen, z. B. was dem Kind außer einem Unfall noch passiert sein könnte. Des Weiteren können auch sog. Gedankenstoppverfahren eingesetzt werden. Sorgenexposition. Wie bereits ausgeführt, heißt sich Sor-
gen zu machen immer auch, sich mit einer Situation auseinanderzusetzen und Angst unter Kontrolle zu halten, so dass es zu einem negativen Verstärkungsprozess kommt. Eine für die generaliserte Angsterkrankung vergleichsweise spezifische Behandlungsintervention ist daher Sorgenexposition (»worry-exposure«; Brown et al. 1993). Diese Methode geht davon aus, dass als ein wesentlicher therapeutischer Mechanismus dieses Vermeidungsverhalten zu überwinden ist. Von daher werden die Patienten angehalten, sich den schlimmstmöglichen Ausgang einer Situation vorzustellen. Sie müssen dann in einem nächsten Schritt für eine längere Zeit, d. h. von einer Viertelstunde bis zu einer Stunde, in der gedanklichen und emotionalen Vorstellung des schlimmsten Falls verbleiben, und zwar so lange, bis es zu einem Nachlassen des mit dieser Vorstellung verbundenen Angstgefühls kommt.
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Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
Therapeutische Wirksamkeitsbelege Klinische Berichte zeigen, dass generalisierte Angsterkrankungen selbst unter stationärer unspezifischer Behandlung kaum positive Veränderungen zeigen (Bassler u. Hoffmann 1994). Bei gezielter Behandlung lassen sich jedoch klinisch relevante Besserungen erreichen. Es gibt inzwischen Metaanalysen und zahlreiche Einzelstudien (z. B. Borkovec u. Costello 1993; Durham et al. 1994; Durham u. Allan 1993, Linden et al. 2002; Linden 2006), in denen im Verlauf einer etwa halbjährigen Therapie klinisch relevante und statistisch hochsignifikante Effekte nachweisbar waren. Diese Behandlungserfolge waren auch bei katamnestischen Nachuntersuchungen weiterhin stabil. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die besten Behandlungserfolge durch Therapien mit eindeutig kognitivem Schwerpunkt im o. g. Sinne erreicht wurden. Wenn sich die Therapie primär auf Problemlösungsversuche konzentrierte, waren die Behandlungserfolge deutlich schlechter.
31.4.4
Agoraphobie und Panikerkrankungen
Theoretische Modelle
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In den aktuellen psychiatrischen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV werden Agoraphobie und Panikerkrankungen als getrennte Erkrankungen beschrieben.
Angstreaktionen können nicht nur durch die Ansicht einer bestimmten Situation oder eines Objekts, sondern ebenso durch Erinnerungen, Assoziationen und sonstige Kognitionen ausgelöst werden. So kann die Erinnerung an eine bevorstehende unangenehme Situation des nächsten Tages (z. B. Prüfung) sowohl im Wachzustand wie beim Einschlafen oder sogar im Schlaf zu einer Schreck-, Anspannungs- und Angstreaktion führen, und zwar z. T. sogar in ausgeprägterer Form, als dies beispielsweise die unmittelbare Konfrontation mit einem angstauslösenden Objekt vermöchte. Des Weiteren gilt, dass die meisten angstauslösenden Situationen im Rahmen von Agoraphobien nicht als solche und unmittelbar Angst auslösen, sondern nur vermittelt über antizipatorische Kognitionen. Es ist z. B. der Gedanke daran, dass die U-Bahn im Tunnel stecken bleiben, man dort Luftnot bekommen, zusammenbrechen und keine Hilfe bekommen könnte, der die Angst beim agoraphobischen Patienten auslöst, und dies zudem lange bevor die U-Bahn überhaupt in Sicht kommt. Insofern ist es sinnvoll, alle getriggerten Panikzustände, seien sie mit externen Objekten und Situationen assoziiert oder ausschließlich kognitiv getriggert, als einen gemeinsamen pathogenetischen Prozess anzusehen. Inwieweit Panikattacken ohne jeglichen, d. h. auch ohne kognitiven Stimulus vorkommen, erscheint bislang ungeklärt. Nach eigener klinischer Erfahrung der Autoren müssten diese extrem seltene Fälle sein.
Stufenentwicklung Panikerkrankung. Für die Panikerkrankung wird ver-
langt, dass die einzelne Panikattacke unerwartet, d. h. nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Angsttrigger, auftritt, d. h. »wiederkehrende schwere Angstattacken (Panik) dürfen sich nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände beschränken und deshalb auch nicht vorhersehbar sein« (ICD-10). Agoraphobie. Im Gegensatz dazu sind Agoraphobien dadurch gekennzeichnet, dass panische Angst im Kontext bestimmter Situationen und Objekte auftritt, wie beispielsweise auf offenen Straßen und Plätzen (Agoraphobie), aber auch in Aufzügen und engen Räumen (Klaustrophobie) oder auf Türmen (Akrophobie). Die auslösenden Situationen sind in aller Regel also vielfältig, weshalb man sinnvollerweise auch von komplexen Phobien sprechen kann, in Abgrenzung zu den einfachen Phobien, die sich nur auf einzelne Objekte beziehen, wie z. B. Spinnenangst.
Angstauslöser Aus verhaltenstherapeutischer Sicht ist die Unterscheidung zwischen auslösenden Situationen und Objekten einerseits und unvorhergesehenen Angstanfällen andererseits nur bedingt sinnvoll.
Die Entwicklung einer typischen Agoraphobie folgt einem stufenweisen Entwicklungsprozess (Linden 2005), der sich dann als rasch ablaufender Aufschaukelungsprozess etabliert (⊡ Abb. 31.4). Unbedingter Stimulus. Zu Beginn findet sich fast stets ein
extremes Angsterleben im Kontext mit einem unbedingten Stimulus (UCS), wie z. B. einem Autounfall oder einem anderen Belastungserleben. Solche Panikreaktionen können auch durch das Zusammentreffen mehrerer synergistisch wirkender Faktoren entstehen, wie z. B. zu wenig Schlaf, Streit mit einem Partner, Warten im Gedränge und Zuknallen einer Tür. Unbedingte Reaktion. Es kommt dann zunächst zu einer unbedingten Reaktion (UCR) mit den typischen Symptomen einer Panik, d. h. extreme Anspannung, dem Gefühl zusammenzubrechen, Zittern, Unruhe usw. Die Wahrnehmung dieses Erregungszustandes führt beim Patienten in aller Regel zu einem Gefühl der Hilflosigkeit und provoziert damit zusätzlich wieder Angst. Phobophobie. In der Folge besteht eine Phase erhöhter
Angstbereitschaft, verstärkter Selbstbeobachtung und Angst vor der Angst (Phobophobie). In dieser Phase füh-
761 31.4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
⊡ Abb. 31.4. Das psychophysiologische Modell der Agoraphobie und Panikstörung
ren neuerliche angstauslösende Stimuli auch bei sehr viel geringerer Intensität zu erneuten Panikreaktionen. Vermeidung möglicher Auslöser. Der nächste Schritt ist,
dass Patienten nun versuchen, Hypothesen zu bilden, wie es zur Auslösung solcher Zustände kommt. Die Patienten beginnen, Situationen und Objekte zu vermeiden, von denen sie vermuten, dass sie solche unerträglichen Zustände auslösen könnten. Damit tritt ein sog. negativer Verstärkungsprozess in Kraft. Auf Reize, die auf die drohende Gefahr hinweisen, erfolgt eine Vermeidung, woraufhin die Erwartungsangst nachlässt (negativer Reinforcer). Gleichzeitig wird aber die Angstreaktion verstärkt, d. h. sie tritt bei der nächsten Konfrontation mit der gleichen Situation verstärkt auf.
Pathogenetische Faktoren Phobien und Panikerkrankungen haben als gemeinsame pathogenetische Faktoren die negative Verstärkung infolge des Vermeidungsverhaltens, die Auslösung von Angst durch antizipatorische Kognitionen und eine durch vielfache Wiederholung gelernte extreme physiologische Angstreaktion, die auch durch relativ leichte UCS wie CS ausgelöst werden kann. Ein Problem zusätzlicher Art stellt die biografische Anpassung an die angstbedingten Bewegungseinschränkungen dar. Die kognitive Verhaltenstherapie der Angsterkrankungen setzt an allen diesen pathogentischen Mechanismen an.
Angstgeneralisierung. Aufgrund der negativen Verstär-
kung setzt die Angstreaktion immer früher ein, d. h. die Hinweisreize bekommen zunehmend mehr Distanz vom ursprünglichen UCS. War es zunächst die Ecke, an der man einen Autounfall hatte und der man sich anschließend mit Vorsicht näherte, so wird schließlich die entsprechende Fahrstrecke ganz vermieden, weil die Unruhe schon beim Einbiegen in die Straße beginnt. Schließlich setzt die Unruhe und die Angst schon beim Besteigen des Autos ein, so dass der Partner gebeten wird zu fahren, und am Ende einer solchen Entwicklungskette sind die Patienten nicht mehr in der Lage, das Haus zu verlassen. Es genügt schließlich der Gedanke, das Haus verlassen zu wollen, um Anspannung und Unruhe auszulösen.
Therapieprozess bei Agoraphobie Therapeutische Grundhaltung Die Behandlung von Agoraphobie- und Panikerkrankungen setzt voraus, dass zwischen Therapeut und Patient eine gute Beziehung besteht. Pathologische Angst führt beim Gegenüber typischerweise zu Unverständnis, weshalb Angstpatienten häufig mit herablassendem Wohlwollen, der Aufforderung sich zusammenzureißen oder auch Spott konfrontiert sind. Der Therapeut muss sehr gut verstehen, dass der Patient in einer subjektiv schlimmen Situation ist, und dieses Verständnis muss dem Patienten auch vermittelt werden können.
Lebensumstellung. In der letzten Stufe organisieren die
Vorgehen bei Agoraphobie
Patienten schließlich ihr Leben gemäß ihrer Behinderung. Sie sind nicht mehr arbeitsfähig, müssen berentet werden und heiraten ggf. sogar Partner, die bereit sind, die Behinderung des Patienten zu kompensieren.
Der Patient wird da abgeholt, wo er selbst steht. Der Patient weiß, dass man normalerweise keine Angst vor der Straße hat. Selbst wenn er Erklärungen für seine Angst abgibt, weiß er doch, dass dies letztlich keine gültigen Er-
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Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
klärungen sind. Alle Patienten möchten daher wissen, was eigentlich mit ihnen los ist.
gemiedene Situationen wieder aufsuchen und öffentliche Verkehrsmittel benutzen.
Paradoxe Intervention. Unter der Zielvorgabe einer diag-
Vorgehen bei Panikerkrankungen
nostischen Klärung wird dann eine sog. »paradoxe Intervention« durchgeführt. Während die Patienten bislang alles getan haben, um sicherzustellen, dass kein Panikzustand möglich ist, werden sie nun gebeten, diesen gefürchteten Zustand möglichst genau zu beschreiben und ihn zu diagnostischen Zwecken sogar willentlich herbeizuführen. Der Patient wird gebeten, sich in eine Situation zu begeben, von der er annimmt, dass sie einen Panikzustand auslösen könnte, und möglichst genau zu beschreiben, was in ihm selbst abläuft – sowohl körperlich wie psychisch – und dabei Erwartungen besonders zu beachten.
Bei Panikerkrankungen wird grundsätzlich ein ähnliches Vorgehen gewählt, wobei die Selbstbeobachtung des Patienten von Beginn an stärker darauf abgestellt wird, zu analysieren, was in der jeweiligen Situation genau abgelaufen ist und was ihm durch den Kopf gegangen ist, bevor es zu den Panik- und Angstzuständen kam.
Reaktionsexposition und kognitives Reframing. Es handelt sich hierbei also um eine »Reaktionsexposition«, die sorgfältig zu unterscheiden ist von einer »Stimulusexposition«. Letzteres ist das, was der Patient bislang gemacht hat, indem er seine Aufmerksamkeit auf die Stimuli der »gefährlichen« Situation gerichtet hat. Dies führt zu weiterer Angst und ist untherapeutisch. Im Gegensatz dazu ist bei der Reaktionsexposition die Aufgabe für den Patienten, den Ablauf der Panikreaktion in allen Einzelheiten zu beschreiben. Dadurch erfolgt bereits ein sog. »kognitives Reframing«. Aus vegetativen Symptomen, die für den Patienten Zeichen von Angst und Hinweise für den drohenden Zusammenbruch waren, werden nun Herzklopfen, schweißnasse Hände und Atembeklemmung, die schließlich sogar als »normale Reaktion« bei Angst interpretiert werden können. Ein solches kognitives Reframing hat den Nebeneffekt, dass in der Regel die Patienten entgegen ihrer eigenen Erwartung keine Panikreaktion erleben. Antizipatorische Kognitionen. Im nächsten Schritt der Therapie werden die Patienten nun zunehmend mehr in ihrer Aufmerksamkeit auf die antizipatorischen Kognitionen hingelenkt. Im Rahmen von Vorstellungsübungen werden leichtere Angstreaktionen ausgelöst, wodurch der Patient den Zusammenhang zwischen Situationsbewertung und Angstreaktion verstehen lernt. Es wird dann versucht, diese angstauslösenden Fantasien explizit zu machen und auf ihren Realitätsgehalt hin zu untersuchen. Die Patienten werden angehalten, sich die schlimmste Konsequenz vorzustellen und in Gedanken durchzuspielen. Dabei wird mit dem Patienten auch für diese Situationen kompetentes und nichtphobisches Verhalten eingeübt.
Fazit Bei diesem Behandlungsprozess der Phobien und Panikerkrankungen kommt es in aller Regel nicht zur Auslösung einer echten Panikattacke. Dies wäre auch kontraproduktiv, da dadurch ein Angstlernprozess eher unterstützt und verstärkt wird. Auch eine Habituation, so wie sie als Therapieprinzip der systematischen Desensibilisierung zugrundeliegt, spielt bei dieser Art moderner kognitiver Verhaltenstherapie der Phobien nur eine untergeordnete Rolle. Sie ist von primärer Bedeutung bei der Behandlung von Monophobien. Stattdessen liegt bei der Agoraphobie die eigentliche therapeutische Wirkung im kognitiven Reframing, in der Selbstkontrolle über antizipatorische Angstphantasien und in einer Veränderung vegetativer Reaktionen bei unspezifischen wie spezifischen arousalauslösenden Stimuli.
Therapeutische Wirksamkeitsbelege Es liegt eine große Zahl von Therapiestudien vor, die eine gute klinische Wirkung der kognitiven Verhaltenstherapie bei Agoraphobie und Panikerkrankungen belegen, so dass beim derzeitigen Stand diese Behandlungsmethode sogar als Therapie der ersten Wahl anzusehen ist. Entsprechende Übersichten (Chambless u. Gillis 1993; Clum et al. 1993; Clark 1994; Grawe et al. 1994; Hollon u. Beck 1994) legen nahe, dass etwa 80% der fachgerecht behandelten Patienten angstfrei werden bzw. signifikante Besserungen zeigen, während Wartelistenkontrollgruppen nur in 20% der Fälle (spontane) Besserungen aufweisen. Diese Veränderungen erweisen sich beim überwiegenden Teil der Patienten auch in Katamnesen als stabil.
31.4.5
Persönlichkeitsstörungen
Übung in realen Situationen. Jeder dieser Entwicklungs-
schritte wird durch Übungen in den realen angstauslösenden Situationen begleitet. Wenn erforderlich, kann dies auch einmal in Begleitung des Therapeuten geschehen. Bei typischem Therapieverlauf ist zu erwarten, dass innerhalb von 15 Behandlungsstunden die Patienten vorher
Theoretische Modelle Die verschiedenen Persönlichkeitsstörungen, wie sie beispielsweise im DSM-IV und ICD-10 beschrieben werden, unterscheiden sich z. T. sehr grundsätzlich voneinander. Dies gilt selbst dann, wenn man verschiedene Persönlich-
763 31.4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
keitsstörungen innerhalb der Oberklassen bzw. sog. Cluster (sonderbar, traumatisch, ängstlich) miteinander vergleicht. Auf der anderen Seite zeigen empirische Befunde, dass es jedoch phänomenologisch auch eine große Überschneidungsmenge zwischen den verschiedenen Persönlichkeitsstörungen gibt, was sich nicht zuletzt in hohen Raten sog. Komorbidität widerspiegelt (Ferguson 1992; Perry 1992; Vize u. Tyrer 1994). Ebenso gibt es eine Reihe von Charakteristika, die allen Persönlichkeitsstörungen als Definitionsmerkmale gemeinsam zu sein scheinen. Dementsprechend haben auch lerntheoretische Modelle zu Persönlichkeitsstörungen stets 2 Anteile. Zum einen beschreiben sie Aspekte, die sehr spezifisch nur für einzelne Subtypen von Persönlichkeitsstörungen, wie z. B. die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ oder die ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung, gelten. Des Weiteren enthalten sie aber auch grundsätzliche Elemente, die bei allen Persönlichkeitsstörungen in ähnlicher Weise zu finden sind. Im Folgenden können nicht die lerntheoretischen Modelle zu jeder einzelnen Persönlichkeitsstörung speziell dargestellt werden; es sollen dagegen einige verhaltenstheoretische Konzepte dargelegt werden, die grundsätzliche Mechanismen und Besonderheiten von Persönlichkeitsstörungen in Abgrenzung zu den sog. Achse-I-Störungen beschreiben.
Erklärungsansätze Es gibt eine Reihe verhaltenstherapeutsicher Theorien zur Erklärung von Persönlichkeitsstörungen. Am wichtigsten und bekanntesten sind die kognitiven Modelle von Beck u. Freeman (1990) bzw. Young (1990, Young et al. 2003), das auf soziale Fertigkeiten abstellende Konzept von Millon (1990), das interpersonale Verhalten in den Vordergrund stellende Modell von Safran u. Segal (1990) und die v. a. emotionale Störungen betonenden Konzepte von Wessler (1993) und Linehan (1993). Alle diese Modelle von Persönlichkeitsstörungen haben trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen gemeinsam, dass sie sowohl emotionale Aspekte als auch interpersonales Verhalten, Problemlösefähigkeiten und v. a. auch kognitive Aspekte berücksichtigen (Ecker 2005). Des Weiteren gilt, dass es sich um Störungen handelt, die früh im Leben angelegt oder erworben sind, die nicht mit Intelligenzdefiziten einhergehen und dennoch zu unflexiblem und fehlangepasstem Verhalten führen. Die Folge sind wesentliche Störungen im Sozial- oder Arbeitsbereich, Abwehrreaktionen bei der Umwelt und darüber vermittelt erhebliches subjektives Leiden auch für den Betroffenen selbst. Dabei ist eine Einsicht des Patienten in die eigene Störung zunächst nicht ohne weiteres möglich. Im Querschnitt sind Persönlichkeitsstörungen zudem eher schwer zu diagnostizieren. Erst die wiederholte Beobachtung von Patienten in unterschiedlichen Situationen ermöglicht
ein Erkennen des immer gleichen Verhaltensmusters (Millon 1990; Turkat 1990; Beck u. Freeman 1990; Safran u. Segal 1990; Young 1990; Bruch 1988; Wessler 1993).
Soziale Fertigkeiten Auf der Ebene der sozialen Fertigkeiten und interpersonalen Kommunikation kann man für jede Persönlichkeitsstörung charakteristische dominante Interaktionsstile beschreiben. Diese haben z. T. auch Eingang in die klinischen Beschreibungen etwa in DSM-IV oder ICD-10 gefunden. Patienten mit paranoiden Persönlichkeitsstörungen vertrauen sich beispielsweise nur sehr zögernd anderen Menschen an, fühlen sich rasch angegriffen, reagieren zornig und mit Gegenangriffen. Patienten mit schizoider Persönlichkeitsstörung integrieren sich nicht in Gruppen, nehmen keine engen Beziehungen zu Freunden auf, sondern bleiben eher alleine und erscheinen auch weniger ansprechbar gegenüber Lob und Kritik anderer. Patienten mit anti- bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörungen ignorieren soziale Normen, sind rücksichtslos, kommen sozialen Verpflichtungen nicht nach und verletzen die Rechte anderer. Patienten mit impulsiven Persönlichkeitsstörungen erscheinen leicht reizbar und zeigen überschießende und nicht vorhersehbare Ausbrüche von gewalttätigem und bedrohlichem Verhalten. Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine Neigung zu intensiven, aber unbeständigen Beziehungen zu beobachten mit Wechsel zwischen Überidealisierung und Abwertung von Sozialpartnern. Bei der histrionischen Persönlichkeitsstörung ist ein ständiges Verlangen nach Bestätigung und Anerkennung zu beobachten. Das Verhalten ist häufig auf unmittelbare Befriedigung ausgerichtet, und Frustration und Belohnungsaufschub werden schwer ertragen. Bei der anankastischen Persönlichkeitsstörung steht eine übermäßige Gewissenhaftigkeit und unverhältnismäßige Leistungsbezogenheit bei gleichzeitiger Vernachlässigung übergeordneter Verhaltensziele im Vordergrund. Rigidität und Eigensinn bestimmen auch die Art der Auseinandersetzung mit Dritten. Bei der ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung ist eine Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung und Kritik zu beobachten. Das eigene Verhalten wird unter dem Primat der Zuneigung und des Akzeptiertwerdens durch andere gesteuert. Gleichzeitig besteht eine Überbetonung potenzieller Gefahren und Risiken gerade auch im Kontakt mit Dritten. Bei der abhängigen Persönlichkeitsstörung schließlich ist zu beobachten, dass der Betreffende unfähig ist, alltägliche Entscheidungen zu treffen, sich ständig am Urteil anderer orientiert und somit extrem feldabhängig ist.
31
764
Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
Kompetenztraining und Klärung psychologischer Mechanismen. Jede dieser Verhaltensbeschreibungen bietet sich
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bei der abhängigen Persönlichkeitsstörung findet sich eine Selbstbeschreibung der eigenen Insuffizienz und Minderwertigkeit bei gleichzeitiger überhöhter Bedeutungszumessung an andere Personen.
an, um mit dem Patienten eine Verhaltensmodifikation im engeren Sinne anzustreben. Es liegt nahe, durch Methoden des sozialen Kompetenztrainings beispielsweise Patienten mit abhängiger Persönlichkeitsstörung anzuleiten, sich in konkreten Situationen auch einmal zu überlegen, was die eigenen Interessen sein könnten, und zu lernen, »nein« zu sagen. Nach den Berichten in der Literatur und klinischer Erfahrung stößt ein solches, ausschließlich kompetenzorientiertes Vorgehen aber sehr schnell an Grenzen, da sich die beschriebenen Verhaltensweisen übenden Therapieinterventionen gegenüber als eher veränderungsresistent erweisen. Von daher ist zusätzlich zu klären, welche psychologischen Mechanismen dazu führen, dass ein Patient mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung Aggressivität als eine primäre Problemlösestrategie einsetzt oder ein Patient mit dependenter Persönlichkeitsstörung ständig meint, tun zu müssen, was andere sagen.
Aus solchen schemaorientierten Beschreibungen von Persönlichkeitsstörungen leitet sich als therapeutische Intervention eine auf die jeweilige dysfunktionale Kognition zentrierte kognitive Therapie ab. Die Schemata werden nach den allgemeinen Methoden der kognitiven Therapie für die Patienten erkennbar und beschreibbar gemacht, um dann in einem nächsten Schritt hinterfragt, mit Alternativen konfrontiert und modifiziert zu werden. Auch dieses klassische Vorgehen der kognitiven Therapie stößt nach den Beschreibungen der bereits zitierten Literatur in der klinischen Anwendung schnell an Grenzen, weshalb alle einschlägigen Theorien als dritte wichtige Störungsebene charakteristische Emotionalitäten von Persönlichkeitsstörungen beschreiben.
Dysfunktionale Kognitionen
Affektstörungen
Ein anderer Erklärungsansatz sind dysfunktionale Kognitionen (Young et al. 2003). Für jeden Typ von Persönlichkeitsstörungen werden charakteristische Schemata beschrieben, die erklären sollen, warum es zu dem beobachteten inadäquaten Interaktionsverhalten kommt. Solche charakteristischen Schemata und kognitiven Grundannahmen sind beispielsweise bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung: »Jeder denkt nur an seinen eigenen Vorteil, wer nicht auf der Hut ist, wird hereingelegt«; bei der schizoiden Persönlichkeitsstörung könnte ein typischer Kernsatz lauten: »Beziehungen führen immer zu Problemen«; bei der dissozialen Persönlichkeitsstörung könnte ein Leitsatz lauten: »Jeder ist sich selbst der nächste«; bei der impulsiven Persönlichkeitsstörung könnte das Problem beispielsweise darin bestehen, dass Ereignisse in ihrer Bedeutung magnifiziert werden, d. h. dass aus einer Mücke ein Elefant gemacht wird und dann eine entsprechende Reaktion erfolgt; bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung wird eine Störung im Selbstbild angenommen. Dazu gehört die Unfähigkeit, sich auch in Beziehungen mit anderen einordnen zu können, sei es als liebenswert oder verachtungswürdig; bei der histrionischen Persönlichkeit steht eine Selbstbeschreibung der eigenen Grandiosität im Vordergrund; bei der anankastischen Persönlichkeit steuern »MussSätze« das Verhalten; bei der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung stehen antizipatorische Erwartungen von negativen Konsequenzen eigenen Verhaltens im Vordergrund;
Ein Kennzeichen von Persönlichkeitsstörungen ist, dass diese Menschen schon negative Reaktionen beim Gegenüber auslösen, obwohl noch gar kein längerer Kontakt bestanden hat und obwohl die inhaltlichen Äußerungen durchaus intelligent und sachgerecht sind. Die Erklärung hierfür ist der beteiligte Affekt (Linden 2006). In allen Beschreibungen von Persönlichkeitsstörungen und auch den verhaltenstherapeutischen Modellen wird daher Störungen des Affekts spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. Bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung ist eine Dominanz eines Misstrauensaffekts zu beobachten. Schizoide Persönlichkeitsstörungen gehen mit einer schizoiden Affektarmut einher. Dissoziale Persönlichkeitsstörungen leiden unter einem Mangel an Empathiefähigkeit. Impulsive Persönlichkeitsstörungen sind durch Affektinkontinenz zu charakterisieren. Emotional instabile Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ leiden, wie der Name bereits sagt, unter Affektlabilität. Histrionische Persönlichkeitsstörungen haben eine Störung in der Affektexpressivität, was zu einem dissoziierten und inadäquaten Affekt führt. Anankastische Persönlichkeitsstörungen zeigen einen zwanghaft ängstlichen Affekt. Abhängige Persönlichkeitsstörungen weisen ein dominantes Insuffizienzgefühl auf.
Beschreibung und Veränderung kognitiver Schemata.
Wirkung der Affektstörung auf andere. Diese charakteris-
tische pathologische Affektivität wird von dem Gegenüber unmittelbar wahrgenommen, so dass beispielsweise auf einen misstrauischen Affekt mit Irritation und ebenfalls Misstrauen reagiert wird. Ein schizoider affektarmer
765 31.4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
Affekt wird beim Gegenüber zu Irritation und Rückzug mit Verlust des Interesses am Gegenüber führen. Affektinkontinenz und Reizbarkeit beim Patienten führen beim Gegenüber ebenfalls zu heftiger Affektauslenkung und Aggressivität. Affektinadäquatheit und erhöhte Affektexpressivität führen beim Gegenüber zur Verwunderung, teilweise Amüsement, aber auch zu dem Gefühl, den anderen nicht ernst nehmen zu können. Dominante Insuffizienzgefühle auf der Seite des Patienten führen beim Gegenüber zum Erleben eigener Dominanz und möglichweise auch Rücksichtslosigkeit.
Zusammenhang zwischen Affektregulation und kognitiven Schemata Versucht man, die beschriebenen Besonderheiten im interpersonalen Verhalten, in den kognitiven Schemata und in der Affektregulation in ein gemeinsames Modell zu integrieren, dann bietet es sich an, bei der Affektstörung zu beginnen (Linden 1995 b, 2006). Geht man von einer primären Teilleistungsstörung in der Affektregulation aus, dann muss dies zwingend zu sekundären Störungen der affektiven Kommunikation und damit der Interaktion insgesamt führen. Wenn ein Patient aber möglicherweise von Kindheit oder Adoleszenz an stets die Erfahrung macht, dass andere Menschen mit Misstrauen und Abwehr reagieren, dann wird der eigene Misstrauensaffekt nicht als Ursache, sondern als gerechtfertigte Konsequenz erlebt. Dies erklärt, dass Patienten mit Persönlichkeitsstörungen erhebliche Probleme haben, die eigene Störung überhaupt zu erkennen und sich selbst und nicht die Umwelt als Ursache des Problems wahrzunehmen. Die ständige Erfahrung, dass anderen scheinbar nicht zu trauen ist, muss dann zwangsläufig auch zur Ausbildung eines Weltbildes, d. h. kognitiver Schemata, führen, die quasi als Erklärung dienen. Solche tertiären kognitiven Schemata, etwa der Art »man kann niemandem trauen«, können dann eine nachträgliche Erklärung des eigenen Affektes geben und gleichzeitig auch den pathologischen Leitaffekt noch verstärken. Die in allen Beschreibungen von Persönlichkeitsstörungen hervorgehobenen sozialen und beruflichen Anpassungsprobleme sind dann eine quaternäre zwingende Konsequenz.
Therapeutischer Prozess bei Persönlichkeitsstörungen Die eben beschriebenen psychopathologischen und pathopsychologischen Aspekte von Persönlichkeitsstörungen lassen sich in der Regel bis in die Kindheit und Adoleszenz zurückverfolgen. Dies gehört zur Definition von Persönlichkeitsstörungen. Insofern sind es früh erworbene Eigenschaften der Patienten, wobei zunächst unerheblich ist, ob die Affektstörungen angeboren oder durch hirnorganische oder psychologische Traumata erworben worden sind.
Biografische Analyse. Bei der biografischen Analyse wird
man in vielen Fällen aus der Entwicklungssituation des Betroffenen in der frühen Kindheit und Jugend Hypothesen ableiten können, warum der Patient diese Persönlichkeitsstörung entwickelt hat. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass man mit solchen Kausalannahmen sehr vorsichtig sein muss, da Persönlichkeitsstörungen ihre Umwelt stärker beeindrucken, als die Umwelt das Verhalten der Patienten steuern könnte. Insofern können Auffälligkeiten im Erziehungsstil ebensogut auch schon die Konsequenz der damals bereits bestehenden Störung sein und müssen nicht die Ursache gewesen sein. Ebenso sind auch wechselseitige Verstärkungen denkbar. Ansatz der Interventionen. In der Verhaltenstherapie
wird man solche biografischen Zusammenhänge in der Therapie ebenfalls herausarbeiten und sie insofern nutzen, als sie dem Patienten ein besseres Verständnis dafür ermöglichen, dass er unter einer Störung leidet, die ihn als Person und Persönlichkeit seit jeher charakterisiert. Die therapeutischen Interventionen zu einer Veränderung werden in aller Regel jedoch nicht an der Biografie ansetzen, sondern am aktuellen pathofunktionellen Mechanismus. Keine Problemlösungen. Die Patienten kommen typi-
scherweise in Behandlung mit der Bitte um Hilfe bei der Lösung von Lebensproblemen. Es ist jedoch wenig erfolgversprechend, sich auf die Lösung von Lebensproblemen einzulassen. Zum einen gibt es für die im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen stehenden Anpassungsprobleme keine einfachen »Problemlösungen«, da sie Ausdruck des Verhaltens des Patienten sind. Sollte es tatsächlich aber in einem Punkt zu einer Problemlösung kommen, ergeben sich in der Regel an derselben Stelle gleich wieder neue Probleme. Interaktion zwischen Patient und Therapeut. Die kogni-
tive Verhaltenstherapie setzt direkt an den 3 zentralen pathologischen Prozessen an, d. h. dem inadäquaten Interaktionsverhalten, den dysfunktionalen Schemata und der Affektregulationsstörung. Alle 3 psychologischen Phänomene müssen sich ihrer Natur nach auch unmittelbar in der Interaktion zwischen Patient und Therapeut zeigen. Daraus ergibt sich zum einen, dass in der Durchführung der Therapie sichergestellt werden muss, dass die Psychopathologie nicht auch die Therapeuten-Patienten-Beziehung dominiert. Zum anderen ermöglicht es aber auch, die Therapie unmittelbar am Gegenstand der Therapeuten-Patienten-Beziehung durchzuführen. Im Gegensatz zur Behandlung bei anderen Störungen, in denen Patient und Therapeut am Bei-
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Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
spiel von externen Situationen, Aufgaben und Lebenssituationen arbeiten, gilt in der Therapie von Persönlichkeitsstörungen, dass das Anwendungsbeispiel, die Kommunikation zwischen Patient und Therapeut, unmittelbar ist.
Therapeutische Leitlinien Im Folgenden ist es nicht möglich, alle Details der Verhaltenstherapie bei den verschiedenen Persönlichkeitsstörungen zu beschreiben. Es können stattdessen nur einige grundsätzliche Leitlinien dargelegt werden, die in ähnlicher Form für die Therapie aller Persönlichkeitsstörungen gelten.
Veränderung des Kommunikationsverhaltens Der entscheidende therapeutische Ansatz zur Veränderung von Interaktionsverhalten, Kognitionen und partiell auch Emotionalität liegt in der Veränderung des Kommunikationsverhaltens des Patienten mit dem Therapeuten. Die Art, wie der Patient mit dem Therapeuten interagiert und auch die unmittelbaren Reaktionen des Therapeuten auf das Patientenverhalten sind als Ausdruck der zugrundeliegenden Psychopathologie wahrzunehmen und zu interpretieren. Der nächste wichtige Schritt ist, dem Patienten ein Verständnis dafür zu ermöglichen, dass er selbst diese Kommunikation erschwert. Kommentierung der Interaktion. Eine therapeutische Me-
Empathie des Therapeuten. Wenn es richtig ist, dass die
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pathologische Affektregulation auch in der Beziehung zwischen Therapeut und Patient wirksam wird, dann werden beispielsweise Patienten mit einer paranoiden Persönlichkeitsstörung auch dem Therapeuten gegenüber misstrauisch sein und andererseits beim Therapeuten selbst Misstrauensaffekte wecken. Die erste Voraussetzung in der Therapie von Persönlichkeitsstörungen ist deshalb, diese spontane eigene psychische Reaktion nicht kommunikationsbestimmend werden zu lassen. Die Wahrnehmung des eigenen Affekts und des Affekts des Patienten ist diagnostisch aufzugreifen und als Ausdruck der vorliegenden Störung zu beschreiben. Statt des eigenen spontanen normalen Affekts, der selbst als Ausdruck des »pathologischen« Zustandes des Patienten zu verstehen ist, muss von Therapeutenseite zunächst ein hohes Maß an Empathie realisiert werden. Das heißt, dass der Therapeut sich in die Erlebens-, Sichtund Denkweise des Patienten hineinversetzt und dem Patienten dieses Verständnis auch vermittelt. Die Patienten haben bis dahin weitgehend nur die Erfahrung gemacht, dass sie in ihrer Umwelt auf Unverständnis stoßen. Ein hohes Maß an Empathie stellt damit bereits eine erste wichtige therapeutische Intervention dar, da die Patienten das für sie seltene Erlebnis haben, verstanden zu werden, was eine weitere Selbstöffnung fördert. Unkonditionales Akzeptieren. Das zweite wichtige Thera-
pieprinzip ist ein unkonditionales Akzeptieren des Patienten. In normalen sozialen Interaktionen ist Zuwendung konditional, d. h. abhängig davon, ob die Interaktion für beide Seiten befriedigend ist. Kommt es zu Spannungen, wird sie abgebrochen. Da Patienten mit Persönlichkeitsstörungen nahezu immer spannungsgeladen interagieren, ist Zurückweisung durch Dritte für sie eine alltägliche Erfahrung. Eine solche Reaktion werden sie selbstverständlich auch vom Therapeuten erwarten. Von daher ist es wichtig, dem Patienten zu vermitteln, dass die therapeutische Beziehung nicht konditional von Wohlverhalten ist, sondern für den Patienten vorhersehbar stabil bleiben wird.
thode hierzu ist beispielsweise die Selbsteinbringung des Therapeuten mit Kommentierung der laufenden Interaktion auf einer Metaebene. Hierbei hilft die Rolle als Therapeut und das grundsätzliche Einverständnis darüber, dass der Therapeut eigentlich kein persönliches Interesse an dem Patienten hat, wie auch keine Intention, dem Patienten etwas Böses zu tun. Aufgrund dieser Voraussetzung kann der Therapeut eigene »spontane Reaktionen« und aufkommende Gefühle dem Patienten mitteilen und die Frage stellen, ob das eigentlich gemeint war und ob der Patient tatsächlich eine solche Reaktion hervorrufen wollte. Dies wiederum ist dann Voraussetzung dafür, dass der Patient die Möglichkeit erhält, das Muster seiner Kommunikation erkennen und beschreiben zu lernen. Interaktion als Beobachtungsgegenstand. Je mehr die
Interaktion zwischen Therapeut und Patient zum Beobachtungs- und Therapiegegenstand wird, desto weniger hat die Psychopathologie eine direkte interaktive Wirkung. Dies führt zu einer Entspannung in der gegenseitigen Beziehung und ermöglicht es, sich mit dem Patienten, quasi an der Psychopathologie vorbei, »von Mensch zu Mensch« verständigen zu können. Bei diesem Vorgehen macht der Patient die Erfahrung, dass die Ursache der Kommunikationsstörung in seinem Interaktionsverhalten liegt und dass er gefordert ist, sein Interaktionsverhalten so zu gestalten, dass es bewirkt, was intendiert war. Veränderung kognitiver Schemata und der Affektregulation. An diesem Punkt der Entwicklung kann die Frage
nach den kognitiven Schemata und der spontanen Affektregulation gestellt werden. Gerade die begleitenden Emotionen werden von dem Patienten oft sehr schnell als Ichfremd erlebt, weil sie eigentlich anders reagieren möchten. Dieses Erleben ist dann wiederum Ausgangspunkt für die Frage nach Veränderungs- und Einflussmöglichkeiten in der emotionalen Regulation wie auch die Frage nach der Evidenz der Inhalte der kognitiven Schemata. Partiell können Patienten sowohl auf die Affektregulation als auch auf die Kognitionen Einfluss nehmen. Teilweise
767 31.4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
werden sie aber gerade ihre Emotionalität als schwer beeinflussbar erleben. Kompensation. Hier setzen dann verhaltenstherapeutische Überlegungen an, wie ggf. kompensatorisch eine möglicherweise primär nicht hinreichend beeinflussbare Störung eingegrenzt werden kann. Auch dies kann dann wiederum in der direkten Interaktion zwischen Therapeut und Patient eingeübt werden. So kann beispielsweise bei reizbar impulsiven Persönlichkeiten, bei denen es dem Patienten nicht möglich ist, seine Affektauslenkungen verlässlich unter Kontrolle zu halten, geübt werden, Situationen zu erkennen, die voraussichtlich unangemessene Affektausbrüche provozieren, und ihnen gezielt aus dem Weg zu gehen (Volk u. Linden 1992). Ebenso kann gelernt werden, wie man sich nach solchen Affektausbrüchen beispielsweise entschuldigen und die eigentliche Intentionalität noch einmal erklären kann, um zu reparieren, was zunächst zerschlagen wurde. Insbesondere mit engen Sozialpartnern kann auf diese Art auch ein Verständnis und damit eine Nachsicht für bestimmte Symptomanteile erarbeitet werden.
Wirksamkeitsbelege Die Zahl kontrollierter Studien zum Wirksamkeitsnachweis für kognitive Verhaltenstherapie bei verschiedenen Formen von Persönlichkeitsstörungen ist deutlich geringer als in anderen Anwendungsbereichen. Beispielhaft für den Versuch eines konsequenten Wirksamkeitsnachweises können die Arbeiten von Linehan (1993) angesehen werden. Die Daten mehrerer Studien legen nahe, dass bei emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ die Rate parasuizidaler Handlungen innerhalb eines Jahres reduziert werden kann (Linehan et al. 1994, 2006). Auch zur kognitiven Schematherapie von Young (1990) liegen inzwischen erste empirische Belege der Wirksamkeit vor (Giesen-Bloo et al. 2006). Hinsichtlich der Gruppe der ängstlichen Persönlichkeitsstörungen muss ersatzweise auf Erfahrungen aus der Therapie der sozialen Phobie und generalisierten Angsterkrankung verwiesen werden, die fließende Übergänge zur Gruppe der Persönlichkeitsstörungen haben. Entsprechende Untersuchungen für den Bereich der exzentrischen ClusterA-Persönlichkeitsstörungen liegen bislang nicht vor.
31.4.6
Schizophrene Erkrankungen
Theoretische Modelle Es gibt keine verhaltenstherapeutischen Modelle, die versuchen würden, die Entstehung von paranoid-halluzinatorischen Psychosen im kausalen Sinne zu erklären. Dies hindert aber nicht daran, dass auch bei diesen Erkrankungen eine Reihe sinnvoller Behandlungsindikationen für Verhaltenstherapie gegeben ist (Stieglitz u. Gebhardt 2005).
Verminderung von Belastungen Unter einem Vulnerabilitäts-Stress-Modell wird auch bei paranoid-halluzinatorischen Erkrankungen davon ausgegangen, dass akute Episoden durch Stressoren stimuliert werden (Nuechterlein u. Dawson 1984; Hahlweg u. Dose 1998). Insbesondere vor dem Hintergrund der Forschung zum EE-(»expressed emotion«-)Konzept und auf der Basis von neuropsychologischen Befunden kann angenommen werden, dass Patienten mit einer wie auch immer verursachten Vulnerabilität für schizophrene Erkrankungen oder bei bereits bekannter Erkrankung durch komplexe Reizkonstellationen leicht überfordert werden. Dies können emotionale Spannungen in der Familie, Gruppenbegegnungen, Aufenthalte in fremder Umgebung und soziale Spannungen sein. Es entspricht auch der klinischen Erfahrung, dass in solchen Situationen ein erhöhtes Risiko für eine Exazerbation der psychotischen Symptomatik besteht. Daraus ergibt sich als Therapieansatz, mit Patienten zu lernen, ihre Wahrnehmungen zu strukturieren und zu vereinfachen. Ebenso kann ein Training der sozialen Kompetenz den Patienten besser in die Lage versetzen, konfliktgeladende soziale Situationen besser zu bewältigen und damit der eigenen Überlastung vorzubeugen (Saupe et al. 1991; Roder et al. 2003; Klingberg et al. 2003; ⊡ Abb. 31.5).
Therapie der Minussymptomatik Ein zweiter wichtiger Ansatzpunkt in der Verhaltenstherapie schizophrener Erkrankungen ist die Minussymptomatik (Bailer et al. 2001). Bei einer großen Zahl von Patienten mit schizophrenen Erkrankungen kann durch eine konsequente Behandlung die sog. produktive Symptomatik sehr gut beherrscht werden. Unbefriedigend ist, dass bei vielen Patienten nach Abklingen der Akutsymptomatik eine überdauernde Minussymptomatik mit Antriebsreduktion, Affektverflachung und gestörter Intentionalität zu beobachten ist. Diese Minussymptomatik führt dazu, dass die Patienten in ihrer sozialen Anpassung wesentlich gestört bleiben und in der Gefahr stehen, nicht arbeits-, sozial- oder familienfähig zu sein. Verhaltenstherapie bietet eine Reihe von Behandlungsmethoden, die eingesetzt werden können, um dem Patienten zu helfen, seinen Tag besser zu strukturieren, seine soziale Isolierung teilweise zu überwinden und auch die Selbstpflege zu verbessern.
Verbesserung der Compliance Ein dritter wichtiger Ansatzpunkt für Verhaltenstherapie stellt die Medikamentencompliance (Bäuml u. PitschelWalz 2003) dar. Neuroleptika sind bei schizophrenen Erkrankungen eine unverzichtbare Basistherapie. Neben der Behandlung akuter Episoden ist auch eine prophylaktische Langzeittherapie unabdingbar. Die Erfahrung ist aber, dass etwa ein Drittel der Patienten die erforderliche Langzeittherapie bereits innerhalb eines Jahres vorzeitig
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768
Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
Persönliche Vulnerabilitätsfaktoren Dopaminerge Dysfunktion
Reduzierte VerarbeitungsKapazität (Informationsverarbeitung, Gedächtnis)
Autonome Hyperaktivität bei aversiven Reizen
Schizotypische Persönlichkeitszüge
Persönliche Schutzfaktoren Bewältigungsressourcen, Selbstwirksamkeit
Antipsychotische Medikation, Compliance
Externe Schutzfaktoren Familiäres Problemlösen
Unterstützende psychosoziale Interventionen
Überlastung, Tonische Hypererregung, Defizitäre Verarbeitung, Überforderung
Ergebnis: Prodromalsymptome Soziale Funktionseinschränkungen, Schizophrene (positive und negative) Symptomatik
Belastende, potenzierende Umweltfaktoren Kritisches, emotional überinvolviertes Familienklima
Überstimulierende soziale Umwelt
Belastungen, kritische Ereignisse
⊡ Abb. 31.5. Vulnerabilitäts-Stress-Modell als Grundlage der (kognitiven und familienbezogenen) Verhaltenstherapie bei Schizophrenie
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abbricht, so dass die psychischen Probleme der Patienten mit der Dauermedikation einer der wesentlichsten Bedingungsfaktoren für Rückfälle und chronifizierende Krankheitsverläufe ist. Ursachen der Non-Compliance sind häufig Behandlungseinstellungen der Patienten, wie beispielsweise das Gefühl, dass eine »Abhängigkeit« von Tabletten nicht mit dem Selbstbild einer unabhängigen Persönlichkeit in Übereinstimmung zu bringen ist, oder dass es nicht zu akzeptieren ist, weiterhin mit dem »Risiko« einer Erkrankung leben zu müssen. Die Verhaltenstherapie (Klingberg et al. 2003) bietet eine Reihe von Interventionsmöglichkeiten, um solche Einstellungen zu modifizieren.
nehmen (Fowler u. Morley 1989; Wiedemann u. Klingberg 2003). Aus der klinischen Erfahrung ist bekannt, dass bei mittelgradig akuten oder chronischen paranoid-halluzinatorischen Psychosen Patienten eigene Strategien entwickeln, um beispielsweise Stimmen zu unterdrücken. Hierzu gehört eine Geräuschkulisse durch Musik oder Versuche, bewusst weg zu hören. Es ist inzwischen belegt, dass insbesondere bei chronischen Wahnsymptomen und Halluzinosen auch produktive Symptome einer gewissen Selbstkontrolle unterliegen und auf diesem Weg gemindert werden können.
Familienedukative Programme
Wie an den Behandlungszielen bereits deutlich geworden ist, gibt es keine ausformulierte verhaltenstherapeutische Strategie bei schizophrenen Erkrankungen. Stattdessen ist grundsätzlich das gesamte Methodenarsenal der Verhaltenstherapie einzusetzen, von Methoden des Verhaltensaufbaus über Methoden des sozialen Lernens bis hin zu Veränderungen von Kognitionen. Es gibt einige ausformulierte Programme, die detailliert darlegen, wie die Behandlung von schizophrenen Erkrankungen erfolgen kann (Hahlweg et al. 2006; Roder et al. 2003; Klingberg et al. 2003).
Ein vierter Ansatzpunkt für Verhaltenstherapie bei schizophrenen Psychosen ist die Tertiärprophylaxe. Patienten mit schizophrenen Erkrankungen stellen für ihre Angehörigen häufig eine große Belastung dar. Andererseits können gerade Familienangehörige viel zur Entlastung des Patienten und zur Unterstützung seiner Behandlung beitragen. Mit diesem doppelten Ziel haben Behandlungsinterventionen zur Unterstützung von Familienangehörigen oder sog. familienedukative Programme (Hahlweg et al. 2006) in den letzten Jahren eine große Bedeutung bekommen.
Therapeutischer Prozess bei schizophrenen Erkrankungen
Verbesserung kognitiver Defizite. Ausgangsüberlegung
Einfluss auf die produktive Symptomatik Neben den soweit genannten gut etablierten und erprobten Verhaltenstherapieansätzen gibt es neue Ansätze, die versuchen, Einfluss auf die produktive Symptomatik zu
ist, dass die kognitiven Defizite, wie z. B. Störungen der Aufmerksamkeit, der Konzentration und der Verarbeitung komplexer Reizmuster, eine wichtige Rolle in der Erklärung der sozialen Defizite und der Beeinträchtigung
769 31.4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
bei den Alltagsbewältigungen spielen. In kleinen Gruppen mit in der Regel nicht mehr akut kranken Patienten werden genau beschriebene, vorab festgelegte Module bearbeitet, z. B. zur Verbesserung der Denkfähigkeit, zur sozialen Wahrnehmung, zur verbalen Kommunikation, zum interpersonalen Problemlösen, zum Medikamenten- und Symptommanagement durch den Patienten, zur Körperpflege oder zur Freizeitgestaltung.
Praktisches Vorgehen Es kann ein standardisiertes oder auch ein patientenzentriertes individuelles Vorgehen gewählt werden. Patienten bringen ein Alltagsproblem in die Therapie ein, das dann von allen Teilnehmern gemeinsam analysiert wird. Es werden dazu bestimmte Bewältigungsalternativen erarbeitet und bezüglich ihrer Vor- und Nachteile untersucht. Dabei sollte Wert auf die Nutzung von positiven Ressourcen und sozialer Unterstützung durch Dritte gelegt werden. Es werden auch hinsichtlich komplexerer Probleme Lösungsteilschritte herausgearbeitet. Es besteht dann die Möglichkeit, in der Gruppe mit Hilfe von Rollenspielen und Videofeedback bestimmte Problemlösungen einzuüben und auch möglicherweise nach Schwierigkeitsgrad zu stufen. Schließlich sollten für alle Patienten auch Hausaufgaben besprochen werden, in denen das in der Gruppe Besprochene in die Alltagssituation übertragen wird. In der nächsten Stunde sind die Erfahrungen mit den Hausaufgaben zu besprechen und als Ausgangspunkt für weitere Intervention der geschilderten Art zu nehmen. Die Erfahrung zeigt, dass Patienten sich auch außerhalb der Therapiestunden gegenseitig unterstützen können.
Rolle des Therapeuten Im Gegensatz zu anderen Gruppentherapieverfahren gilt in der Behandlung mit schizophrenen Patienten, dass die Rolle des Therapeuten sehr stark strukturierend ist. Die Patienten müssen immer wieder zur aktiven Mitarbeit aufgefordert werden. Ziele, die angegangen oder bereits auch erarbeitet wurden, müssen stets wiederholt werden. Emotionale Konflikte zwischen den Patienten in der Gruppe sollten vom Therapeuten frühzeitig wahrgenommen und bereinigt werden. Kontraindiziert wäre ein Gruppenprogramm etwa nach Art von Encountergruppen mit unklaren Interaktionsregeln und einem hohen Grad an Emotionalität.
Angehörigenarbeit Mit Blick auf die Unterstützung von Familien ist auf die Arbeiten von Hahlweg et al. (2006) zu nennen. Es geht bei dieser Art von Verhaltenstherapie nicht darum, Angehörige in der Rolle des pathogenen Agens zu therapieren.
Stattdessen wird anerkannt, dass Angehörige durch die Erkrankung des Patienten ebenfalls mitbelastet werden und v. a. aber, dass sie dem Patienten wesentliche Unterstützung geben können. Information. Die entsprechenden Gruppen haben zu al-
lererst einen »edukativen« oder »informativen« Teil, womit gemeint ist, dass den Angehörigen grundsätzliche Informationen über die Art der Erkrankung, die Symptomatik und die Behandlungsmöglichkeiten gegeben werden. Das Informationsdefizit und der Informationsbedarf von Angehörigen ist in aller Regel groß und eine sachliche und umfassende Aufklärung an sich eine wichtige entängstigende und motivierende Intervention. Bewältigung von Problemsituationen. In einem zweiten
Teil wird bei diesen familientherapeutischen Maßnahmen entweder nur mit den Angehörigen alleine, oder mit Angehörigen und Patienten gemeinsam über die Bewältigung typischer Problemsituationen gesprochen. Dies betrifft zum einen die Symptomatik, wie beispielsweise Rückzugsverhalten, Aggressivität, produktive Symptomatik. Es geht aber auch um Therapieprobleme, z. B. bei der Einnahme der Medikation oder um eine in Krisenfällen ggf. notwendige stationäre Unterbringung. Interaktionsstile der Familie. Ein drittes wichtiges Thera-
pieelement ist die Besprechung von Interaktionsstilen in der Familie. Hierbei werden auch die Bedürfnisse und Interessen aller Beteiligten im Familiensystem zur Sprache gebracht, so dass das Familiensystem nicht mehr ausschließlich vom Kranken und von dessen auffälligem Verhalten dominiert wird. Typische Abläufe von Konflikten werden verständlicher gemacht, indem sie nicht mehr qualitativ beschrieben, sondern durch eine Verhaltensbeschreibung präzisiert werden. In der Folge können dann Alternativen besprochen werden.
Therapeutische Wirksamkeit Es gibt inzwischen eine umfangreiche Literatur zur therapeutischen Wirksamkeit von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen bei schizophrenen Erkrankungen (Wunderlich et al. 1996; Bailer et al. 2001; Stieglitz u. Vauth 2001). Diese beziehen sich auf Veränderungsmessungen hinsichtlich der angestrebten Zielgröße, wie beispielsweise Grad der sozialen Kompetenz oder Kommunikationsverhalten. Sie belegen, dass schizophrene Patienten ebenso lernfähig und veränderungsfähig sind wie andere Patienten. Besonders eindrucksvoll sind die Ergebnisse, die durch die familientherapeutischen Maßnahmen erreicht wurden. In mehreren internationalen Studien konnte gezeigt werden, dass durch eine verhaltenstherapeutisch orientierte Familientherapie auch der Verlauf der Grunderkrankung wesentlich beeinflusst werden konnte. Die jährlichen Rückfallraten konnten im Durchschnitt hal-
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770
Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
biert werden. Ein Teil dieser Effekte ist sicher über eine bessere und konstantere Mitarbeit bei der medikamentösen Therapie vermittelt (Falloon u. Liberman 1983). Dies ändert jedoch nichts daran, dass Patienten ohne eine entsprechende Therapie im Durchschnitt schlechtere Verläufe haben als solche mit konsequenter Behandlung.
31.4.7
Alkoholabhängigkeit
Theoretische Modelle Positive und negative Verstärker. Alkohol hat eine Reihe
von unmittelbaren psychotropen Wirkungen. Dazu gehört eine gewisse Euphorisierung und unmittelbare Stimmungsanhebung, ein Nachlassen aversiver Stimmungen, wie z. B. Angst oder eine Beruhigung. Diese Wirkungen treten vergleichsweise rasch auf und haben damit alle Voraussetzungen, um sehr weitreichende Lernprozesse in Gang zu setzen (Drummond et al. 1990). Die unmittelbare Stimmungsanhebung kann als positive Konsequenz verstanden werden und muss daher als positiver Verstärker in einem operanten Paradigma wirken. Die Reduktion von aversiven Stimuli muss in gleicher Weise als negativer Verstärker wirksam werden.
31
Hinweisreize. Nimmt man ein operantes Verstärkungsparadigma ernst, dann gewinnen Hinweisreize eine große verhaltenssteuernde Wirkung. Hinweisreize können positiv wie negativ sein. Zur ersteren Gruppe gehören Schilder von Lokalen oder Werbeplakate, aber auch vielfältige sonstige Situationen, wie z. B. sich in einem Lokal aufzuhalten, sich zu einem Essen niederzusetzen oder mit jemandem zu einem sozialen Treffen zusammenzukommen. Hinweisreize der negativen Art sind aversionsauslösende Situationen oder auch unmittelbar aversive Affekte, durch die ebenfalls die Suche nach dem Alkoholkonsum ausgelöst werden kann. Vermeidungsverhalten. Ein zweiter lerntheoretischer As-
pekt beim Alkoholkonsum ist, dass die nachlassende Alkoholwirkung auch ohne Suchtverhalten bereits ein aversiver Stimulus sein kann, da der positive Affektzustand nachlässt. Bei längerem und kontinuierlichem Alkoholgenuss kann es dann zu zunehmend stärker ausgeprägten vegetativen Unruhezuständen kommen bis zum Prädelir und Delir. Die Alkoholeinnahme stellt dann ein typisches Vermeidungsparadigma dar, mit den zu erwartenden Konsequenzen einer kontinuierlichen Verstärkung sowohl der zu erwartenden Entzugssymptomatik als auch des Vermeidungsverhaltens in Form erneuter Alkoholeinnahme. Kognitive Schemata. Ein weiterer psychologischer Aspekt
des Alkoholkonsums sind charakteristische kognitive
Schemata. Je nach individueller Situation umfasst dies zum einen Einstellungen etwa zur sozialen Wertigkeit des Alkoholkonsums, wie z. B. »Wer nichts verträgt, ist kein Mann« oder »Wer nichts trinkt, ist ein Spielverderber«. Solche Einstellungen können eine Rolle bei der Einleitung und fortlaufenden Unterstützung des Alkoholkonsums darstellen. Pseudologische Erklärungen. Eine Sonderform dysfunk-
tionaler Kognitionen sind die für Suchterkrankungen typischen pseudologischen Erklärungen. Dazu gehört das Bagatellisieren des Alkoholkonsums trotz offensichtlich negativer Folgen oder der inadäquate Optimismus hinsichtlich der eigenen Selbstkontrollfähigkeit in der Zukunft. Es handelt sich hierbei um typische kognitive Denkfehler im Sinne von selektiver Abstraktion, arbiträrer Inferenz oder Minimierung und Maximierung in Abhängigkeit von emotionalen Voreinstellungen (Beck et al. 1997).
Folgen positiver Verstärkung Die angesprochenen psychologischen Prozesse können erklären, wie es zum gesellschaftlich akzeptierten Konsum und von dort zum Missbrauch und schließlich zur Abhängigkeit kommt (Lindenmeyer 1999; Petry 2005). Kognitive Schemata, wie sie auch als soziale Normen verstanden werden können, führen zu einer hohen Rate von Alkoholangeboten und Alkoholakzeptanz. In bestimmten sozialen Subgruppen kann dies alleine eine hinreichende Begründung für den Einstieg in einen Alkoholdauerkonsum auf hohem Niveau sein. Die positive operante Verstärkerwirksamkeit von Alkohol ist eine Erklärung für die Ausbildung solcher sozialen Normen. Sie kann erklären, warum es zu einem weitverbreiteten kontinuierlichen Alkoholkonsum kommt. Sie kann allerdings nicht süchtiges Trinken erklären. Positive Verstärkung führt zu einem Verhaltensanstieg des belohnten Verhaltens, jedoch pendelt sich die Rate dann auf mittlerem bis niedrigem Niveau ein. Dies könnte dem sozial akzeptierten regelmäßigen Alkoholkonsum entsprechen.
Folgen negativer Verstärkung Ein sich selbst verstärkender und damit letztlich unkontrollierter Trinkprozess ist unter Zugrundelegung von operanten Verstärkungsparadigmen erst dann zu erwarten, wenn es zu einem negativen Reinforcement kommt, d. h. wenn durch Alkohol aversive Affektzustände deutlich subjektiv entlastend verändert werden. Derartige aversive Zustände können Angst, Depression, Dysphorie, Unruhe, Stressgefühle, soziale Anspannungsgefühle und vieles andere sein. Solche psychologischen Mechanismen können ohne weitere Zusatzannahmen auch das Phänomen des »craving« erklären, d. h. das Verlangen oder die Sehnsucht nach Alkoholkonsum trotz
771 31.4 · Kognitive Verhaltenstherapie bei ausgewählten Erkrankungen
lange zurückliegender pharmakologischer Entgiftung. Des Weiteren kann dadurch erklärt werden, dass bei einem Rückfall alte gelernte Verhaltensschablonen sofort wieder reaktivierbar sind.
Entsprechend wird die abususauslösende Situation analysiert, Alternativverhalten durchgesprochen und die Situation erneut aufgesucht. Beschreibung. Das therapeutische Vorgehen beginnt
Therapeutischer Prozess bei Alkoholabhängigkeit Die Verhaltenstherapie bei der Alkoholabhängigkeit setzt an allen genannten pathogenetischen Mechanismen an. Soziale Normen und kognitive Schemata. Soweit im Ein-
zelfall soziale Normen und kognitive Schemata eine wichtige Rolle spielen, sind diese mit den Patienten nach den allgemeinen Verfahren der kognitiven Therapie zunächst zu beschreiben, als automatische Gedanken beobachtbar und zählbar zu machen, zu hinterfragen und mit Alternativen zu konfrontieren (Beck et al. 1997). Affekte. Soweit die Patienten primär oder auch infolge
eines längerfristigen Alkoholkonsums situationsabhängig oder grundsätzlich unter dysphorischen Affekten leiden, für die Alkohol ein wirksames Besserungsmittel ist, muss sich die Verhaltenstherapie auf die Bearbeitung dieser Affektzustände, seien es Depressionen oder Angstzustände, konzentrieren. Wenn diesbezüglich eine Besserung nicht möglich ist, muss mit dem Patienten auch eine größere Frustrations- und Dysphorietoleranz erarbeitet werden. Hinweisreize. Einen wichtigen Ansatzpunkt für therapeu-
tische Interventionen stellen schließlich auch die Hinweisreize dar, die das operant konditionierte Verhalten in Gang setzen. Die Behandlung versucht, die verhaltensstimulierende Wirkung dieser Hinweisreize zu verringern (Drummond et al. 1990; Sitharthan et al. 1997).
nach diesem Prinzip mit einer Beschreibung von Situationen, in denen das Verlangen nach Alkohol besonders stark ist. Dies können sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen sein, wie eine beginnende Entzugssymptomatik mit vegetativ begleiteter Dysphorie, sonstige Missmutszustände, Angstsituationen, soziale Situationen und auch Situationen des Wohlbefindens, in denen Alkohol fehlt, um die Situation »vollkommen« zu machen. Suche nach Gemeinsamkeiten. Es werden dann über die
für den Patienten typischen suchtstimulierenden Situationen hinweg Gemeinsamkeiten gesucht und ein funktionelles Verständnis der Verhaltenskette erarbeitet, vom ersten suchtstimulierenden Reiz bis hin zum Trinken und wiederholten Trinken. Verhaltensalternativen. Im nächsten Schritt werden mit
dem Patienten Verhaltensalternativen erprobt. Dies kann bedeuten, dass mit dem Patienten beispielsweise sein Mangel an sozialer Kompetenz zum Gegenstand der Therapie wird, oder dass seine Frustrationstoleranz und seine Bereitschaft, negative Affektzustände zu tolerieren, erhöht wird. Wie an diesen Beispielen erkennbar, gibt es keine Standardtherapie hinsichtlich der im Einzelnen durchzuführenden Maßnahmen. Je nach Individualfall müssen andere Schwerpunkte gesetzt und andere therapeutische Interventionen aus dem Gesamtrepertoire verhaltenstherapeutischer Methoden gewählt werden. Exposition. Im nächsten Schritt wird mit dem Patienten
Die suchtstimulierende Situation Diese therapeutischen Ziele und Ansatzpunkte lassen sich gemeinsam angehen, wenn man die suchtfördernden Situationen als Ausgangspunkt nimmt. Manche konventionelle Art der Beratung von Abhängigkeitskranken stellt nicht nur die absolute Suchtabstinenz in den Vordergrund, sondern verbindet damit zugleich auch die Warnung vor bzw. die Empfehlung zur Abstinenz von suchtstimulierenden Situationen. Das verhaltenstherapeutische Vorgehen unterscheidet sich davon insofern, als suchtauslösende Stimuli nicht vermieden, sondern gezielt aufgesucht werden. Es wird eine Expositionsbehandlung durchgeführt und dem Patienten dabei vermittelt, in diesen Situationen ein besseres Bewältigungsverhalten zu zeigen. Gleichzeitig wird auch die verhaltenssteuernde Wirkung der Suchthinweisreize modifiziert. Ebenso wird ein Rückfall ggf. als ein zwar bedauerliches, aber ebenso zu begrüßendes Ereignis bezeichnet, an dem gelernt werden kann, was noch nicht kompetent beherrscht wird.
dann eine Expositionsbehandlung durchgeführt. Begonnen wird mit Situationen, von denen zu erwarten ist, dass der Patient sie meistern wird. Sollte ihm dies nicht gelingen, kann man den Ablauf als diagnostische Erfahrung fruchtbar in der Therapie verwenden. Jede Expositionsaufgabe oder auch Hausaufgabe wird grundsätzlich unter diagnostischer Perspektive genutzt, um noch besser im Detail mit dem Patienten herauszuarbeiten, wie die Stimulus-Reaktions-Verstärkungskette in der konkreten Situation aussieht und worin seine Kompetenzen und auch Kompetenzdefizite liegen.
Antabustherapie Es gibt seit vielen Jahren eine Diskussion unter Verhaltenstherapeuten, ob die positiven Alkoholwirkungen nicht aufgehoben werden können, indem beispielsweise durch eine Antabusgabe Alkoholgenuss statt zum Wohlbefinden zur Übelkeit führt. Lerntheoretisch wird Alkohol damit von einer Bestrafung gefolgt, was zu einer Un-
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Kapitel 31 · Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien
terdrückung des entsprechenden Verhaltens führen müsste (Sandler 2005). Es gibt einige klinische Berichte und Erfahrungen, die zeigen, dass ein solches Vorgehen in Einzelfällen erfolgreich sein kann. Das Problem ist, dass eine aversive Konsequenz nicht sicher zur Verhaltensunterdrückung führt, sondern insbesondere dann, wenn sie auch mit positiven Reinforcern im Wechsel oder gemischt auftritt, die Verhaltensrate sogar ansteigen lässt und löschungsresistent macht. Eine Antabustherapie sollte immer in eine umfassende Verhaltenstherapie eingebunden sein.
alkoholrückfällig. Die Frage, ob eine generelle bzw. sog. »multimodale« Verhaltenstherapie bessere Ergebnisse bringt als eine allgemeine psychiatrische Suchttherapie, muss nach den vorliegenden Daten eher verneint werden. Öjehagen et al. (1992) fanden in einer entsprechenden Vergleichsstudie keine Unterschiede. Ein gleiches Ergebnis erbrachte die MATCH-Studie (MATCH 1997; Carroll et al. 1998; Hautzinger et al. 2005), die 952 Alkoholabhängige einer gezielten kognitiven Verhaltenstherapie, einer Motivationstherapie oder einer 12-stufigen Unterstützungstherapie unterzog.
Langfristige Verhaltenskonsequenzen
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Eine andere Form der Änderung im Stimulus-ReaktionsReinforcement-Ablauf ist, nicht die Konsequenz zu ändern, sondern die Qualität des Hinweisreizes. Dies kann durch die Methode der »verdeckten Sensibilisierung« (Roth 2005) geschehen. Die übliche Stimulusreaktion der Reinforcementkette bezieht sich auf die unmittelbaren Reinforcer nach der Alkoholeinnahme. Diese sind positive oder negative Reinforcer. Demgegenüber sind die langfristigen Konsequenzen des Alkoholkonsums negativ. Das therapeutische Vorgehen zielt darauf ab, den Hinweisreiz auf Alkohol nicht nur mit den unmittelbaren Verhaltenskonsequenzen, sondern den langfristigen Verhaltenskonsequenzen zu assoziieren. Dies heißt verkürzt gesagt, dass die Brandweinflasche nicht mehr zum Signal für Entspannung wird, sondern für die spätere Übelkeit, das Unwohlsein, die körperlichen Schäden und die negativen sozialen Folgen. Die Patienten werden angehalten, sich die als besonders wirksam identifizierten Hinweisreize in der Vorstellung sehr lebhaft zu vergegenwärtigen und gleichzeitig dabei auch emotionale Vorstellungen über die langfristig negativen Folgen zu generieren. Verdeckte Sensibilisierung kann auch mit der unmittelbaren Exposition kombiniert werden und ist bei Alkoholerkrankungen besonders indiziert.
Therapeutische Wirksamkeitsbelege Die Behandlung von Alkoholkranken gehört zu den schwierigen therapeutischen Aufgaben und dies umso mehr, je weiter die Erkrankung fortgeschritten ist. Von daher gilt, dass eine entsprechende Therapie eher frühzeitig beginnen sollte. Jeder schädliche Konsum stellt bereits eine Indikation für eine gezielte Verhaltenstherapie dar. Es gibt inzwischen einige Wirksamkeitsbelege, die den Schluss zulassen, dass die Ergebnisse in der Behandlung von Alkoholabhängigen besser sind und sein können als in der Öffentlichkeit häufig angenommen. Stetter u. Mann (1997) berichten, dass nach einer Entgiftungstherapie 46% der Patienten eine Entwöhnungsbehandlung begannen. Hiervon erlitten 25% im Katamnesezeitraum von 4 Monaten einen Rückfall. Patienten ohne Entwöhnungsbehandlung wurden in 50% wieder
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31
32 32 Entspannungsverfahren M. Zaudig, R. D. Trautmann-Sponsel, A. Pielsticker 32.1 Allgemeine Einführung – 779 32.1.1 Historischer Überblick über die Entwicklung der Entspannungsverfahren – 779 32.1.2 Psychophysiologische Grundlagen der Entspannungsverfahren – 784 32.1.3 Psychologische Effekte von Entspannung – 785 32.1.4 Allgemeines zu Indikationen und Kontraindikationen der Entspannungsverfahren – 785 32.1.5 Entspannungsverfahren im Rahmen der Psychotherapie und Psychiatrie – 787 32.2 32.2.1 32.2.2 32.2.3 32.2.4 32.2.5
Hypnose – 788 Definition – 788 Phänomene der Hypnose – 788 Durchführung der Hypnose – 790 Varianten der Hypnose – 790 Indikationen und Kontraindikationen der Hypnose – 792 32.2.6 Hypnose und Psychotherapie – 793 32.2.7 Forschungsergebnisse zur Effektivität 32.3 32.3.1 32.3.2 32.3.3
– 793
Autogenes Training – 794 Definition – 794 Durchführung des autogenen Trainings – 794 Indikationen und Kontraindikationen des autogenen Trainings – 796 32.3.4 Forschungsergebnisse zur Effektivität – 796
32.4 32.4.1 32.4.2 32.4.3
Progressive Muskelrelaxation – 797 Definition 797 Theorie der progressiven Muskelrelaxation – 797 Durchführung der progressiven Muskelrelaxation – 798 32.4.4 Varianten der progressiven Muskelrelaxation – 798 32.4.5 Indikationen und Kontraindikationen der progressiven Muskelrelaxation – 798 32.4.6 Forschungsergebnisse zur Effektivität – 799 32.5 32.5.1 32.5.2 32.5.3 32.5.4 32.5.5
Biofeedback – 799 Definition – 799 Theoretische Grundlagen des Biofeedback – 800 Durchführung des Biofeedback – 802 Methoden des Biofeedback – 803 Indikationen und Kontraindikationen des Biofeedback – 805 32.5.6 Forschungsergebnisse zur Effektivität – 805 32.6 32.6.1 32.6.2 32.6.3 32.6.4 32.6.5
Sonstige Entspannungsverfahren – 807 Meditation – 807 Konzentrative Bewegungstherapie – 807 Imaginative Verfahren – 808 Funktionelle Entspannung – 808 Forschungsergebnisse zur Effektivität – 809
32.7
Leitlinien/EbM-Box Literatur
– 810
– 811
> > Entspannungsverfahren sind Methoden, die vorwiegend dem klinischen Bereich entstammen und zur Behandlung verschiedener Störungsbilder entwickelt wurden. Obwohl die Wurzeln mancher der hier geschilderten Entspannungsverfahren bereits in der Antike andeutungsweise beschrieben wurden, sind eindeutig nachweisbare Entwicklungen erst im 19. und 20. Jahrhundert zu verzeichnen. Die Anwendung von Entspannungsverfahren ist immer auch eingebunden in den Kontext der Zeitgeschichte und die jeweiligen Vorstellungen über Krankheitsverursachung und Krankheitsbehandlung. Daher wechselt auch die Popularität und Bedeutung in der Wissenschaft und Laienvorstellung. Die allgemein verbreitete Vorstellung, dass eine Großzahl organischer und psychischer Symptome stressbedingt sei, trug seit den 1970er Jahren sicherlich dazu bei, dass Entspannungsverfahren sowohl wissenschaftlich als auch in Laienkreisen äußerst populär geworden sind. Dies wiederum führte zu einer raschen Entwicklung auch nichtwissenschaftlich geprüfter sog. Entspannungsverfahren, die als Ultima ratio für alle möglichen Probleme gepriesen werden und die Entspannungsverfahren durch bewussten Missbrauch in den Bereich der Scharlatanerie rücken. Umso wichtiger erscheint es zu betonen, dass die hier geschilderten Entspannungsverfah-
ren (Hypnose, autogenes Training, progressive Muskelrelaxation und Biofeedback) wissenschaftlich gut untersucht sind. Der Einsatz dieser Verfahren setzt eine sachgerechte medizinische, psychiatrische und psychologische Diagnostik voraus. Ohne sie ist der differenzielle Einsatz von Entspannungskombinationsverfahren (Peter u. Gerl 1988), wie er heute aufgrund der Verfahrensvielfalt möglich ist, kaum zu vertreten. Entspannungsverfahren sind keine Therapien, sondern nur Methoden, die psychophysiologische (somatische und kognitive) Effekte erzeugen, die dann ihrerseits aufgrund des übergeordneten Therapieziels erst zu einem legitimen Bestandteil der Therapie werden (Vaitl u. Petermann 1994; Derra 2006 a).
779 32.1 · Allgemeine Einführung
32.1
Allgemeine Einführung
32.1.1
Historischer Überblick über die Entwicklung der Entspannungsverfahren
»Als erste Ära der Hypnose dürfen die alten hinduistischen Meditationspraktiken der Fakire und Yogis gelten, die bis ins 2. vorchristliche Jahrtausend zurückverfolgt werden können. Das bis heute verbreitete Yoga hat in der Induktion und dem Zielzustand des ungetrübten Bewusstseins (Trance) starke Ähnlichkeit mit der Hypnose« (Revenstorf u. Prudlo 1994, S. 190).
Frühgeschichte und Antike
Von der Magie zur Aufklärung
Die Entspannungsverfahren, insbesondere die Hypnose, haben eine lange Reihe von Ahnen und Vorläufern. Die historische und anthropologische Forschung förderte wichtige Befunde zutage, die darauf hinweisen, dass bei primitiven und frühgeschichtlichen Völkern viele der Entspannungsmethoden bzw. Teilvarianten von diesen gebräuchlich waren, die auch heute noch angewandt werden, wenn auch oft in abortiver Form. Beispielsweise gibt es schriftliche Aufzeichnungen und Hinweise bei den frühgeschichtlichen Ägyptern, Sumerern, aber auch in der Mahabharata (vorchristliches indisches Epos) oder im antiken Griechenland, die auf die Anwendung hypnoseähnlicher Techniken hinweisen (Ellenberger 1973). Bis heute verwenden viele Naturvölker der Gegenwart ähnliche Praktiken und diese Techniken werden nach wie vor überwiegend von Priestern (Medizinmännern, Schamanen) angewandt. Meist handelt es sich dabei um suggestive, meditative und hypnotische Methoden. Revenstorf u. Prudlo (1994) gliedern speziell den historischen Entwicklungsprozess der Hypnose in 5 Phasen.
Als historisches Entstehungsdatum für die moderne Psychologie und Psychotherapie benennt H. F. Ellenberger (1973) das Jahr 1775 (⊡ Tab. 32.1): »Zu dieser Zeit fand eine Konfrontation zwischen dem Arzt Franz Anton Mesmer (1734–1815) und dem Exorzisten Pater Johann Josef Gassner (1727–1779) statt. Gassner, ein ungemein erfolgreicher und beliebter Pfarrer und Heiler, verkörperte die Kräfte der Tradition; er beherrschte eine uralte Technik, die er im Namen der etablierten Religion anwandte. … Im Jahre 1774 verfasste Gassner ein Büchlein, in dem er die Grundsätze seiner Heilmethode erklärte. Er unterschied natürliche und übernatürliche Krankheiten, wobei die erste in den Bereich des Arztes gehören solle. Er unterschied 3 Kategorien: circumsessio – die vom Teufel hervorgerufene Nachahmung einer natürlichen Krankheit, obsessio – die Wirkung von Hexerei und possessio – die offenkundige Teufelsbesessenheit. In allen Fällen sagte Gassner den Patienten, dass der Glaube an den Namen Jesus die entscheidende Voraussetzung für eine Heilung sei und führte dann einen »Exorzismus probativus« (Probe-Exorzismus) durch. Daraufhin wurde der Dämon feierlich beschworen, die Krankheitssymptome hervorzubringen; erschienen die Symptome war dies für Gassner der Beweis, dass die Krankheit vom Teufel verursacht worden war und der Exorzismus indiziert sei. Zeigten sich keine Symptome schickte er den Patienten zum Arzt.«
⊡ Tab. 32.1. Historische Entwicklung der Entspannungsverfahren Zeit
Name
Begriffe/Inhalt
Antike/Mittelalter/ Renaissance/Barock
–
Suggestive/meditative hypnoseähnliche Methoden
1727–1779
Pater Johann Josef Gassner
Exorzismus
1734–1815
Franz Anton Mesmer
»Thierischer Magnetismus«, »physikalisches Fluidum«, »Krisen«, »Rapport«
1751–1825
Armand-Marie-Jaques de Chastenet, Marquis de Puyséur
»Künstlicher Somnambulismus«, »Wachheit im magnetischen Schlaf«, besondere Empfänglichkeit für Magnetisierung
1755–1819
Abbé José Custodio di Faria
»Luzider Schlaf«, »Suggestibilität« (auch posthypnotisch)
1789–1869
Carl Gustav Carus
Magnetismus als Ausdruck des unbewussten Seelenlebens
1808–1859
James Esdaile
Mesmeristische Anästhesie
1795–1860
James Braid
Hypnotismus; Autosuggestion
1823–1904
Auguste Ambroise Liébeault
Faszination; Suggestion
1840–1919
Hippolyte Bernheim
Suggestion, Psychotherapie (1891), Hypnose beruht auf Suggestion, 1. Schule von Nancy
1825–1893
Jean-Martin Charcot
Hypnose als pathologischer Zustand, Hysterie, Schule der Salpêtriére
1870–1959
Oskar Vogt
Fraktionierte Hypnose, Autohypnose
1857–1926
Emile Coué
Autosuggestion, 2. Schule von Nancy
1884–1970
Johannes H. Schultz
Autogenes Training
1885–1976
Edmund Jacobson
Progressive Muskelrelaxation
1901–1980
Milton H. Erickson
Utilisation, indirekte Suggestion, Hypnotherapie
32
780
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
Der traditionelle Exorzismus Gassners war jedoch nicht mehr unangefochten, Europa war in den Bann einer neuen Philosophie geraten, der Aufklärung, die das Primat der Vernunft über Unwissenheit, Aberglauben und blinde Tradition verkündete.
Krisen, diese wiederum sind Manifestationen latenter Krankheiten. Es sei besser, mehrere immer schwächer werdende Krisen hervorzurufen, als eine einzelne schwere Krise.
Puységurs Entdeckung Mesmers Heilmethode
32
Mesmer dagegen war ein Kind der »Aufklärung«, brachte neue Ideen, neue Methoden und große Hoffnungen für die Zukunft. Er trug zu Gassners Niederlage bei und glaubte, nun sei der Weg für die große wissenschaftliche Revolution frei, die ihm vorschwebte. Nach Revenstorf u. Prudlo (1994) setzte damit »die zweite Ära der Hypnose ein, in der sie nicht mehr als spirituelle, sondern als natürliche Kraft gedeutet, aber außerhalb des Menschen lokalisiert wird« (S. 191). Mesmers Heilmethode basierte auf seiner Theorie des »thierischen« (animalischen) Magnetismus; die von ihm und Gassner erzielten Effekte seien nicht auf das erfolgreiche Austreiben böser Mächte zurückzuführen, sondern auf die erfolgreiche Korrektur einer Art Biomagnetismus im Körper des Patienten. Im Jahr 1774 entdeckte Mesmer, dass magnetische Ströme in einer seiner Patientinnen durch ein Fluidum hervorgerufen werden, welches sich in seiner eigenen Person akkumuliert hatte. Er nannte es »thierischen Magnetismus«. Ein Magnet war nur ein Hilfsmittel zur Verstärkung dieses »thierischen Magnetismus« und gibt ihm eine Richtung. Im Jahr 1779 veröffentlichte er sein System in 27 Punkten, das sich nach Ellenberger (1973) in folgende 4 Grundprinzipien (Elemente) zusammenfassen lässt: Wesentliches (erstes) Element seiner Lehre war seine intuitive Erkenntnis, selbst Träger eines geheimnisvollen Fluidums, des »thierischen Magnetismus« zu sein. Jeder Mensch besitzt eine gewisse Menge von »thierischem Magnetismus«. Das zweite Element seiner Lehre waren die physikalischen Theorien, die das Wesen und Wirken des »thierischen Magnetismus« erklären sollten. Als drittes Element galt ihm die Analogie zu den zeitgenössischen Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizität. Das vierte Element seiner Lehre war die Theorie von den »Krisen«: Für ihn war die »Krise« der künstlich hervorgerufene Beweis für die Krankheit und das Mittel zu ihrer Heilung, »Krisen« seien jeweils spezifisch: Bei einem Asthmatiker sei es ein Asthmaanfall, bei einem Epileptiker käme ein epileptischer Anfall usw. Mesmers Lehre weist ansatzweise mehrere wichtige Grundannahmen der heutigen Psychiatrie und Psychotherapie auf: Ein Magnetiseur (Therapeut) sei das wesentliche therapeutische Agenz, ein Rapport (Beziehung), um eine Heilung zu ermöglichen, Heilung geschieht durch
Im Jahr 1785 entdeckte Armand-Marie-Jaques de Chastenet, Marquis de Puységur (1751–1825), einer der eifrigsten Schüler Mesmers, den »magnetischen Schlaf«. Puységur (⊡ Tab. 32.1) entdeckte eine eigenartige »Krise«, als er einen Patienten magnetisierte: Dieser verfiel in einen Schlaf, in dem er jedoch wacher und bewusster schien als im normalen Wachzustand. Nach dem Erwachen konnte er sich an nichts mehr erinnern. Die Ähnlichkeit dieses »magnetischen Schlafes« mit dem natürlichen Schlafwandel (Somnambulismus) wurde bald erkannt und daher als »künstlicher Somnambulismus« bezeichnet. Puységur nahm Abstand von der Fluidumtheorie Mesmers und stellte die Beziehung zwischen Patient und Magnetiseur in den Mittelpunkt: Es wurde eine Übertragung der geistigen Kraft des Magnetiseurs auf den Patienten angenommen und der »Rapport« zwischen Magnetiseur und Patient besonders betont (Ellenberger 1973).
Di Farias Technik 1813 hielt Abbé José Custodio di Faria (⊡ Tab. 32.1), ein portugiesischer Priester (1755–1819), in Paris eine öffentliche Vorlesung über den »luziden Schlaf« ab und kritisierte sowohl die Theorie von Mesmers Fluidum als auch die Theorie über den »Rapport«. Seiner Meinung nach stünde die magnetisierte Person im Vordergrund, bestimmte Menschentypen seien besonders empfänglich für die Magnetisierung (Ellenberger 1973). Damit war die Theorie von der Suggestibilität geboren (Weitzenhoffer u. Hilgard 1959; Peter 1991). Abbé Farias Technik bestand darin, seine Patienten in bequeme Stühle zu setzen, sie sollten seine erhobenen Handflächen fixieren und er befahl mit lauter Stimme: »Schlafen Sie!« Er rief in diesem Zustand bei den Patienten Visionen hervor und gab ihnen posthypnotische Suggestionen (Aufträge). Farias Technik verbreitete sich stark; Ärzte wie Alexandre Bertrand untersuchten den künstlichen Somnambulismus wissenschaftlich. Mit anderen Forschern betonte er die Tatsache (1823), dass die menschliche Psyche Gedanken und Schlüsse enthält, die unbewusst seien und die nur an den Auswirkungen erkennbar wären, die sie hervorbringen.
Romantik Anders als in Frankreich und Österreich herrschte Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts an deutschen Universitäten ein eindeutig freundlicheres Klima bezüglich des Magnetismus. In Berlin und Bonn gab es sogar Lehrstühle für Mesmerismus (Ermann 1925). Paradoxerweise gab gerade der Mesmerismus in Deutschland den Anstoß zur
781 32.1 · Allgemeine Einführung
Erforschung des sog. »unbewussten Seelenlebens«, eingebettet in die romantische, naturphilosophische Bewegung. Während die Aufklärung die Werte der Vernunft und der Gesellschaft in den Vordergrund stellte, pflegte die Romantik den Kult des Irrationalen, der Natur, der Inspiration und des Menschseins. Dies erklärt auch das besondere Interesse für Methoden wie den Magnetismus. Der Romantiker sucht in die Geheimnisse der Natur, aber auch der eigenen Seele einzudringen, daher rührt auch das Interesse der Romantik an allen Manifestationen des Unbewussten, wie an Träumen, an Geisteskrankheiten, an Parapsychologie, Spiritismus usw. Bezogen auf den Magnetismus war Gegenstand dieser Bewegung hauptsächlich der Rapport zwischen Hypnotiseur und Hypnotisant.
Carus über das Seelenleben Carl Gustav Carus (1789–1869), Arzt und Maler, schrieb in seinem Buch »Psyche« (1846) über das unbewusste Seelenleben: »Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewussten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins«. Spätromantiker wie Carus interpretierten den »Magnetismus« psychologisch als Ausdruck des unbewussten Seelenlebens und damit als nicht von außen kommendes physikalisches Prinzip, wie es Mesmer annahm. Carus begriff den Rapport als eine Art »Vermählung zweier Nervenleben« (Carus 1846). Die Sympathie sei die Voraussetzung der magnetischen Heilwirkung, die durch eine »Ueberwirkung des Unbewußten einer Seele auf das Unbewußte der Anderen« zustande kommt (Carus 1846; Schott u. Wolf-Braun 1993). Der »Magnetismus« gab der Medizin der Romantik den Anstoß nach der verborgenen Natur im Menschen zu fragen; die psychologische und psychosomatische Dimension von Kranksein und Gesundung rückten zum erstenmal explizit ins Blickfeld der Ärzte (Schott u. Wolf-Braun 1993).
Reils »rationale Psychotherapie« Die Psychiatrie der Romantik fällt in eine Zeit, in der zahlreiche Heilanstalten eröffnet und Geisteskranke in humaner Weise behandelt wurden. Es ist auch die Zeit, in der sich 2 Grundschulen in Deutschland bildeteten, die »Physiker« (Organiker) und die »Psychiker«, diese stellten psychische Ursprünge von Geisteskrankheiten in den Vordergrund. Johann Christian Reil (1759–1813) war sowohl Gehirnanatom als auch, nach Kirchhoff (1921), »der bewußte Entdecker und Begründer rationaler Psychotherapie«. Unter der Überschrift »Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Cur-Methoden auf Geisteszerrüttungen« entwirft Reil ein umfangreiches Programm für die Behandlung von Geisteskrankheiten, fordert für die Anstalten eine dreifache Leitung (Verwalter, Arzt und Psychologe), die Heilanstalt müsse in einer angenehmen Landschaft liegen, sollte Pavillons haben und einen eige-
nen Gutsbetrieb. Reil unterscheidet 3 Arten der Behandlung von Geisteskranken: klinische, physisch-mechanische und psychische. Er unterscheidet 3 Klassen psychischer Heilmittel: 1. Physikalische Reize, die eine Veränderung des Körpergefühls herbeiführen, z. B. auch eine Veränderung massiver Muskelverspannungen, 2. Veränderung des Denkens und von Sinnesreizen, am besten als kognitive Umstrukturierung zu interpretieren (Reil spricht von der »Umerziehung der Wahrnehmung«). Zu diesen Methoden gehören auch Rollenspiele, aber auch der Magnetismus, 3. schließlich empfiehlt er noch eine Art Beschäftigungsund Kunsttherapie. Nach Mesmers Theorie wurde die magnetische Kraft nicht mehr als spirituell, sondern als natürliche Kraft, aber von außen kommend gedeutet. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde auch die Annahme einer externen Kraft fallengelassen. Dadurch ist die dritte Ära der Hypnose gekennzeichnet (Revenstorf u. Prudlo 1994).
Positivismus und Rationalismus Mit der Erstarkung des Positivismus und des wissenschaftlichen Rationalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Mesmerismus verstärkt in den Bereich des unwissenschaftlichen romantischen Mystizismus und Spiritismus gedrängt und geriet nun vollends in Verruf als Okkultismus und Scharlatanerie.
Braids Neurohypnologie Unabhängig von diesem Zeitgeist wurde der englische Augenarzt James Braid (1795–1860) ein überzeugter Anhänger des Mesmerismus: 1841 besuchte er eine Vorführung des damals berühmten Magnetiseurs LaFontaine und überzeugte sich von der Echtheit der Phänomene. In Anlehnung an die Technik des Abbé di Faria ließ er in eigenen Versuchen die Patienten einen glänzenden Gegenstand fixieren, beobachtete dann die hierbei auftretenden physiologischen Veränderungen, schloss auf zentralnervöse Umschaltprozesse und konstruierte eine neurophysiologische Theorie. Das Ganze nannte er »Neurohypnologie« (1843). Später prägte Braid (⊡ Tab. 32.1) dann den Begriff des »Hypnotismus«. Braid führte den »magnetischen Schlaf« nicht auf den einzelnen Einfluss des Magnetiseurs, sondern auf die innere Selbstbeeinflussung, die Autosuggestion des Magnetisierten zurück. ! Die Konzentration des Magnetisierten auf eine bestimmte Vorstellung erzeuge den »nervösen Schlaf«, den Braid als erster Mediziner durch seinen Begriff der Hypnose definierte und damit eine neue Ära medizinischer Forschung und Therapie einleitete.
32
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Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
Hypnose war nun rein psychophysiologisch erklärbar und Suggestibilität wurde von ihm als allgemeines Charakteristikum und nicht als spezifischer, von der Hypnose hervorgerufener Zustand bezeichnet (Braid 1843). Braid war einer der ersten, der Hypnotismus als wissenschaftliche Untersuchungsmethode einführte, daher entging er dem Schicksal seines Kollegen Esdaile (⊡ Tab. 32.1), der seine Reputation und Krankenhausanstellung verlor. Braids Psychophysiologie stellte eine erste psychosomatische Theorie dar, in der Imagination, Erwartungshaltung, Aufmerksamkeit und physiologische Korrelate in ein dualistisches Konzept integriert wurden (Kravis 1988; Schott u. Wolf-Braun 1993). Der Hypnotismus im Sinne di Farias und Braids etablierte sich als wissenschaftliches Verfahren und grenzte sich scharf vom Mesmerismus ab.
Liébeault, Bernheim und die Schule von Nancy
32
Einer der wenigen, der weiterhin öffentlich in Frankreich hypnotisierte, war der Landarzt Auguste Ambroise Liébeault (1823–1904). Liébeault (⊡ Tab. 32.1) hypnotisierte mittels Faszination und Suggestion, suggerierte den Patienten zuerst Schläfrigkeit und dann in einem oft nur leichten Trancezustand das Verschwinden ihrer Symptome. 1882 besuchte ihn der Professor für innere Medizin der Universität von Nancy, Hippolyte Bernheim (1840– 1919), der von seinen Erfolgen gehört hatte und sehr bald sein Bewunderer, Schüler und Freund werden sollte. Bernheim (⊡ Tab. 32.1) lud Liébeault nach Nancy ein und so entstand die sog. erste Schule von Nancy, die die Suggestionstheorie der Hypnose begründete. Hypnose wurde als ein normalpsychologisches Phänomen erkannt, das auf Suggestion beruht. Nach Revenstorf und Prudlo (1994) entwickelte sich damit die vierte Ära der Hypnose. Suggestibilität wurde verstanden als psychologische Eigenschaft, die zustande kommt aufgrund der Worte des Hypnotiseurs, die wiederum Ideen hervorrufen, welche in die entsprechenden sensorischen affektiven oder behavioralen Prozesse umgesetzt werden, unter Umgehen intermittierender Kontrollvorgänge. Bernheim variierte später die klassische Hypnose und behauptete, dieselben therapeutischen Wirkungen durch Suggestion im Wachzustand zu erzielen. Dieses Verfahren bezeichnete er als Psychotherapie (Bernheim 1891). Es ist das erste Mal, dass dieser Begriff in seiner auch heute noch gültigen Form in der Medizin und Psychologie erscheint. Im Gegensatz zu dem Neurologen Charcot erklärte er, Hypnose sei kein pathologischer Zustand, der nur bei Hysterikern vorkomme, sondern sie beruhe auf der Wirkung von Suggestion. Bernheim geriet bald in einen heftigen wissenschaftlichen Disput mit der Schule der Salpêtrière.
Charcot und die Schule der Salpêtrière An der Spitze der Schule der Salpêtrière von Paris stand der berühmteste Neurologe der damaligen Zeit Jean-Martin Charcot (1825–1893). Charcot (⊡ Tab. 32.1) bemühte sich, Methoden zu entwickeln, um hysterische von epileptischen Krämpfen zu differenzieren, spezialisierte sich auf hysterische Zustände und später auf den Hypnotismus. Charcot sah in der Hypnose einen psychopathologischen Zustand, den er als eine Art experimentelle Neurose ansah, die nur bei Hysterikern zu erzielen sei. ! Damit stand die Schule der Salpêtrière im Gegensatz zur Schule von Nancy, die die Ansicht vertrat, jeder sei mehr oder weniger hypnotisierbar. Trotz seiner fundamentalen Fehleinschätzung der Hypnose verlieh Charcot der Hypnose einen neuen Ruf und brachte sie zu akademischen und wissenschaftlichen Ehren. Sein Ruf als Neurologe und Hypnotiseur zog viele Kollegen aus ganz Europa nach Paris, u. a. Gilles de la Tourette, Babinski, Janet und Sigmund Freud. Letzterer war ein halbes Jahr an der Salpêtrière (1885/1886) und von Charcot tief beeindruckt. 1889 besuchte Freud auch Liébeault und Bernheim in Nancy. Charcot kam zu dem Schluss, dass Hypnose in 3 unterschiedlichen Stadien mit jeweils typischen Symptomen durchlaufen werden müsse: 1. Lethargie, 2. Katalepsie, 3. Somnambulismus. 1895 wies Pierre Janet auf die großen fundamentalen Irrtümer Charcots hin, insbesondere auf die Fehlinterpretation der 3 Stadien der Hypnose. Andererseits machte Charcot auf die Existenz von sog. unbewussten, fixen Ideen, die als unbestimmte Neurosen zu beobachten waren, aufmerksam, eine Konzeption, die von Janet und Freud weiterentwickelt werden sollte. Freud wirkte bezüglich seiner Einstellung zur Hypnose bis zur Publikation der »Studien über Hysterie« (1895) sehr unentschlossen, danach lehnte er die Hypnose aus theoretischen Gründen ab. Dies war ein wichtiger Grund für die eher gebremste Weiterentwicklung der Hypnose in Deutschland im Bereich der analytischen Psychotherapie.
Griesinger, Forel und Bleuler Mitte des 19. Jahrhunderts geriet die Psychiatrie unter den Einfluss des Positivismus und des Wissenschaftsglaubens, und die »Organiker« dominierten über die »Psychiker«. Die sog. »moralische Behandlung« (Reil 1803) verlor an Bedeutung und damit auch Verfahren wie der Magnetismus. 1845 veröffentlichte Wilhelm Griesinger (1817– 1869) sein berühmtes Lehrbuch der Psychiatrie und verkündete: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten.« Dennoch war Griesinger alles andere als ein ausschließlicher »Organiker« (Kühn 1957). Griesinger erklärte, dass
783 32.1 · Allgemeine Einführung
der größte und wichtigste Teil der psychischen Prozesse unbewusst sei, erklärte auch die Psychogenese sog. fixer Ideen. Griesingers Synthese zwischen organischer und psychotherapeutischer Psychiatrie und damit auch der Anwendung magnetischer/hypnotischer/psychotherapeutischer Verfahren sollte von Auguste Forel und dessen Schülern Eugen Bleuler (1857–1939) und Adolf Meyer (1866–1950) in der Psychiatrie weitergeführt werden. Eugen Bleuler ließ sich beispielsweise selbst hypnotisieren und berichtete über seine Empfindungen und Wahrnehmung ausführlich in einer Publikation 1889. Bleuler berichtete u. a. über ein behagliches Wärmegefühl, über anästhetische Effekte in der Hypnose und über einen posthypnotischen Auftrag. Er schloss aus diesem Versuch, der hypnotische Prozess habe auf sein Unbewusstes stärker gewirkt, als sein Bewusstsein ihn wahrhaben lassen wollte. Die Schweizer Schule trug damit maßgeblich zur Integration psychotherapeutischer Methoden wie der Hypnose in die Psychiatrie bei.
Vogts fraktionierte Hypnose und Coués Autosuggestion Bedeutend für die weitere Entwicklung der Hypnoseforschung und der Entspannungsverfahren waren die Arbeiten des Hirnforschers Oskar Vogt (1870–1959). Er war vom Schweizer Psychiater Auguste Forel mit dem Hypnotismus vertraut gemacht worden. Oskar Vogt (⊡ Tab. 32.1) führte die Technik der »fraktionierten Hypnose« ein. Durch Übung brachte er seine Patienten dazu, selbstständig die Vorbereitung zur Hypnose zu vollziehen. Vogt bezeichnete dies als »prophylaktische Ruhepause«, und sein Schüler J. H. Schultz (1884–1970) baute diese »Ruhepausen« bereits in den Jahren 1908–1912 in die Grundkonzeption seines autogenen Trainings ein. Zur gleichen Zeit wurde in Frankreich der Aspekt der Autosuggestion bei der Hypnose durch den Apotheker Emile Coué (1857–1926) populär. Coué (1912) sah Autosuggestion als Naturkraft an, die angeboren sei, die man ins Unbewusste versenken könne. Coués Lehre (⊡ Tab. 32.1) verbreitete sich rasch sowohl in Frankreich als auch in Deutschland und wurde eine regelrechte Modeerscheinung. Sie wird auch als die 2. Schule von Nancy bezeichnet.
Schultz’ autogenes Training 1926 hält J. H. Schultz (1884–1970) einen Vortrag über eine neue Methode, die er als »autogene Organübungen«, 2 Jahre später als »autogenes Training« bezeichnete. Der Schwerpunkt wurde dabei auf das »Autogene« gelegt, d. h. der Patient sollte den Entspannungszustand selbst herstellen, der ihn für Autosuggestion zugänglich macht. Schultz (1979; ⊡ Tab. 32.1) beschreibt seine Methode wie folgt: »Das Prinzip der Methode ist darin gegeben, durch bestimmte physiologisch-rationale Übungen eine allgemeine Umschaltung der Versuchsperson herbeizuführen, die in Ana-
logie zu den älteren fremdhypnotischen Feststellungen alle Leistungen erlaubt, die den echten suggestiven Zuständen eigentümlich sind.« Schultz fiel v. a. bei den Forschungsprotokollen einer Reihe von Versuchspersonen auf, dass alle – ausnahmslos – über eigenartige körperliche Allgemeinempfindungen berichteten. Alle Versuchspersonen schilderten, dass ihr Körper sich »schwerer« fühle, als im gewöhnlichen Zustand und von einem »eigentümlichen strömenden Wärmegefühl« erfüllt sei. Immer wieder wurden diese Phänomene in der alten »magnetischen« Literatur erwähnt und beschrieben. Später u. a. auch von E. Bleuler, Forel, Wundt und Vogt (Schultz 1979). 1932 veröffentlichte Schultz seine Monographie über das autogene Training (AT). Schultz legt großen Wert darauf, die konzentrative Selbstentspannung (autogenes Training) von allgemein suggestiven, hypnotischen Verfahren zu unterscheiden. Es handelt sich um eine Art Hypnoid, aber nicht um Autohypnose: »Die Erscheinungen der spezifischen Selbstumschaltung sollten als konzentrative schon dem Namen nach von den allgemein suggestiven unterschieden werden.« Der Sinn seines Verfahrens sei die Erreichung der Leistungen, die die echten konzentrativen Zustände vermitteln. Voraussetzung sei die ausdauernde Mitarbeit und ausreichende Selbstverfügung der Versuchspersonen. »Daher fallen alle schwerneurotisch oder erblich-psychopatisch sowie sonstig seelisch erheblich Gestörten aus« (Schultz 1979).
Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson »You must relax«, ein populärwissenschaftliches Buch von Edmund Jacobson (1885–1976), erschien 1923. In diesem Buch beschrieb er Zusammenhänge zwischen erhöhter muskulärer Anspannung und Hypertonie sowie Herzinfarkt. Der Begriff »Stress« taucht bereits auf, und Jacobson äußert die Ansicht, dass ein Stimulus nur dann Angst auslösen könne, wenn der betreffende Mensch bereits muskulär angespannt sei. Er führte eine Reihe von psychophysiologischen Untersuchungen durch, u. a. entwickelte er die Elektrookulografie, die letztlich entscheidend zur Entdeckung des REM-Schlafs beitrug. Die progressive Muskelrelaxation (PMR; vgl. ⊡ Tab. 32.1) von Jacobson entwickelte sich aus »physiologischen« und experimentell-psychologischen Fragestellungen. Auch Jacobson verwahrt sich dagegen, den Zustand der Relaxation als »suggestiv« anzusehen. Eine Ansicht, die mit der Auffassung von Schultz durchaus vereinbar ist, dass echte Konzentrationszustände ohne tiefe Entspannung nicht darstellbar sind, aber einer »suggestiven« Auslösung nicht bedürfen. Jacobson lehnte jegliche psychoanalytische Deutung der Entspannungsphänomene ab, da sie seiner Meinung nach eher unwissenschaftlich und nicht beweisbar wären (Jacobson 1929). PMR und Verhaltenstherapie. Die PMR von Jacobson
wurde das bevorzugte Entspannungsverfahren in der
32
784
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
Verhaltenstherapie. Wolberg (1948) und Wolpe (1958, 1969) vereinfachten dieses Verfahren und inkorporierten es in die systematische Desensibilisierung. Die PMR passte im Gegensatz zum AT auch besser zur stringent behavioristischen Verhaltenstherapie der 1950er und 1960er Jahre, da sie auf die Ebene des direkt beobachtbaren Verhaltens bezogen war. Wolberg (1948) kombinierte Verhaltenstherapie mit Hypnose; in seinem Standardwerk »Medical Hypnosis« beschreibt er graduiert vorgenommene Desensibilisierungen und Rekonditionierungen unter Hypnose. In seinem Grundlagenwerk »The practise of behaviour therapy« (1969) zeigte Wolpe die Effektivität der Verhaltenstherapie auf und führt in zahlreichen Fällen die Desensibilisierung unter Hypnose durch.
Lerngesetze der Hypnose nach Hull
32
Hull konnte 1933 nachweisen, dass Hypnose Lerngesetzen unterliegt. Er bezeichnet Hypnose deshalb nicht mehr als einen besonderen Bewusstseinszustand, sondern als ein Verhalten (»habit«). Unter dem Einfluss des Lerntheoretikers Hull entwickelt sich an einigen Universitäten der Vereinigten Staaten eine experimentelle Hypnoseforschung, die sich mit der Standardisierung der Phänomene und der psychometrischen Erfassung der Suggestibilität befasst (Hilgard 1965). Hilgard entwickelte den Ansatz von Janet weiter, dieser wird daher als Neodissozationstheorie bezeichnet. Hilgard führte viele Experimente durch, in denen er aufzeigen konnte, dass parallel (dissoziiert) zu dem hypnotischen Bewusstseinszustand ein sog. »hidden observer« präsent ist. Milton H. Erickson lernte bei dem Lerntheoretiker C. L. Hull.
Hypnotherapeutischer Ansatz nach Erickson Ende der 1970er Jahre wurde in Deutschland der hypnotherapeutische Ansatz von Milton H. Erickson (1901–1980; ⊡ Tab. 32.1) bekannt. Er stellte weder eine explizite Hypnosetheorie noch ein entsprechend operationalisiertes Behandlungskonzept auf, es lassen sich jedoch aus seinem Gesamtwerk (Erickson 1980) einige Grundmaximen für die hypnotherapeutische Behandlung ableiten, die heute unter den Begriffen »Utilisationsansatz, indirekte Suggestionen, strategisches Vorgehen« und »Arbeit mit dem Unbewussten« bekannt sind. Die fünfte Ära der Hypnose (Revenstorf u. Prudlo 1994) betrifft die von Erickson initiierte Abkehr von der traditionellen Hypnose, die aber erst durch dessen Schüler (z. B. Rossi, Zeig) deutlich gemacht wurde (Weitzenhoffer 1994).
Biofeedback Anfang der 1970er Jahre wurde die Biofeedbackmethode entwickelt. Erstmals gelang es, autonome Körperfunktionen in wahrnehmbare akustische oder optische Signale zu verwandeln und diese willentlich zu beeinflussen. Es
handelt sich um eine Rückkoppelung (»feedback«) von Biosignalen (daher das Präfix »bio«). Die historischen Wurzeln des Biofeedback liegen in der tierexperimentellen Forschung. Untersuchungen von Miller et al. (1970) zeigten, dass physiologische Prozesse nicht nur durch klassisches Konditionieren im Sinne Pawlows, sondern auch durch operantes Konditionieren nach dem Prinzip des »Lernens am Erfolg« zu verändern sind. So gelang es z. B. durch Verstärkung, die Herzrate von Ratten zu erhöhen bzw. zu erniedrigen und den Blutdurchfluss durch das Rattenohr zu verändern. In einer Flut von Studien wurde dann in den 1970er Jahren die Frage nach der Bedeutung der tierexperimentellen Befunde für das menschliche Verhalten erörtert. Wesentlich war die Entdeckung der Beeinflussbarkeit des autonomen Nervensystems durch Lernprozesse. Hieraus resultierte eine hohe Erwartungshaltung für die Therapie funktioneller Störungen. In diesem Zusammenhang entwickelten sich in den 1970er Jahren in der Verhaltenstherapie die Konzepte der Selbstkontrolle und Selbstregulation. Der Schwerpunkt lag auf kognitiven Variablen und psychologischen Selbstkontrolltechniken. Die auf somatische Selbstkontrolle abzielenden Biofeedback- und Entspannungsverfahren stellten eine willkommene biologische Ergänzung des psychologischen Konzepts selbstregulativer Prozesse beim Menschen dar.
32.1.2
Psychophysiologische Grundlagen der Entspannungsverfahren
Die Entspannungsreaktion Die verschiedenen Entspannungsverfahren führen auf der psychophysiologischen Ebene zu relativ einheitlichen Veränderungen, die Benson 1975 (zit. nach Linden 1993) als »relaxation response« bezeichnete. Diese Entspannungsreaktion (Vaitl 1993 a) führt zu Veränderungen u. a. auf folgenden Ebenen (⊡ Tab. 32.2): Es kommt zu neuromuskulären Veränderungen in Form einer Abnahme des Muskeltonus der Skelettmuskulatur sowie zu einer Veränderung der Reflextätigkeit. Die kardiovaskulären Veränderungen äußern sich in einer geringfügigen Verlangsamung der Herzfrequenz, einer Senkung des Blutdrucks und einer peripheren Gefäßerweiterung. Diese Veränderung der Durchblutung lässt sich in Form der sog. Wärmetransportzahl quantifizieren (Vogel 1967, zit. nach Vaitl 1993 a). Die respiratorischen Veränderungen zeigen sich in Form einer Verlangsamung der Atemfrequenz, einer Abnahme des O2-Verbrauchs und darin, dass die einzelnen Atemzyklen gleichmäßiger werden. Bei der psychogalvanischen Hautreaktion findet sich eine Zunahme der Hautleitfähigkeit.
785 32.1 · Allgemeine Einführung
⊡ Tab. 32.2. Allgemeine Entspannungsreaktion, physiologische Veränderungen Neuromuskulär
Muskeltonus ↓
Reflexe ↓
Kardiovaskulär
Blutdruck ↓
Puls ↓
Respiratorisch
Atemfrequenz ↓
O2-Verbrauch ↓
Zentralnervös
α-Aktivität ↑
θ-Wellen ↑
Die zentralnervösen Veränderungen, gemessen mit Hilfe des EEGs, zeigen einen deutlichen Unterschied zwischen Entspannungsreaktion und Schlaf (Ohm 1994). Es kommt zu einer Zunahme der Alpha-(α-) Aktivität, teilweise auch zu dem Auftreten von Theta(θ-)Wellen, typische Graphoelemente des Schlafs (Schlafspindeln, K-Komplexe) treten jedoch üblicherweise nicht auf. Die neueren bildgebenden Verfahren (SPECT und PET) liefern noch kein einheitliches Bild hinsichtlich der zerebralen Veränderungen in hypnotischer Trance (Peter 1994; Revenstorf u. Peter 2000) oder bei der allgemeinen Entspannungsreaktion. Teilweise konnten auch endokrine Veränderungen (Abnahme des Plasmakatecholaminund -kortisolspiegels) und eine Verringerung der peripher zählbaren Leukozyten während hypnotischer Trance nachgewiesen werden (Revenstorf u. Prudlo 1994). Zu dieser allgemeinen Entspannungsreaktion tragen außer dem spezifischen Entspannungsverfahren auch folgende unspezifischen Komponenten bei (Linden 1993): Eine ruhige Umgebung, ein Objekt, auf welches sich der Trainierende konzentrieren kann, eine passive Grundhaltung, eine bequeme Körperposition und eine innere Haltung des »Sich-entspannen-Wollens«.
32.1.3
Psychologische Effekte von Entspannung
Die Wirkung der Entspannungsverfahren lässt sich nicht alleine mit der physiologischen Entspannungreaktion erklären, denn diese ist lediglich eine von 4 grundsätzlichen Effekten, nämlich der »intendierte Effekt«. Lutz (1985) beschreibt darüber hinaus »kovariate, personbezogene und verfahrensbezogene Effekte«, die grundsätzlich mit der Durchführung eines Entspannungstrainings verbunden sind. Unter den kovariaten Effekten ist allgemein eine Verbesserung der Befindlichkeit von Bedeutung, spezifischer eine Reduktion von Angst oder die Erzeugung einer affektiven Indifferenz. Unter personbezogenen Effekten versteht Lutz z. B., dass sich die Person mit dem Erleben einer positiven
Durchblutung ↓↑
Emotion auseinandersetzt und dabei insbesondere die Erfahrung macht, dass diese Emotion aktiv selbst herbeigeführt werden kann. Zu den verfahrensbezogenen Effekten zählen eine ruhige Umgebung, das Fokussieren der Aufmerksamkeit etc. Gerade aufgrund der personbezogenen Effekte sind Entspannungsverfahren, insbesondere diejenigen, die Aktivitäten vom Patienten verlangen wie Autogenes Training (AT) und Progressive Muskelrelaxation (PMR), gut mit dem Selbstmanagementansatz der Verhaltenstherapie (Kanfer et al. 1991) vereinbar, da sie auf eine Aktivierung von Selbsthilfekompetenzen abzielen (Doubrawa 1992). Allein die Tatsache, dass jemand ein Entspannungsverfahren erlernen und regelmäßig üben möchte, zeigt, dass sich der Betreffende eines Problems bewusst ist, gegen das er etwas unternehmen möchte und glaubt, unternehmen zu können, so dass sich auf der einen Seite die Hilflosigkeit des Betreffenden verringert (Weinzierl u. Haag 1992) und auf der anderen Seite die »self-efficacy« (Bandura 1977) steigt.
32.1.4
Allgemeines zu Indikationen und Kontraindikationen der Entspannungsverfahren
Wir gehen hier nur auf Indikationen und Kontraindikationen im Hinblick auf psychiatrisch-psychosomatische Erkrankungen ein (⊡ Tab. 32.3). Ein breiter Indikationsbereich besteht darüber hinaus in der primären Prävention und bei bestimmten körperlichen Erkrankungen (z. B. arterielle Hypertonie, M. Raynaud, rheumatische Erkrankungen, Rehabilitation von Herzinfarktpatienten; Ohm 1992; Jungnitsch 1994; Vaitl 1994; Krampen u. Ohm 1994) bzw. bei kurzzeitigen Schmerzzuständen wie bei Zahnbehandlungen (Gheorghiu u. Hübner 1994) oder im Rahmen der Geburtsvorbereitung (Maspfuhl 1994).
Symptomspezifität Praktisch alle Entspannungsverfahren sind zunächst symptomunspezifisch und sollen zu einem psychophysiologischen Zustand führen, der von den Patienten als angenehm erlebt wird (Ohm 1994). Allein schon aufgrund dieses Zieles kann ein Entspannungsverfahren indiziert
32
786
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
⊡ Tab. 32.3. Indikationen und Kontraindikationen der Entspannungsverfahren
32
Indikationen
Kontraindikationen
»Angenehmen Zustand erleben«
Angst vor Kontrollverlust
Hilflosigkeit verringern
Sexueller Missbrauch
Stressbewältigung
Akute (schizophrene) Psychose
Schlafstörungen
Schwere gehemmte Depressionen
(Chronische) Schmerzen
Ausgeprägte histrionische Verhaltensweisen
Chronischer komplexer Tinnitus
Typ-A-Verhalten (relative Kontraindikation)
Angststörungen
Schwere Zwangssyndrome, Akute Migräneattacke, Gefäßspasmen, Extrasystolen, Bronchospasmen
sein (⊡ Tab. 32.3). Eine weitere sehr allgemeine Indikation kann darin bestehen, bei einem Patienten mit Hilfe eines Entspannungsverfahrens das Gefühl der Hilflosigkeit zu verringern bzw. zur Steigerung seiner »Self-efficacy« beizutragen. Wie bereits im historischen Abriss erwähnt, werden viele psychosomatische Störungen sowohl von Fachleuten als auch von Laien mit Stress in Zusammenhang gebracht und Entspannungsverfahren als grundsätzliche Strategie dagegen angesehen. Im Rahmen von sog. Stressbewältigungsprogrammen stellen sie zumeist ein wesentliches Element neben kognitiven Strategien dar (Weinzierl u. Haag 1992).
Spezielle Indikationen Schlafstörungen. Fast alle Entspannungsverfahren sind
– insbesondere allerdings AT und PMR – bei primären Schlafstörungen (d. h. Schlafstörungen, die nicht im Rahmen spezifischer psychischer Erkrankungen auftreten) indiziert, da viele Entspannungsverfahren unmittelbar zum Einschlafen führen können. Dabei zeigen sich in kontrollierten Untersuchungen keine differenziellen Effekte der verschiedenen Entspannungsverfahren, die meisten Verfahren wirken bei Patienten mit primärer Insomnie (Knab 1994). Chronische Schmerzen. Bei der (psychologischen) Be-
handlung von chronischen Schmerzen werden fast immer auch Entspannungsverfahren eingesetzt. Für diesen Anwendungsbereich erscheint die Bezeichnung für Entspannung von Kanfer et al. (1991) als »Aspirin der Psychotherapie« durchaus zutreffend. Insbesondere die PMR, das AT, imaginative Verfahren, Biofeedback und Hypnose
haben hier Bedeutung erlangt und entsprechende empirische Überprüfung erfahren (Rehfisch u. Basler 1990; Kröner-Herwig 1990; Peter 1990). Bei chronischen Schmerzzuständen liegt üblicherweise ein Circulus vitiosus von Schmerz → Angst → Anspannung → Schmerz vor, der durch Entspannung unterbrochen werden kann (Jungnitsch u. Köhler 1992). Die bisherigen empirischen Untersuchungen zeigen keine eindeutigen Vorteile der einen gegenüber einer anderen Entspannungsmethode bei der Bewältigung chronischer Schmerzen. Speziell zur Behandlung chronischer Kopfschmerzen wurde von Gerber (1994) die sog. Konkordanztherapie entwickelt, in die die PMR systematisch integriert wurde. Die PMR und Biofeedback haben sich auch bei der Behandlung von Kopfschmerzen bei Kindern bewährt (Kröner-Herwig 1994). Tinnitus. Goebel (1992) kommt nach Vergleich mehrerer Studien, die die Wirkung von Entspannung auf den Tinnitus überprüften, zu der Einschätzung, dass Entspannungsverfahren und Biofeedback alleine beim chronischen komplexen Tinnitus im Vergleich zu Wartelistenkontrollgruppen keinen signifikanten Effekt zeigten, jedoch in komplexeren Therapieprogrammen eine wesentliche Komponente darstellen. Insbesondere hypnotherapeutische Ansätze in Kombination mit Verhaltenstherapie könnten bei dieser Störung hilfreich sein, wobei allerdings noch kaum empirische Untersuchungen hierüber vorliegen. Angststörungen. Einen weiten Indikationsbereich für Entspannungsverfahren (⊡ Tab. 32.3) stellen Angststörungen – mit Ausnahme schwerer Zwangsstörungen (Deuchert u. Petermann 1994) – dar. Entspannung verringert Angst; wie, ist jedoch weiterhin unklar. Goldfried (1977) meint, dass die Patienten mit dem Entspannungstraining eine aktive Bewältigungsfertigkeit erlernen und dass dies der entscheidende anxiolytische Effekt sei. Daneben spielen sicherlich aber auch die physiologischen Veränderungen (Senkung der Herzfrequenz und des Blutdrucks, gleichmäßigere Atmung, Reduktion des Muskeltonus usw.) eine Rolle, da diese mit Angst inkompatibel sind.
Kontraindikationen Angst vor Kontrollverlust. Allerdings führt Entspannung nicht immer zu einer Reduktion von Angst, sie kann im Gegenteil auch angstauslösend sein (Heide u. Borkovec 1983) und ist dann unter besonderen Umständen kontraindiziert (⊡ Tab. 32.3). Für bestimmte Personen ist der Entspannungszustand und die damit verbundene Passivität bereits aversiv, andere sind es einfach nicht gewohnt, auf eigene Emotionen und Gedanken zu achten und können daher im Entspannungszustand davon unangenehm über-
787 32.1 · Allgemeine Einführung
rascht werden. Eine absolute Kontraindikation besteht bei Patienten mit massiver Angst vor Kontrollverlust: Patienten mit einer akuten Psychose (Doubrawa 1992), Patientinnen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen. Cave Patientinnen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen kommen öfter mit einer generalisierten oder agoraphoben Angststörung oder (chronischen) Schmerzzuständen zur Behandlung. Der Einsatz von Entspannungsverfahren scheint daher zunächst indiziert, obwohl eben kontraindiziert.
Bei solchen Patientinnen kann bereits das übliche Setting (abgedunkelter, geräuscharmer Raum, mit geschlossenen Augen auf dem Rücken auf dem Boden liegen in Anwesenheit anderer Personen) die traumatischen Erfahrungen reaktivieren und somit zu massiver Angst bis hin zu Panikattacken führen. Auf der anderen Seite können einzelne Verfahren im Rahmen einer Psychotherapie und bei einem erfahrenen Therapeuten doch indiziert sein, z. B. Hypnose zur Wiedererinnerung traumatischer Ereignisse ( Abschn. 32.2.5). Als absolute Kontraindikationen (⊡ Tab. 32.3) werden in der Literatur (Ohm 1994; Gröninger u. Stade-Gröninger 1996) außerdem genannt: gehemmte Depressionen, schwere Zwangssyndrome, ausgeprägte histrionische Verhaltensweisen, im Bereich der körperlichen Erkrankungen Gefäßspasmen, Extrasystolen, Bronchospasmen, akute Migräneattacken.
Krankheitswert nicht möglich. Im klinischen Bereich sollten Entspannungsverfahren einschließlich Hypnose immer eingebettet sein in einen Gesamtbehandlungsplan, innerhalb dessen die Indikationen und Kontraindikationen genau zu prüfen sind. Hierbei ist v. a. auch zu überlegen, ob die Patienten bereit sind, über einen ausreichend langen Zeitraum selbstständig zu üben, da nur so ein therapeutischer Effekt erzielt werden kann. Dies ist insbesondere bei den eher passiven Verfahren wie AT und Hypnose zu berücksichtigen, da diese Methoden gerne von Patienten angenommen werden, die sich einem Therapeuten passiv hingeben wollen. Solche Patienten haben dann aber oft Schwierigkeiten, wenn es darum geht, selbstständig weiter zu üben. Gerade beim AT ergibt sich in empirischen Studien eine relativ geringe Effizienz eher durch die hohe Quote von Abbrechern (etwa 30 bis über 50%) bzw. von Personen, für die das AT prinzipiell indiziert wäre, die es aber gar nicht erst erlernen, als durch diejenigen, die den Kurs zu Ende führen und anschließend regelmäßig weiterüben. Diese berichten in einem hohen Prozentsatz über positive Effekte. Cave Besonders im stationären Setting ist darauf zu achten, dass Entspannung nicht zu einem Standardverfahren wird, das zunächst einmal jeder Patient erhält, nach dem Motto: »Schaden kann es nicht«. Damit würden diese eigentlich effektiven Verfahren zu einem Anhängsel verkommen, dem sowohl von seiten des Personals als auch der Patienten wenig Beachtung – und damit auch Achtung – geschenkt würde (Ohm 1994).
Kombination von Verfahren Speziell bei der PMR besteht bei manchen Patienten (z. B. Typ-A-Verhalten) die Gefahr der Selbstüberforderung (Ohm 1994). Chronische Schizophrenie. Bei chronisch schizophrenen Patienten besteht dagegen eher eine relative Kontraindikation insofern, als sich diese Patienten häufig innerlich nicht auf die Entspannungssituation einlassen und sich damit auch kein positiver Effekt erzielen lässt.
32.1.5
Entspannungsverfahren im Rahmen der Psychotherapie und Psychiatrie
Während Entspannungsverfahren im Bereich der primären Prävention oder bei eng umschriebenen Störungsbildern (zunächst) als alleinige Maßnahme eingesetzt werden können, ist dies bei psychischen Störungen mit
Besonders in der Einzeltherapie können die Entspannungsverfahren abgewandelt und auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten abgestimmt werden, wobei Elemente aus verschiedenen Verfahren auch miteinander kombiniert werden können (Ohm 1992). So kann beispielsweise bei einem bisher in Entspannungsverfahren völlig ungeübten Patienten zunächst mit dem anschaulichen und aktiven Muskelentspannungstraining nach Jacobson begonnen werden. In die Entspannungsphase können dann nach und nach die Formeln des AT (Ruhe, Schwere, Wärme) hinzugefügt werden. Schließlich kann die Imagination einer Ruheszene eingeführt und z. B. über indirekte Suggestionen der Entspannungszustand bis zum Hypnoid vertieft werden.
32
788
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
32.2
Hypnose
32.2.1
Definition
Als Hypnose kann auf der einen Seite »die Methode zur Einleitung von Trancezuständen« (Revenstorf 1994) bezeichnet werden, auf der anderen Seite wird Hypnose auch synonym für den Trancezustand selbst benutzt (Weitzenhoffer 1994; Derra 2006 b). Von den meisten Autoren wird zusätzlich der Begriff Hypnotherapie benutzt, um die therapeutische Arbeit zu kennzeichnen, die mit einem Patienten geleistet wird, wenn er sich in einem Trancezustand befindet. Der Begriff Hypnotismus wiederum wird von Weitzenhoffer (1994) im Sinne von »Wissenschaft von der Suggestion« benutzt. Grawe et al. (1994) definieren Hypnose in Anlehnung an Erickson et al. (1986) als einen veränderten Bewusstseinszustand, der beim Patienten mithilfe verschiedener Techniken der Tranceinduktion erzielt wird. Es sind 2 Bestimmungsstücke, die für eine Definition von Hypnose wesentlich sind: Es gibt bestimmte (Induktions-)Methoden, mit denen ein spezifischer Zustand des Patienten erreicht werden soll; dieser Zustand ist wesentlich gekennzeichnet durch eine erhöhte Suggestibilität.
Hypnose als besonderer Bewusstseinszustand?
32
Einige Theoretiker (z. B. Hilgard, Fromm) glauben, dass es sich dabei um einen besonderen Bewusstseinszustand handelt (Hypnose als »state«), während andere (z. B. Erickson) in dem hypnotischen Zustand kein eigenständiges Phänomen sehen (Hypnose als »non-state«), sondern ein sozialpsychologisches, das über die besondere Struktur der Kommunikation ausreichend erklärbar ist (Kossak 1993). Ein solcher (Trance-)Zustand ist offenbar leichter zu erreichen, wenn eine positive Beziehung (Rapport) zum Hypnotiseur besteht, was allerdings für jede Art der Beeinflussung von Bedeutung ist, und wenn es gelingt, die Aufmerksamkeit des Patienten einzuengen. Dieser Zustand ist durch minimalen Widerstand (oder positiv ausgedrückt: maximale Akzeptanz) ausgezeichnet, was wiederum ein absolutes Vertrauen in den Hypnotiseur voraussetzt. Trotzdem ist der Patient in diesem Zustand nicht willenlos dem Hypnotiseur ausgeliefert, er ist auch weiterhin nur bereit, das zu sagen und zu tun, was auch seinen moralischen Grundsätzen im Wachzustand entspricht (Diehl 1992).
Pragmatischer Definitionsversuch In Anlehnung an Barber et al. (1974) macht Kossak (1993) einen »pragmatischen Definitionsversuch«, in dem v. a. die notwendigen oder günstigen Bedingungen für die Durchführung einer Hypnose betont werden:
Es wird durch den Therapeuten eine Situation hergestellt, indem er ein bestimmtes »Ritual« durchführt, bestehend aus spezifischen Formulierungen (Suggestionen), die beim Patienten zu Wahrnehmungseinengungen führen, so dass eine subjektive Wirklichkeit im Sinne des Therapeuten konstruiert wird. Der Patient muss gewillt sein, sich auf eine enge Kommunikation mit dem Therapeuten einzulassen und dabei evtl. sämtliche weiteren Außenreize auszublenden, so dass im Extremfall die Kommunikation mit dem Therapeuten den einzigen Kontakt zur Außenwelt darstellt. Der Patient muss kooperieren, indem er sich z. B. aktiv bemüht, die vom Therapeuten suggerierten Bilder tatsächlich zu imaginieren. Es liegt selektive Wachheit vor. Die Kritikfähigkeit des Patienten ist sowohl gegenüber externalen Reizen (z. B. Geräusche außerhalb des Raums) als auch gegenüber internalen Reizen (Gedanken, Körperempfindungen etc.) reduziert.
32.2.2
Phänomene der Hypnose
Die Induktion einer Hypnose z. B. in der Kombination mit der Imagination von Ressourcenbildern kann als Entspannungsverfahren benutzt werden (der Patient stellt sich hierbei Situationen vor, die eine positive emotionale Bedeutung für ihn haben, z. B. mit Entspannung verbunden sind und ihm das Gefühl vermitteln, Energiereserven freizusetzen). Entspannung ist dann ein Phänomen der Hypnose, das jedoch üblicherweise nur der allgemeinen Entspannungsreaktion entspricht und nicht spezifisch für Hypnose ist. Hypnose kann auch in einem nichtentspannten Zustand durchgeführt werden, z. B. wenn der Patient in Trance sich mit belastenden Lebensereignissen auseinandersetzt. Im Folgenden sollen nur diejenigen
⊡ Tab. 32.4. Beispiele für hypnotische Phänomene auf verschiedenen Ebenen Veränderungen der Willkürmotorik
Ideomotorik, Katalepsie, Armlevitation, automatisches Schreiben, Malen, Sprechen
Kardiovaskuläre und zentralnervöse Funktionen
Allgemeine Entspannungsreaktion
Veränderungen der Wahrnehmung
Halluzinationen, (Farben-) Blindheit, Taubheit, Analgesie, Veränderung des Körperschemas
Veränderungen von Gedächtnis und Zeiterleben
Altersregression und -progression, Amnesie
789 32.2 · Hypnose
Phänomene der Hypnose (⊡ Tab. 32.4) erwähnt werden, die für die Hypnose spezifisch sind und sie von den übrigen Entspannungsverfahren unterscheiden.
Veränderungen der Willkürmotorik Ideomotorik. Hierunter versteht man, dass das Vorstellen
von Bewegungen oder von komplexen Situationen zu minimalen Bewegungen der relevanten Muskeln führt (Kossak 1993). So führt beispielsweise die Erinnerung an eine angenehme Situation selbst bei schwer depressiven Patienten zu einer Veränderung der Gesichtsmuskulatur, die in Richtung »lächeln« geht. Das heißt, über die Ideomotorik werden auch Gefühle, Wünsche etc. zum Ausdruck gebracht, die ansonsten mit dem aktuell dominierenden Gefühl nicht in Einklang zu bringen wären. Ideomotorisches Signalisieren macht man sich deswegen dann in der Hypnotherapie zunutze, wenn nicht sicher ist, ob das, was der Patient auf der bewussten Ebene äußert, tatsächlich dem entspricht, was er (emotional) möchte. So kann in Trance z. B. der Zeigefinger der rechten Hand als »Ja-Finger«, derjenige der linken Hand als »Nein-Finger« definiert werden. Dem Patienten können dann Fragen gestellt werden und dessen »Unbewusstes« kann mit Hilfe dieser Fingersignale antworten. Katalepsie. Bei ihr unterscheidet Kossak (1993) 4 Formen: 1. Bei der aktiven Katalepsie erhält der Patient z. B. die
Instruktion (Suggestion) der Steifigkeit im Arm. Er ist dann nicht in der Lage, durch eigene Anstrengung den Arm zu beugen, bis die Instruktion aufgehoben ist. 2. Bei der passiven Katalepsie erfolgt die gleiche Suggestion. Der Therapeut versucht dann, das kataleptische Körperglied zu bewegen, was nicht gelingt. 3. Die wächserne Biegsamkeit entspricht dem, was von katatonen Patienten an Haltungsphänomenen bekannt ist. 4. Bei der Paralyse wird dem Patient die Lähmung eines bestimmten Körperteils suggeriert.
Das Phänomen des automatischen Schreibens (auch Malens, Sprechens etc.). Es ist am ehesten als dissoziatives
Phänomen im Sinne Hilgards zu erklären. Die kontrollierenden Anteile des kognitiven Systems werden von den unkontrollierten abgespalten, so dass diese eigenständig reagieren und kommunizieren können. Der Wert dieses Phänomens liegt darin, dass verborgenes Erinnerungsmaterial (»sei es nun verdrängt, vergessen oder unterdrückt«; Kossak 1993) zum Vorschein kommen kann, so dass hiermit therapeutisch gearbeitet werden kann.
Veränderungen von kardiovaskulären und zentralnervösen Funktionen Die Veränderungen von kardiovaskulären und zentralnervösen Funktionen entsprechen weitgehend denjenigen, die bei allen Entspannungsverfahren auftreten (⊡ Tab. 32.2; Reduktion der Herzfrequenz, Senkung des Blutdrucks, Synchronisierung des EEG); lediglich bei der peripheren Durchblutung kann es unter Hypnose auch zu einer Vasokonstriktion kommen (bei anderen Entspannungsverfahren zur Vasodilatation; ⊡ Tab. 32.4).
Veränderung der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung In Hypnose unterscheidet man positive und negative Halluzinationen. Die Halluzinationen in Hypnose zeigen bei SPECT-Untersuchungen jedoch eine andere regionale Verteilung des zerebralen Blutflusses als die Halluzinationen psychotischer Patienten (Kossak 1993). Besondere Bedeutung haben natürlich die Phänomene der Analgesie und Anästhesie zur Behandlung oder Vorbeugung (z. B. Zahnbehandlung) von Schmerzen. Weitere mögliche Phänome der Hypnose auf der Ebene der Wahrnehmungsverarbeitung sind: Farbenblindheit, Blindheit, Myopie, Taubheit, Veränderungen der Geruchswahrnehmung, Veränderung des Körperschemas (Kossak 1993; ⊡ Tab. 32.4).
Veränderung von Gedächtnis und Zeiterleben Armlevitation. Sie ist eines der am häufigsten benutzten
Altersregression. Sie ist ein effektives Verfahren, um an
Phänomene bei der Tranceinduktion: Auf entsprechende Suggestionen hin hebt sich der Arm der Versuchsperson wie von allein langsam, um dann an einer bestimmten Stelle kataleptisch stehen zu bleiben, evtl. auch für längere Zeit, ohne dass der Arm die üblichen Ermüdungserscheinungen zeigt. Gerade dieses hypnotische Phänomen ist insofern besonders charakteristisch, als es die von Peter (1994) aufgestellten Kriterien der Nichtwillkürlichkeit und Evidenz erfüllt. In diesen sieht Peter die wesentlichen Ähnlichkeiten zwischen hypnotischen Phänomenen und psychosomatischen/neurotischen Störungen.
verdrängtes Material heranzukommen. Sie sollte aber mit großer Vorsicht durchgeführt werden; der Therapeut sollte durch eine gründliche Anamneseerhebung und aufgrund der vorhandenen Symptomatik zumindest Hypothesen aufstellen, was an traumatischen Erfahrungen beim Patienten wiederbelebt werden könnte. So kann beispielsweise eine sehr problematische Situation entstehen, wenn eine Patientin eine positive emotionale Bindung zu ihrem Vater hat und sie dann in der Altersregression – völlig unvorbereitet – mit einem sexuellen Missbrauch durch den Vater konfrontiert wird.
32
790
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
Zeitprogression. Sie passt gut in lösungsorientierte The-
rapieansätze (Shazer 1993), da hierbei eine Art emotionales Probehandeln stattfindet, d. h. es kann »überprüft« werden, wie sich bestimmte Veränderungen beispielsweise von bisherigen Grundannahmen im Sinne Becks (Beck et al. 1986) auf die konkreten Lebensbedingungen des Patienten auswirken würden. Zeitempfinden. Durch Hypnose wird das subjektive Zeit-
empfinden verändert. Dabei kann entweder die subjektiv erlebte Zeit langsamer ablaufen als die objektive Zeit (Zeitdehnung), oder die subjektive Zeit verläuft schneller (Zeitschrumpfung). Amnesie. Sie tritt vorwiegend in 2 Formen auf. Alles, was
in einer Hypnosesitzung erlebt wurde, oder nur Teile davon können auf der bewussten Ebene vergessen werden. In posthypnotischen Aufträgen beispielsweise kann es trotzdem wirksam werden. Oder es tritt eine sog. Quellenamnesie auf, d. h. der Patient behält zwar die Information, weiß aber nicht mehr, woher sie stammt (Informationsquelle).
Veränderungen weiterer psychologischer Aspekte
32
Dissoziation. Es können verschiedene Formen der Dissoziation unterschieden werden, die hier nicht genauer beschrieben werden können (Übersicht: Kossak 1993). Allen gemeinsam ist, dass die Person nicht als Einheit handelt oder empfindet, sondern ein Teil davon abgespalten wird, der anders handeln oder empfinden kann, als der Rest. Posthypnotischer Auftrag. Unter einem posthypnotischen
Auftrag versteht man, dass eine Person einige Zeit nach der Hypnose etwas tut, was man ihr während der Hypnose suggeriert hat. Trancelogik. Unter Trancelogik versteht man die Fähig-
keit einer hypnotisierten Person, logische Absurditäten oder Inkongruenzen zu tolerieren (Kossak 1993; ⊡ Tab. 32.4).
32.2.3
Durchführung der Hypnose
Die verschiedenen Induktionsmethoden zur Einleitung einer Trance sollen und können hier nicht ausführlicher dargestellt werden, da diese nur unter Anleitung eines Ausbilders praktisch erlernt werden sollten. Weit verbreitet sind verschiedene Fixationsmethoden, d. h. der Patient wird aufgefordert, einen unbedeutenden Gegenstand mit den Augen zu fixieren, was dazu führt, dass die inneren und äußeren Augenmuskeln stark angespannt werden müssen, so dass früher oder später beim Patienten
der Wunsch entsteht, die Augen zu schließen. Dieser Vorgang der zunehmenden Ermüdung und Entspannung kann vom Therapeuten verbal begleitet werden (»pacing« und »leading«), so dass beim Patienten eine sog. »Ja-Haltung« entsteht, die ihn zunehmend suggestibler macht. Letzten Endes wird hierbei das Verfahren der operanten Konditionierung (»shaping«) benutzt, indem die Reaktionen, die der Patient ohnehin in Ansätzen zeigt, verbal verstärkt werden. Erickson u. Rossi (1993) weisen darauf hin, dass die Tranceinduktion kein standardisierter Prozess sein kann, der in derselben Art und Weise bei jeder Person angewandt werden kann. »Es gibt keine Methode oder Technik, die bei jedem immer funktioniert oder auch nur bei derselben Person zu verschiedenen Anlässen« (ebd.). Aus diesem Grund ist auch eine hypnotische Gruppenbehandlung in der Regel schwieriger durchführbar als beispielsweise beim AT; die Einzelbehandlung ist im Allgemeinen vorzuziehen (Lohmann 1996).
32.2.4
Varianten der Hypnose
Bei der Hypnotherapie im engeren Sinn geht es um wesentlich mehr als um die Induktion eines Trancezustandes, nämlich um die systematische Nutzung von kognitiven und physiologischen Prozessen, die mit diesem Zustand verbunden sind, mit dem Ziel therapeutischer Veränderungen (Revenstorf u. Prudlo 1994). Der Begriff Hypnotherapie ist insofern etwas missverständlich, als es sich hierbei nicht um ein eigenständiges Therapieverfahren handeln kann; Hypnose kann immer nur in Kombination mit anderen Therapieverfahren eingesetzt werden (Peter 1992). Hypnokatharsis und Hypnoanalyse. Freud und Breuer
benutzten bereits ein Verfahren, das man als Hypnokatharsis bezeichnen könnte (Freud u. Breuer 1952). Bei der Hypnokatharsis handelt es sich um eine aufdeckende Form der Hypnose, mit deren Hilfe unbewusste Konflikte zur Abreaktion gebracht werden sollen (Lohmann 1996). Bei den verschiedenen Formen der Hypnoanalyse (Kinzel 1993) steht statt der kathartischen Abreaktion eher das Phänomen der Hypermnesie im Vordergrund des Interesses, mit deren Hilfe man verdrängtes Material zum Vorschein bringen kann. Die Bearbeitung dieses Materials sowie die Bearbeitung der Übertragungsphänomene und des Widerstands erfolgen dann aber üblicherweise nicht im Trance-, sondern im Wachzustand (Peter 1992). Hier unterscheidet sich der Ansatz Ericksons (s. unten) insofern, als es dabei nicht unbedingt darauf ankommt, ob es dem Patienten bewusst ist, warum er ein bestimmtes Problem plötzlich nicht mehr hat oder besser damit zurechtkommt.
791 32.2 · Hypnose
Die psychodynamische Hypnotherapie nach Erika Fromm Zusätzlich zu den bereits vorhandenen Vorstellungen von einem eher aktiven oder einem eher passiven Ich führte Fromm das Konzept der Ich-Rezeptivität ein. »In diesem Zustand ist das Ich nicht passiv im Sinne von hilflos oder unfähig zu aktivem Coping, sondern freiwillig aufmerksam wahrnehmend und empfangend; kritisches Beurteilen und striktes Bezogensein auf die Realität wie auch aktives und zielgerichtetes Denken und Handeln sind auf ein Minimum herabgesetzt zugunsten des (vor-)urteilslosen Gewahrseins dessen, was der Strom des Bewußtseins hervorbringt an vorbewußtem und unbewußtem Material« (Peter 1992).
Hypnotische Suggestibilität kann daher nach Fromm gleichgesetzt werden mit einer mehr oder minder ausgeprägten Ich-Rezeptivität. Fromm übernahm von Gill u. Brenman (1959) das Konzept der Deautomatisierung und entwickelte es weiter. Sie geht davon aus, dass in Hypnose überlernte (automatisierte) Muster des Wahrnehmens, Denkens und Handeln außer Kraft gesetzt werden müssen, damit sich eine neue Organisation der Ich-Funktionen ergibt, mit der auch ungewöhnliche und kreative Problemlösungen gefunden werden können. Die Regression, zu der es üblicherweise bei einer hypnotischen Behandlung kommt, wurde von Fromm als adaptiv (»im Dienste des Ich«) angesehen; sie sah in der Hypnose eine Möglichkeit, zu früheren Entwicklungsstufen von Selbstund Objektrepräsentanzen und ihren entsprechenden affektiven Erfahrungen zurückzukehren (Peter 1992). Fromm unterscheidet ähnlich der in unserem derzeitigen Gesundheitssystem bestehenden Unterscheidung zwischen tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie und Psychoanalyse zwischen psychodynamisch orientierter Hypnotherapie und Hypnoanalyse; die Unterscheidungskriterien, nämlich relative Dauer, Fokus bzw. Ziel der Behandlung und Bedeutung bzw. Handhabung der Übertragung, sind dabei übertragbar (Peter 1992). Erika Fromm hat selbst auch mit schwergestörten Patienten (Borderline-Störungen, Psychosen) hypnotherapeutisch gearbeitet. Hierzu bedarf es jedoch einer außergewöhnlich guten Erfahrung sowohl mit diesen Störungsbildern als auch mit Hypnose. Cave Der Anfänger kann daher nicht eindringlich genug davor gewarnt werden, mit schwer gestörten Patienten Hypnose durchzuführen.
tische Suggestion könne nur Potenziale hervorrufen und verwenden, die im Patienten bereits vorhanden sind. Um diese Ressourcen des Patienten für seine Ziele zu benutzen (»utilisieren«), bedarf es in erster Linie optimaler Kommunikationsstrategien. Eine formale Tranceinduktion ist hierfür nicht bei jedem Patienten bzw. nicht in jeder Situation erforderlich. Der Trancezustand erleichtert es lediglich, dass der Patient divergente Suchstrategien für Problemlösungen einsetzen kann und seine gewohnten Wahrnehmungs-, Affekt- und Denkrahmen überschreitet (Revenstorf u. Prudlo 1994). Auf der Grundlage von Bernheims Thesen hat Erickson einen einzigartigen Weg entwickelt, um hypnotische Phänomene zu benützen. Hypnotherapie bedeutete für Erickson ähnlich wie für Bernheim die methodische Anwendung seines Wissens über hypnotische Phänomene für therapeutische Zwecke (Weitzenhoffer 1994). Erickson vermied in seiner therapeutischen Arbeit häufig formale Tranceinduktionen, weswegen es für Außenstehende manchmal unklar und verwirrend war, ob sich der Patient in Trance befand oder nicht (Weitzenhoffer 1994). Es gelang Erickson häufig, einen Patienten im Rahmen einer normal erscheinenden Konversation in Trance zu versetzen (Konversationsinduktion, Einstreutechnik).
Indirekte vs. direkte Suggestion Weitzenhoffer (1994) betrachtet die Utilisation als ein Wesensmerkmal des Ansatzes von Erickson und hält es für ein hervorragendes Konzept, das jedoch nicht per se »hypnotisch« sei. Er glaubt, dass Ericksons Erfolge weniger mit der Art und Weise zusammenhängen, wie Erickson hypnotische Phänomene erzeugte, als vielmehr mit seinen herausragenden psychotherapeutischen Fähigkeiten. Weitzenhoffer sieht keine wissenschaftlich erwiesenen Unterschiede zwischen den direkten (traditionellen) Formen der Suggestion und den indirekten, die von Erickson und seinen Nachfolgern favorisiert werden. Demgegenüber meint Zeig (1994), dass ohnehin »alle Suggestionen in der Hypnose indirekt sind«, da auch die direkten Suggestionen durch den Kontext der Hypnosesituation auf der Beziehungsebene die Kommunikation in einen Rahmen einbetten, der die Bedeutung auf der Inhaltsebene beeinflusst. ! Zeig betont insbesondere den Aspekt der Unwillkürlichkeit, des Geschehenlassens, der wesentlich für den hypnotischen Trancezustand sei und der durch Suggestionen nicht direkt erzeugt werden könne, da der Patient ja nicht willkürlich etwas Unwillkürliches tun könne.
Der Utilisationsansatz von M. Erickson
Anthropologische Grundannahmen
Hypnotische Suggestibilität ist nach Ansicht von Erickson et al. (1986) keine verbale Magie, mithilfe derer man dem Patienten alles Mögliche aufdrängen kann. Hypno-
Wesentlich für Ericksons Ansatz sind auch seine anthropologischen Grundannahmen (Revenstorf u. Prudlo 1994):
32
792
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
32
Positives Menschenbild, Individualität des Klienten und seines Problems, Veränderungsoptimismus, das Unbewusste als Ressource, Natürlichkeit der Tranceerfahrung.
⊡ Tab. 32.5. Indikationen und Kontraindikationen zur Hypnose Indikationen
Kontraindikationen
Schmerzbewältigung
Passive Erwartungshaltung, LFT-Einstellung (»low frustration tolerance«)
Chronischer komplexer Tinnitus
Externale Kontrollerwartung
Verdrängte Erlebnisse
Borderline-Persönlichkeitsstörungen
Disputation von dysfunktionalen Einstellungen
Schwere Depression
Dabei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Erickson und seine Nachfolger zwar häufig vom »Unbewussten« sprechen, damit aber selten das meinen, was man in der Psychoanalyse unter »unbewusst« versteht, sondern eher Prozesse, auf die normalerweise die Aufmerksamkeit des Patienten nicht gerichtet ist (z. B. körperlich-physiologische Vorgänge), oder Fähigkeiten, die der Patient aufgrund verschiedener Hemmungen nicht benutzt, die aber prinzipiell vorhanden sind. Peter (1994) spricht insofern auch von der »Metapher des Unbewussten«, die man zwar in der Kommunikation mit dem Patienten benutzen kann, der Therapeut sollte sich jedoch darüber bewusst sein, was er konkret damit meint.
Kombination mit Verhaltenstherapie auch bei diesem Störungsbild indiziert (Joisten 1992).
Gestufte Aktivhypnose
Wiedererinnerung traumatischer Erlebnisse. Sowohl in-
Die gestufte Aktivhypnose wurde von Kretschmer entwickelt und von Langen weiter ausgebaut (Lohmann 1996). Der Patient muss hierfür zunächst die Grundübungen des AT (Ruhe, Schwere, Wärme) erlernen. Daran anschließend erfolgt mit Hilfe des Therapeuten das aktive Erlernen der Fixierübung mit zunehmender Vertiefung des Hypnoids. In einem 3. Schritt wird dieser Zustand therapeutisch genutzt, indem sich der Patient »wandspruchartige Leitsätze« (entsprechend den formelhaften Vorsatzbildungen im AT) vorstellt (Langen 1977). Der 4. und letzte Schritt besteht darin, dass der Patient selbstständig die Entspannungsübungen weiterführt und die eigentliche Hypnose mit Hilfe des Therapeuten in immer größeren Abständen durchgeführt wird. Parallel hierzu wird immer auch eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie durchgeführt.
nerhalb der kognitiven Verhaltenstherapie als auch im Rahmen einer psychoanalytischen Behandlung kann Hypnose indiziert sein, um traumatische Erfahrungen aus der frühen Kindheit (z. B. sexueller Missbrauch) wieder in Erinnerung zu rufen. Hierzu ist jedoch ein äußerst vorsichtiges und erfahrenes Vorgehen erforderlich, da frühe Missbrauchserfahrungen häufig mit BorderlinePersönlichkeitsstörungen in Zusammenhang stehen (Links et al. 1996) und Hypnose bei solchen Störungen grundsätzlich kontraindiziert ist, es sei denn, es liegen spezifische Bedingungen vor (erfahrener Therapeut, stabile therapeutische Beziehung, möglichst stationäres Setting).
32.2.5
Indikationen und Kontraindikationen der Hypnose
Schmerzbewältigung und Tinnitus Eine spezifische Indikation für Hypnose (⊡ Tab. 32.5) ergibt sich, wie bereits erwähnt, im Rahmen von Schmerzbewältigungsprogrammen (z. B. zur inneren Ablenkung vom Schmerzerleben durch die Imagination von angenehmen Bildern). Dabei verändert Hypnose nicht die physiologischen Schmerzprozesse selbst, kann aber deren Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung verändern, v. a. bei hochsuggestiblen Personen (Peter 1990). Aufgrund vieler Parallelen zwischen Patienten mit chronischen Schmerzen und solchen mit chronischem komplexem Tinnitus sind hypnotische Techniken in
Hypnose und Verhaltenstherapie. Auch im Rahmen eines
kognitiv-verhaltenstherapeutischen Gruppenprogramms zur Behandlung von Depressionen (Trautmann-Sponsel et al. 2000) kann die Anwendung von tranceinduzierenden Techniken indiziert sein, um zu überprüfen, ob die kognitiv gefundene rationale Alternative für den Patienten anstelle der bisher vorhandenen dysfunktionalen Einstellungen in seinem Alltag tatsächlich zu den erwünschten Veränderungen führt.
Kontraindikationen Bei der Anwendung von Hypnose ist dann Vorsicht geboten, wenn damit die Erwartung des Patienten verbunden ist, dass er selbst nichts für eine Veränderung tun muss, sondern der Therapeut hierfür zuständig ist. Dies dürfte insbesondere bei Patienten mit einer externalen Kontrollerwartung der Fall sein und bei Patienten, die sich durch die von Ellis so benannte LFT-Einstellung (»low frustration tolerance«/niedrige Frustrationstoleranz) auszeichnen (Walen et al. 1982). Problematisch ist die Anwendung
793 32.2 · Hypnose
von Hypnose auch immer dann, wenn eine Regression des Patienten, zu der es im Rahmen eines hypnotherapeutischen Vorgehens sehr leicht kommt, absolut vermieden werden soll. Aber auch bei schwer depressiven Patienten muss man mit hypnotischen Techniken vorsichtig umgehen, da bei manchen dieser Patienten durch solche Verfahren lediglich die negativen, depressiven Schemata aktiviert werden, was zur Verstärkung der depressiven Gefühle führen kann.
32.2.6
Hypnose und Psychotherapie
Auf die Stellung der Hypnose im Rahmen der Psychoanalyse bzw. der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie wurde bereits eingegangen. Revenstorf (1994) vergleicht Hypnose und Verhaltenstherapie. Als grundlegende Gemeinsamkeit wird bei beiden Ansätzen davon ausgegangen, dass Verhaltensweisen, die jetzt vom Patienten als störend empfunden werden, einmal funktional waren, in der jetzigen Lebenssituation aber dysfunktional sind. Transparenz. Einen der wesentlichen Unterschiede in
beiden Verfahren sieht er dagegen in der Transparenz des Vorgehens. In der Verhaltenstherapie wird eine gemeinsame Problemanalyse angestrebt, in der aufrechterhaltende Bedingungen definiert werden, deren Veränderung im gemeinsam erarbeiteten Therapieplan bewirkt werden sollen. In der Hypnotherapie nach Erickson sucht man hingegen nach einem Anknüpfungspunkt im Wertesystem des Patienten, der sich benutzen, d. h. utilisieren lässt, um den Patienten zur Veränderung zu motivieren bzw. um den möglichen Widerstand zu minimieren. Lösungsorientierung. Weitere Gemeinsamkeiten zwi-
schen (kognitiver) Verhaltenstherapie und Hypnotherapie (speziell nach Erickson) sind laut Revenstorf (1994) die Eingrenzung des Problems auf überschaubare Verhaltensweisen oder Denkmuster. Beide sind lösungsorientiert und die Interventionen sind handlungsorientiert (der Patient soll neue Erfahrungen machen). Fähigkeiten des Patienten. Ein gravierender Unterschied
zwischen dem verhaltenstherapeutischen Ansatz und dem hypnotherapeutischen Ansatz von Erickson besteht u. E. darin, dass Erickson prinzipiell voraussetzt, dass der Patient über die erforderlichen Fähigkeiten zur Problemlösung bereits verfügt und diese lediglich utilisiert werden müssen, während dies bei der Verhaltenstherapie im Rahmen einer detaillierten Verhaltensanalyse erst geklärt werden muss. Manchmal müssen neue Fertigkeiten erst erworben werden, bevor sie sinnvoll eingesetzt werden können.
Selbstkontrolle. Ein weiterer Unterschied ist die Beto-
nung der Selbstkontrolle bzw. des Selbstmanagements in der Verhaltenstherapie. In der Verhaltenstherapie werden die Ziele und Vorgehensweisen möglichst transparent mit dem Patienten besprochen, Hypnotherapeuten benutzen demgegenüber häufiger auch zunächst für den Patienten undurchschaubare Techniken wie Konfusion, Umdeutungen, Rätsel, Anekdoten und Metaphern, um dadurch das unflexible Festhalten an einer nichtproduktiven Haltung dem Problem gegenüber aufzuweichen. Erickson selbst benutzte in einem hohen Prozentsatz bei seinen Therapien verhaltenstherapeutische Techniken, dagegen setzte er nur in etwa der Hälfte der Fälle Hypnose explizit ein (Revenstorf 1994). Die Hypnotherapie Ericksons hat aber auch viele Gemeinsamkeiten mit strategischen (systemischen) Therapieansätzen (Haley 1978).
32.2.7
Forschungsergebnisse zur Effektivität
Die Effektivität von Hypnose ist stark von der Art des Verfahrens und auch von der Erfahrung des Therapeuten abhängig. Grawe et al. (1994) berichteten über 19 Studien mit insgesamt 1068 Patienten (⊡ Tab. 32.6), in denen Hypnose als eigenständige Therapie überprüft wurde. Diese Untersuchungen bezogen sich vorwiegend auf die Behandlung von verschiedenen Arten von Schmerzen, Ängsten und Phobien sowie von psychosomatischen Beschwerden wie Asthma und Bluthochdruck. Insgesamt konstatieren Grawe et al. (1994) für die Hypnose eine gute Wirksamkeit sowohl im Prä-post-Vergleich als auch im Kontrollgruppenvergleich. Dies gilt vor allem für die Behandlung von Schmerzen (Überblick: Peter 1990), von psychosomatischen und von Schlafstörungen. Die Wirksamkeit beschränkt sich allerdings auf die jeweils gezielt behandelte Symptomatik. Die erzielten Verbesserungen waren in der Regel von Dauer. Bei Vergleichen mit anderen Behandlungsverfahren (andere Entspannungsverfahren, Verhaltenstherapie, medikamentöse Behandlung) zeigten sich überwiegend keine Wirksamkeitsunterschiede. Revenstorf u. Prudlo (1994) erweiterten die Datengrundlage zur Beurteilung auf Studien, die zwischen 1960 und 1992 erschienen sind (⊡ Tab. 32.6). Sie fanden bei ihrer Literaturrecherche 77 Studien mit insgesamt 5825 Patienten. Zusammenfassend stellen Revenstorf u. Prudlo (1994) fest, dass ein Großteil der Studien zu positiven Ergebnissen für die Effektivität der Hypnose kommt.
32
794
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
⊡ Tab. 32.6. Empirische Untersuchungen zur Hypnose Quelle
Grawe et al. 1994
Revenstorf u. Prudlo 1994
Zeitraum, in dem die metaanalysierten Untersuchungen veröffentlicht wurden
1960–1985
1960–1992
Anzahl der Studien
19
77
Einbezogene Patienten
1068
5825
Anwendungsbereiche
Schmerzen, Ängste, Phobien, Asthma, Bluthochdruck
Operationsfolgen, Bluthochdruck, Asthma, Krebs, Warzen, Colon irritabile, Chemotherapie, Kopfschmerzen, Migräne, chronische Schmerzen, Ängste, Schlafstörungen, Enuresis, Sucht, Adipositas, Rauchen, Geburtsverlauf
Erfolg
In 13 von 17 Studien (prä/post), in 6 von 8 Studien (Kontrollgruppenvergleich)
In 43 von 49 Studien
32.3
Autogenes Training
32.3.1
Definition
Ziele des AT nach Lohmann (1996)
Bei der Entwicklung des AT verfolgte Schultz (1979) in erster Linie das Ziel, den Patienten dadurch unabhängiger vom »Hypnotiseur« zu machen, indem er ein Verfahren erlernt, mit dem er den Entspannungszustand selbst herbeiführen kann (autogen).
32
Prinzipien und Ziele Das AT in seiner heutigen Form ist eine klinische Methode, eine therapiebegleitende und -unterstützende Form der Selbstkontrolle sowie eine Methode zur Selbsthilfe. Es basiert auf 3 Hauptprinzipien (Vaitl 1993 a): 1. Reduktion und Dämpfung extero- und interozeptiver Stimulation, 2. mentale Wiederholung psychophysiologisch-adaptierter Selbstinstruktionen, 3. kognitive Aktivität in Form von »passiver Konzentration«.
Selbstentspannung Selbstruhigstellung (»Entängstigung«) Erholung mit Leistungssteigerung Selbstregulierung sonst »unwillkürlicher« Körperfunktionen Schmerzlinderung Selbstkritik und Selbstkontrolle Selbstbestimmung durch die formelhaften Vorsätze
! Doubrawa (1992) sieht als einen besonders wichtigen Aspekt des AT, dass dieses Verfahren über die Entspannung hinaus zu einer Förderung der Körperwahrnehmung und damit auch des Vertrauens in den eigenen Körper führt.
32.3.2 Nach Schultz (1979) lassen sich 3 Übungskomplexe unterscheiden: 1. Psychophysiologische Standardübungen (sog. Unterstufenübungen), 2. meditative Übungen (sog. Oberstufenübungen), 3. spezielle Übungen.
Durchführung des autogenen Trainings
Rahmenbedingungen AT ist bereits mit Kindern ab 4 Jahren durchführbar (Raudszus-Nothdurfter 1992), allerdings in Einzeltherapie oder in kleineren Gruppen. Bei Erwachsenen wird das AT (zumindest die Unterstufe) meist in Gruppen von etwa 8–12 Patienten erlernt. Günstig ist hierfür ein ruhiger, nicht allzu heller Raum, der groß genug ist, so dass sich die Patienten in ausreichendem Abstand voneinander hinlegen oder hinsetzen können. Beim Üben sollten die folgenden Punkte beachtet werden:
795 32.3 · Autogenes Training
Gleiche Umgebungsbedingungen. Vorteilhaft ist es, zu
Beginn des Trainings immer die gleichen Umgebungsbedingungen (z. B. auch immer gleiche Uhrzeit, gleicher Raum) zu haben; dadurch werden bereits diese Umgebungsbedingungen zum diskriminativen Stimulus, auf den die Entspannungsreaktion konditioniert werden kann (Doubrawa 1992). Dies ist jedoch gleichzeitig der Nachteil dieses Verfahrens gegenüber z. B. der PMR, die von vornherein leichter auf verschiedene Umgebungsbedingungen generalisierbar ist.
spezifische Formeln (»es atmet mich«, »Atem strömt leicht und warm aus«) und Vorsatzformeln bzw. formelhafte »Vorsatzbildung« (»ich rede mit den Menschen ganz ruhig, klar und frei«).
Die Unterstufe (Standardübungen) Diese besteht aus 6 konkreten Übungen. Beispielhaft wird im Folgenden eine der dabei häufig verwendeten Formeln aufgeführt: Schwereübung. Sie dient v. a. der Muskelentspannung.
Psychologische Vorbereitung. Sie soll betonen, dass AT
keine Hypnose ist, dass die körperlichen Veränderungen nichts Außergewöhnliches oder gar Absonderliches darstellen, dass jeder das AT erlernen kann, allerdings nur durch konsequentes Üben.
Formel: »Der linke Arm ist ganz schwer.« Wie physiologische Untersuchungen zeigen, wird bereits durch diese Übung eine Vasodilatation erreicht, die mit einem zunehmenden Wärmegefühl verbunden ist. Wärmeübung. Formel: »Der linke Arm ist ganz warm.«
Übungsposition. Gerade für Anfänger ist das Üben im
Liegen leichter als in der Droschkenkutschersitzstellung oder der passiven Entspannung im Sessel. Am beliebtesten ist die Liegeposition, danach folgen die Droschkenkutscherposition und das entspannte Sitzen im Sessel.
Die Schwere- und Wärmeübungen werden zusammen mit der Ruheformel als die Grundübungen bezeichnet und wurden bereits von Schultz selbst als die wesentlichen Elemente des AT betrachtet (Ohm 1994). Herzübung. Formel: »Das Herz schlägt ruhig und
Vorgeschaltete Übungen. Vor der ersten Unterstufen-
übung sollten sog. vorgeschaltete Übungen stattfinden. Sie bestehen darin, dass die Probanden gebeten werden, sich zunächst mit geschlossenen Augen ruhig hinzulegen und für 2–3 min all jene Vorgänge in ihrem Körper unvoreingenommen zu beobachten, die sich spontan ergeben. Nach jeder vorgeschalteten Übung sowie auch später nach jedem Übungsteil der Unterstufenübungen sollte ein Rundgespräch darüber stattfinden, was die Übenden erlebt haben. Dadurch lassen sich übertriebene Befürchtungen oder Fehlinterpretationen von Körpervorgängen miteinander besprechen und auch relativieren.
kräftig.« Cave Die Herzübung ist für relativ viele Patienten nicht unproblematisch; es kann zu vermehrtem Herzklopfen und Beunruhigung darüber kommen, so dass einige Autoren von der routinemäßigen Anwendung dieser Übung abraten (Ohm 1994).
Atmungsübung. Sie kann auch vor der Herzübung
gemacht werden. Formel: »Atmung ruhig und regelmäßig.«
Einleitung und Abschluss. Die Einleitung und der Ab-
schluss der Unterstufenübungen sollten jeweils nach einem festgelegten Ritual erfolgen. Als Einleitung hat sich die sog. »Ruhetönung« bewährt, die Formel »ich bin ruhig, ganz ruhig« dient dem schrittweisen Abschalten von einströmenden Gedanken, Vorstellungsbildern und Assoziationsketten. Zum Abschluss der Unterstufenübungen erfolgt das »Zurücknehmen«. Es soll die durch die Übung bedingte physiologische Deaktivierung wieder auf ein normales Aktivierungsniveau rückführen, und zwar in folgender Weise: Anspannung der Arm- und Beinmuskulatur (2–3 tiefe Aus- und Einatmungszüge) und letztlich Öffnen der Augen. Standardformeln. Alle Unterstufenübungen gehen mit
Standardformeln einher. Es wird unterschieden in unterstützende Formeln (»ich bin ruhig, ganz ruhig«), organ-
Sonnengeflechtübung. Mit der Sonnengeflechtübung
soll versucht werden, die Abdominalorgane zu beeinflussen über die Konzentration auf den sympathischen Plexus solaris (Lohmann 1996). Formel: »Sonnengeflecht strömend warm.« Stirnkühleübung. Formel: »Stirn angenehm kühl« oder
»Kopf frei und klar«. Die Übung wirkt der möglichen Ausbreitung des Wärmeerlebnisses auf den Kopf entgegen, was von den meisten Menschen als unangenehm erlebt wird (Kraft 1996). Wenn das AT als Hilfe zum Einschlafen benutzt wird, sollte man diese Übung weglassen, da sie eher als erfrischend erlebt wird (Kraft 1996). Die Patienten erlernen üblicherweise diese Übungen nacheinander, d. h. es sollte zunächst z. B. die Schwereübung einigermaßen beherrscht werden, bevor die An-
32
796
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
leitung zur Wärmeübung erfolgt usw. Dazu sollten die Patienten Gelegenheit erhalten, über ihre jeweils gemachten Erfahrungen miteinander zu sprechen. Dies hat allerdings zur Konsequenz, dass bereits das Erlernen des AT ein relativ langwieriger Prozess ist. Selbst bei regelmäßigem 2- bis 3-mal täglichem Üben erreichen die meisten Patienten eine sichere Beherrschung der Grundstufenübungen erst nach etwa 4–6 Monaten (Kraft 1996), was für viele Patienten nicht besonders motivierend ist.
Die Oberstufe Die Oberstufenübungen werden hier nicht beschrieben, da die Oberstufe des AT nicht so häufig angewendet wird wie die Unterstufe und von der Intention weit über die Entspannung hinausreicht; sie weist Ähnlichkeiten mit dem katathymen Bilderleben auf (Kraft 1996).
32.3.3
32
Indikationen und Kontraindikationen des autogenen Trainings
Studien zum AT beschränken sich im klinischen Bereich im Wesentlichen auf die Unterstufenübungen. Die meisten Studien liefern nur anekdotisches Material, systematischere Darstellungen der klinischen Effizienz und damit auch eindeutiger klinischer Indikationen und Kontraindikationen ergeben sich aus den Übersichten von Linden (1993), Grawe et al. (1994) und Derra (2006 c). Besonders indiziert scheint das AT bei Störungen der Atemtätigkeit, v. a. auch bei Kindern mit Asthma bronchiale (Raudszus-Nothdurfter 1992). Als ausgesprochen hilfreich erwies sich das AT bei der Behandlung von Patienten mit funktionellen Herzbeschwerden und bei der Behandlung der essenziellen Hypertonie Stadium I und II (Blanchard et al. 1988). Als spezifische Indikation bei Erwachsenen wird auch der Morbus Raynaud genannt (Kraft 1996). Indiziert erscheint das AT auch bei Migräne und überraschenderweise weniger bei Spannungskopfschmerzen (Janssen u. Neutgens 1986). Das AT als geburtsvorbereitende Maßnahme scheint ebenfalls sinnvoll zu sein und wirkt möglicherweise auf die bestehenden Ängste und Verspannungen (Vaitl 1993 a). Das AT stellt eine sehr einfache und wirkungsvolle Einschlafhilfe dar. Es ergaben sich jedoch keine Unterschiede zwischen AT und PMR. Einschränkend ist anzumerken, dass sich die Mehrzahl der zitierten Studien nur auf die beiden Unterstufenübungen der Schwere und Wärme beschränkt und es sich dabei um relativ kurze Übungsperioden handelt.
Kontraindikationen Es gibt nur wenige Kontraindikationen des AT. Relativ kontraindiziert scheint das AT dann zu sein, wenn sich
schon bei den ersten Übungen erhebliche physiologische Fehlregulationen oder psychische Störungen einstellen, Angst vor Kontrollverlust oder organisch bedingte Konzentrationsbeeinträchtigungen. Patienten mit schwerer Zwangssymptomatik, stark symbiotischen Tendenzen, histrionischen Verhaltensweisen und akuten Psychosen kommen ebenfalls für das AT weitgehend nicht in Frage. Grundsätzlich hängt es vom Schweregrad der o. g. Störungen ab, ob das AT relativ oder absolut kontraindiziert ist. Erkrankungen mit gefäßbedingten Durchblutungsstörungen (z. B. Koronardurchblutungsstörungen) können ebenfalls eine Kontraindikation darstellen.
32.3.4
Forschungsergebnisse zur Effektivität
Gerade weil das AT besonders in Deutschland ein so weit verbreitetes und bewährtes Verfahren ist, wurden zum Beweis seiner Wirksamkeit nur relativ wenige empirische Untersuchungen durchgeführt (Kraft 1996). Grawe et al. (1994) fanden bis 1984 nur 14 Untersuchungen mit insgesamt 647 Patienten, in denen AT bei verschiedenen Arten von Störungen im Hinblick auf seine Wirksamkeit untersucht wurde. In diesen Untersuchungen wurde das AT überwiegend als Einzeltherapie mit 1–2 Sitzungen wöchentlich angewandt. Die Therapiedauer lag im Durchschnitt bei 13 Therapiesitzungen in 7 Wochen. Eine bedeutsame Besserung der jeweiligen Symptomatik wurde nur in 5 von 11 Studien festgestellt. In 6 Untersuchungen wurden psychophysiologische Maße erhoben, dabei fanden sich nur in 2 Studien signifikante Veränderungen dieser physiologischen Parameter. Eine allgemeine Verbesserung der Befindlichkeit fand sich dagegen in 4 von 7 Studien. Untersuchungen, die Kontrollgruppen miteinbezogen, zeigen jedoch, dass es sich bei diesen Erfolgen überwiegend um unspezifische Wirkungen handelt. Im Vergleich mit anderen Therapiemethoden ergab sich in den meisten Studien kein signifikanter Unterschied in der Wirksamkeit. Dort wo sich Unterschiede fanden, fielen diese überwiegend zu Lasten des AT aus. Zur Evaluation des AT wurde von Krampen (1992) eigens ein »Diagnostisches und Evaluatives Instrumentarium« entwickelt, das jedoch mehr dem Prä-postVergleich und der Verlaufsmessung während eines ATKurses dient, als dazu, verschiedene Entspannungs- (oder sonstige Therapie-)verfahren in ihrer Wirksamkeit bei verschiedenen Störungen miteinander zu vergleichen, was aufgrund der Ergebnisse von Grawe et al. (1994) erforderlich wäre. In einer von Grawe nicht mehr erfassten, in Konzeptualisierung und Durchführung hervorragenden Studie zeigte sich das AT gegenüber der Verhaltenstherapie bei Neurodermitis als in jeder Hinsicht ebenbürtig (Stangier et al. 1992).
797 32.4 · Progressive Muskelrelaxation
32.4
Progressive Muskelrelaxation
32.4.1
Definition
Mit diesem Entspannungsverfahren wird eine willkürliche Entspannung der quergestreiften Muskulatur angestrebt, weswegen es als progressive Muskelrelaxation (PMR) bezeichnet wird. Da es sich hierbei jedoch nur um den Weg handelt, mit dem insgesamt eine Entspannungsreaktion beim Patienten bewirkt werden soll, wäre eigentlich die Bezeichnung »progressive Relaxation« vorzuziehen. Die PMR führt zu einer grundsätzlich verbesserten Wahrnehmung beim Patienten im Hinblick auf Spannungszustände im Körper, die wiederum als diskriminativer Reiz wirken können (bei gut trainierten Personen), um allgemeine oder differenzielle Entspannungsreaktionen zu induzieren (Seer 1996). Jacobson selbst (1993) nennt 3 Aspekte, warum er sein Verfahren als »progressiv« (fortschreitend) bezeichnet: 1. »Die Versuchsperson entspannt eine Gruppe von Muskeln, z. B. die Muskeln, die den rechten Arm beugen, von Minute zu Minute immer tiefer. 2. Sie lernt, die wichtigsten Muskelgruppen des Körpers eine nach der anderen zu entspannen. Mit jeder Muskelgruppe werden gleichzeitig auch die Körperteile entspannt, mit denen bereits geübt wurde. 3. Im Laufe des Trainings stellt sich nach meiner Erfahrung eine gewohnheitsmäßige Entspannung ein.«
32.4.2
Theorie der progressiven Muskelrelaxation
Wolpe (1958) führte die PMR systematisch bei der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Angststörungen ein, da er fand, dass Entspannung mit Angst inkompatibel sei. Nach wie vor ist jedoch unklar, auf welchem Wege Entspannung Angst verringert. Die schnellere Habituation der physiologischen Angstparameter könnte hierfür eine Rolle spielen. Aktive Bewältigung von Angst. Goldfried (1977) hält einen
anderen (kognitiven) Mechanismus für bedeutsamer. Er zitiert mehrere Untersuchungen, die jeweils kognitive Ansätze mit Entspannungstechniken (bzw. systematischer Desensibilisierung) verglichen haben und zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen sind; es war jeweils dasjenige Verfahren wirksamer, das den Klienten als aktive Bewältigungstechnik dargestellt wurde. Gerade durch das aktive Vorgehen bei der PMR kann beim Patienten der Eindruck entstehen, dass er nicht hilflos einer Situation ausgeliefert ist, sondern dass er Fähigkeiten besitzt, mit denen er seine Angst unter Kontrolle halten kann. Es kommt damit zu einer Erhöhung von Selbstwirksamkeitserwartungen (»self-efficacy«; Bandura 1977). Die PMR wird möglicherweise deshalb von Patienten gerne angenommen, weil man ihnen damit ein einfaches plausibles Erklärungsmodell vermitteln kann, es leicht zu erlernen ist und keine sonstigen wesentlichen Veränderungen in der Lebenssituation oder den Einstellungen erforderlich macht. Gleichzeitig erfolgt ein »reframing« (Uminterpretation) der körperlichen Anspannung als Signal für eine Belastungssituation, in der Entspannungstraining angesagt ist (nicht Panik!). Verhaltenstherapie vs. PMR. In der neueren Literatur
Der PMR liegt die einfache theoretische Vorstellung zugrunde, dass sich ein emotionaler Spannungszustand, wie er typischerweise bei Angst auftritt, auch in einem erhöhten Muskeltonus äußert, was sich durch psychophysiologische Untersuchungen bestätigen lässt. Im Gegensatz zur Hypnose oder zum AT setzt die PMR direkt auf der Ebene der muskulären Verspannungen an und leitet den Patienten dazu an, im Laufe des Trainings diese Verspannungen immer besser wahrzunehmen und gezielt die betreffende Muskelgruppe zu entspannen. Für viele Patienten ist diese Methode leichter erlernbar als z. B. das AT, da ihnen bei der PMR in Form von konkreten Übungen gezeigt wird, wie sie ihre Muskelverspannungen verändern können, und praktisch bei jedem Patienten auch bereits während der Übung eine entsprechende Erfahrung gemacht wird, die zum selbstständigen Weiterüben motiviert. ! Bereits Jacobson selbst (1993) stellte fest, dass praktisch nur muskulär angespannte Menschen Angst empfinden.
(Margraf 1996) wird allerdings bezweifelt, ob es günstig ist, Patienten mit Angststörungen (z. B. Agoraphobie) eine Entspannungstechnik wie PMR beizubringen. Theoretisch lässt sich diese Ansicht mit der Stressbewältigungstheorie von Lazarus (1981) erklären: Bewältigungstechniken benötigt man nur für bedrohliche Situationen, was bedeutet, dass der Einsatz einer solchen Technik automatisch »belegt«, dass die Situation bedrohlich sein muss, sonst müsste man ja nichts dagegen tun. Demgegenüber überzeugen sich die Patienten mithilfe der heute in der Verhaltenstherapie bevorzugten Flooding-Prozeduren selbst davon, dass diese Situation ungefährlich ist, da sich die Angst reduziert, ohne dass irgendein CopingVerhalten eingesetzt werden muss. Goldfried (1977) weist bereits auf einige Arbeiten (die älteste von Malleson 1959!) hin, die zeigen, dass prolongierte Exposition allein zu einer Reduktion von Angst führt.
32
798
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
32.4.3
Durchführung der progressiven Muskelrelaxation
Von den meisten Therapeuten wird bei der PMR prinzipiell ein Vorgehen gewählt, wie es von Bernstein u. Borkovec (1978) beschrieben wurde, wobei bei Einzelheiten (verschiedene Varianten, eine Muskelgruppe anzuspannen) problemlos abgewichen werden kann. Eine Beschreibung der Anspannungsmethoden im Einzelnen (v. a. mit den verschiedenen Variationsmöglichkeiten) würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, so dass auf die entsprechende Literatur (z. B. Gröninger u. Stade-Gröninger 1996) verwiesen werden muss. Konkretes Vorgehen. Das konkrete Vorgehen kann bei-
spielsweise folgendermaßen aussehen: 1. Der Patient konzentriert sich auf eine bestimmte Muskelgruppe; 2. Der Therapeut signalisiert, dass diese Muskelgruppe angespannt werden soll, zeigt evtl. eine oder mehrere Varianten, wie dies gemacht werden kann; 3. Die Patienten werden angehalten, diese Spannung etwa 5–7 s zu halten; 4. Der Therapeut fordert dazu auf, die entsprechende Muskelgruppe wieder zu lockern und dabei insbesondere auf die Unterschiede zwischen angespannter und entspannter Muskulatur zu achten.
32
Es wird also zunächst nicht unbedingt eine Verringerung des Muskeltonus über den Ausgangzustand hinaus angestrebt, sondern durch den Anspannungsvorgang wird der Tonus maximal gesteigert, so dass der anschließende gelockerte Zustand vom Patienten auf jeden Fall als entspannter erlebt wird (Weinzierl u. Haag 1992). Anleitung und Reflexion. Prinzipiell ist die PMR sowohl
in der Einzel- als auch in der Gruppentherapie einsetzbar. Zum prinzipiellen Erlernen der Technik sind für eine Gruppe von etwa 8 Personen in der Regel mindestens 8 Sitzungen notwendig (Seer 1996). Dabei ist gerade in der Gruppe darauf zu achten, dass die Anspannungsphase nicht allzu lange dauert (manche Patienten neigen hier zu einem übertriebenen Ehrgeiz). Die Entspannungsphase sollte immer deutlich länger als die Anspannungsphase sein. Während dieser Zeit – besonders im Gruppensetting – ist es häufig günstig, wenn der Therapeut irgendetwas Entspannendes sagt, da einige Patienten mit absoluter Ruhe nichts anfangen können. Für die Übung zu Hause kann es hilfreich sein, den Patienten eine besprochene Tonbandkassette oder schriftliche Unterlagen mitzugeben. Wichtig ist auch, in jeder Übungsstunde nach den Erfahrungen zu fragen, die die Patienten zwischenzeitlich mit den Übungen gemacht haben, um evtl. die optimale Anspannungsmöglichkeit für jeden Patienten zu finden,
oder um zu klären, zu welcher Uhrzeit in welcher Umgebung jeder Patient am besten üben kann. Auch hierbei ist die PMR flexibler als z. B. das AT, indem für fast alle persönlichen Lebensumstände eine geeignete Übungssituation und eine individuell geeignete Vorgehensweise gefunden werden kann.
32.4.4
Varianten der progressiven Muskelrelaxation
Jacobson selbst arbeitete mit 30 Muskelgruppen. Pro Sitzung übten seine Patienten mit jeweils 3 dieser Muskelgruppen intensiv. Man kann sich leicht ausrechnen, wie lange es dauerte, bis Jacobsons Patienten das gesamte Training beherrschten. Da die PMR meist nur als ein Element im Rahmen einer Verhaltenstherapie benutzt wird, mussten kürzere Varianten geschaffen werden, die mittlerweile auch in einer Vielzahl existieren. Mit am bekanntesten dürfte die Version von Bernstein u. Borkovec (1978) sein, die mit 16 Muskelgruppen beginnen, im weiteren Verlauf dann auf 7 und 4 Muskelgruppen reduzieren, um schließlich zur Entspannung nur noch durch Vergegenwärtigung zu kommen.
32.4.5
Indikationen und Kontraindikationen der progressiven Muskelrelaxation
Wie fast alle Entspannungsverfahren ist die PMR indiziert bei Schmerzen (v. a. Migräne, Spannungskopfschmerz, rheumatische Schmerzen, Lumboischialgien), Hypertonie, Schlafstörungen, Ulcus ventriculi und duodeni und im psychotherapeutischen Bereich bei Angststörungen (s. aber die Diskussion in Abschn. 32.4.2) sowie im Rahmen von Stressbewältigungsmaßnahmen (Weinzierl u. Haag 1992). Die PMR ist integraler Bestandteil der DickRead-Methode zur Geburtsvorbereitung und der Konkordanztherapie für Kopfschmerzpatienten bzw. dem Reizverarbeitungstraining für Migräne. Eine spezifische Indikation für die PMR ergibt sich dort, wo die Störung unmittelbar mit einer erhöhten Muskelanspannung in Zusammenhang steht. Im Vergleich mit anderen Entspannungsverfahren ist die PMR eher indiziert bei Patienten mit geringer Imaginationsfähigkeit (Doubrawa 1992) und bei Patienten, die Entspannung in konkreten Alltagssituationen benötigen, in denen beispielsweise AT nicht durchführbar ist (Weinzierl u. Haag 1992). Spezifische Kontraindikationen bestehen für die PMR nicht.
799 32.5 · Biofeedback
32.4.6
Forschungsergebnisse zur Effektivität
Grawe et al. (1994) beschreiben 66 Studien mit insgesamt 3254 Patienten, in denen die PMR auf ihre Wirksamkeit untersucht wurde. Sie berücksichtigten dabei nur Studien, in denen PMR als eigenständige Therapiemethode, d. h. nicht im Rahmen umfassenderer Behandlungspläne, eingesetzt wurde. In den meisten Untersuchungen wurde die Therapie als ambulante Einzeltherapie mit einer Behandlungsdauer von etwa 10 Wochen durchgeführt. Es wurde ein weiter Bereich von Störungen untersucht, die meisten Untersuchungen liegen zur Behandlung von Hypertonie, Schlafstörungen und Kopfschmerzen vor. »In knapp drei Viertel aller Anwendungen wurden während der Therapiedauer bedeutsame Verbesserungen der jeweiligen Symptome und der vegetativen Stabilität festgestellt. … In etwa 60% traten zusätzlich Verbesserungen der allgemeinen Befindlichkeit ein und in immerhin der Hälfte wurden darüber hinaus positive Auswirkungen im zwischenmenschlichen Bereich beobachtet. … Die während der Therapie erzielten Verbesserungen erwiesen sich in den Katamnesen ganz überwiegend als stabil über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten« (Grawe et al. 1994).
Im Vergleich mit anderen Therapie- oder Entspannungsverfahren ergeben sich in den meisten Untersuchungen keine signifikanten Unterschiede. Gröninger u. Stade-Gröninger (1996) geben eine detaillierte Zusammenstellung der PMR-Literatur von 1979 bis 1995 in Form von Abstracts wieder. Die Ergebnisse entsprechen weitgehend dem Urteil von Grawe et al. (1994).
folgserlebnissen durch das Erreichen von Ziel- oder Schwellenwerten), Objektivierung physiologischer Vorgänge, steigernde Wirkung auf die Motivation durch Signalrückmeldung und Festlegung eines Soll- oder Zielzustands, rascher Aufbau von Selbstkontrollüberzeugungen, gezielte Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit für physiologische Prozesse, Objektivierung von Therapieverlauf und -erfolg durch computergestützte Auswertung, Möglichkeit eines realitätsnahen und flexiblen Einsatzes durch portable Geräte.
Kritikpunkte Demgegenüber wird das Biofeedback in folgenden Punkten kritisiert: Lange Vorbereitungsphasen (z. B. Befestigung von Elektroden), fehleranfällige Technik, standardisierte Behandlung, hohe Anschaffungskosten für die Apparatur, Technik als störender Faktor für die therapeutische Beziehung, keine ausreichende Kenntnis der spezifischen Wirkfaktoren, Unterschätzung der Bedeutung der Zuwendung des Therapeuten, Effektäquivalenz von Biofeedback und nichtapparativen Entspannungsmethoden.
32.5.1 32.5
Biofeedback
Bei der Biofeedbacktherapie handelt es sich um ein seit mehr als 30 Jahren v. a. in den USA systematisch erprobtes und eingesetztes therapeutisches Verfahren, das sich in Deutschland nur mühsam durchgesetzt hat. Die Entwicklung des Biofeedback hat wesentlich dazu beigetragen, das Wissen über psychophysiologische Prozesse während der körperlichen Entspannung zu erweitern. Es wird heute eher spezifisch und indikationsbezogen bei einzelnen Störungsbildern und Problemstellungen eingesetzt. In diesem Kapitel werden schwerpunktmäßig jene Aspekte dargestellt, die den Zusammenhang zwischen Biofeedback und Entspannung betreffen.
Argumente für das Verfahren Zur besseren Einordnung des Stellenwertes dieses Verfahrens seien an dieser Stelle kurz die wichtigsten Argumente für die Anwendung von Biofeedback als Entspannungsmethode genannt: Nutzung lernpsychologisch-verhaltensmedizinischer Aspekte (z. B. unmittelbare Rückmeldung von Er-
Definition
Biofeedback ist eine Methode, bei der biologische Vorgänge, die nicht oder nur schwer wahrnehmbar sind, in gut wahrnehmbare optische und/oder akustische Signale umgewandelt und somit der bewussten Wahrnehmung zugänglich gemacht werden (Kröner-Herwig u. Sachse 1990). Hierzu werden bestimmte Parameter wie z. B. Muskelspannung, Atmung, Hauttemperatur, Durchblutung, Hautwiderstand gemessen und dem Patienten systematisch rückgemeldet. Der Patient soll versuchen, das rückgemeldete Körpersignal in die therapeutisch gewünschte Richtung zu verändern. So ist z. B. das Ziel eines EMGFeedbacks die Erniedrigung der Tonhöhe eines Signals als Indikator für die Erniedrigung des muskulären Spannungsniveaus. Durch diese Bewusstmachung kann ein gewisses Maß an willentlicher Beeinflussung und Kontrolle der jeweiligen Körperfunktionen erlernt werden. Im Zusammenhang mit körperlicher Entspannung spielen insbesondere das neuromuskuläre System (Muskelaktionspotenziale), das zentralnervöse System (elektrische Hirnaktivität), und das autonome System (vasomotorische Reaktionen, Herztätigkeit, Blutdruck, Atmung und elektrodermale Reaktionen) eine wichtige Rolle.
32
800
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
⊡ Tab. 32.7. Übersicht über die wichtigsten Biofeedbackarten und ihre Anwendung Biofeedbackart
Ziel
Rückgemeldete Körperfunktion
Ableitungsort
Klinische Anwendungsgebiete
EMG-Feedback
Erniedrigung des muskulären Spannungsniveaus
Muskelaktionspotenziale
Kopf (M. frontalis, M. masseter), Hals (M. sternocleidomastoideus, M. semispinalis capitis, M. splenius capitis), Schulter (M. trapezius)
Schmerzen allgemein, Spannungskopfschmerz, neuromuskuläre Störungen (Lähmungen nach apoplektischen Insulten,Torticollis spasmodius, Bruxismus, temporomandibuläre Dysfunktion), Schlafstörungen
Respiratorisches Feedback
Atemfrequenzstabilisierung mit Betonung der Abdominalatmung
Ein- und Ausatmung
Bauchdecke
Psychosomatische Funktionsstörungen, chronische Schmerzsyndrome
EEG-Feedback
Erhöhung der Produktion von α-/θWellen
Elektrische Hirnaktivität
Gehirn
Epilepsie, Schlafstörungen
Neurofeedback
Reduktion der SCPAmplitude
Elektrische Hirnaktivität
Gehirn
Migräne
Vasomotorisches Feedback
Verminderung der peripheren Durchblutung
Vasokonstriktion/ -dilatation
A. temporalis superficialis
Migräne
Kardiovaskuläres Feedback
Verminderung der sympathischen Aktivität
Herzschlag, Elektrokardiogramm (EKG), Pulswellengeschwindigkeit, Blutdruck, Extremitätentemperatur
Herz, Handgelenk, Oberarm, Fingerkuppe
Herzrhythmusstörungen, Ängste, Hypertonie, Morbus Raynaud
32 ⊡ Tab. 32.7 zeigt eine Übersicht über die wichtigsten Biofeedbackarten mit ihren Zielen und Anwendungsbereichen.
32.5.2
Theoretische Grundlagen des Biofeedback
Operantes Konditionierungsmodell Das operante Konditionierungsmodell (»Lernen am Erfolg«) ist historisch und methodisch betrachtet der bedeutendste Ansatz zur Erklärung der Wirkungsweise von Biofeedback (Vaitl 1993 b). Das Feedbacksignal wird als Verstärker für die physiologische Funktionsänderung angesehen. Gemäß dem Prinzip der operanten Konditionierung führt die kontinuierliche Verstärkung der physiologischen Funktionsänderung zu einem vermehrten Auftreten der gewünschten Reaktionen. Es wird hier also ein physiologisches Verhalten gelernt (viszerales Lernen). Dies ist am ehesten bei eng umschriebenen, isolierten Funktionsverläufen sichtbar (z. B. Muskelkontraktions-
kontrolle bei Blasenentleerungsstörungen). Bei komplexen Funktionsverläufen, wie z. B. bei der Regulation des Blutdrucks oder der Herzaktivität, hat diese Modellannahme nur einen begrenzten Stellenwert. Hier liegt es nahe, die Beteiligung bestimmter Mediatorvariablen zu postulieren. So kann z. B. die Atmung als Mediator für die Pulsbeschleunigung angesehen werden. In diesem Fall kann nicht mehr von einer direkten Verstärkung der autonomen Reaktion ausgegangen werden. Vielmehr werden hier die Mediatorprozesse operant verstärkt. Dennoch stellt das operante Konditionierungsmodell eine unverzichtbare Grundlage für die Planung und Durchführung von Experimenten und Behandlungskonzepten dar.
Kybernetisches Modell In der Kybernetik wird Biofeedback als externer Regelkreis interpretiert. Das steuernde Prinzip ist die negative Rückkopplung, d. h. Abweichungen der Regelgröße (z. B. Blutdruck) lösen entgegengesetzte Änderungen aus, um das Homöostaseprinzip aufrechtzuerhalten. Der Mensch
801 32.5 · Biofeedback
besitzt viele interne Regelkreise (z. B. autonome Steuerung von Blutdruck, Hunger und Durst). Das regelungstheoretische Modell geht nun davon aus, dass beim Biofeedback der gestörte, interne Regelkreis durch einen externen ergänzt werden kann und dass das Feedbacksignal hierbei als Führungsgröße dient. Das Regelkreismodell stellt z. B. bei Einschränkungen der Schwankungen des Muskeltonus oder bei der Stabilisation der Herzrate mittels Biofeedback ein gutes Erklärungsmodell dar. Die in bestimmten Biofeedbackverfahren angestrebten Richtungs- und Intensitätsänderungen, wie z. B. bei der Steigerung oder Senkung der Herzrate, peripherer Vasodilatation oder der Vermehrung der α-Perioden im EEG, können jedoch mit Regelkreismodellen nicht hinreichend erklärt werden (Vaitl 1993 b). Problematisch erscheint hierbei auch, dass es sich i. Allg. bei den verwendeten Feedbackverfahren nicht um geschlossene, sondern um offene Regelkreise handelt. So stellt z. B. die akustische Rückmeldung des Muskeltonus keinen direkten Input in das neuromuskuläre System dar, sondern erfordert die Zwischenschaltung einer informationsverarbeitenden Instanz. Die Art der Beziehungen zwischen diesem Input und der zentralen Kontrollinstanz sind jedoch nicht im einzelnen bekannt, so dass verfahrenstechnisch der Begriff »Feedback« nicht unbedingt korrekt gewählt ist. Dennoch kommt dem kybernetischen Modell bei der Entwicklung der Biofeedbackapparatur eine entscheidende Bedeutung bei. ⊡ Abb. 32.1 soll dies verdeutlichen.
Modelle der Interozeption Eines der umstrittensten Modelle zur Erklärung der Wirkmechanismen des Biofeedback ist das der Interozeption, d. h. der Wahrnehmung interozeptiver, afferenter Signale aus dem Körperinneren. Es wurde viele Jahre angenommen, dass die Verbesserung der körperbezogenen Wahrnehmungsfähigkeit eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Anwendung von Feedbackverfahren darstellt. Diese Grundannahme ist neuerdings jedoch in
⊡ Abb. 32.1. Schematische Darstellung einer Biofeedbackanordnung
Zweifel gezogen worden. Die Interozeptionsforschung hat gezeigt, dass afferente Signale aus dem viszeralen Bereich zu zuverlässigen Diskriminationsleistungen führen, ohne dass sich die Versuchspersonen dessen bewusst zu sein brauchten. Für die Anwendung des Biofeedback bedeutet dies, dass eine Kontrolle autonomer Funktionen auch ohne zuverlässige Diskriminationsleistungen der betreffenden Personen möglich ist (Vaitl 1993 b). Dies wirft die Frage nach der Bedeutung kognitiver und motivationaler Faktoren bei der Kontrolle physiologischer Funktionen auf.
Kognitive Modelle In kognitiven Modellen wird der durch die Feedbackintervention bewirkten Erwartungs- und Einstellungsveränderung eine wichtige Bedeutung beigemessen. Bei der Rückmeldung der Biosignale kann immer wieder beobachtet werden, dass bei Patienten die spezifische Beeinflussbarkeit der relevanten physiologischen Parameter zu einer deutlichen Erhöhung der Selbstwirksamkeitserwartung führt. Das erfahrene Erfolgserlebnis bewirkt bei Patienten ein verbessertes Gefühl von Kontrollierbarkeit ihrer ansonsten für unkontrollierbar gehaltenen Körperreaktionen bzw. Symptome.
Unspezifische physiologische Modelle Diese Modelle gehen von der Grundannahme aus, dass Selbstkontrolle autonomer Funktionen in einem Zustand körperlicher Entspannung besser gelingt als bei einem hohen Aktivierungsniveau. Demnach sollen Probanden in der Feedbacksituation zunächst lernen, eine allgemeine sympathische Desaktivierung herbeizuführen. Dies spricht auch für die Kombination von Biofeedback mit Entspannungsverfahren oder die Herbeiführung von Entspannung durch die Rückmeldung verschiedener vegetativer Körperfunktionen. Trotz der hohen Popularität dieses Ansatzes im klinischen Bereich steht der experimentelle Nachweis dieser Annahme jedoch noch aus.
32
802
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
32.5.3
Durchführung des Biofeedback
Jeder Anwender sollte zumindest über Grundkenntnisse bezüglich der physiologischen Prozesse, die rückgemeldet werden, sowie der Registriertechnik und der Analyse der erhobenen physiologischen Messwerte verfügen. Bei der Durchführung von Biofeedbackbehandlungen zeigen Erfahrungen aus der Praxis, dass Biofeedback seine therapeutischen Möglichkeiten erst dann optimal entfaltet, wenn die Behandlung nicht einem starren Therapieschema folgt, sondern zielorientiert und flexibel eingesetzt wird. Die Entscheidung über Art und Inhalt der Therapiesitzung oder über die Sitzungsfrequenz sollte in Abhängigkeit von der Indikation, vom Therapieverlauf und von geplanten anderen Interventionen erfolgen. Während es in manchen Fällen ausreicht, 1–2 Demonstrationssitzungen durchzuführen, sind in anderen Fällen mindestens 10 Sitzungen Biofeedbacktraining notwendig. Die Einzelsitzungen sollten eine Dauer von 45 min nicht überschreiten. Bis zu 2 Sitzungen pro Woche sind sinnvoll. ⊡ Tab. 32.8 illustriert das konzeptuelle Vorgehen bei der Behandlung mit Biofeedback. Grundsätzlich werden 5 Therapiephasen unterschieden: Vorbereitungsphase, Baselineerhebung, Trainingsphase, Anwendungsphase und Abschlussevaluation. Vorbereitungsphase. In der Vorbereitungsphase sollte
32
darauf eingegangen werden, dass körperliche Symptome durch eigenes Verhalten kontrolliert und vermindert werden können und dass Biofeedback beim Erlernen dieser Kompetenzen hilfreich sein kann. Baselineerhebung. Bei der Baselineerhebung wird die »spontane« Selbstkontrolle über die physiologische Funk-
tion, die rückgemeldet werden soll, unter Entspannung und Stressbedingungen ohne Feedback überprüft. Anhand dieser Basisdaten lässt sich ein Erfolg des Feedbacktrainings auf der physiologischen Ebene nachweisen. In der nachfolgenden Sitzung wird durch verschiedene Aktivierungsübungen (z. B. Stirnrunzeln, Zähne zusammenbeißen, Rumpf anspannen) oder Imaginationen (z. B. Gespräche mit Therapeuten über subjektiv belastende Situationen) Anspannung erzeugt und probiert, diese durch entsprechende Entspannungsübungen oder -instruktionen (z. B. »ich bin ruhig und locker«) wieder abzubauen. Die Baselineerhebung sollte mit einer ersten Feedbackkontrollübung mit dem Ziel einer Entspannungsinduktion beendet werden. Bei dieser Feedbackkontrollübung wird entschieden, welche Empfindlichkeit das Rückmeldesignal haben sollte. Trainingsphase. In der Trainingsphase werden pro Sit-
zung 4–5 Feedbackdurchläufe (Feedbackbedingung) von jeweils 3 min Dauer und jeweils 2 Selbstkontrollphasen (Voluntary-control-Bedingung) von jeweils 3 min am Anfang und Ende der Sitzung durchgeführt. Zwischen den einzelnen Übungen sollten Pausen von mindestens 30 s liegen. Günstig sind neben der zeitkontingenten akustischen und visuellen Grafik auch summative Grafiken am Ende der Sitzung. Die erzielten positiven Effekte sollten möglichst deutlich, die negativen Effekte möglichst nivelliert wiedergegeben werden. Die verbale Verstärkung der Erfolge durch den Therapeuten ist hierbei ebenfalls sehr wichtig. Abschließend sollte jeweils besprochen werden, welche Bilder, Gedanken und Vorstellungen zur Verbesserung der Entspannung eingesetzt wurden. In der Trainingsphase sollten parallel zur Laborsituation gleichzeitig Transferübungen (Entspannungsübung mit den erarbei-
⊡ Tab. 32.8. Ablaufschema zur Biofeedbackbehandlung am Beispiel eines EMG-Feedback Therapiephase
Sitzung
Ziel
1. Vorbereitungsphase
1
Vermittlung eines adäquaten Störungsmodells und einer Therapietheorie
2. Baselineerhebung
1+2
Bestimmung der funktional relevanten Muskelgruppen Objektivierung der Häufigkeit und Intensität der Muskelaktiviät unter Ruhe und Stressbedingungen Festlegung der Empfindlichkeit des Rückmeldesignals
3. Trainingsphase
3–5
Verdeutlichung der psychophysiologischen Wirkzusammenhänge Verbesserung der Körperwahrnehmung Einübung verschiedener Selbstkontrollstrategien zur Entspannung bzw. Veränderung der rückgemeldeten Körperfunktionen in die therapeutisch erwünschte Richtung
4. Anwendungsphase
6–9
Erlernen feedbackunabhänigiger Körperwahrnehmung und Selbstkontrolle der Muskelaktivität Ausblenden der Feedbackbedingungen
5. Abschlussevaluation
10
Erfolgskontrolle
803 32.5 · Biofeedback
teten Kognitionen und Imaginationen) in der häuslichen Umgebung durchgeführt werden. Hiermit wird bereits eine Entwöhnung vom Feedbackgerät eingeleitet. Anwendungsphase. Im Rahmen des Anwendungstrainings soll die Entspannung nunmehr als aktive Bewältigungsstrategie bei Belastung eingesetzt werden. Der Patient soll lernen, auf die eingeführten Stressoren mit maximaler Entspannung zu reagieren. Die Stressoren sollten eine möglichst große persönliche Bedeutung haben (z. B. angstbesetzte Situation vorstellen, schmerzhaften Reiz »androhen«, Kopfrechenaufgabe unter Leistungsdruck).
Die Feedbackbedingungen sollten im Verlauf der Behandlung schrittweise zugunsten der Voluntarycontrol-Bedingungen ausgeschlichen werden, um einen Transfer der erlernten Strategien in den Alltag (ohne Rückmeldung durch die Apparatur) zu gewährleisten. Die Methode ist desto erfolgreicher, je professioneller sie auf den Patienten wirkt (z. B. durch gezielte Vermittlung von Erfolgserwartungen).
32.5.4
Methoden des Biofeedback
Abschlussevaluation. Nach Beendigung des Trainings er-
EMG-Feedback
folgt eine Abschlussevaluatation, die im Ablauf der Baselinesitzung entspricht.
Sämtliche Entspannungsverfahren haben zum Ziel, den neuromuskulären Tonus zu senken. Die Rückmeldung darüber, wie verspannt bzw. entspannt eine Muskelpartie ist, stellt daher eine Basisinformation dar (Vaitl 1993b). Das elektromyographische Feedback (EMG-Feedback) zählt daher zu den am meisten verbreiteten Biofeedbackmethoden. EMG-Ableitungen werden im Rahmen von Entspannungsverfahren üblicherweise im Stirn- (M. frontalis), Kiefer- (M. masseter), Hals- (M. sternocleidomastoideus, M. semispinalis capitis und splenius capitis) oder Schulterbereich (M. trapezius) vorgenommen. Der Ableitungsort sollte möglichst nah an der vom Patient geschilderten Symptomatik gewählt werden. Die Kombination von Muskelrelaxationstraining bei Patienten mit chronischem Kopfschmerz vom Spannungstyp und EMG-Feedback an der Stirnmuskulatur stellte eine der ersten klinischen Anwendungsbereiche dar. Die folgende Einzelfallstudie soll das allgemeine Vorgehen bei der Durchführung des Biofeedback demonstrieren.
Kriterien für Abschluss des Trainings Ein Kriterium für das Ende des Trainings (z. B. Erreichung eines bestimmten physiologischen Ziels) ist schwer zu formulieren. Ein generelles Kriterium stellt die verbesserte Körperwahrnehmung dar sowie das Erreichen adäquater Messwerte im Entspannungs- und Anspannungszustand (z. B. EMG-Ruhepegel 3–30 mV am M. trapezius). Für die einzelnen Ableitungsorte liegen entsprechende Richtwerte vor (Basmaijan 1995). Als Faustregel gilt eine Verbesserung des relativen Ausgangswertes in der jeweiligen Sitzung um 10–50%. Entscheidend ist jedoch der nach der Biofeedbackbehandlung regelmäßige Einsatz der erlernten Selbstkontrollstrategien in persönlichen Belastungssituationen sowie die Weiterführung der Entspannungsübungen. Eventuell ist in der Endphase der Therapie der vorübergehende Einsatz eines portablen Biofeedbackgerätes indiziert. Zur Evaluation der erreichten Erfolge sollten vom Patient kontinuierliche Protokolle über die gemachten Erfahrungen in der Anwendung der erlernten Strategien angefertigt werden.
Anwendungsprinzipien Abschließend seien einige Anwendungsprinzipen für die Durchführung der Behandlung mit Biofeedback zusammengefasst: Je näher und spezifischer die Ableitungen am subjektiven Krankheitsgeschehen sind, desto erfolgreicher ist die Therapie. Der Patient sollte für die erreichte Selbstkontrolle physiologischer Prozesse im Sinne der Erhöhung seiner Selbstwirksamkeitserwartung verstärkt werden (loben!). Die im Rahmen der Stressinduktion durchgeführten Provokationstests sollten möglichst individuell ausgewählt und realitätsnah durchgeführt werden.
Beispiel Ein 38-jähriger Techniker leidet seit Beginn der Berufstätigkeit vor 12 Jahren unter Kopfschmerzen vom Spannungstyp. Er arbeitet die meiste Zeit am Bildschirm. Zusätzlich steht er durch einen Konflikt mit einem Kollegen unter ständiger innerer Anspannung. Der Patient begab sich in stationäre psychosomatische Behandlung. In der ersten Therapiephase erfolgten eine ausführliche Anamnese sowie das Herausarbeiten der Auslöser und aufrechterhaltenden Bedingungen für die Kopfschmerzsymptomatik. Der Unfähigkeit zu entspannen, der mangelnden Stressbewältigung am Arbeitsplatz sowie der Tendenz zur Konfliktvermeidung wurde hierbei eine entscheidende Bedeutung beigemessen. Der Patient ging jedoch eher von einem organischen Krankheitsverständnis aus und führte seine Kopfschmerzen auf ein Wirbelsäulensyndrom zurück. Zunächst erlernte der Patient die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Dabei fiel es ihm schwer, den Unterschied
32
804
32
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
zwischen Anspannung und Entspannung differenziert wahrzunehmen. Zur Förderung der Effektivität der Entspannungsübungen wurde bei dem Patienten eine Biofeedbackbehandlung eingeleitet. Die EMG-Ableitungen von der Nacken- und Stirnmuskulatur ergaben eine massive EMG-Pegelerhöhung. In der Trainingsphase wurden sog. Verhaltensexperimente durchgeführt, z. B. wurden mentale Belastungsaufgaben wie Kopfrechnen als Stressoren eingesetzt. Der Patient erkannte anhand der Aufzeichnung der EMG-Werte, wie sensibel der Körper auf solche Interventionen reagiert. In den darauffolgenden Sitzungen wurde der Patient gebeten, bewusst durch gezielte Körperübungen, wie er sie z. B. im Rahmen der PMR gelernt hatte, und Imaginationen (z. B. Vorstellung eines Ruhebildes) eine Entspannung der Nacken- und Stirnmuskulatur herbeizuführen. Dies geschah phasenweise mit (Feedbackbedingung) und ohne (Voluntary-control-Bedingung) Rückmeldung des EMG-Pegels am Bildschirm. Mit insgesamt 10 Sitzungen Biofeedbackbehandlung konnte eine deutliche Verbesserung der Körperwahrnehmung sowie der Entspannungsfähigkeit erreicht werden. Dies führte dazu, dass der Patient am Arbeitsplatz den aktuellen Anspannungsund Entspannungszustand realistisch einschätzen und dementsprechend Belastungsgrenzen frühzeitig identifizieren und adäquat darauf reagieren konnte. Für den Transfer des erreichten Erfolgs in den Alltag wurde der Patient angehalten, die erlernten Strategien täglich zu üben. Die Biofeedbackbehandlung wurde abschließend durch klassisch-verhaltenstherapeutische Verfahren zur Stress- und Konfliktbewältigung ergänzt. Ein Follow-up nach 3 Monaten ergab, dass die Kopfschmerzen vom Spannungstyp nur noch an wenigen Tagen monatlich auftraten und von wesentlich geringerer Intensität waren.
Respiratorisches Feedback Neben dem EMG-Feedback stellt das respiratorische Feedback ein zentrales Verfahren zur Förderung der Entspannung dar. Vorrangiges Ziel ist das Erreichen eines tiefen, generalisierten Entspannungszustandes (KrönerHerwig u. Sachse 1988). Bei dem respiratorischen Feedback handelt es sich um ein System, das die Atemexkursion berührungslos verarbeitet und dem Probanden optisch (anschwellendes, warmes Licht) und/oder akustisch (anschwellendes Rauschsignal) rückmeldet. Der Patient ruht hierzu in entspannter Rückenlage auf einer Liege. Die während der Atmung stattfindenden Umfangsänderungen des Thoraxraums werden mittels eines Pneumografen, der um Brust oder Bauch der Person gelegt wird, registriert und in einer Atemkurve festgehalten. Als pneumografische Abnehmer können dünne Gummischläuche verwendet werden, die mit einer dünnflüssigen Elektrolytpaste gefüllt sind. Die durch die Atembewegung hervorgerufene Dehnung des Schlauchs hat Widerstandsänderungen der Füllung zur Folge, die durch eine entsprechende Schaltung als Spannungsänderung in Er-
scheinung treten und so das Registrier- bzw. Feedbackgerät ansteuern (Kröner-Herwig u. Sachse 1988). Bei der Anwendung des respiratorischen Feedbacks nach Leuner (1973) erfolgt ein optisches Feedback mittels einer über der liegenden Person angebrachten Lampe, die stufenlos die Lichtintensität mit Inspiration (Aufleuchten) und Exspiration (Erlöschen) ändert. Die Lampe strahlt auf eine Mattscheibe, die über dem Gesicht der Person angebracht ist. Dadurch wird dem Patienten ein diffuses Licht dargeboten, das durch die geschlossenen Augen wahrnehmbar ist. Bei Exspiration erlischt das Licht. Schenk (1985) konnte erstmals in einer kontrollierten Studie die spezifische Wirksamkeit des respiratorischen Feedbacks bei psychosomatischen Erkrankungen und insbesondere bei chronischen Schmerzsyndromen nachweisen.
EEG-Feedback Die Rückmeldung der Hirnstromaktivität (Elektroenzephalogramm/EEG) gehört zweifellos zu den interessantesten und faszinierendsten Methoden der Biofeedbackverfahren. Die Hirnstrommuster, die in einer unmittelbaren Beziehung zu Entspannungsvorgängen stehen, sind die Frequenzklassen der α- und θ-Rhythmen im Spontan-EEG. Beim EEG-Feedback werden diese Rhythmen aus dem Spontan-EEG herausgefiltert. Hierzu sind entsprechend leistungsfähige Verstärker- und Filtereinheiten nötig. In der Anwendung des α-EEG-Feedback wurde beobachtet, dass Veränderungen der α-Aktivität durch verschiedene äußere und innere Bedingungen hervorgerufen werden (Vaitl 1993b). Gelernt werden soll demnach nicht, die Hirnstromtätigkeit direkt zu beeinflussen, sondern die Prozesse zu unterbinden, die eine EEG-Synchronisation (vermehrte α-EEG-Aktivität) behindern.
Neurofeedback (FPH) Eine spezielle Form des EEG-Feedbacks stellt das Neurofeedback dar. Es wird angestrebt, verschiedene kortikale Aktivitätsniveaus differenzieren und beeinflussen zu lernen (Vernon 2005). Insbesondere in den Anwendungsbereichen Migräne und ADHS (Fox et al. 2005) werden in den letzten Jahren zunehmend gute Erfolge mit Neurofeedback erreicht. Im Rahmen des Neurofeedbacks bei Migräne scheint das übliche Vorgehen der Rückmeldung einzelner Frequenzbereiche weniger erfolgversprechend. Vielmehr wird heute diskutiert, bei langsamen kortikalen Gleichspannungsänderungen eher Amplituden zurückzumelden (Kropp et al. 2002; Siniatchkin et al. 2000).
Vasomotorisches Feedback Ein Kennzeichen einer Entspannungsreaktion ist die Zunahme der peripheren Vasodilatation. Je stärker die distalen Hautgefäße durchblutet sind, desto mehr nimmt die Temperatur in diesen Bereichen zu. Rückgemeldet wer-
805 32.5 · Biofeedback
den beim vasomotorischen Feedback die Temperaturveränderungen z. B. in den Fingern oder die plethysmografisch registrierte Pulsamplitude an der A. temporalis. Das vasomotorische Feedback wird v. a. bei der Behandlung der Migräne (Kropp et al. 1997) und der Raynaud-Erkrankung eingesetzt. Dass sich die periphere Durchblutung willentlich beeinflussen lässt, ist aus mehreren Studien bekannt (z. B. durch Hypnose; Maslach et al. 1972). Insbesondere beim Fingertemperatur- oder Handerwärmungsfeedback stellen sich häufig schon zu Beginn des Trainings gute Effekte ein. Beim Vasokonstriktionstraining nach der plethysmografischen Methode werden bevorzugt Imaginationen eingesetzt, die eine Enge suggerieren (z. B. Fahrt durch einen Tunnel, Vorstellung von Eis und Kühle). Als optische Rückmeldung dient ein am Bildschirm sich verengender Balken. Trotz der klinischen Effizienz (d. h. Abnahme der Migräneattackenfrequenz, Einschränkung des Medikamentenkonsums) ist die physiologische Basis der Effekte des vasomotorischen Feedback bei Migräne weitgehend unklar.
Kardiovaskuläres Feedback Herztätigkeit und Blutdruck erwiesen sich als günstige kardiovaskuläre Messgrößen beim Einsatz von Feedback zur Förderung von Entspannung. Bei der Rückmeldung der Herztätigkeit kann eine Veränderung der Herzrate oder eine Stabilisation der Herzschlagfolge (d. h. Einschränkung der Variabilität der Herzschlagintervalle) angestrebt werden. Ähnlich wie beim α-EEG, lernen die Patienten hier, all jene Aktivitäten zu unterbinden, die zu einer Steigerung der Herzrate führen können. Allgemein gilt, dass eine Steigerung bzw. Senkung der Herzrate vorwiegend durch eine Modulation des psychophysiologischen Aktivierungsniveaus zustande kommt. Klinische Anwendung findet das Herzratenfeedback insbesondere bei Herzrhythmusstörungen. Die Rückmeldung des systolischen und diastolischen Blutdrucks hat sich zur Senkung des Bluthochdrucks als besonders effizient erwiesen (Vaitl 1993b). Die Frage nach den Mechanismen, die bei einem Feedbacktraining zur Senkung des Blutdrucks führen, kann heute noch nicht befriedigend beantwortet werden.
Zu den spezifischen Indikationen des Biofeedback gehören die verbesserte Entspannungsfähigkeit durch ein Training der gezielten Wahrnehmung interozeptiver Signale sowie das Überprüfen der Effektivität von gelernten Entspannungsübungen. Des Weiteren wird Biofeedback auch zur Unterstützung psychologischer Veränderungen wie z. B. Umattributionsprozessen von rein somatischen zu psychosomatischen Krankheitsmodellen eingesetzt. Bei Personen mit stressbeeinflussten Krankheiten (z. B. koronare Herzerkrankungen) wird Biofeedback eingesetzt, um durch die realistischere Einschätzung von Anspannungs- und Entspannungszuständen auch Belastungsgrenzen frühzeitiger zu identifizieren und damit Stressreaktionen vermeiden zu können.
Kontraindikationen Biofeedback ist wahrscheinlich wenig geeignet, wenn in der Problemanalyse operante symptomaufrechterhaltende Faktoren, wie verstärkende Umweltbedingungen, exzessives Vermeidungsverhalten oder eindeutige Auslöser für die Symptomatik erkennbar sind. Des Weiteren erscheint die Anwendung von Biofeedback schwierig, wenn eindeutige physiologische Korrelate beim Auftreten der Symptomatik fehlen. Eine Biofeedbackbehandlung erscheint auch dann wenig sinnvoll, wenn nicht gleichzeitig ein Verzicht oder eine Reduktion von Psychopharmaka bzw. in der Schmerztherapie von Analgetika erfolgt. In diesem Fall kann es sich als störend im Therapieprozess erweisen, wenn Erfolge durch die Biofeedbackbehandlung gleichzeitig vom Patienten auch auf die Medikamenteneinnahme zurückgeführt werden können. Wichtig ist auch eine gute Therapeut-Patient-Beziehung, in der die Fähigkeit des Patienten gegeben sein sollte, bestimmte Instruktionen zu befolgen, ohne unkontrolliert eigene Vorstellungen und Gedanken zu produzieren. Diese Fähigkeit kann insbesondere bei Patienten mit paranoiden Symptomen, Borderline-Störungen und manifesten Depressionen eingeschränkt sein.
32.5.6 32.5.5
Indikationen und Kontraindikationen des Biofeedback
Indikationen ! Grundsätzlich sollte das Biofeedbackverfahren nicht als eigenständige Therapie für bestimmte Störungen angesehen werden, sondern immer in ein Gesamtbehandlungskonzept eingebettet sein.
Forschungsergebnisse zur Effektivität
Biofeedback hat sich in zahlreichen Studien als eine erfolgversprechende, wenn auch nicht unumstrittene Behandlungsmethode erwiesen. Effizienzuntersuchungen zum Biofeedback wurden bislang immer auf die Anwendung bei bestimmten Störungsbildern bezogen. Studien, in denen spezifisch die Entspannungswirkung, und nicht die Auswirkung auf die gesamte Symptomatik (z. B. Reduktion der Schmerzintensität) untersucht wurde, liegen derzeit nicht vor. In den meisten Studien wurde Biofeed-
32
806
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
back als eigenständige Therapie für klinisch relevante Probleme angewandt und auf seine Wirkungen untersucht. Meist wurde nur die Wirkung auf die jeweiligen Hauptsymptome und der unmittelbar trainierten psychophysiologischen Parameter erfasst. Nur selten wurden auch Befindlichkeitsveränderungen mit einbezogen. Bei den Vergleichen mit anderen Therapieverfahren wurden oft Entspannungsverfahren oder verhaltenstherapeutische Methoden herangezogen. Vergleiche mit anderen Therapierichtungen liegen dagegen fast keine vor.
EMG-Feedback Am besten untersucht ist das EMG-Feedback. Bei psychosomatischen Störungsbildern konnte in verschiedenen Studien kein Unterschied zwischen EMG-Feedback und PMR gefunden werden (Haynes et al. 1975). Die Ergebnisse einer Metaanalyse (Blanchard et al. 1980) ergaben ebenfalls identische Befunde, unabhängig davon, ob sie allein oder in Kombination eingesetzt worden waren. Alle 3 Verfahren waren jedoch einer psychologischen Plazebobehandlung, einer pharmakologischen Plazebobehandlung sowie einer weiteren Kontrollbedingung (Tagebuch) überlegen (⊡ Tab. 32.9).
Atemfeedback
32
Weitere Übersichtsarbeiten (z. B. Rose u. Carlson 1987; Holroyd u. Penzien 1990; Duckro 1991) kommen zu einem ähnlichen Resultat. Die spezifische Wirksamkeit des respiratorischen Feedback konnte erstmals von Schenk (1985) in einer kontrollierten Studie bei einer klinischen Behandlungsgruppe über einen Beobachtungszeitraum von 9 Monaten nachgewiesen werden. Bei einem Vergleich von einer Atemfeedbackgruppe mit einer Hautwiderstandsfeedbackgruppe sowie einer studentischen Kontrollgruppe war die Atemfeedbackgruppe den anderen Gruppen bezüglich der Symptomreduktion, der Medikamenteneinnahme sowie der Änderung des allgemeinen Befindens hochsignifikant überlegen (⊡ Abb. 32.2). Die Effekte konnten insbesondere bei psychosomatischen
Erkrankungen (Schlafstörungen, gastrointestinale Beschwerden, depressive Verstimmungen, Ängste) sowie bei chronischen Schmerzsyndromen nachgewiesen werden.
Gesamtbeurteilung Nach Grawe et al. (1994) war in sämtlichen bis 1984 durchgeführten Studien zur Effektivität verschiedener Feedbackverfahren Biofeedback in 75 aller untersuchten Behandlungsgruppen wirksam in der Reduktion der jeweils behandelten Symptome. Grawe stellt jedoch fest, dass für die meisten Feedbackarten die im Prä-post-Vergleich festgestellten Wirkungen auf andere Einflussfaktoren zurückgeführt werden müssen als auf das spezifische Biofeedbacktraining. Lediglich das EMG-Biofeedback scheint spezifische Wirkungen zu haben und erreicht im Vergleich zu Kontrollgruppen noch in etwa 50% der Behandlungsgruppen eine bedeutsame Symptomverbesserung. Das EMG-Feedback hat eine besonders gute Wirkung bei verschiedenen Schmerzzuständen (hauptsächlich Kopfund Rückenschmerzen), bei Schlafstörungen und bei ängstlichen Verspannungen; keine besonderen Effekte waren bei anderen psychosomatischen Beschwerden wie Bluthochdruck zu verzeichnen. In Katamneseuntersuchungen zeigten sich jedoch gehäuft Rückfälle in den Monaten nach der Behandlung. Für die Stabilisierung des Therapieerfolgs erscheint daher der Transfer der erlernten Selbstkontrollstrategien in den Alltag von herausragender Bedeutung. Biofeedback kann wohl insgesamt für keinen klinischen Anwendungsbereich als die Methode der Wahl angesehen werden. Mit anderen Therapiemethoden lassen sich mindestens gleich gute oder bessere Effekte erzielen, für die kein größerer Aufwand erforderlich ist. Dies schließt jedoch nicht aus, dass Biofeedback durchaus als ergänzender Therapiebaustein in einem Gesamtbehandlungsprogramm sinnvoll und wirkungsvoll sein kann (z. B. als Mittel zur Erhöhung der Selbstkontrolle bei Schmerzzuständen).
⊡ Tab. 32.9. Prozentuale Veränderungen der Spannungskopfschmerzen bei verschiedenen Verfahren. (Daten aus einer Metaanalyse von Blanchard et al. 1980) Verfahren
Durchschnittliche Besserung am Ende der Therapie (in %)
Anzahl der Studien
Frontales EMG-Feedback (FB)
60,9
12
Progressive Muskelrelaxation (PMR)
59,2
9
Kombination Feedback (FB + PMR)
58,8
6
Psychologisches Plazebo
35,3
7
Pharmakologisches Plazebo
34,8
8
Kopfschmerztagebuch
–4,5
6
807 32.6 · Sonstige Entspannungsverfahren
⊡ Abb. 32.2. Veränderung des Schmerzindexes nach 9-monatiger Therapie (A respiratorisches Feedback; B Hautwiderstandsfeedback; C Studenten; maximaler Schmerzindex: 100%). (Ergebnisse einer kontrollierten Studie von Schenk 1985)
32.6
Sonstige Entspannungsverfahren
Bei den hier aufgeführten Verfahren ist Entspannung meist nicht das hauptsächliche Ziel, sondern es werden darüber hinausgehende psychotherapeutische (oder psychohygienische oder sonstige z. B. religiöse, spirituelle) Veränderungen angestrebt. Sie werden hier erwähnt, weil ein gewisser Entspannungseffekt bei diesen Verfahren meist auch eintritt. Die Auswahl der dargestellten Verfahren soll als exemplarisch verstanden werden.
32.6.1
Meditation
Die Meditation ist zusammen mit hypnotischen Verfahren das älteste Entspannungsverfahren. Ziel der klassischen Meditationsverfahren ist das spirituelle Wachstum, die Erweiterung des Bewusstseins und die Erzielung einer tiefen inneren Ruhe (Linden 1993). Für eine erfolgreiche Meditation – gleich welcher Art – ist es wichtig, dass der Übende das Prinzip des »Geschehenlassens« akzeptiert und eine passive Grundhaltung einnimmt. »Der meditative Zustand kann nicht erzwungen werden, sondern es muss ihm Raum gegeben werden« (ebd., S. 207). Der Begriff »Meditation« bezeichnet einen vertieften Zustand geistiger Sammlung und Klarheit, der sich vom Alltagsbewusssein des Menschen deutlich unterschiedet. Die verschiedenen Meditationsformen lassen sich unterteilen in »konzentrative Meditation« oder »Ruhemeditation« (buddhistische Bezeichnung: Sammatha) und in die rezeptiven Formen, auch als »Einsichts«- oder »Klarblickmeditation« (buddhistische Bezeichnung: Vipassana – Wildgruber 2006) bezeichnet. Zu den konzentrativen Formen zählt beispielsweise die transzendentale Meditation, diese schult den Geist durch beharrliche Sammlung
(Konzentration) auf ein Meditationsobjekt (z. B. ein Mantra). Ziel ist die »meditative Vertiefung«. Bei den rezeptiven Formen soll der Patient einen Zustand der Ziellosigkeit akzeptieren und es jedem Gedanken oder Bild erlauben, ins Bewusstsein zu gelangen. Diejenigen Formen, die bei uns weiter verbreitet sind, sind Varianten der konzentrativen Meditation, bei der sich die Übenden auf ein Objekt, einen Klang, oder ein Wort (»Mantra«) konzentrieren (Linden 1993). In einer Reihe von psychophysiologischen Untersuchungen wurde gezeigt, dass Meditation zur allgemeinen Entspannungsreaktion führt. Für die Meditation spezifische psychophysiologische Effekte konnten nicht gefunden werden (ebd.). Die konzentrative Meditation kann gut mit der PMR kombiniert werden (Seer 1996). Kontraindikationen. Für die meditativen Verfahren be-
stehen Kontraindikationen nach Ansicht von Linden (1993) bei besonders prädisponierten Personen zu einer »entspannungsinduzierten Angst« (Heide u. Borkovec 1983). Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Meditation im Gegensatz zur Muskelentspannung (die konkrete, mechanische Übungen erfordert, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen) mit einer größeren Passivität verbunden ist. Sie bietet mehr Freiraum, um Angstgefühle besonders bewusst werden zu lassen.
32.6.2
Konzentrative Bewegungstherapie
Gewisse meditative Anteile enthält auch die von Elsa Gindler 1926 begründete konzentrative Bewegungstherapie (KBT), die insbesondere in Deutschland von Meyer, Stolze, Goldberg und Gräff weiterentwickelt wurde.
32
808
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
»Ausgehend von dem gestaltpsychologischen Postulat, dass der Mensch eine körperliche und geistige Einheit sei, wird der Patient angeleitet, sich auf Abläufe in seinem Organismus zu konzentrieren und über die Sensibilisierung für die eigene Körperlicherkeit seine Sinne ›lebendig zu machen‹. Bewegung spielt zumindest zu Beginn der Therapie nur eine geringe Rolle, da es primär auf das ,Innere-bewegt-Sein‘ ankommt« (Kuhr u. Strupp 1986, S. 340).
In der KBT ist es im Gegensatz z. B. zur funktionellen Entspannung von vornherein sehr wahrscheinlich, dass der Patient über das Erleben seines Körpers in der Bewegung mit typischen Charakterhaltungen und frühen Lernerfahrungen konfrontiert wird. Da sich viele Probleme im interaktionalen Bereich abspielen, ist bei der KBT ein Arbeiten in der Gruppe das übliche Setting. Besonders für die Gruppe entwickelt wurde die »körperbezogene Psychotherapie analytischer Orientierung« von Maaser et al. (1994), die auch sonst einige Ähnlichkeiten mit der KBT aufweist (Müller-Braunschweig 1994).
in der Verhaltenstherapie (Derra 2006d). Hier stellen sie das zentrale Element der systematischen Desensibilisierung (Wolpe 1958) dar. Lang (zit. nach Petermann u. Kusch 1993) konnte in verschiedenen Untersuchungen zeigen, dass die neurophysiologischen Aktivierungsmuster während der Imagination angstauslösender Situationen denen entsprechen, die während der realen Konfrontation mit diesen Situationen auftreten. Er geht daher davon aus, dass die Imagination stellvertretend für eine objektive Reizung stehen kann, und daher die verhaltenstherapeutische Manipulation der Konsequenzen in sensu denen in vivo entsprechen. So kann sich der Patient beispielsweise lebhaft vorstellen, wie er das nächste Mal in einer solchen Situation entspannter reagiert. Als Entspannungsverfahren können die imaginativen Verfahren daher nicht grundsätzlich gelten, sondern nur dann, wenn entspannende Szenen imaginiert werden.
Katathymes Bilderleben Indikationen und Kontraindikationen
32
Die KBT ist im Prinzip bei allen psychosomatischen und funktionellen Störungen indiziert. Manche Autoren betonen deren Einsatz bei den sog. Frühstörungen (MüllerBraunschweig 1996). Hier ist jedoch wieder besondere Vorsicht geboten: Die KBT ist sicher ein effektives und wichtiges Therapieverfahren z. B. für Patientinnen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie kann aber durchaus problematisch sein, wenn dieses Therapieelement nicht ausreichend vorbereitet wurde und von nicht ausreichend ausgebildeten Therapeuten sowohl im Umgang mit Persönlichkeitsstörungen als auch mit Körpertherapie durchgeführt wird. Cave Denn durch die KBT können relativ unvorhergesehen heftigste Emotionen bei diesen Patienten ausgelöst werden, die sie evtl. nicht regulieren können – was ja ein wesentliches Merkmal von Borderline-Störungen darstellt (Linehan 1993). Dies wiederum kann zu suizidalen Krisen führen. So empfiehlt Müller-Braunschweig (1996), beim Einsatz von KBT bei psychotischen Patienten oder Patienten mit Borderline-Symptomatik Modifikationen der Technik vorzunehmen, die mehr auf Ich-Stützung, Abgrenzung und Realitätswahrnehmung gerichtet sein sollten.
32.6.3
Imaginative Verfahren
Besonders die imaginativen Verfahren können nicht als eigenständige Theapieverfahren angesehen werden. Sie werden grundsätzlich in umfassendere Therapiepläne integriert. So werden imaginative Techniken sehr häufig im Rahmen der Hypnose eingesetzt (Kossak 1993), aber auch
Das katathyme Bilderleben (KB) wird hier dargestellt, da es in Deutschland und in den USA (als »guided affective imagery«) trotz der mangelhaften empirischen Überprüfung weit verbreitet ist. Es handelt sich um ein spezifisches imaginatives Verfahren im Rahmen einer tiefenpsychologischen Theorie, das von H. C. Leuner bereits in den 50er Jahren entwickelt wurde (Leuner 1990). Der Therapeut gibt bestimmte Motive vor und greift mit verschiedenen Techniken lenkend in das Tagtraumgeschehen ein, über das der Patient laufend berichtet. Der Patient wird dabei zunächst z. B. mit Hilfe der Grundstufenübungen des AT in einen entspannten Zustand versetzt. Anschließend werden ihm nach und nach 12 Standardmotive zur Imagination vorgegeben. Entsprechend der Theorie wird auf diese Motive der eigene innere Zustand projiziert, die imaginierten Bilder sollen also die unbewussten Konfliktbereiche des Patienten spiegeln. Das katathyme Bilderleben wird in eine Grund-, Mittel- und Oberstufe unterteilt mit jeweils typischen Motiven.
32.6.4
Funktionelle Entspannung
AT und PMR setzen bei den Patienten bereits eine gewisse Wahrnehmungsfähigkeit für körperliches Erleben voraus, die aber nicht bei jedem Patienten gegeben ist. Für solche Patienten kann z. B. die funktionelle Entspannung (FE), die KBT oder die Psychotonik (Glaser 1990) ein Einstieg in verbesserte Körperwahrnehmung sein, die das Erlernen eines typischen Entspannungsverfahrens überhaupt erst ermöglicht.
Funktionelle Entspannung (FE) nach Fuchs Die FE wurde von Marianne Fuchs (5. Aufl. 1994) entwickelt. Die FE versucht, vom Atemrhythmus ausgehend,
809 32.6 · Sonstige Entspannungsverfahren
Blockaden im Körper spürbar zu machen. Sie bleibt dabei sehr symptomzentriert, d. h. es ist nicht unbedingt beabsichtigt, über das Körpererleben an bestimmte (verdrängte) Lebenserfahrungen heranzukommen. Sie beginnt jedoch in der Regel nicht an der symptomatischen Stelle, sondern an einer Körperstelle, an der sich der Patient wohlfühlt. Er wird dann zu kleinen Bewegungen aufgefordert. Über das veränderte Empfinden soll er dem Therapeuten dann berichten, denn das Hauptziel der FE ist zunächst nicht die Entspannung, sondern die bewusste Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit. Indikationen. Als Indikationen für FE werden in der Lite-
ratur (s. z. B. Johnen 1992; Müller-Braunschweig 1996) u. a. Fehlspannungen im Bewegungsapparat, rheumatische und neurologische Beschwerden, generell die sog. funktionellen Störungen, Zwangsneurosen, Phobien, Depressionen nicht zu schweren Ausmaßes und speziell auch sog. frühe Störungen der Selbstentwicklung (Borderline- und narzisstische Persönlichkeitsstörungen) genannt. Auch bei Asthma und anderen psychosomatischen Störungen wird über günstige Wirkungen berichtet. Die FE kann ein günstiger Zugangsweg sein zu Patienten, »bei denen die psychotherapeutische Arbeit auf der verbalen Ebene zunächst schwierig oder unmöglich ist« (Johnen 1992, S. 236).
Entspannung steht dabei nicht unbedingt im Vordergrund, sondern es soll durch verschiedene Übungen zu einer Tonisierung der Muskel- und Atemspannung kommen. Indikationen und Kontraindikationen. Indiziert ist die
Psychotonik daher v. a. bei Patienten mit psychosomatischen Störungen, deren Störung auch im körperlichen Interaktionsverhalten zum Ausdruck kommt. Eine Kontraindikation besteht in der Regel bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen und bei anderen Patienten mit rigiden Grundhaltungen, die keine Bereitschaft zeigen, mit ihrem körperlichen Ausdrucksverhalten zu experimentieren. Wirkfaktoren. Müller-Braunschweig (1996, S. 472) meint,
dass es für die verschiedenen körperorientierten Psychotherapieverfahren einige übergreifende Wirkfaktoren gibt: Sensibilisierung für körperliche Vorgänge zusammen mit dem Erfahren/Erlernen von Entspannen und damit dem Wissen um eine mögliche Beeinflussung des Symptoms beim Patienten; physiologische Umstellung durch Entspannung; menschliche Nähe, Berührung, Rückmeldung, »holding function« (zumindest Beachtung des subjektiven Körpererlebens) durch den Therapeuten.
Kontraindikationen. Relative Kontraindikationen beste-
hen bei schweren Zwangsstörungen und bei hypochondrischer Störung. Ein Patient sollte nicht gleichzeitig mit der FE oder der Psychotonik PMR oder AT erlernen, da diese unterschiedlichen Zugangswege zum körperlichen Empfinden bei den Patienten häufig zu Verwirrung führen. Die FE wird meistens als Einzelarbeit durchgeführt.
Psychotonik Auch die Psychotonik von Glaser (1990; GrossmannSchnyder 1987) entwickelte sich aus der Atemtherapie. Unter Eutonie versteht Glaser (1990, S. 12) den »Zustand der bestmöglichen Ausgewogenheit aller Entwicklungen des Menschen.« Psychotonik definiert er als die Lehre, »die die Korrespondenzen zwischen Spannungsverteilung in der Muskulatur und der Affektivität erforscht, systematisiert und für die erzieherische und heilende Arbeit nutzbar macht« (ebd.). Unabhängig davon, ob die Psychotonik als Einzel- oder als Gruppentherapie durchgeführt wird, wird der Kommunikation, der Begegnung zwischen Therapeut und Patient bzw. zwischen den Patienten eine entscheidende Bedeutung beigemessen. Es geht hier also nicht nur – wie beispielsweise in der FE – um eine bewusstere Wahrnehmung von eigenen Körpervorgängen, sondern vorrangig um deren Bedeutung für die Beziehungsgestaltung mit anderen Menschen oder Objekten.
32.6.5
Forschungsergebnisse zur Effektivität
Für einen großen Teil der in diesem Abschnitt dargestellten Verfahren liegen keine Metaanalysen über Effektivitätsstudien vor, was teilweise auch damit in Zusammenhang steht, dass diese Verfahren sich nicht so einheitlich und klar charakterisieren lassen wie beispielsweise AT oder PMR. So können Studien, die Meditation oder imaginative Verfahren untersuchen, in ihrer Aussagekraft immer nur auf die jeweils konkret durchgeführte Methode begrenzt sein. Die Wirksamkeit ist hier insofern auch schwierig zu beurteilen, da man zwar die Instruktionen der Therapeuten standardisieren könnte, es gibt aber kaum Möglichkeiten zu überprüfen, was dann tatsächlich auch beim Patienten (z. B. an Vorstellungsbildern) abläuft, man ist hier ausschließlich auf den verbalen Bericht des Patienten angewiesen.
Meditation Grawe et al. (1994) stellen 15 Studien mit insgesamt 596 Patienten dar, in denen die Wirksamkeit von Meditation untersucht wurde. Die dort beschriebenen Behandlungen wurden meist ambulant und als Einzeltherapie durchgeführt. Die Dauer der Behandlungen lag meist unter 10 Wochen mit weniger als 10 Sitzungen. Die Störungen, die
32
810
Kapitel 32 · Entspannungsverfahren
behandelt wurden, waren zumeist Angst- und Spannungszustände und Bluthochdruck. In einzelnen Studien wurde die Wirksamkeit der Meditation bei Schlafstörungen, Asthma sowie Alkohol- und Drogenabhängigkeit untersucht. Die methodische Qualität der Untersuchungen wird von Grawe et al. (1994) als eher überdurchschnittlich beurteilt; v. a. im Hinblick auf den Aufwand wird der Effekt von Meditation als sehr positiv eingeschätzt. In 12 von 16 Studien wurde eine signifikante Verbesserung der jeweiligen Hauptsymptomatik während der Behandlung festgestellt. Auch im Kontrollgruppenvergleich konnte die Wirksamkeit bestätigt werden. In den katamnestischen Studien erwiesen sich die erzielten Behandlungserfolge als längerfristig (mindestens 6 Monate) stabil. Mit anderen Entspannungsverfahren (Hypnose, Biofeedback, PMR) wurde Meditation in 9 Studien verglichen. Es konnten insgesamt keine Wirksamkeitsunterschiede festgestellt werden. »Meditationstechniken sind nach den bisher vorliegenden Ergebnissen jedenfalls therapeutisch wirkungsvoller als das im deutschen Sprachraum weitverbreitete Autogene Training« (Grawe et al. 1994).
»Für Patienten und Therapeuten, die den mit Meditationstechniken in der Regel verbundenen östlich-kulturellen Zielen und Inhalten zuneigen, kann Meditation eine interessante Alternative zum Biofeedback, zur Progressiven Muskelentspannung und zur Hypnose sein, die dem Autogenen Training unter dem Wirksamkeitsaspekt allesamt vorzuziehen sind« (ebd., S. 625f.).
Linden (1993) kommt nach Bewertung verschiedener Metaanalysen von Therapiestudien, die Meditation mit anderen Entspannungsverfahren verglichen, zu dem Schluss, dass die Meditation unmittelbare und langfristige Veränderungen hervorruft, die im Wesentlichen dieselben sind wie bei anderen Entspannungsverfahren.
Katathymes Bilderleben Zum katathymen Bilderleben lagen Grawe et al. (1994) nur 2 Studien vor, die ihren Kriterien genügten. »Vorläufig muss die Wirksamkeit des Katathymen Bilderlebens als nicht bestätigt angesehen werden« (ebd., S. 240). Zur Funktionellen Entspannung, der KBT und zur Psychotonik sind derzeit keine empirischen Studien bekannt.
Fazit
32
Von den dargestellten Verfahren sind nur 2 als eigentliche Entspannungsverfahren zu bezeichnen, nämlich die PMR und die Unterstufe des AT. Alle anderen Verfahren enthalten Entspannungselemente, gehen aber in ihrer Zielsetzung – z. T. weit – über reine Entspannung hinaus. Insofern ist auch die empirische Evaluation äußerst schwierig zusammenfassend zu beurteilen. Praktisch alle dargestellten Verfahren haben in gewissen klinischen Bereichen, bei bestimmten Patienten (und bestimmten Therapeuten!) häufig in Kombination mit umfassenderen therapeutischen Konzepten einen – mehr oder weniger begrenzten – Nutzen. Ihr differenzieller Einsatz sollte daher davon abhängig gemacht werden, bei welchem Störungsbild sich welches Entspannungsverfahren in empirischen Studien als effektiv erwiesen hat. Auf der anderen Seite gibt es etliche Störungsbilder, bei denen sich kein spezifisches Entspannungsverfahren gegenüber
32.7
anderen als überlegen gezeigt hat. In diesen Fällen sollte berücksichtigt werden, was der Patient bereits über ein bestimmtes Verfahren weiß, mit welcher Erwartung er es sich beibringen lässt, welches Verfahren am besten zu seiner Persönlichkeitsstruktur passt (z. B. Kontrollerwartungen, Typ-A-Verhaltens- und Einstellungsmuster etc.), und welches Verfahren der Therapeut präferiert und am besten beherrscht. Entspannungsverfahren sollten grundsätzlich als nützliches, spezifisches Additiv im Rahmen eines psychotherapeutischen Gesamtkonzepts gesehen werden.
Leitlinien/EbM-Box
Explizite Leitlinien durch wissenschaftliche Fachgesellschaften für den Bereich Entspannung liegen nicht vor. Dennoch gibt es einige Untersuchungen, die belegen, dass bestimmte Entspannungsverfahren wissenschaftlich
abgesichert sind (Grawe et al. 1994). Dies gilt für die progressive Muskelrelaxation, das autogene Training, Biofeedback und Hypnose.
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32
33 33 Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien A. Retzer
33.1
Historische Perspektive – 816
33.2
Theoretische Grundlagen der systemischen Therapie – 816 Kybernetik I. Ordnung – 817 Kybernetik II. Ordnung – 817 Vom Systemproblem zum Problemsystem – 817 Phänomenbereiche von Körper, Psyche und Kommunikation – 818 Das Problem des Verstehens – 822 Kommunikationssysteme – 823
33.2.1 33.2.2 33.2.3 33.2.4 33.2.5 33.2.6
Theorie der systemischen Therapiemethodik – 824 33.3.1 Das Störungsmodell – 824 33.3.2 Systemische Psychotherapie als Koautorenschaft – 828 33.3.3 Systemische Psychotherapie als Übergangsritual – 829
33.4 Klinische Anwendungsprinzipien – 830 33.4.1 Das räumliche Setting systemischer Psychotherapie – 830 33.4.2 Das zeitliche Setting systemischer Psychotherapie – 830 33.4.3 Die zirkuläre Befragung – 831 33.4.4 Die lösungsorientierte Befragung – 833 33.4.5 Die Neutralität erzeugende Befragung – 835 33.4.6 Die Auftragsklärung – 835 33.4.7 Die Schlussintervention – 837 33.5
Anwendungsbereiche systemischer Psychotherapie – 838
33.6
Evaluation systemischer Psychotherapie
33.3
Literatur
– 839
> > Die systemische Psychotherapie ist – im Gegensatz zu anderen psychotherapeutischen Verfahren – weder der Entwurf einer Gründerpersönlichkeit, noch von Beginn an aus einem einheitlichen Theorieentwurf abgeleitet. Sie ist ein theoriegeleitetes Verfahren, das in der Auseinandersetzung mit theoretischen Entwicklungen auf der einen Seite und klinischen Erfahrungen auf der anderen Seite entstanden ist und sich weiter in Entwicklung befindet. Damit unterscheidet sich die systemische Psychotherapie nicht von anderen wissenschaftlichen Teildisziplinen der Medizin: Sie ist eine theoriegeleitete Erfahrungswissenschaft. Einfluss auf die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie hatten u. a. Elemente verschiedener Systemwissenschaften wie Kybernetik, Informations- und Kommunikationstheorie. Ein wichtiges systemtheoretisches Konzept ist das der sich selbst erhaltenden Prozesse (Zirkularität). Sie können therapeutisch durch sog. Störungen unterbrochen werden. Wichtige Elemente der klinischen Anwendung sind das räumliche und zeitliche Setting, verschiedene Befragungstechniken, Auftragsklärung und Schlussintervention.
– 838
816
Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
33.1
Historische Perspektive
Die ersten Anstöße zur Entwicklung der systemischen Psychotherapie kamen nicht aus einer neuen Theorie oder Methodik, sondern aus einem neuen Behandlungssetting: der Untersuchung und Behandlung ganzer Familien. Mit diesem neuen Setting entstand die Notwendigkeit, eine brauchbare Theorie und eine nützliche Methodik zu entwickeln, da sich völlig neue theoretische und pragmatische Fragen stellten. Diese Entwicklung begann in den 1950er Jahren in den USA. Unabhängig voneinander organisierten sich fast gleichzeitig 3 Forscher- und Therapeutengruppen: Theodor Lidz und Kollegen an der Universität in Yale (Lidz et al. 1958), Lyman Wynne und Kollegen am National Institut of Mental Health (Wynne et al. 1958) und Gregory Bateson und Kollegen in Palo Alto (Bateson et al. 1956). Alle 3 Gruppen entwickelten ihre Konzepte und Methoden im klinischen Umgang mit schizophrenen Patienten. Für die weitere Entwicklung der Theorie und Praxis der systemischen Therapie im engeren Sinne wurden in den vergangenen 40 Jahren dann v. a. die nachfolgend genannten 3 Forscher- und Therapeutengruppen bedeutsam. Die Palo Alto Gruppe. Sie entstand aus der schon er-
33
wähnten Gruppe um Gregory Bateson und entwickelte – beeinflusst durch die logische Typenlehre von Whitehead und Russel – die berühmte »Double-bind-Hypothese«. Ausgehend von einer Analogie zwischen einer »Pathologie der Logik« und einer »Kommunikationspathologie« besteht das therapeutische Ziel des Palo Alto Ansatzes in der Auflösung von Paradoxien der Kommunikation. Die therapeutischen Strategien sind das Gegenparadoxon und die therapeutische Doppelbindung. Die paradigmatische Technik bei der Realisierung dieser Strategien ist die Symptomverschreibung. Die therapeutische Arbeit »richtet sich auf die im Verhalten beobachtbare Interaktion in der Gegenwart und sie bedient sich absichtlicher Interventionen zur Veränderung eines Systemzustandes« (Weakland et al. 1974, S. 369). In diesem Modell wird die Aufrechterhaltung von Problemen dadurch erklärt, dass Lösungsversuche zum Problem werden. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Palo Alto Ansatz betont das konkrete beobachtbare Verhalten sowohl bei der Beschreibung des Problems als auch bei der Entwicklung therapeutischer Interventionen. Die Position des Therapeuten ist strategisch definiert. Er hat die Verantwortung für die Veränderung seines Klienten. Die Mailänder Gruppe. Die Mailänder Gruppe ist eine
Forscher- und Therapeutengruppe um die Mailänder Psychotherapeutin Mara Selvini Palazzoli. Anknüpfend
und aufbauend auf die Vorarbeiten der Palo Alto Gruppe (Watzlawick et al. 1967) entwickelte sie detaillierte Interventionsstrategien (Selvini Palazzoli et al. 1975), die sich als Gegenparadoxien zu pathologischen Paradoxien verstanden. Der innovative Beitrag zur Weiterentwicklung der Theorie und Praxis der systemischen Psychotherapie liegt jedoch in der Ausarbeitung einer spezifischen therapeutischen Gesprächs- und Interviewtechnik, der zirkulären Befragung (Selvini Palazzoli et al. 1980). Diese Interviewtechnik orientiert sich radikal an kybernetischen und systemtheoretischen Modellen der Organisation lebender Systeme. Die Heidelberger Gruppe. Sie ist eine Forscher- und Therapeutengruppe, die von Helm Stierlin 1974 initiiert wurde und sich aus einer Gruppe von Familientherapeuten mit einer psychoanalytischen Grundorientierung in eine Gruppe systemischer Psychotherapeuten entwickelte, deren klinischer Schwerpunkt die systemische Therapie der Psychosen, somatischer Erkrankungen und Essstörungen ist (Stierlin 1975, 1981; Weber u. Stierlin 1989; Simon 1990; Retzer 1994). Anknüpfend an die Vorarbeiten der Palo Alto- und der Mailänder Gruppe integriert die Heidelberger Gruppe zusätzlich lösungsorientierte Ansätze (De Shazer 1985, 1988; White u. Epston 1989), die konsequent auf die Entwicklung von Lösungen und weniger auf das Verstehen von Problemen ausgerichtet sind, und narrative Ansätze (Anderson u. Goolishian 1990; Retzer 2002), die besonderen Wert auf die therapeutische Begegnung in der Sprache legen.
33.2
Theoretische Grundlagen der systemischen Therapie
Eine Darstellung der theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie ist nicht nur aus historischen Gründen eine sehr komplexe Aufgabe. Für zusätzliche Komplexität sorgen die verschiedenen Anleihen aus unterschiedlichen Systemwissenschaften, aus der Kybernetik, der Informations- und Kommunikationstheorie, der mathematischen Spieltheorie und der Chaostheorie. Die Gemeinsamkeit dieser Theorien ist ihr Gegenstand: die formalen Organisationsprozesse, die Entstehung, Erhalt und Veränderung von Strukturen bestimmen, unabhängig von der materiellen Beschaffenheit der konkreten Elemente dieser Strukturen. Angeregt durch die Erweiterung eines Einzel- zu einem Mehrpersonensetting, entstand zunächst das dringende Bedürfnis nach einer theoretischen Abbildung, Erklärung und Bewertung teilweise völlig neuer Phänomene.
817 33.2 · Theoretische Grundlagen der systemischen Therapie
33.2.1
Kybernetik I. Ordnung
Systemtheorie. Die Systemtheorie (griech. systema = das Zusammengesetzte) bot sich als Theorie zur Beschreibung von Familien an, da sie erklärt, warum die Ganzheit eines Systems sich qualitativ neu und anders verhält als die Summe seiner isoliert voneinander betrachteten Teile. Schon sehr früh stellte sich die Frage, wie komplexe Systeme ihre Struktur aufrechterhalten, wie sie Stabilität erzeugen. Hier brachte die Kybernetik mit ihren negativen Feedback-Schleifen erste Antworten, die bald schon zum Begriff der Familienhomöostase führten (Jackson 1957). Informationstheorie. Sie versprach Antworten auf die Frage, was ein so komplexes zusammengesetztes System zu einer Einheit mit stabilen homöostatischen Eigenschaften werden lässt. Information wird zum verbindenden Element von Systemen und löst damit die Metapher der Energie ab, die bis dahin im Mittelpunkt der Erklärung psychischer und psychotherapeutischer Prozesse stand. Mathematische Spieltheorie. Ein weiteres Element zur
Abbildung der komplexen Dynamiken lebender menschlicher Systeme stellte schließlich die mathematische Spieltheorie zur Verfügung mit ihrer Unterscheidung von Nullund Nichtnullsummenspielen und der Erklärung für die Evolution von Kooperation (als Überblick s. Retzer 1991) und ihrer Orientierung an rationaler Ökonomie. Die Spieltheorie kommt ebenso wie die anderen schon erwähnten Systemtheorien ohne spekulative Annahmen über das Innere von Menschen aus und konzentriert sich auf Beobachtbares. Chaostheorie. Schließlich wird als jüngste theoretische
Anleihe auch aus der Chaostheorie geschöpft (Simon 1989), die sowohl den deterministischen Charakter chaotischer Phänomene erklärbar macht, als auch neue Begründungen von Veränderung bringt. Diese erste Phase der Entwicklung von systemischer Therapie wird als eine Phase der beobachteten Systeme bezeichnet.
33.2.2
Kybernetik II. Ordnung
Ausgehend von erkenntnistheoretischen Entwicklungen in den 1970er und 1980er Jahren, die unter dem Begriff des radikalen Konstruktivismus zusammengefasst werden (Schmidt 1987), entwickelt sich eine neue Phase der systemischen Therapie, deren Theorie auch als eine Theorie beobachtender Systeme bezeichnet wird. Die jeweilige Ausgangsfrage ist
bei der Kybernetik I. Ordnung: Was beobachtet man, wenn man ein System beobachtet? Wie lässt sich das beschreiben und erklären? bei der Kybernetik II. Ordnung: Was tut ein Beobachter, wenn er beobachtet und was bringt er durch seine Beobachtungen hervor? Neue Phänomene, neue Fragen treten in den Vordergrund. Biologische Erkenntnistheorien und die damit verbundenen Theorien und Begriffe der operationalen Geschlossenheit von Systemen und der Autopoiesis (Erklärung s. unten) werden zentral. Information gewinnt eine ganz neue Bedeutung. Es wird unterschieden zwischen Modellen der technischen Kommunikation und der menschlichen Kommunikation. In Modellen der technischen Kommunikation wird Information gesendet, übertragen und empfangen, und die Verbesserung der Kommunikation besteht in der Optimierung der Informationsübertragungswege. In menschlicher Kommunikation dagegen wird Information vom Empfänger erzeugt.
33.2.3
Vom Systemproblem zum Problemsystem
In den klassischen psychotherapeutischen Modellen und in naturwissenschaftlich-medizinischen Konzepten wird ein System (Körper, Organ, Psyche, Familie etc.) postuliert, das über eine gestörte Struktur oder Funktion ein Problem, ein Symptom oder eine Pathologie hervorbringt. Die Konzeption der systemischen Therapie der ersten Phase unterschied sich davon nicht. Der beobachtete Phänomenbereich war lediglich erweitert worden, aus einem Individuum war eine Familie geworden. Zeigte ein Mitglied dieser Familie ein Problem, so suchte man nach Erklärungen. Diese fand man in Veränderungen »dahinterliegender« Strukturen, etwa der Familiendynamik. Früher war das Familienmitglied der Patient und hatte deshalb Symptome, nun war der Patient die Familie (Richter 1970), deren Symptome sich bei einem ihrer Mitglieder zeigten. Das System brachte ein Problem hervor, was es dann hatte. Inzwischen wurden Konzepte entwickelt, die ein gänzlich anderes Verständnis ermöglichten: Am Beginn steht nun ein Problem und dieses Problem bringt ein (Kommunikations-)System hervor: ein Problemsystem. Die Etappen der Evolution eines Problemsystems lassen sich zusammenfassen: Ein Beobachter, der auch Selbstbeobachter sein kann, beschreibt ein Phänomen als qualitativ oder quantitativ abweichend von seinen Erwartungen: Es wird etwas beobachtet, was nicht beobachtet werden sollte, oder es wird nichts beobachtet, wo etwas beobachtet werden sollte (qualitativ) oder es wird zu viel oder zu wenig von etwas beobachtet (quantitativ).
33
818
Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
Zu dieser Beobachtung, die ein Beobachter beschreibt, kommt eine Bewertung hinzu, so dass ein Problem entstanden ist, wenn die qualitative oder quantitative Abweichung als Problem bewertet wird. Der Beobachter entwickelt nun Erklärungen, die den Austausch mit sich selbst oder anderen als nützliches Vorgehen zur Reduzierung der negativ bewerteten Abweichung erklären. Es entsteht ein Kommunikationssystem um das durch einen Beobachter erzeugte Problem herum. Dieses Kommunikationssystem kann eine erhebliche Komplexität annehmen und sich durch Kommunikation um und über das durch einen Beobachter hervorgebrachte Problem erhalten. Ein Beispiel soll diesen Vorgang noch einmal verdeutlichen:
Beispiel
33
Eine Mutter beobachtet ihren Sohn Karl und einen Ausschnitt seines Verhaltens, sein Schulverhalten. Dies tut sie aber nicht direkt – sie beobachtet also nicht sein Verhalten in der Schule, sondern die schriftlich fixierten Beobachtungen und Bewertungen des Lehrers ihres Sohnes im Fach Mathematik. Wir haben hier die alltägliche Situation, in der ein Beobachter einen Beobachter beim Beobachten beobachtet. Die Mutter sieht eine »5« und bewertet diese Beobachtung als Problem. Gleichzeitig entwickelt sie eine Erklärung für dieses durch Beobachtung und Bewertung hergestellte Problem: Karl ist faul! Dies reicht der Mutter, um ein Gespräch mit Karl zu führen. Sie teilt Karl ihre Bewertung und die aus ihren Erklärungen resultierenden Handlungskonsequenzen mit: »Du machst mir mehr für die Schule, der Game-boy wird weggeschlossen und Fernsehen gibt es nur noch eine halbe Stunde pro Tag!« Vier Wochen vergehen und die Mutter erhält die Gelegenheit einer erneuten Beobachtung, Bewertung und Erklärung des schulischen Mathematikverhaltens ihres Sohnes. Karl bringt erneut eine »5« nach Hause. Die Mutter nimmt wieder das Gespräch mit Karl auf und teilt ihm mit, dass sich nun ein Gespräch mit dem Vater nicht mehr vermeiden ließe. Dieses Gespräch findet einige Tage später statt, nachdem der Vater von einer längeren Geschäftsreise am späten Abend nach Hause kommt. Während des Gesprächs verspricht der Vater, eine Kanufahrt mit seinem Sohn am Wochenende zu unternehmen und ihn sich dann »mal so richtig vorzuknöpfen«. Das Wochenende ist da. Vater und Sohn sind schon einige Stunden gut gelaunt und entspannt mit dem Kanu unterwegs. Der Vater beginnt mit dem Sohn ein Gespräch über dessen berufliche Zukunft: »Was willst Du denn später eigentlich mal werden?« – »Kanufahrer!« antwortet der Sohn. Man einigt sich schließlich – angesichts einiger seemännischer Herausforderungen des Flusses – darauf, dass auch bei offener beruflicher Zukunft es nicht schaden könnte, bessere Mathematiknoten nach Hause zu bringen. Es vergeht einige
Zeit und Karls Mathematiknoten zeigen über die Zeit hinweg eine erstaunliche Stabilität: Sie bleiben schlecht. Gleichzeitig erfährt die Beziehung zwischen Vater und Mutter eine gewisse Instabilität, da die Klärung der Frage, welches Verhalten welchen Elternteils nun entscheidend die Mathematiknote verursacht, andere elterliche und eheliche Themen und Tätigkeiten in den Hintergrund rücken lässt. Die Mutter hat eine beste Freundin, mit der sie sich oft trifft und sich sowohl über Probleme mit den Kindern als auch mit den Ehemännern austauscht. Diese Freundin berichtet von einem jungen, sehr engagierten Schulpsychologen, der sich wirklich Zeit für seine Klientel nimmt. Der Kontakt zum Schulpsychologen wird hergestellt und die entsprechenden Leistungstests durchgeführt. Das beratende Gespräch mit der Mutter ist lange, ausführlich und gut: Sowohl das mütterliche Verhalten als auch das intellektuelle Vermögen von Karl sind in Ordnung. An dieser Stelle muss nun endlich ein Arzt weiterhelfen. Ein Kinderarzt mit neuropädiatrischer Schwerpunktsetzung ist schnell gefunden. EEG und neurologische Untersuchung zeigen keine gravierend auffälligen Befunde, aber eine Wiederholung der Untersuchungen in absehbarer Zeit ist wohl empfehlenswert. Der Kinderarzt arbeitet aber mit einem Familientherapeuten zusammen, dem er gerne die ganze Familie einmal vorstellen möchte … .
33.2.4
Phänomenbereiche von Körper, Psyche und Kommunikation
Neuere systemtheoretische Konzepte (z. B. Luhmann 1990) unterscheiden verschiedene menschliche Phänomenbereiche voneinander: den Phänomenbereich des Körpers, den Phänomenbereich des Erlebens, der Psyche oder des Bewusstseins und den Phänomenbereich der Kommunikation (Retzer 1994 a). Der modernen systemischen Psychotherapie liegt also weder ein holistisches Modell zugrunde noch erhebt sie den Anspruch auf eine von ihr geleistete Überwindung des Dualismus von Geist und Körper, sondern diese Unterscheidungen werden zunächst sogar verschärft (⊡ Abb. 33.1).
Der Phänomenbereich des Körpers: das gelebte Leben Unter gelebtem Leben wird all das zusammengefasst, was sprachlich als biologisch, physiologisch oder organisch von anderen Bereichen wie Geist, Seele oder Bewusstsein abgegrenzt wird. Für die Beschreibung der Organisation des gelebten Lebens, seiner allgemeinen Kennzeichen und Funktionen, haben Konzepte der Selbstorganisation
819 33.2 · Theoretische Grundlagen der systemischen Therapie
⊡ Abb. 33.1. Phänomenbereiche menschlichen Lebens
an Bedeutung gewonnen: von kybernetischen Modellen (Cannon 1932) bis hin zur Chaostheorie (Gleick 1987). Eines dieser Modelle ist das von Maturana und Varela (Maturana 1982; Maturana u. Varela 1984) vorgelegte Modell der Autopoiesis: Lebende Systeme werden als selbstreflexive Prozesse beschrieben, die eine selbstorganisierende bzw. selbstorganisierte Struktur erzeugen, die wiederum selbstorganisierende bzw. selbstorganisierte Prozesse erzeugt usw. Leben kommt zu seinem Ende, lebende Systeme sterben, wenn sich der selbstreferente Prozess nicht weiter aufrechterhält. Ein Beispiel für einen solchen Selbststruktur aufrechterhaltenden Prozess auf der Ebene der lebenden Zelle ist in ⊡ Abb. 33.2 dargestellt.
Kennzeichen lebender Systeme Kennzeichnend für lebende Systeme ist die Selbsterhaltung durch diese operationale Schließung. Lebende Systeme legen durch ihre Struktur fest, welche Zustandsänderungen eintreten können. Sie sind strukturdeterminiert (Maturana 1982). Äußere Einwirkungen aus der Umwelt können das Verhalten lebender Systeme nicht spezifizieren; instruktive Interaktionen (ebd.) zwischen lebenden Systemen sind nicht möglich. Lebende Systeme können sich lediglich Deformationen ihrer Umwelt aussetzen, die
⊡ Abb. 33.2. Selbstorganisation auf der Zellebene
entsprechend der eigenen internen Struktur dort zu Informationen verrechnet werden. Lebende Systeme können sich – trotz ihrer Strukturdeterminiertheit und ihrer Unfähigkeit, sich Informationen von außerhalb ihrer selbst einzuverleiben, so aneinander koppeln, dass »das autopoietische Verhalten eines Organismus A zu einer Deformationsursache für einen Organismus B, und das kompensatorische Verhalten des Organismus B (…) seinerseits zur Deformationsursache für den Organismus A (wird), dessen kompensatorisches …« (ebd., S. 222). Auf diese Weise entsteht ein Bereich ineinander verzahnter Interaktionen mit der Möglichkeit einer Strukturmodifikation. Alle lebenden Systeme sind plastische Systeme, in denen es immer dann zu strukturellen Veränderungen kommt, wenn Deformationen stattfinden und systemintern verrechnet werden. Somit bleibt für ein lebendes System keine Interaktion folgenlos, solange diese nur ausreichend deformierend war. Die strukturelle Kopplung plastischer interagierender Systeme ermöglicht eine Koontogenese der Strukturen der gekoppelten Systeme. Veränderung und Stabilität. Voraussetzung für (Über-)
Leben eines lebenden Systems ist jedoch nicht allein die Fähigkeit zur Veränderung, sondern auch die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung von Stabilität. Veränderung und Stabilität und die Aufrechterhaltung ihres Gleichgewichts erhalten ihre operationale Bedeutung, wenn sich die Umwelt eines lebenden Systems in einer Weise verändert, d.h. wenn sie ausreichende Deformationen oder relevante Neuigkeiten für ein System anbietet. Dann wird sowohl Anpassung im Sinne der Veränderung von Struktur, als auch Stabilität der Organisation des deformierten Systems für ein weiteres Überleben in der veränderten Umwelt unabdingbar.
33
820
Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
Der Phänomenbereich der Psyche: das erlebte Leben Für das erlebte Leben lassen sich 3 funktionelle Bestandteile unterscheiden, die durch die Operationen gleichen Namens hergestellt werden (⊡ Abb. 33.3): 1. die Beschreibung, 2. die Erklärung und 3. die Bewertung. Beschreibungen. Sie bringen Unterscheidungen und Bezeichnungen hervor; etwa die Unterscheidung von krank und gesund. Kriterium zur Herstellung dieser Unterscheidung ist, dass etwas als vorhanden beschrieben wird, was nicht selbstverständlich vorhanden sein sollte, oder etwas als fehlend beschrieben wird, das nicht selbstverständlich fehlen sollte. Vereinfacht ausgedrückt: ein Zuviel oder ein Zuwenig (Simon 1995). Erklärungen. Sie sind Bezeichnungen von Mechanismen
darüber, wie das Unterschiedene und Bezeichnete auseinander hervorgeht, entsteht oder verursacht wird, wie also die hergestellte Grenze zwischen Unterschiedenem und Bezeichnetem überschritten werden kann. Wie etwa aus der selbstverständlichen Gesundheit die erklärungsbedürftige Krankheit wird und umgekehrt. Die erste Richtung der Grenzüberschreitung betrifft dann Modelle zur Ätiologie und Pathogenese, die zweite Richtung betrifft Therapie- oder Heilungsmodelle.
33
Bewertungen. Sie beziehen sich etwa auf die eigene Person und deren Verhalten, eigene Probleme und, am Beispiel von Krankheit und Gesundheit, auch auf die dafür ausersehenen Behandlungssysteme. Diese Bewertungen können als Instruktionen verstanden werden, die dem
⊡ Abb. 33.3. Die Operationen des erlebten Lebens
Bewerter mitteilen, wie er sich in Bezug auf eine von ihm beschriebene, erklärte und bewertete Situation zu verhalten hat. Hier an der Schnittstelle von Erleben und Handeln ist die Produktion von Affekt sinnvoll anzusiedeln. Etwa mit Hilfe der von Osgood et al. (1975) entwickelten sprachanalytischen Theorie des semantischen Raums (⊡ Abb. 33.4), durch die Affekte als Bewertungen von Beschreibungen und Erklärungen erfasst werden können, entlang der 3 Dimensionen: stark-schwach, gut-böse und aktiv-passiv. »Wie für den Neandertaler ist auch heute für uns an dem Zeichen für eine Sache wichtig, ob es etwas Gutes oder Böses meint (ist es eine gute Antilope oder ein böser Säbelzahntiger?); zweitens, ob es etwas meint, was in bezug auf mich stark oder schwach ist (ist es ein starker Säbelzahntiger oder eine schwache Mücke?); drittens, ob es etwas Aktives oder Passives in bezug auf mich meint (ist es ein böser, starker Säbelzahntiger oder ein böser, starker Treibsand, um den ich einfach herumgehen kann?). Das Überleben hing damals wie heute von den Antworten ab« (Osgood et al. 1975, S. 395).
Bewertet wird nicht nur die Umwelt, sondern gleichzeitig immer auch der Bewerter selbst. Aus dieser doppelten Bewertung ergibt sich die Handlungs- oder Unterlassungsinstruktion, die immer eine Selbstinstruktion ist. So macht es gänzlich andere Handlungen wahrscheinlich, ob ich den anderen als böse, passiv und schwach und mich selbst als gut, aktiv und stark bewerte oder den anderen als böse, aktiv und stark und mich selbst als gut, passiv und schwach. Durch eine sprachlich-pragmatische Bestimmung der Affekte als Ergebnis von Bewertung entsteht die Möglichkeit, sich im psychotherapeutischen Gespräch in die Produktion von Affekten einzumischen.
821 33.2 · Theoretische Grundlagen der systemischen Therapie
»Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er – oft unter gewaltigen Opfern – für sein Leben hält« (Max Frisch). Lebenserfahrungen, die außerhalb des Rahmens der Lebenserzählung fallen, werden nicht wahrgenommen und existieren daher aus einem phänomenologischen Blickwinkel nicht.
Der Phänomenbereich der Kommunikation: das erzählte Leben
⊡ Abb. 33.4. Der semantische Raum der Bewertungen
Erlebte Erzählungen Die 3 Funktionsbereiche des erlebten Lebens verschränken sich ineinander und erzeugen so als »erlebte Erzählungen« Handlungs- und Unterlassungsimplikationen, die zu vollzogenen oder unterlassenen Handlungen führen können. Sie organisieren Ereignisse und Erfahrungen, ermöglichen ein Erleben von Kontinuität und Kohärenz und bilden den Rahmen und Leitfaden zur Organisation und Interpretation der eigenen Erfahrung und des eigenen Handelns. Sie können jedoch niemals den vollen Reichtum der gelebten Erfahrung enthalten, konservieren und wiedergeben, sie sind immer unvollständig. Die Lebenserzählung entsteht und entwickelt sich immer als ein Selektionsprozess, durch den all das ausgeschlossen wird, was nicht in die Erzählung passt. Jede Erzählung blockiert damit notwendigerweise andere mögliche Erzählungen.
⊡ Abb. 33.5. Das Kommunikationssystem
Unter erzähltem Leben soll hier das verstanden werden, was in die Kommunikation zwischen Menschen eintritt. Dies kann eine Erzählung im wörtlichen Sinne des Wortes sein, es kann aber auch eine Performance sein, d. h. all das, was hervorgebracht wird und von einem Beobachter durch seine Operationen des Unterscheidens und Bezeichnens als Zeichen beschrieben und mit Bedeutung versehen werden kann. Dabei kann natürlich auch die Abwesenheit von etwas dort, wo es erwartet wird, zu einem Zeichen werden. Die Bestandteile des erzählten Lebens sind kommunikative Akte. ⊡ Abb. 33.5 zeigt den Bereich der Kommunikation zweier kommunizierender Personen. Sie befindet sich innerhalb des eingezeichneten Rahmens.
Verhältnis von System zu Umwelt Das Verhältnis der 3 Phänomenbereiche zueinander wird als ein Verhältnis von System zu Umwelt angenommen. Die Elemente jedes Systems treten nicht in die anderen Systeme ein, sondern operieren nur im eigenen operational geschlossenen Bereich (Maturana 1982). Erzähltes Leben besteht aus kommunikativen Akten und nicht aus Vorstellungen, gleichwohl die kommunikativen Akte über Vorstellungen kommunizieren können. Das »NichtGesagte« der Kommunikation kann sich daher in diesem Modell nicht im Unbewussten oder in irgendeiner anderen postulierten psychischen Struktur befinden, nicht in
33
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Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
der Zelle oder einer anderen biologischen Struktur und nicht in irgendeinem sozialen Gebilde wie etwa der Familie. Es befindet sich im Bereich der ungesprochenen kommunikativen Akte. Ungesprochenes befindet sich solange nirgends, bis es gesprochen ist. Die jeweilige Umwelt kann niemals bestimmen, was das von ihr zur Verfügung gestellte Medium im System bewirkt: Instruktive Interaktion ist nicht möglich. Sie kann lediglich die Operationen des Systems begrenzen, d. h. bestimmen, welche Erlebnismuster einerseits oder welche Erzählmuster andererseits nicht realisiert werden können, jedoch niemals positiv, welche tatsächlich realisiert werden. Das Sprechen kann lediglich Erleben stören, jedoch kein Erleben determinieren (d. h. kausal bestimmen).
Gegenseitige Bestätigung von Erleben und Erzählen Andererseits können sich Erleben und Erzählen in einem Prozess der Koevolution so aneinander koppeln, dass beide füreinander zu einer Bestätigung werden, solange sie nicht gestört werden. Etwa wie in dem bekannten Witz das Erleben und Handeln des händeklatschenden Mannes.
Beispiel
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Ein Mann läuft händeklatschend durch eine Stadt. Ein anderer Mann begegnet ihm verwundert: »Warum klatschen Sie ständig in die Hände?« – »Ich vertreibe dadurch die wilden und gefährlichen Elefanten!« Sein Gesprächspartner will korrigieren: »Aber hier gibt es doch gar keine wilden Elefanten!«, woraufhin er die zufriedene Schlussfolgerung zu hören bekommt: »Da sehen Sie, wie gut das Händeklatschen wirkt!«
Ein anderes Beispiel für solche zirkulären stabilen Muster aus dem klinischen Alltag ist die nachfolgend geschilderte Episode.
Beispiel Eine Mutter, deren Sohn die Diagnose einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie erhalten hatte, ruft zwischen zwei familientherapeutischen Sitzungen bei ihrem behandelnden Familientherapeuten an und berichtet am Telefon: »Herr Doktor, ich muss Ihnen noch etwas über meinen Sohn sagen, was er aber nicht wissen soll. Er ist nämlich der festen Überzeugung, es werde hinter seinem Rücken über ihn geredet!«
Formal lässt sich diese Koevolution in Form einer selbstbestätigenden Schleife darstellen (⊡ Abb. 33.6). Entsprechend diesem Modell ist dann systemische Psychotherapie (wie alle anderen Formen von Psychotherapie auch)
⊡ Abb. 33.6. Die zirkuläre Koevolution von Erleben und Erzählen
die Bereitstellung einer sprachlichen Umwelt für das Erleben von sich in dieser Umwelt zu Wort meldenden Menschen.
33.2.5
Das Problem des Verstehens
⊡ Abb. 33.5 zeigt die Sprachumwelt von zwei miteinander
kommunizierenden Personen. Hier stellen sich weitere Fragen: Über welchen Phänomenbereich können wir als Beteiligte am Kommunikationsprozess Aussagen machen? Auf was haben wir einen Zugriff? und vor allem: Was kann hier Verstehen heißen? Damit sind für den Bereich der Psychiatrie die Grundfragen des Fachs gestellt. Mit diesen Fragen beschäftigen sich sowohl Psychiater als auch schizophrene Patienten. Schizophrene Symptome – etwa die Symptome ersten Ranges nach Kurt Schneider (1980) wie Gedankenlautwerden, -ausbreitung, -eingebung, -entzug, -beeinflussung, Gedachtwerden … – lassen sich als unzulässige Gewissheiten der Patienten erklären, unzulässige Gewissheit darüber, dass andere Zugang zum eigenen Erleben hätten. Umgekehrt sieht sich der Psychiater oft genug zu unzulässigen Gewissheiten genötigt, indem er Fragen über das Erleben anderer (etwa seiner Patienten) beantworten soll, ohne einen Zugang zum Erleben anderer zu haben. Auch hier lässt sich von unzulässiger Gewissheit sprechen.
Beispiel Der Stationsarzt einer psychiatrischen Klinik erwägt, einen seiner Patienten zu entlassen. Er ist unsicher, ob der Patient so weit wiederhergestellt ist, dass er ihn entlassen kann. Ihm fällt ein, dass er einen Lügendetektor auf der Station hat. Er schließt seinen Patienten an den Lügendetektor an und fragt ihn, ob er Napoleon sei. Der Patient antwortet: »Nein«. Der Lügendetektor zeigt aber an, dass der Patient nicht die Wahrheit gesagt hat.
823 33.2 · Theoretische Grundlagen der systemischen Therapie
Konzepte des Verstehens Viele Verstehenskonzepte, etwa das einflussreiche Konzept Karl Jaspers, setzen die Möglichkeit eines Zugangs zum eigenen erlebten Leben oder gar zu dem des anderen mit dem Mittel der Einfühlung voraus. Verstehen ist das »von innen gewonnenen Anschauen des Seelischen« (Jaspers 1923, S. 24). Jaspers hat damit einen Kommunikationsbegriff formuliert, der sich vom Verstehen des erlebten Lebens ableitet. Das erzählte Leben soll aus einem anderen Phänomenbereich, vom erlebten Leben her, erhellt werden. Konsequent wird daher ein »nichterhellbares erzähltes Leben«, d. h. nichtverstehbares Kommunizieren, ursächlich wiederum aus einem anderen Phänomenbereich her erklärt, aus dem Phänomenbereich der Biologie. Andere psychologische Verstehenskonzepte erklären nichtverstehbares Kommunizieren wiederum aus einem anderen Phänomenbereich, aus dem Phänomenbereich des Erlebens. So unterteilt zu diesem Zwecke etwa die Psychoanalyse die Psyche oder das erlebte Leben noch einmal und erfindet das Unbewusste. Dem systemischen Modell liegt dagegen ein Verstehensbegriff zugrunde, der das erzählte Leben dort verstehen will, wo es erscheint: in der Kommunikation. Das dabei zu vollziehende Verstehen ist Ausdrucksverstehen, wozu auch das Verstehen sprachlicher Äußerungen gehört. Es lässt sich also sagen, was in der Kommunikation vor sich geht, jedoch nicht, was in den Kommunikationsteilnehmern vor sich geht. Selbstverstehen. Dasselbe gilt für das Selbstverstehen, bei
dem ich mein Sprachhandeln und das Sprachhandeln der Personen, die mit mir kommunizieren, berücksichtigen muss. Die Methode des Sich-selbst-Verstehens besteht darin, mein Sprachhandeln und das der mit mir kommunizierenden Personen zu interpretieren, um im sich entwickelnden Kommunikationsspiel spielfähig zu bleiben. Wenn ich wissen will, was für einer ich bin, muss ich mich an das erzählte Leben und an die anderen halten. Selbstverstehen ohne Kommunikation ist kaum vorstellbar. Wenn ich etwas tue oder sage, womit ich selbst nicht gerechnet hätte, dann können diese Beobachtungen mein Selbstverstehen verändern. Wenn sich durch meine Beteiligung an der Kommunikation eine andere Sprachumwelt entwickelt, zu der mein bisheriges erlebtes Leben nicht mehr passt, kann sich durch die Beobachtung dieser Umwelt mein erlebtes Leben verändern und damit mein Selbstverständnis. Meine gesprochenen Worte überraschen mich selbst und lehren mich meine Gedanken (Merleau-Ponty 1945).
33.2.6
Kommunikationssysteme
Die Unterstellung der prinzipiellen Verstehbarkeit des eigenen wie fremden Verhaltens ist die Voraussetzung für Kommunikation, nicht das Verstehen selbst, das sich einstellen kann, aber nicht einstellen muss. Wenn Verstehen nicht mehr der angestrebte Zielhorizont, sondern das erreichte Ziel ist, kann es sogar Kommunikation zusammenbrechen lassen: Wenn wir uns verstehen, haben wir uns nichts mehr zu sagen. Verstehen lässt sich beschreiben als eine Abgleichung von Beobachtungen auf einer bipolaren Dimension zwischen gebräuchlich/gewohnt/bekannt und ungebräuchlich/ungewohnt/fremd. Gelingende Kommunikation stellt sich als Balance zwischen Bestätigung und Nichtbestätigung dar. Das Maß der in jeder Interaktion anzutreffenden Kontingenz und Unbestimmtheit (Rorty 1989; Retzer 2002), lässt sich als Konstitutionsbedingung für ein typologisch differenzierbares Kommunikationsverhalten ansehen: Minimalisierte Kontingenz (Möglichkeit und gleichzeitige Nichtnotwendigkeit). Sie findet sich dann, wenn die
Interaktionspartner den »Verhaltensplan« oder das erlebte Leben so gut zu kennen glauben, dass nicht nur die einzelnen kommunikativen Akte, sondern auch deren Folgen präzise vorhergesagt werden können. Es entsteht ein Kommunikationsverhalten, welches der gut geprobten Szene eines Schauspiels gleicht und als harte Beziehungsrealität (Retzer 1994) bezeichnet wird: ein maximalisierter Konsens, verbunden mit dem Versuch der Herstellung von Eindeutigkeit. Dies führt zu einer Mechanik menschlicher Kommunikation, wo Neues, Zufälliges, Anstoßerregendes und »Dissidentes« nicht möglich erscheint, sondern nur noch die berechenbare Langeweile des immer Gleichen vorherrscht. Maximalisierte Kontingenz. Sie findet sich dort, wo der
jeweilige Verhaltensplan, das erlebte Leben der Kommunikationspartner, unentwegt überdeckt wird von dem augenblicklichen Reagieren auf das soeben Gesagte. Alle Ansätze der Kommunikationspartner, das eigene erlebte Leben an die Kommunikation anzukoppeln, die eigene Spielstrategie ins Spiel zu bringen, sind vergeblich. Ein solches Kommunikationsverhalten wird als weiche Beziehungsrealität (ebd.) bezeichnet: Eine Beliebigkeit von Bedeutungsgebung geht mit einer Beliebigkeit von Kommunikationsregeln einher. Regeln scheinen sich nicht ändern zu können, da sie sich ständig ändern. Neues scheint nicht entstehen zu können, da alles neu ist. Konsens oder das Gefühl des Verstehens (und des Verstandenwerdens) stellt sich nicht ein. Wechselseitige oder doppelte Kontingenz. Sie zeigt sich
dort, wo das Bestreben vorherrscht, die jeweiligen kom-
33
824
Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
munikativen Akte sowohl am eigenen Verhaltensplan, dem eigenen erlebten Leben, als auch an den Beiträgen des Partners zu orientieren. Dadurch ergibt sich eine maximale Störbarkeit beider Bereiche füreinander. Entwicklung des eigenen Erlebens und Entwicklung des sozialen Systems durch Anschlusskommunikation und Koordination des Verhaltens scheinen hier ihre optimalen Bedingungen zu finden.
33
33.3
Theorie der systemischen Therapiemethodik
33.3.1
Das Störungsmodell
Das psychotherapeutische Geschehen lässt sich als eine strukturelle Kopplung (Maturana 1982) lebender Systeme beschreiben. Als eine strukturelle Kopplung etwa des Klienten-, Paar- oder Familiensystems (genauer deren kommunikativer Beiträge) mit einem therapeutischen System (den kommunikativen Beiträgen eines Therapeuten oder eines therapeutischen Teams). Ein therapeutisches System sollte sich so verhalten, dass es Veränderungen im Klientensystem anregen kann. Diese Anregungen sind Veränderungen der Umwelt, die als Störungen für das Klientensystem wirken und dort Anpassungsleistungen erforderlich machen. Störungen sind Störungen der gegenwärtig vollzogenen Operationsoder Interaktionsmuster des gestörten Systems. Die Operationsmuster sind die tatsächlich vollzogenen kognitiven, affektiven und Handlungsoperationen des Systems mit sich selbst oder mit seiner Umwelt. Im therapeutischen Prozess kann der Therapeut versuchen, durch Nichtbestätigung die gegenwärtig vollzogenen Operationen und Interaktionsmuster der Klienten zu stören und damit Anpassung erforderlich zu machen. Therapie ist also grundlegend verknüpft mit der Erzeugung von Neuem. Die Bezugsgröße für die Unterscheidung alt/neu ist immer der Klient und seine gerade vollzogenen Operationen: Der Klient entscheidet darüber, was neu ist – nicht der Therapeut. Balance zwischen Neuem und Bekanntem. Nur Neues er-
scheint jedoch ebensowenig nützlich wie nur Bekanntes. Wird nur gestört, entkoppeln sich früher oder später beide Systeme, die therapeutische Beziehung wird vorzeitig aufgelöst und die Möglichkeit therapeutischer Veränderungen aufgehoben. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, eine Balance zwischen Bekanntem und Neuem, zwischen Störung und Bestätigung der Operationen und Muster der Klienten zu halten. Diese Balance von Störung und Bestätigung wird im Rahmen einer therapeutischen Konversation v. a. durch die zirkuläre Befragung (Selvini Palazzoli et al. 1980; Penn 1982, 1985; Tomm 1994) realisiert.
Cave Gefahr der Funktionsübernahme. Die Überlebenseinheit des Klienten ist das Klientensystem. Es gilt zu vermeiden, dass das therapeutische System (Therapeut plus Klient) zur Überlebenseinheit des Klienten wird. Diese Gefahr besteht immer dann, wenn der Therapeut zu der Überzeugung gelangt, dass sein Klientensystem ein Defizit aufweist.
Er kann sich dann veranlasst fühlen, dieses Defizit durch Operationen, die eine kompensatorische Funktion haben sollen, zu füllen. Diese Kompensationen können in Hilfe zur Realisierung von etwas nicht Vorhandenem oder Abhandengekommenem (z. B. Minussymptomatik), aber auch in der Kontrolle von zu viel Realisiertem (z. B. Plussymptomatik) bestehen. Die Folge einer solchen Funktionsübernahme kann nicht nur darin bestehen, dass das therapeutische System (Klient plus Therapeut) zur Überlebenseinheit wird, sondern auch darin, dass sich das Klientenverhalten chronifiziert. Für das Klientensystem besteht keine Notwendigkeit mehr, eigene innere Ressourcen zu mobilisieren oder zu entwickeln und durch entsprechendes Handeln zu realisieren, da die Verantwortung für die Entwicklung und den Vollzug der entsprechenden Funktionen vom therapeutischen System übernommen wird. Das Klientensystem hat erfolgreich in das therapeutische System interveniert, dieses hat sich verändert und damit oft auch gleichzeitig die Möglichkeit verloren, seinerseits das Klientensystem zu verändern. Das wichtigste Mittel zur Aufrechterhaltung einer therapeutischen Funktion des therapeutischen Systems ist die Haltung der Neutralität.
Neutralität Die Mailänder Gruppe (Selvini Palazzoli et al. 1980a) führte den Begriff der Neutralität ein: »Unter Neutralität des Therapeuten verstehen wir eine spezifische pragmatische Wirkung, die seine Gesamthaltung während der Sitzung auf die Familie ausübt und nicht seine innerpsychische Verfassung« (ebd., S. 137).
Die spezifisch pragmatische Wirkung, von der hier die Rede ist, lässt sich operationalisieren: Fordert jemand nach einem Interview die Klienten auf, anzugeben, »wen der Therapeut unterstützt oder für wen er Partei genommen habe, oder welche Meinung er über das eine oder andere Familienmitglied oder dessen betreffendes Verhalten oder über die ganze Familie geäußert habe, sollten sie darüber rätseln und im Ungewissen bleiben müssen« (ebd.).
Es gibt also kein »neutrales Verhalten« eines Therapeuten unabhängig von den behandelten Klienten: Die Klienten entscheiden darüber, ob und welches Verhalten des Therapeuten neutral bzw. nicht neutral ist.
825 33.3 · Theorie der systemischen Therapiemethodik
Zweck der Neutralität Die Verantwortung des Therapeuten in der systemischen Psychotherapie umfasst nicht bestimmte Inhalte, die angesprochen oder gar verwirklicht werden sollten, etwa Lösungen von Problemen. Der systemische Therapeut ist lediglich verantwortlich für die Initiierung und Aufrechterhaltung eines Prozesses, durch den der Klient oder das Klientensystem seine Lösung entwickelt – oder auch nicht. Damit bleibt die relevante Überlebenseinheit weiterhin das Klientensystem und die für dessen Überleben relevanten Entscheidungen und Aktionen unterliegen nicht der Verantwortung des Therapeuten, sondern der Personen, durch deren Kommunikation das Klientensystem gebildet wird. Innerhalb des Klientensystems muss man parteilich sein, um handlungsfähig bleiben zu können. Damit dies für die Klienten so bleibt oder wieder erreicht wird, ist im Gegensatz zur Parteilichkeit die technische Haltung der therapeutischen Neutralität nötig.
Neutralitätsbereiche Für die therapeutische Pragmatik ist eine Differenzierung in verschiedene Neutralitätsbereiche, die sich teilweise überschneiden, sinnvoll. Es werden 3 Neutralitätsbereiche unterschieden (Retzer 1994 a):
Mitspieler in Beziehungsfragen, in Problem- oder Lösungsfragen oder in Weltanschauungsfragen. Dadurch reduziert sich seine Chance, verändernd auf dieses Spiel wirken zu können, da das Mitspielen eine weitere Stabilisierung des gespielten Spiels bewirkt.
Parteilichkeit – Allparteilichkeit – Neutralität Das Konzept der Neutralität erweitert das ältere Konzept der Allparteilichkeit (Boszormeny-Nagy u. Spark 1973) und geht gleichzeitig darüber hinaus. Verknüpft man die Parteilichkeit mit formallogischen Operationen, dann entspricht ihr ein Handeln nach den Prinzipien einer zweiwertigen Entweder-oder-Logik (entweder auf der Seite des Ehemannes oder auf der Seite der Ehefrau). Diese Logik der Parteilichkeit lässt sich auf 2 verschiedene Weisen negieren (⊡ Abb. 33.7): durch eine Logik des Sowohl-als-auch (sowohl auf der Seite der Ehefrau als auch auf der Seite des Ehemannes) – dies entspricht dem Konzept der Allparteilichkeit oder durch eine Logik des Weder-noch (weder auf der Seite der Ehefrau noch auf der Seite des Ehemannes) – dies entspricht dem Konzept der Neutralität.
Zirkularität Soziale Neutralität. Die Neutralität im Hinblick auf die Beziehungen des Therapeuten zu seinen Klienten zeigt sich in dem Maße, in dem die Einladung zur Parteinahme für, zur Koalition oder gar zur Allianz mit einzelnen Klienten und gleichzeitig gegen andere nicht angenommen wird. Konstruktneutralität. Die Neutralität im Hinblick auf Bedeutungs- und Bewertungskonstruktionen zeigt sich in dem Maße, in dem die Einladung zur positiven oder negativen Bewertung, zur Übernahme oder gar zur Parteinahme, aber auch zur Bekämpfung von bestimmten Inhalten der Kommunikation, bestimmten Sichtweisen und bestimmten Bedeutungs- und Sinngebungen ausgeschlagen wird. Hier ist die Neutralität gegenüber Lebensentwürfen und Weltbildern angesprochen. Veränderungsneutralität. Die Neutralität im Hinblick auf
das präsentierte Problem oder Symptom zeigt sich in dem Maße, in dem die Einladung zur positiven oder negativen Bewertung, zur Kontrolle oder gar zur Bekämpfung des präsentierten Problems/Symptoms ausgeschlagen wird. Die Unterscheidung von Problem/ Lösung oder Symptom/Nichtsymptom wird nicht verbunden mit einer positiven oder negativen Bewertung und entsprechenden (Be-)Handlungskonsequenzen für eine der beiden unterschiedenen Seiten. Jeder Bruch der Neutralität birgt die Gefahr, dass der Therapeut zu einem Mitspieler im Klientenspiel wird, ein
Alle operational geschlossenen Systeme halten ihre Struktur aufrecht durch die zirkuläre Schließung. Diese durch Zirkularität erzeugte Stabilität ist kein Problem, solange sie kein Problem ist. Die Stabilität von Symptomen oder Problemen lässt sich als Struktur beschreiben, die durch Zirkularität erzeugt wird: Im Erstinterview mit einer Familie, in der ein Sohn seit einigen Jahren als schizophren diagnostiziert war, reklamiert der Vater nach wenigen Minuten des Gespräches, die Ursache und Schuld an der Entwicklung seines Sohnes für sich: »Ich werfe als Vater einen sehr großen Schatten auf meinen Sohn.« Die Familie hatte sich schon vor dem Gespräch auf die folgende Metaphernbedeutung (Wirklichkeitskonstruktion) geeinigt: Der Sohn
Parteilichkeit
Nichtparteilichkeit Allparteilichkeit
Neutralität
⊡ Abb. 33.7. Formallogische Unterscheidungen zu Parteilichkeit/ Nichtparteilichkeit
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826
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Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
hat wegen des Vaters seine Ablösung vom Elternhaus noch nicht konsequent vollziehen können, weshalb er krank geworden ist und bald und energisch aus diesem Schatten heraustreten muss. Es wurde von der Familie eine Anzahl energischer Versuche des Heraustretens aus dem väterlichen Schatten bzw. der Ablösung vom Elternhaus berichtet, die bisher aber immer wieder im »Schattenreich« (Psychose), dann der Aufnahme in eine psychiatrische Klinik und schließlich der Wiederaufnahme im Elternhaus und dem weiteren Werfen des Vaterschattens endeten. Gleichzeitig wurde damit die Idee der dringenden Notwendigkeit der Ablösung vom Elternhaus wiederholt bestätigt. Der Vater bietet eine Metapher an (der Schattenwerfer), die sich sehr klar und eindeutig gibt (eine geschlossene Problemmetapher – Retzer 2002): Es handelt sich hier um ein Ablösungsproblem eines schwachen, passiven, kranken und guten Sohnes von einem starken, aktiven, aber bösen Vater. Die Lösung des Problems ist die Ablösung. Diese wurde schon einige Male im Handeln vollzogen, wobei der Sohn aber immer wieder ins Elternhaus zurückkehrte. Dieses Ergebnis bestätigt wiederum die Familienüberzeugung: Hier liege ein Ablösungsproblem vor, das handelnd gelöst werden muss. Wir haben hier eine sich selbstbestätigende Schleife (⊡ Abb. 33.8). Die Stabilität des Problems besteht aus dem Vollzug von Verhaltensweisen (Ablösungsverhalten), der das Problem (Ablösungsproblem) bestätigt. Eine Störung oder Unterbrechung der Zirkularität könnte hier in einer Unterlassung des bisher vollzogenen Ablösungsverhaltens bestehen. Um eine solche Unterlassung zu erreichen, kann die eindeutige Metapher des Vaters aufgegriffen und mehrdeutig gemacht werden (umdeuten), indem der zunächst eindeutig als stark, aktiv und böse bewertete Schatten um die gleichzeitige Bewertung gut ergänzt wird (eine öffnende Lösungsmetapher – Retzer 2002). Es wird Uneindeutigkeit eingeführt, die in der angebotenen psychotherapeutischen Beziehung abgearbeitet werden kann.
Ein stabiles Symptom oder eine Störung ist in diesem Modell ein ungestörter zirkulärer Prozess. Systemische Therapie besteht nicht in irgendeiner Form von »Entstörung«, sondern in der Störung dieser stabilen zirkulären Prozesse. Es lassen sich verschiedene Ansatzpunkte solcher Störungen von Zirkularität unterscheiden (⊡ Abb. 33.9), wobei in der Praxis selten nur auf einer Ebene und nur ein zirkulärer Prozess gestört wird, wenn denn überhaupt gestört wird: Störung der interaktionellen Zirkularität zwischen Therapeut und Klient (1 in ⊡ Abb. 33.9): Der Therapeut reagiert nicht erwartungsgemäß, er übernimmt beispielsweise nicht die Funktion, zu der er eingeladen wird. Das wichtigste therapeutische Mittel zur Erzeugung dieser Störung ist die Neutralität. Störung der interaktionellen Zirkularität zwischen dem Verhalten des einzelnen Klienten und dem Verhalten relevanter anderer (2 in ⊡ Abb. 33.9): Gestört werden kann durch die Unterlassung von bisher vollzogenen Verhaltensweisen oder durch den Vollzug bisher unterlassener Verhaltensweisen. Das wichtigste therapeutische Mittel zur Erzeugung dieser Störung ist die Verhaltensverschreibung. Störung der Zirkularität zwischen Erzählen und Erleben oder zwischen Verhalten und den individuellen Wirklichkeitskonstruktionen (3 in ⊡ Abb. 33.9): Dazu gibt es 2 Möglichkeiten: Dem eigenen Verhalten wird eine neue Bedeutung gegeben (3a) oder bei unveränderter eigener Bedeutungsgebung werden neuartige Verhaltenskonsequenzen gezogen (3b). Die wichtigsten therapeutischen Mittel zur Erzeugung dieser Störungen ist die Umdeutung und die Verhaltensverschreibung. Störung der Zirkularität der Operationen des Erlebens (4 in ⊡ Abb. 33.9) zwischen Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen: Das wichtigste therapeutische Mittel zur Erzeugung dieser Störung ist die zirkuläre Befragung.
Bereiche von Zirkularität
Kontextualität
Es lassen sich verschiedene Ebenen oder Bereiche von Zirkularität unterscheiden: eine interaktionelle Zirkularität zwischen den Verhaltensweisen der Klienten, etwa zwischen einzelnen Familienmitgliedern und eine interaktionelle Zirkularität zwischen den Verhaltensweisen von Helfern oder Psychotherapeuten und den Verhaltensweisen ihrer Klienten, eine weitere Ebene der Zirkularität ist die zwischen erlebtem und erzähltem Leben, also zwischen Erleben und Handeln, und schließlich lässt sich noch eine Zirkularität des Erlebens beschreiben, die in einer stabilen Verknüpfung von Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen besteht und eine stabile Wirklichkeitskonstruktion erzeugt.
Ein Kontext ist ein bedeutungsgebender Rahmen für alle diesem Kontext zugeordneten Tatsachen. Ein solcher Kontext existiert nicht a priori und unabhängig von einem Beobachter, sondern wird markiert (Bateson 1964, S. 374): »Der Kontext ist eine Metamitteilung, die das elementare Signal klassifiziert.« »Ein Publikum sieht Hamlet im Theater und hört, wie der Held im Kontext seiner Beziehung zu seinem toten Vater, zu Ophelia und zu den anderen über Selbstmord spricht. Die einzelnen Zuschauer rufen nicht unmittelbar die Polizei an, weil sie Informationen über den Kontext von Hamlets Kontext erhalten haben. Sie wissen, dass es ein Stück ist, und haben diese Informationen aus vielen Markierungen des Kontextes des Kontextes gewonnen – den Eintrittskarten, der Sitzordnung, dem Vorhang usw. … Der König jedoch, der sein Bewusstsein durch das Spiel innerhalb des Spiels anregen lässt, ignoriert viele Markierungen des Kontextes des Kontextes« (ebd., S. 375).
827 33.3 · Theorie der systemischen Therapiemethodik
⊡ Abb. 33.8. Zirkularität einer sich selbst bestätigenden Schleife
⊡ Abb. 33.9. Zirkularitätsebenen und ihre therapeutischen Störungsmöglichkeiten: 1 zwischen Therapeut und Klient, 2 zwischen dem Verhalten des Einzelnen und dem relevanter anderer, 3 zwischen Erzählen und Erleben, 4 innerhalb des Erlebens zwischen Beschreiben, Erklären und Bewerten
33
828
Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
Kontextmarkierung Eine Kontextmarkierung ist eine soziale Übereinkunft, Beobachtungen dieselbe oder eine ähnliche Bedeutung zu geben. Wobei nicht jeder, etwa der Schauspieler in obigem Beispiel, obwohl er auch Informationen über die Kontextmarkierung hat, in einem konkreten Zeitpunkt und an einem konkreten Ort, Teil dieser Übereinkunft sein muss. Der bedeutungsgebende Kontext kann zur Disposition stehen. Dies ist für therapeutische Zwecke in mehrfacher Hinsicht relevant. Es kann nicht prinzipiell davon ausgegangen werden, dass Therapeut und Klienten den gleichen Kontext benutzen, um Ereignisse im Therapieprozess zu klassifizieren und Bedeutung zuzuweisen. Es kann noch nicht einmal davon ausgegangen werden, dass die Kontextmarkierung »alles was hier geschieht ist Psychotherapie« von Klienten und Therapeut geteilt wird. Was der Therapeut für einen therapeutischen Kontext hält, kann etwa für eine Familie oder einzelne Familienmitglieder eine gutachterliche Situation, ein Strafprozess, die Erfüllung eines Wunsches des Hausarztes, ein Familienausflug usw. sein.
33
Überweisungskontext. Eine wichtiger Bestandteil systemischer Psychotherapie, der am Beginn jeder Therapie steht, ist daher die Abklärung des Überweisungskontextes, d. h. ein Sich-kundig-Machen über den bedeutungsgebenden Kontext für die noch nicht begonnene Therapie und über die evtl. unterschiedlichen Kontexte für die einzelnen Klienten. Nur durch eine solche Erkundung des Bedeutungskontextes der Klienten wird es für den Therapeuten möglich, abzuschätzen, was seine Handlungen für die Klienten bedeuten können. Diese Bedeutung muss nicht die gleiche sein, die der Therapeut selbst seinen Handlungen gibt (vgl. etwa auch den Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Krankheitstheorien, Retzer 1994 b). Darüber hinaus ergibt sich damit eine erste Gelegenheit, vorhandene Bedeutungskontexte zu verändern, etwa durch Neudefinition von Kontextmarkierungen oder durch »Verhandlungen« über diese Markierungen.
33.3.2
Systemische Psychotherapie als Koautorenschaft
Anknüpfend an den Begriff des »Sprachspieles« (Wittgenstein 1969) lassen sich menschliche Systeme auch als sprachliche Systeme (Anderson u. Goolishian 1990) oder als narrative Strukturen (Sluzki 1992) begreifen und zur Konzeptualisierung von therapeutischen Prozessen nutzen. Narrative Strukturen bringen als soziale Konstruktionen soziale Organisation hervor und diese soziale Organisation realisiert wiederum eine Weitererzählung
narrativer Strukturen. Soziale Organisation kann nicht getrennt werden von der Erzählung. Sie ist die erzählte Erzählung. Ein therapeutischer Prozess lässt sich als eine soziale Organisation beschreiben, die narrative Strukturen bestätigt, negiert, erweitert oder hervorbringt: »Therapie ist ein sprachliches Ereignis, das innerhalb eines sogenannten therapeutischen Gespräches stattfindet. Dieses ist eine gegenseitige Suche und Erklärung durch den Dialog, ein Zweiweg-Austausch, ein Sichkreuzen von Ideen und Gedanken, mit sich kontinuierlich entwickelnden neuen Bedeutungen …« (Anderson u. Goolishian 1990, S. 213).
Erzählungen enthalten Inhalte und müssen erzählt werden, um sozial wirksam sein zu können. Inhalte und Weisen der Erzählung. Die Erzählweise (wer
erzählt, wem, wann, wo, wie, welche Geschichte) der Erzählungen ist Teil der hervorgebrachten Organisation. Neben den formalen Merkmalen der Erzählweise enthalten Erzählungen unterschiedliche Inhalte: welche Rechte, Pflichten, Normen und Werte die erzählende Organisation (z. B. eine Familie) festgelegt hat, welche Logik benutzt wird, um Teile der Erzählungen miteinander zu verbinden oder voneinander zu trennen, wie Probleme erzählt werden, als stabil oder instabil, als beeinflussbar oder unbeeinflussbar, als verursacht oder nichtverursacht, als akut oder chronisch. White u. Epston (1989) und Tomm (1987) zeigen, wie durch eine Umschreibung von Erzählungen neue Problemlösungsoptionen entwickelt werden können, etwa indem das Problem außerhalb des Problemträgers externalisiert und gleichzeitig die Problemlösungsressource internalisiert wird. Metaerzählungen. Die Akteure der Erzählungen können
als aktiv oder passiv, als gut oder böse, als stark oder schwach bewertet werden (Osgood et al. 1975). Es kann beschrieben werden, ob und wie Zeit benutzt wird, um Ereignisse zu ordnen und Gerichtetheit, Kontinuität, Diskontinuität oder Stillstand in der Zeit entstehen zu lassen (Retzer 1996). Es lassen sich gelegentlich große »Metaerzählungen« vernehmen, die erzählen, wie sich das Leben eines einzelnen Familienmitglieds oder das Familienleben entlang der Dimensionen Zeit und Bewertung bewegt (Gergen u. Gergen 1983). In solchen Metaerzählungen kann durch Bewertungen festgelegt sein, in welchem Rahmen sich Lebens- oder Familienprozesse aus der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft bewegen und dort ein glückliches oder unglückliches Ende finden. Dies kann geschehen, indem diskrete Ereignisse, die über die Zeit verteilt liegen, ausgewählt und durch den bewertenden Vergleich miteinander verbunden werden.
829 33.3 · Theorie der systemischen Therapiemethodik
33.3.3
Systemische Psychotherapie als Übergangsritual
Das Sprachspiel der systemischen Psychotherapie unterscheidet sich auf eine grundlegende Art und Weise von den meisten Alltagssprachspielen. Es verhält sich zu Alltagssprachspielen wie das Ritual oder Übergangsritual zum profanen Handeln. In der anthropologischen Literatur (Gennep 1908; Turner 1967) werden Übergangsrituale als kulturelle Handlungen definiert, die vollzogen werden können, wenn soziale Konflikte festgefahren oder Entwicklungen blockiert sind. Sie sollen aus einer definierten Situation (Struktur I) in eine andere definierte Situation (Struktur II) hinüberführen und bestehen strukturell aus 3 Phasen (⊡ Abb. 33.10): 1. Aus einer Trennungsphase, 2. einer Schwellen- oder Übergangsphase und 3. einer Wiederangliederungsphase.
(Struktur II) werden kann. »Liminalität bricht sozusagen die Tradition auf und lässt der Spekulation freien Lauf … Liminalität ist das Reich primitiver Hypothesen, in dem eine gewisse Freiheit zum Jonglieren mit den Faktoren der Existenz besteht« (ebd., S. 106). Trennungsritual. Diese Schwellenphase wird nach dem
Vollzug eines Trennungs- oder Ablöserituals erreicht. Sprachlich kann das Trennungsritual durch die Erzeugung von Unterschieden vollzogen werden, durch die Trennung von der gewohnten, der bisher praktizierten Seite der Unterscheidung. Diese Sprachoperationen »heben« den Klienten über die Schwelle in die Schwellenphase, die 2. Phase des Übergangsrituals. Schwellenphase. Das dort vorherrschende erzählte Leben
Liminalität. Die Schwellenphase setzt die gewohnte So-
ist vergleichbar jener imaginären »fünften Provinz« in der irischen Mythologie, wo Mitglieder der 4 nichtimaginären realen Provinzen, die in Netzen von Konflikten und Konkurrenz verfangen waren, aus denen kein Entrinnen möglich schien, sich zur Dis-Position trafen:
zialstruktur, gewohnte Verhaltensweisen und auch gewohnte Erzähl- und Sprechweisen vorübergehend außer Kraft und erzeugt dadurch »Liminalität« (Turner 1967): Eine Zerlegung von Struktur, eine Art von Anti- oder Nichtstruktur, die die alte Struktur (I) zu transformieren sucht, damit sie schließlich wieder neu zusammengesetzt
»Es war ein Ort, wo sogar die gewöhnlichsten Dinge in einem ungewöhnlichen Licht erschienen: Es muss einen neutralen Boden geben, wo die Dinge sich von jeglicher Partei- und Meinungszugehörigkeit befreien können. Diese Provinz, dieser Ort, dieses Zentrum ist keine politische oder geographische Position, es handelt sich mehr um eine Dis-Position« (Hederman u. Kearney 1982, S. 10f.).
⊡ Abb. 33.10. Systemische Psychotherapie als Praxis des Übergangsrituals
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Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
Nicht Gewissheiten und Eindeutigkeiten herrschen in dieser Schwellenphase vor, sondern die Sprachfiguren des Ungewissen, Uneigentlichen, Ambivalenten und Ambiguen. Schwellenwesen, Menschen in dieser Übergangsphase, sind weder hier noch da, d. h. weder in der alten noch in der neuen Struktur, weder in der alten noch in der neuen Erzählung, sie befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention fixierten Positionen: Sie werden neu erzählt und sie erzählen sich neu.
beobachtet werden und er kann dadurch Informationen erhalten, die ihm ohne dieses Setting nicht zugänglich wären. Störungen. Gleichzeitig lässt sich dieses Setting für das Er-
reichen therapeutischer Ziele nutzen. Das therapeutische Team kann aus dem Beobachtungsraum heraus störend auf das therapeutische System im Therapieraum einwirken. Diese Störung kann eine einfache Unterbrechung der Sitzung oder auch eine komplexe Botschaft sein.
Begleiter. Der Novize wird in dieser Übergangsphase von
einem Medizinmann oder Schamanen begleitet – Vorfahren des modernen systemischen Psychotherapeuten. Der Begleiter in der Übergangsphase ist aber auch der Hofnarr, der Clown, der marginale Fremde: Grenzgänger »betwixt and between«, weder das eine noch das andere, weder da noch dort (Turner 1967). All diese Figuren vertreten eine besondere narrative Fertigkeit: eine mehrdeutige, gegen die übliche sprachliche Struktur verstoßende Erzählweise.
33
33.4
Klinische Anwendungsprinzipien
33.4.1
Das räumliche Setting systemischer Psychotherapie
Die systemische Therapie hat ein eigenes räumliches Setting entwickelt, das »Zwei-Kammern-Setting« (⊡ Abb. 33.11). Es besteht idealerweise aus 2 Räumen, die durch eine Einwegscheibe voneinander getrennt sind. In einem Raum (Therapieraum) findet ein therapeutisches Gespräch statt, das ein therapeutisches System kreiert, bestehend aus dem/den Therapeuten und dem/den Klienten. Im anderen Raum (Beobachtungsraum) befindet sich ein therapeutisches Team, das durch die Einwegscheibe und über Mikrophon das therapeutische System beobachten kann. Außenperspektive. Auf diese Weise kann eine zusätzliche
Beobachtungsebene und eine Außenperspektive erzeugt werden: Der Therapeut, der mit der Familie spricht, kann von Beobachtern, die nicht Teil dieser Beziehung sind, ⊡ Abb. 33.11. Zwei-KammernSetting
Reflektierendes Team. Eine Variante der Handhabung
des räumlichen Settings ist das »reflektierende Team« (Andersen 1990). Hierbei wird ein Wechsel des beobachteten und beobachtenden Systems vollzogen. Nach einiger Zeit der Beobachtung eines therapeutischen Systems (Klient/en plus Therapeut/en) durch das therapeutische Team, werden Mikrofone und Beleuchtung umgestellt und das bisher beobachtende Team diskutiert nun den beobachteten therapeutischen Prozess, während das bisher beobachtete therapeutische System nun diese Diskussion beobachtet. Aus dem Beobachtungsraum wird der beobachtete Raum.
33.4.2
Das zeitliche Setting systemischer Psychotherapie
Die zeitliche Organisation der systemischen Therapie lässt sich als »lange Kurztherapie« auf den Begriff bringen: Es werden Zeitintervalle zwischen den einzelnen Sitzungen von minimal 4 Wochen bis zu 1 Jahr eingeführt, bei einer insgesamt geringen Anzahl von Therapiesitzungen (max. 10 Sitzungen). Veränderungen sollen zwar in den Sitzungen angestoßen, jedoch zwischen den Sitzungen »in vivo« vollzogen werden (Selvini Palazzoli 1980 b). Den Klienten wird Zeit gegeben, Veränderungen zu vollziehen. Die Verantwortung für diese Veränderungen bleibt beim Klienten. Bei längeren Zeiträumen zwischen den einzelnen Sitzungen fällt es Klienten meist leichter, Veränderungen zu vollziehen, und es fällt Therapeuten meist leichter, nach längeren Zeiträumen zwischen den einzelnen Sitzungen solche Veränderungen zu sehen und zu würdigen.
831 33.4 · Klinische Anwendungsprinzipien
Empirische Ergebnisse Im Durchschnitt haben systemische Psychotherapien bei unterschiedlichsten Problemangeboten eine Sitzungsfrequenz zwischen 6 und 7 Sitzungen über einen Zeitraum von 12–20 Monaten (Weber u. Stierlin 1989; Retzer 1994). Dieses zeitliche Setting der systemischen Psychotherapie steht in guter Übereinstimmung mit den empirischen Ergebnissen über den Zusammenhang von zeitlichen Settings und Effektivität von Psychotherapien: Reid u. Shyne (1969) zeigen in einer Übersichtsarbeit, dass sich Unterschiede in der Effektivität von Psychotherapien immer zugunsten kürzerer Behandlungen zeigen. Der Zeitraum, in dem wirksame Therapien ihre Effekte erzielen, bemisst sich nach Monaten und nicht nach Jahren. Die meisten Psychotherapien werden vor der 20. Sitzung beendet mit einem Median zwischen der 5. und 6. Sitzung (Garfield 1978, 1986). Budman u. Gurman (1988), Smith et al. (1980) und Lambert et al. (1986) zeigen, dass positive Effekte in Psychotherapien in den ersten 6–8 Sitzungen erzielt werden und die Besserungsrate danach in einer logarithmischen Funktion zwischen Therapiedauer und Besserung gegen Null geht. Howard et al. (1986) zeigen in einer Metaanalyse über 2431 Patienten und einen Veröffentlichungszeitraum von 30 Jahren, dass 50 aller Patienten messbare Verbesserungen bis zur 8. Therapiesitzung erreicht haben.
Ablauf einer Therapiesitzung Neben dem zeitlichen Setting, das sich auf die gesamte Therapiedauer und auf die Gesamtzahl der Sitzungen bezieht, lässt sich auch ein klassisches Setting für den zeitlichen Ablauf einer einzelnen Therapiesitzung beschreiben. Eine solche Sitzung dauert etwa 120 min und gliedert sich in 4 Teile, die nachfolgend aufgeführt sind. Vorbesprechung. Die Vorbesprechung des behandelnden Teams von etwa 10–15 min dient dem Austausch von Hypothesen und der Vorbereitung des/der Therapeuten auf einen aktiv gestalteten Konversationsprozess, indem ihm eine möglichst große Vielfalt von Hypothesen zur Verfügung gestellt wird. Interview. Das Interview mit dem oder den Klienten
selbst, das zwischen 60 und 90 min dauern kann und vom Therapeuten oder seinen Teamkollegen hinter der Einwegscheibe zu einer oder mehreren kurzen Konsultationen unterbrochen werden kann. Konsultationspause. Die Konsultationspause von etwa
10–15 min, in der der Therapeut zu einer längeren Konsultation mit seinem Team zusammentrifft, der Interviewprozess beraten wird und ein Abschlusskommentar, eine
Zusammenfassung, eine Verschreibung oder eine Hausaufgabe für die Klienten vorbereitet wird. Abschlusskommentar. Er wird vom Therapeuten nach der
Konsultationspause den Klienten mitgeteilt. Das zeitliche Setting ist ebenso wie das räumliche Setting nicht allein eine äußere Bedingung, in der Therapie stattfindet, sondern immer ein Teil von Therapie selbst, durch den Therapie gestaltet wird (Retzer 1996).
33.4.3
Die zirkuläre Befragung
Systemische Psychotherapie ist ein Konversationsprozess, da ihr wesentliches Medium die Sprache ist (Retzer 2002). Ein Konversationsprozess lässt sich vereinfacht als Austausch von Fragen und Aussagen beschreiben: Aussagen bringen Beschreibungen, Stellungnahmen, Meinungen, Erklärungen und Bewertungen in die Kommunikation ein, während Fragen Beschreibungen, Stellungnahmen, Meinungen, Erklärungen und Bewertungen hervorrufen. Fragen fordern Antworten, die aus Aussagen bestehen.
Der Therapeut als Fragender In der systemischen Psychotherapie sind die Konversationsbeiträge des Therapeuten deutlich zugunsten von Fragen verschoben. Dadurch werden die Klienten aktiv an der Konversation beteiligt. Die Beschreibungen, Stellungnahmen, Meinungen, Erklärungen und Bewertungen der Klienten stehen von Beginn an im Mittelpunkt der Konversation, sind Gegenstand der Kommunikation. In seinem fragenden Konversationsverhalten entspricht der systemische Therapeut meist den Erwartungen seiner Klienten, besonders wenn diese einen medizinisch-therapeutischen Kontext konstruiert haben. Die Bestätigung von Erwartung im Bereich der Konversationsform erlaubt die Enttäuschung von Erwartung im Bereich der Kommunikationsinhalte: Es kann Neues besprochen werden. Wenn erwartungsgemäß Fragen gestellt werden, können unerwartete und neue Fragen gestellt werden. Die zirkuläre Befragung (Selvini Palazzoli et al. 1980 a; Penn 1982; Tomm 1994) ist eine spezifische Form der Befragung in der systemischen Psychotherapie. Sie versucht der zirkulären Organisation und wechselseitigen Bedingtheit von Verhaltensweisen eines Mehrpersonensystems und der zirkulären Organisation von Handeln und Erleben eines einzelnen Klienten gerecht zu werden.
Funktion der zirkulären Befragung Die zirkuläre Befragung dient einerseits dazu, Informationen zu gewinnen etwa im Hinblick auf die Testung von zuvor entwickelten Hypothesen, andererseits – und hier liegt ihre eigentliche therapeutische Funktion – dient sie der Informationserzeugung mit dem Ziel der Störung oder
33
832
Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
Veränderung des Erlebens und/oder Verhaltens der Klienten. Die zirkuläre Befragung soll sowohl Informationen beim Therapeuten als auch beim Klienten erzeugen. Definiert man »Information« als einen Unterschied, der einen Unterschied macht (Bateson et al. 1956), ist das grundlegende Prinzip der zirkulären Befragung die Informationserzeugung durch Unterscheidungen und Abgrenzungen.
Störung durch Fragen Indem neue Perspektiven, Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen eingeführt werden, lassen sich bisherige Perspektiven, Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Klienten stören. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen.
Beispiel Einer jungen Dame, die gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem ein Jahr jüngeren Bruder an einem systemischen Erstinterview teilnimmt, und bei der eine Anorexia nervosa diagnostiziert wurde, kann man die Frage stellen: »Seit wann haben Sie eine Magersucht?«
33
Diese Frage impliziert, d. h. sie kann die Information erzeugen: Hier ist jemand im Besitz einer Magersucht, oder genauer: Diese junge Dame wird von einer Magersucht besessen, da eine Sucht alltagssprachlich als ein Zustand definiert ist, der der Verfügungsgewalt des Süchtigen entzogen ist. Die Frage nach dem Beginn der Sucht definiert implizit die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Endes einer Sucht bzw. die Grenzen von Psychotherapie: Ist eine Sucht überhaupt heilbar? Was kann die Süchtige tun? Kann sie überhaupt etwas tun? Wie gestaltet sich das Therapeuten-Patienten-Verhältnis bei der Behandlung einer Sucht? Wer hat hier die Verantwortung für Veränderung? Die Frage könnte aber auch lauten: »Wann haben Sie beschlossen, in den Hungerstreik zu treten?« Diese Frage – die im Übrigen von vielen jungen Damen mit obiger Diagnose sehr präzise beantwortet wird – impliziert ein ganz anderes Geschehen. Hier ist niemand mehr im Besitze einer Krankheit oder Sucht, die sich ihrer Verfügungsgewalt entzieht, sondern hier ist jemand, der sich aktiv, autonom und verantwortlich für ein bestimmtes Verhalten entschieden hat. Die Gründe sind die eines Hungerstreiks. Ein Hungerstreik ist keine Bezeichnung für einen Sachverhalt in einem medizinischen Sprachspiel, sondern für einen Sachverhalt in einem politischen Sprachspiel. Gestreikt wird für die Durchsetzung bestimmter Forderungen von jemandem an jemanden oder zur Verhinderung bestimmter Maßnahmen von jemandem gegen jemanden. Hier stellen sich also unmittelbare
Anschluss-(Gedanken-)Fragen: Für welche Forderungen oder gegen welche (drohenden?) Zustände wird hier gestreikt und gegen wen? Welche Bedingungen müssten von wem erfüllt werden, damit der Streik eingestellt werden kann? Jeder Streik hat einen Beginn und hat ein Ende. Es ist kein Streik bekannt, der nicht beendet wurde. Ob aber eine Krankheit (besonders eine Suchtkrankheit) jemals zu einem Ende kommen kann, ist sehr fraglich. Wenn sie zu einem Ende kommen kann, setzt dies eine heil- oder mindestens ausheilbare Sucht (gibt es so etwas?) voraus. Mit unterschiedlichen Fragen können höchst unterschiedliche Implikationen bezüglich zentraler Themen wie Autonomie, Verantwortung eines Klienten und Endlichkeit oder Unendlichkeit seines Problems verbunden sein. Fragen in Anwesenheit anderer. Fragen, die an einen Adressaten in Anwesenheit anderer gestellt werden, eröffnen die Möglichkeit einer vielfachen Erzeugung von Unterschieden und damit möglicherweise auch von Information. Eine Frage wird auch von denen bearbeitet, an die die Frage nicht adressiert ist, vielleicht sogar beantwortet, wenn auch nur im Bereich des erlebten Lebens. Wenn dies der Fall ist, wird diese Antwort abgeglichen oder verrechnet werden mit der Antwort des Adressaten, der seine Antwort ausgesprochen hat (ein Beispiel dafür, wie Kommunikation Erleben stören kann). Beschreibung aus der Außenperspektive. In alltäglicher Kommunikation werden meist Beschreibungen aus der Innenperspektive der Konversationsteilnehmer angefertigt. Werden nun Fragen gestellt nach Beschreibungen aus der Außenperspektive, erhält der Beschriebene Informationen darüber, wie er von anderen gesehen, erklärt und bewertet wird. Er kann damit Informationen erhalten über die pragmatischen Effekte seines Verhaltens. Diese sind nicht immer identisch mit dem, was er selbst für die pragmatischen Effekte seines Verhaltens hält.
Prinzip der zirkulären Befragung Das Grundprinzip der zirkulären Befragung beruht auf der Erkenntnis der Kybernetik, dass ein Unterschied die erste Voraussetzung für Information darstellt und dass sich Unterschiede an zirkulären Prozessen beteiligen, indem sie dort operiert werden. Unterschiede sind in 3 grundlegenden Formen möglich: als Unterschiede im Raum, dann stellen sich Beziehungen her, indem sie Verhältnisse beschreiben, als Unterschiede in der Zeit, dann stellen sich Veränderungen und Entwicklungen dar, als Unterschiede im Sprachmodus, hier stellen sich Unterschiede zwischen Indikativ und Konjunktiv dar, oder auch der Unterschied zwischen dem »Realen« und dem »Fiktiven« oder »Imaginären«.
833 33.4 · Klinische Anwendungsprinzipien
Möglichkeitsraum. Insbesondere die Eröffnung eines
»Möglichkeitsraumes« durch zirkuläre Fragen macht einen wesentlichen Teil der Veränderung erzeugenden therapeutischen Kraft dieser Fragen aus. Eine Imagination ist als Produkt eines Autors, eines Klienten oder eines Therapeuten eine Form der Weltzuwendung, die zzt. in der gegebenen Welt des Autors, Klienten oder Therapeuten nicht vorhanden ist. Sie muss daher in die vorhandene Welt hineingetrieben werden, um zur Geltung zu kommen. Hineingetrieben heißt dann, die vorgefundenen Organisationsstrukturen des Erlebens und Handelns werden nicht abgebildet, sondern »dekomponiert« (Iser 1991). Es lassen sich Bewusstseinsvorstellungen von noch unbekannten Sachverhalten hervorrufen, zu deren Vergegenwärtigung es keiner dafür vorausgesetzten Erfahrung bedarf oder gar umgekehrt: Bewusstseinsvorstellungen, die die dafür vorausgesetzten Erfahrungen erst erzeugen. ⊡ Tab. 33.1 zeigt ausgehend von den 3 Grundunterscheidungen (Raum, Zeit, Sprachmodus) mögliche Unterschiedsbildungen. Unter Berücksichtigung der Unterscheidung unterschiedlicher Personen (A, B, C), des Verhaltens und der 3 Bestandteile des erlebten Lebens (Beschreibung, Erklärung, Bewertung) sind Grundfiguren zirkulärer Fragen beispielhaft zusammengestellt.
33.4.4
Die lösungsorientierte Befragung
Die seit einigen Jahren entwickelten lösungsorientierten Ansätze innerhalb der systemischen Psychotherapie (De Shazer 1985, 1988; White u. Epston 1989; Lipchik 1988) betonen in ihrer Theorie und Methodik die Lösungsseite der Unterscheidung Problem/Lösung. Historisch hat sich Psychotherapie v. a. mit der Beschreibung, Erklärung und Bewertung von Problemen befasst. Problemdiagnose und -genese standen im Vordergrund der konzeptuellen und therapeutischen Anstrengungen, selten dagegen konzeptuelle und methodische Anstrengungen im Hinblick auf Lösungsdiagnose und -genese. Lösungen standen so selten im Fokus der Aufmerksamkeit, dass sie in psychotherapeutischen Modellen fast schon zur verborgenen Seite der Unterscheidung Problem/Lösung geworden waren. Suche nach Ausnahmen. Eine der grundlegenden Prämis-
sen lösungsorientierter Ansätze ist die Überzeugung, dass es zur Konstruktion einer Lösung keiner detaillierten Kenntnisse und Erklärungen des Problems bedarf. Von Beginn des therapeutischen Kontaktes an wird daher konsequent nach Ausnahmen des Problems gefragt. Diese Ausnahmen werden erweitert, Kontexte von Ausnahmen konstruiert und Aufgaben gegeben, die die Wahrschein-
⊡ Tab. 33.1. Grundfiguren zirkulärer Fragen Unterscheidungen
Im Raum
In der Zeit
Im Sprachmodus
VerhaltenVerhalten
A wird zu den Verhaltensweisen von B und C befragt: Wenn B sagt, er höre wieder Stimmen aus dem Kühlschrank, was macht dann C? Rangfolgen bezüglich der Quantität von Verhaltensweisen: Wenn B sagt, er höre wieder Stimmen aus dem Kühlschrank, wer zeigt sich dann am besorgtesten, wer weniger, wer gar nicht?
Wann hat B begonnen, auf eigene Aktivität und Lebensfreude zu verzichten?
Angenommen, es gäbe keine Therapeuten auf der Welt, was würden Sie dann tun?
Wie lange wird B noch eigene Aktivität und Lebensfreude aufschieben?
Angenommen, Sie wollten erreichen, dass Ihre Frau auch weiterhin keine Lust hat, mit Ihnen zu schlafen, was müssten Sie dann tun? Angenommen, Sie wollten erreichen, dass Dr. X Sie wieder in die Klinik einweist, wie müssten Sie sich dann verhalten?
BeschreibungVerhalten
Überführung von Eigenschaften in Verhaltensweisen: A wird um Verhaltensoperationalisierung von Eigenschaftszuschreibungen (bei sich selbst oder anderen) gebeten:
Seit wann denken Sie, wenn Sie xyz tun oder lassen, Sie seien depressiv?
Angenommen, Sie wollten erreichen, dass A, B, C Sie weiterhin für depressiv hält, was müssten Sie dann tun?
Was macht B anders als sonst, wenn er sich depressiv zeigt?
Wie lange werden Sie xyz tun oder lassen, bis A, B, C oder Sie selbst denken, Sie seien nicht mehr depressiv?
Angenommen, Ihr Problem wäre nach unserer heutigen Sitzung gelöst, welche Erinnerungen werden Sie dann an unsere heutige Sitzung haben?
33
834
Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
lichkeit des Wiederauftretens oder der zeitlichen Ausdehnung von Ausnahmen erhöhen. Hypothetische Ausnahmen. Werden keine konkreten
Ausnahmen berichtet, wird von hypothetischen Ausnahmen ausgegangen, und diese werden entsprechend erweitert, kontextualisiert und in die Zukunft fortgeschrieben. Solche hypothetischen Lösungsfragen sind etwa folgende: Woran werden Sie merken, dass Sie nicht mehr in die Therapie kommen müssen? Oder auch die »Wunderfrage« (s. Übersicht): »Angenommen, es würde eines Nachts, während Sie schlafen, ein Wunder geschehen, und Ihr
Problem wäre gelöst. Wie würden Sie das merken? Was wäre anders? Wie wird Ihr Ehemann davon erfahren, ohne dass Sie ein Wort darüber zu ihm sagen?« (De Shazer 1988, S. 24). In dieser Wunderfrage sind einige Prämissen implizit enthalten: Eine Lösung wird ohne das aktive Zutun des Klienten imaginiert. Dadurch wird versucht, keine anklagende Botschaft zu vermitteln, etwa in dem Sinne: »Tun Sie das mal« oder: »Das hätten Sie schon lange tun können«. Es soll dem Klienten möglich werden, ohne Gesichtsverlust, über eine Lösung nachzudenken, für deren hypothetische Realität er selbst nicht verantwortlich zu machen ist.
Die lösungsorientierte Befragung am Beispiel der »Wunderfrage«
33
Wunderfrage: Angenommen, es würde heute Nacht, während Sie schlafen, ein Wunder geschehen, und Ihr Problem wäre gelöst. Wie würden Sie das morgen früh merken? Was wäre anders? Wie wird Ihr Ehemann davon erfahren, ohne dass Sie ein Wort darüber zu ihm sagen? Die Erzeugung von Relevanz des Wunders Wenn das Wunder geschehen ist, macht es dann einen Unterschied für Sie? Welche Unterschiede werden Sie dann an sich selbst bemerken? Welche Unterschiede werden dann andere (…) bemerken? Welche Unterschiede wird es für Ihr Leben machen? Was werden Sie dann tun oder unterlassen, was Sie vorher (nicht) getan haben? Die Erzeugung eines Beginns und erster Schritte Was ist das erste Anzeichen dafür, dass das Wunder geschehen ist? Was ist das kleinste Anzeichen für einen Unterschied, den Sie bemerken können? Woran werden Sie bemerken, dass das Wunder begonnen hat? Wenn Sie am Morgen Ihre Augen öffnen, was wird das erste Zeichen dafür sein, dass das Wunder geschehen ist? Wer wird die erste Person sein, die bemerkt, dass das Wunder geschehen ist, und was wird diese Person sagen, was Sie als erstes bemerkt hat? Die Erzeugung konkreten und spezifischen Verhaltens Was werden Sie anders machen am Tag nach dem Wunder, woraus Sie entnehmen: Das Wunder ist geschehen? Was werden andere (…) sehen, was Sie tun, das diesen sagt, dass ein Wunder geschehen sein muss? Angenommen, am Tag nach dem Wunder wird ein Film über Sie gedreht, was werden wir dort
sehen, das uns sagt, dass das Wunder geschehen sein muss? Woran werden Sie merken, dass Sie (…) sind? Die Erzeugung positiver und die Vermeidung negativer Unterschiede Wenn Sie nicht mehr (negierende Beschreibung) tun, was werden Sie stattdessen tun? Wenn (negierende Beschreibung) nicht mehr geschieht, was wird statt dessen geschehen? Was werden andere (…) sehen, was Sie anders machen, wenn (negierende Beschreibung) nicht mehr geschieht? Die zeitliche und räumliche Kontextualisierung des Wunders Wer wird die erste Person sein, die bemerkt, dass das Wunder geschehen ist und woran? wird was anders machen nach dem Wunder? wird am überraschtesten sein, wenn Ihr Problem gelöst ist? Was wird diese Person sehen, was Sie anders machen, was er (sie) nicht für möglich gehalten hat? werden Sie sehen, was diese Person anders macht, was Sie nicht für möglich gehalten haben? Wo möchten Sie gerne sein, wenn Sie zuerst bemerken, dass das Wunder geschehen ist, und was möchten Sie dort am liebsten als erstes bemerken? Wann waren Sie in der Vergangenheit erfolgreich? Was war anders, das Sie damals veranlasste, erfolgreich zu sein? würden andere (…) sagen, waren Sie in der Vergangenheit erfolgreich? Was, würden diese anderen sagen, verursachte damals Ihren Erfolg?
835 33.4 · Klinische Anwendungsprinzipien
Die Fragen sollen anregen, die Lösung möglichst präzise auf der Verhaltensebene zu operationalisieren. Häufig genug ist diese Operationalisierung eine wichtige Voraussetzung für die Lösung. Es kann erst bestimmt werden, wann und ob die Lösung erreicht ist, wenn man weiß, wie sie aussieht. Eine weitere Implikation ist die unmittelbare und notwendige Konstruktion eines interaktionellen Kontextes der Lösung (»Woran wird es Ihr Ehemann merken …«), dadurch werden weitere Anschlussfragen zu den interaktionellen Auswirkungen einer Lösung ermöglicht, durch die dann die Kontextverträglichkeit einer Lösung beurteilbar wird.
33.4.5
Die Neutralität erzeugende Befragung
Zu den Grundhaltungen der systemischen Therapie gehört die Neutralität des Therapeuten. Der Realisierung von Neutralität durch den Therapeuten sind enge Grenzen gesetzt, der Möglichkeit ihrer Kontrolle durch den Therapeuten noch engere, da nicht der Therapeut selbst, sondern seine Klienten darüber entscheiden. Darüber hinaus ist im Phänomenbereich der therapeutischen Interaktion Neutralität nicht möglich, da sich Verhalten immer für eine Seite einer Unterscheidung entscheidet. Insofern ist Neutralität auch in Sprache nicht möglich. Über Neutralität lässt sich lediglich sprechen. So kann der Therapeut im Sprechen über Neutralität erfahren, ob er neutral gesehen wird, welche Verhaltensweisen er ver-
meiden sollte und wie er, vielleicht sogar mit Hilfe seiner Klienten, eine verlorene Neutralität wiederfinden kann. Sprechen über Neutralität kann Neutralität wahrscheinlich machen (vgl. Simon u. Weber 1990; Retzer 1994). Es lassen sich Fragen beschreiben (s. Übersicht), die ein solches Sprechen über Neutralität ermöglichen.
33.4.6
Die Auftragsklärung
Am Beginn jeder systemischen Therapie steht die Auftragsklärung. Die Tatsache, dass Klienten einen Therapeuten aufsuchen, bedeutet keinesfalls zwingend, dass damit schon ein Behandlungsauftrag gegeben wurde oder gar eine Zielbestimmung für das therapeutische Unternehmen erfolgt sei. Beides zu ermitteln oder zu entwickeln ist notwendiger Teil des therapeutischen Prozesses. Ohne Auftrag und Merkmalsdefinition von Zielen können Ziele nie erreicht werden. Selbst wenn sie erreicht werden, wird man es nicht bemerken, da keine Merkmale definiert wurden. Die Situation wird noch komplexer, wenn mehrere Personen – etwa im Rahmen einer systemischen Paar- oder Familientherapie – um eine Behandlung nachsuchen. Es ist dann nicht notwendigerweise davon auszugehen, dass alle Personen den gleichen Auftrag und die gleichen Ziele haben oder entwickeln. Insbesondere wenn man psychotische Klienten behandelt, ist es selten so, dass das psychotische Familienmitglied und seine Angehörigen die gleichen Aufträge und Ziele bereithalten.
Fragen zur Erzeugung von sozialer Neutralität Fragen zur Erzeugung von sozialer Neutralität Was müßte ich tun, um Ihren Mann ärgerlich auf
mich zu machen? Was müsste ich tun, damit Ihre Frau glaubt, ich stünde auf Ihrer Seite? Was könnten Sie tun, um mich zu diesem Verhalten zu bewegen? Angenommen, ich würde das tun, was Sie eben beschrieben haben, würden Sie es mich wissen lassen? Fragen zur Erzeugung von Konstruktneutralität Wie müsste ich mich verhalten, damit Ihre Frau zu der Überzeugung gelangt, ich sehe das Leben (nicht) als ein tiefes Jammertal? Wenn wir so weitersprechen wie bisher, denkt Ihr Mann dann, ich sei auch der Meinung, dass das Leben ein verlängerter Kalauer sei? Wie lange müsste ich mit Ihnen noch über Ihre Schicksalsschläge sprechen, bis wir hier alle der Meinung wären, dass Sie ein schweres und unveränderbares Schicksal hatten, haben und haben werden?
Angenommen, wir sprechen heute die gesamte
Sitzung über Ihre düstere Stimmung, welche Auswirkungen hätte das auf Ihr Leben bis zur nächsten Sitzung? Fragen zur Erzeugung von Veränderungsneutralität Denken Sie, ich bin heute eher an einer Veränderung interessiert oder daran, dass alles so bleibt, wie es ist? Angenommen, ich wollte erreichen, dass Sie mich als jemanden sehen, der an Ihrer Veränderung interessiert ist, was müsste ich dann tun oder unterlassen? Angenommen, ich wollte erreichen, dass Sie mich als jemanden sehen, der daran interessiert ist, dass die Dinge so bleiben wie sie sind, was müsste ich dann tun oder unterlassen? Was wäre eine gute Frage, die ich Ihnen stellen sollte, die Frage danach, wie es ist, oder danach, wie es sein könnte?
33
836
Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
Die folgende Übersicht zeigt eine Auswahl von Fragen, die der Auftragsklärung und Zielbestimmung dienlich sein können.
Fragen zur Auftragsklärung und Zielbestimmung Wie haben Sie den Weg zu mir gefunden? Wer hatte die Idee, hierhin zu kommen? Wer ist der »Überweiser« (Klient, Angehöriger,
33
andere …)? Welche Vorstellungen gibt es über die Therapie, den Therapeuten, seine Institution …? Wie lange haben Sie auf dieses Gespräch gewartet? Was ist in der Wartezeit geschehen? Wenn therapeutische Gespräche optimal verlaufen würden, was sollte dann für wen dabei herauskommen? Wenn therapeutische Gespräche nichts bewirken würden, was würde dann für wen dabei herauskommen? Wenn therapeutische Gespräche alles nur noch verschlimmern würden, was würde dann für wen dabei herauskommen? Wer ist optimistisch, wer skeptisch in bezug auf die Nützlichkeit einer solchen Therapie? Wie müssten die therapeutischen Gespräche geführt werden, damit Sie Ihre Ziele (nicht) erreichen? Angenommen, es fänden keine therapeutischen Gespräche statt, wer wäre darüber froh, ärgerlich, indifferent und wie würde das Leben für jeden einzelnen dann weitergehen? Was waren Ihre bisherigen Lösungsversuche und mit welchen Ergebnissen? Angenommen, es gäbe keine Psychotherapeuten und keine Psychotherapie auf dieser Welt, wie würde Ihr Leben dann weiter verlaufen?
Differenzierung des Klienten in Besucher, Klagende und Kunden (De Shazer 1988) bewährt. Diese Differenzierung dient therapeutisch-pragmatischen Zielen, d. h. sie soll differenziertes Vorgehen bei unterschiedlichen Klienten mit unterschiedlichen Aufträgen ermöglichen und damit die Passgenauigkeit therapeutischer Maßnahmen erhöhen. Besucher. Der Besucher ist ein Klient ohne Beschwerde,
ohne Ziele, der meist von jemandem geschickt oder mitgenommen wurde. In psychiatrischen Kontexten ist es oft der unfreiwillig oder zwangsweise anwesende Patient. Hat man als Therapeut keinen sozialen Kontrollauftrag (den man aber meist nicht vom Besucher selbst bekommt, sondern von anderen, die den Besucher kontrolliert wissen wollen) oder will man keinen solchen Kontrollauftrag übernehmen, so kann man versuchen zu ermitteln, ob es vielleicht doch Beschwerden oder Ziele gibt, z. B. Beschwerden über den, der geschickt oder mitgenommen hat oder der kontrollieren will und das Ziel, diesen loszuwerden. Lassen sich solche Beschwerden und Ziele nicht ermitteln, so hat der Besucher keine gültige »Eintrittskarte« für eine Therapie und eine Therapie kann und sollte nicht stattfinden, wenn man Therapie nicht als »niederstschwellige kostenlose Benefizveranstaltung« disqualifizieren will. Klagender. Der Klagende ist ein Klient mit Beschwerden
und Ziel. Er sieht sich als Teil eines Problems und nicht als Teil einer Lösung, d. h. er erwartet, dass sich andere oder anderes verändert oder verändert wird. Der Klagende, der sich über andere beklagt, die sein Problem sind, bietet also ein Wahrnehmungsproblem an, kein Handlungsproblem. Der Klagende sollte daher nicht mit Versuchen verärgert werden, sein eigenes Handeln zu verändern und dadurch zur Nicht-Kooperation verführt werden, er glaubt ja, dass andere sich verändern müssten. Lohnenswerter und kooperationsfördernder sind dagegen therapeutische Interventionen, die seine Selbst- und Fremdwahrnehmung verändern. Kunde. Der Kunde ist ein Klient, der ebenso wie der
Nach der ausreichenden Klärung dieser Fragen am Beginn einer systemischen Therapie sollte der Therapeut seinerseits folgende Frage beantworten können: Wer will was wann von wem und wozu?
Differenzierung des Klienten Die Auftragsklärung und Zielbestimmung dient also auch der Informationserzeugung beim Therapeuten. Dieser sollte wissen, um welche Art von Klient es sich handelt, welche Art von Auftrag dieser vergibt, welche Selbstdefinition er vornimmt und welches Beziehungsangebot der Klient dem Therapeuten macht. Zur Organisation dieser beim Therapeuten erzeugten Information hat sich eine
Klagende Beschwerden und Ziele hat. Im Gegensatz zum Klagenden sieht sich jedoch der Kunde nicht vorwiegend als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung, d. h. als jemand, der etwas gegen sein Problem tun kann und tun will. Hier wäre es therapeutisch falsch, dem Klienten keine Interventionen anzubieten, die Veränderungen auf der Verhaltensebene anstoßen sollen. Allgemein und formal ausgedrückt sollten einem Kunden Vorschläge gemacht werden zum Handlungsvollzug von neuen Handlungen oder von Handlungen, die im Sinne einer Lösung schon funktionieren, oder Vorschläge zur Handlungsunterlassung von Handlungen, die bisher nicht funktionierten.
837 33.4 · Klinische Anwendungsprinzipien
Rollenwechsel
33.4.7
Die vorgenommene Differenzierung ist keineswegs sehr stabil: Man sollte damit rechnen, dass die Diagnosen sich leicht und schnell über die Zeit und abhängig vom interaktionellen Kontext ändern können. So kann es schon innerhalb einer einzigen therapeutischen Sitzung geschehen, dass ein Klient, der sich zunächst als Besucher gibt, zum Kläger oder gar Kunden wird und insofern auch Therapie stattfinden kann. Umgekehrt sollte in jeder erfolgreichen Therapie aus einem Klienten, der Kläger oder Kunde war, wieder ein Besucher werden, wenn die Therapie erfolgreich war, d. h. Kläger- oder Kundenwünsche erfüllt werden konnten. So muss der Kläger oder Kunde nicht länger ein solcher sein, sondern kann wieder zum Besucher werden; damit ist die Therapie eine endliche Therapie, d. h. sie kann erfolgreich abgeschlossen werden.
Die Schlussintervention
Die Schlussintervention ist eine sprachliche Intervention am Ende einer Sitzung nach der Konsultation des systemischen Psychotherapeuten mit seinem Team. Dabei wird versucht, die Inhalte des Gespräches zu fokussieren und gezielt Informationen beim Klienten zu erzeugen. Während die Schlussintervention früher (z. B. Selvini Palazzoli et al. 1975) oft als die eigentliche therapeutische Intervention betrachtet wurde, werden inzwischen die sprachlichen Mikroprozesse während des vorangehenden Interviews – etwa die durch zirkuläre Fragen angestoßenen Prozesse – als zumindest gleichrangig neben die Schlussintervention gestellt. Inhalt und Funktion von Schlussintervention und vorangegangener therapeutischer Konversation unterscheiden sich nicht voneinander: Beide sollen stören und relevant sein.
⊡ Tab. 33.2. Schlussinterventionen Kommentare Positive Konnotation
Den im Interview geschilderten Verhaltensweisen der Klienten wird eine positive Bedeutung gegeben, etwa im Hinblick auf die Intentionen der Klienten und die Wirkungen ihres Verhaltens. Verhaltensweisen, denen eine positive Bedeutung zugeschrieben wird, können leichter unterlassen werden. Diese Verhaltensweisen müssen nicht länger verteidigt werden, da sie nicht (durch negative Konnotation) vom Therapeuten angegriffen werden
Umdeutung
Eine Umdeutung ist ein Kommentar, der einen neuen Kontext und damit eine neue Bedeutung für Verhalten schafft. Die positive Konnotation ist eine mögliche Form der Umdeutung. Umdeutungen können neue Beschreibungen (neue Aufmerksamkeitsfokusse, Erweiterung oder Verengung eines Aufmerksamkeitsfokus), neue Erklärungen (neue Ursache-Wirkungs-Relationen) und neue Bewertungen (positive und negative Konnotationen) erzeugen. Therapeutisch entscheidend für die Effektivität der Umdeutung ist, ob sie einen annehmbaren Unterschied für den Klienten macht
Einführung einer höheren Macht
Besonders dort, wo Versuche der Lösung zum Problem geworden sind, kann die Einführung einer höheren Macht (z. B. des Zufalles, des Trotzes des Klienten, des Schicksals ...) zu einer Unterbrechung von problemaufrechterhaltenden Lösungsversuchen führen (Retzer 1988)
Das Splitting und die Ambivalenz
Klienten erleben ihre Welt und ihr Leben oft in einem formallogischen Entweder-oder-Muster (krank-gesund, abhängig-unabhängig, Problemlösung ...). In der Uneinigkeit zweier Therapeuten (Splitting) oder der »inneren Zerrissenheit« eines Therapeuten (Ambivalenz) kann dagegen ein Sowohl-als-auch-Muster angeboten werden, das häufig von Klienten mit einem Weder-noch-Muster beantwortet wird, d. h. der Klient verlässt seinen bisherigen Kontext (Retzer 1994 a, S. 194 f.)
Handlungsvorschläge Mehr, was funktioniert
Hier wird eine Differenzierung in problematisches und unproblematisches Verhalten vorgenommen und der Bereich des unproblematischen Verhaltens erweitert
Weniger, was nicht funktioniert
Hier gilt das gleiche wie für das, was funktioniert, es wird jedoch von der problematischen Seite aus gesehen und behandelt
Etwas Neues, was das Alte stört
Oft genügt es nicht, etwas zu unterlassen, sondern es muss stattdessen etwas anderes vollzogen werden
Symptomverschreibungen
Der Klient wird aufgefordert, das problematische Verhalten zu zeigen. Er gerät damit in eine paradoxe Situation: Zeigt er sein Verhalten, zeigt er damit gleichzeitig, dass er sein Verhalten kontrollieren oder zumindest beeinflussen kann, zeigt er sein Verhalten nicht, weil er es nicht beeinflussen kann, reduziert er damit seine Symptome und beeinflußt sie dadurch (Watzlawick et al. 1974; Ruskin u. Klein 1976)
Rituale
Rituale sind konkrete Handlungsaufforderungen mit genauer Bestimmung von Zeit und Ort ihrer Durchführung. Dadurch kann zu neuem Verhalten angeregt werden. Es können aber auch durch den Vollzug von Handlungen Bedeutungen verändert werden, so können etwa Entwicklungsetappen abgeschlossen oder begonnen werden, soziale Verbindungen können hergestellt oder gelöst werden etc. (Imber-Black et al. 1993; Retzer 2002)
33
838
Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
⊡ Tab. 33.2 zeigt einige typische Schwerpunkte und Ziele von Schlussinterventionen, wobei in der therapeutischen Praxis die konkrete »Performance« meist Elemente aus verschiedenen hier idealtypisch voneinander getrennten Schlussinterventionen zusammenführt. Schlussinterventionen werden hier nach ihrer therapeutischen Zielrichtung in Kommentare (Zielrichtung: Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen) und Handlungsvorschläge (Zielrichtung: Verhalten) unterschieden.
33.5
33
Anwendungsbereiche systemischer Psychotherapie
Neben der Verbreitung von systemischer Psychotherapie in Erziehungsberatungs-, Jugendhilfe- und Familienberatungskontexten, finden sich innerhalb der Medizin inzwischen in vielen Bereichen eine Anwendung systemischer Psychotherapie und die Entwicklung differenzierter therapeutischer Modelle und Methoden. Die wichtigsten und entwickeltsten Anwendungsbereiche sind im Folgenden zusammengefasst: Theoriebildung und Entwicklung von therapeutischer Methodik bei körperlichen Erkrankungen (Retzer 1988, 1994 b, 2005; Simon 1995; Häuser 1989), die Behandlung von Essstörungen (Selvini Palazzoli 1974; Weber u. Stierlin 1989; Schmidt 1989), die Suchtbehandlung (Schmidt 1988; Efran et al. 1989; Berg u. Miller 1992, Klein 2003), im Bereich der allgemeinärztlichen Praxis und der Familienmedizin (McDaniel et al. 1990, 1992; Retzer 1994b), im Bereich der Psychiatrie, insbesondere der systemischen (Familien-)Therapie von Psychosen (Selvini Palazzoli et al. 1975; Simon 1990; Weber u. Retzer 1991; Retzer 1994 a, 2003; Keller u. Greven 1996, Ruf 2005), im Bereich der Paar- und Sexualtherapie (Retzer 2004, Clement 2004, Willi 2005).
33.6
Evaluation systemischer Psychotherapie
Die bisher umfassendste und methodisch anspruchsvollste Metaanalyse zur Effektivität von systemischer Paarund Familientherapie wurde von Shadish (1992) und Shadish et al. (1993, 1997) vorgelegt. In diese Metaanalyse gingen für den Zeitraum bis 1988 insgesamt 163 kontrollierte Studien mit randomisierten Stichproben ein, davon 71 Vergleiche mit unbehandelten Kontrollgruppen und 105 Vergleiche mit anderen Therapieverfahren. Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
systemische Paar- und Familientherapie ist wirksam; dieser Wirksamkeitsnachweis ist mindestens so gut belegt wie der anderer Psychotherapieverfahren, wobei andere Psychotherapieverfahren selten so ausgiebig und methodisch anspruchsvoll untersucht wurden; in einem Vergleich mit humanistischen, eklektischen und unklassifizierbaren Familientherapien waren systemische Familientherapien immer überlegen. Die Autoren betrachten die systemische Familientherapie als die wirksamste Orientierung innerhalb eines familientherapeutischen Settings; im Vergleich von systemischer und psychodynamisch/psychoanalytischer Familientherapie zeigt sich die systemische Therapie als die effektivere. Dies entspricht auch den Ergebnissen der Therapievergleichsstudie von Goldman u. Greenberg (1991), in der systemische mit psychodynamischer Paartherapie verglichen wird.
Wirkfaktoren und -mechanismen Nachdem die generelle Wirksamkeit systemischer Psychotherapie nachgewiesen ist, bestehen die zukünftigen Aufgaben der Evaluationsforschung in der Untersuchung unterschiedlicher Wirkfaktoren und -mechanismen bei unterschiedlich definierten Situationen, Problemen, Diagnosen und Klientengruppen. Dazu gibt es schon erste Ergebnisse, jedoch bisher nur aus Studien ohne ein Kontrollgruppendesign: Weber u. Stierlin (1989) untersuchten 42 Familien mit einer anorektischen Tochter nach systemischer Familientherapie und einem durchschnittlichen Katamnesezeitraum nach Beendigung der Familientherapie von 4 Jahren und 7 Monaten. 86% der Fälle zeigten deutliche Verbesserungen in 8 Kategorien (Essverhalten, Gewicht, Menstruation, Individuation, Peergroup-Beziehungen, Familienbeziehungen, Symptomatiken anderer Familienmitglieder, Paaarbeziehungen der Eltern); Retzer (1994 a) untersuchte 60 Familien mit einem schizophrenen, schizoaffektiven oder manisch-depressiven Familienmitglied nach einer systemischen Familientherapie und einem Katamnesezeitraum von durchschnittlich über 3 Jahren nach Beendigung der Familientherapie. Die Rückfallrate (stationär behandelte Rückfälle innerhalb eines definierten Zeitraumes) reduzierte sich um 75%, es zeigten sich positive Berufsund Ausbildungsentwicklungen und eine drastische Reduzierung von Medikamentenverordnungen; Ludewig (1992) berichtet über eine Nachbefragung von 225 Familien, die in durchschnittlich 3 Sitzungen in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz behandelt wurden. Insgesamt 60% der Familien gaben an, das Problem sei gelöst, und 75% beschrieben, mit dem gegenwärtigen Zustand des Kindes und mit ihrer Lebenssituation zufrieden zu sein.
839 Literatur
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33
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Kapitel 33 · Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien
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34 34 Humanistische Psychotherapieverfahren W. Butollo, M. Krüsmann, M. Hagl
34.1 Humanistische Psychotherapie – 842 34.1.1 Wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Hintergrund der humanistischen Psychologie – 842 34.1.2 Die grundlegenden Postulate der humanistischen Psychologie – 843 34.1.3 Humanistische Implikationen für die psychiatrische und psychotherapeutische Praxis – 843 34.2 34.2.1 34.2.2 34.2.3 34.2.4
Die humanistischen Therapieverfahren Das Psychodrama – 846 Die Logotherapie – 847 Die Gestalttherapie – 848 Gesprächspsychotherapie – 853
34.3 Anwendung humanistischer Verfahren – 856 34.3.1 Diagnose und Indikation – 856 34.3.2 Angststörungen – ein Vergleich von Gestalttherapie und personzentrierter Psychotherapie – 858 34.3.3 Gestalttherapie bei klinisch-somatischen Krankheitsbildern – 861 34.3.4 Personzentrierte Gesprächspsychotherapie in der Psychiatrie – 864 – 845
Literatur
– 868
> > Unter dem Begriff »humanistische Psychotherapie« wird eine Reihe von heterogenen Therapieverfahren zusammengefasst, deren gemeinsamer Hintergrund in den Konzepten der humanistischen Psychologie zu finden ist. Aus heutiger Sicht kann die humanistische Bewegung als der Versuch eines Paradigmenwechsels gesehen werden. Es vollzog sich so etwas wie ein Umbruch in der Perspektive des Menschen von sich selbst und seinem Platz in der Welt. Das vom cartesianischen Wissenschaftsverständnis geprägte duale Verständnis von Leib und Seele wird abgelöst von einem Menschenbild, in dem das Individuum als organische Einheit kognitiver, seelischer und körperlicher Aspekte betrachtet wird. Dieser Wandel zeigt sich allerdings eher in seinem weitreichenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Einfluss als in einer konsistenten Theorienbildung. In der Psychologie wurde dieser Wandel von Grundannahmen der Existenzphilosophie, der Phänomenologie und der Gestaltpsychologie beeinflusst und es entstand eine Fülle von therapeutischen Verfahren in Anlehnung an humanistische Theorien über das menschliche Entwicklungs- und Veränderungspotenzial. Die am weitest verbreiteten Therapierichtungen mit humanistischem Hintergrund sind die Gestalttherapie und die personzentrierte Psychotherapie bzw. Gesprächspsychotherapie. Wichtige Konzepte der angewandten Psychologie, wie die Annahme einer systemischen Selbstregulation oder die Bedeutsamkeit der zwischenmenschlichen Beziehung als zentrale Bedingung für Krankheit oder Gesundheit, sind aus diesen humanistischen Therapieansätzen hervorgegangen.
842
Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
34.1
Humanistische Psychotherapie
»Heute gibt es viele ›Psychologien‹ und jede Schule hat recht, zumindest teilweise. Aber leider ist auch jede Schule selbstgerecht. Der tolerante Psychologieprofessor nimmt meistens die verschiedenen Schulen aus ihren Schubladen heraus, diskutiert sie, zeigt seine Vorliebe für die eine oder andere – aber wie wenig tut er für ihre Integration! Ich habe versucht zu zeigen, daß man etwas derartiges tun kann, wenn man die trennenden Abgründe überbrückt, und ich kann nur hoffen, daß ich Hunderte von anderen Psychologen, Psychoanalytikern, Psychiatern usw. dazu anregen kann, dasselbe zu tun« (Fritz Perls 1944, aus dem Vorwort zu »Das Ich, der Hunger und die Aggression«, deutsche Übersetzung 1987, S. 9).
34.1.1
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Wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Hintergrund der humanistischen Psychologie
Humanistische Psychologie und Psychotherapie entstanden in den 1950er und 1960er Jahren in den USA, fanden bald Eingang in die europäische geisteswissenschaftliche Fachwelt und erlebten ihre Blütezeit in den 1970er und 1980er Jahren. Eine zunehmende Kritik an den schon damals vorherrschenden und seither im deutschen Gesundheitssystem monopolisierten psychologischen Strömungen, der Tiefenpsychologie und dem Behaviorismus, sowie ein starkes Misstrauen gegenüber der gesellschaftspolitischen Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg, forcierte die Hinwendung zu alternativen Konzepten. In der humanistischen Bewegung fanden sich diejenigen zusammen, die nach kreativen, humanen und lebensbejahenden Theorien, Modellen und Verfahren suchten. Diese entstanden vor einem weltanschaulich-philosophisch-psychologischen Hintergrund, der kurz dargestellt werden soll.
Existenzphilosophie Die Existenzphilosophie, die an die Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts (F. Nietzsche, H. Bergson, W. Dilthey) und an den von S. Kierkegaard geprägten Begriff der Existenz anknüpft, erlebte in den 1940er Jahren durch J. P. Sartre einen neuen Höhepunkt. Die in Deutschland zwischen den Weltkriegen entstandene und in erster Linie von K. Jaspers und M. Heidegger geprägte Schule der Existenzphilosophie kam hingegen in der Zeit des Nationalsozialismus weitgehend zum Erliegen. ! Mittelpunkt der existenzialistischen Philosophie ist der Blick auf den inneren Kern des Menschen, die Betrachtung des menschlichen Seins in seiner Verletzlichkeit und seinem Ausgeliefertsein gegenüber einem unerklärlichen Dasein.
Der Mensch muss sich, alleinig für seine individuelle Existenzweise verantwortlich, mit seiner Angst, der Erfahrung des Todes und der Möglichkeit seines Scheiterns in einer absurden Ordnung zurechtfinden. Dabei ist er frei, im Rahmen einer bedrohlichen Determiniertheit, das Bild seines Lebens selbst zu gestalten. Der Einfluss der Existenzphilosophie auf die humanistische Psychologie zeigt sich in der Annahme eines individuellen Gestaltungsspielraumes zwischen den Polen sozialer und biologischer Determiniertheit und Interdependenz und dem Selbst als autonome Instanz, die zielund sinnorientiert handelt.
Begegnungsorientierte Therapieverfahren Vor allem durch den Einfluss von Martin Buber gewannen existenzphilosophische Anschauungen im psychologisch-humanistischen Bereich an Bedeutung. In der »Dualität« des Menschen liegt seine Bestimmung; im Leben in objektivierender Sachlichkeit und im Leben in der Begegnung. Ausschließlich in der Begegnung aber gelingen ihm existenzielle Vollzüge und damit Sinnhaftigkeit. Darin liegt für Buber das zentrale Moment für Veränderung oder Stillstand, Leere oder Erfüllung. Der Schwerpunkt der humanistischen Verfahren, die gelebte Wirklichkeit existenzieller Beziehung, zwischen Therapeut und Klient wieder modellhaft geschaffen und auf andere Beziehungen übertragbar, bezieht sich mehr oder weniger explizit auf Martin Buber und sein Werk. Der Begriff »begegnungsorientierte Therapieverfahren« wurde zum Synonym für die humanistischen Psychotherapien.
Gestaltpsychologie Die Gestaltpsychologie, 1912 durch Max Wertheimer begründet, sieht psychische und physische Prozesse nicht als durch die isolierte Betrachtung einzelner Elemente verstehbar. Wahrnehmung, Denken, Emotionen und Handlung werden durch eine ganzheitliche Organisation gesteuert, die nach übergreifenden Gestaltgesetzen eine dynamische Gerichtetheit erfahren. Der leider oft falsch zitierte Satz »Das Ganze ist verschieden von der Summe seiner Teile« bringt (in Anlehnung an Aristoteles) einen wesentlichen Aspekt gestaltpsychologischen Denkens mit Schlichtheit zum Ausdruck (Köhler 1971). Humanistische Psychologie ist ebenso wie die Gestaltpsychologie nicht an einer atomistischen Annäherung an psychische Teilfunktionen, weder im Bereich der Forschung noch im Bereich der Behandlung, interessiert. So lässt sich ein Verständnis der menschlichen Existenz nur durch eine Betrachtungsweise erreichen, in der der handelnde Mensch in seiner Ganzheit, als biologisches, psychisches und soziales Wesen, gesehen wird (Völker 1980). Das psychobiosoziale Modell als genuin humanistisches Modell hat, wie andere humanistische Modelle auch, mittlerweile Eingang in allgemein anerkanntes psychologisches Wissen gefunden.
843 34.1 · Humanistische Psychotherapie
Der Einfluss Kurt Goldsteins Einen weiteren wichtigen Einfluss auf die humanistische Psychologie hatte die Theorie der »Organismischen Regulation des Selbst« von Kurt Goldstein. In seiner existenzphilosophisch beeinflussten Theorie werden gestaltpsychologische Gesetzmäßigkeiten auf innerpsychische und interaktionelle Vorgänge übertragen. Goldstein betrachtet das ununterbrochene Bedürfnis des Organismus, seine Potenziale einzusetzen und zu verwirklichen, als das Hauptmotiv der menschlichen Existenz. Dabei ist der Mensch vor die Notwendigkeit gestellt, immer wieder neu zu wählen und zu entscheiden. Goldstein lehnt sich in seiner Theorie eng an wahrnehmungspsychologische Erkenntnisse an. Eine dem Organismus innewohnende Tendenz, »gute Gestalten zu bilden«, reguliert über den »Figur-Grund-Prozess« den Vorgang der Selbstverwirklichung und Selbstaktualisierung. Dabei ist die Zufriedenstellung der aus der Gesamtheit des Wahrnehmungsfeldes hervortretenden Bedürfnisse das übergeordnete Ziel der organismischen Regulation des Selbst. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten findet sich in allen humanistischen Verfahren der Grundgedanke eines positiven Kerns, einer wachstumsorientierten Energie im Menschen, die darauf wartet, auf Umweltbedingungen zu treffen, in denen sie sich entwickeln und freisetzen kann. Vorsichtig formuliert könnte man vom Bild eines »positiven Kernes« selbst in destruktiver Verkleidung sprechen, den es zu erkennen und in der Therapie zu fördern gilt (vgl. Votsmeier 1995).
Erkenntnistheoretischer Hintergrund In der Existenzphilosophie und der Gestaltpsychologie kann man die wissenschaftliche Herangehensweise als grundsätzlich phänomenologisch bezeichnen. Phänomenologie stellt somit einen weiteren wichtigen Eckpfeiler der humanistischen Psychologie dar. Cave »Existentielle Phänomenologie versucht, die Beschaffenheit der Erfahrung einer Person über seine Welt und sich selbst zu charakterisieren« (Laing 1972, S. 19).
Sie versucht, hinter der Abfolge von Erscheinungen das eigentliche Wesen eines Phänomens, unter Einbeziehung der Intuition und Wahrnehmung des Betrachters, zu erkennen. So ist die vollständige Beschreibung der Erscheinungen, wie sie dem Geist, also dem Beobachter, präsent sind, unabdingbar. Dabei ist zur Erfassung der Umwelt in ihrer Beziehung zum Beobachter irrelevant, ob sich ein Abbild der Wahrnehmung in der Wirklichkeit findet oder nicht. So macht die Phänomenologie im Unterschied zu den positivistischen Wissenschaften, das Wirklichkeit setzende Subjekt zum Zentrum der Erkenntnisgewinnung
und geht von der sinnlichen Erfahrung des Menschen aus. Der Forscher besteht also nicht mehr losgelöst von seinem Untersuchungsgegenstand; in jeder Fragestellung und Wahrnehmung erfasst er gleichzeitig einen Teil seines Selbst. Eine strikte Trennung in Mensch und Welt, Subjekt und Objekt, Innen und Außen wird in der Phänomenologie hinterfragt und als methodisch ungeeignet dargestellt. Die humanistische Psychologie übernimmt zum einen den methodischen Ansatz, zum anderen wird der philosophische Hintergrund aufgenommen und in die Beziehung Therapeut-Klient transportiert. So wird der Therapeut nicht mehr als unabhängig oder losgelöst von seinem Klienten gesehen, das kritisierte Machtverhältnis wird zugunsten eines gemeinsamen »in der Welt Seins« aufgehoben.
34.1.2
Die grundlegenden Postulate der humanistischen Psychologie
Den Anstoß für die humanistische Bewegung machten eine Reihe namhafter, zum großen Teil in der Zeit des Nationalsozialismus aus Deutschland emigrierter Psychologen (Charlotte Bühler, Bugental, Köstler, Goldstein, Maslow, Rogers), die 1962 die »Gesellschaft für Humanistische Psychologie« gründeten. J. Bugental, der erste Präsident der Gesellschaft, formuliert 1964 die zentralen Aussagen der humanistischen Psychologie (s. Übersicht). Die Vertreter der humanistischen Psychologie und Therapie verstanden sich als »Dritte Kraft« neben der Psychoanalyse und dem Behaviorismus. Sie kritisierten deren deterministische und mechanistische Vorstellungen, in denen die menschliche Psyche in beobachtbare bzw. zu deutende, krankhafte Funktionsniveaus zerlegt wird. Im Gegensatz dazu geht das humanistische Menschenbild von einem ganzheitlichen und sinnhaften Streben in Richtung existenzieller Freiheit und Selbstverwirklichung aus. Der heute weit verbreitete Begriff der Ressourcenorientierung, die Suche nach den nicht genützten Stärken eines Menschen in der Therapie, geht auf diesen Perspektivenwechsel zurück. Dabei werden die gesundheitsfördernden Kräfte in den Vordergrund geholt und der Blick von der Defizitorientiertheit weggeführt.
34.1.3
Humanistische Implikationen für die psychiatrische und psychotherapeutische Praxis
Um ein Verständnis für die zugrunde liegenden Theorien, Behandlungskonzepte, Anwendungsgebiete und Forschungsergebnisse der humanistischen Therapieformen zu erlangen, kann eine reine Informationsaufnahme nicht den angemessenen Weg darstellen. Eine Auseinanderset-
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Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
Grundlegende Forderungen und Orientierungen in der humanistischen Psychologie (Original: Basic Postulates and Orientations of the Humanistic Psychology; Bugental 1964, S. 23–25) Man, as man, supercedes the sum of his parts (der
Mensch ist nach seinem Wesen mehr als die Summe seiner Teile). Man has his being in a human context (der Mensch kann nicht losgelöst von seinen zwischenmenschlichen Bezügen gesehen werden). Man is aware (der Mensch lebt grundsätzlich bewusst). Man has choice (der Mensch hat Entscheidungsfreiheit). Man is intentional (der Mensch lebt sinn- und zielorientiert). Humanistic Psychology cares about man (die humanistische Psychologie stellt den Menschen in den Mittelpunkt). Humanistic Psychology values meaning more than procedure (die humanistische Psychologie wertet den Inhalt und die Bedeutung einer Fragestellung höher als das methodische Vorgehen).
zung mit humanistischer Therapie oder Psychologie impliziert immer auch eine kritische Reflexion des eigenen Menschenbildes, der eigenen Modelle von Gesundheit und Krankheit und der antizipierten Beziehung, die zwischen professionellem Helfer und dem psychisch oder somatisch Belasteten, der um Hilfe sucht, etabliert werden soll.
Therapie als Begegnung
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Im Kern ist es das Verständnis von Kontakt und Nähe zum Klienten, das auf seiten des Therapeuten den Ausschlag zur Entscheidung für oder gegen ein humanistisches Verfahren bedingen sollte. Cave Eine Therapie im Sinne der humanistischen Verfahren setzt voraus, dass sich der Therapeut auf eine Begegnung mit dem Klienten einlässt, anstatt eine Behandlung durchzuführen.
Obgleich auch in humanistischen Verfahren Interventionstechniken eingesetzt werden, ist es doch in erster Linie die lebendige, Begegnung erlaubende Beziehung zwischen Therapeut und Klient, die eine Veränderung in Gang setzt. Auch die »zu behandelnden« Probleme der Klienten werden als Begegnung behindernde Formen der Kontaktgestaltung gesehen und auf mögliche Handlungsalternativen hin exploriert.
Humanistic Psychology looks for human rather than nonhuman validations (die humanistische Psychologie orientiert sich bei der Validierung an menschlichen Maßstäben und nicht an formalen Kriterien). Humanistic Psychology accepts the relativism of all knowledge (die humanistische Psychologie erkennt die Relativität allen Wissens an). Humanistic Psychology believes heavily upon the phenomenological orientation (die humanistische Psychologie baut auf die phänomenologische Orientierung auf ). Humanistic Psychology does not deny the contributions of other views, but tries to complement them and give them a setting within a broader connection of the human experience (die humanistische Psychologie verleugnet nicht die Beiträge anderer Orientierungen, sondern versucht, diese zu ergänzen und stellt sie in einen breiten Zusammenhang menschlicher Erfahrung).
Unterschied zu anderen Psychotherapieverfahren Am Beispiel eines wesentlichen Wirkfaktors der psychotherapeutischen Behandlung soll ein grundlegender Unterschied zu kognitiv-behavioralen und tiefenpsychologisch orientierten Verfahren verdeutlicht werden. Es handelt sich hierbei um das erlebte Vertrauen der Klienten zum Therapeuten als Hauptvariable für Erfolg, Stagnation oder Misserfolg in der Therapie (Johnson u. Matross 1977). So gibt es eine Reihe von Untersuchungen im lerntheoretischen Paradigma über die zur Bildung von Vertrauen notwendigen Persönlichkeitsmerkmale von Therapeuten. Demnach sind es bestimmte Eigenschaften eines Therapeuten, wie Selbstsicherheit, fachliche Kompetenz, Stabilität, Geduld und emotionale Ausgeglichenheit, die – vorhanden oder nicht – das Ausmaß des Vertrauens seitens des Klienten bedingen (Zimmer 1983). Im humanistischen Paradigma hingegen ist es eine andere Variable, die zu allererst für das Ausmaß des Vertrauens in den Therapeuten verantwortlich ist, nämlich das Ausmaß und die Fähigkeit des Therapeuten, dem Klienten, dem Prozess und sich selbst Vertrauen entgegenzubringen. Anstelle der Forderung: »Der Therapeut muss bestimmte Eigenschaften besitzen und sich so oder so verhalten, damit der Klient Vertrauen entwickeln kann«, steht eine Haltung: »Mein Vertrauen in das Leben und darauf, in ihm ebenso wie der Klient einen Platz zu haben, führt zu einer individuellen Gestaltung der Beziehung in der, auch auf seiten des Klienten, Vertrauen wachsen kann.«
845 34.2 · Die humanistischen Therapieverfahren
Persönlichkeit und Integrität. Hier wird deutlich, dass in humanistischen Verfahren der Persönlichkeit und Integrität des Therapeuten eine große Bedeutung zukommt. Eine Tatsache, die einen oft geäußerten und ernst zu nehmenden Kritikpunkt an humanistischen Verfahren darstellt, denn wie ist diese Integrität im professionellen Setting zu überprüfen? Gleichzeitig ist dies aber auch die Basis dafür, das ebensooft kritisierte systematische Machtgefälle in psychotherapeutischen Behandlungen aufzulösen. Therapie wird zur existentiellen Begegnung von Mensch zu Mensch, in der die Beziehung zwischen zwei oder mehreren Menschen wirkt. Sie ist damit modellhaft für alle anderen zwischenmenschlichen Beziehungen vor, während und nach der Therapie.
34.2
Die humanistischen Therapieverfahren
Zu den humanistischen Therapieverfahren gehören in erster Linie die Gestalttherapie (Fritz Perls) und die Gesprächspsychotherapie, die auch klientenzentrierte, bzw. personzentrierte Psychotherapie genannt wird (Carl Rogers). Neben diesen beiden Hauptvertretern werden häufig das Psychodrama (Jakob Moreno) und seltener die Logotherapie (Viktor Frankl) genannt. In der Literatur findet sich eine Tendenz, Therapieverfahren, die keine lerntheoretisch oder psychodynamisch begründeten Interventionstechniken anwenden, unter der Bezeichnung »humanistische Verfahren« zu subsumieren. Cave Humanistische Therapieverfahren sind aber nicht durch einen alternativen Behandlungsansatz, sondern durch einen alternativen theoretischen Hintergrund gekennzeichnet. Es ist in erster Linie das dieser Therapierichtung zugrundeliegende Menschenbild, das humanistische Verfahren von anderen Therapierichtungen abgrenzt.
Theoretisch können alle Therapieformen, die sich auf existenzialistische, phänomenologische und humanistische Wurzeln stützen, als humanistische Verfahren bezeichnet werden, unabhängig von ihren Interventionstechniken. Dabei wird die Zuordnung oft unterschiedlich gehandhabt. Körperpsychotherapie nach Reich, die Bioenergetik (Lowen), die als eine vereinfachte Form des Verfahrens von Reich bezeichnet werden kann, und die Transaktionsanalyse (Berne) werden einerseits als humanistische, andererseits aber auch als tiefenpsychologische Ansätzen bezeichnet. Die themenzentrierte Interaktion (Cohn), die nach Ruth Cohn selbst ein eigenständiges und unabhängiges Verfahren darstellt, wird dagegen von
einigen Autoren den humanistischen Verfahren zugeordnet. Wichtige Vertreter einer existenziell-humanistischen Psychotherapie sind neben dem schon genannten Viktor Frankl, Rollo May und Ronald Laing und Irvin Yalom. Als frühe humanistische Beiträge zu familientherapeutischen Ansätzen sind vor allem Virginia Satir und Thomas Gordon zu nennen. Den für die heutigen erfahrungsorientierten Ansätze wichtigsten Beitrag neben der Gestalttherapie und der klientenzentrierten Psychotherapie lieferte Eugene Gendlin mit seiner Methode des »Focusing« (Gendlin 1981). Vor allem aus diesen drei Linien entstand der Prozess-Erlebens-Ansatz von Laura Rice, Leslie Greenberg und Robert Elliot (Greenberg et al. 1993) und dessen sehr viel versprechenden Weiterentwicklungen.
Zuordnung wegen berufspolitischer Interessen Bis heute ist es »den« humanistischen Therapieverfahren nicht gelungen, aus dem »lockeren Verbund« einen »geordneten Haufen« zu machen. Die Hoffnung, dass sich die humanistischen Therapieverfahren als »Dritte Kraft« etablieren, hat sich, zumindest in Deutschland, nur zum Teil erfüllt. Warum ist es überhaupt notwendig, eine Zuordnung zu verschiedenen Therapierichtungen zu treffen? Bezieht man den gesellschaftlichen Zusammenhang in diese Überlegung mit ein, wird deutlich, dass es in erster Linie berufspolitische Interessen sind, die diesen Kategorisierungswünschen entsprechen. Warum? Sozialkritische Haltung. Aus der sozialkritischen Hal-
tung der humanistischen Psychologie haben sich weitreichende Auswirkungen ergeben. In den 60er und 70er Jahren, in denen die humanistischen Theorien außerordentlich populär waren, herrschte eine Atmosphäre von Identitätssuche und sozialen Umbrüchen. Die gesellschaftlichen Strukturen wurden als »krankmachend« identifiziert, der Ansatzpunkt zur Veränderung aber im Individuum verankert. Das zentrale humanistische Konzept der menschlichen Begegnung, einer Begegnung, die Selbstverwirklichung, Sinnfindung und Ganzheit ermöglicht, bot sich als Alternative zu den gesellschaftlichen Zwängen an. Ablehnung experimenteller Methoden. Die Kritik an dem
soziokulturellen Kontext umfasste ebenso das vorherrschende wissenschaftstheoretische Verständnis und die positivistischen Forschungsansätze dieser Jahre. Experimentelle Methoden wurden abgelehnt, da diese den humanistischen Ideen diametral entgegenstünden; nur von Vertretern der gesprächstherapeutischen Richtung wurde konsequent eine, von Rogers intendierte, empirische Absicherung des therapeutischen Geschehens verfolgt. So wurde versucht, die Theorien und Konzepte durch theoretische Überlegungen, Introspektion und retrospektive
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Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
Einzelfallstudien plausibel zu machen. Die grundsätzliche Ablehnung hingegen führte dazu, dass humanistische Verfahren nach dem vorherrschenden Effektivitätsdenken nur begrenzte empirische Überprüfung oder Bestätigung erfahren haben. Obwohl die Methoden der Effektivitätsforschung von ihren eigenen Vertretern häufig kritisiert wurden (z. B. Eysenck 1978), kommt ihr doch heutzutage eine wichtige gesellschaftspolitische Bedeutung zu.
als »Übergang der Psychotherapie vom psychoanalytischen Diwan zur psychodramatischen Bühne« (Moreno 1959, S. 81). Die Weiterentwicklung seiner Ideen zu theoretischen Konzepten und konkreten Handlungsanweisungen, die eher formalen Kriterien unterworfen waren, fällt in seine zweite Schaffensperiode in den USA. Im Gegensatz zu den freiheitlichen und kreativen Ansätzen in Wien findet sich in den späteren Arbeiten ein starkes Moment der Strukturierung und Normierung.
Negative Definition. Zurück zu der Frage – Warum also
eine Zuordnung treffen? – findet sich die Antwort in Form einer negativen Auswahl. Humanistische Therapieverfahren sind diejenigen Therapierichtungen, die nicht den Verhaltenstherapien und den tiefenpsychologischen Verfahren zuzuordnen sind; sie waren somit traditionell aus der allgemeinen kassenärztlichen Versorgung ausgeschlossen – und sind es in Deutschland bis heute. Und das, obwohl zahlreiche Elemente und vor allem Methoden der humanistischen Therapieverfahren vor allem in die moderne kognitive Verhaltenstherapie übernommen wurden. Dies trifft auch auf die Gesprächspsychotherapie zu, der trotz eines weitgehenden Konsens zur Anerkennung als wissenschaftlich fundiertes Verfahren die sozialrechtliche Anerkennung als gleichgestelltes Richtlinienverfahren verwehrt wird (zumindest bis zum aktuellen Stand). So wird die Konkurrenz zwischen den entsprechenden Ausbildungsinstituten letztendlich auf Kosten der Therapiequalität und unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit ausgetragen.
34.2.1
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Das Psychodrama
»Da es unmöglich ist, in die Seele des Menschen direkt einzudringen und das, was sich in ihr abspielt, erkennen und sehen zu können, versucht das Psychodrama den seelischen Gehalt des Individuums nach ›außen‹ zu bringen und ihn im Rahmen einer greifbaren und kontrollierten Welt gegenständlich zu machen« (Moreno 1959, S. 111).
Jakob Levi Moreno (1889–1974), geboren während einer Schiffsreise auf dem Schwarzen Meer, zog im 5. Lebensjahr mit seiner Familie von Bukarest nach Wien. In seiner Entwicklung vom geistigen Klima der Donaumetropole geprägt, veröffentlichte er ab 1918 in eigenen expressionistischen Jahresheften (»Der Daimon«). Im Mittelpunkt seiner Gedanken stand das Konzept der menschlichen Begegnungen in ihren kreativen und destruktiven Ausbildungen. Er war der Überzeugung, dass von diesen Begegnungen das Schicksal der Menschheit als Ganzes abhängt. Anfänge des Psychodramas. Ebenfalls in seine Wiener Zeit fallen die Anfänge des Psychodramas. Inspiriert von seinen Straßenspielen mit Kindern, gründete er 1921 das erste Stegreiftheater in Wien und bezeichnete dies später
Konzeption einer Gruppenpsychotherapie. Seine Studien
zur Soziometrie – »einer Wissenschaft, die sich mit der Erforschung und Messung zwischenmenschlicher Beziehungen befaßt« (ebd., S. 46) – bilden die Grundlage seiner Konzeption einer Gruppenpsychotherapie. In seinen »Allgemeinen Grundsätzen zur Gruppenpsychotherapie« (s. ebd., S. 64–69) werden die wesentlichen Bestimmungsmerkmale humanistischer Gruppenpsychotherapie, die auch heute noch Gültigkeit besitzen, in prägnanter Form beschrieben. Moreno selbst bezeichnet sich als »Vater der Gruppentherapie«, was von seinen Kritikern aber vehement bestritten wird. Eine Synthese aus seinen Konzepten zur Soziometrie und zur Gruppenpsychotherapie, erweitert um die spontane Darstellung existenzieller menschlicher Beziehungen, stellt das Psychodrama dar. Morenos Psychodrama. Das Psychodrama Morenos setzt dort an, wo die Möglichkeiten der Gruppenpsychotherapie erschöpft sind (Moreno 1989). Für Moreno sind das Erleben, das Mitteilen und das Durcharbeiten von inneren Konflikten und Blockaden über verbale Kommunikation nur begrenzt möglich. So soll mit Hilfe des Psychodramas eine Tiefentherapie der Gruppenmitglieder erreicht werden. Innere und äußere Erlebnisse werden darin gestaltet und verbalisiert; so wird die »Wahrheit der Seele« erkannt (diagnostisches Kriterium) und die »Seele von Schmerz befreit« (Katharsis). Der Protagonist, d. h. das Gruppenmitglied, das auf der Bühne spontan seine Welt in Szenen beschreibt, erfährt durch die Inszenierung und Durcharbeitung seines persönlichen Dramas die Integration abgespaltener Spontanität, Produktivität und Kraft (vgl. Leutz 1974).
Theoretische Konzepte und Praxis des Psychodramas Mit Hilfe von 5 »Konstituenten« wird in 3 Spielphasen mit unterschiedlichen Techniken das Psychodrama inszeniert. Zu den 5 Werkzeugen des Psychodramas zählen: Die Bühne, auf der die vom Protagonisten ausgewählten Mitspieler die Szenen seines Lebens nachempfinden, sollte vom übrigen Raum und den Zuschauern abgegrenzt sein.
847 34.2 · Die humanistischen Therapieverfahren
Der Protagonist, der sich selbst auf dem »weiten Raum« der Bühne darstellt, sollte das Erlebte so konkret wie möglich wiedergeben. Der Schwerpunkt wird dabei auf das emotionale Wiedererleben gelegt. Durch Mimik, Gestik und Wort werden seine Erinnerungen und Imaginationen lebendig und teilen sich dadurch den anderen Mitspielern und dem Psychodramaleiter mit. Der Psychodramaleiter ist verantwortlich für das Zustandekommen und den Ablauf des Psychodramas. Er übernimmt in den 3 Spielphasen unterschiedliche Aufgaben, wobei er zu jedem Zeitpunkt der Sitzung seinen 3 Funktionen – Spielleiter, Therapeut und Analytiker – gerecht werden sollte. Die Mitspieler oder »Hilfs-Ichs« haben dreierlei Aufgaben. Sie dienen als Mittler zwischen Psychodramaleiter und Protagonist, spielen die abwesenden realen oder imaginären Bezugspersonen des Protagonisten und können als sein Stellvertreter bestimmte Ich-Funktionen übernehmen. Das Publikum bilden die Teilnehmer der Gruppe, die nicht am Spiel teilnehmen. Das Publikum kann dem Protagonisten helfen, in dem es quasi einen Resonanzboden für sein Spiel bildet. Ebenfalls kann aber auch der Protagonist dem Publikum helfen, indem er die »kollektiven Syndrome« der Gruppe auf der Bühne darstellt. Psychodramatechniken. Mit Hilfe der Psychodramatech-
niken, wie z. B. Rollenwechsel, Doppelgängermethode (der Leiter oder ein Hilfs-Ich stellt sich hinter den Protagonisten und wiederholt oder verstärkt seine Äußerungen) oder Zukunftstechnik (eine vorgestellte zukünftige Situation wird so konkret wie möglich simuliert) sollen die dargestellten Szenen deutlicher werden und so das emotionale Durcharbeiten erleichtern.
Brüche. Durch seine – teils ungerechtfertigte – Kritik an den Ausführungen seiner Kollegen geriet er in eine Außenseiterposition. Dies führte dazu, dass die Bedeutung Morenos für die humanistische Psychologie oft falsch eingeschätzt wurde und wird. Auch seine Urheberschaft an Konzepten wie Gruppentherapie, Arbeiten im Hier und Jetzt sowie Gesundheit durch Begegnung wird i. Allg. wenig beachtet. Tatsache ist aber, dass Moreno, v. a. in seinem von existenzialistischen und expressionistischen Gedanken geprägten Frühwerk, Konzepte und Methoden entwickelt und formuliert hat, die von Vertretern der humanistischen Psychologie und Therapie aufgegriffen wurden. »Je näher eine Psychotherapie der Atmosphäre der lebendigen Begegnung kommt, um so größer wird der therapeutische Erfolg sein« (Moreno 1959).
34.2.2
Die Logotherapie
»Mensch sein heißt ja niemals, nun einmal so und nicht anders sein müssen, Mensch sein heißt immer, immer auch anders werden können« (Frankl u. Kreuzer 1986, S. 71).
Viktor Emil Frankl (1905–1997) wuchs in Wien auf und war zunächst Anhänger der Individualpsychologie Alfred Adlers, wurde aber 1927 aus dessen Verein ausgeschlossen. Frankl entwickelte und publizierte seine Ideen unbeirrt weiter und engagierte sich neben seinem Medizinstudium in der Jugendberatung und Suizidprävention. Er wurde Leiter der Wiener Jugendberatung, arbeitete im Rahmen seiner Facharztausbildung in Psychiatrischen Kliniken in Wien, vor allem in der Betreuung suizidaler Patientinnen. Als Jude durfte er im nationalsozialistischen Wien nur mehr Juden behandeln und wurde 1940 Stationsleiter im jüdischen Rothschildspital. Im folgenden Jahr wurden er und seine Familie deportiert.
Die weitere Entwicklung des Psychodramas Die Methoden des Pychodramas finden sich in zahlreichen anderen Therapieansätzen wieder. Als eigenständige Formen haben sich neben dem »klassischen Psychodrama« verschiedene Formen des »tiefenpsychologischen Psychodramas«, aber auch behaviorale Verfahren wie Rollenspiel, Selbstsicherheitstraining und das sog. »Behaviordrama« nach Lazarus etabliert und weite Verbreitung gefunden.
Morenos Bedeutung für die humanistische Psychotherapie Schon lange vor der Gründungsphase der humanistischen Psychologie entwickelte der Psychiater Moreno Konzepte, die sich in der Begriffsbildung und den grundlegenden Ideen von Lewin, Rogers, Perls, Cohn und anderen Vertretern der humanistischen Psychologie wiederfinden. Morenos Werk und Wesen ist voller Spannungen und
Anfänge der Logotherapie. Frankls Eltern, sein Bruder
und seine damalige Frau kamen im Konzentrationslager ums Leben. Frankl selbst wurde schließlich im April 1945 aus Auschwitz befreit. Sein Buch » … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager« (Frankl 2002; Original: 1946) ist bis heute in mehr als 150 Auflagen und ca. 25 Sprachen erschienen. Frankl veröffentlichte zunächst sein im KZ verloren gegangenes, rekonstruiertes Manuskript »Ärztliche Seelsorge«, in dem er die Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse beschreibt (Frankl 1997; Original 1946). Weitere Entwicklung. Ab 1946 war Frankl Vorstand der
neurologischen Abteilung der Wiener Poliklinik, dies bis zu seiner Pensionierung. Zahlreiche Publikationen folgten und Frankl fand bald weltweite Anerkennung für sein Werk und wurde mit Ehrungen überhäuft. Während die
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Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
»Dritte Wiener Schule der Psychotherapie« jedoch nicht nur die humanistischen Psychotherapieverfahren inspirierte und in zahlreichen Instituten gelehrt, bzw. weiterentwickelt und beforscht wird, hat sich Frankls Ansatz, ebenso wie z. B. die »personale Existenzanalyse« seines Schülers Alfried Längle als eigenständige Therapierichtung kaum etabliert, sondern fand seinen Niederschlag vor allem in der Übernahme seiner Ideen.
Grundzüge der Logotherapie und Existenzanalyse Logotherapie als sinnzentrierte Therapie sieht die Suche nach und den Willen zum Sinn als eine Grundmotivation des Menschen. In seiner ganzen Existenz braucht der Mensch Sinnhaftigkeit; ist dieses Bedürfnis frustriert, kann dies zu pathologischen Entwicklungen führen oder diese verstärken. Allein das Leiden an der Sinnlosigkeit selbst mag ausreichend sein und in einer sogenannten noogenen Neurose münden. Die Logotherapie soll den Patienten bei seiner Sinnsuche unterstützen, indem sie Blockaden beseitigt und für die Wahrnehmung möglicher Sinnhaftigkeit sensibilisiert. Dabei sind aber nicht die Werte eines Therapeuten, der Gesellschaft oder einer Therapierichtung zu vermitteln, sondern es gilt mit dem Patienten dessen ganz individuellen Sinnmöglichkeiten zu entdecken. Freiheit des Willens und Wille zum Sinn. Der Mensch ist
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seinem Wesen nach nicht nur Leib und Psyche sondern auch Geist, mit dem er sich über sein Psychophysikum erheben kann, also über das Zusammenspiel von Leib und Seele und deren Erkrankungen. In all seiner Bedingtheit ist der Mensch doch frei, begründet in dieser geistigen Dimension, mit der er sich über seine Triebe, über Erbe und Umwelt erheben kann (Frankl 1998). Eng verknüpft mit dieser Freiheit ist jedoch auch Verantwortlichkeit, nämlich für »die Erfüllung von Sinn und die Verwirklichung von Werten« (ebd. S. 98). Existenzanalyse. Existenzanalyse als theoretische und
praktische Grundlage der Logotherapie umschreibt deren zugrunde liegendes Menschenbild und Forschungsziel und ist zugleich Teil des therapeutischen Vorgehens in der Logotherapie. Im Rahmen der »allgemeinen Existenzanalyse« wird das Sinnbedürfnis und die immer bestehende Möglichkeit zur Sinnfindung mit dem Patienten erörtert um in der »speziellen Existenzanalyse« in einer konkreten Schau der Situation des Patienten und seiner Möglichkeiten mündet. Therapeutische Techniken in der Logotherapie. In der
existenziellen Freiheit des Menschen liegen zugleich die wichtigsten Techniken der Logotherapie begründet, die auf einer Distanzierung zur Symptomatik beruhen. In der paradoxen Intention lernt der Patient, sich von seinen
Symptomen und dysfunktionalen Gedanken zu distanzieren, indem er sich explizit vornimmt, solche zu haben, sie übertreibt und ihnen mit Humor und Ironie begegnet. Frankl sieht die Indikation dieser Methode vor allem bei Ängsten und Zwängen (Frankl 1998) und beschreibt damit bereits die in anderen Therapierichtungen ebenso erfolgreich verwendete Symptomverschreibung. Mithilfe der Dereflexion, die vor allem bei psychosomatischen und sexuellen Funktionsstörungen indiziert ist, soll der Patient lernen, übertriebene Selbstaufmerksamkeit von sich und seinen Symptomen wegzulenken, um so einen Teufelskreis von Bedeutungszuschreibung, Selbstbeobachtung und damit Symptomverstärkung zu unterbrechen, kurz: die Symptome zu ignorieren (ebd. S. 178). Wichtigste Gesprächsmethode in der Logotherapie ist dabei der sokratische Dialog, in dem durch gezielte Fragen und Zusammenfassungen der Gedanken des Patienten dieser unterstützt wird, weiter zu denken, neue Einsichten zu erlangen und sich seiner Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten bewusst zu werden. So soll eine »Einstellungsmodulation« erzielt werden, bei der unrealistische oder gar lebensfeindliche Überzeugungen zugunsten einer bejahenden und wachstumsfördernden Grundhaltung fallen gelassen werden.
34.2.3
Die Gestalttherapie
Zu den Hauptrepräsentanten der humanistischen Therapien zählt die Gestalttherapie, die geprägt ist von dem Bemühen, biologistische sowie mechanistische Auffassungen von der Natur des Menschen zu überwinden. Der Mensch ist frei, sich in der Beziehung zu anderen Menschen und zur Natur in seiner Lebendigkeit zu spüren und auszutauschen. Nur in der Begegnung findet und erfährt er sich selbst in der ganzen Breite seiner emotionalen Ausdrucks- und Erlebnisfähigkeit (in der Gestaltterminologie: Polarität). Wird der psychische Kontakt zur Welt blockiert, kommt es zu Störungen in der Entstehung und im Gewahrwerden von aktuellen Erfahrungen. Diese Blockierungen sind in der Regel auf mangelnde innere und äußere Unterstützung zurückzuführen und stören den Prozess der freien Gestaltbildung in einem OrganismusUmwelt-Feld. Dies bedeutet, dass das Individuum die kontextangemessene emotionale Reagibilität aufgibt und stattdessen versucht, durch stereotype emotionale Reaktionen die organismische Stabilität und Funktionstüchtigkeit aufrechtzuerhalten. Die wichtigsten Konstrukte der gestalttherapeutischen Theorienbildung – die Unterstützung aus Organismus und Umwelt, die Gestaltbildung auf einem Figur-Hintergrund-Prozess, die Grenze als der Ort, an dem Kontakt stattfindet,
849 34.2 · Die humanistischen Therapieverfahren
die Blockierung von Emotionen und Bedürfnissen und die Freisetzung von Kraft und Energie durch Lösung der Blockaden stehen in engem Zusammenhang mit der persönlichen Entwicklung des Begründers der Gestalttherapie Fritz Perls.
Werdegang Fritz Perls Dieser wurde 1893 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren. Durch den ersten Weltkrieg wurde er gezwungen, sein Medizinstudium zu unterbrechen und erlebte als medizinischer Helfer im Fronteinsatz die Sinnlosigkeit des Krieges. Nach dem Krieg beendete er sein Studium und ließ sich als Psychiater nieder. Er wurde Assistent bei Kurt Goldstein und begann eine psychoanalytische Ausbildung, in deren Verlauf er mit einer Reihe namhafter Psychoanalytiker in Verbindung kam. Im Jahr 1933 emigrierte er mit seiner Familie nach Südafrika – dort entwickelte er die grundlegenden Ideen für sein erstes Buch »Das Ich, der Hunger und die Aggression«. Es wurde erst nach seiner Übersiedlung nach New York im Jahre 1946 veröffentlicht. In diesem Werk verwirft er Freuds Libidotheorie und vertritt die Ansicht, dass das zentrale Merkmal der Neurose die Verhinderung der Befriedigung der organismischen Bedürfnisse ist. Von dieser Annahme ausgehend entwickelte er eine Therapieform, die er zunächst Konzentrationstherapie nannte. Erst 1951 wurde der Begriff »Gestalttherapie« durch den Titel des Buches »Gestalt Therapy – Excitement and Growth in the Human Personality«, das er zusammen mit Ralph Hefferline und Paul Goodmann veröffentlichte, geprägt. Gestalt als sinnvoll organisiertes Ganzes. 1952 gründete
Fritz Perls zusammen mit seiner Frau Laura das »Gestalt Institut of New York«. ! »Gestalt« als Synonym für ein sinnvoll organisiertes Ganzes, das zu seinen Elementen in einer besonderen Art in Beziehung steht, trifft am ehesten den für ihn zentralen Kern seiner Therapie: Durch Unterstützung und Kontakt eine Basis zu schaffen, aus der heraus die Bewusstheit für die aus dem Organismus entstehenden Bedürfnisse gefördert wird, um so die Beziehungen und den Kontakt zur Welt lebendig zu gestalten. Gestalttherapie ist bis heute wesentlich durch die charismatische und kreative Persönlichkeit von Fritz Perls geprägt, die – durchaus im Einklang mit der gestalttherapeutischen Sichtweise – auch in ihren dunklen und widersprüchlichen Seiten öffentlich wurde. Die theoretischen Konzepte und deren Publikation sind aber nicht ohne Paul Goodman zu denken. Dieser eröffnete zusammen mit Laura Perls 1953 in Cleveland das zweite Gestaltinstitut. Es kommt zum Bruch zwischen Fritz Perls einerseits und Paul Goodmann und Laura Perls andererseits und
dadurch zur Spaltung innerhalb der ersten Generation von Gestalttherapeuten. Perls’ Arbeitsstil wurde später als Westküstenstil, der von Paul Goodmann und Laura Perls als Ostküstenstil bezeichnet. In seinen letzten Lebensjahren bemühte sich Perls, seine Erkenntnisse in Workshops an Ausbildungskandidaten weiterzugeben. Er verstarb 1970, ohne eine systematische Darstellung seiner Theorien und praktischen Methoden veröffentlicht zu haben. Dass die von ihm angewandten Techniken, zugänglich durch die Veröffentlichung von Therapieprotokollen und auditiven Sitzungsbändern, weithin mit Gestalttherapie gleichgesetzt wurden, beeinträchtigte die Weiterentwicklung und Überprüfung der dahinterliegenden Theorie.
Theoretische Grundannahmen »Der Mensch wird am Du zum Ich« (Buber 1962, S. 32). Gestalttherapeutische Theorienbildung basiert auf den psychoanalytischen Theorien der 1920er und 1930er Jahre, den existenzialistischen Ansichten über Freiheit, Entscheidung und Authentizität und den Ansätzen der Gestaltpsychologie. Das zentrale gestaltpsychologische Konzept der Bildung und Wahrnehmung von Gestalten auf einem FigurHintergrund-Prozess, wurde von Perls aufgegriffen, um die Entwicklung oder Stagnation psychischer Gesundheit und psychischen Wachstums zu beschreiben. So ist eine ungestörte Gestaltbildung die Grundvoraussetzung für eine freie Entfaltung der dem Organismus innewohnenden Energien, die Perls auch als »Erregung« oder »Wille zum Kontakt« bezeichnete. Das Auftreten von gestörten oder pathologischen Prozessen bedeutet demnach eine Störung im Verhältnis der Figur-Hintergrund-Prozesse. Dabei kann entweder die Wahrnehmung der im Vordergrund entstehenden Figur oder die Stützfunktion des Hintergrundes gestört oder beeinträchtigt sein. Ist ein im Vordergrund stehender Prozess vom Rest des Systems isoliert, verändert er das Funktionieren des gesamten Feldes in charakteristischer Weise, und es kommt zu Störungen und Blockierungen. Diese besitzen für den Gesamtorganismus eine Schutzfunktion; sie beeinflussen aber die Figur-Hintergrund-Dynamik zukünftiger Interaktionen und wirken dadurch langfristig pathogen. Ein Ziel der Gestalttherapie ist die Wahrnehmung und Integration von abgespaltenen und isolierten Gestalten und Figuren des Erlebens, so dass alle Teile des Organismussystems wieder miteinander interagieren können.
Das Konstrukt »Kontakt« im gestalttherapeutischen Kontext Der zentrale Begriff in der Gestalttherapie ist Kontakt »als jede Art von lebendiger Beziehung, die sich an der Grenze in der Interaktion von Organismus und Umwelt ereignet«
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Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
(Perls et al. 1992, S. 11–12). Die Kontaktgrenze, die somatisch wie auch abstrahiert psychisch Organismus und Umwelt trennt, ist der Ort, an dem eine Begegnung stattfindet. Unter Kontaktfunktionen versteht man die Prozesse, durch die ein Individuum in der Lage ist, Beziehung zu seiner Umwelt aufzunehmen. Sie betreffen in erster Linie unsere 5 Sinne, darüber hinaus müssen auch unsere Bewegungen und v. a. auch Berührungen sowie Sprache als Grundlage jeglicher Interaktion zu den Kontaktfunktionen gerechnet werden. Kontaktfunktionen finden vor dem Hintergrund der organismischen Funktionen statt, die die notwendige Stützung für den Kontaktprozess darstellen. Kontakt kann also nur Gestalt werden, wenn die Stützung des organismischen Hintergrundes verfügbar ist. Ein dysfunktionaler Hintergrund oder eine dysfunktionale Umwelt verhindern Kontakt und führen zu Störungen der Integration und Organisation von Erfahrungen, die sich dem Therapeuten in Form von Symptomen und Störungen zeigen.
Das Selbst im gestalttherapeutischen Kontext
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Durch eine zunehmende Differenzierung in Innen und Außen, in Ich und Du, bildet der Mensch im Laufe seiner Entwicklung ein reflexives Bewusstsein seiner selbst. Dieses Selbst ist als das System ständiger neuer Kontakte definiert, es ist nichts Konstantes, sondern entsteht in jedem Kontakt in einem Organismus-Umwelt-Feld neu (Butollo 1996; Butollo et al. 2002). Nur wo Kontakt stattfindet, entsteht Selbst und geht direkt in einer Figur, also dem momentan im Hier und Jetzt entstandenen Zentrum der Aufmerksamkeit, auf. Für Perls gibt es an dieser Kontaktgrenze nur »zwei Prozesse um Notständen zu begegnen: die Abstumpfung und die Halluzination« (Perls et al. 1992, S. 47). Diese beiden Prozesse werden individuell unterschiedlich verarbeitet und bewirken festgefahrene und unflexible Verhaltensformen, die zu Kontaktstörungen führen. Diese Kontaktstörungen, die ihren Ausdruck in Beziehungsstörungen und neurotischen Konflikten finden, nehmen in der gestalttherapeutischen Theorienbildung einen breiten Raum ein, sie determinieren das Störungsbild. Eine ausführliche Beschreibung der Kontaktstörungen findet sich bei Polster u. Polster (1993). Unterschieden werden: Introjektion. Sie ist die passive und unkritische Aufnahme
dessen, was die Umwelt anbietet. »Ein Introjekt hingegen ist ein Stoff …, den man in sein Verhaltenssystem aufgenommen, aber nicht so weit assimiliert hat, dass er ein echter Teil des Organismus geworden ist« (Perls et al. 1993, S. 210). Projektion. Hierbei werden bestimmte eigene Teile abge-
lehnt und der Umwelt zugeordnet: »Der Projizierende ist
z. B. nicht gewahr, dass er andere zurückstößt, und glaubt, sie stießen ihn zurück« (ebd., S. 232). Retroflexion. Impulse, die ursprünglich nach außen gerichtet waren, werden auf sich selbst gerichtet: »Wenn wir sagen, dass jemand Verhalten ›retroflektiert‹, so heißt das, er tut sich selbst an, was er ursprünglich anderen Personen oder Dingen angetan hat oder antun wollte« (ebd., S. 166). Konfluenz. Hierbei sind die Gefühle der Zugehörigkeit,
der Wunsch, im sozialen Umfeld aufzugehen, gleichsam mit der Umwelt zu verschmelzen, wichtiger als die eigene Autonomie und Identität, die gefürchtet werden. »Konfluenz ist der Zustand der Kontaktlosigkeit (ohne Grenze des Selbst), während dessen jedoch andere wichtige Interaktionen weitergehen, z. B. physiologische Vorgänge, Umweltreize und so weiter« (Perls et al. 1992, S. 250). Deflektion. Deflektion wurde von Perls mit dem für unseren heutigen Sprachgebrauch etwas verwirrenden Begriff ‚Egoismusǥ versehen: Das Vermeiden des Kontaktes durch Mechanismen, die von der realen (Interaktions)Erfahrung ablenken, wie z. B. die Abwendung des Blickes oder Weitschweifigkeit der Rede. »Im Egoismus ist dem Neurotiker alles bewusst, und über alles weiß er etwas zu sagen, während das Selbst in der Konzentration sich leer fühlt, ohne Bedürfnisse oder Interesse« (ebd., S. 263).
Die therapeutische Beziehung Gestalttherapie baut auf mehrere komplexe Grundpositionen auf: Existenzialismus, Feldtheorie im Sinne Kurt Lewins, Phänomenologie, dialogische Psychologie und Therapie in Anlehnung an Martin Buber. Das sind Grundpositionen, in denen eine Haltung zur psychischen Störung, zum Patienten als Mitmenschen, aber auch zum Therapeuten zum Ausdruck kommt: Die Begegnung hat in der Therapie Vorrang gegenüber einer Interaktion, in der der Therapeut sich gegenüber dem Patienten als Experte definiert und damit professionelle Distanz herstellt, sich als Person aber versteckt. Die Hinwendung an die Gegenwart und gegenwärtige Erfahrung haben Vorrang vor dem Konzeptualisieren vergangener Erlebnisse. Der Aufbau von Selbstunterstützung und Selbstbestimmung hat Vorrang vor einer passiven Patientenhaltung in der Psychotherapie, in deren Verlauf man erwarten kann, »behandelt« zu werden. Es sind in erster Linie die Erfahrungen aus der Beziehung zwischen Therapeut und Klient, die den therapeutischen Prozess der Veränderung in Gang setzen. Sie erhalten ihre Bedeutung von dem, was momentan ist und nicht was war
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oder sein wird. Kontakt findet definitionsgemäß nur im Hier und Jetzt des augenblicklichen Geschehens statt und prägt den therapeutischen Prozess maßgeblich.
Der therapeutische Prozess Gestalttherapie ist ein existenzieller, erfahrensorientierter und experimenteller Ansatz, der über eine zunehmende Bewusstheit oder Gewahrwerdung (»awareness«) der Figur-Hintergrund-Prozesse bewirkt, dass eine frei fortschreitende Gestaltbildung erlebt und bewältigt werden kann. Die Zentrierung der Wahrnehmung auf unmittelbare Kontakterfahrungen im Hier und Jetzt, die durch das aktuelle Erleben und die eigenen Körpererfahrungen bestimmt werden, bilden dabei das Kernstück gestalttherapeutischer Therapiekonzepte.
Wachstumsblockierende Prozesse In der Gestalttherapie wird davon ausgegangen, dass der Klient allein durch den Prozess der Selbstbegegnung mit seiner inneren und sozialen Wirklichkeit die wachstumsblockierenden Konflikte erkennen und integrieren kann. Dementsprechend verläuft der therapeutische Prozess durch mehrere Phasen (Hartmann-Kottek-Schroeder 1994). Perls selbst benutzt das Beispiel einer Zwiebel: Schicht für Schicht der blockierenden Wachstumsstörungen werden im therapeutischen Prozess gespürt und benannt, um dann angenommen, integriert oder zurückgewiesen zu werden. Wichtig in der ersten Phase ist die Bereitstellung von äußerer Unterstützung, die eine Zuwendung zu oft hinter klischeehaften Rollen verborgenen Kontaktformen ermöglicht. In der zweiten Phase geht es um ein differenziertes Erkennen von konflikthaften Hintergrund-FigurProzessen, die sich in der Regel auf 2 Entwicklungslinien konzentrieren: 1. den Umgang mit defizitär erlebten Interaktionen und Eigenschaften; 2. den Einfluss von assimilierten pathogenen Beziehungserfahrungen. In der dritten Phase soll bis dahin Unvereinbares assimiliert und integriert werden. Das Festigen und Erproben der wiedergewonnenen Breite der zwischenmenschlichen Erfahrungen steht in der vierten Phase im Vordergrund.
Interventionstechniken Während des gesamten Therapieprozesses ist die Beziehung zwischen Therapeut und Klient Diagnostikum und Therapie zugleich. Anders als in der klientenzentrierten Psychotherapie wird dabei eine ganze Reihe von Interventionstechniken angewandt, die gegenüber den Klienten auch explizit als Experimente bezeichnet werden. In diesen kommen Elemente des Psychodramas, des
Behaviorismus sowie meditative und körperorientierte Übungen zum Einsatz. Diese Techniken stehen stets im Dienste des therapeutischen Prozesses – Exploration, Gewahrsein, Erweiterung oder Akzeptieren der Kontaktgestalten; sie stellen niemals den Prozess an sich dar. Es war für die Gründer der Gestalttherapie (und wohl auch für die meisten ihrer Schüler) eine Enttäuschung zu sehen, dass Gestalttherapie in der Fachöffentlichkeit nicht selten ausschließlich mit ihren Techniken gleichgesetzt wurde. Laura Perls (1989) betonte, dass stets die persönliche Begegnung im Hier und Jetzt der therapeutischen Situation im Vordergrund steht und diese das Wie und Wann der Interventionen und Techniken maßgeblich beeinflusst. Die therapeutischen Techniken oder auch Experimente dienen der Darstellung (in Form von Rollenspielen oder der Technik des leeren Stuhls) und der Erforschung (indem Emotionen, Empfindungen und deren Ausdruck bewusst wahrgenommen und verstärkt werden) von eigenen Prozessen in der Therapie und wichtigen Interaktionen außerhalb, die so in der therapeutischen Situation erfahrbar und somit bearbeitbar gemacht werden. Sie liefern so in erster Linie eine Verstärkung des Gewahrseins über problemerzeugende Vorgänge. Technik des leeren Stuhls. Konkret lässt sich z. B. die
Technik einer Arbeit mit dem leeren Stuhl als abwechselnde Rollenübernahme beschreiben. Der Klient (ver-) setzt sich während der Arbeit in verschiedene (Rollen) Stühle und spürt und beschreibt die Gefühlsqualitäten, die er empfindet, sowie die Gedanken dazu. Rollen können verschiedene Personen (z. B. sich selbst und den Vater) oder verschiedene Ich-Anteile (der Mutige und der Verzagte) darstellen. Gegensätzliche Emotionen (z. B. der liebende und der hassende Sohn), Wünsche und Bedürfnisse gegenüber anderen, die real nur schwer gezeigt werden können, und unerledigte Erfahrungen aus der Vergangenheit (nicht geschlossene Gestalten, wie z. B. unerledigte Rachegefühle) sollen so identifiziert und zum Ausdruck gebracht und dadurch integriert werden.
Gestalttherapeutische empirische Forschung und Nachweis der Wirksamkeit Die meisten Repräsentanten der humanistischen Psychologie, allen voran Fritz Perls, sahen einen ernst zu nehmenden Widerspruch zwischen humanistischen Verfahren und empirischer Forschung. Der Mensch, der in der Beziehung mit dem Klienten seine Konzentration in Therapeut-Sein und Wissenschaftler-Sein spaltet, blockiert dadurch die existenzielle Begegnung und damit auch die kreative Anwendung bestimmter Interventionstechniken, so die Argumentation. Erst einige aus der nachfolgenden Generation von Gestalttherapeuten überwanden die Skepsis Perls’ und entwickelten innovative Forschungsansätze (vgl. Butollo
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Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
1992). Als Forschungsziel wird v. a. eine genaue Analyse der Wirkungsweise des gestalttherapeutischen Kontakts angestrebt, welche Prozesse also zur Erweiterung des Handlungs- und Erlebenspotenzials des Klienten führen (s. dazu Butollo u. Maragkos 1999; Butollo et al. 1997). Eine herausragende Rolle spielt dabei die Gruppe um Leslie Greenberg, die in konsequenter und akribischer Prozessforschung den Zusammenhang zwischen erfahrungsorientierten Prozessvariablen und Therapieergebnis untersucht und so z. B. in mehreren Arbeiten die Effektivität der Leeren-Stuhl-Technik belegen konnte (z. B. Pavio u. Greenberg 1995), bzw. deren Wirkfaktoren herausarbeitete (z. B. Greenberg u. Malcolm 2002). Neuere Übersichtsarbeiten und Handbücher zeigen die Breite gestalttherapeutischer (Butollo u. Maragkos 1999; Strümpfel 2004) und humanistischer Forschung allgemein (Cain u. Seeman 2002). So mangelt es nicht an Forscherwillen oder -können, auch muss sich die Gestalttherapie mit ihren Ergebnissen nicht verstecken (vgl. dazu die Diskussion im »Sonderheft Forschung« der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie 1992). Untersuchte Störungsbilder sind dabei v. a. affektive Störungen, aber auch psychiatrische Störungsbilder wie Schizophrenie, substanzbezogenen Störungen und psychosomatische Beschwerden. Nach Strümpfel (2004) zeigen sich besonders bei affektiven Störungen gute Effektstärken
und zwar nicht nur bei der Gruppe um Greenberg (z. B. Greenberg u. Watson 1998), sondern auch z. B. bei Beutler und Kollegen (1993). Und trotzdem wird die Wirksamkeit der Gestalttherapie vom psychologischen Mainstream in Deutschland noch nicht anerkannt. Es scheint, als wäre die Rezeption des Forschungsstandes seit der Beurteilung durch Grawe et al. (1994, S. 116) stecken geblieben: »Ihre Wirkungen als klinisches Therapieverfahren sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt viel weniger gut nachgewiesen als für viele andere Behandlungsmethoden, aber die festgestellten Ergebnisse schließen auch nicht aus, dass sich die Gestalttherapie in weiteren Untersuchungen als sehr wirksames Therapieverfahren mit einem breiten Wirkungsspektrum erweisen könnte.«
Tatsächlich hat sich dies längst gezeigt. Die Metaanalyse von Elliot et al. (2004) im Handbuch von Lambert, Bergin und Garfield (2004) bestätigt die Wirksamkeit von Gestalttherapie und erfahrungsorientierten Ansätzen generell. Die Autoren errechnen auf Grundlage von zehn unkontrollierten Wirksamkeitsstudien für die Gestalttherapie eine gemittelte Effektstärke von 1.23, was gemäß der Konvention zur Beurteilung von Effektstärken als hoch gilt. Die mittlere Effektstärke von 0.68 für 3 kontrollierte Studien liegt immerhin im mittleren Bereich. Hier ist erwähnenswert, dass es sich bei den von Elliott et al. untersuchten Studien mit »reiner« Gestalttherapie überwie-
Was Gestalttherapie von traditionellen psychodynamischen Psychotherapien unterscheidet
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Nach dem Wie fragen, statt nach dem Warum: Der Schwerpunkt liegt auf der gegenwärtigen
Echte Begegnung: Die Beziehung zwischen Klient und Therapeut
Wahrnehmung von Selbst, Umwelt und Beziehungen, weniger auf Theorien, Vorstellungen von Selbst, Umwelt und Beziehungen. Innere Szenarien werden im Gestaltdialog aktualisiert, um so das Wie dieser Prozesse kennenzulernen. Orientierung an der Gegenwart: Wenn Vergangenes wirkt, wie wirkt es im Hier und Jetzt? Jeglicher Kontakt ist eine Aktualisierung des Selbst: gegenwärtige Muster der Kontaktentstellung sind so Indikatoren eines sich reduzierenden Selbst. Erweiterung des Selbst hin zu mehr Lebendigkeit: Das Suchen und Kennenlernen nicht wahrgenommener oder nicht gewünschter Seiten des Selbst dient ebenso einer Steigerung der Vitalität, wie das Identifizieren und Unterstützen (im Augenblick des Auftretens) von Impulsen und emotionalem Ausdruck.
ist nicht weniger real als die Beziehungen »draußen«; der Therapeut bringt sich als ganzer Mensch ein, was bedeutet, dass die Gefühle des Klienten auch wirklich ihm gelten, im Jetzt der Beziehung, und nicht allein als Übertragung vergangener Beziehungserfahrungen zu begreifen sind. Prozessorientierung: Im Vordergrund der therapeutischen Arbeit stehen die Erfahrungsabläufe und ihre Implikationen für Selbstwahrnehmung und reale Kontakte. Inhalte von Erfahrungen spielen dabei eine geringere Rolle. Widerstand: Widerstand, so man in diesen Kategorien denkt, wird nicht gedeutet, umschifft oder gar gebrochen, sondern als interessante Äußerung des Selbst in den Vordergrund der Arbeit gestellt.
853 34.2 · Die humanistischen Therapieverfahren
gend um ältere Studien handelt. Die meisten neueren Studien verwenden eher den gemischten prozess-erfahrungsorientierten Ansatz der Greenberg-Gruppe und schneiden damit recht gut ab: In der Einzeltherapie mit einer Effektstärke von 1.26 auf der Basis von 18 unkontrollierten Studien und mit einer Effektstärke von 0.89 auf der Basis von 3 kontrollierten Studien. In der Paartherapie mit einer Effektstärke von 1.40 (10 unkontrollierte Studien) bzw. 1.93 (6 kontrollierte Studien). Interessant und angesichts der heutigen wissenschafts-politischen Lage unumgänglich ist der direkte Vergleich zur kognitiven Verhaltenstherapie als dem heute wichtigsten Richtlinienverfahren. Strümpfel (2004) bereitet dazu einen metaanalytischen Vergleich vor und kommt auf der Basis von 5 Therapievergleichsstudien zu der Schlussfolgerung, dass sich keine statistisch bedeutsamen Unterschiede in der Effektivität finden.
34.2.4
Gesprächspsychotherapie
Wachstumspotenzial des Menschen. Die zentrale Hypo-
these der personzentrierten Therapie besagt, dass jeder Mensch in sich über ein Potenzial verfügt, sich selbst zu verstehen und konstruktiv zu verändern, und dass diese Fähigkeiten am besten in einer wachstums- und entwicklungsfördernden Beziehung freigesetzt werden können. So geht Rogers davon aus, dass sich in jedem menschlichen Organismus eine Tendenz findet, zu wachsen, sich weiter zu entwickeln und die in ihm vorhandenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Dementsprechend stellt die innere phänomenale Welt des Klienten den Mittelpunkt der Therapie dar. In dem Begriff »klientenzentrierte Therapie« wird diese Tatsache hervorgehoben. Dem Therapeuten obliegt die Aufgabe, ein günstiges, die Selbstexploration des Klienten förderndes zwischenmenschliches Klima herzustellen. In diesem soll der um Hilfe suchende Mensch über sich und die Bedingungen seines Problemes eigene Entdeckungen machen und eigene Entscheidungen treffen können.
Theoretische Grundannahmen »Wenn es einem gelingt, dem Inneren eines Menschen nahezukommen, wird man dort immer ein vertrauensvolles, positives Zentrum berühren« (Rogers 1987, S. 300).
Carl Rogers wurde 1902 in den Vereinigten Staaten geboren und wuchs in einer Familie auf, die er als streng und emotional distanziert beschreibt. Er studierte erst Agrarwissenschaften und kam dann, ein radikaler Bruch, über das Studium der Theologie zur Psychologie. Rogers war ab 1949 Professor für Psychologie (Universitäten von Chicago und Wisconsin), später lebte und arbeite er im südkalifornischen La Jolla bis zu seinem Tode 1987. Er galt als einer der führenden Persönlichkeiten der humanistischen Psychologie und Psychotherapie.
Personzentrierte Psychotherapie Rogers begründete um 1940 eine Beratungs- und Therapiemethode, die von Anfang an durch spezifische Theoriebildung und Forschung begleitet wurde. ! Die wichtigste Grundvoraussetzung seiner Methode war (und ist) die ausschließliche Konzentration auf den Klienten. Nach und nach etablierte sich für seinen Ansatz in den USA der Terminus »klientenzentrierte Psychotherapie« (»client-centered therapy«). Rogers selbst präferierte jedoch später die Bezeichnung personzentrierter Ansatz »person-centered«). In Deutschland verbreitete sich hingegen in erster Linie der Begriff Gesprächspsychotherapie. Heute werden die Begriffe im deutschen Sprachraum weitgehend synonym gebraucht, inzwischen mit einer Tendenz zur Bezeichnung »personzentriert«.
Die folgenden Grundannahmen beschreiben die Vorstellungen von einigen dem menschlichen Organismus innewohnenden Gesetzmäßigkeiten, ohne die die Entwicklung und Veränderung nach personzentrierter Sichtweise nicht denkbar ist. Sie stellen somit die postulierten anthropologischen Voraussetzungen für Entwicklung, Wachstum und Reife dar. Es sind dies: Aktulisierungstendenz. Diese besagt, dass der Mensch eine inhärente Tendenz zur Entfaltung seiner Kräfte besitzt. In einem wachstumsfreundlichen Klima wird er sich in umfassender Weise verwirklichen; seine Aktualisierungstendenz kann aber auch durch ungünstige Umweltbedingungen gehemmt oder vollkommen blockiert werden. Durch die differenzierende Funktion der Aktualisierungstendenz kommt es zur Entwicklung des Selbst. Dieses entsteht durch eine wertbestimmte Interaktion zwischen Organismus und Umgebung und bildet über die erlebten Selbsterfahrungen das Selbstkonzept aus. Konzepte des Selbst und des Selbstkonzeptes im personzentrierten Kontext. Rogers geht davon aus, dass im the-
rapeutischen Veränderungsprozess eine Entwicklung stattfindet, die ausgehend von den Symptomen zu einer Beschäftigung mit dem Selbstkonzept und der Selbstwahrnehmung des Klienten führt. Nachdem eine Exploration der verschiedenen Aspekte eines Problems stattgefunden hat, tritt nach und nach das Selbst immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses. ! Unabhängig von der Art der Probleme, die den Klienten zu einer Therapie bewogen haben, geht es also immer um eine vom Klienten wahrgenommene Entfremdung von sich selbst.
34
854
Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
Rogers definiert dieses Selbst folgendermaßen: »Das Selbst-Konzept oder die Selbst-Struktur lässt sich umschreiben als eine organisierte Konfiguration von Wahrnehmungen des Selbst, die dem Bewusstsein zugänglich sind. Es setzt sich zusammen aus Elementen wie den Wahrnehmungen der Charakteristika und der Fähigkeit der Person; den Wahrnehmungen und Vorstellungen des Selbst in Bezug zu anderen und zur Umgebung; den Wertgehalten, die als verbunden mit Erfahrungen und Objekten wahrgenommen werden; und den Zielen und Idealen, die als positiv oder negativ wahrgenommen werden« (Rogers 1978, S. 135).
Erleben (»experiencing«). All das, was sich im Inneren des
Organismus abspielt und dem Bewusstsein zugänglich ist, wird als der Prozess des Erlebens bezeichnet. Das volle Erleben eines Gefühls wird dabei als irreversibles physiologisches Ereignis angesehen. Ein solches Erlebnis stellt eine entscheidende Stelle im therapeutischen Prozess dar. »Veränderung findet in den Momenten statt, in denen eine bislang geleugnete Erfahrung fokussiert und vollständig, offen und akzeptierend erlebt wird« (Rogers 1994). Inkongruenz. Die Bedürfnisse des Organismus, die nicht
immer wahrgenommen werden, und die bewussten Wünsche und Bedürfnisse, die Teile des Selbstkonzepts darstellen und auf bestimmte entwicklungsbedingte Erfahrungen und Bewertungen zurückzuführen sind, können unterschiedliche Gefühlsqualitäten besitzen. Diese Diskrepanz zwischen dem, wie man ist (oder fühlt), und dem, wie man sich selbst sehen (oder fühlen) will, wird als Inkongruenz bezeichnet. Psychisches Leiden entsteht Rogers zufolge durch zunehmende Inkongruenz zwischen Selbstkonzept und organismischer Erfahrung. Je größer diese, in der Regel nicht bewusst wahrgenommene Inkongruenz ist, desto stärker ist die Störung ausgeprägt.
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Zentrale Voraussetzung für die Wirksamkeit der therapeutischen Haltungen ist, dass der Therapeut die vorgestellten Einstellungen nicht als Methoden anwendet. Sie sollen vielmehr dem humanistisch-philosophischen Hintergrund des Therapeuten entsprechend nicht angewandt, sondern vom Therapeuten erlebt und empfunden werden.
Erfassen und Verbalisieren Die psychotherapeutische Begegnung ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit des Therapeuten, die Erlebnisse und Gefühle des Klienten präzise und einfühlend zu erfassen und zu verbalisieren. Empathie, also das sensible Verstehen der Gefühlswelt des Klienten, und akzeptierende Wertschätzung bedingen sich dabei im therapeutischen Prozess wechselseitig. So wird der geschulte Therapeut bei fehlender Wertschätzung erst einmal davon ausgehen, dass er die Gefühle und Erlebnisse des Klienten nicht vollständig erfasst hat. Ist der Therapeut in der Beziehung zu seinem Klienten er selbst, also kongruent, kann er die momentan fehlende Wertschätzung oder Akzeptanz mitteilen. Dabei ist diese Mitteilung keinesfalls ein Urteil über den Klienten, sondern die Mitteilung einer Empfindung, die ein echtes Beziehungsangebot darstellt. Das Konzept der bedingungslosen Wertschätzung ist also nicht als funktionalisiert und dadurch sinnentleert zu sehen. Fehlende Wertschätzung wird nicht als Fehler des Klienten, sondern als fehlende Empathie oder Kongruenz gesehen. Es ist dabei Aufgabe des Therapeuten, die Welt des Klienten in einer Weise zu verstehen, die seine grundsätzliche Achtung vor dem anderen lebendig werden lässt. Das verstehende und einfühlende Interesse des Therapeuten an der inneren Welt des Klienten, die nach humanistischer Einstellung immer auch positive und wachstumsfähige Energien birgt, wird dem Klienten helfen, in der Erkundung der unbekannten Aspekte seines Wesens ein Stück weiterzukommen.
Der therapeutische Prozess Die therapeutische Beziehung »Im Laufe der Entwicklung der klientenzentrierten Psychotherapie hat sich allmählich das Konzept herausgebildet, dass der therapeutische Erfolg in erster Linie nicht vom technischen Wissen und Können des Therapeuten abhängt, sondern davon, ob dieser bestimmte Einstellungen besitzt« (Rogers 1983, S. 22).
Diese Einstellungen müssen für den Klienten im therapeutischen Prozess wahrnehmbar und erfahrbar sein. Sie sind für den Therapieablauf und für die konstruktive Veränderung von ausschlaggebender Bedeutung. Die klientenzentrierten Basisvariablen sind: Echtheit oder Kongruenz des Therapeuten, positive Wertschätzung und uneingeschränktes Akzeptieren des Klienten durch den Therapeuten, Empathie, also die Fähigkeit, die Gefühle und Erlebnisinhalte des Klienten einfühlsam zu erfassen.
Sind die beschriebenen Bedingungen seitens des Therapeuten erfüllt, wird – so die Annahme – ein therapeutischer Wandlungsprozess stattfinden, der als Antwort des Klienten auf die Einstellung des Therapeuten zu verstehen ist. Dieser Prozess verläuft nach Rogers in 7 prinzipiell messbaren Stufen der Veränderung. Die entsprechenden Skalen erfassen die Einstellungen, Selbstkonstrukte und Wahrnehmungen der Klienten. Sie beschreiben zudem den Prozess einer eventuellen Veränderung der Lebensqualität sowie der Veränderung im Gefühlsleben, etwa von der Entfremdung von Gefühlen zur vollen Wahrnehmung derselben. Dieser Prozess kann von außen durch den Therapeuten wahrgenommen, wie auch vom Klienten selbst berichtet werden. Mit der Annahme eines Prozesskontinuums hat die klientenzentrierte Therapie einen wichtigen theoretischen Beitrag zur psychotherapeutischen Forschung geliefert.
855 34.2 · Die humanistischen Therapieverfahren
Theorie der Veränderung »Der Organismus bewegt sich in seinem Normalzustand in Richtung auf seine eigene Erfüllung, auf Selbstregulation und Unabhängigkeit von äußerer Kontrolle« (Rogers 1991, S. 71).
Ausgehend von einigen Grundannahmen der klientenzentrierten Psychotherapie wurde von Rogers eine Theorie des Veränderungsprozesses entworfen (s. Rogers 1978, 1983, 1991). In ihr formuliert er, wie in Abhängigkeit von therapeutischen Einstellungen ein Therapieprozess in Gang gesetzt wird, der zu Persönlichkeits- und Verhaltensänderungen führen kann. Dabei versteht er, gemäß seiner humanistischen Wurzeln, unter einer Persönlichkeitsveränderung eine fortschreitende Entdeckung und Freisetzung blockierter oder fehlangepasster Persönlichkeitsanteile.
Kennzeichnende Merkmale der personzentrierten Psychotherapie Rogers (1983) formuliert eine Reihe von Merkmalen, die die personzentrierte Psychotherapie von anderen Therapieformen unterscheidet (s. Übersicht). Diese Merkmale unterscheiden sich eklatant von den Vorstellungen anderer therapeutischer Schulen, die dem medizinischen Modell stärker verhaftet sind. Das medizinische Modell, das eine Diagnose der Störung, Spezifität der Behandlung und Erwünschtheit von Heilung einschließt, hält Rogers für völlig inadäquat, um mit Menschen zu arbeiten, die psychisch belastet sind. Genau diese universalistische Position wurde Mitte der 80er Jahre für die Entwicklungsstagnation der klien-
tenzentrierten Psychotherapie verantwortlich gemacht. Differenziertere Theorien der Entstehung, des Verlaufs und der therapeutisch induzierten Veränderung psychopathologischer Phänomene werden von der zweiten Generation personzentriert arbeitender und forschender Therapeuten gefordert und entwickelt (Speierer 1994).
Das differenzielle Inkongruenzmodell Ein neuer theoretischer Ansatz ist das »differenzielle Inkongruenzmodell (DIM)« von Speierer (1994). Dieses bezieht sich in seinem Kern auf den auf Rogers zurückzuführenden Ansatz einer pathogenetisch wirksamen Inkongruenz zwischen den organismischen Erfahrungen und dem Selbstkonzept. Das von Rogers unspezifisch angewandte Modell wird im DIM neu expliziert und differenziert, so dass spezifischen Störungen spezifische Inkongruenzerfahrungen zugeordnet werden. Speierer stellt eine störungsspezifische Inkongruenzdynamik vor und lehnt diese an die in DSM und ICD klassifizierten nosologischen Einheiten an. Ermöglicht werden soll so eine individuelle Inkongruenzanalyse, die eine differenzielle Diagnostik, Indikation und therapeutische Handlungsanweisung erlaubt. Das Modell einer differenziellen Inkongruenzdynamik geht davon aus, dass sich bei bestimmten psychischen oder somatischen Störungen bestimmte grundlegende und chronische Inkongruenzerfahrungen finden lassen. Dabei sind es 3 zentrale Bedingungen oder Inkongruenzquellen, die die Entwicklung zu psychischer Gesundheit oder Psychopathologie entscheidend mitbestimmen. Es sind dies:
Merkmale, die die personzentrierte Psychotherapie von anderen Therapieformen unterscheidet (aus Rogers 1983, S. 21–22) Die Einstellungen des Therapeuten (Empathie, Kon
gruenz, Wertschätzung) sind für eine erfolgreiche Therapie notwendig und ausreichend. Der Therapeut, der für seinen Klienten unmittelbar zugegen und zugänglich ist, vertraut auf sein Erleben in der Beziehung zum Klienten. Die phänomenale Welt des Klienten stellt den Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit dar. Die zunehmende Fähigkeit des Klienten, voll im unmittelbaren Augenblick zu leben, kennzeichnet den therapeutischen Prozess der Veränderung. Die Fähigkeit des Organismus zur Selbstverwirklichung stellt die motivierende Kraft in der Therapie dar. Der Prozess der Persönlichkeitsveränderung ist wichtiger als die Struktur der Persönlichkeit.
Unablässige Forschungsarbeit ist wichtig, um wesentliche therapeutische Erkenntnisse zu gewinnen.
Auf alle Personen sind die gleichen therapeutischen Prinzipien anzuwenden.
Sämtliche Erkenntnisse aus dem Bereich der Psychotherapie lassen sich verallgemeinerrn, da Psychotherapie nur einen Sonderfall aller konstruktiven zwischenmenschlichen Beziehungen darstellt und nicht etwas fundamental anderes. Theoretische Formulierungen müssen auf dem Boden der Erfahrungen aufbauen. Aus der psychotherapeutischen Praxis ergeben sich philosophische Folgerungen, die zu berücksichtigen sind.
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Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
1. Die bioneuropsychologische Disposition, 2. die Lebensereignisse, die auf das Individuum einwirken, und 3. die sozialkommunikativen Bedingungen und Erfahrungen. Erlebte Inkongruenzen können sich gegenseitig summieren und ihre pathogenetische Wirkung potenzieren, aber auch durch Bewältigungsstrategien kompensiert und selbstverträglich gemacht werden. Die Analyse einer störungsspezifischen Inkongruenzdynamik setzt sich also aus der Beziehung von Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten mit dem individuellen Erleben von unangenehmen und beeinträchtigten Strukturen sowie Funktionen der Persönlichkeit zusammen. Die Therapietheorie des DIM setzt an einer personenzentrierten und phänomenologischen Inkongruenzanalyse an. Durch einen selektiven und adaptiven Einsatz von Interventionsstrategien sollen gezielt und differenziell spezifische Inkongruenzerfahrungen bearbeitet und deren Auflösung gefördert werden.
Personzentrierte empirische Forschung und Nachweis der Wirksamkeit
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Ausgehend von Rogers, der einer kritischen empirischen Erforschung seiner Methoden und Annahmen ausgesprochen positiv gegenüberstand und diese nachdrücklich einforderte, ist mittlerweile eine unüberblickbare Vielzahl von Untersuchungen entstanden. Die Wirksamkeit der hypothetisch angenommenen Therapiebedingungen seitens der Therapeuten – ein genaues und einfühlendes Verstehen, eine nichtbesitzergreifende Wärme und Wertschätzung sowie Echtheit gegenüber dem Klienten – konnte insgesamt bestätigt werden (Rogers 1994), wenn auch weniger eindeutig als erhofft (Übersicht bei Sachse u. Elliott 2002). In Deutschland war es zunächst v. a. die Gruppe um Reinhard und Anne-Marie Tausch, die sich um die empirische Fundierung der personzentrierten Therapie bemüht hat (z. B. Tausch 1975), später die Gruppen um Sachse (z. B. 1995) und Teusch (z. B. Teusch et al. 2001). Bereits Grawe et al. (1994), deren Metaanalyse in Deutschland offensichtlich eine maßgebliche Rolle bei der Entscheidung über die Kostenübernahme von Psychotherapien zukam, fanden, man müsse »der Gesprächspsychotherapie eine sehr überzeugend nachgewiesene Wirksamkeit bescheinigen. Die Ergebnisse sind bemerkenswert, wenn man an das Spektrum von Störungen denkt, auf die Gesprächspsychotherapie angewandt wurde, und an die relativ kurze Therapiedauer, in der die Effekte erreicht wurden« (S. 134). Gerade weil die durchschnittliche Therapiedauer in den von Grawe et al. (1994) untersuchten Studien unter 20 Sitzungen lag, ist Eckert (1996) der Ansicht, dass die Metaanalyse der Grawe-
Gruppe die tatsächliche Effektivität der personzentrierten Psychotherapie unterschätzt. Auch deren weitere Schlussfolgerung, nämlich dass die Gesprächspsychotherapie in ihrer Wirksamkeit den kognitiv-behavioralen Therapieverfahren unterlegen ist, halten sowohl Eckert (1996), als auch Elliott et al. (2004) nach den vorliegenden Daten für nicht gerechtfertigt. Eine Re-Analyse durch Elliott et al. (2004) unter Einbezug neuerer Studien und statistischer Kontrolle der jeweiligen Schulenzugehörigkeit, ergab keine signifikanten Unterschiede in der Wirksamkeit von personzentrierter Psychotherapie im Vergleich zur kognitiven Verhaltenstherapie. Diese Gleichwertigkeit (und in Einzelvariablen sogar mögliche Überlegenheit) zeigte sich z. B. in der Studie von Teusch et al. (2001) bei Patienten mit Agoraphobie und bei Watson et al. (2003) für Depression. In der Metaanalyse von Elliott et al. (2004) lag die mittlere Prä-Post-Effektstärke bei 0.91 (auf einer Berechungsbasis von 52 unkontrollierten Studien) und bei 0.78 für im Vergleich zu einer Kontrollbedingung (11 Studien). Darüber hinaus konnte ein Review von 40 katamnestischen Untersuchungen die anhaltende Wirksamkeit auch nach Beendigung der Gesprächspsychotherapie belegen (Frohburg 2004).
34.3
Anwendung humanistischer Verfahren
Humanistische Verfahren finden breite Anwendung sowohl im ambulanten als auch stationären Setting. Neben der herkömmlichen Einzeltherapie spielen paartherapeutische Ansätze und Gruppentherapie eine gleichberechtigte Rolle, so z. B. im Rahmen der Suchtbehandlung, bei chronischen Krankheiten und allgemein in psychosomatischen Kliniken, also in Einrichtungen, in denen die Behandlungskonzepte nicht den derzeitigen kassenärztlichen Richtlinien der einzeltherapeutischen Behandlung unterworfen sind und dadurch offiziell einen humanistischen Therapieansatz erlauben. Die Breite der Anwendungsgebiete ergibt sich aus den theoretischen Grundannahmen der humanistischen Psychologie, die psychische Störung immer als Störung des ganzen Organismus-Umwelt-Systems begreift, so dass die therapeutische Antwort stets in der Bewusstmachung gestörter Prozesse, der Übernahme eigener Verantwortung und in der echten Begegnung zweier oder mehrerer Menschen liegt.
34.3.1
Diagnose und Indikation
Gesprächspsychotherapie Der personzentrierte Ansatz richtet den Fokus im Beziehungsgeschehen auf das Gespräch, auf einfühlendes Ver-
857 34.3 · Anwendung humanistischer Verfahren
stehen und authentische Kommunikation. So ist die Form, in der klientenzentrierte Therapie behandelt, klar definiert: »Der Therapeut hat sich um echte, unbedingt wertschätzende Empathie zu bemühen – und um sonst nichts« (Biermann-Ratjen et al. 1992, S. 119). ! Ziel der personzentrierten Therapie ist, dass der Klient eine vergleichbare Beziehung zu sich selbst aufbauen kann, wie sie der Therapeut ihm anbietet. Erlebt er sich selbst als echt und kann sich kongruent mit unbedingter Wertschätzung begegnen, so die Theorie, wird seine Inkongruenz im Erleben aufgelöst. Probleme, Krankheitsbilder, Verhaltensdefizite und Probleme, die immer eine Folge der erlebten Inkongruenz darstellen, sind demnach zur Indikationsstellung irrelevant. Einzige und ausreichende Bedingung zur Anwendung einer personzentrierten Therapie ist die Fähigkeit des Klienten, sich auf das Beziehungsangebot des Therapeuten einzulassen und es anzunehmen. Demnach wäre für alle Formen psychischer Störungen eine personzentrierte Therapie angezeigt, da eine störungsspezifische Indikationsstellung mit deren Grundpostulaten nicht in Einklang steht. Das allerdings ist ein Postulat, das empirischer Prüfung grundsätzlich zugeführt werden muss und auch wird, wie z. B. die Ansätze zu einer störungsspezifischen Krankheitslehre von Speierer (1994) zeigen. Tatsächlich wurde die Anwendbarkeit der personzentrierten Methode in vielen Studien empirisch untersucht, und ihren Vertretern zufolge gilt es als gesichert, dass »die klientenzentrierte Psychotherapie zur Behandlung nahezu aller psychiatrischer Krankheitsbilder geeignet ist« (Jerneizig 1996, S. 43). Parallel zur Verbreitung der therapeutischen Methode hat eine Übertragung in andere Wirkungsbereiche stattgefunden. Personzentrierte Ansätze wurden in den Bildungsbereich, in die Schulpsychologie, in unterschiedliche Beratungstätigkeiten, aber auch in die Wirtschaft und Gemeindearbeit transferiert und dort mit Erfolg angewandt.
Gestalttherapie Gestalttherapie hingegen richtet den therapeutischen Schwerpunkt auf Erfahren und Experimentieren, also gemeinsames Erleben. Gleichzeitig wird durch das Konzept der Figur-Hintergrund-Dynamik eine persönlichkeitsund prozessorientierte Gewichtung der therapeutischen Arbeit unterstützt. So wird bei gestörten Hintergrundprozessen (z. B. Persönlichkeitsstörungen) das Kontaktangebot eine strukturstützende, die persönlichen Grenzen stabilisierende Beziehung ermöglichen. Bei einer Blockierung der Wahrnehmung der im Vordergrund entstehenden Gestalten, wird eine autonomieorientierte und konfrontative Haltung des Therapeuten das Beziehungsgeschehen prägen. Awareness-Übungen, die Fokussierung auf die Körpersprache und Zwei-Stuhl-
Arbeiten sind Beispiele für eine Vielzahl technischer Hilfen, mit denen die Gewahrwerdung von Erregung, Ärger, Angst, Freude und Kraft im Bewusstsein seiner selbst und in der gelebten Beziehung zum Therapeuten unterstützt werden. Die theoretischen Konzepte der Gestalttherapie erlauben es, sowohl strukturelle Störungen als auch Funktionsstörungen als Sonderformen der Kontaktgestaltung zu verstehen. In der spezifisch gestalttherapeutischen Situation wird durch eine fortschreitende und differenzierte Wahrnehmung und Interpretation der Wirklichkeit, die Neuorganisation und Reintegration ehemals pathogenener und nach wie vor mental repräsentierter Beziehungserfahrungen ermöglicht. Motivation statt störungsspezifische Indikation. Sowohl
in der personzentrierten Psychotherapie als auch in der Gestalttherapie steht eine störungsspezifische Indikation also eher im Hintergrund. Wirkfaktor ist in erster Linie die therapeutische Beziehung und die Steigerung der Bewusstheit für die eigenen Prozesse (ob nun im Sinne der Selbstexploration und des Abbaus von Inkongruenzen durch Erweiterung des Selbstkonzepts oder durch Steigerung der Awareness für das eigene Kontaktverhalten). Eine Indikation ist also immer dann gegeben, wenn eine Person die Motivation zeigt, zusammen mit einem Therapeuten an sich selbst zu arbeiten, um dysfunktionale, Leiden erzeugende Selbstprozesse zu explorieren und zu verändern, z. B. Inkongruenzen und Kontaktstörungen, wie in jeder anderen Therapie auch. Diese Haltung wird dort problematisch, wo humanistische Grundpositionen, wie die grundsätzliche existenzielle Freiheit und Selbstverantwortung des Individuums (und damit sein Recht auf Autonomie), vernachlässigt werden. Praktischer gesagt: wenn die Therapiemethode oder die Bedürfnisse der Therapeuten mehr zählen als das Anliegen der Klienten nach Hilfe. Die Indikation muss also im Einzelfall überprüft werden, ob eine spezielle Person von einem bestimmten Verfahren, vertreten von einem bestimmten Therapeuten, profitieren kann. Dies hängt jedoch nicht nur von Diagnosenkategorien ab, sondern auch von Faktoren zwischen Klient und Therapeut. Es wird nicht davon ausgegangen, dass es ganze Klientengruppen gibt (wie z. B. »die Psychotiker« oder »die Persönlichkeitsgestörten«), für die eine allgemeine Gegenindikation für humanistische Verfahren vorliegt.
Diagnostik Diagnostik wurde in der humanistischen Psychologie lange äußerst kritisch behandelt. Weder Rogers, noch Perls oder ein anderer früher Vertreter hielten klinisch-psychologische Diagnostik für ein notwendiges Vorgehen im Rahmen einer Psychotherapie. Die Gefahr der Festschreibung einer Person mittels einer Diagnose widerspricht dem prozessorientierten Konzept der organismischen
34
858
Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
Selbstregulation; ein Individuum ist nicht schizophren, sondern handelt und erlebt in einer als schizophren bezeichneten Weise. Diagnostische Klassifikation birgt somit immer die Gefahr des Schubladendenkens und damit einer Einschränkung der Wahrnehmung. Die heutige Diagnostik, v. a. wie sie sich im DSM-IV präsentiert, ist der humanistischen Position mittlerweile entgegengekommen. Dies zeigt sich v. a. in der möglichst streng phänomenologischen Haltung und der multiaxialen Beurteilung (vgl. Finke 1992). Die moderne klinischpsychologische Diagnostik ist für eine sinnvolle empirische Forschung unerlässlich. Darüber hinaus dient ausführliche Diagnostik, und zwar therapiebegleitend, im Einzelfall letztlich dazu, so genau wie möglich die Bedürfnisse des Individuums zu erfassen, um die therapeutische Vorgehensweise daran anpassen zu können. Gerade am Beispiel »Schizophrenie« wird dies im Folgenden deutlich. Um in dieser offenen Indikation nicht den Überblick über die Begründbarkeit eines Vorgehens im »Einzelfall« zu verlieren, ist gleichsam operationalisierte Selbstkritik im Sinne einer Qualitätskontrolle nötig (vgl. Gaebel 1986). Eine wesentliche Rolle spielen dabei 2 Aspekte: 1. Prozessbegleitende Diagnostik: Ist das therapeutische Angebot auch im weiteren Entwicklungsverlauf geeignet und kann es vom Klienten genutzt werden? 2. Prozessbegleitende Evaluation: Werden die angestrebten Ziele erreicht?
Methodenkombination
34
Dabei sind humanistische Verfahren offen für ein multimodales Vorgehen: Der Umgang mit Medikamenten lässt sich ebenso integrieren wie verhaltenstherapeutische Konfrontation, wo diese angezeigt sind (z. B. Butollo u. Hagl 2003). Gerade in ihrer relativen Methodenvielfalt und -freiheit, wenn sie auch immer der therapeutischen Beziehung und den humanistischen Grundpositionen untergeordnet bleibt, liegt die Stärke der humanistischen Verfahren. Dies zeigt sich gerade im modernen ProzessErlebens-Ansatz (Greenberg et al. 1993). Darüber hinaus haben die humanistischen Positionen auch in anderen Therapierichtungen, gerade in der Verhaltenstherapie, Eingang gefunden, z. B. hinsichtlich der Betonung der therapeutischen Beziehung. Oft werden aber nur, um einem Trend in der Szene zu entsprechen, die Begrifflichkeiten übernommen, ohne sie mit den entsprechenden Inhalten zu füllen, da theoretisches Hintergrundwissen und therapeutische Grundhaltung fehlen. So wird Gestalttherapie allzuoft reduziert auf ihre sog. Techniken, wie etwa die Arbeit mit dem leeren Stuhl, die sich oberflächlich gesehen leicht erlernen und anwenden lässt. Dabei liefert aber gerade die Gestalttherapie, ebenso die Gesprächspsychotherapie, ergiebige theoretische Hintergründe zum Begreifen und zur Behandlung psychischer Störungen, wie nachfolgend dargestellt wird.
34.3.2
Angststörungen – ein Vergleich von Gestalttherapie und personzentrierter Psychotherapie
Panik und Angst aus gestalttherapeutischer Sicht Fritz Perls sieht Angst als ein Grundsymptom, das dem Therapeuten bei fast allen Patienten begegnet (Perls et al. 1993). Alle Formen der Angst haben für ihn einen gemeinsamen Ursprung – »Angst ist das Erlebnis der Atemnot bei jeder blockierten Erregung« (ebd., S. 148). Aus der Art der blockierten Erregung (z. B. Blockierung von Aggression oder Blockierung von Sexualität), die immer nur im Zusammenhang mit einem Gegenüber gedacht werden kann, resultiert für ihn die Qualität der Angst. Laura Perls führt aus, dass Angst immer auch etwas mit fehlender Stütze zu tun hat. Fehlende Unterstützung führt zu einer Unsicherheit des Kontaktgeschehens an der Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren; dies löst massive Ängste aus. Ich-Grenze und Selbstunterstützung. Die von Gestaltthe-
rapeuten angenommene Ich-Grenze als der Ort, an dem Begegnung stattfindet, setzt sich zusammen aus den Kontaktmöglichkeiten eines Menschen (Polster u. Polster 1993). »Die Grenzen des menschlichen Wesens, die IchGrenzen, sind durch seine sämtlichen Lebenserfahrungen und seine eingebauten Fähigkeiten bestimmt, neue und intensivierte Erfahrungen zu assimilieren« (ebd., S. 110). Wird diese Ich-Grenze durch Aktionen der Umwelt oder eigene Impulse bedroht, reagiert der Mensch mit dem Versuch, seine Grenzen zu sichern, um im Kontaktgeschehen sein Selbst zu schützen. Je geringer nun das Vertrauen eines Menschen in seine Möglichkeiten der Selbst-Unterstützung ist, desto mehr wird der Versuch unternommen, diese fehlende Unterstützung durch schützende und wenig bedrohliche Beziehungsstrukturen zu kompensieren (Staemmler u. Bock 1991). Zwischen Autonomie und Sicherheit. Die gestaltthera-
peutische Perspektive der Angststörungen geht davon aus, dass die Patienten zwischen ihren Wünschen nach Autonomie (»Freiheit«) und Sicherheit durch Zugehörigkeit (»Unfreiheit«) verharren (Butollo et al. 1999, 2002). Sie können gleichsam weder vor noch zurück. In der Gestalttherapie wird zwischen diesen beiden Polen extremer Beziehung, der Isolation und der Konfluenz, die Fähigkeit zur Gestaltung der Kontakte gefördert. Damit soll sich der pathologisch gewordene Appell der Klienten nach Hilfe erübrigen. Rolle der Selbstprozesse. Das Selbst des Menschen gestaltet und reguliert das Kontaktgeschehen im weitesten Sinne.
859 34.3 · Anwendung humanistischer Verfahren
Bei Angstproblemen sind die Prozesse des Herstellens und Lösens von Kontakt beeinträchtigt. Angststörung wird somit als Selbststörung gesehen, vom Klienten jedoch durch die Fixierung auf das Angstproblem nicht als solche wahrgenommen. Gestalttherapie arbeitet primär an diesen vom Selbst organisierten Kontaktprozessen, und zwar direkt im Kontaktgeschehen. Menschen, die unter Ängsten leiden, vermeiden mehr als andere belastende Situationen und Begegnungen. Das gilt nicht nur für Situationen, in denen diese Ängste ausgelöst werden. Menschen mit Angststörungen vermeiden ganz allgemein Kontakt mit ihrer Wahrnehmung, ihren Gefühlen, und natürlich auch mit ihrem Angstgefühl. Sie nehmen sich damit die Möglichkeit, neue Erfahrungen in solchen Situationen zu machen. Es bleibt alles bei den alten Grenzen – und damit auch bei den alten Überzeugungen von sich selbst. Kontakt setzt voraus, dass man sich selbst als getrennt von dem Wahrnehmungsinhalt erlebt, mit dem Kontakt aufgenommen wird. Das klingt trivial, ist jedoch bei Personen mit Angststörungen nicht selbstverständlich. Die erweiterte Theorie der angstbedingten Kontaktstörung besagt, dass Reduktion von Angsterregung mit Hilfe einer Art Selbstaufgabe angestrebt wird: Konfluenz oder Identifikation mit dem als fremd erlebten Wahrnehmungsinhalt.
Das gestalttherapeutische Vorgehen bei der Therapie von Angststörungen Angststörungen dominieren die Gesamtpersönlichkeit des Patienten in vielfältiger Weise. Die Konzentration auf Angstverhalten in Diagnose und Therapie verhindert gleichsam die Wahrnehmung anderer Störungsbereiche, etwa in der Beziehungsgestaltung. Cave Wer sich dem Patienten derart mit einer auf Angstabläufe fixierten diagnostischen Fragestellung nähert, übersieht leicht, welche Defizite im Bereich der psychischen Struktur, im Bereich der Palette der Gefühle, der Selbstwahrnehmung, in der Beziehungsfähigkeit und im Übertragungsprozess vorliegen (Butollo et al. 1997).
Angst als Deckemotion. In gewisser Weise dient die
Angststörung als Deckemotion für andere Problembereiche. Gelingt es nicht, diese Problembereiche zu identifizieren und durch therapeutische Arbeit einer Veränderung zuzuführen, besteht die Gefahr, dass selbst bei erfolgreicher Angstreduktion neue Problemfelder gefunden werden müssen, um diese Deckfunktion zu übernehmen. Bedingt durch die bei Angststörungen typische Struktur der Patient-Therapeut-Beziehung wird das volle Ausmaß der Störung eher kaschiert.
Wie eingangs erwähnt, hat Angst im weitesten Sinne etwas zu tun mit der Unterdrückung von Lebendigkeit. Die Wurzeln der Angst sind im mangelnden Vertrauen gegenüber dieser Lebenskraft und den daraus resultierenden Folgen begründet. Gestalttherapeutische Arbeit konzentriert sich, insgesamt gesehen, auf eine Unterstützung des Klienten dahingehend, seine Lebendigkeit wiederzuentdecken und sie im zwischenmenschlichen Kontakt zu riskieren. Beachtet man, dass lediglich 10–15% der Patienten in den Jahren nach der Therapie symptomfrei blieben (Fava 1996), scheint es dringend geboten, das Erleben der Angst in einen größeren Zusammenhang zu stellen und die Angst in das Selbstbild des Patienten zu integrieren. Gefühlsdifferenzierung. Butollo et al. (1997) zeigten, dass
sich diese Arbeit statistisch bedeutsam auch im Bereich der Angstreduktion auswirkt. Die gestalttherapeutische Arbeit führt in der Regel zu einer Angstdifferenzierung, und zwar derart, dass andere Gefühle stärker in den Vordergrund treten. Dadurch erhält der Klient mehr Gefühlssicherheit. Dies bedeutet, er kennt sich auch in diesen Gefühlen besser aus, weiß, dass diese Gefühle, auch wenn sie schwierig sind, ertragen und ausgedrückt werden können. Ergebnis ist ein insgesamt differenzierteres Selbst. Lebendige dialogische Beziehung. Die Plattform, auf der
sich diese therapeutische Arbeit abspielt, ist die lebendige dialogische Beziehung. »Lebendige dialogische Beziehung« heißt, dass auch der Therapeut es riskiert, in eine echte Begegnung mit dem Klienten einzutreten, er seine »professionellen Schemata« etwas in den Hintergrund treten lässt, wirklich auch als Person und nicht nur als Fachmann dem Klienten begegnet. Für die Klienten verschiebt das die Ebene des Lernprozesses vom Lernen durch »gesagt und doziert bekommen«, mehr in Richtung auf ein Lernen durch Erfahrung, durch »gezeigt bekommen«. Lernen durch »sagen« ist eine Seite der Wirklichkeit in der Therapie, lernen durch »sich-zeigenlassen« (erfahren) eine andere. Phobie vor dem Selbstverlust. In die Leere der Gegenwart
einzutreten, scheint ein ganz besonderes Risiko für phobische Patienten zu sein, die häufig sehr stark aus Klischees heraus agieren und mit Hilfe dieser Klischees die Zukunft vorzustrukturieren versuchen. Ob dafür eine strukturelle Schwäche verantwortlich ist, etwa im Sinne einer gestörten Entwicklung von Sicherheit in Beziehungen, darüber kann vorläufig nur spekuliert werden. Dieser Hypothese zufolge wäre die Mobilisierung des Selbst in der Gegenwart erschwert. Das wiederum würde ein geringes Vertrauen gegenüber den in der Gegenwart entstehenden Bedürfnissen zur Folge haben. Damit einher geht die Angst des »Selbstverlustes« in unstrukturier-
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Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
ten Situationen. Wenn nicht die Phobie als Gesprächsthema vorgegeben wird, kann nichts Substanzielles im Kontakt »geboten« werden, das Situationserleben läuft Gefahr zu entgleisen. Die Therapie versucht, diese »Phobie vor dem Selbstverlust« auch dadurch zu lösen, dass neue Erfahrungen in Kontaktmöglichkeiten gemacht werden, die aber erst dadurch entstehen, dass man das Risiko eingeht, in die Leere des noch nicht gestalteten Kontaktes einzutreten. Es ist ein Risiko, ins Leere hinauszutreten und dem Leben zu vertrauen. Denn das, was kommt, erhält seinen Sinn und seine Bedeutung durch die Entscheidung des Erlebenden. Das ist schließlich auch eine der wesentlichen Botschaften, die im gestalttherapeutischen Ansatz zwar nicht gelehrt, aber gezeigt und damit erfahrbar gemacht wird.
Panik und Angst aus personzentrierter Sicht 1947 beschreibt Rogers in 19 Hypothesen seine Theorie der Persönlichkeit und des Verhaltens (s. Rogers 1978, S. 418–451); diese ist heute durch Erkenntnisse aus systemischer und konstruktivistischer Forschung aktueller denn je. Angst beschreibt er darin als Spannung, die das organisierte Konzept des Selbst entfaltet, wenn vorbewusste Hinweise bestehen, dass eine Symbolisierung bestimmter Erfahrungen für die Organisation gefährlich und schädlich wäre. Rogers geht davon aus, »daß das Individuum Erfahrungen vor dem Bewußtsein leugnen kann, ohne daß es sich ihrer je bewußt gewesen ist« (ebd., S. 437). ! Dies heißt mit anderen Worten, dass die Emotion Angst als eine Abwehrreaktion des Organismus vor einer Beschädigung der Selbststruktur zu sehen ist.
34
Wahrnehmungen, die den Organismus, das Selbst bedrohen, sind diejenigen Erfahrungen, die mit dem Selbstkonzept nicht übereinstimmen, also die Inkongruenzen. Da die Wahrnehmung der tatsächlichen Bedrohung, die nicht bewusst sein muss, nicht vollständig abgewehrt werden kann, kommt es zu massiven Gefühlen der Angst oder einer ersten Panikattacke. Das Ausmaß der Angst steht im Zusammenhang mit dem Ausmaß der Bedrohung. Rogers geht davon aus, dass die Angst den Organismus vor einem drohenden Zusammenbruch schützt, da er sich mit den unerklärlichen Angstgefühlen und nicht mit den Gefühlen, die mit inkongruenten Erfahrungen in Verbindung stehen, auseinandersetzen muss. Spezifische Inkongruenzen. Klientenzentrierte Theoreti-
ker der zweiten Generation spezifizieren für die verschiedenen Störungen idealtypische Muster, die dem fundamentalen Krankheitskonzept der Gesprächspsychotherapie entsprechen (Speierer 1994). Es werden spezifische Inkongruenzen identifiziert, in deren Gefolge spezifische wachstumsblockierende Emotionen und Störungen ent-
stehen. Für den Bereich der Angststörungen wird angenommen, dass eine unzureichende Selbstentwicklung zu einer Inkongruenz zwischen Selbstbild (mangelndes Vertrauen in die eigenen Kräfte) und Selbstideal (Wünsche nach Unabhängigkeit und Kontrolle) führt (Speierer 1994). Charakteristisch für Klienten mit Angststörungen ist die stark ausgeprägte Außenorientierung und die Abhängigkeit von anderen Meinungen, auch wenn diese anderen keine wichtigen Bezugspersonen sind. Gleichzeitig findet eine innere oder auch verbalisierte Abwertung dieser Abhängigkeit statt (Walkobinger 1996). Widersprüche auflösen. Der Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Ungebundenheit und dem Bedürfnis nach Sicherheit kann dann, im Zusammenhang mit intra- und interpersonellen Konflikten, die dem Selbst oft nicht zugänglich sind, zum Ausbruch einer Angststörung führen (Teusch u. Finke 1995). In der Gesprächspsychotherapie geht es nun darum, diesen Widerspruch im Selbst aufzulösen. Teusch u. Finke wie auch Walkobinger entwickelten, aufbauend auf die grundlegenden klientenzentrierten Therapieprinzipien, Behandlungstechniken, die ein störungsspezifisches Vorgehen ermöglichen.
Das personzentrierte Vorgehen bei der Therapie von Angststörungen Rogers entwickelte die Merkmale des therapeutischen Prozesses störungsunabhängig. Für ihn galt, dass die Therapieprinzipien Kongruenz, empathisches Verstehen und bedingungsfreies Akzeptieren hinreichende Voraussetzungen zur konstruktiven Veränderung darstellen. Die Annahme der Störungsspezifität und das Entwickeln von differenziellen therapeutischen Handlungsanweisungen stellt nun eine Weiterentwicklung der ursprünglichen Annahmen Rogers’ dar. Teusch u. Finke stellten 1995 ein Behandlungsmanual vor, das störungsbezogene Handlungsregeln in der Therapie von Angststörungen beschreibt. Die gesprächspsychotherapeutische Behandlung von Panik und Agoraphobie ist grundsätzlich, den theoretischen Annahmen entsprechend, »nicht primär auf Symptomreduktion gerichtet, sondern auf Förderung von Autonomie und angemessener Realisierung von Abhängigkeitswünschen« (ebd., S. 90). Therapeutischer Prozess. Angst entsteht, wenn ein Inkon-
gruenzerleben den Gesamtorganismus überfordern würde und abgewehrt werden muss. Im Therapieprozess geht es um die Aufhebung des Selbstwiderspruchs, der der Inkongruenz zugrunde liegt, und damit um verbesserte zwischenmenschliche Fähigkeiten. Die ebenfalls intendierte verbesserte Selbstregulation dient der Bewältigung und Abnahme von Leitsymptomen und soll eine aktive Angstbewältigung fördern.
861 34.3 · Anwendung humanistischer Verfahren
Der therapeutische Prozess kann nach Swildens (1991) in 4 Phasen eingeteilt werden. 1. In der Präphase geht es um Informationsaustausch, Vereinbarungen über den Ablauf der Therapie und auch um eine erste Klärung des ätiopathogenetischen Prozesses des Klienten. 2. In der Symptomphase werden eine Entkatastrophierung funktioneller Beschwerden sowie die Hinwendung zu aktiver Angstbewältigung angestrebt. 3. Die Beziehungs- und Konfliktphase dient dem Prozess der Überprüfung rigider Erfahrungsmuster. Es werden die psychodynamischen Zusammenhänge und die aktuell bedeutsamen Aspekte der therapeutischen Beziehung aufgegriffen und thematisiert. Es geht bei der Therapie von Angststörungen um zwei zentrale, miteinander in Beziehung stehende Aspekte, den konkurrierenden Wünschen nach Autonomie und Abhängigkeit. 4. In der Abschiedsphase wird die bevorstehende Trennung antizipiert und bearbeitet, da das bekannte Aufflackern der Symptome eine Form von nicht verarbeiteter Angst vor Trennungen darstellen kann. Basismerkmale der personzentrierten Therapie. Die kon-
kreten therapeutischen Interventionen basieren in allen beschriebenen Phasen auf den 3 Basismerkmalen der personzentrierten Therapie, dem bedingungsfreien Akzeptieren, dem einfühlenden Verstehen und der Echtheit des Therapeuten. Aus diesen Therapieprinzipen werden Behandlungstechniken abgeleitet, die, anders als ursprünglich von Rogers intendiert, bei unterschiedlichen Störungsbildern unterschiedlich akzentuiert werden (⊡ Abb. 34.1). Theoriegeleitete Konkretisierung. Teusch und Finke
(1995) definieren in ihrem Manual die verwendeten therapeutischen Techniken möglichst explizit, Sie kommen ⊡ Abb. 34.1. Basisvariablen und mögliche therapeutische Interventionsschritte. (Nach Teusch u. Finke 1995, S. 90)
zu dem Schluss, dass die moderne, zielorientierte, prozess- und störungsbezogene Gesprächspsychotherapie das therapeutische Vorgehen identifizierbar, überprüfbar und lehrbar gestalten muss, nicht zuletzt, um den wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Teusch et al. (2001) konnten in einer kontrollierten Vergleichsstudie an 68 stationären Patienten mit Agoraphobie und Panikstörung zeigen, dass ihr rein gesprächstherapeutisches Setting in der Symptomreduktion genauso effektiv und anhaltend war wie eine kombinierte Therapie (verhaltenstherapeutische Reinkonfrontation plus Gesprächspsychotherapie) und darüber hinaus zu einer Abnahme der subjektiven Stressbelastung führte.
34.3.3
Gestalttherapie bei klinischsomatischen Krankheitsbildern
Die Konzepte der Psychosomatik sind als Alternative zum Krankheitsmodell der klassischen Medizin zu verstehen. Dabei lässt sich die Psychosomatik nicht auf bestimmte Krankheitsbilder einengen (z. B. Asthma bronchiale, Colitis ulcerosa oder die koronaren Herzerkrankungen), sondern sich eher als eine ganzheitliche, Körper und Geist verbindende, Sichtweise von Gesundheit und Krankheit verstehen (Leitner 1994). Den Vertretern der Psychosomatik ging es von Anfang an um eine »Wiedergewinnung des beseelten Körpers« (Uexküll 1991, S. 484), also um eine Überwindung des Dogmas der modernen Medizin, dass nämlich Krankheiten allein als Folge stofflicher, physikalisch-chemischer Strukturveränderungen im Körper zu verstehen sind. Natürlich lässt sich argumentieren, dass psychologische Vorgänge auf einer viel feineren Ebene auch wieder als rein physikalisch-chemische Vorgänge begreifbar sind. Trotzdem reichen die linearen Kausalmodelle der klassischen Medizin nicht aus, um die Entstehung und
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Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
Aufrechterhaltung von Gesundheit und Krankheit zu erklären. Thure von Uexküll: »Unter diesem Aspekt ist die Tatsache aufschlussreich, dass die ›moderne Medizin‹ immer wieder und mit Nachdruck ihre ‚naturwissenschaftlichen Grundlagenǥ betont, ohne zu bemerken, dass sie sich damit auf eine Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts beruft« (1992, S. 25).
Krankheit als Folge gestörter Kommunikation Neuere Arbeiten begreifen den menschlichen Organismus als komplexes, sich selbst regulierendes Kommunikationssystem, das in ein größeres System, nämlich die Umwelt, integriert ist, mit der ein reger Informationsaustausch stattfindet (Weiner u. Mayer 1990). Komplexe Systeme lassen sich nun nicht allein durch ihre physische Zusammensetzung begreifen, sondern wesentliches Charakteristikum sind die Wechselbeziehungen und gegenseitigen Verknüpfungen zwischen den Subsystemen; mit anderen Worten: Das Ganze ist verschieden von der Summe seiner Teile. Krankheit ist dann die Manifestation einer Regulationsstörung auf den verschiedenen Organisationsebenen des Systems, als Folge einer gestörten Kommunikation im System. Gesundheit dagegen lässt sich nach Weiner u. Mayer als die Fähigkeit betrachten, »Handlungen und Körperfunktionen angesichts einer sich unaufhörlich verändernden (…) Umwelt zu regulieren« (ebd., S. 97). Die Sprache, die in der psychosomatischen Theoriebildung gewählt wird, zeigt bereits, welche Beiträge die Gestalttherapie für die Psychosomatik bereithält. Deren Konzepte von Krankheit und Gesundheit decken sich mit der psychosomatischen Sichtweise.
Krankheit nach dem Verständnis der Gestalttherapie
34
Wie oben beschrieben, ist Krankheit im theoretischen Rahmen der Gestalttherapie die Folge der andauernden Störung der organismischen Selbstregulation. Solche Störungen sind z. B. das Leugnen von Bedürfnissen, die Einengung der eigenen Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten und die Vermeidung von Kontakt zu sich und/oder zur Umwelt (Krisch 1992). ! Der Kontakt zu sich selbst und das Gewahrwerden der eigenen Bedürfnisse und Zustände spielen dabei eine grundlegende Rolle für die Aufrechterhaltung einer funktionierenden Selbstregulation des Organismus und somit für dessen psychische und physische Gesundheit.
Ganzheitliche Störung Der gestalttherapeutische Ansatz begreift Krankheit also immer – ebenso wie die Psychosomatik – als ganzheitliche Störung einer Person, bei der die genetische Disposition (z. B. die Neigung zur Hypersekrektion des Ma-
gens) und augenblickliche Strukturveränderungen (z. B. ein Ulcus duodeni) nur einen Teilaspekt der Störung darstellen. Entscheidend ist auch, wie die Person mit ihren körperlichen Gegebenheiten umgeht, ob sie ihre Bedürfnisse wahrnimmt und ihnen folgt. Kann sie beispielsweise unter der Einwirkung von Stress den Kontakt zu sich selbst aufrechterhalten? Stress ist letztendlich als Konflikt zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen zu begreifen, z. B. dem Bedürfnis nach Rückzug und Sicherheit und dem Bedürfnis, ein Ziel zu erreichen. Meist sind es zunächst Konflikte zwischen äußeren Erfordernissen der Umwelt und inneren Bedürfnissen des Organismus. Die Frage ist dann, ob es der Person gelingt, den Konflikt auszutragen oder ob sie ihn vermeidet, was ihn zu einem inneren Konflikt werden lässt – nun zwischen dem Bedürfnis, Anforderungen gerecht zu werden (z. B. aus Angst vor Ablehnung), und dem Bedürfnis nach Ruhe und Erholung. Innere ungelöste Konflikte führen zur inneren Blockierung und Kontaktvermeidung, zum Nicht-Hinspüren, was wiederum den freien Fluss der Selbstregulation behindert (vgl. Krisch 1992). Selbstwahrnehmung steigern. Innerhalb der Psychosomatik ist es fast ein Gemeinplatz, dass emotionale Konflikte (meist psychoanalytisch erklärt) und äußere Stressoren bei der Ulkusbildung eine Rolle spielen. Aus der gestalttherapeutischen Sicht ist darüber hinaus die Vermeidung des Kontakts und das Übersehen und Übergehen der inneren Zustände entscheidend (z. B. das Übergehen des Bedürfnisses nach Erholung, aber auch konkret der Alarmzeichen in Form von Magenschmerzen). Ziel in der gestalttherapeutischen Intervention ist also zunächst eine Steigerung der Selbstwahrnehmung und des In-Kontakt-Tretens mit sich selbst. Was tue ich? Wie und wo? Was vermeide ich? Und wozu ist es gut?
Awareness für die eigenen Zustände bildet so die Grundlage für angemessenes – gesundheitförderndes – Handeln. Eine Möglichkeit, die Awareness zu vergrößern, ist – im Sinne einer Leeren-Stuhl-Arbeit – in einen Dialog mit der Störung zu treten, wie es Teegen et al. (1981) 24 Personen mit unterschiedlichen Hauterkrankungen tun ließen. In fast allen Fällen hatte »die Haut« auch einiges zu sagen und aus »ihren« Äußerungen ließen sich Funktionen der Symptomatik (des Grenzensetzens, des Gefühlsausdrucks und der Kontaktvermeidung) schließen. Funktion von Symptomen. Funktion und Bedeutung von Symptomen spielen also im Verständnis der Gestalttherapie eine ebenso große Rolle wie allgemein in der Psychosomatik. Allerdings werden keine bestimmten Persönlichkeitsmerkmale angenommen, die zu einer bestimm-
863 34.3 · Anwendung humanistischer Verfahren
ten Organwahl prädisponieren (wie v. a. aus psychoanalytischer Theorie heraus zunächst angenommen wurde), sondern es geht darum, spezifisch für die einzelne Person zu klären, welche Prozesse für die Symptombildung eine Rolle spielen. Die oben beschriebene Dialogübung kann helfen, solche Prozesse zu identifizieren. Bestimmte körperliche Reaktionen weisen aber bereits auf bestimmte Kontaktvermeidungsstrategien hin und umgekehrt: Konfluentes Verhalten erschwert es, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, ebenso wie Deflektion. Nach Krisch (1992, S. 217) können Muskelverspannungen (z. B. zusammengebissene Zähne, hochgezogene Schultern, Verspannung im Brustraum) vielfach als »somatisches Korrelat« der Retroflektion verstanden werden. Ein verstärkter Ausdruck dieser »Korrelate« (»Wie ist das, wenn du die Schultern ganz hochziehst, was kommt dir da?«) kann helfen, die dahinterliegenden Gefühle und Bedürfnisse (z. B. Wut, Angst und Trauer) zu spüren, um sie dann adäquater auszudrücken. Verantwortung für sich selbst. Eine erweiterte Selbst-
wahrnehmung wiederum geht mit einer verstärkten Übernahme der Verantwortung einher, und zwar für die Symptombildung selbst, aber auch für alternative Handlungsmöglichkeiten: »Mein Magen verkrampft sich – Ich verkrampfe meinen Magen – Welche anderen Reaktionen wären denkbar« (vgl. R. Rogers 1983)? Verantwortung ist einer der zentralen Begriffe der humanistischen Psychologie. Die existenzielle Verantwortung für sich selbst und die eigenen Strategien der Kontaktvermeidung kann bedeuten, sich dem eigenen Krankheitsgeschehen und psychischen Anteilen daran überhaupt erst zu stellen (wie es Röttger 1982 für die Rehabilitation von Infarktkranken darstellt), oder ebenso, Maßnahmen der Früherkennung zu nutzen (wie Küchler 1985 im Rahmen der Krebsprävention anmerkt). Leiden im Lebenszusammenhang. Hassert-Caselli (1995)
beschreibt, wie es auch in der allgemeinärztlichen Praxis immer wieder darum geht, zusammen mit den Patienten deren eigenes Getrenntsein von sich selbst und damit die erfolgte Selbstvernachlässigung zu erkennen und die Chance zur Selbsterfahrung und -erweiterung anzunehmen. Dabei kann das Leiden eines kranken Menschen nie isoliert, sondern immer nur im ganzen Lebenszusammenhang begriffen und somit behandelt werden (Leitner 1994, 1995). Wird das Leiden einer Person im Kontext ihres gesamten Lebensumfeldes gesehen, wie es auch Gerunde u. Kampmann (1996) vorschlagen (»disease as a biographical pattern of suffering«, S. 88), wird die (gestalt-)therapeutische Aufgabe deutlich: auf allen Lebensebenen die organismische Selbstregulation der Person zu unterstützen – also den flexiblen fortwährenden Rhythmus zwi-
schen Kontakt und Rückzug –, um so das Leiden an der Störung zu verringern. Praktischer gesagt geht es darum, die Patienten dabei zu unterstützen, ihr Dasein auf der körperlichen, sozialen, materiellen und der spirituellen Ebene, also in seiner Ganzheitlichkeit, zu explorieren und Möglichkeiten zu finden, den eigenen Bedürfnissen besser gerecht zu werden, sei es im Kontakt mit sich selbst oder in der Begegnung mit anderen. Am Beispiel der gestalttherapeutischen Unterstützung von Menschen, die HIV-positiv oder an Aids erkrankt sind, soll gezeigt werden, wie die Selbstunterstützung der kranken Person durch die Gestalttherapie auf allen Ebenen gestärkt werden kann.
Der gestalttherapeutische Ansatz im Umgang mit einer HIV-Infektion Während die Hauptansteckungswege mit dem HIV-Virus heute allgemein bekannt sind, ist noch nicht ausreichend geklärt, welche Faktoren für den Ausbruch und Verlauf der Aids-Erkrankung entscheidend sind. Für die Einzelperson kann nicht vorausgesagt werden, ob und wann sie am sog. Vollbild Aids erkranken wird (Leiberich et al. 1990). Neben »rein« somatischen Faktoren spielen eben auch psychosoziale Einflüsse (z. B. welchem Stress die Person ausgesetzt ist) und Verhaltensfaktoren (z. B. Therapiecompliance) eine wesentliche Rolle für den Zustand und die Anfälligkeit des Immunsystems. Depression, eine vermeidend-ängstliche Haltung und fehlende soziale Unterstützung scheinen sich negativ auf die Immunabwehr auszuwirken, während eine anpackende und eher kämpferische Haltung positiven Einfluss ausüben kann (Kindler 1995). Steigerung der Awareness. Eine solche Haltung (»becom-
ing a fighter for one’s life«) ist nach Klepner (1992, S. 8) ein Ziel in der Behandlung von HIV-infizierten Personen. Der Fokus liegt dabei auf dem Hier und Jetzt; gerade für vom Tod bedrohte Menschen ist das bewusste Erfahren des Augenblicks existenziell. Die Bewusstheit für die eigenen Zustände stellt dabei die Voraussetzung dafür dar, sich potenziell schädigende Einflüsse vom Leib zu halten. Ganz praktisch ist die erhöhte »Awareness« von eminenter Bedeutung, bedrohliche Vorgänge im Körper, z. B. opportunistische Infektionen, frühzeitig zu erkennen. Awareness bedeutet aber auch, sich der eigenen selbstschädigenden Verhaltensweisen bewusst zu werden, sei es in der praktischen Lebensführung oder im emotionalen Bereich. Unerledigte Geschäfte, unterdrückte Gefühle und unbefriedigte Bedürfnisse binden Energie. Gerade für eine mit dem HIV-Virus infizierte oder an einer anderen potenziell tödlichen Krankheit erkrankte Person wird die Konzentration auf den freien Fluss der organismischen Selbstregulation zur Überlebensfrage. Für Klepner bedeutet dieses »emotional house cleaning«
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864
Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
die Möglichkeit, ein »heiles« Leben zu führen, und – wenn es dazu kommt – einen ebensolchen Tod (ebd., S. 9). Gesellschaftlicher Hintergrund. Der ganzheitliche Ansatz
der Gestalttherapie erlaubt, den gesamten Hintergrund zu sehen, vor dem die HIV-infizierte Person ihr Leben führt. Berührungsängste der Gesellschaft spielen eine wesentliche Rolle im Umgang mit HIV-infizierten Menschen, und zwar sowohl in einem abstrakten Sinne, als in unserer Gesellschaft Krankheit und Tod keine sonderlich attraktiven Themen darstellen und der Kontakt zu Randgruppen nach Möglichkeit gemieden wird, als auch ganz konkret, insofern viele Menschen den körperlichen Kontakt mit HIV-Infizierten aus Angst vor Ansteckung meiden. Siemens (1993) sieht gerade in der Arbeit mit den Kontaktgrenzen einen wichtigen Arbeitspunkt in der Therapie mit HIV-positiven Menschen. In der therapeutischen Gruppe lässt sich explorieren, wo der Kontakt unterbrochen wird, und üben, Begegnung mit anderen zuzulassen.
dell von Speierer (1994) handelt es sich bei psychotischen Erkrankungen im Grunde um dispositionelle Inkongruenz, die sich auf sozialkommunikativem Wege (also durch eine Psychotherapie) nicht heilen lässt. Gleichwohl ergeben sich aus der dispositionellen Störung der Informationsverarbeitung und der Kommunikation sozialkommunikative Inkongruenzen, in dem Sinne, dass das kommunikative Verhalten der Betroffenen und als Reaktion darauf das ihrer Bezugspersonen eine Quelle negativer, kongruenzbedrohender Erfahrungen ist. ! Während sich also die dispositionelle Inkongruenz gemäß Speierer nur mit anderen Mittel bekämpfen lässt (z. B. mit antipsychotischer Medikation), ist es durchaus sinnvoll, im Rahmen eines multimodalen Behandlungsansatzes nach Abklingen der akuten Symptomatik personzentriert zu arbeiten. Wisconsin-Studie: Realisierung der Basisvariablen. Rogers
Selbstgewahrsein des Therapeuten. In der Arbeit mit
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HIV-infizierten Menschen muss sich der Therapeut auch selbst gewahr sein, wo seine Grenzen liegen oder wo er Kontakt vermeidet. Vermeidungstendenzen seinerseits könnten z. B. dazu führen, dass ein Klient die Therapie »rechtzeitig« abbricht, oder dass der Therapeut selbstschädigende Verhaltensweisen, wie Alkoholmissbrauch, übersieht (Klepner 1992). Der Therapeut ist dabei mit seiner ganzen Person gefordert, was allerdings nicht bedeutet, konfluent mit den Bedürfnissen seiner Klienten zu sein, sich z. B. von deren subjektivem Zeitdruck anstecken zu lassen (Strümpfel 1992). Ebenso darf er nicht einem »Sendungsbewusstsein« verfallen in Sachen richtige Lebensführung bei HIV-Infektion (vgl. Zippel 1990; Strümpfel 1992). Weniger, weil noch nicht genug erforscht ist, welche Coping-Strategien einer verlängerten Lebenserwartung wirklich zuträglich sind (Leiberich et al. 1990), sondern deshalb, weil es letztendlich kein Richtig oder Falsch außerhalb der Selbstverantwortung des Klienten gibt.
34.3.4
Personzentrierte Gesprächspsychotherapie in der Psychiatrie
Indikation bei schizophrenen Erkrankungen Das Indikationskriterium für die Anwendung der klientenzentrierten Therapie ist i. Allg. das innere Erleben von Inkongruenz und das damit verbundene Leiden. Daher stellt sich zunächst die Frage, ob bei schizophrenen Erkrankungen eine derartige Inkongruenz vorliegt, die Störung also als behandelbar im Sinne der Gesprächspsychotherapie gilt. Nach dem differenziellen Inkongruenzmo-
(1976) selbst begann in den 60er Jahren, sich mit der Behandlung von Menschen mit psychotischen Störungen zu befassen, aus dem Wunsch heraus, die Wirkung der therapeutischen Basisvariablen bei dieser Personengruppe zu testen. Dies wurde in der sog. »Wisconsin-Studie« verwirklicht, bei der u. a. auch Eugene Gendlin maßgeblich beteiligt war. Die Ergebnisse der Wisconsin-Studie waren einerseits enttäuschend, weil der Grad der Verwirklichung der therapeutischen Basisvariablen Empathie, Wertschätzung und Kongruenz zwar eine Rolle beim Therapieergebnis der als schizophren diagnostizierten Klienten spielte, aber die Erfolge insgesamt bescheiden waren. Zugleich war diese Studie richtungsweisend, weil sie zeigen konnte, dass Klienten mit schizophrenen Erkrankungen die Realisierung der Basisvariablen, unabhängig vom Grad ihrer tatsächlichen Ausprägung, in geringerem Ausmaß wahrnahmen, als dies bei sog. neurotischen Klienten der Fall ist. Grundsätzlich schien ihnen der Zugang zum personzentrierten Angebot weniger offen zu stehen. Gleichzeitig schienen sich die als schizophren diagnostizierten Klienten der Wisconsin-Studie stärker auf das therapeutische Beziehungsangebot zu konzentrieren, wie es sich durch die unbedingte Wertschätzung und Kongruenz des Therapeuten zeigte, im Gegensatz zum bisher untersuchten Klientel der klientenzentrierten Psychotherapie, die vorwiegend auf die empathische Einfühlung des Therapeuten ansprachen und darauf mit verstärkter Selbstexploration reagierten. Insgesamt zeigten die Klienten der Wisconsin-Studie ein recht geringes Ausmaß an Selbstexploration. Immerhin waren es trotzdem jene Klienten, die am meisten Empathie in ihren Therapiesitzungen erfahren hatten, die auch die stärkste Besserung ihrer Symptome zeigten.
865 34.3 · Anwendung humanistischer Verfahren
Kommunikative Defizite. Im deutschen Sprachraum sind
es v. a. Binder u. Binder (1994), und die Arbeitsgruppe um Teusch (1986, 1988, 1994), die sich speziell mit der gesprächspsychotherapeutischen Behandlung von schizophrenen Erkrankungen befassen. Der Schwerpunkt liegt dabei unverändert auf der Aktualisierung der therapeutischen Basisvariablen, insofern Menschen mit Schizophrenie »keine anderen Wachstums- und Entwicklungsbedingungen brauchen, als andere Menschen auch« (Binder 1994, S. 188). Gleichzeitig müssen die spezifischen Defizite von Menschen mit schizophrenen Störungen in der Therapie berücksichtigt werden, um zu gewährleisten, dass diese die personzentrierte Haltung des Therapeuten und somit dessen Beziehungsangebot wahrnehmen und nutzen können. Für die Psychotherapie, die in der Regel nach Abklingen der psychotischen Akutsymptomatik einsetzt, sind v. a. die kommunikativen Defizite schizophren erkrankter Menschen bedeutsam. Nach Gaebel (1994) sind dies Dekodierungsstörungen, die es Patienten mit Schizophrenie erschweren, den emotionalen Ausdruck im Gesicht ihres Gegenübers zu deuten, woraus sich deren Schwierigkeiten, die therapeutische Haltung der Akzeptanz und Empathie wahrzunehmen, unmittelbar erklären lässt. Zusätzlich zeigen die Patienten ein reduziertes und auch qualitativ verändertes Ausdrucksverhalten hinsichtlich ihrer eigenen Emotionalität und erschweren es so dem Therapeuten, empathisch auf die innere Gestimmheit ihres Klienten zu antworten. ! Klares und möglichst eindeutiges Therapeutenverhalten ist also erforderlich, um die Zahl der Missverständnisse gering zu halten. Hier zeigt sich die Bedeutsamkeit einer diagnostischen Einordnung, weil sie dem Therapeuten eine sensibilisierende Orientierungshilfe gibt, die es ihm ermöglicht, die spezifischen Defizite und Bedürfnisse seines Klienten zu berücksichtigen und die Verwirklichung der konstruktiven Therapiebedingungen entsprechend zu gestalten (Binder u. Binder 1994). Welche Modifikationen erfordern die speziellen Bedürfnisse von an Schizophrenie erkrankten Personen?
Die klientenzentrierten Basisvariablen in der Behandlung schizophrener Störungen Empathie Das Bemühen um störungsspezifisches Wissen ist schon deshalb von Bedeutung, weil es sich bei manchen schizophrenen Erlebnisweisen um qualitativ andere Erfahrungen handelt, als sie durchschnittliche – gesunde – Psychotherapeuten selbst machen, eine Kenntnis der Psychopathologie ihnen also helfen kann, sich in die Erlebniswelt ihrer Klienten einzufühlen, besonders wenn diesen die Ausdrucksmöglichkeiten fehlen (Lange 1988; vgl. Binder
u. Binder 1994). Dabei hilft die phänomenologische Haltung der Gesprächspsychotherapie, eine diagnostische Festschreibung zu vermeiden; es geht nicht darum, schizophrene Erlebnisweisen zu inventarisieren (ob man Schizophrenie hat), sondern nachzuvollziehen, wie es sich anfühlt, solche Erlebnisse zu haben (Binder 1994, S. 191). ! »Hierdurch ist es möglich, auf wahnhafte, auf der inhaltlichen Ebene schwer verständliche Äußerungen ohne Näheverlust einzugehen, indem nicht der wahnhafte Inhalt empathisch verstanden wird, sondern die stets einfühlbaren, ihn begleitenden Gefühle« (Binder u. Binder 1994, S. 105). In diesem Sinne ist schizophrenes Erleben und Verhalten grundsätzlich verstehbar (Teusch 1994), und es gilt die jeweils angemessene Antwort (verbal oder interaktional) durch Einfühlung zu finden; »… durch eine verstehende Grundhaltung erscheinen weniger Verhaltensweisen ›verrückt‹, und ›verrückte‹ Verhaltensweisen nehmen ab, wenn sie verstanden werden, – es ist überflüssig, eine Kommunikation endlos fortzusetzen, wenn Inhalt und Absicht angekommen sind« (Binder u. Binder 1994, S. 27).
Akzeptanz und Kongruenz Die Verwirklichung unbedingter Wertschätzung und Echtheit durch den Therapeuten ist eng an seine Empathiefähigkeit geknüpft: Schizophrene Verhaltens- und Erlebnisweisen können befremdend, verwirrend oder scheinbar unberechenbar sein, mit anderen Worten »unnormal«. Abweichungen von der Norm erzeugen schnell Angst und Abwehr. Auch hier hilft eine Kenntnis der störungsspezifischen »Normen«: »Wenn wir als Therapeuten mit Personen arbeiten, die sich oft gravierend von allgemein üblichen normativen Verhaltenserwartungen unterscheiden, müssen wir das Spektrum unserer normativen Erwartungen generell verbreitern bzw. speziell die ›normalen‹ Abweichungen dieser Personen kennenlernen und in unsere vertrauten Erwartungen einbeziehen« (Binder u. Binder 1994, S. 99). Gelingt es dem Therapeuten, seinen Klienten angstfrei und offen zu begegnen und sie als die Personen zu akzeptieren, die sie nun einmal sind (vgl. Gerwood 1993), liefert er damit jene Wachstumsbedingungen, die vermutlich gerade Menschen mit Schizophrenie schmerzlich vermisst haben. Ablehnung hingegen kann zu einer diffusen Verstärkung der Symptomatik führen, mangelnde Kongruenz zu einer zusätzlichen Verwirrung der ohnehin gestörten Kommunikation (Binder u. Binder 1994). Transparenz. Ein wichtiger Aspekt der Kongruenz ist die
Transparenz des Therapeuten im Hinblick auf Diagnosestellung und Therapieplanung. Luderer u. Böcker (1988)
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866
Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
befragten 99 Ärzte aus 6 psychiatrischen Krankenhäusern nach ihrem Informationsverhalten gegenüber ihren Patienten. Die Ärzte neigten dazu, den Begriff »Schizophrenie« zu umschreiben (im Vergleich zur Diagnose »Alkoholismus« und zu affektiven Störungen), eine umfassende Aufklärung des Betroffenen wurde weniger stark befürwortet, dagegen z. T. die Aufklärung der Angehörigen als wichtiger erachtet. Abgesehen davon, dass eine solche Haltung schwerlich die Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung der Patienten fördert, ist sie kaum mit Kongruenz und Offenheit des Therapeuten vereinbar und schreibt zusätzlich die Unaussprechlichkeit der Diagnose »Schizophrenie« (die die Patienten in der Regel trotzdem kennen dürften) weiterhin fest. Luderer und seine Mitarbeiter (Luderer 1995; Luderer et al. 1994) führen klientenzentrierte Informationsgruppen für Patienten mit Schizophrenie und Gruppen für Angehörigen durch. In diesen Gruppen vermitteln sie einerseits sachliche Informationen aus ihrem Fachwissen heraus, die den Betroffenen helfen sollen, einen realistischen Umgang mit der Erkrankung zu entwickeln (Transparenz). Gleichzeitig gehen sie auf die damit verbundenen Gefühle und Erlebnisinhalte (Empathie) und die Bemühungen um die Auseinandersetzung mit der Krankheit ein (Wertschätzung).
Non-direktives Vorgehen
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Alle Autoren betonen die Notwendigkeit eines strukturierteren Vorgehens, als es i. Allg. im personzentrierten Setting üblich ist, ebenso die Einbettung der Gesprächspsychotherapie in ein umfassenderes Behandlungsprogramm (wenn nötig Medikamente, sozialpsychiatrische Maßnahmen; z. B. Binder u. Binder 1994; Finke 1992; Maisel 1986; Teusch 1994). Dies steht nicht unbedingt im Widerspruch zur humanistischen Forderung nach Selbstbestimmung, sondern ergibt sich aus den besonderen Bedürfnissen der Klienten, denen es Rechnung zu tragen gilt. Letztendlich geht es darum, jeweils auf die realen Erfordernisse der Beziehung zu antworten, im Bedarfsfall kann das auch bedeuten, einen Klienten gegen seinen Willen zu ernähren oder in eine geschlossene Station einzuweisen (Binder u. Binder 1994). Entscheidend ist eine »Orientierung an der Person« (vgl. Teusch 1988, S. 32), nicht das Diktum der Non-Direktivität. Gleichzeitig bildet der Schwerpunkt der personenzentrierten Psychotherapie auf der Subjektivität und Autonomie der Klienten ein nötiges Gegengewicht zum manchmal bevormundenden und regressionsfördernden Verhalten gegenüber Patienten mit Schizophrenie (Finke 1992) und gibt Anlass zur ständigen Prüfung der professionellen Haltung, um keinem »Besserwissen« zu verfallen.
Prä-Therapie nach Garry Prouty Eine Vorbedingung für Psychotherapie ist Kontakt. Die Therapeuten der Wisconsin-Studie ließen sich einiges
einfallen, um Kontakt zu knüpfen zu den z. T. völlig verstummten oder zurückweisenden Klienten (Gendlin 1976). Prouty (1990) kommt in seiner Rezeption der Wisconsin-Studie zum Schluss, dass gerade chronisch schizophren Erkrankte unter Defiziten im Kontaktverhalten leiden, die zunächst bearbeitet werden müssen, um damit die Vorbedingungen für eine Psychotherapie zu erfüllen. Auf der Basis des klientenzentrierten Ansatzes entwickelte er das Konzept der Prä-Therapie und damit zugleich eine Theorie des psychologischen Kontakts. ! Danach gilt es, den auf 3 Ebenen eingeschränkten Kontakt schizophren erkrankter Personen wiederherzustellen, nämlich auf den Ebenen des Kontaktes zur Realität, zu sich selbst und zu anderen. Dies geschieht über die Methode sog. Kontaktreflexionen, in denen der Therapeut durch seine verbale und nonverbale Reaktion auf den Klienten und die Situation, in der sie sich gemeinsam befinden, antwortet, um dem Klienten das stattfindende Hier und Jetzt erfahrbar zu machen. Diese Reflexionen nehmen Bezug auf situative Gegebenheiten (um den Kontakt zur Realität zu fördern, z. B. »We have been quite a long time in this little room«), auf die Mimik des Klienten (um seine affektiven Kontakte zu sich selbst zu stärken, z. B. »Your face looks scared«), auf die verbalen Äußerungen des Klienten, die z. T. Wort für Wort wiederholt werden (um den kommunikativen Kontakt zu stärken und dem Klienten zu helfen, sich als Kommunizierender wahrzunehmen), auf die z. T. bizarren Körperbewegungen des Klienten, indem sie verbalisiert oder nonverbal gespiegelt werden (um sein Gefühl für das eigene Körper-Selbst zu stärken), und schließlich auf bereits erfolgte erfolgreiche Kontaktreflexionen. (Beispiele aus Prouty 1990, S. 650 f.). Mit seinem Ansatz öffnet Prouty den Zugang zu Klienten, die oft als nicht therapierbar gelten, wie langjährig hospitalisierte Patienten mit schwerer geistiger und/oder psychischer Behinderung oder solche, die sich akut in der Psychose befinden.
Behandlungsziele bei der Psychotherapie von schizophrenen Störungen Die Ziele einer personzentrierten Psychotherapie mit schizophren erkrankten Menschen lassen sich nach Binder (1994, S. 192f.) so beschreiben: Neben dem hochgesteckten Bemühen, Wachstum und Entfaltung anzuregen, geht es auch um Katastrophenvermeidung, und zwar in dem Sinne, dass der Klient lernt, einen realitätsgerechten Umgang mit der Krankheit zu finden, der es ihm ermöglicht, weitere destruktive Lebenserfahrungen zu vermeiden. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Aufgabe, die
867 34.3 · Anwendung humanistischer Verfahren
krankheitsbedingte Vulnerabilität ins Selbstbild zu integrieren. Für Binder u. Binder ist der personenzentrierte Ansatz gerade bei Menschen mit schizophrenen Störungen lohnend, »die eben in ihrem Personensein defizitär sind« (1994, S. 338). Teusch (1986, 1994) fand bei eigenen Untersuchungen im stationären Setting, dass die Patienten durchaus von der Behandlung profitierten, was sich u. a. in gehobenem Selbstwertgefühl und verminderter Depression, einer Reduktion der Symptomatik im Fremdrating und einer Reduktion der neuroleptischen Medikation zeigen ließ.
Gleichzeitig zeigte eine hohe Abbruchsquote, dass nicht alle Patienten das gesprächspsychotherapeutische Angebot annehmen konnten, und zwar besonders jene nicht, die eine besonders ausgeprägte Symptomatik aufwiesen. Unseres Ermessens stellt der gesprächspsychotherapeutische Ansatz eine fruchtbare Herangehensweise an die Behandlung schizophrener Störungen dar, dessen ausreichende empirische Absicherung aber noch aussteht. Gerade weil Schizophrenie zu den sog. schweren psychischen Störungen gehört, ist dies eine lohnende Aufgabe.
Fazit Eine Untersuchung von Butollo et al. (1996) zeigt die Bedeutung der humanistischen Psychologie in der BRD vor dem 1999 in Kraft getretenen Psychotherapeutengesetz (PsychThG): Mittels Fragebogen wurde der theoretische Hintergrund, die praktische Arbeitsweise und die Ausbildung der Mitglieder des Bundesverbandes Deutscher Psychologen (Landesgruppe Bayern) erhoben. Die Ergebnisse aus den 243 zurückgesandten Fragebögen zeigen: Humanistische Konzepte stehen in allen 3 Bereichen an der Spitze, was die absolute Häufigkeit der Nennungen betrifft. Da Mehrfachnennungen möglich waren, wird deutlich, dass humanistische Ansätze oft mit anderen kombiniert werden, und zwar v. a. mit lerntheoretischen Ansätzen. In Zukunft dürften vor allem die Zahlen zur Ausbildung anders ausfallen, nachdem frisch diplomierte Psychologen und Psychologinnen eher die sog. Richtlinienverfahren wählen werden, um dadurch die Möglichkeit zur Approbation zu erlangen. Es ist zu hoffen, dass humanistische Psychotherapie nicht nur inoffiziell als mehr oder weniger explizite Übernahme ihrer höchst effektiven Methoden in die moderne Verhal-
tenstherapie oder in eine Allgemeine Psychologische Psychotherapie oder gar Neuropsychotherapie im Sinne von Grawe (2004) überlebt, sondern dass auch das zugrunde liegende Menschenbild weiter integriert wird. Die Anerkennung als Richtlinienverfahren im Sinne des PsychThG ist deshalb unbedingt anzustreben, wie es in Deutschland vor allem von den Vertretern der Gesprächspsychotherapie betrieben wird. Denn es liegt an den Vertretern der humanistischen Psychotherapieverfahren selbst, nicht nur überzeugende Forschungsergebnisse zu liefern, sondern auch für deren Rezeption zu sorgen. Deshalb sei zum Abschluss noch eine letzte, allen heutigen Standards genügende Studie genannt, mit beeindruckenden Ergebnissen: In der Untersuchung von Watson et al. (2003) wurden erfahrungsorientierte Therapie im Sinne von Greenberg et al. (1993) mit kognitiver VT in der Behandlung von 66 Patienten mit majorer Depression verglichen. Die Interventionen schnitten gleich gut ab hinsichtlich der Symptomatik, lediglich hinsichtlich interpersoneller Probleme im Selbstbericht war der erfahrungsorientierte Ansatz überlegen.
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Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
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870
Kapitel 34 · Humanistische Psychotherapieverfahren
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34
35 35 Soziotherapie S. Weinmann, Th. Reker, T. Becker
35.1 Definition und Abgrenzung – 872 35.1.1 Abgrenzung Rehabilitation und Sozialpsychiatrie – 873 35.1.2 Zielgruppe der Soziotherapie – 873 35.1.3 Ziele von Soziotherapie – 873 35.2
Charakteristika und Prinzipien
– 874
35.5
Ambulante Soziotherapie – 878
35.6
Milieutherapie
35.7
Zusammenfassung Literatur
– 878 – 880
– 881
35.3 Wirkfaktoren der Soziotherapie – 875 35.3.1 Unterstützung und soziale Netzwerke – 875 35.4 35.4.1 35.4.2 35.4.3 35.4.4 35.4.5
Psychosoziale Interventionen – 876 Ergotherapie – 876 Maßnahmen der Arbeitsrehabilitation – 877 Psychoedukation – 877 Case Management – 878 Skills-Training – 878
> > Soziotherapie stellt neben der Somato- und Psychotherapie die dritte Säule der psychiatrischen Therapie dar. Es existiert keine einheitliche Definition; vielmehr werden eine Reihe von teilweise sehr heterogenen Interventionen und Konzepten unter diesem Begriff zusammengefasst. »Soziotherapie« wird heute nur noch im deutschen Sprachraum benutzt, im angloamerikanischen ist der Terminus »psychosocial intervention« am ehesten synonym. Unter Soziotherapie werden psychosoziale Therapieansätze wie Ergotherapie, arbeitsrehabilitative Maßnahmen, Skills Training, psychoedukative Maßnahmen oder Case Management sowie die Milieutherapie zusammengefasst. Darüber hinaus gibt es ambulante Soziotherapie als eigenständige Leistung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 37a des Sozialgesetzbuches). Die Kombination psychosozialer Interventionen mit medikamentösen und anderen somatischen Therapien ist in vielen Fällen dem einzelnen Behandlungsverfahren überlegen.
872
Kapitel 35 · Soziotherapie
35.1
Definition und Abgrenzung
Durch die Einführung der Ambulanten Soziotherapie (AST) als eigenständige Leistung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 37a des Sozialgesetzbuches) und die Soziotherapie-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses ist die Soziotherapie wieder etwas stärker in das Blickfeld gerückt. Der Begriff wird wegen seiner unscharfen Definition, der Heterogenität der darunter subsumierten Konzepte, der geringen empirischen Fundierung mancher Ansätze und den fehlenden Anschlussmöglichkeiten an den anglomerikanischen Sprachraum in der wissenschaftlichen Diskussion kaum noch benutzt. In der Praxis spielen soziotherapeutische Verfahren dagegen eine große Rolle. Ihre historischen Wurzeln liegen in der Milieutherapie in den früheren psychiatrischen Anstalten und hier besonders in der traditionellen Arbeits- und Beschäftigungstherapie. Unter den heutigen Versorgungsbedingungen kommen soziotherapeutische Verfahren im klinischen und tagesklinischen Setting, in der Rehabilitation und v. a. im außerklinischen Bereich der psychosozialen Betreuung zum Einsatz. Soziales Umfeld in Intervention einbeziehen. Gegenwär-
35
tigen Definitionsversuchen ist gemeinsam, dass darunter Maßnahmen verstanden werden, die das soziale Umfeld des von einer psychischen Erkrankung Betroffenen bewusst in die Intervention miteinbeziehen (Becker et al. 2005). Soziotherapeutische Verfahren zielen auf eine positive Beeinflussung der Interaktion zwischen Betroffenem und seiner sozialen Umgebung. Entweder wird die Umgebung (Wohnen, soziale Kontakte, Arbeit) gestaltet, um eine günstige Wirkung auf den Betroffenen zu erreichen, oder es werden soziale und kommunikative Kompetenzen und sinnvolle Fähigkeiten vermittelt, die eine stärkere persönliche Kontrolle über die Lebensführung ermöglichen. Hauptfokus ist »das Gemeinschaftsleben in einer natürlichen oder künstlichen Gruppe mit ihren dynamischen Auswirkungen, die Arbeit des Individuums, die Stimulierung der Persönlichkeit durch Erschließung neuer Interessen und Tätigkeiten, die Gestaltung der Freizeit …« (Müller 1972). Es soll weniger eine Symptom- sondern insbesondere eine funktionelle Verbesserung erzielt werden (Rössler u. Haker 2003). Theoriegeleitete Forschung. An moderne neurobiolo-
gische Konzepte ist Soziotherapie grundsätzlich anschlussfähig. Aufgrund der vielfältigen dynamischen Interaktionen zwischen Gehirn und Umgebung können psychische Funktionen biologisch, psychologisch oder mittels sozialer Einflüsse modifiziert werden. Dies zeigt sich darin, dass nicht nur die medikamentöse Behandlung auf der Ebene der Neurotransmission zu veränderten sozialen Anpassungsleistungen führen kann, sondern auch psycho- und soziotherapeutische Interventionen die
Biologie des Gehirns verändern (Gabbard 2000). Synaptische Plastizität und die Strukturierung neuronaler Netze sind Korrelate sozialer Transaktionsprozesse und sozialen Lernens, so dass die nach Krankheitsgruppe und Krankheitsstadium differenzierte Kombination psychosozialer und medikamentöser Interventionen häufig der einzelnen Intervention überlegen ist (Mojtabai et al. 1998). Damit findet die Erforschung psychosozialer Interventionen zunehmend theoriegeleitet statt, wobei biologische, psychologische und andere sozialwissenschaftliche Theorien sich ergänzen und nicht mehr als konkurrierende Erklärungs- und Wirkfaktorenmodelle betrachtet werden.
Facetten der Soziotherapie Soziotherapie in einem modernen Sinne umfasst 3 Facetten: Psychosoziale Interventionen. Unter Soziotherapie wer-
den verschiedene psychosoziale Interventionen, insbesondere Ergotherapie, arbeitsrehabilitative Maßnahmen, Psychoedukation, Formen des Case Management und Social Skills-Training subsumiert. Dies entspricht in etwa dem angloamerikanischen Konzept der »psychosocial intervention«, wobei die Grenze zur Psychotherapie anders gezogen wird. Kontrovers wird die Zuordnung von Sport und v. a. der kreativen Verfahren (Kunst- und Musiktherapie) zur Soziotherapie diskutiert. Die Evidenzbasis für kreative Verfahren ist unterschiedlich, teilweise gering. Die Maßnahmen werden häufig auch auf Grund heuristischer Konzepte, klinischer Erfahrung und Tradition eingesetzt. Ambulante Soziotherapie (AST). Sie ist eine definierte
Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Konzeptionell handelt es sich um eine Form des Case Management. Wegen der unzureichenden Finanzierung hat die Ambulante Soziotherapie bisher jedoch wenig Einzug in die Praxis gehalten. Milieutherapie. Als dritte Facette von Soziotherapie ist die
Milieutherapie zu nennen. Darunter wird zunächst die Gestaltung von Umgebungsbedingungen, sozialen Regeln und Umgangsformen sowie die Organisation aller therapeutischen Angebote in psychiatrischen bzw. psychosozialen Institutionen wie Krankenhausstationen, Tageskliniken, Wohnheimen, Tagesstätten, beschützten Arbeitsplätzen etc. verstanden (Müller 1972; Almond 1975; Gunderson 1975; Cumming u. Cumming 1979; Heim 1985; Becker et al. 2005). In einem weiteren Sinne können unter Milieutherapie auch Hilfen in normalen, nicht institutionell organisierten Lebensräumen z. B. durch aufsuchende psychosoziale Dienste oder Betreuung im Wohnbereich verstanden werden. Ziele von milieutherapeutischen Interventionen sind die soziale und alltagspraktische Unter-
873 35.1 · Definition und Abgrenzung
stützung, die Förderung von sozialen und alltagsbezogenen Fähigkeiten sowie die Erhöhung der Wirksamkeit anderer therapeutischer Maßnahmen.
35.1.1
Abgrenzung Rehabilitation und Sozialpsychiatrie
Praktisch wie theoretisch ergeben sich somit Überschneidungen von Soziotherapie und modernen psychiatrischen Rehabilitationskonzepten (Anthony u. Liberman 1986; Bachrach 1992; Rössler u. Riecher-Rössler 1994), in denen psychosoziale Interventionen, soziale Interaktionsprozesse und soziale Unterstützung ebenfalls einen hohen Stellenwert haben und die Verbesserung der sozialen Integration und Anpassung wesentliches Ziel der Bemühungen ist. Soziotherapie und psychosoziale Interventionen gehören sowohl zum Inventar therapeutischer als auch rehabilitativer Programme. Fähigkeitenorientierung vs. langfristige Versorgung. So-
wohl in der Rehabilitation schwerer psychischer Erkrankungen als auch bei soziotherapeutischen Interventionen wurde traditionell in den USA ein Schwerpunkt auf den Erwerb von Fähigkeiten (»skills«) und auf fähigkeitenorientierte Herangehensweisen gelegt, um den Betroffenen zu helfen, ein möglichst unabhängiges Leben mit einem Minimum an Unterstützungsbedarf zu führen (Anthony et al. 1986). In England und Deutschland stand eher die Erforschung von Faktoren im Mittelpunkt, die zu einer hohen Qualität der langfristigen Versorgung und zu Strukturen beitragen, die traditionelle Formen von Institutionalisierung vermeiden. Es ging eher um Reintegration trotz Beeinträchtigung und erst in zweiter Linie um den Erwerb von spezifischen Fähigkeiten (Allen u. Liberman 1989; Shepherd 1984). Insbesondere das traditionelle Rehabilitations- und Versorgungsmodell wurde in jüngster Zeit gleichzeitig mit der Betonung des Ziels von »recovery« (Gesundung von psychischer Erkrankung) kritisiert, da die Gefahr besteht, dass zu sehr Defizite in den Mittelpunkt gestellt werden und die Anpassung chronisch Erkrankter an eine geschützte, »abhängige« Umgebung vielerorts als Rehabilitationserfolg betrachtet wurde. Kontext Sozialpsychiatrie. Soziotherapie steht historisch
im Kontext der Sozialpsychiatrie. Der pragmatische Einsatz psychosozialer Therapiemethoden oder milieutherapeutischer Konzepte ist aber nicht notwendigerweise an die mit diesem Begriff verbundene wissenschaftliche Gesamtperspektive von Psychiatrie (Eikelmann 1998) oder mit der Akzeptanz anderer traditioneller »sozialpsychiatrischer Essentials« wie dem besonderen Interesse an Versorgungsfragen, einer Schwerpunktsetzung auf chronisch Kranke oder einem sozialpolitischen Engagement gebun-
den, wenngleich der Einsatz psychosozialer Therapiemethoden die grundsätzliche Akzeptanz der Bedeutung sozialer, kultureller und Umgebungsfaktoren für seelische Gesundheit und Krankheit voraussetzt.
35.1.2
Zielgruppe der Soziotherapie
Soziotherapeutische Interventionen sind nicht auf die Zielgruppe der chronisch Erkrankten beschränkt. Wenn, wie im angloamerikanischen Raum, von einem breiten Ansatz der psychosozialen Therapien ausgegangen wird, besteht die Indikation bei den meisten Krankheitsbildern. Sie sind Bestandteile nahezu jeglicher psychiatrischer Therapie. Allerdings wurden die meisten empirischen Studien zu einzelnen soziotherapeutischen Behandlungskomponenten mit Patienten durchgeführt, die an einer Schizophrenie erkrankt waren (Penn u. Mueser 1996). Soziotherapeutische Bestandteile der Therapie gewinnen an Bedeutung, je schwerer und chronischer eine psychische Erkrankung verläuft. Die Zielgruppe des Case Management, des Trainings sozialer Fertigkeiten, der aufsuchenden gemeindepsychiatrischen Behandlung und auch der ambulanten Soziotherapie in Deutschland sind in der Regel die schwer psychisch Erkrankten (»severely mentally ill«). Für die ambulante Soziotherapie im sozialrechtlichen Sinne sollen die Betroffenen zudem nicht in der Lage sein, ärztliche oder ärztlich verordnete Leistungen selbstständig in Anspruch zu nehmen, außerdem muss eine Krankenhausbehandlung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verkürzt oder vermieden werden (Frieboes 2005). Als Indikationen für ambulante Soziotherapie werden chronifizierte Krankheitsverläufe und erhebliche Beeinträchtigungen der psychosozialen und beruflichen Leistungsfähigkeit genannt. Damit kommen insbesondere Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis in Betracht, in einigen Fällen auch bipolare Störungen, schwere wahnhafte Depressionen, schwere Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen und demenzielle Syndrome.
35.1.3
Ziele von Soziotherapie
! Das zentrale Ziel soziotherapeutischer Interventionen ist, die betroffene Person darin zu unterstützen, ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten in dem maximal möglichen Ausmaß zu entwickeln und dadurch das größtmögliche Maß an Autonomie, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von professioneller Hilfe zu erreichen. Damit liegt der Schwerpunkt auf der Förderung von sozialen, lebenspraktischen und beruflichen Fähigkeiten, die für die einzelne Person notwendig sind, um in ihrem je-
35
874
Kapitel 35 · Soziotherapie
weiligen Umfeld möglichst selbstständig und zufrieden zu leben. Psychosoziale Therapien zielen auf einen Zuwachs an Handlungskompetenz für die betroffenen Patienten ab. Kombinationsbehandlung. In aller Regel werden psycho-
soziale Therapien mit anderen Therapiemaßnahmen kombiniert durchgeführt. Komplexe und multimodale Therapieverfahren sind – obwohl in der Praxis gängig – empirisch bisher wenig untersucht. In der Mehrzahl der vorliegenden Studien sind die Ergebnisse einer Kombinationsbehandlung der Applikation nur eines Therapieansatzes überlegen (Katschnig u. Windhaber 1998). Soziotherapie und im Besonderen milieutherapeutische Bemühungen können die Wirksamkeit pharmakologischer und psychotherapeutischer Interventionen unterstützen. So konnte in einer Studie durch eine spezielle psychosoziale Intervention beim Pflegepersonal in Altersheimen die Rate an Neuroleptikaverschreibungen bei den Bewohnern mit Demenz von 42 auf 21% verringert werden (Fossey et al. 2006). Die Intervention wurde von Psychologen, Ergotherapeuten und Pflegekräften durchgeführt und diente dem Erwerb von Fähigkeiten zu personenzentrierter Pflege, der Verbesserung der Kommunikation zwischen Personal und Bewohnern, dem Erlernen von Strategien des Verhaltenmanagements und der Förderung des Einbezugs von Angehörigen. Milieugestaltung. Soziotherapeutische Milieugestaltung
dient der Kompensation krankheits- und behinderungsbedingter Defizite. Sie bietet einen Rahmen, in dem Betroffene trotz ihrer bestehenden Einschränkungen leben und ggf. arbeiten können. Dabei kann es sich um artifiziell geschaffene und institutionell organisierte Milieus in psychosozialen Einrichtungen handeln, oder um aufsuchende oder nachgehende Hilfsmaßnahmen im Lebensumfeld der Betroffenen.
35
35.2
Charakteristika und Prinzipien
Soziotherapie fokussiert auf eine Änderung von sozialen Interaktionen zwischen den Betroffenen und ihrer sozialen Umgebung. Allenfalls als sekundärer Effekt ist eine Veränderung von innerpsychischen Abläufen und Einstellungen intendiert. Soziotherapeutische Ansätze sind somit eher handlungs- als einsichtsorientiert. Darüber hinaus sind sie in einer doppelten Weise ressourcenorientiert. Sie betonen die aktive Rolle der Patienten und deren Lern- und Veränderungsfähigkeit; zudem versuchen sie, die Ressourcen der Umgebung zu mobilisieren. Multiprofessionalität. Ein weiteres Charakteristikum von
Soziotherapie liegt in der Multiprofessionalität ihrer Durchführung. Anders als in der Pharmako- und Psycho-
therapie, die von Ärzten bzw. Psychologen verordnet und durchgeführt wird, wird bei den psychosozialen Therapien ein großer Teil der praktischen Arbeit von anderen Berufsgruppen durchgeführt. Die ärztlichen Aufgaben bestehen in der Indikationsstellung, der Supervision und der Verantwortung des Gesamtbehandlungsplans und weniger in der Durchführung. Setting und soziale Interaktionen. Menschliches Verhalten und das Funktionsniveau sind an bestimmte Settings und Personen gebunden. Daher ist es schwierig, von Verhaltensweisen in einer spezifischen Umgebung auf solche unter anderen Bedingungen zu schlussfolgern. Wie auch das Beispiel der kognitiven (neuropsychologischen) Rehabilitation eindrücklich zeigt, ist der Transfer erworbener Fähigkeiten und Möglichkeiten in andere Settings schwierig (Pilling et al. 2002; Glynn et al. 2002). Soziotherapeutische Herangehensweisen müssen daher die Grundannahmen und die sozialen Botschaften bedenken, die psychiatrische Dienste und Interventionen transportieren. Wenn den Diensten insgesamt ein niedriger Status zugeschrieben wird, beurteilen diejenigen, die die Dienste nutzen, ihren Status ebenfalls als niedrig (Simpson et al. 1984). Die Verbesserung des Status der psychiatrischen Einrichtung selbst und die Ermöglichung des Zugangs zu sozialen Einrichtungen mit hohem Status muss daher immer auch Ziel soziotherapeutischen Handelns sein. Den eindrücklichsten Beweis dafür, dass der Langzeitverlauf der Schizophrenie und die sozialen Beeinträchtigungen durch die Umgebung des Betroffenen beeinflusst wird, erbrachte die Studien von Wing und Brown (1970), in der 3 psychiatrische Kliniken verglichen wurden. Viele der Verhaltensauffälligkeiten der chronisch schizophren Erkrankten wie Selbstgespräche, Besonderheiten der Körperhaltung und der Kommunikation sind nicht unvermeidbar und der Erkrankung eigen, sondern können zu einem bedeutenden Teil das Produkt einer monotonen, wenig stimulierenden Umgebung sein. Nachdem auch in Deutschland in unterschiedlichem Ausmaß psychiatrische Kliniken verkleinert oder in das medizinische Behandlungssystem integriert und Langzeitpatienten entlassen, ambulant behandelt oder in andere gemeindenahe Einrichtungen transferiert wurden, spielt gegenwärtig eher das Problem der Ghettoisierung und des Ausschlusses an der sozialen Teilhabe (Social Exclusion Unit 2004) eine für den oft niedrigen Status psychiatrisch Erkrankter bedeutende Rolle. Patienten aktiv einbeziehen. Ein weiteres Prinzip der Soziotherapie ist die aktive Einbeziehung der Patienten in den Therapieprozess, in die Festlegung der Ziele und die Auswahl der Maßnahmen. Psychosoziale Therapien setzen die aktive Mitarbeit der Patienten voraus. Das schließt nicht aus, dass in bestimmten Phasen auch eine Motivationsarbeit erfolgen muss. Wesentliche Qualitätskriterien
875 35.3 · Wirkfaktoren der Soziotherapie
sind dabei, inwieweit die Nutzer über die Ziele und Zwecke eines Hilfsangebots informiert sind, es selber als angemessene Form der Unterstützung betrachten, Möglichkeiten zur Mitgestaltung und Mitentscheidung haben sowie kontinuierliche Rückmeldungen über den Verlauf der Therapie und ihre Ergebnisse erhalten (Fisher 1994).
Spezifische und unspezifische Wirkungen Bezüglich der Effekte psychosozialer Therapien sind spezifische und unspezifische Wirkungen zu unterscheiden. Unspezifische Wirkungen liegen in der allgemeinen Aktivierung, dem tagesstrukturierenden Effekt einiger Maßnahmen, der Förderung von sozialen Aktivitäten und Kommunikation oder dem regelmäßigen Kontakt zum Versorgungssystem. Die spezifischen Effekte liegen v. a. in dem erreichten Zuwachs an Fähigkeiten, Kompetenzen und Wissen. Dies kann sich auf arbeitsbezogene Fähigkeiten durch ergotherapeutische oder im weiteren Sinn arbeitsrehabilitative Maßnahmen beziehen oder auf größeres Wissen und verbesserte Handlungskompetenz im Umgang mit Krankheitssymptomen und der Medikation durch psychoedukative Maßnahmen. Verbunden mit diesem Zuwachs an Fähigkeiten ist eine Stärkung des Selbstbewusstseins, eine aktivere Rolle in der Bewältigung der Erkrankung und eine Orientierung auf soziale Integration. Zudem trägt die Verbesserung von Coping-Strategien und der Compliance wesentlich zur Stressreduktion bei. Soziotherapie ist nicht lediglich die Organisation von Behandlung und Versorgung, obgleich der die Gesundung fördernde oder verhindernde Einfluss des stationären, teilstationären und ambulanten therapeutischen Settings, der Gestaltung des Milieus in den Kliniken und sonstigen psychiatrischen Einrichtungen, der Organisation der Abläufe und der Art der Versorgungskette mit einzelnen Modulen nicht bestritten wird. Zudem ist eine Reihe von soziologischen und psychologischen Theorien für die Wirkung von Milieufaktoren entwickelt wurden (Jones 1976; Gunderson 1983). Psychosoziale Interventionen können allerdings nicht vollständig von der Gestaltung des Versorgungssystems getrennt werden (Weinmann u. Gaebel 2005). Die Versorgungsstruktur kann, neben dem sinnvollen Anordnen und Zugänglichmachen von wirksamen Einzelbestandteilen der Therapie, in ihrer gesamten Konfiguration als soziale Einheit per se Rückwirkungen auf den Verlauf von psychischen Erkrankungen haben.
35.3
Wirkfaktoren der Soziotherapie
35.3.1
Unterstützung und soziale Netzwerke
ventionen wird deutlich, dass für das langfristige Outcome bei psychischen Erkrankungen nicht nur das, was an Diensten angeboten wird, entscheidend ist, sondern auch, wie es angeboten wird. Der Prozess psychiatrischer Behandlung, Versorgung und Rehabilitation rückt in den Mittelpunkt. Allerdings steht die Wirkfaktorenforschung insbesondere bei schweren psychischen Erkrankungen noch am Anfang. Am Beispiel der Schizophrenie mit einer zunehmend besser erforschten bedeutenden biologischen Vulnerabilität einerseits und des beträchtlichen Einflusses psychologischer und sozialer Prozesse auf den langfristigen Verlauf andererseits wird deutlich, dass beispielsweise das Konzept sozialer Unterstützung und unterstützender sozialer Netzwerke wenig verstanden ist, obgleich es hohe Relevanz besitzt (Brugha 1990; Becker et al. 1998). So kann es bei einigen Betroffenen nicht sinnvoll sein, einfach die sozialen Kontakte erweitern zu wollen, ohne auf die Qualität der Beziehungen zu achten. ! Für die Betroffenen scheint es wichtiger zu sein, Unterstützung zu empfinden als Zugang zu vielen Personen zu haben, von denen nur wenige als hilfreich betrachtet werden. Der Nutzen und die Art der gewünschten sozialen Unterstützung bei der Schizophrenie sind wenig untersucht und variieren interindividuell erheblich. Die Qualität der Beziehungen kann theoriegeleitet aus der Perspektive der Expressed-Emotions(EE)-Forschung betrachtet werden. Eine Reihe von neueren Studien haben die ursprünglichen Befunde eines höheren Rückfall- und Wiedererkrankungsrisikos bei der Schizophrenie unter Bedingungen von emotionalem Überengagement, Überprotektivität oder feindseliger Kritik in der Familie bestätigt (Vaughn u. Leff 1985; Kuipers u. Bebbington 1988). Diese Befunde können auch auf die Beziehungsgestaltung im Rahmen soziotherapeutischer oder allgemein psychiatrischer Interventionen angewendet werden. Für viele von einer Schizophrenie Betroffene wird eine therapeutische Begleitung ohne Intimität im Sinne von »low expressed emotions«-Kontakten als hilfreich erlebt. Für andere kann ein integriertes oder loses Netzwerk unterschiedlichster Personengruppen wie Freunde mit oder ohne Psychiatrie-Erfahrung, ärztlicher und psychologischer Therapeuten, Sozialarbeiter sinnvoll sein. Soziale Netzwerke können wichtige stabilisierende Ressourcen für den Betroffenen, jedoch auch mitbedingende und den Verlauf beeinflussende Faktoren für psychische Erkrankungen sein (Born u. Becker 2004). Der Netzwerkbegriff muss sicherlich künftig für die stärkere alltagsweltliche Orientierung psychosozialer Interventionen breiter genutzt werden.
Vulnerabilität-Stress-Coping-Modell Nach einer Phase der Erforschung unterschiedlicher Versorgungsmodule und spezifischer psychosozialer Inter-
Eine wichtige Rahmenhypothese zur Wirkfaktorenforschung bildet das Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modell
35
876
Kapitel 35 · Soziotherapie
(Nuechterlein u. Dawson 1984), welches postuliert, dass psychische Erkrankungen und ihre Folgen auf der Grundlage einer psychobiologischen Vulnerabilität entstehen, dass die auftretenden Störungen durch akute Stressoren oder lang dauernde Belastungen ausgelöst und durch Protektoren abgemildert werden können. Zu diesen protektiven Faktoren gehören auch soziale Kompetenzen, tragfähige soziale Netze und Coping-Strategien im Umgang mit Belastungen (Rüesch u. Neuenschwander 2004). Der Organisation sozialer Unterstützung bei schwerer psychischer Erkrankung wie der Schizophrenie liegt häufig die implizite Annahme zugrunde, dass soziale Behinderung und Verringerung und Instabilität sozialer Unterstützung ursächliche Faktoren für Exazerbationen der Erkrankung darstellen. Es bleibt allerdings weiterhin unklar, ob die beobachteten Probleme der Quantität und Qualität des sozialen Netzes (Angermeyer 1995) Ursachen oder Konsequenzen der Erkrankung selbst sind. Am wahrscheinlichsten interagieren sie und haben vielfältige Wechselwirkungen. Eine Hypothese zur Wirkung sozialer Unterstützung wird als Puffer-Hypothese bezeichnet. Soziale Unterstützung soll demnach eine puffernde Wirkung haben, die dann zum Tragen kommen, wenn der Betroffene starkem Stress oder ungünstigen Lebensereignissen ausgesetzt ist (Alloway u. Bebbington 1987).
Größtmögliche Normalität und Einbezug von Betroffenen
35
Alltagsnähe. Aus der Forschung zum Training sozialer Fertigkeiten (»social skills training«) und zur kognitiven Verhaltenstherapie können ebenfalls Wirkfaktoren für Soziotherapie herausgearbeitet werden. Während in der experimentellen Situation deutliche Effekte des Fertigkeitentrainings sichtbar sind, ist das Problem der Individualisierung und Verallgemeinerung im Sinne eines Transfers in den Alltag noch nicht gelöst (Liberman et al. 1986). Es konnte bisher nicht nachgewiesen werden, dass der Zuwachs an sozialer Kompetenz bei der Schizophrenie zu einer verringerten Rückfallrate führt, Symptomexazerbationen verhindert oder die Lebensqualität verbessert, weshalb das »skills training« in vielen evidenzbasierten Leitlinien nicht für die Routinebehandlung empfohlen wird (DGPPN 2006). Eine Schlussfolgerung hieraus kann sein, das Behandlungssetting so normal wie möglich zu gestalten oder im Idealfall die Unterstützung direkt im normalen Lebensumfeld des Betroffenen zu organisieren, z. B. als »training on the job« anstelle einer institutionell organisierten Arbeitstherapie. Je artifizieller das Setting, desto geringer ist die Verallgemeinerung in den Alltag.
diger Kompetenzen und Fähigkeiten voraus. Sie können nur durch einen adäquaten Einbezug von Betroffenen in die Behandlung (»user involvement«), durch Nutzerbefragungen oder durch Erkenntnisse aus der Forschung zu psychiatrischen Einrichtungen gewonnen werden, die von Betroffenen initiiert, geplant, gestalten und evaluiert werden (sogenannte »user-run services«). Auch der Einbezug von Nutzern in die psychiatrische Versorgungsforschung wird vor diesem Hintergrund an Bedeutung gewinnen (Krumm u. Becker 2005). »User-run services« sind entstanden, da trotz vielfältiger Bemühungen um die Qualität der Versorgung in traditionellen psychiatrischen Einrichtungen häufig organisations- oder haltungsbedingte Barrieren für das Angebot einer wirksamen Behandlung existieren (MacNeil u. Abbott 2000). Die Idee, dass Menschen mit persönlichen Erfahrungen psychischer Erkrankung befähigt werden, aktiv an der Gestaltung psychiatrischer Dienste mitzuwirken, basiert auf zwei grundlegenden Annahmen. Einerseits wird davon ausgegangen, dass ein bestimmter Anteil der psychiatrischen Symptome und Beeinträchtigungen aus einer unzureichenden Deckung des komplexen Bedarfs an Behandlung und Versorgung im Rahmen des ambulanten und stationären Gesundheitssystems stammt (Chinman et al. 2001). Diese Lücke soll von den Nutzern geschlossen werden, die den Problemen sozialer Isolierung, Demoralisierung, niedriger Lebensqualität und inadäquater Nutzung des Versorgungssystems mehr Bedeutung beimessen. Andererseits können die persönlichen Erfahrungen der Betroffenen zur Entwicklung wirksamerer Dienste mit besserem Behandlungsergebnis beitragen, indem: Rollenfunktionen psychisch Erkrankter in die Therapie miteinbezogen werden, ein Schwerpunkt auf Gesundung gelegt wird und Empathie und emotionale Unterstützung zusammen mit praktischer Information, Copingstrategien und der Verbesserung sozialer Netze zur gezielteren Stärkung des Selbstwertes und Erhöhung der Motivation und Leistungsbereitschaft beitragen (Felton et al. 1995). Auch in der Forschung zu Wirkfaktoren der Milieutherapie, die stark vom Konzept der therapeutischen Gemeinschaft nach Maxwell Jones beeinflusst ist, spielen soziale Kompetenzen und modellhafte Interaktionen eine wichtige Rolle.
35.4
Psychosoziale Interventionen
35.4.1
Ergotherapie
Nutzerorientierung. Die Orientierung der Behandlung an
den Erfordernissen konkreter Lebenssituationen setzt eine genaue Kenntnis des Alltags der Betroffenen und die Identifikation wichtiger für das Lebensumfeld notwen-
Ergotherapie (»occupational therapy«) meint die zielgerichtete Beeinflussung von Symptomen einer Erkrankung bzw. von Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beein-
877 35.4 · Psychosoziale Interventionen
trächtigungen im Rahmen einer Behinderung durch eine spezifische Aktivität, zu der ein Patient auf Grund einer vorausgegangenen handlungsbezogenen Diagnostik veranlasst und angeleitet wird. In der Psychiatrie spielt Ergotherapie traditionell eine große Rolle ( Kap. 36.1). Die in Deutschland noch übliche Unterteilung der Ergotherapie in Beschäftigungstherapie (mit therapeutischen Handlungen meist aus dem künstlerisch-kreativen Bereich) und Arbeitstherapie (mit starkem Bezug zu Tätigkeiten aus der realen Berufswelt) ist zwar nicht ohne praktische Bedeutung, entspricht aber nicht dem aktuellen internationalen Diskussionsstand und sollte daher relativiert werden. Der arbeitstherapeutische Schwerpunkt der Ergotherapie zeigt fließende Übergänge zur Arbeitsrehabilitation. Nicht mehr als Ergotherapie bezeichnet werden sollte eine tagesstrukturierende Beschäftigung ohne definiertes therapeutisches Ziel (Becker et al. 2005). Ergotherapie setzt zweckvolle Aktivitäten ein, um Krankheitssymptome zu überwinden, Funktionsstörungen vorzubeugen und die Selbstständigkeit zu verbessern. Neben der Motivation zu Aktivitäten, der Schaffung der Voraussetzungen, der Anleitung und Begleitung, bei der Aktivität können Aufgaben oder Umweltbedingungen zur Steigerung der Durchführungsqualität der Betätigung (Performanz) auch entsprechend angepasst werden. Im Mittelpunkt steht die Förderung der Handlungskompetenzen und Handlungsfähigkeiten. Dieses Vorgehen setzt eine angemessene Befunderhebung (handlungsorientierte Diagnostik) voraus.
35.4.2
Maßnahmen der Arbeitsrehabilitation
Unter arbeitsrehabilitativen Maßnahmen werden hier alle psychosozialen Interventionen verstanden, die systematisch auf eine Verbesserung der Arbeits- und Beschäftigungssituation psychiatrischer Patienten abzielen. Sie unterscheiden sich in Bezug auf ihre institutionelle Organisation, ihr Klientel, Art und Umfang der eingesetzten Methoden, Ziele, Zeitdauer, Finanzierungsrahmen etc. erheblich (Reker 1998). Kompetenzvermittlung vs. veränderte Arbeitsumgebung. Dabei kann der Schwerpunkt der Bemühungen
entweder auf der Vermittlung von Kompetenzen für das betroffene Individuum (personaler Ansatz, skills training) oder auf einer behinderungsgerechten Arbeitsumgebung (ökologischer Ansatz, environmental ressource intervention) liegen. Beispiel für die erste Strategie sind ein arbeitstherapeutisches Training in der ambulanten Arbeitstherapie, beruflichen Trainingszentren oder einer Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke (RPK). Hier erfolgen im Idealfall eine Diagnostik arbeitsbezogener Kompetenzen und Defizite sowie ein gezieltes Trai-
ning. Ein Beispiel für die Alternativstrategie des umgebungszentrierten Ansatzes sind die Werkstätten für Behinderte. Hier wird institutionell ein »beschützendes« Milieu geschaffen, in dem auch Menschen mit erheblichen Einschränkungen und Defiziten langfristig arbeiten können. Die genannten Ansätze des personalen bzw. umgebungszentrierten Ansatzes sind in der Praxis allerdings nicht eindeutig distinkt und alternativ, sondern bilden konzeptionelle Schwerpunkte (Reker 2001). Train-and-place- vs. Place-and-train-Ansatz. Die zweite
Unterscheidung kann nach dem methodischen Vorgehen des Train-and-place- versus einem Place-and-trainAnsatz vorgenommen werden. Die Mehrzahl aller arbeitsrehabilitativen Hilfen in Deutschland aber auch international verfolgt den traditionellen Train-and-placeAnsatz. Das bedeutet, dass vor dem Versuch einer Arbeitsaufnahme auf einem kompetitiven Arbeitsplatz ein mehr oder weniger umfangreiches vorbereitendes Training erfolgt. Der Place-and-train-Ansatz, der den amerikanischen Supported-employment(SE)- oder Individualplacement-and-support(IPS)-Programmen zugrunde liegt, verfolgt eine diametral andere Strategie (Becker u. Drake 1993; Corrigan 2001). Die Platzierung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erfolgt – die Motivation der Betroffenen und eine ausreichende psychopathologische Stabilität vorausgesetzt – ohne lange Vorbereitungsphase im beschützenden Rahmen. Vielmehr werden das Training und die psychosoziale Betreuung durch einen »job coach« direkt am neuen Arbeitsplatz durchgeführt, wobei diese Unterstützung zeitlich nicht limitiert ist. Es liegen inzwischen eine Reihe von kontrollierten Studien vor, die eine Überlegenheit dieses Ansatzes bezüglich der Rate von erfolgreich beruflich eingegliederten Patienten belegen (Twamley et al. 2003), wobei die Vergleichsgruppen an traditionellen Rehabilitationsprogrammen teilnahmen.
35.4.3
Psychoedukation
Psychoedukation im Sinne systematischer didaktischer Interventionen zur Aufklärung von Betroffenen über ihre Erkrankung und Vermittlung sinnvoller Krankheitsbewältigungsstrategien, Familieninterventionen und Maßnahmen zur Steigerung der Compliance können ebenfalls als soziotherapeutische Interventionen betrachtet werden. Für die Psychoedukation sind der Dialog zwischen Betroffenem und Therapeuten und soziale Interaktionen zwischen Teilnehmern der Gruppensitzungen von großer Bedeutung. Familieninterventionen basieren auf der Beobachtung, dass Angehörige langfristig eine wichtige Quelle sozialer Unterstützung für die Betroffenen darstellen und die Interaktion in der Familie den Krankheitsverlauf beeinflussen kann. Auch die Therapie-Compliance
35
878
Kapitel 35 · Soziotherapie
(bezüglich medikamentöser als auch nichtmedikamentöser Behandlung) kann bei psychischen Erkrankungen für den Krankheitsverlauf von großer Bedeutung sein. Daher wurde eine Reihe von Interventionen zur Verbesserung der Compliance insbesondere bei Psychose evaluiert (Puschner et al. 2005). Compliance-Therapie (Kemp et al. 1996) und strukturierte Psychoedukation (Hornung et al. 1998) wirken sich zumindest während der Intervention positiv auf die Compliance aus, allerdings fehlen Langzeitstudien.
teile aufgetrennt werden. Störungen des nichtverbalen Verhaltens, der Sprachmodulation oder der interaktiven Balance sollen vermindert werden, um das gesamte soziale Verhalten zu verbessern. Einige Studien zeigten eine Verbesserung des sozialen Funktionsniveaus und einiger Kernkompetenzen bei Menschen mit Schizophrenie, eine Verallgemeinerung in den Alltag der Betroffenen hinein war jedoch nicht immer gegeben (Pilling 2002).
35.5 35.4.4
Case Management
Das in den USA entwickelte Case Management geht immer über die medizinisch-psychiatrische Behandlung hinaus und bezieht soziale Dienste mit ein. Inhalte dieser Versorgungsstruktur sind das Einschätzen, Planen, Arrangieren und Verknüpfen von Diensten, die Überwachung und Begleitung der Inanspruchnahme (Moxley 1989). Ein Fallmanager koordiniert die Inanspruchnahme der Gesundheitsdienste in einem komplexen, fragmentierten Gesundheitssystem. Das sogenannte Assertive Community Treatment (ACT) als teambasierte Variante des Case Management ist wissenschaftlich am besten evaluiert, zielt auf die Behandlung und Versorgung schwer Erkrankter mit geringer Compliance und schwerer sozialer Beeinträchtigung. Das ambulante Behandlungsteam ist multidisziplinär und hat die Möglichkeit aufsuchender Betreuung. Die Forschungsliteratur zum Case Management und Assertive Community Treatment ist beträchtlich und zeigt, dass nicht so sehr die Fallsteuerung und Koordination der Dienste, sondern die Kontinuität der Betreuung mit Integration sozialer und medizinischer Kompetenzen, aufsuchender Behandlung und die Teambasiertheit wesentliche Wirksamkeitsfaktoren sind (Wright et al. 2003).
35
35.4.5
Skills-Training
Trainingsprogramme zur Verbesserung sozialer Fertigkeiten basieren auf einer detaillierten Analyse des Verhaltens und der Fähigkeiten der Teilnehmer und nutzen in Gruppen- oder Einzelsitzungen: Strategien zur Stressreduktion, zum Training verbaler und nonverbaler Kommunikation, Verhaltensübungen, positive Verstärker, Rollenspiele bis hin zur Einübung komplexer Fertigkeiten im Rahmen von Konversationen. Dem Social-Skills-Training liegt die Vorstellung zugrunde, dass soziale Fertigkeiten systematisch trainiert werden, indem komplexe Handlungen in ihre Einzelbestand-
Ambulante Soziotherapie
Die ambulante Soziotherapie nach § 37a SGB V, die nach einem Modellprojekt im Jahre 2000 als ambulant abrechenbare kassenärztliche Einzelleistung eingeführt wurde, kann als personenzentrierter Hilfeansatz zur Koordination von Leistungen mit dem Ziel des Erreichens einer selbstständigen Inanspruchnahme des Betreuten einer eingeschränkten Form des international gut untersuchten Case Management-Modell zugerechnet werden (Frieboes 2003). Erklärtes Ziel der ambulanten Soziotherapie ist es, Patienten darin zu unterstützen, selbständig das psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfesystem zu nutzen und sie zur Inanspruchnahme zu motivieren. Sie hat damit insbesondere administrative und koordinierende Leistungsinhalte und entwickelt keine oder geringe therapeutische Initiative, die notwendiger Bestandteil einer verlaufsbezogenen Fallsteuerung, Psychoedukation, eines Fertigkeitentrainings oder gar psychotherapeutisch oder sozialarbeiterisch orientierter Interventionen wäre (Frieboes 2005).
35.6
Milieutherapie
Mit dem Begriff Milieutherapie verbindet sich ein umfassendes und praktisch relevantes, empirisch aber kaum fassbares Konzept. Im weitesten Sinne werden darunter die Gestaltung von Umgebungsbedingungen, sozialen Regeln und Umgangsformen sowie die Organisation aller therapeutischen Angebote verstanden (Müller 1972; Almond 1975; Gunderson 1978; Cumming u. Cumming 1979; Heim 1985; Becker et. 2005). Historisch betrachtet bezieht sich Milieutherapie zuallererst auf die Gestaltung institutioneller Milieus in Krankenhäusern, Stationen, Wohnheimen oder Tageskliniken. Die grundlegenden Annahmen, nämlich dass das Milieu einer Einrichtung einen starken Einfluss auf die Befindlichkeit chronisch schizophrener Patienten hat und dass über die gezielte Gestaltung eines therapeutischen Milieus Behandlungserfolge erzielt werden können, ist durch die berühmte Drei-Hospitäler-Studie von Wing und Brown (1970) empirisch belegt. In das Milieu psychiatrischer Einrichtungen geht eine unüberschaubare Vielzahl einzelner Faktoren ein, die von
879 35.6 · Milieutherapie
der Architektur und dem Personalschlüssel bis zu den fachlichen Konzepten, der Organisation der Therapieangebote und persönlichen Eigenschaften von Mitarbeitern reichen. Damit sind gleichzeitig die besonderen Stärken und Schwächen des Konzeptes umrissen. Im positiven Sinne lenkt Milieutherapie die Aufmerksamkeit auf die banale Tatsache, dass eine Behandlung nicht im luftleeren Raum, sondern notwendigerweise in einer sozialen wie materiellen Umgebung stattfindet. Diese kann sehr verschiedene positive wie negative Eigenschaften haben, aber sie kann nicht »nicht« sein. Das Konzept Milieutherapie fordert zu einer bewussten und (therapie-)zielorientierten Gestaltung der Umgebungsbedingungen heraus. In diesem Sinne kann es für die Begründung der Forderung nach angemessenen Räumlichkeiten, einer ansprechenden Ausstattung, genügend Personal, einem bestimmten therapeutischen Stil oder des Umfanges und der Art der Therapieangebote herangezogen werden. Cave Gleichzeitig ist diese Beliebigkeit aber auch die größte Schwäche des Konzeptes, da es zur Legitimation fast jeder Maßnahme dienen kann, nicht eingrenzbar und empirisch nicht überprüfbar ist.
Erfahrungsgeleitete Entscheidungen. Zwar gibt es in der Praxis einen Konsens über Grundcharakteristika verschiedener therapeutischer Milieus, z. B. der beruhigenden, reizarmen Atmosphäre einer Akutaufnahmestation oder dem aktivierenden Milieu einer psychiatrischen Tagesklinik (Heim 1985; Reker 2004), in den Einzelheiten müssen Entscheidungen und Bewertungen aber weiterhin überwiegend erfahrungsgeleitet und im Rahmen heuristischer Konzepte und weniger auf der Basis empirisch gesicherten Wissens erfolgen (Veltin 1979). Die Bedeutung und das Bewusstsein für das Konzept »Milieutherapie« in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung sind wahrscheinlich auch in dem Maße gesunken wie es gelungen ist, bestimmte materielle, bauliche und personelle Standards zu realisieren bzw. durch andere Argumentationen und Konzepte (PsychPV, Qualitätsmanagement etc.) zu begründen. Bauliche Einrichtungsgestaltung. Als bedeutendes mili-
eutherapeutisch wirksames Element wurde schon lange die bauliche Gestaltung psychiatrischer Einrichtungen angesehen. In den beiden letzten Jahrhunderten spiegelten sich in den Entscheidungen zu den Orten und zur architektonischen Gestaltung psychiatrischer Kliniken auch unterschiedliche Vorstellungen zu Therapiezielen und zur Milieutherapie wieder. Eine Ruhe, Entspannung und Reizarmut signalisierende Umgebung wurde eher für psychotisch Erkrankte, eine Anregung und Aktivierung vermittelnde Umgebung eher für depressiv Erkrankte
favorisiert (Müller 1997). Mit zunehmend gemeindenaher Behandlung wird deutlich, dass es in den meisten Fällen sinnvoll ist, auch eine bauliche Normalisierung und Integration (in das unmittelbare Umfeld oder Angliederung ans Allgemeinkrankenhaus) anzustreben, um den Wechsel zwischen Alltagsleben und Krankenhausbehandlung möglichst gering zu halten. Insgesamt muss berücksichtigt werden, dass sich die Anforderungen an Ausstattung und bauliche Gestaltung psychiatrischer Einrichtungen je nach Behandlungsschwerpunkt und Therapieziel unterscheiden können, eine starke Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche der behandelten Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit jedoch auch zu Verbesserungen der Atmosphäre und des Ablaufs des Stationsalltags und der therapeutischen Prozesse führt. Lebensumgebung Erkrankter positiv beeinflussen. In
einem weiteren Sinne lassen sich unter Milieutherapie auch Interventionen fassen, die nicht in einem institutionellen Milieu stattfinden, die aber auch auf eine positive Beeinflussung der Lebensumgebung psychisch Erkrankter abzielen. In diesem Sinne sind z. B. betreute Wohnformen mit regelmäßiger psychosozialer Unterstützung, Gestaltung des Tagesablaufes, lebenspraktischer Hilfen und sozialen Kontakten Formen der Milieutherapie. Das Spektrum reicht vom betreuten ambulanten Einzelwohnungen über betreute Wohngemeinschaften bis zu heimähnlichen Unterbringungen (Becker et al. 2005).
Besondere sozialpsychiatrische Einrichtungen Als weiteres Beispiel lassen sich Sozialpsychiatrische Dienste nennen, die von den örtlichen Gesundheitsämtern oder freien Wohlfahrtsverbänden organisiert und getragen werden. Sie entsprechen am ehesten den angloamerikanischen gemeindepsychiatrischen Teams. Sie bieten aufsuchende und nachgehende Hilfen. Ihre Zielgruppe sind v. a. Menschen, die von sich aus keine Hilfsangebote annehmen können oder wollen (Gollmer 1991). Dabei sind neben der Zuweisung zum ambulanten oder stationären Versorgungssystem, soziale Beratung, Krisenintervention, Case-Management-Funktionen sowie alltagsbezogene Unterstützung und Betreuung die inhaltlichen Aufgaben dieser Dienste. In dieser Weise definiert sind sozio- und milieutherapeutische Aspekte auch in der Arbeit von psychiatrischen Institutsambulanzen enthalten, die ein spezialisiertes Versorgungsangebot zur Nachbetreuung entlassener, schwer erkrankter oder besonders rückfallgefährdeter Patienten, und die Möglichkeit der gleichzeitigen sozialen Betreuung und aufsuchenden Behandlung auf der Basis eines multiprofessionellen Teams vorhalten.
35
880
Kapitel 35 · Soziotherapie
Auch in sozialpsychiatrischen Schwerpunktpraxen können spezifische soziotherapeutische Leistungen erbracht werden.
Versorgungsstruktur Im allerweitesten Sinne kann unter Milieutherapie auch noch die Organisation und inhaltliche Gestaltung der regionalen psychiatrischen Versorgung verstanden werden.
Präziser wäre es zu sagen, dass die Versorgungsplanung und -strukturen auch milieutherapeutische Aspekte beinhalten. Dabei geht es nicht nur um Quantitäten, Fallzahlen oder Zuständigkeiten sondern v. a. um »weichere« Faktoren wie die therapeutische Grundhaltung der in dem regionalen Versorgungsnetz Tätigen, ihre Kooperationskultur und ihre -strukturen sowie den Grad der aktiven Einbeziehung der Nutzer.
EbM-Box Insbesondere für die Gruppe der schweren psychischen Erkrankungen liegen zahlreiche kontrollierte Studien und Metaanalysen vor, welche die Wirksamkeit einzelner Komponenten soziotherapeutischer Interventionen oder ganzer Versorgungsmodule nachweisen. Als Versorgungsbestandteil ist die gemeindepsychiatrische aufsuchende Behandlung, das Assertive Community Treatment (ACT) als teambasierte und intensivierte Form eines klinischen Case Management am besten evaluiert. ACT führt zu weniger stationären Aufnahmen, zu Vorteilen im Ausmaß unabhängiger Lebensführung und weniger Arbeitslosigkeit bei den Betroffenen (Level A). Insbesondere regelmäßige Hausbesuche und die gemeinsame Verantwortung für die medizinische und soziale Versorgung sind Wirksamkeitsfaktoren. Nicht teambasiertes Case Management (CM) kann zu einem erhöhten Kontakt zum Versorgungssystem, jedoch auch zu mehr stationären Behandlungen führen (Level A). Vorteile bezüglich der Lebensqualität oder der Psychopathologie zwischen ACT oder CM und der Standardbehandlung ergaben sich nicht. Für die Arbeitsrehabilitation zeigte sich konsistent eine Überlegenheit des so genannten »Supported Employment« mit rascher Platzierung am Arbeitsplatz ohne
35
35.7
Zusammenfassung
Soziotherapeutischen Ansätzen ist gemeinsam, dass das soziale Umfeld des von einer psychischen Erkrankung Betroffenen bewusst in die Behandlung miteinbezogen wird. Soziotherapeutische Verfahren zielen auf eine positive Beeinflussung der Interaktion zwischen Betroffenem und seiner sozialen Umgebung, indem entweder die Umgebung (Wohnen, soziale Kontakte, Arbeit) gestaltet wird, um eine günstige Wirkung zu erreichen, oder indem soziale und kommunikative Kompetenzen und sinnvolle Fähigkeiten vermittelt werden, die eine stärkere persönliche Kontrolle über die Lebensführung ermöglichen. Unter Soziotherapie werden umschriebene psychosoziale Interventionen wie Ergotherapie, arbeitsrehabilitative Maßnahmen, Case Management, psychoedukative Ver-
lange Vorbereitungsphase und mit kontinuierlicher Betreuung gegenüber anderen arbeitsrehabilitativen Maßnahmen (Level A). Einige kontrollierte Studien zeigen gewisse Vorteile spezifischen Fertigkeitentrainings (Social Skills Training) und kognitiver Rehabilitation in einigen sozialen Kernkompetenzen, eine Verallgemeinerung in den Alltag konnte jedoch nicht konsistent gezeigt werden (Level A). Psychoedukative Verfahren haben sich insbesondere bei der Schizophrenie und anderen schweren psychischen Erkrankungen bezüglich der Compliance und Rückfallhäufigkeit als wirksam erwiesen, allerdings nur, wenn kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen oder Familieninterventionen unter Einschluss der Betroffenen angeboten werden (Level A). Ergotherapie und milieutherapeutische Verfahren werden vorwiegend auf der Basis heuristischer Konzepte eingesetzt (Level C). Sie sind allerdings weit verbreitet und werden zur Förderung der Handlungskompetenzen und Handlungsfähigkeiten stationär und ambulant eingesetzt. Kontrollierte Studien sind nicht verfügbar, wobei Probleme adäquater Randomisierung und Deckeneffekte die Effektivitätsmessungen erschweren, jedoch nicht unmöglich machen.
fahren sowie bestimmte Skills-Training-Programme subsumiert. Darüber hinaus umfasst Soziotherapie die bewusste Gestaltung eines therapeutischen Milieus in psychiatrischen und psychosozialen Einrichtungen sowie aufsuchende Hilfen in betreuten Wohnformen oder psychosozialen Diensten. Im allerweitesten Sinn kann Milieutherapie auch die Gestaltung und Organisation der regionalen Versorgungsstrukturen umfassen. Ambulante Soziotherapie ist eine sozialrechtlich definierte Leistung der gesetzlichen Krankenkassen, deren enge inhaltliche Ausgestaltung und ungenügende Finanzierung ihren praktischen Einsatz leider erheblich beschränken. Eine große Zahl an Forschungsergebnissen zeigt die bedeutende Rolle sozialer Faktoren für Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankung und den Erfolg einer größtmöglichen Normalität und Nutzerfreundlichkeit
881 Literatur
des Behandlungssettings. Die gezielte Kombination biologischer und psychosozialer Behandlungsverfahren, die Stärkung sozialer Netze und die Berücksichtigung sozialer Rollenfunktionen stellen wesentliche Erfolgsfaktoren therapeutischer und rehabilitativer Prozesse in der Psychiatrie dar.
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882
Kapitel 35 · Soziotherapie
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35
36 36 Ergotherapie, Kreativtherapie, Körperund Sporttherapie C. Habermann, J. Unterberger, A. Broocks
36.1 36.1.1 36.1.2 36.1.3 36.1.4 36.1.5 36.1.6 36.1.7 36.1.8
36.2 36.2.1 36.2.2 36.2.3 36.2.4 36.2.5
Ergotherapie – 884 Definition – 884 Paradigmen der Ergotherapie – 884 Geschichte der Ergotherapie in der Psychiatrie – 884 Praxismodelle der Ergotherapie – 885 Struktur der ergotherapeutischen Behandlung – 886 Indikationen für die psychisch-funktionelle Behandlung – 889 Ziele und Zielfindung – 890 Qualitätssicherung, Evaluation und evidenzbasiertes Arbeiten – 896 Kunsttherapie – 896 Definition – 896 Geschichte – 896 Grundlagen – 897 Methoden – 897 Indikationen und Ziele – 898
36.3 36.3.1 36.3.2 36.3.3 36.3.4 36.3.5
Musiktherapie – 898 Definition – 898 Geschichte – 899 Grundlagen – 900 Methoden – 901 Indikationen und Ziele – 901
36.4 36.4.1 36.4.2 36.4.3 36.4.4
Sport- und Bewegungstherapie – 902 Einleitung – 902 Definition – 902 Empirische Belege für die Wirksamkeit – 903 Mögliche Wirkmechanismen von regelmäßigen körperlichem Training – 904 36.4.5 Grundvoraussetzungen für den erfolgreichen Einsatz sporttherapeutischer Angebote – 906 Literatur
– 907
> > Der Bereich der sog. komplementären Therapien umfasst neben der am stärksten verbreiteten Ergo- und Arbeitstherapie auch musik- und kunsttherapeutische Behandlungstechniken. Hinzu kommen Sport- und Bewegungstherapie. Obgleich diese Therapieverfahren sowohl in psychiatrisch-psychosomatischen Kliniken als auch im teilstationären Setting eine große Verbreitung gefunden haben, sind sie in psychiatrischen Lehrbüchern bisher nicht berücksichtigt worden. Hier sollen die Bereiche Ergotherapie, Kunst- und Musiktherapie sowie die Sport- und Bewegungstherapie daher in angemessener Weise dargestellt werden. Neben theoretischen Konzeptionen und empirischen Befunden zur Wirksamkeit werden auch praxisrelevante Hinweise zur Durchführung der genannten Behandlungsmethoden gegeben.
884
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
36.1
Ergotherapie C. Habermann
36.1.1
Definition
Ergotherapie ist als Beruf des Gesundheitswesens heute eine etablierte Profession der sozial-medizinischen und rehabilitativen Arbeitsbereiche. Früher war die Berufsbezeichnung »Beschäftigungs- und Arbeitstherapeut« üblich und wird mit diesem Namen noch in manchen Institutionen weiter so bezeichnet. Die folgende Definition zeigt die aktuellen Paradigmen und das Menschenbild der Ergotherapie (Miesen et al. 2004; S. 152): »Ergotherapie begleitet, unterstützt und befähigt Menschen, die in ihren alltäglichen Fähigkeiten eingeschränkt oder von Einschränkung bedroht sind. Diesen Menschen soll es ermöglicht werden in ihrer Umwelt für sie bedeutungsvolle Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit durchführen zu können. Ziel der Ergotherapie ist es Betätigung zu erreichen und gleichzeitig wird Betätigung als therapeutisches Medium eingesetzt.«
Zum einen wird der Mensch als tätiges Wesen gesehen, der sich mit seiner Umwelt aktiv und partizipierend auseinandersetzt. Zum anderen zeigt sich, dass es wichtige und bedeutungsvolle Bereiche für den Menschen gibt, in denen er tätig ist oder zukünftig tätig sein möchte.
36.1.2
36
Paradigmen der Ergotherapie
große Rolle. Der Mensch soll befähigt werden, mehr Eigenverantwortung für seine Gesundheit zu übernehmen. Er muss zum »Fachmann« für seine Gesundheit und im Umkehrschluss auch für seine Krankheit werden. Dazu gehört auch die Möglichkeit zur Selbstbestimmung bezüglich der Teilnahme am ergotherapeutischen Angebot (Dennhardt 2006). Den klientenzentrierten Ansatz kennzeichnen Respekt und ein partnerschaftlicher Umgang mit den Menschen, die die Dineste der Ergotherapeutinnen nutzen. Seine Autonomie soll respektiert, seine Stärken und Schwächen erkannt werden. Das Bedürfnis des Klienten, eine Wahlmöglichkeit zu haben, wird berücksichtigt. Aus der Zusammenarbeit von Klient und Therapeut gewinnt die Therapie ihren Nutzen (Law et al. 1995; Sumsion 2002). Die Betätigungsziele des Klienten werden in den Mittelpunkt der Befunderhebung und Therapie gestellt (Sumsion 2002, S. 6). Diese Grundannahmen werden in den Modellen der Ergotherapie verwirklicht.
36.1.3
Geschichte der Ergotherapie in der Psychiatrie
In Deutschland wird die Berufsgeschichte noch kaum erforscht. Lediglich ein Werk befasst sich mit der Geschichte der Ergotherapie in Deutschland (Marquard u. Ferber 2004). Im Arbeitsfeld Psychiatrie finden sich in Grundlagenwerken entsprechende Artikel (Scheepers et al. 2007; Kubny-Lüke 2003).
Betätigungsorientierung
Beschäftigungstherapie
Betätigung ist ein Grundverhalten des Menschen. Sie geschieht im Zusammenhang mit Handlung als einem übergeordneten Bereich und Aktivität als Ausführung bestimmter Anteile von Handlung. Handlungen finden in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit statt. Sie sind von den Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person in ihrer Umwelt und innerhalb ihrer individuellen Rollen bestimmt. Ergotherapie geht von der Annahme aus, dass Menschen Handlungen durchführen können und wollen. Für den Klienten bedeutungsvolle Betätigung wird als therapeutisches Medium eingesetzt. Dabei werden ihm einzelne Aktivitäten differenziert als Therapieform angeboten. Ergotherapie geht davon aus, dass jede Form der Betätigung durch die Kultur, Werte, das Alter und Geschlecht des Klienten beeinflusst ist. Diese Annahmen berücksichtigt sie in ihren klientenzentrierten Ansätzen.
Häufig beziehen sich Ergotherapeutinnen auf die Geschichte der Ergotherapie in anderen europäischen Ländern oder die der USA. Entwicklungen in Europa haben aber auch die amerikanische Berufsgeschichte beeinflusst. Die besondere Rolle der Psychiatrie in der Entwicklung der Ergotherapie in Deutschland beschreibt KubnyLücke (2003). Sie stellt fest, dass sich in vielen Berichten über die Jahrhunderte hinweg Hinweise auf die förderliche Wirkung von verschiedensten Betätigungen für psychisch kranke Menschen finden. In der amerikanischen Berufsgeschichte werden verschiedene Wurzeln des Berufes unterschieden, Moral Treatment, Arts-and-CraftsBewegung und Habit Training, die sich auch in der deutschen Ergotherapie wiederfinden. Weitere Einflüsse auf die Ergotherapie sind das Aufgreifen von Entwicklungen in der Medizin (Marotzki 2004). Betätigungen wird als Mittel zur gezielten Funktionsförderung gesehen, mit dem Ziel der (Wieder-)Herstellung von Einzelfunktionen bis hin zur Handlungsfähigkeit. Dabei ist der Prozess wichtiger als das Produkt. Die rehabilitative Ausrichtung ist besonders zum Ende der Therapie vorrangig. Es wird allerdings weiterhin auch die ablenkende Beschäftigung angeboten (Kubny-Lüke 2003).
Klientenzentrierung Der klientenzentrierte Ansatz hat in der Ergotherapie zunehmend an Bedeutung gewonnen. Die Hinwendung zu ergotherapeutischen Modellen haben diese Paradigmenbildung gefördert. Der Aspekt der Gesundheitsförderung, so wie ihn auch die WHO propagiert, spielt dabei eine
885 36.1 · Ergotherapie
Arbeitstherapie Der Gedanke, kranke Menschen zu beschäftigen, existiert bereits seit der Antike. Die Trennung in die Bereiche Beschäftigungs- und Arbeitstherapie ist eine deutsche Entwicklung. In Deutschland wurde durch den Psychiater Hermann Simon eine erste Konzeption der Arbeitstherapie eingeführt (Grüter 1995). Psychisch kranke Menschen sollten schrittweise aus der Inaktivität zur nützlichen Arbeit hingeführt werden. Das Angebot bestand aus handwerklichen sowie haus- und landwirtschaftlichen Tätigkeiten. Diese zielten meistens auf die Selbstversorgung oder verkaufbare Produkte ab. Damit waren die arbeitenden Patienten in die Versorgung der Institution eingebunden und unentbehrlich. Rehabilitative Maßnahmen waren nicht vorgesehen. Das Nazi-Regime verhinderte das Entstehen humaner und rehabilitativer Behandlungskonzepte und beeinflusste damit auch Entwicklungen der Ergotherapie (Kubny-Lüke 2003).
Ergotherapie heute in der Psychiatrie Ergotherapie in psychiatrischen Arbeitsfeldern wird von Sozialwissenschaften und sozialmedizinischen Grundlagen der Psychiatrie begründet. Deren theoretische Konzepte ermöglichen, dass die therapeutischen Prozesse begründbar, planbar und steuerbar werden. Es wird vermehrt dokumentiert und Effektivitätsnachweise werden erbracht. In der Psychiatrie stehen der Ergotherapeutin zur Verwirklichung von Konzepten Bezugswissenschaften als Rahmen zur Verfügung, wie beispielsweise die Sozialmedizin, die Psychoanalyse oder die Verhaltenstherapie. Diese liefern eine theoretische Basis für anwendungsbezogene Behandlungsformen, wie Gestaltungstherapie oder gruppentherapeutische Projekte der Soziotherapie. Die ergotherapeutischen Konzepte beinhalten praktische Anleitungen, Behandlungstechniken, Therapiematerialien und Befundinstrumente. In der zentralen Sicht der Ergotherapie auf die menschliche Betätigung werden lebensund arbeitsweltbezogene Konzeptionen entwickelt. ! Schwerpunkt in der Ergotherapie ist, dem Klienten den Erhalt einer sozialen Teilnahme zu ermöglichen. Die Angebote beinhalten Aktivitäten mit biografischen und soziokulturellen Bezügen. Dass ein Klient sich betätigt, um beschäftigt zu sein, steht als Ziel eher im Hintergrund. Wichtig werden Betätigungen, die für den Klienten im zuvor genannten Sinn Bedeutung haben. Der Zusammenhang zwischen diesen bedeutungsvollen Betätigungen und Gesundheit basiert auf den Ideen des Moral Treatment (Marotzki 2004). Das Paradigma der Klientenzentriertheit mit dem Schwerpunkt auf die bedeutungsvolle Betätigung des Klienten bestimmt die ergotherapeutische Grundhaltung. Daher ist es zunächst auch nicht entscheidend, welcher Altersoder Diagnosegruppe der Klient zugehörig ist. Erst bei den klinischen Schwerpunkten sowie den Befundinstru-
mentarien und bei der Auswahl von therapeutischen Medien wird die Berücksichtigung einer Alters- oder Diagnosegruppe wieder relevant. Ergänzende Hintergründe zur Ergotherapie in der Kinder- und Jugend- sowie Gerontopsychiatrie finden sich bei Kubny-Lüke (2003) und bei Habermann und Wittmershaus (2005). Ein weiterer grundlegender Aspekt der modernen Ergotherapie ist der Aufgabenbereich der Arbeitstherapie oder der von arbeitsrehabilitativen Verfahren. Die Diskussion, wie die Arbeitstherapie der Ergotherapie zuzuordnen ist, kann bei Köhler und Kösner (2003) nachgelesen werden. Weber, Marotzki und Philippi (2007) zeigen auf, wie in Zeiten des sozialen Umbruchs arbeitsrehabilitative Vorgehensweisen diskutiert werden können. Zur Gestaltung der Arbeitsherapie in psychiatrischen Kliniken hat Gerdemann (2006) Qualitätskriterien zusammengestellt.
36.1.4
Praxismodelle der Ergotherapie
Ergotherapeutische Modelle ermöglichen, die komplexen Behandlungsgrundlagen zu ordnen und ein Clinical Reasoning zu unterstützen (Feiler 2003; Abschn. 36.1.8). Die dazugehörigen strukturierten Befunderhebungen zielen darauf, den Klienten als aktiv handelnde Person in seinen typischen Lebensrollen und seinem individuellen Betätigungsverhalten zu erfassen. Beispielhaft werden 2 Modelle aufgezeigt, die aufgrund ihrer Assessments einen hohen Praxisbezug besitzen: 1. Model of Human Occupation (MOHO) und seine Assessments, 2. Canadian Model of Occupational Performance (CMOP) und das Assessment COPM.
Model of Human Occupation (MOHO) und seine Assessments Das MOHO ist von dem US-amerikanischen Professor für Ergotherapie, Gary Kielhofner, mit seinen Mitarbeiterinnen seit Mitte der 1970er Jahre fortlaufend entwickelt worden. Kielhofner und Mitarbeiter (2005) bezeichnen im MOHO den Menschen als »ein sich selbst organisierendes System«. Durch Betätigung steht der Mensch in einer dynamischen Interaktion mit den internen biologischen und psychologischen Faktoren und der Umwelt. Er verändert dabei die Umwelt und wird durch sie verändert. Das Modell zeigt auf, welche Subsysteme menschliches Handeln beeinflussen und motivieren. Es beschreibt, wie Betätigung unterschiedlich ausgeführt wird und verschiedene Muster aufweist. Im Rahmen des MOHO sind zahlreiche Skalen entwickelt worden, mit denen Befunde zu den unterschiedlichen Subsystemen der Betätigung erhoben werden können (⊡ Tab. 36.1). Seit 2004 (in deutscher Übersetzung von Adler et al. seit 2005) steht das »Model of Human Occupation Scree-
36
886
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
⊡ Tab. 36.1. Beispiel zu Assessments des MOHO (www.moho.uic.edu/assessments oder www.aha-netz.de vom März 2006) Name
Autor/-en
Inhalte
Assessment of Communication & Interaction (ACIS)
Forsyth et al. 1995 (Übersetzung: Mentrup 1997)
Unterstützt den Ergotherapeuten in der Identifizierung von Stärken und Einschränkungen im Kommunikations- und Interaktionsverhalten des Klienten
Work Environment Impact Scale (WEIS)
Moore-Corner u. Kielhofner 1995 (Übersetzung: Marotzki 1995)
Gibt umfangreiche Informationen zu den Umgebungsfaktoren aus der Sicht des Stelleninhabers. Abschließend wird aus dessen Sicht eine Bewertung des Arbeitsplatzes vorgenommen, sowie Veränderungsnotwendigkeiten definiert
Worker Role Interview (WRI)
Graig et al. 1990 (Übersetzung: Dehnhardt 1990)
Unterstützt den Ergotherapeuten und den Klienten, die Faktoren zu erkennen, die die (Wieder-)Eingliederung des Klienten in das Arbeitsleben erleichtern oder behindern
Occupational Self Assessment (OSA)
Baron et al. 2000 (Übersetzung: Reinhartz 2000)
Erfasst, wie der Klient seine Fähigkeit, tätig zu sein, einschätzt, und es erfragt den Einfluss, den die Umwelt auf das Tätigsein des Klienten ausübt
Volitional Questionaire/Fragebogen zur Volition (FV)
de las Heras 1997 (Übersetzung: Dehnhardt 2000)
Ermöglicht bei geistig oder psychisch Behinderten, die sich nicht verbal äußern können, die gezielte Beobachtung, um ihre willentlichen Anstrengungen zu erkennen und daran die Behandlung auszurichten
ning Tool (MOHOST) zur Verfügung. Es erleichtert es, im Sinne des MOHO das ganzheitliche Bild über das Betätigungsverhalten des Klienten zu erfassen. Im Benutzerhandbuch ist ein Formblatt als Befunderhebungsinstrument vorgesehen. Anleitung zur Anwendung und Auswertung sowie definierte Beurteilungskriterien standardisieren die Anwendung. Das MOHOST hilft zur Übersicht, ob und in welchen Bereichen weitere Befunderhebung notwendig ist. Des Weiteren gibt es Hinweise zur Erstellung eines Behandlungsplans.
Canadian Model of Occupational Performance (CMOP) und das Assessment COPM
36
Das Kanadische Modell der Betätigungsperformanz und das dazugehörige Assessment COPM wurden Ende der 1980er Jahre entwickelt. Eine Arbeitsgruppe des Kanadischen Berufsverbands der Ergotherapeuten (CAOT) und des dortigen Ministeriums für Gesundheit und Soziales waren die anfänglichen Initiatoren. CMOP und COPM sind mittlerweile weltweit verbreitet und in viele Sprachen übersetzt. Seit 1999 gibt es eine deutsche Übersetzung. Das Modell und sein Assessment werden seither in vielen ergotherapeutischen Fachbereichen verwendet und darüber bekannt gemacht. Das Modell betrachtet die Beziehung zwischen Mensch, Handlung, und Umwelt ähnlich wie das MOHO. Es betont weiterhin den wichtigen Zusammenhang zwischen sinngebender Betätigung und persönlicher Gesundheit (Flotho 2003). Das »Canadian Occupational Performance Measure« wird als halbstrukturiertes Interview durchgeführt. Der Klient beurteilt in Selbsteinschätzung die Wichtigkeit und Wirksamkeit seiner Betätigungen. Des Weiteren kann er seine Zufriedenheit mit der derzeitigen Durchführung angeben. Alle Beurteilungen
werden mit einer visuellen Analogskala von 1 bis 10 angeben. Die erfassten Betätigungsbereiche sind: Selbstständigkeit: Selbstversorgung, Mobilität, Regelung persönlicher Angelegenheiten; Produktivität: bezahlte/unbezahlte Arbeit, Haushaltsführung, Spiel/Schule; Freizeit: ruhige Erholung, aktive Freizeit, soziales Leben. Das Modell bietet zusätzlich eine Prozessbeschreibung des ergotherapeutischen Wegs vom Assessment COPM über die theoriegestützte Auswahl der Behandlungsverfahren, der Identifikation der Fähigkeiten und Beeinträchtigungen des Klienten und weiterer Schritte bis zur Evaluation mit erneutem Interview über das COPM.
36.1.5
Struktur der ergotherapeutischen Behandlung
Der ergotherapeutische Befund Ziel einer ergotherapeutischen Befunderhebung ist, mit dem Klienten die Folgen seiner Erkrankung in Bezug auf seine Handlungsfähigkeit zu erfassen. Daraus entwickelt der Klient mit der Therapeutin eine handlungsorientierte Zielformulierung, individuell passende Behandlungsformen zu mehr Handlungskompetenz werden ausgewählt. Zur Befunderhebung stehen der Ergotherapeutin verschiedene Assessments der ergotherapeutischen Praxismodelle zur Verfügung (⊡ Abb. 36.1). Des Weiteren können zur Befunderhebung die im Indikationskatalog Ergotherapie (DVE 2004; S. 206 ff) tabellarisch aufgelisteten Systeme verwendet werden. Diese sind mit unterschiedlicher Testgüte evaluiert. In diesen
887 36.1 · Ergotherapie
⊡ Abb. 36.1. Ausschnitt aus dem Bogen des COPM
36
888
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
Tabellen des Indikationskatalogs werden die jeweiligen psychometrischen Eigenschaften angegeben. Als Beispiele seien hier das Lübecker Fähigkeitenprofil LFP (Schirrmacher 2001) und das Ergotherapeutische Assessment EA (Voigt-Radloff et al. 2002) genannt. Lübecker Fähigkeitenprofil. Das LFP ist eine strukturierte
Beobachtungshilfe für soziale, kognitive, affektive bzw. emotionale Fähigkeiten, lebenspraktische Bereiche sowie Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung (⊡ Abb. 36.2). Es ist zur internen Konsistenz (Cronbachs Alpha .86–.92) und zur Validität untersucht und an 51 Patienten normiert worden. Ergotherapeutisches Assessment. Das EA ist ein Fremd-
beurteilungsinstrument. Ergotherapeutinnen können damit beurteilen, ob alltagsrelevante Aktivitäten eingeschränkt sind. Es können Funktionsdefizite identifiziert werden. Eine 4-stufige Skala ermöglicht, in einem vorgegebenen System von sog. Domänen die dazugehörigen Items nach Schweregraden zuzuordnen. Die angebotenen Domänen umfassen: 1. Kompensationsmittel, z. B. Schienen, Hilfsmittel oder Arbeitsplatzadaptationen;
⊡ Abb. 36.2. Ausschnitt aus dem Lübecker Fähigkeitenprofil Kurzversion (LFPk)
36
2. Aktivitäten zur körperlichen Selbstversorgung, z. B. Umsetzen, An-und Ausziehen; 3. Aktivitäten zur eigenständigen Lebensführung, z. B. Telefonbenutzung, Geldhaushalt; 4. Alltagsrelevante Folgen sensomotorischer Funktionen; 5. Alltagsrelevante Folgen neuropsychologischer Funktionen; 6. Alltagrelevante Folgen psychosozialer Funktionen (⊡ Abb. 36.3), 7. Arbeitsrelevante Basisaktivitäten (⊡ Abb. 36.3). Das EA ist in verschiedenen Studien auch zur Reliabilität und zur Validität untersucht (s. www.ergoas.de). Die untersuchte Population wurde zur Überprüfung der Beurteilerübereinstimmung und der Test-Retest-Reliabilität einer Zufallsauswahl unterzogen (Schochat et al. 2002). Arbeitsdiagnostik. Die Besonderheit der Arbeitsdiagnostik wird bei Jakobs und Trattnig (2004; S. 88) ausführlich beschrieben. Sie gehört im Rahmen des rehabilitativen Prozesses an die Stelle, an der für den Klienten seine Produktivität in den Vordergrund rückt. Weitere Instrumentarien zur Befunderhebung sind auch im MOHO (⊡ Tab. 36.1) zu finden.
36
889 36.1 · Ergotherapie
6. Alltagsrelevante Folgen psychosozialer Funktionen Z
Kommentare oder Begründung für NichtBeurteilung des gesamten Bereiches
Erstbeurteilung
Zweitbeurteilung
I II III IV N
I II III IV N 1
Antrieb
2
Emotionalität
3 4 5 6 7
Kommentare oder Begründung für NichtBeurteilung des gesamten Bereiches
V
Kommentare oder Begründung für NichtBeurteilung des gesamten Bereiches
V
Motivation Krankheitsverarbeitung Interaktionsfähigkeit Verantwortungsbewußts. Interessenverwirklichg
7. Arbeitsrelevante Basisaktivitäten Beurteilungsumfeld Z
Kommentare oder Begründung für NichtBeurteilung des gesamten Bereiches
Erstbeurteilung
Zweitbeurteilung
Items
I II III IV N 1 2 3 4 5 6 7 8 9
I II III IV N
Arbeitsablauf steuern Arbeitsplatz organisieren Arbeitsqualität beachten Belastbarkeit Einstellung zur Arbeit Arbeitsrelev. Lernen Selbstbild. Verhalten im Team Umgang mit Kritik/Konflikt
10 Zuverlässigkeit
⊡ Abb. 36.3. Ausschnitt aus dem Ergotherapeutischen Assessment, die Domänen »Alltagsrelevante Folgen psychosozialer Funktionen« und »Arbeitsrelevante Basisaktivitäten«
36.1.6
Indikationen für die psychisch-funktionelle Behandlung
Die in der Ergotherapie vorkommenden Indikationsformen sind von der Versorgungsstruktur der jeweiligen Gemeindeversorgung abhängig. Je nach Spezialisierung einer Klinik, Ambulanz oder auch ergotherapeutischen Praxis werden unterschiedliche Altersstrukturen und Diagnosen der Klienten zu erwarten sein. Die ergotherapeutischen Maßnahmen sind diagnoseunabhängig und orientieren sich an der Handlungsfähigkeit des Klienten. Bei Bedarf können auch motorisch-funktionelle oder sensomotorisch-perzeptive Behandlungen eingesetzt werden, wenn der Klient entsprechende Störungen berichtet. In der nachfolgenden Übersicht werden nur die Indikationen zur psychisch-funktionellen Behandlung aus dem Maßnahmenkatalog der Ergotherapie aufgezeigt (DVE 2004; S. 72). Weitere Informationen können dem Indikationskatalog Ergotherapie entnommen werden (DVE 2004).
Indikationen der psychisch-funktionellen Behandlung der Ergotherapie
Funktionsstörungen/Schädigungen der Orientierung zu Raum, Zeit und Person im psychomotorischen Tempo und in der Qualität des Antriebs und des Willens des Realitätsbewusstseins und der Selbsteinschätzung der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung der emotionalen und Willensfunktion der Anpassungs- und Verhaltensmuster des Denkens und der Denkinhalte
Fähigkeitsstörungen
der Selbstversorgung der Alltagsbewältigung im Verhalten in der zwischenmenschlichen Interaktion/Kommunikation der Kognition der Beweglichkeit und Geschicklichkeit
890
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
36.1.7
Ziele und Zielfindung
Klientenzentrierte Zielentwicklung In der klientenzentrierten Ergotherapie ist der Klient weitgehend daran beteiligt, Verantwortung für seine Therapie zu übernehmen und eigene Entscheidungen zu treffen. So werden von ihm die Behandlungsziele und Aktivitäten ausgewählt und sind damit für ihn selbst von Bedeutung. Die Therapeutin nimmt eine fördernde Rolle ein. Sie ermöglicht, Gedanken und Gefühle in einer geschützten Umgebung zu erforschen. Dabei unterstützt sie nur dort, wo es der Klient als notwendig erachtet (Hagedorn 2000). Ziele werden heute in aktiver Form formuliert. Es geht nicht darum, dass der Klient etwas tun oder können sollte. Die Zielformulierung legt dar, dass er eine Betätigung wirklich ausführt. Ziele beschreiben möglichst messbar, was der Klient an Handlungsfähigkeit in einer bestimmten Zeit erreichen möchte. Sie sollen generell zu den individuellen Rollen, der Kultur, den Werten, dem Alter und Geschlecht des Klienten passen.
Rehabilitationsziele Das Rehabilitationsziel ist ein eher allgemein gehaltenes und häufig im therapeutischen Team formuliertes Ziel. Es orientiert sich an den Lebensbereichen des Klienten. Dazu gehören die Selbstständigkeit im und außer Haus. Ein weiterer wichtiger Bereich ist sich in der Öffentlichkeit zu bewegen und einer Arbeit nachzugehen, einen Beruf zu haben oder eine Ausbildung zu beginnen. Lebensbereiche jüngerer Klienten sind die Schule, der Kindergarten und das Spiel. Letzteres wird bei Kindern dem Lebens- und Lernbereich zugeordnet, bei Jugendlichen und Erwachsenen eher dem Freizeitbereich. Die Freizeit als Lebensbereich wird in aktive und ruhige Freizeit sowie in Pflege der Kontakte mit Familie und Freunden unterschieden. An diesen Lebensbereichen teilzuhaben kann als allgemeines Rehabilitationsziel beschrieben werden. Die Formulierung dieser Ziele kann zusätzlich von der Aufenthaltsdauer in einer Institution abhängig sein. ⊡ Tab. 36.2 gibt hierzu einen Überblick.
36
Aktivität Betätigungsorientierte Ziele werden im Zusammenhang mit Handlung und Aktivität definiert. Die Ziele können wieder in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit liegen und müssen sich an die Anforderungen der individuellen Umwelt des Klienten anpassen. ⊡ Tab. 36.3 gibt Beispiele. Jedes dieser Ziele lässt sich auf unterschiedlich große Teilziele operationalisieren. Die früher dafür gewählten Formulierungen wie Richtziel, Grobziel oder Feinziel sind zur Präzision ungeeignet. Was ein feines oder grobes Ziel sein könnte, ist von den Möglichkeiten des Klienten abhängig. Eher lassen sich Teilziele, die an den Bedürfnissen des Klienten orientiert sind, entwickeln (⊡ Tab. 36.4).
⊡ Tab. 36.2. Beispiele für Rehaziele innerhalb einer bestimmten Zeit und eines Bereiches Rehaziel
Zeitziel
Bereich
Eine Ausbildung beginnen
Im ersten 1/2 Jahr nach der Entlassung
Produktivität/ Arbeit
Eine eigene Wohnung beziehen
Im letzten Drittel der ambulanten Versorgung
Selbstversorgung/Selbstständigkeit im Haus
Freizeitaktivitäten durchführen
Nach der Entlassung
Freizeit
⊡ Tab. 36.3. Beispiele für betätigungsorientierte Ziele innerhalb einer bestimmten Zeit und eines Bereiches mit zusätzlicher Angaben einer möglichst mess- und überprüfbaren Frequenz Handlung/ Aktivität
Frequenz
Zeitziel
Bereich
Einkäufe erledigen
2-mal/ Woche
Ab Woche …
Selbstversorgung
Berufstätig sein
2 h/Tag
Nach der Entlassung
Produktivität
Ins Kino gehen
Nach Bedarf
Ab dem Aufenthalt in der Ambulanz
Freizeit
⊡ Tab. 36.4. Ziel: Einkäufe erledigen Klient 1
Teilziel
Klient 2
Einen Einkauf am Klinikkiosk angstfrei erledigen
1.
Eine Einkaufliste für ein Gericht zusammenstellen
Sich 10 min vor dem Haus ohne Panik aufhalten
2.
Eine Einkaufsliste für die Mahlzeiten eines Tages zusammenstellen
Einen ähnlichen aber kürzeren Weg ohne Einkauf ruhig zurücklegen
3.
Eine Einkaufsliste für den Bedarf einer Woche zusammenstellen
Die Wegstrecke zum Geschäft ohne Ängste zurücklegen
4.
Die Organisation der Vorratshaltung bewältigen
Teilhabe Teilhabe bedeutet im rehabilitationsorientierten Verständnis der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF, WHO 2001), dass eine Person »… ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung … erwartet wird …« (deutsche Übersetzung der Version 2005 S. 4).
891 36.1 · Ergotherapie
Erst durch das Konzept der Teilhabe wird deutlich, dass ein Klient auch wirklich ihm bedeutungsvolle Handlungen und Aktivitäten ausführt. Für die Ergotherapie ist dieses Konzept von großer Bedeutung, da es ihrem Paradigma der Handlungsorientierung entspricht. ⊡ Tab. 36.5 gibt Beispiele für diese Zielformulierung. Es besteht ein Unterschied, ob ein Klient eine Aktivität durchführen könnte oder ob er tatsächlich eine Aktivität im Sinne der Teilhabe durchführt. Mit dem folgenden Beispiel soll verdeutlicht werden, wie diese Differenzierung die Zielformulierung beeinflusst.
Beispiel Ein Klient möchte seine Einkäufe selber erledigen. Er führt die dazugehörigen Teilschritte wie Planen, Geld bereithalten und den Weg ins Geschäft durch. Allerdings hat er ein Problem mit der Reizüberflutung in den großen Supermärkten. Daher geht er nicht Einkaufen. Auf der Aktivitätsebene ist er also in der Lage, diesen Bereich der Selbstversorgung durchzuführen. Die Teilhabe ist solange nicht möglich, wie die Anfälligkeit für Reize anhält. Daraus können nun Therapieziele formuliert werden, die entweder auf der Ebene der Person oder auf der Ebene der Umwelt liegen: Ebene der Person: Adäquate Reizverarbeitung, Ebene der Umwelt: Einkäufe in kleineren, reizärmeren Läden erledigen.
Kompetenz-, Ausdrucksund interaktionell zentrierte Ziele Die Einteilung in diese Kategorien wurde von Scheiber (1995) entwickelt: Kompetenzzentrierte Ziele. Hierbei werden vom Klienten
gewünschte Kompetenzen formuliert. Es sollen Defizite im affektiven, kognitiven und sensomotorischen Bereich behoben sowie soziale Kompetenzen erreicht werden. Ausdruckszentrierte Ziele. Der Klient möchte seine Aus-
drucksfähigkeit und Selbstdarstellung verändern. Seine ⊡ Tab. 36.5. Beispiele für Ziele auf der Ebene der Teilhabe Teilhabe
Frequenz
Zeitziel
Bereich
Einkäufe durchführen
2-mal/ Woche
Ab 44. KW
Selbstversorgung
Einen Beruf und einen Arbeitsplatz haben/behalten
2 h/Tag
Nach der Entlassung
Produktivität
Ein Kino besuchen
Nach Bedarf
Ab dem Aufenthalt in der Ambulanz
Freizeit
Ziele könnten sein, seine seelischen Vorgänge wahrzunehmen und hierfür Ausdrucksmöglichkeiten zu finden. Adäquates Ausdrücken der Stimmung und Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen kann als Ziel formuliert werden. Interaktionell zentrierte Ziele. Als übergeordnetes Ziel
wird die Auseinandersetzung in der Gruppe in gruppendynamischen Prozessen formuliert. Das beinhaltet damit auch die Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit. Soziale Beziehungen und sozioemotionale Fähigkeiten sollen erreicht werden (Lagemann 2003). ! Für alle Ziele gilt: Die Zielvereinbarungen werden mit dem Klienten festgehalten und daraus gemeinsam ein Behandlungsplan entwickelt. Die Therapeutin schlägt Verfahren, Methoden und Mittel vor, die sie für die Zielerrreichung geeignet hält.
Behandlungsverfahren, -methoden und -mittel Clinical Reasoning Es ist ein ergotherapeutisches Grundprinzip, die Entscheidungen im therapeutischen Prozess so gesichert wie möglich zu begründen. Die hier angewandte Arbeitsform, das »Clinical Reasoning« zeigt daher »kognitive Prozesse, bei denen es um die Verarbeitung von Informationen, das Lösen von Problemen, das Beurteilen und das Entscheiden im Verlauf der Befunderhebung, Behandlungsplanung und Intervention geht« (Hagedorn 1999). Diese Prozesse begleiten die Behandlung und finden Ihren Ausdruck in der Behandlungsdokumentation. Verschiedene Formen des Clinical Reasoning in der Ergotherapie sowie die Beschreibung des Forschungstands finden sich bei Feiler (2003).
Behandlungsgrundlagen Setting. Das Setting auszuwählen bedeutet, sich über die
therapeutische Situation Gedanken zu machen. Geleitet werden diese Überlegungen von den Bedürfnissen des Klienten und der gemeinsam gewählten Aktivität. Personenbezogene Überlegungen führen zur Sozialform Einzel- oder Gruppentherapie. Aber auch eine gewünschte und ausgewählte Aktivität kann die Sozialform bestimmen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die therapeutische Situation als Partnerarbeit zu gestalten. Das räumliche Umfeld hängt jeweils von der Aktivität ab. Viele der Aktivitäten des täglichen Lebens erfordern eine gewisse Einrichtung, z. B. eine Übungsküche, oder sie finden in der Außenwelt statt, wie beispielsweise ein Einkaufstraining. Therapie mit handwerklichen und gestalterischen Medien kann ebenfalls einzeln, in Partnerarbeit oder in der Gruppe angeboten werden. Grundlegend ist die Überlegung, ob der Klient schon zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit bereit, gruppenfähig, oder aber
36
892
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
das anstehende Thema gruppengeeignet ist. Die Vor- und Nachteile der jeweiligen Sozialform sind klientenbezogen abzuwägen. Einzel- vs. Gruppentherapie. Vorteil der Einzeltherapie
ist, dass die Therapeutin sich ganz auf den Klienten einlassen kann, dass auch Themen angesprochen werden können, die der Klient nicht in einer Gruppe besprechen würde. Nachteil der Einzeltherapie ist, dass der Klient über eine festgelegte Zeit eine Beziehung aushalten muss, die ihm möglicherweise noch nicht zuzumuten ist. Vorteil der Gruppe ist daher, dass der Klient die Aufmerksamkeit der Therapeutin nur geteilt erhält – was aber auch der Nachteil dieses Settings ist. Die Gruppe hat noch weitere Vorteile, wie die der realen sozialen Gegebenheiten, da Menschen üblicherweise in sozialen Gruppen leben. In der Gruppe entstehen eher Konkurrenz- oder Drucksituationen, die der Klient verarbeiten muss, was Vorteile hinsichtlich des Antriebs haben könnte. Da es aber auch nachteilig und demotivierend sein kann, muss diese Situation sorgfältig überlegt werden. In dieser Konstellation kann ein Feedback auch von den Gruppenmitgliedern kommen, welches eher angenommen werden kann als das von der Therapeutin. Hilfreich kann die Gruppe auch sein, da sich Klienten gegenseitig unterstützen können, wenn Problemlösungen gefordert sind. Hierbei wirkt besonders das Lernen am Modell der anderen Klienten. Als Zwischenschritt kann daher die Partnerarbeit dienen. Bei interaktionellen Zielen ist die Gruppe und die Partnerarbeit auf jeden Fall das Setting der Wahl. Bei arbeitstherapeutischen Angeboten bestimmt die reale Situation eines Arbeitsplatzes die therapeutische Konstellation.
Material und Medien
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In der Ergotherapie werden verschiedenste Materialien zum handwerklichen und kreativen Arbeiten, aber auch Medien wie Literatur, Musik, Bewegung oder Medien mit kognitiven Anforderungen eingesetzt. Grundlage des Einsatzes ist die Bedeutung für die Betätigung des Klienten und das vom Klienten verfolgte Ziel. Die Therapeutin kann über das Angebot und die vermutete Wirkung des Materials und der Medien das Erleben und Verhalten des Klienten beeinflussen. Dabei wird die subjektive Bedeutung für den Klienten berücksichtigt, das Ursache-Wirkungs-Prinzip kann bei veränderlichen Materialen besonders wahrgenommen werden. In die gemeinsamen Überlegungen zur Auswahl fließt mit ein, ob das Produkt oder die Betätigung für den Klienten im Vordergrund steht. Variationsmöglichkeiten entstehen durch veränderte Aufgabenstellungen, unterschiedliche Vorgehensweisen und Wechsel der Sozialform. So kann die Therapeutin die Materialen und Medien den Möglichkeiten des Klienten anpassen. In den arbeitstherapeutischen Angeboten sind die Materialien entsprechend arbeitsplatzspezifisch.
Phasen Die ergotherapeutischen Angebote sind von verschieden Phasen gekennzeichnet. Die erste Phase dient der Vorbereitung, bei der die Planung zum Setting sowie zum Material und zu den Medien den Zielen des Klienten angepasst werden muss. Je nach Zielen des Klienten kann er in dieser Phase schon mit eingebunden sein oder die Therapeutin trifft im Vorfeld Entscheidungen ohne den Klienten. Bei einer bereits begonnen Behandlung fließen die Reflexionen der letzten Therapieeinheit mit in die Vorbereitungsphase ein. Die Durchführungsphase ist gekennzeichnet vom eigentlichen therapeutischen Prozess. Hier stehen die Fragestellungen im Vordergrund, was der Klient erreichen will, wo seine Schwierigkeiten sind und wo die Therapeutin Lernprozesse anbietet oder diese lenkt. In der Gruppentherapie begleitet die Therapeutin die Gruppenprozesse, achtet auf Rollendifferenzierungen und -wechsel und fördert die Kommunikationsstruktur. Dabei lenkt sie die Gruppe zwischen Sachorientierung (Erledigung der Aufgabe) und der Beziehungsorientierung (Beziehungen entstehen und können aufrechterhalten werden). Zu dieser Phase gehört auch, dass die Klienten die gewünschte Aktion zum geplanten Abschluss bringen. Sie reflektieren mit der Therapeutin den Verlauf anhand der abgesprochenen Ziele und vereinbaren neue Ziele und Aktivitäten. Überlegungen zur Weiterführung und/oder Adaption der Aktivität fließen in die weitere Planung ein. Die Therapeutin bereitet die Therapieeinheit für sich und das therapeutische Team nach und berichtet entsprechend über Verlauf und Zielerreichung.
Psychosoziale Behandlungsverfahren Der Begriff der psychozialen Behandlungsverfahren steht in der Ergotherapie für den Teil ihrer Angebote, die verstärkt an der Veränderung von Fähigkeitsstörungen ansetzen. Mit den zuvor genannten Medien können Betätigungen eingeleitet werden (Scheepers 2007). Es werden soziale sowie alltags- und berufspraktische Fähigkeiten vermittelt. Ziele der psychozozialen Behandlung sind Veränderungen in der Organisation des Verhaltens, aber auch die Erweiterung von Fähigkeiten. Soziale Interaktion, emotionaler und verbaler Ausdruck sollen (wieder)erlangt werden (Beyermann 2007). Den psychosozialen Behandlungsverfahren werden die nachfolgend aufgeführten Methoden zugeordnet: Symptombezogen-regulierende Methoden, subjektbezogen-ausdruckszentrierte Methoden, soziozentriert-interaktionelle Methoden, kompetenzzentrierte, lebenspraktische und alltagsorientierte Methoden, wahrnehmungsbezogene und handlungsorientierte Methoden, Einbeziehung von angrenzenden psychotherapeutisch orientierten Methoden.
893 36.1 · Ergotherapie
Mit kurzen Beispielen werden Einzelbereiche der genannten Methoden im Folgenden erläutert. Weitere Beschreibungen können in Scheepers et al. (2007) und KubnyLüke (2003) nachgelesen werden. Symptombezogen-regulierende Methode. Therapiemaß-
nahmen zur Körpererfahrung mit dem Ziel, das Spannungsniveau zu normalisieren, stehen hier im Vordergrund. Reizarme Angebote sollen dem Klienten zur selektiven Aufmerksamkeit und der Erkennung von Handlungsschritten verhelfen. Ein niedrigschwelliges Kontaktangebot ermöglicht dem Klienten über Distanz und Nähe selbst zu entscheiden. Subjektbezogen-ausdruckszentrierte Methode. Diese
Methode dient der Möglichkeit, mit Materialien und Medien eine Ausdrucksform zur Selbstdarstellung oder Kommunikation zu entwickeln. Die verwendeten Materialien sind aus dem Bereich des Handwerks oder dem Kreativbereich, Medien können Gegenstände oder gegenständliche Darstellungen sowie technische Medien sein (s. a. Lagemann 2003 und Abschn. 36.2.3). Soziozentriert-interaktionelle Methode. Der Klient soll
hier die Möglichkeit erhalten, sich in und mit einer Gruppe auseinanderzusetzen und zum Miteinander der Gruppe beizutragen. Anhand der Gruppenreflexion oder Einzelgesprächen können neue Verhaltensweisen zur Interaktion ausprobiert werden (s. a. Lagemann 2003). Kompetenzzentrierte, lebenspraktische und alltagsorientierte Methode. Die hier angebotenen Aktivitäten sollen
dem Klienten ermöglichen, lebenspraktische aber auch freizeitbezogene Fähigkeiten zu trainieren oder Kompetenzen aufzubauen. Auf der Freizeitebene bieten sich alle handwerklichen und gestalterischen Techniken an, die dem Klienten bedeutungsvolle Betätigung ermöglichen. Im Rahmen eines gruppentherapeutischen Angebots können soziale Kompetenzen wieder oder neu erlernt werden. Wahrnehmungsbezogene und handlungsorientierte Methode. Nach Kubny-Lüke (2003) stellt besonders die
Wahrnehmungszentrierung Sinnes- und Körpereindrücke in den Vordergrund. Der Klient soll sensorische und sensomotorische Erfahrungen machen. Diese werden ihm strukturiert oder frei vermittelt. Dabei wird er für seine Sinnes- und Körperreize sensibilisiert, er setzt sie in reale Beziehung zu sich selbst, integriert sie auch in die neuropsychologischen Körperfunktionen und lernt die Auswirkungen und den gezielten Einsatz dieser Reize kennen. Die hier integrierte Handlungsorientierung betont die Abhängigkeit der Handlung von intakten psychischen und motorischen Vollzügen. Ziel der Behand-
lungsmethode ist die Wahrnehmung des Klienten für diese Ganzheit der Handlung zu ermöglichen. Die Kriterien nach Blaser Csontos (2004) hierfür sind, dass Handlungen bewusst, zielgerichtet, geplant, beabsichtigt sowie sozialgesteuert und -kontrolliert durchgeführt werden. Viele Materialien, Medien und die Tätigkeiten aus dem Bereich der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) lassen sich auch für ausdruckszentrierte, interaktionelle oder wahrnehmungszentrierte Ziele einsetzen.
Ergotherapie im Rahmen der Soziotherapie ( Kap. 35) Das Ziel der Soziotherapie, die normalen, regelhaften alltäglichen und nicht an Krankheit gebundenen Anteile des Menschen zu fördern, entspricht dem ergotherapeutischen Angebot der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL). Hier werden im oben beschriebenen klientenzentrierten Sinn alle Aktivitäten angeboten, die den Lebensbereichen ( Abschn. Rehabilitationsziele) der Klienten entsprechen. Die angewandten Methoden der Soziotherapie entsprechen auch den zuvor genannten kompetenzzentrierten und interaktionellen Methoden (Lagemann 2003).
Neuropsychologische Behandlungsverfahren Diese Behandlungsverfahren zielen auf die höheren Hirnleistungen, wie z. B. die Kognition ab. Das ergotherapeutische Hirnleistungstraining bietet für folgende Bereiche Therapiemaßnahmen an: Allgemeine Kognition, Aufmerksamkeit, Wachheit, Vigilanz, Merkfähigkeit und -spanne, Orientierung, Reaktion, sprachliches und numerisches Verständnis, sensorische Wahrnehmungsqualitäten, Handlung, Raumwahrnehmung und -erfassung. Materialien sind bestimmte Therapieprogramme, auch am Computer, sog. Zettel-Stift-Aufgaben oder beispielsweise auch Aufgaben aus dem schulischen Bereich.
Arbeitstherapeutische Verfahren Grundlegende soziale und emotionale Fähigkeiten sowie Bereiche, die das Selbstbild betreffen, werden auch im arbeitsherapeutischen Feld trainiert. In Stufen können die elementaren und speziellen Fähigkeiten ausgebaut werden. Auf- und Ausbau elementarer Arbeitsfähigkeiten. Die
Maßnahmen, um diese Fähigkeiten zu erreichen, entsprechen häufig bereits dem ergotherapeutischen Angebot der kompetenzzentrierten Methode und dem ergothera-
36
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
peutischen Hirnleistungstraining. Die beispielsweise mit handwerklichen, kreativen oder alltäglichen Aktivitäten trainierten Fähigkeiten sind nach Haerlin (2003) im Arbeitsfähigkeitenkreis unter »elementare Fähigkeiten« dargestellt (⊡ Abb. 36.4). Im Rahmen einer klinisch institutionalisierten »Arbeits- oder Berufstherapie« oder in Berufsförderungswerken, beruflichen Trainingszentren, Werkstätten für behinderte Menschen oder auch in ambulanten Institutionen können Schlüsselqualifikationen und individuelle berufliche Fertigkeiten trainiert werden (Haerlin 2003). Diese sind ebenfalls im Arbeitsfähigkeitenkreis dargestellt und werden mit »speziellen Fähigkeiten« bezeichnet«.
Die Wirksamkeit der ergotherapeutischen Verfahren Da es noch wenig Forschung im Bereich der Ergotherapie gibt (s. EbM-Box), sind aussagekräftige Wirksamkeitsstudien zur Ergotherapie und ihrer Behandlungsverfahren noch sehr selten. Reuster und Bach (2002) haben eine Sammlung der Vorträg des Dresdener Symposiums »Psychiatrische Soziotherapie/Ergotherapie – Die wissenschaftliche Perspektive« herausgegeben. Sie zeigen den zu dieser Zeit aktuellen Stand und die methodischen Schwierigkeiten von Studien zur klinischen Effektivität von Er⊡ Abb. 36.4. Der Arbeitsfähig-
des Selbstbild eich r es e B
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• Arbeitsqualität / Sorgfalt • Arbeitstempo • Auffassung u.a.v. Arbeitsanleitungen • Ausdauer • Belastbarkeit • Konzentration • Körperkraft / Geschicklichkeit • Lernfähigkeit • Problemlösen • Pünktlichkeit • Umstellungsfähigkeit • Arbeitsplanung
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• Berufsspezifische Fähigkeiten • Handwerklich-technisches Verständnis • Kreativität • Kulturtechniken • Lebenspraktische Fähigkeiten • Logisch-analytisches Denken • Räumliches Vorstellungsvermögen
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• Äußeres Erscheinungsbild • Eigenes Rollenbild • Reale Selbsteinschätzung • Selbstständigkeit • Selbstvertrauen • Selbstwahrnehmung • Anpassung • Gefühlsausdruck • Verantwortung • Durchsetzung • Eigeninitiative • Bedürfnisse äußern • Antrieb • Entscheidungsfähigkeit • Erlebnisfähigkeit • Kontakt zu Anderen • Ich-Stärke • Kritik üben / ertragen • Interesse • Rücksicht / Toleranz • Misserfolgstoleranz • Teamarbeit • Motivation • Nähe / Distanz
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keitenkreis des ADZ/Niedersächsisches Landeskrankenhaus Osnabrück (1998). (In: KubnyLücke 2003, mod. nach dem Arbeitsfähigkeitenkreis/C. Haerlin nach Cumming u. Cumming 1962)
gotherapie auf. Reuster (2006) bietet eine hermeneutische Klärung und empirische Untersuchung zur Effektivität der Ergotherapie im psychiatrischen Krankenhaus an. Des Weiteren kann über Expertenmeinung berichtet werden. Höhl (2002) zeigt beispielsweise folgende angenommene Wirkfaktoren der Ergotherapie auf: Durch allgemeine Merkmale der Ergotherapie, wie Tages- und Wochenstruktur bei regelmäßigen Angeboten, soziales Gefüge im ergotherapeutischen Setting oder Ablenkung von krankhaften Inhalten; aufgrund von Übungen oder Training mit gezielten Trainingsmaßnahme wie beispielsweise mit dem IPT [Integriertes Psychologisches Therapieprogramm (Roder et al. 1995)] oder Wissensvermittlung bei EDVoder kognitiven Programmen; durch den gestalterischen Ausdruck unbewusster Problembereiche mittels oben aufgeführter ausdruckszentrierter Methoden; aufgrund von Verbesserung der sozialen Situation durch Aufnahme neuer und anderer Beziehungen oder des Entlohnsystems der Arbeitstherapie; durch die Vermittlung therapeutischer Erfahrung im Handeln mit den Ergotherapeuten bei der Aufgabenstellung, der Art und Auswahl von Materialien sowie des Settings und der Durchführung der ergotherapeutischen Behandlung.
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895 36.1 · Ergotherapie
Ergotherapeuten gehen von einer Wirkung auf die folgenden Merkmale aus: Psychische Stabilität und Aktivität, Antrieb, Motivation, Vitalität, sozioemotionale Kompetenz, Kontakt-, Interaktionsund Kommunikationsfähigkeit, kognitive Funktionen, Konzentration, Serialleistung, Körperfunktionen,
Körperwahrnehmung, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Wahrnehmungsverarbeitung, Konfliktfähigkeit, Fähigkeit zur Angstbewältigung, Frustrationstoleranz. Daher sind diese Bereiche auch im Indikationskatalog der Ergotherapie im Abschnitt »Therapeutische Wirkung« der ergotherapeutischen Behandlung bei psychisch-funktionellen Störungen aufgeführt (DVE 2004).
EbM-Box Zur Wirksamkeit von arbeitstherapeutischen Angeboten berichtet Reker (2002) über verschiedene kontrollierte Studien, deren Evidenzniveau dem Level C zuzuordnen ist. Dabei fanden sich moderate Effekte zu (computergestützen) kognitiven Programmen. Des Weiteren belegten Studien die Wirkung von »Bezahlung« und/oder »(die kontinuierliche) aktive soziale Stimulation« in der Arbeitstherapie auf die Leistungsfähigkeit, Produktivität und das arbeitsbezogene Sozialverhalten. Eine prospektive unkontrollierte Studie (Reker u. Eickelmann in Reker 2002) mit überwiegend an Schizophrenie erkrankten Patienten in ambulanter Arbeitstherapie zeigte nach 3 Jahren 23% der Untersuchten in allgemeinen Arbeitsverhältnissen und 25% in beschützen Arbeitsplätzen außerhalb der Klinik. Reuster (2002) berichtet über eine teilkontrollierte klinische Studie (Level C), die in der Ergotherapie als kompetenzzentriertes Werkangebot (n = 120) bzw. in der Kontrollgruppe mit Selbstbeschäftigung (n = 96) für verschiedene Diagnosegruppen durchgeführt wurde. Ein messbarer Einfluss auf klinisch relevante Variablen (z. B. Angst, Hoffnungslosigkeit, div. Psychopathologie) als Indiaktoren von Besserung konnte nicht signifikant verzeichnet werden. Allerdings zeigte sich eine durch Ergotherapie erreichte Patientenzufriedenheit, die der Autor als nicht unerheblich für den klinischen Nutzen beschreibt. Diese Wertschätzung des ergotherapeutischen Angebots belegt Ziemann (2002) ebenfalls durch eine Studie (Level D). Die Daten wurden von Patienten (n = 242) und Angestellten (n = 189) verschiedener Einrichtungen mittels Fragebogen erhoben. Reuster (2006) diskutiert in seiner Studie nochmals die Problematik der methodisch sauberen Effektivitätsstudie für die komplexen Behandlungsformen der Ergotherapie. Die randomisierte Gruppe erhielt die Angebote wie in der Studie von Reuster (2002) berichtet. Getrennt nach Diagnosen fand er bei schizophrenen und depressiven Teil-
nehmern der Ergotherapie einen hochsignifikanten Effekt in der positiven Bewertung der Maßnahme Ergotherapie. Die kleine Gruppe manischer Patienten (n = 26) zeigte ebenfalls hochsignifikante Effekte hinsichtlich einer positiven Bewertung der Maßnahme, wird aber aufgrund der kleinen Fallzahl als nicht generalisierbar eingeschätzt. Eine schwach positive Wirkung auf einige Dimensionen klinischer Besserung (z. B. Psychopathologie, Angst, Kontaktstörungen) konnte in der Gruppe schizophren Erkrankter verzeichnet werden. Bei den Diagnosegruppen »Depression« und »Manie« wurden stärkere Effekte gefunden. Da es sich um die zweite randomisierte kontrollierte Studie zu Ergotherapie als kompetenzzentriertes Werkangebot handelt, wird aufgrund der hier verwendeten Evidenzkriterien der Level B erreicht. In einer kontrollierten multizentrischen Studie (Level C) wurden von Längle et al. (2006) die Effekte von Arbeitstherapie im Vergleich zu allgemeinen ergotherapeutischen Maßnahmen (unspezifisches, kreativ orientiertes Angebot) untersucht. Aufgrund der kurzen Beobachtungszeit (3 Wochen) und weiterer methodischer Probleme bewerten die Autoren die minimalen Unterschiede zwischen Experimental- und Vergleichsgruppe als Annäherung an das Thema »Evaluation der stationären Arbeitstherapie«. Wiedl et al. (2006) zeigen durch eine Reanalyse der Daten aus der Studie von Längle et al. (2006), dass bei Auftrennung der Daten nach Diagnosegruppen sich bei einzelnen Gruppen Veränderungen nachweisen lassen. Für die Ergotherapie relevante Ergebnisse dieser Studie (Level C) sind, dass sich bei einem gewissen Prozentsatz von Patienten zumindest die Arbeitsfähigkeit verbessert hat. Insgesamt belegt auch diese Studie die Problematik der Kontrollierbarkeit von Variablen und dem ethisch unsicheren Studiendesign mit einer Zuordnung von Patienten zu einer nichtbehandelten Gruppe.
36
896
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
36.1.8
Qualitätssicherung, Evaluation und evidenzbasiertes Arbeiten
Wie die in der EbM-Box aufgeführten Studien zeigen, gibt es in der deutschen Ergotherapie noch wenig eigenständige Forschung zur Wirksamkeit der einzelnen Behandlungsverfahren. Evidenzbasiertes Arbeiten bezieht sich damit eher auf die Befunderhebung, Dokumentation und Evaluation. Es wird darauf geachtet, dass die hierzu eingesetzten Instrumentarien evidenzbasiert sind. Die Evaluationsinstrumente wie Assessments und Befundbögen wurden in den entsprechenden Abschnitten ( Abschn. 36.1.4; 36.1.5) vorgestellt. Die bekannten Qualitätsmerkmale der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität werden durch die oben geschilderten Maßnahmen im ergotherapeutischen Prozess berücksichtigt. Die Nomenklatur der internationalen Klassifikationssysteme wie ICD-10 und DSM-IV wird in der interdisziplinären Zusammenarbeit angewendet. Die Umsetzung der ICF beginnt, die Begrifflichkeiten und die Möglichkeit der Klassifikation werden in Veröffentlichungen diskutiert (Kubny-Lüke 2003; Habermann u. Wittmershaus 2005). Evidenzbasierte Praxis (Jerosch-Herold 2000) im Sinne der methodischen Integration wissenschaftlicher Erkenntnis in den ergotherapeutischen Prozess ist heute eine selbstverständliche Vorgehensweise der Ergotherapie.
Fazit
36
Trotz der noch nicht deutlich gesicherten Wirksamkeit von Ergotherapie handelt es sich um eine Behandlungsform, die dem Grundbedürfnis des Menschen nach sinnvoller Betätigung nachkommt. Reuster (2006) nennt sie die »wahrscheinlich älteste psychiatrische Methode zur Linderung seelischer Leidenszustände oder Krankheiten« Dessen ungeachtet zeigen die Zufriedenheitsmessungen in den Patientengruppen, dass Ergotherapie den Klienten Wohlbefinden verschafft. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die sie in grenzwertige Erfahrungsbereiche bringen, ist die Möglichkeit sich zu betätigen eine wichtige Versorgungsform. Gut ausgebildete und weitergebildete Ergotherapeutinnen sorgen daher für klientenzentrierte und handlungsorientierte Angebote. Sie geben durch ihre kompetenten Beobachtungen wichtige Informationen an die behandelnden Psychiater. Ergotherapeutinnen und -therapeuten sind daher ein unverzichtbarer »Baustein« im multiprofessionellen Team.
36.2
Kunsttherapie J. Unterberger
36.2.1
Definition
Die Kunsttherapie arbeitet mit den Mitteln der bildenden Künste, wozu Malen, Zeichnen, Formen Gestalten, Bildhauern oder Bauen gehören. Innere Wahrnehmung und Bilder der Psyche können real ausgestaltet werden. Dieser Gestaltungsprozess aktiviert eigenes Erleben und bewusste Erkenntnis. Gefühle können ausgedrückt werden, ohne die Sprache verwenden zu müssen. Kunsttherapie zielt nicht auf Wiederherstellung, Restauration oder Reproduktion von schon Vorhandenem, sie will Neues schaffen, das sich in individueller Reifung und Entwicklung abbildet (Tretter u. Bender 1995). Nach Menzen (2004) arbeiten die Kunsttherapeuten »u. a. damit, innerpsychische Einstellungen und sich ausdrückende Verhaltensmuster in der bildnerischen Formgebung und Dynamik eines ästhetischen Mediums zu spiegeln und die sich dabei abbildenden Lebensverhältnisse bearbeitbar und neu zentrierbar zu machen, so dass sich neue Lebensperspektiven bieten.«
Mechler-Schönach (2005) betont die besonderen Möglichkeiten der Kunsttherapie. Es sind die des Ausdrucks, des Erinnerns, der Form- und Symbolbildung, des symbolischen Handelns, zusätzlicher Kommunikation, erweiterter Wahrnehmung und Erkenntnis und der Aktivierung von Ressourcen. »Sie bewegen sich von befreienden, aktivierenden, kommunikativen und integrierenden bis zu ordnenden, strukturierenden Prozessen und können insgesamt stärkende, stützende und identitätsstiftende Prozesse sein«.
36.2.2
Geschichte
Das Wissen um heilsame Effekte von Kunst ist als Menschheitserfahrung uralt. Die systematische Auseinandersetzung mit bildnerischen Gestaltungen von psychisch Kranken setzte Ende des 18. Jahrhunderts in Italien und Frankreich ein. C. G. Jung schuf in den 1920er Jahren einen theoretischen Hintergrund zum bildnerischen Ausdruck psychischer Prozesse. Er entwickelte die Methode der Aktiven Imagination, mit deren Hilfe seelische Stimmungen und andere Inhalte des Unbewussten bearbeitet werden konnten. Etwa zur gleichen Zeit entstand durch Morgenthaler und Prinzhorn ein systematisches Interesse der klinischen Psychiatrie am bildnerischen Schaffen von psychisch Kranken. Prinzhorn baute als Psychiater und Kunsthistoriker die berühmte Heidelberger Bildersammlung der psychiatrischen Universitätsklinik auf.
897 36.2 · Kunsttherapie
Nach dem Krieg war im deutschsprachigen Raum vor allem der Wiener Psychiater Navratil einflussreich. Er eröffnete 1981 in Gugging das ‚Haus der Künstlerǥ für gestalterisch besonders begabte chronisch-schizophrene Patienten. Mit dem Siegeszug der Psychopharmakatherapie ging das klinische Interesse an der Kunsttherapie stark zurück. ! Seit den 1980ern allerdings erfolgt wieder verstärkt eine Rückbesinnung auf erlebnis- und handlungsorientierte Verfahren, auch die Kunsttherapie erlebt seitdem einen steten Aufschwung (Jacobi 1981; Tretter 1995; Navratil 1998; Kraus 2003).
36.2.3
Grundlagen
Baukus und Thies (1993) sowie Kraus (2003) legen der Kunsttherapie unterschiedliche Ansätze zugrunde: Der psychiatrische Ansatz bezieht sich auf neurobiologische Erkenntnisse und deren Umsetzung in die Kunsttherapie; der künstlerisch-kunstpädagogische Ansatz betont den emotionalen und nichtintellektuellen Ursprung künstlerischer Tätigkeit. Malprozess und Erleben stehen im Vordergrund, Deutung fehlt; heilpädagogische Aspekte zielen auf Kommunikation ohne verbale Sprache und Förderung sozialer Kompetenzen; der psychotherapeutische Ansatz nützt die nonverbale Ausdrucksform zum Erkennen und Bewusstmachen psychischer Abläufe; Die Wirkung, die ein Bild auf den Betrachter ausübt, liegt dem rezeptiven Ansatz zugrunde. Menzen (2004) beschreibt den ergotherapeutischen Ansatz in der Psychiatrie einerseits als material- und zweckgebunden, andererseits als gestaltungs- und psychischorientiert in der Zielsetzung. Einen kreativ- und gestaltungstherapeutischen Ansatz formuliert er in zwei gegensätzlichen Positionen. Zum einen können sich psychisch Kranke unmittelbar kreativ ausdrücken, zum anderen sei »psychotische Kunst in der Lage, pathologische Formen neuzeitlicher Subjektzerstörung zu demonstrieren«. Riedel (2004) erklärt 4 ineinander wirkende Vorgänge, auf denen die Maltherapie beruht: 1. Der Gestaltungsvorgang ist die symbolschaffende Arbeit mit Farbe und Form im offenen Bildraum; 2. im Symbolisierungsvorgang kommt der Malende mit den Ressourcen des Unbewussten in Kontakt, was sein Problem in einen umfassenderen Zusammenhang stellt;
3. der Besprechungsvorgang ermöglicht es, bewusste und unbewusste Inhalte im Bild als seelische Prozesse transparent zu machen; 4. schließlich soll der Beziehungsvorgang für den Malenden eine Atmosphäre des Getragenseins schaffen.
36.2.4
Methoden
Im Bereich Sinneskompensation und -förderung zielt die basal-ästhetische Stimulation darauf, gehemmte Entwicklung mit bildnerischen Mitteln aufzugreifen und wieder in Bewegung zu bringen. Tiefenpsychologische Bildverwendung wiederum geht davon aus, dass sich innere Bilder mit anderen als nur visuellen Merkmalen verbinden und somit Abbild psychischer Entwicklung sind. Kognitiv-psychologische, behaviorale und systemische Methoden erweitern den innerpsychischen, innergestaltlichen Bezugsrahmen der Tiefenpsychologie in Richtung sozialen, psychosozialen und institutionellen Kontext (Menzen 2004). Baer (1999) gibt einen Überblick in Ausrichtung auf inhaltlich-technische Methoden. Niederschwellige Angebote, die dem Patienten die Scheu vor dem Malen nehmen sollen, sind Klecker-, Kritzel- oder Namensbilder. Gefühlsbilder ermöglichen die Ausgestaltung vorgegebener oder aktuell erlebter Emotionen. In Verwandlungsbildern (aus einem bestehenden Bild durch Verändern, Zerschneiden usw. ein neues machen) begegnen Patienten ihren Strategien im Umgang mit Veränderung. Selbstbilder thematisieren, wie man sich sieht, wie man gesehen werden will oder wo Korrekturen angezeigt sind. Märchenbilder berühren die Bereiche Identifikation, innersubjektive Perspektiven und Coping-Strategien. Körperbilder wiederum zeigen, wie der Patient seinen Körper erlebt, wie er mit ihm verbunden ist und mit ihm umgeht. Methodisch unterschiedliche Ansätze gibt es bezüglich des Settings. Einzeltherapie bietet die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der individuellen Problematik und der Herausarbeitung der Ressourcen. In der Gruppentherapie bietet der Schutzraum der Gruppe die Möglichkeit, zwischen Zurückgezogensein und Exposition zu wählen. Bedürfnisse des Einzelnen stehen hinter denen der Gruppe zurück. Themen können gemeinsam aber auch »einzeln in der Gruppe« erarbeitet werden. Projektbezogene Arbeit ist zeitlich begrenzt und hat ein Ziel (z. B. ein Bühnenbild für ein Theaterstück). In das »offene Atelier« kann jeder kommen, der Interesse hat. Es gibt keine Vorgaben bezüglich Material und Thema, jeder kann malen, was er will. Bei Bedarf gibt es fachliche Anleitung (Kraus 2003; ⊡ Abb. 36.5).
36
898
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
⊡ Abb. 36.5. Farben und Ton – zwei wesentliche Materialien für kreative Bestätigung (Abb. Inn-Salzach-Klinikum, Wasserburg-Gabersee)
36.2.5
Indikationen und Ziele
Ziele der Kunsttherapie sind nach Tretter (1995): Erweiterung des bisherigen Erfahrungsbereichs, bildhafter Ausdruck affektiv-kognitiver Informationen, positives Erleben der Expression, Selbstkommunikation durch das Gestalten des Bildes, daraus entstehen, neue Möglichkeiten der Selbstreflexion.
Suchtmedizin. Die Psychopathologie der Sucht verlangt klar definierte Therapieziele: Selbstbestimmung steigern, realitätsbezogenere Handlungsplanung entwickeln, Spannungen aushalten lernen, Eigenaktivität entfalten. Im bildnerischen Gestalten können unbewusste Thematiken visualisiert werden, die zentrale Lebensproblematik wird sichtbar. Diese kann erschlossen und so eine tragfähige Motivation zur Veränderung aufgebaut werden (Tretter 1995). Gerontopsychiatrie. Kunsttherapie bei Menschen mit De-
Schizophrene Psychosen. Die ehemals so auffälligen Ge-
36
staltungsmerkmale wie Fragmentierung, Verzerrung, Stereotypie sind aufgrund der modernen Pharmakotherapie kaum mehr zu finden. In der akuten Psychose kann der Überflutung durch innere Bilder zum einen eine ordnende Struktur durch das Papier entgegengesetzt werden, andererseits kann das Gestalten Entlastung und realen Ausdruck des inneren Erlebens bringen. Der Ausdruck des Andersseins mildert die Isolation (Spreti 2005). Therapeutische Interventionen in der Malgruppe sollen das Momentane benennen, das Positive am Prozess soll den Patienten erlebbar werden und kommunikative Fähigkeiten sollen entwickelt werden (Steinbauer u. Tauchert 1997). Affektive Störungen. Bilder depressiver Patienten werden
zu einem Symbol für narzisstische Stärkung. Der Patient erlebt seine schöpferische Fähigkeit und die Fähigkeit zur Interaktion. Das »Nichtkönnen« als Ausdruck depressiven Lebensgefühls wird durch das eigene Werk durchbrochen. In der Gruppe bieten die Bilder Identifikationsmöglichkeiten mit anderen. Der Ausdruck der Gefühle führt zu emotionaler Entlastung (Steinbauer u. Taucher 1997).
menz erfordert die Adaptierung der vertrauten Techniken und Materialien. Unbestritten ist die allgemeine Bedeutung biografieorientierten Arbeitens. Beim bildnerischen Gestalten kommt Biografisches in der Regel an die Oberfläche (Förstl 2005).
36.3
Musiktherapie J. Unterberger
36.3.1
Definition
Die Kasseler Konferenz veröffentlichte 1998 als Vertretung von acht musiktherapeutischen Vereinigungen in Deutschland die »Kasseler Thesen zur Musiktherapie« mit dem Ziel, einen schulenübergreifenden Konsens zur Musiktherapie herbeizuführen. Der Begriff Musiktherapie steht hier für eine summarische Bezeichnung unterschiedlicher musiktherapeutischer Konzeptionen, die sich ihrem Wesen nach psychotherapeutisch verstehen. Die Musik ist Gegenstand und damit Bezugspunkt für Patient und Therapeut. Sie ermöglicht die Entwicklung von Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Beziehungs- und Symboli-
899 36.3 · Musiktherapie
sierungsfähigkeit. Intrapsychische und interpersonelle Prozesse werden durch Rezeption, Produktion und Reproduktion von Musik in Gang gesetzt, das musikalische Material aktiviert Ressourcen (Kasseler Konferenz 1998). Die amerikanische National Association for Music Therapy (NAMT) bezeichnet »Musiktherapie als gezielte Anwendung von Musik oder musikalischen Elementen, um therapeutische Ziele zu erreichen: Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung seelischer und körperlicher Gesundheit. Durch Musiktherapie soll dem Patienten Gelegenheit gegeben werden, sich selbst und seine Umwelt besser zu verstehen, sich in ihr freier und flexibler zu bewegen und eine bessere physische und psychische Stabilität und Flexibilität zu entwickeln« (Übersetzung Eschen 1979).
Fitzthum et al. (2000) verstehen Musiktherapie als kreativitätsbezogene Methode, die unterschiedliche Formen und Techniken beinhaltet, deren Gemeinsamkeit der gezielte Einsatz musikalischer Mittel zur Behandlung von psychisch und/oder physisch erkrankten Menschen ist. Nach Maranto (1996) gibt es keine allgemeingültige, weltweit akzeptierte Definition des Begriffes Musiktherapie. In zahlreichen Ländern haben sich in Anlehnung an die jeweiligen kulturellen, gesellschaftlichen und theoretischen Auffassungen individuelle Definitionen entwickelt. Dementsprechend groß ist die Vielfalt.
36.3.2
Geschichte
Das »tönende« Wort der Gottheit verwandelt in den Schöpfungsgeschichten vieler Völker das Chaos zur Ordnung, zur Welt. Magische Wirkungen von Musik sind in Mythen und Sagen beschrieben. Orpheus verschaffte sich durch seinen Gesang Eingang in den Tartaros, um die geliebte Eurydike zu den Lebenden zurückzuholen. Im Alten Testament ist die Behandlung König Sauls mit Musik beschrieben: »Sooft nun ein Geist Gottes Saul überfiel, nahm David die Zither und spielte darauf. Dann fühlte sich Saul erleichtert, es ging ihm wieder gut, und der böse Geist wich von ihm.«(1 Sam 16,23).
In der Antike wurden die magisch-mythischen Vorstellungen von Musik hin zur systematischen Beobachtung und Herausarbeitung von Gesetzmäßigkeiten erweitert. Zur künstlerischen Seite kam die mathematisch erfassbare hinzu (Knierim 1976). Chaotisches Seelenleben wurde bei Pythagoras und seinen Nachfolgern durch Musik geordnet. Platon sah Heilen als Wiederherstellen von Harmonie, bestimmte Arten von Musik konnten entsprechende Reaktionen hervorrufen. Aristoteles prägte den Begriff der musikalischen Katharsis, worunter er das Abreagieren krankhaft übersteigerter Gemütsbewegungen verstand.
In Anlehnung an die Pythagoräer wurde im Mittelalter menschlicher Körper und Seele als harmonisches Ganzes gesehen und in Analogie zur Musik gesetzt. Musik war nützlich für die Gesundheit und wurde zur Behandlung verschiedener Krankheiten eingesetzt. Bis ins 16. Jahrhundert gehörte sie zum Fächerkanon des Medizinstudiums (Kümmel 1977; Bruhn 2000). Naturwissenschaftliche Erkenntnisse führten im 17. Jahrhundert zu wesentlichen Veränderungen in der Medizin. Das Funktionieren des Körpers wurde nun chemisch und physikalisch-mechanisch erklärt. Dementsprechend waren Krankheiten Störungen des physiologischen Gleichgewichts, das mittels Medikamenten wiederhergestellt werden konnte. In der »Iatromusik« wurde Musik ähnlich einem Medikament eingesetzt. Anastasius Kirchner empfahl 1684 zur Behandlung von Tarantelbissen tänzerische Musik (Tarantella). Mit Beginn des 19. Jahrhunderts ging die Bedeutung der Musik als universelles Heilmittel zurück, behielt aber auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten eine wichtige Stellung. In der Psychiatrie diente das Musizieren dem Erhalt oder Erlernen konventioneller kuktureller Praktiken, auch die gemeinschaftsbildende Kraft der Musik wurde betont. Sie ermöglichte soziale und kulturelle Integration. Die Musizierpraxis hatte Übungs- und Disziplinierungsaspekte und diente der Schulung von Sinneswahrnehmung und Gedächtnis (Muthesius 2003). Ende des 19. Jahrhunderts gewann mit dem Aufkommen der naturwissenschaftlichen Psychologie die Erforschung der Zusammenhänge von Musik und körperlichen Vorgängen an Bedeutung. Messungen von Atem- und Pulsfrequenz, Blutdruck, Muskeltonus, EEG und EKG erbrachten den Nachweis musikalischer Beeinflussung. Eine Vertiefung dieser Aspekte erfuhr die Musiktherapie in den 1970er Jahren durch Harrer (1982) und in Folge durch Spintge (2001) in der Musik-Medizin, welche den Einfluss der Musik als komplementierendes Verfahren z. B. bei Stress-, Schmerzbewältigung oder Anästhesie erforscht. Nach dem zweiten Weltkrieg erlebte die Musiktherapie weltweit einen starken Aufschwung. Im Jahr 1950 erfolgte die erste Gründung eines nationalen Musiktherapieverbandes in USA, um 1960 folgten Österreich, England und Niederlande. Die Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie wurde 1972 gegründet. Es gibt inzwischen in zahlreichen Ländern Studiengänge zur Musiktherapie, sowohl als Grund- als auch als Aufbaustudium. Aufgrund kontinuierlicher Praxisforschung, Information und Diskussion in der Fachöffentlichkeit können heute Musiktherapieströmungen unterschieden und benannt werden (Decker-Voigt 2001).
36
900
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
36.3.3
Grundlagen
Der Begriff Musik wird in der Musikpsychologie auf 3 unterschiedlichen Ebenen behandelt. Als extern kodierte Information (Tonträger, Notendrucke), als akustische Struktur (physikalisches Schallereignis) und als Phänomen menschlichen Erlebens (Aufnahme über das Gehör, Verarbeitung im Kortex und dadurch Teil menschlicher Wahrnehmung und Vorstellung). Therapeutisch wirksam ist letzteres (Bruhn 1997). Aktiv-musiktherapeutisch relevante Grundelemente sind Klang, Rhythmus, Melodie, Dynamik und Form (Hegi 1996). Die Unfassbarkeit von Klängen, ihr amorphes Verhalten und ihre unberechenbaren Wirkungen entsprechen der Vielfalt menschlicher Gefühle. Kennzeichen des Rhythmus sind Wiederholung von Mustern, Konstanz und Berechenbarkeit. Rhythmus impliziert Ordnung, die einerseits Struktur und Orientierung geben, aber auch einengend sein kann. Melodien betonen Individualität und persönlichen Ausdruck, sie gestalten innere Bewegungen. Dynamik baut auf den Gegensatzpaaren schnell–langsam und laut–leise auf, sie kann als Ausdruck psychodynamischer Kräfte verstanden werden. Form setzt sich mit Grenzen, Gestalt, Organisation und ihren psychologischen Entsprechungen auseinander. Zentrales kreatives Ausdrucksmittel für Patient und Therapeut ist das Musikinstrumentarium. Es werden Instrumente verwendet, die keine musikalischen Vorkenntnisse verlangen, leicht spielbar sind und verschiedene Sinnesqualitäten ansprechen (akustisch, optisch, taktil). Sie sind auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Patienten abgestimmt und umfassen in der Regel: Trommeln (Conga, Bongo, Djembe, Pauke u. a.), Small Percussion (Schellen, Rassel, Shaker, Cabasa, Maracas u. a.), Stabspiele (Xylophon, Marimba, Metallophon, Klangstäbe u. a.), ⊡ Abb. 36.6. Die Musiktherapie
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nutzt eine Vielzahl unterschiedlicher Instrumente (Abb. InnSalzach-Klinikum, WasserburgGabersee)
Saiteninstrumente (Gitarre, Kantele, Monochord, Leier, Streichpsalter u. a.), Blasinstrumente (Flöten, Mundharmonika, Melodika, Didgeridoo u. a.), Tasteninstrumente (Klavier, Keyboard, Akkordeon u. a.), Instrumente mit besonderen Klangeigenschaften (Gongs, Klangschalen, Kalimba u. a.). Hinzu kommen körpereigene Instrumente (Klatschen, Stampfen, Schnipsen) sowie das ureigenste Instrument, die Stimme. Technisches Equipment für Aufnahme und Wiedergabe und eine umfassende Tonträgersammlung sind selbstverständlich. Instrumente haben Appellfunktion. Sie machen neugierig, laden zum Handeln ein, können aber auch Widerstände auslösen. Als Träger einer Symbolfunktion spiegeln sie sich u. a. in zahlreichen Redewendungen wieder: Die erste Geige spielen; einmal auf die Pauke hauen; jemanden nach seiner Pfeife tanzen lassen. ⊡ Abb. 36.6 gibt einen Überblick über verschiedene Instrumente. Spezifische Wirkfaktoren der Musiktherapie sind nach Danner und Oberegelsbacher (2001): Ausdruck, Darstellung und Kommunikation mittels Musik, aktives musikalisches Beziehungsangebot des Musiktherapeuten und musiktherapeutisches Durcharbeiten und Möglichkeit zur musiktherapeutischen Transformation. Zur Zeit existiert für die Musiktherapie kein schulenübergreifendes, allgemein anerkanntes und einheitliches Theoriensystem. Den verschiedenen Musiktherapierichtungen liegen je nach Schwerpunkt sowohl verhaltenstherapeutische, psychoanalytische, tiefenpsychologische oder humanistische als auch sonderpädagogische oder anthroposophische Modelle zugrunde.
901 36.3 · Musiktherapie
36.3.4
Methoden
Rezeptive Musiktherapie Sie stellt das aktive Hören von Musik in den Mittelpunkt des therapeutischen Geschehens. Die Patienten hören die Musik live oder vom Tonträger. Ziel ist es, die Wahrnehmung auf körperliche, emotionale und assoziative Prozesse zu lenken. Erinnerungen und Gefühle tauchen auf, sie werden im anschließenden Gespräch bearbeitet (Decker-Voigt 1991). Mehr funktional wird Musikrezeption als Unterstützung bei Entspannungsverfahren, bei Stressund Schmerzbewältigung oder z. B. zur Rhythmisierung von Übungen in der Physiotherapie eingesetzt. ! Die Vorstellung, dass Musikstücke ähnlich Medikamenten gezielt zur Behandlung von Störungen eingesetzt werden können, gilt heute als widerlegt.
Es besteht aber ein enger Zusammenhang zwischen Musik und Emotion. Für die Art des Gefühlsausdrucks sind Tongeschlecht und Tempo die wichtigsten musikalischen Parameter. Experimentelle Studien belegen, dass Moll und langsames Tempo Traurigkeit auslösen, Moll und schnelles Tempo Ärger oder Wut verursachen, Dur und langsames Tempo beruhigend wirken (Vieilland 2005). Sprache und Musik werden in ein und demselben Netzwerk verarbeitet. Mittels funktioneller Kernspintomografie konnte Kölsch (2004) zeigen, dass das Broca- und das Wernicke-Areal, die klassischen Sprachzentren in der linken Hirnhälfte, und deren Entsprechungen in der rechten Hemisphäre dafür sorgen, dass wir Musik verstehen.
Aktive Musiktherapie Aktive Musiktherapie ist der Sammelbegriff für all jene Arten der Musiktherapie, bei denen der Patient selbst mit Instrumenten oder Stimme agiert. Meist ist der Musiktherapeut am musikalischen Geschehen beteiligt und daher gefühlsmäßig eingebunden. In der Regel folgt dem Spiel die verbale Bearbeitung des Geschehens. Eine zentrale Rolle in der aktiven Musiktherapie spielen Improvisationen. Diese können strukturiert, mit Vorgaben versehen sein, oder frei aus dem »Unvorhersehbaren« (ex improviso) heraus erfolgen (Eschen 1996). Ein wichtiger Teil der aktiven Musiktherapie ist das gemeinsame Singen, bei dem therapeutisch 3 Ebenen wirksam werden: 1. Auf der emotional-gedanklichen Ebene geht es um Erinnerungen, 2. die kommunikativ-soziale Ebene betrifft die Gegenwart, 3. die körperlich-funktionale Ebene betrifft die Atmung und damit zusammenhängende Prozesse (Schwabe 1996). Beiden Methoden ist gemeinsam, dass sie sowohl in Gruppen- als auch in Einzeltherapie Anwendung finden. Einzeltherapie ist in der Regel bei schweren intrapsychischen
und interaktionellen Störungen indiziert. Gruppenmusiktherapie ist im psychiatrischen Kontext die häufigste Behandlungsform. Sie ermöglicht den Patienten u. a. gemeinsame Erfahrungen, Integration unterschiedlicher Sichtweisen oder das Erleben von Mitgefühl durch andere Gruppenmitglieder. Rezeptive und aktive Musiktherapie können ihrer Intention nach erlebnis-, übungs- oder konfliktzentriert eingesetzt werden. Erlebniszentrierte Musiktherapie soll den Patienten neue emotionale Erfahrungen, Entwicklung von Selbstsicherheit und Vertrauen in eigene Stärken oder Ich-Erleben im sozialen Kontext ermöglichen. Übungszentrierte Musiktherapie gibt Hilfestellung beim Üben von Fertigkeiten und Fähigkeiten und unterstützt beim Erlernen neuer Verhaltensweisen. Sie ist sonderpädagogisch ausgerichtet. Die konfliktzentrierte Musiktherapie bearbeitet die in therapeutischen Gestaltungssituationen aufgetauchten Inhalte, wobei dieser Arbeit psychotherapeutische Konzepte zugrunde liegen.
36.3.5
Indikationen und Ziele
Smeisters (1999) fordert für die Indikation zur psychotherapeutischen Musiktherapie, dass die Musik beim Bedürfnis des Patienten anschließt, dieses Bedürfnis in Aspekten der Musik wiederzufinden ist, der Patient durch die Musik Kontakt zu seinen Problemen bekommt und er eine Affirmität zur Musik hat. Musiktherapie ist indiziert bei Störungen in den Bereichen Emotion, Kommunikation, soziale Kompetenz, Kognition, Wahrnehmung und bei Spannungszuständen. Daraus abgeleitete Ziele sind: Aktivierung und Bearbeitung emotionaler Prozesse, Erkennen, verändern, umstrukturieren dysfunktionaler Kognitionen, Förderung sozial-kommunikativer Prozesse, Gruppenerleben, Stärkung der Ich-Funktionen und Aufbau bzw. Erhalt einer adäquaten Persönlichkeitsstruktur, Förderung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, Spannungsminderung. Gemäß den Kriterien eines zeitgemäßen Qualitätsmangements wird Musiktherapie vom Arzt verordnet. Die anhand eines Zielkatalogs festgelegten Behandlungsziele werden umgesetzt, bei Bedarf und in Zusammenarbeit mit dem multiprofessionellen Team korrigiert und therapiebegleitend dokumentiert. Schizophrenie und wahnhafte Störungen. Ziele sind: Ak-
tivierung, Erhöhung des Realitätsbewusstseins, Strukturierung, Kompensation emotionaler Mängel, entwickeln von Ich-Stärke, Förderung von Sozialgefühl, Kontaktfähigkeit und Konzentration. Dazu bietet die Musikthera-
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902
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
pie einen idealen Übungsraum. Kognitive und soziale Fertigkeiten, wie Aufmerksamkeit auf etwas richten, Kontakt initiieren und halten, zuhören oder imitieren, werden behandelt, verbale Kommunikation oder abstraktes Denken sind nicht gefordert. Ausgeprägte Minussymptomatik und Defizite im Kontakt und Sozialbereich können gut therapiert werden, kontraindiziert ist Gruppenmusiktherapie bei Patienten mit akut florider psychotischer Symptomatik (Smeisters 1999; Oerter et al. 2001). Affektive Störungen. Musik kann Emotionen hervorrufen
und verändern. Das Erleben ist im Hier und Jetzt. Der Patient erlebt, dass er Einfluss auf seine Situation hat. Musikalische Spielformen in der aktiven Musiktherapie beeinflussen den Beziehungsaspekt, ermöglichen die Expression von Gefühlen und die Integration derselben ins Tun und in die verbale Bearbeitung. Gemeinsames Singen fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl und hat oft eine ausgeprägte spannungsmindernde Wirkung (körperlich und psychisch). In der rezeptiven Musiktherapie kommen Iso-Prinzip (die Stimmung des Musikstückes entspricht der Stimmung des Patienten) oder Kompensationsprinzip (Stimmung des Patienten und die des Musikstückes sind gegenläufig) zur Anwendung (Smeisters 1999; Oerter et al. 2001). Suchtmedizin. Die Anwendung rezeptiver Musiktherapie
ist umstritten, da sich im Hörerlebnis süchtiges Konsumverhalten wiederholen kann. Bestimmte Musikarten werden mit Orten und Situationen assoziiert, Rückfallängste und -phantasien können ausgelöst werden. Aufgrund der hohen Effizienz und Wirkungsdynamik empfiehlt Kapteina (1996), Musiktherapie in eine psychotherapeutische Gesprächsgruppe zu integrieren, in welcher der Prozess durch Improvisationen zu gerade aktuellen Themen vertieft und intensiviert werden kann. Aktives Musizieren ermöglicht es, Gefühlen wie Wut, Aggression oder Trauer Ausdruck zu verleihen. Psychosomatik. Kächele et al. (2003) beschreiben fol-
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gende Indikationen und musiktherapeutischen Ansätze. Bei psychovegetativen und psychosomatischen Funktionsstörungen ist das Ziel die Beziehungsaufnahme zu den psychosomatischen Impulsen. Musiktherapeutisch wird das mit Körperwahrnehmung, Entspannen zur Musik und Bewegen zur Musik erreicht. Konfliktbedingte intrapsychische Beziehungsstörungen werden spielerisch-improvisierend exploriert und durchgearbeitet. Beziehungsklärende und kommunikationsanregende Spielangebote und gruppendynamische Improvisationen verbessern sozial-kommunikative Fähigkeiten bei Interaktions-, Beziehungs- und Verhaltensstörungen. Das Wahrnehmen eigener musikalischer oder anderer kreativer Potenziale ermöglicht bei Sinn- bzw. Wertkrisen die Entwicklung kognitiver und ästhetischer Strukturen.
Gerontopsychiatrie. Bei gerontopsychiatrischen Störungen stehen die beeinträchtigte Kontakt- und Beziehungsfähigkeit im Vordergrund. Die Musik als Mittel menschlicher Kommunikation hilft, auch bei gestörter verbaler Ausdrucksmöglichkeit emotionale Fähigkeiten zu aktualisieren oder zu reaktivieren. Große Bedeutung hat das gemeinsame Singen. Häufig begegnet man dabei Patienten, die Liedertexte aus der Kindheit und Jugendzeit fehlerlos memorieren können. Lieder sind für die therapeutische Arbeit unerschöpflich. Texte spiegeln biografische Erfahrungen wieder, beinhalten Wünsche und Träume, wecken Erinnerungsbilder. Die Melodien repräsentieren Stimmungen, sie strukturieren Emotionalität, Denken und Handeln (Muthesius u. Beyer-Kellermann 1999) Bei neurologisch-motorischen Störungen unterstützt Musiktherapie Übungs- und Trainingsprogramme, hilft Verlusterfahrungen zu kompensieren, wirkt in Kombination mit Entspannungsverfahren angst- und schmerzlindernd.
36.4
Sport- und Bewegungstherapie A. Broocks
36.4.1
Einleitung
Es wird allgemein angenommen, dass Sport und Bewegung nicht nur diverse somatische Erkrankungen, sondern auch psychische Störungen positiv beeinflussen kann. Während es bei Angststörungen und depressiven Erkrankungen eine Reihe von empirischen Belegen für diese Annahme gibt, steht eine ausreichende empirische Absicherung sporttherapeutischer Effekte im Hinblick auf Suchterkrankungen oder Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis noch aus. Die Mehrzahl der kontrollierten Studien verwendete Ausdauertraining, in einigen Studien zeigte Krafttraining aber vergleichbare Effekte. Neben psychologischen Wirkmechanismen wie Abnahme von Vermeidungsverhalten, Verbesserung von Selbstbewusstsein, Eigeninitiative und die Veränderung von dysfunktionalen Kognitionen spielen auch neurobiologische Adaptationsprozesse eine wichtige Rolle (serotonerge Rezeptoren, neurotrope Faktoren). Individuelle Anleitung und kontinuierliche Motivationsarbeit sind eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg sporttherapeutischer Maßnahmen.
36.4.2
Definition
Sport- und bewegungstherapeutische Behandlungsformen werden heute in praktisch allen psychiatrischpsychotherapeutischen oder psychosomatischen Kliniken
903 36.4 · Sport- und Bewegungstherapie
angewendet. Grundsätzlich geht es darum, über eine Verbesserung der körperlichen Fitness und des Körpergefühls positive Auswirkungen auf die psychische Befindlichkeit zu erzeugen. Neben ausdauerorientierten Ansätzen (z. B. Walkinggruppe, Fahrradergometer-Training) werden auch Krafttraining, Gymnastik oder spielerisch orientierte Gruppenaktivitäten angeboten. Über physiologische Effekte hinaus sollen in der Gruppe auch Spaß und Kreativität erlebt sowie Kommunikation und Interaktion gefördert werden. Mit Hilfe der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson wird über die schrittweise Kontraktion und Relaxation der Muskulatur ein Entspannungseffekt angestrebt ( Kap. 32). Moderne psychotherapeutische Verfahren wie die dialektisch-behaviorale Therapie setzen Sport und Bewegung im Rahmen des Fertigkeitentrainings ein, z. B. um Spannungszustände abzubauen. In speziellen Techniken, wie der »kommunikativen Bewegungstherapie« wird der Brückenschlag zu tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapien versucht. In der Tanztherapie geht es nicht nur um die Bewegung, sondern auch um den Ausdruck von Gefühlen, um nonverbale Kommunikation und Interaktion. Durch eine spielerische Herangehensweise und das Überwinden von Hemmungen kann es auch in anderen Bereichen zu einer Auflockerung des Verhaltens kommen. Darüber hinaus finden in den meisten psychiatrisch-psychotherapeutischen Einrichtungen auch physiotherapeutische Methoden wie Massagen oder Kneipp-Güsse Anwendung. Auch diese Methoden sollen dazu dienen, über die Linderung von chronischen Schmerz- oder Verspannungszuständen das psychische Befinden positiv zu beeinflussen.
Ziele Die Ziele sport- und bewegungstherapeutischer Interventionen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Gesundheit, Leistungsfähigkeit und körperliche Fitness verbessern, Freude an Spiel, Sport und Bewegung wiederentdecken oder neu vermitteln, Handlungskompetenzen aufbauen und verbessern, Kommunikation und Interaktion fördern, Körperwahrnehmung und Körperbewusstsein verbessern, Möglichkeiten der Entspannung kennenlernen, Zusammenhang von körperlichen und psychischen Funktionen erkennen, Selbstbewusstsein und Selbstgefühl stärken, Förderung von Sozialverhalten, Eigenmotivation zu regelmäßiger körperlicher Aktivität entwickeln. Während es für die Mehrzahl der genannten Verfahren bisher kaum empirische Belege für die Wirksamkeit bei psychischen Erkrankungen gibt, liegen im Hinblick auf ein therapeutisch begleitetes Ausdauertraining mittler-
weile eine Reihe von kontrollierten Studien sowohl bei psychischen als auch bei neurologischen Erkrankungen vor (Übersicht bei Reimers u. Broocks 2003).
36.4.3
Empirische Belege für die Wirksamkeit
Depressive Störungen Eine umfangreiche prospektive Studie ergab, dass es bei Probanden mit geringer körperlicher Aktivität im Vergleich zu sportlich aktiven Personen innerhalb von 8 Jahren zu einer doppelt so hohen Neuerkrankungsrate für depressive Störungen kam (Farmer et al. 1988). In einer weiteren epidemiologischen Untersuchung wurde eine Stichprobe mit 8098 Personen in 2 Gruppen unterteilt (Goodwin 2003). Regelmäßige körperliche Aktivität war mit einer signifikant geringeren Prävalenz von depressiven Erkrankungen und verschiedenen Angststörungen verbunden. Im Hinblick auf Suchterkrankungen oder Psychosen konnten keine signifikanten Unterschiede gesichert werden. Querschnittsstudien, in denen trainierte Personen im Vergleich zu Untrainierten eine bessere psychische Befindlichkeit aufwiesen, lassen allerdings keine sicheren Rückschlüsse auf die Kausalität zu; letztlich muss offen bleiben, ob ein Mangel an körperlicher Aktivität zum erhöhten Auftreten von depressiven- und Angststörungen geführt hat, oder ob umgekehrt diese Erkrankungen zur Abnahme körperlicher Aktivitäten geführt haben. In einer deutschen Untersuchung mit 1000 Jugendlichen (14– 18 Jahre alt) zeigte sich, dass regelmäßiges Ausdauertraining mit einem positiveren Selbstbild assoziiert war. In psychometrischen Skalen ergaben sich bei den Jugendlichen niedrige Angst- und Depressionswerte sowie ein geringerer Grad an sozialer Inhibition (Kirkcaldy et al. 2002). Der Konsum von Alkohol, Zigaretten und Drogen lag bei den sportlich aktiven Jugendlichen signifikant niedriger. In einer viel zitierten klinischen Studie (Martinsen et al. 1985) wurden 49 stationäre Patienten mit der Diagnose »Major Depression« entweder mit 3-mal 1 h Ausdauertraining pro Woche oder mit Ergotherapie derselben Zeitdauer behandelt. ! In der Sportgruppe kam es zu einem signifikant stärkeren Absinken der Depressivität, gemessen mit Hilfe der BDI-Skala (Beck Depression Inventory). Patienten mit dem größten Anstieg der Ergometrieleistung zeigten gleichzeitig den besten Therapieeffekt. Weitere klinische Studien wiesen darauf hin, dass der therapeutische Effekt nicht zwangsläufig von der Verbesserung der kardiopulmonalen Fitness abhängt, da auch für Krafttraining eine vergleichbare Wirksamkeit dokumentiert werden konnte (Martinsen et al. 1989; Singh et al.
36
904
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
2001; Singh et al. 1997; Doyne et al. 1987). Die genannten Studien erlauben keine Aussage über den antidepressiven Effekt von Sport per se, da auch andere Behandlungsverfahren zur Anwendung kamen (»add-on-design«). Deutlich aussagekräftiger ist eine umfangreiche Studie mit 156 Patienten, die unter mäßig bis schwer ausgeprägten Depressionen litten (Blumenthal et al. 1999). Die Patienten wurden randomisiert auf drei Behandlungsgruppen verteilt (Ausdauertraining, Antidepressivum (Sertralin) oder Kombination von Ausdauertraining und Sertralin). Nach einer 16-wöchigen Behandlungsphase unterschieden sich die Gruppen statistisch nicht voneinander. Im Prä-PostVergleich kam es zu einer statistisch und klinisch signifikanten Besserung der depressiven Symptomatik. Zwar kam es in der Medikamentengruppe zu einem etwas schnelleren Ansprechen auf die Behandlung, entscheidend aber war, dass nach 16 Wochen ein reines körperliches Training ohne die gleichzeitige Gabe von Medikamenten genauso gut wirksam wie eine lege artis durchgeführte psychopharmakologische Behandlung war. Im Rahmen einer naturalistischen Follow-up-Untersuchung zeigten die remittierten Patienten in der Sportgruppe eine signifikant niedrigere Rückfallrate im Vergleich zu denjenigen Patienten, die initial über 16 Wochen medikamentös behandelt worden waren (Babyak et al. 2000).
Angststörungen
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Einzelfallberichte hatten schon früher auf die Wirksamkeit von Sport bei Patienten mit Angststörungen hingewiesen. Die Metaanalyse von Petruzello et al. (1991) kam zu dem zusammenfassenden Ergebnis, dass sowohl einzelne Trainingssitzungen, als auch ein länger dauerndes körperliches Training angstmindernde Wirkungen haben (Petruzello et al. 1991). In einer kontrollierten Studie (46 Patienten mit der Diagnose einer Panikstörung und/oder Agoraphobie) führten sowohl ein zehnwöchiges Ausdauertrainingsprogramm als auch eine medikamentöse Behandlung mit Clomipramin im Vergleich zu einer Plazebobedingung zu einer klinisch und statistisch signifikanten Besserung der Angstsymptomatik (Broocks et al. 1998). Gleichzeitig verfügten die Patienten der Sportgruppe über einen deutlichen Anstieg der zuvor eingeschränkten Ausdauerleistung, die spiroergometrisch objektiviert werden konnte (Broocks et al 1997, 1998). In einer epidemiologischen Studie an 4.000 Japanern war die Abneigung gegen körperliche Aktivität signifikant mit dem Auftreten einer Panikstörung korreliert (Kaiya et al. 2005). Die Bedeutung komplementärer Methoden in der Behandlung von Angststörungen wurde in einer umfangreichen Metaanalyse von Jorm et al. (2004) untersucht. Beim Vergleich von insgesamt 34 Behandlungsmethoden, zu denen auch Homöopathie, pflanzliche Arzneimittel, Akupunktur, autogenes Training und Meditation gehörten, ergab sich der höchste Evidenzgrad für körperliches Training, weitere Evidenzen konnten für Kava-
Kava und bestimmte Entspannungsverfahren eruiert werden.
Suchterkrankungen – Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis Die Wirksamkeit von sport- oder bewegungstherapeutischen Ansätzen wurde bei Patienten mit Suchterkrankungen und mit Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis bisher nicht in kontrollierten Studien untersucht. Es ist allerdings gut dokumentiert, dass die körperliche Gesundheit und Ausdauerleistungsfähigkeit bei diesen Patienten deutlich beeinträchtigt sind (Dixon et al. 1999; Mahadik et al. 2001; Deimel 1983). Schon aus diesem Grunde erscheinen sporttherapeutische Maßnahmen sinnvoll, außerdem wurde eine positive Interaktion von körperlicher Aktivität, verbesserter sozialer Interaktion und aktiverer Freizeitgestaltung beoachtet (Längle 2000). Ein weiterer Grund für die Bedeutung bewegungstherapeutischer Maßnahmen in der Behandlung der Schizophrenie besteht in der möglichen Beeinflussung von depressiven Begleitsymptomen und Minussymptomen. Bei weiteren Störungsbildern (Sozialphobie, posttraumatische Belastungsstörung, Somatisierungsstörung, Zwangsstörung) existieren lediglich Einzelfallberichte und offene Studien (Manger u. Motta 2005), die für einen wahrscheinlichen therapeutischen Effekt von regelmäßiger körperlicher Aktivität sprechen. Es ist denkbar, dass über eine Abnahme innerer Angespanntheit und eine Besserung der Grundstimmung unspezifische therapeutische Effekte erzielt werden können, die sich indirekt positiv auf die für die jeweilige Störung charakteristische Symptomatik auswirken.
36.4.4
Mögliche Wirkmechanismen von regelmäßigen körperlichem Training
Durch die mit der motorischen Belastung verbundene sympathische Aktivierung kommt es zur vermehrten Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin aus dem Nebennierenmark. Eine akute Kraftbelastung (ein Durchgang Beinpresse mit 80% der maximalen Muskelkraft) führte dabei zu ähnlichen Effekten wie eine Ausbelastung auf dem Fahrradergometer (Kraemer et al. 1989). Die genannte Kraftbelastung führte außerdem zu einem Anstieg der Plasmakonzentration von Testosteron, IGF-I (Insulin-like growth factor), Renin und Angiotensin II. Ein Anstieg der β-Endorphin-Konzentration im peripheren Blut wurde nach akuten Ausdauerbelastungen über etwa 50–60% VmaxO2 oder einer Dauerbelastung von über 30–45 min beobachtet (Janal et al. 1984; Krüger et al. 1986; Schwartz u. Kindermann 1990). In einer Untersuchung an 12 Marathonläufern konnte gezeigt werden, dass regelmäßige motorische Aktivität mit einer Down-
905 36.4 · Sport- und Bewegungstherapie
Regulation von zentralen 5-HT2C-Rezeptoren verbunden ist (Broocks et al. 1999). Ausdauertraining bewirkt einen vermehrten Tryptophan-Einstrom in das Gehirn (Fernstrom u. Wurtman 1971; Wurtman u. Fernstrom 1976) und scheint so die Synthese und auch den Umsatz von Serotonin zu stimulieren (Broocks et al. 1991; Meeusen et al. 1996). Interessanterweise führt plötzliches »Absetzen« von Ausdauertraining bei trainierten Langstreckenläufern zu »Entzugserscheinungen« in Form von Reizbarkeit, innerer Unruhe, leichteren depressiven Verstimmungen bis hin zu diffusen Angstgefühlen (Morris et al. 1990). Nach Wiederaufnahme des Trainings kommt es zur raschen Rückbildung dieser Symptomatik.
»Brain-derived neurotropic factor« Neben dem Einfluss auf den Serotoninstoffwechsel werden in jüngster Zeit vermehrt Befunde publiziert, die eindeutig zeigen, dass motorische Aktivität akut zu einem Anstieg von BDNF (»brain-derived neurotrophic factor«) führt. In bestimmten Hirnarealen kommt es zu einer Stimulierung der Neurogenese, dies verbunden mit verbesserten Leistungen im Hinblick auf Gedächtnis und andere geistige Funktionen. Tierexperimentelle Studien haben überdies gezeigt, dass die Widerstandsfähigkeit des Gehirns gegenüber verschiedenen Noxen durch motorische Aktivität erhöht werden kann und dass es über eine verstärkte Expression bestimmter Gene zu einer erhöhten Plastizität des Gehirns kommt. Bei Mäusen wurde nach einer Periode mit vermehrter Lauftätigkeit ein Anstieg neuronaler Vorläuferzellen im Bereich des Hippocampus beobachtet (Praag et al. 1999). Hinzu kam, dass die Laufradmäuse in Gedächtnisparadigmen deutlich bessere Ergebnisse erzielten. Diese tierexperimentellen Befunde passen gut zu klinischen Studien, in denen Ausdauertraining ein präventiver und therapeutischer Effekt im Hinblick auf die Alzheimer-Demenz zugeschrieben werden muss. Ein möglicher Wirkmechanismus könnte darin bestehen, dass Ausdauertraining auch die häufigsten Gefäßrisikofaktoren günstig beeinflusst, zumal es offenbar Verbindungen zwischen zerebrovaskulären Veränderungen und der Entwicklung der Alzheimer-Demenz gibt. Die Effektstärken, die über ein therapeutisches körperliches Training bei Patienten mit leichter oder mittelgradig ausgeprägter Alzheimer-Demenz erzielt werden konnten, waren mit den Effekten von medikamentösen Behandlungsversuchen durchaus vergleichbar (Übersicht bei Reimers u. Broocks 2003). Der schon genannte BDNF ist bei der Alzheimer-Demenz intrazerebral erniedrigt, besonders ausgeprägt im Hippocampus. Für die Behandlung depressiver Symptome, die häufig als Komplikation der Alzheimer-Demenz auftreten, ist außerdem relevant, dass BDNF antidepressive Effekte zugeschrieben werden und tierexperimentell ein Synergismus zwischen erhöhter BDNF-Expression nach aerober Ausdauerbelastung und Gabe von Antidepressiva nachgewiesen werden konnte.
Psychologische Faktoren Auch psychologische Faktoren könnten für die Wirkung sporttherapeutischer Behandlungen relevant sein: Eine grundlegende Erfahrung der Patienten, die es geschafft haben, ein regelmäßiges körperliches Training zu beginnen, besteht darin, dass sie den Symptomen nicht hilflos gegenüberstehen, sondern aktiv etwas zur Überwindung ihrer Symptome tun können (»Selbstwirksamkeitserwartung«). Das Ausmaß an wahrgenommener Kontrolle über die Symptome hat einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung von Panikattacken. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht könnte auch die Reattributierung angstbesetzter Körpersensationen einen entscheidenden therapeutischen Wirkfaktor darstellen. Während der Ausdauerbelastung erlebt der Patient die mit den Angstzuständen assoziierten Symptome wie Herzrasen, Schwitzen, schnelles Atmen und leichten Schwindel als völlig normale physiologische Reaktionen, die nach kurzer Zeit von selbst verschwinden. Die Notwendigkeit, die häusliche Umgebung zu verlassen und im Rahmen des Trainings auf eine ausreichende kardiale Belastbarkeit zu vertrauen, bedeutet für einen Großteil der Angstpatienten zudem eine echte Exposition. Bei der sozialen Phobie könnte als psychologischer Wirkfaktor noch hinzukommen, dass ein verbessertes Aussehen, z. B. auch durch Krafttraining, die Eigenwahrnehmung und das Selbstwertgefühl günstig beeinflusst mit der Folge eines selbstbewussteren Auftretens in verschiedenen sozialen Situationen. Einer der größten Vorteile der Sporttherapie besteht zudem darin, dass der von vielen somatischen Befürchtungen geplagte Patient wirklich etwas zur Verbesserung seiner Gesundheit tut. Es ist wissenschaftlich eindeutig belegt, dass regelmäßiges Ausdauertraining einen vorbeugenden Einfluss auf die wichtigsten Gefäßrisikofaktoren hat: Erhöhter Blutdruck, Fettstoffwechselstörungen, Übergewicht sowie eine diabetische Stoffwechsellage werden positiv beeinflusst. Körperliche Aktivität hat zudem einen prophylaktischen Effekt für eine Vielzahl anderer Erkrankungen und erhöht eindeutig die Lebenserwartung (Paffenbarger et al. 1993; Paffenbarger u. Lee 1999).
Sport- und Bewegungstherapie – Wirkmechanismen Metabolismus monoaminerger Neurotransmitter, z. B. erhöhte Verfügbarkeit von Serotonin und sekundäre postsynaptische Effekte Vermehrte Bildung von BDNF Günstiger Einfluss auf das metabolische Syndrom Bessere Selbstwirksamkeitserwartung Expositionseffekte Abbau von Angst und Anspannung Aufbau einer »positiven Aktivität«, verbunden mit Naturwahrnehmung oder vermehrter sozialer Interaktion
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906
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
36.4.5
Grundvoraussetzungen für den erfolgreichen Einsatz sporttherapeutischer Angebote
Der Einsatz sporttherapeutischer Maßnahmen setzt in der klinischen Praxis eine entsprechende Motivierung und Anleitung des Patienten voraus, weil dieser möglicherweise seit Jahren sportlich nicht mehr aktiv gewesen ist. Der Arzt oder Therapeut sollte über ein Erklärungsmodell zur Wirksamkeit von Sport verfügen und den Patienten über die Durchführung der jeweiligen bewegungstherapeutischen Angebote ausführlich informieren. Vor Beginn der Therapie sollten körperliche Kontraindikationen ausgeschlossen werden. Bei Patienten über 40 Jahre und bei kardial vorgeschädigten Patienten wäre ein Belastungs-EKG indiziert. Orthopädische Probleme sollten rechtzeitig erkannt und behandelt werden. Die Trainingszeiten sollten in Form von Aktivitätstagebüchern festgehalten und zu jedem Behandlungstermin mitgebracht werden. Der Therapeut kann dadurch die jeweiligen Fortschritte oder Probleme des Patienten besser einschätzen. Dabei werden häufig Widerstände oder Befürchtungen auf seiten des Patienten deutlich, die im Gespräch abgebaut werden müssen. Diese Aufgaben können sowohl von
einem speziell geschulten Physiotherapeuten als auch vom behandelnden Arzt wahrgenommen werden. Die Trainingsintensität darf zu Beginn nicht zu hoch sein. Bei der Durchführung einer Laufgruppe sollte es den Patienten anfangs ausdrücklich erlaubt sein, häufiger Gehpausen einzulegen. Tempo und »Leistung« sind nicht entscheidend, wichtiger ist die Regelmäßigkeit des Trainings trotz aller Hindernisse. Cave Insbesondere bei depressiven Patienten muss darauf geachtet werden, dass es nicht zu Überforderung und erneuten Frustrationserlebnissen kommt.
In sehr akuten Krankheitsphasen im Rahmen einer affektiven oder schizophrenen Psychose ist ein systematisches und intensives Training oft noch nicht möglich. Man wird sich dann zunächst auf Spaziergänge und leichte Lockerungsgymnastik o. ä. beschränken müssen. Nach Abklingen der akuten Symptomatik kann dann versucht werden, den Patienten zu einem regelmäßigen körperlichen Training zu motivieren.
EbM-Box
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Die klinische Wirksamkeit sporttherapeutischer Maßnahmen, insbesondere von Ausdauertraining, konnte für depressive Störungen durch verschiedene klinische Studien einschließlich mehrerer randomisierter kontrollierter Studien gesichert werden (Level A). Im Hinblick auf Angststörungen gibt es eine Reihe von Einzelfallberichten und einige wenige offene Studien. Da bisher nur eine randomisierte kontrollierte Studie zu Panikstörung/Agoraphobie publiziert wurde, wird aufgrund der hier verwendeten Evidenzkriterien lediglich der Level C erreicht. Das gleiche Evidenzniveau gilt für den Wert sporttherapeutischer Maßnahmen bei der Alzheimer-Demenz. Obgleich es eine Vielzahl von experimentellen Befunden zum Einfluss von motorischer Aktivität auf Lernverhalten, neurotrophe Faktoren
und hirnmorphologische Veränderungen gibt und obgleich verschiedene neurobiologische Wirkmechanismen identifiziert werden konnten, fehlt es noch an aussagekräftigen klinischen Studien mit betroffenen Patienten, in denen z. B. ein therapeutisches Ausdauertraining direkt mit einer medikamentösen Behandlung oder einer Plazebobedingung verglichen werden. Bei anderen psychischen Erkrankungen wie z. B. schizophrenen Psychosen, Suchterkrankungen oder somatoformen Störungen wird bisher lediglich ein niedriger Evidenzgrad erreicht (Level D). Im Unterschied dazu finden sich deutlich mehr kontrollierte Studien im Bereich neurologischer Erkrankungen (z. B. Morbus Parkinson, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Fibromyalgie und verschiedene Muskelerkrankungen).
Fazit Zusammenfassend wird deutlich, dass das Heranführen des Patienten an sporttherapeutische Maßnahmen besonders in der Initialphase Zeit und engmaschige Kontakte erfordert. In diesem Zusammenhang könnte motivationalen Therapieansätzen, so wie sie aus der »motivierenden Gesprächsführung« bei Patienten mit Abhängig-
keitserkrankungen bekannt sind, eine entscheidende Bedeutung zukommen (Miller u. Rollnick 1999). Der längerfristige Behandlungserfolg hängt von der Eigenmotivation des Patienten ab, einen aktiven Lebensstil mit ausreichender und regelmäßiger Bewegung zu entwickeln und beizubehalten.
907 Literatur
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36
908
Kapitel 36 · Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie
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Literatur zu 36.2 und 36.3
36
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36
37 37 Psychiatrische Rehabilitation W. Weig
37.1
Definition
– 912
37.2
Theoretische Grundlagen und Konzepte der Rehabilitation
37.5
– 912
37.3 37.3.1 37.3.2 37.3.3 37.3.4 37.3.5 37.3.6
Methoden und Vorgehensweisen – 915 Voraussetzungen – 915 Diagnostik – 915 Handlungsorientierte Therapie – 916 Psychotherapie – 917 Hilfen zur Integration – 917 Beratung und Koordination – 917
37.4
Psychiatrische Rehabilitation bei anderen Krankheitsbildern – 917 Suchtkrankheiten – 918 Gerontopsychiatrie – 918 Intelligenzminderung – 918 Sonstige Krankheitsbilder – 918
37.4.1 37.4.2 37.4.3 37.4.4
Evidenz
– 918
37.6 Organisation und Finanzierung – 919 37.6.1 Zeitliche Phasen der Rehabilitation – 919 37.6.2 Rechtsgrundlagen und Finanzierung – 919 37.7
Ausblick
– 920
Literatur
– 921
> > Psychiatrische Rehabilitation dient der Bewältigung der Krankheit und der Herstellung einer optimalen Lebensqualität bei Patienten, bei denen es aufgrund einer psychischen Erkrankung zu einer seelischen Behinderung und eingeschränkten Möglichkeiten zur Bewältigung von Alltagsanforderungen gekommen ist. Soweit möglich stellt sie auch die Teilhabe am (allgemeinen) Arbeitsleben wieder her. Psychiatrische Rehabilitation zielt auf Bewältigung dieser verschiedenen Anforderungen. Die 3 Bereiche medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation werden dabei nach Möglichkeit verbunden.
912
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
37.1
Definition
Viele psychische Erkrankungen neigen zu chronischem Verlauf. Die Ausbildung von Residualsyndromen dabei ist typisch. Nicht selten äußert sich eine seelische Behinderung darin, dass die Möglichkeiten zur Bewältigung von Alltagsanforderungen eingeschränkt sind. Hilfen zur Vermeidung und Überwindung derartiger Behinderungen werden unter dem Begriff der Rehabilitation zusammengefasst. Unter Rehabilitation wird dabei verstanden, »… die Gesamtheit der Bemühungen, einen durch Krankheit, ein angeborenes Leiden oder äußere Schädigungen körperlich, geistig oder seelisch behinderten Menschen über die Akutbehandlung hinaus durch umfassende Maßnahmen auf medizinischem, schulischem, beruflichem und allgemein sozialem Gebiet in die Lage zu versetzen, eine Lebensform und -stellung, die ihm entspricht und seiner würdig ist, im Alltag, in der Gemeinschaft und im Beruf zu finden beziehungsweise wiederzuerlangen« (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 1984; ⊡ Tab. 37.1).
! Anders formuliert: Wesentliche Ziele sind die Bewältigung der Krankheit und die Herstellung einer optimalen Lebensqualität (Katschnig 1994).
37
Die Definition weist auch auf die klassische Dreiteilung in medizinische, berufliche (einschließlich schulische) und soziale Rehabilitation hin. Gerade in der psychiatrischen Rehabilitation hat es sich jedoch nicht bewährt, diese Rehabilitationsanteile zeitlich und konzeptionell voneinander zu trennen. Der Aufbau eines gesonderten Systems der psychiatrischen Rehabilitation hat sich als notwendig erwiesen, da psychisch Kranke von allgemeinen Rehabilitationsangeboten, die auf körperlich Kranke und Behinderte zugeschnitten sind, kaum profitieren. Grundsätze der Rehabilitation bei psychischen Störungen wurden formuliert (Frieboes et al. 2005; Berger et al. 2005). Klinisch-psychiatrische Behandlung und psychiatrische Rehabilitation ergänzen sich dabei gegenseitig: Sorgfältige Diagnostik und optimale kausale oder wenigstens symptombezogene Behandlung unter Vermeidung unerwünschter Nebenwirkungen sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche Rehabilitation. Andererseits setzt eine erfolgversprechende und umfassende Behandlung das Einbeziehen rehabilitativer Überlegungen von Anfang an voraus. Besondere Bedeutung beim Übergang von der Akutbehandlung zur Rehabilitation hat die Möglichkeit teilstationärer Behandlung in der Tagesklinik (Eikelmann et al. 1999).
⊡ Tab. 37.1. Bereiche der Rehabilitation Medizinisch Beruflich/schulisch Sozial
Krankheitsbewältigung (Wieder)eingliederung in den Beruf Alltagsbewältigung, soziale Kontakte
In Deutschland werden als Rehabilitation im engeren Sinne, den sozialrechtlichen Festlegungen folgend ( Kap. 37.6), nur zeitlich befristete und zielgerichtete Maßnahmen, die schwerpunktmäßig der Erhaltung oder Wiederherstellung der Teilhabe in relevanten Lebensbereichen dienen, abgegrenzt. Aus Prävention, Akutbehandlung, Rehabilitation und langfristiger Integration chronisch psychisch kranker Menschen entsteht ein Versorgungskontinuum, das jedoch leistungsrechtlich und konzeptionell aus klar beschriebenen Segmenten zusammengesetzt ist.
37.2
Theoretische Grundlagen und Konzepte der Rehabilitation
Bewältigungsorientierter Ansatz Psychiatrische Rehabilitationsliteratur bezieht sich überwiegend auf Erkrankungen des schizophrenen Formenkreises (ICD-10 F20). Deshalb sollen die Grundsätze psychiatrischer Rehabilitation zunächst an diesem Beispiel erläutert werden. Coping. Schizophrenie wird dabei hinsichtlich Entste-
hung und Verlauf nach dem Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Kompetenzmodell (Liberman et al. 1994) beschrieben (⊡ Abb. 2.4). Für die Rehabilitation kommt es nun darauf an, das Coping zu verbessern und die Bewältigungskompetenz des Individuums zu erhöhen. Bewältigung (»coping«) meint dabei die Bemühungen der Person auf kognitivem, emotionalem und behavioralem Gebiet zur Überwindung innerer und äußerer Belastungen aufgrund der Beziehungen zwischen Person und Umwelt, die nicht routinemäßig überwindbar sind. Derartige Belastungen werden auch Stressoren genannt (Lazarus u. Launier 1978). Unterschiede zu klassischen medizinischen Modellen.
Der bewältigungsorientierte Ansatz der Rehabilitation unterscheidet sich in einigen Punkten von den klassischen medizinischen Modellen des Umgangs mit dem Patienten und seiner Krankheit: Nicht maximale Symptomreduktion ist das Ziel, sondern bestmögliche Anpassung an die gegebenen Bedingungen, Erfüllung sozialer Rollenerwartungen und optimale Lebensqualität. Damit verbunden ist ein veränderter Begriff der Heilung: Trotz fortbestehender Krankheitssymptome und nachweisbaren Residuen ist eine Überwindung der Krankheit möglich. Dadurch verändert sich auch die Rolle des Kranken vom passiv leidenden Patienten zum Experten für die eigene Krankheit.
913 37.2 · Theoretische Grundlagen und Konzepte der Rehabilitation
Faktoren für eine günstige Bewältigung Als bedeutsam für eine gelungene Bewältigung haben sich u. a. erwiesen: Eine angemessene Kontrollüberzeugung: Der Kranke muss die begründete Überzeugung gewinnen, dass er den Symptomen und Folgen der Krankheit nicht passiv ausgeliefert ist, sondern sie durch eigenes gezieltes Handeln, Veränderung seiner Einstellung und seiner Beziehung zur Umgebung beeinflussen kann. Voraussetzung dafür ist auch die Vermittlung eines geeigneten Krankheitskonzeptes und aller für den Kranken bedeutsamen Informationen zu Entstehung, Verlauf und Behandlung der Erkrankung. Bei Schizophreniepatienten finden sich in der Regel schwere Belastungen in allen Lebensbereichen. Dabei dominieren allerdings quantitativ die mit der Krankheitssymptomatik im engeren Sinne unmittelbar zusammenhängenden Belastungen (Wiedl 1996). Im Ergebnis bedeutet das, dass die bewältigungsorientierte rehabilitative Therapie den Umgang mit multiplen Belastungen berücksichtigen muss, im Mittelpunkt aber krankheitsbezogene und nicht auf allgemeine Problemlösungen gerichtete Inhalte stehen sollten. Da die realistische Wahrnehmung und Bewertung von Belastung und die Umsetzung derartiger Kognitionen besonders problematisch sind, müssen diese Fähigkeiten vorrangig beachtet und trainiert werden. Selbstheilungsversuche. Schizophrene Patienten haben in der Regel selbst schon Bewältigungsschritte ersonnen und erprobt, die als Selbstheilungsversuche (Brenner u. Böker 1992) zu qualifizieren sind. Das Anknüpfen an derartige Erfahrungen und die sich dabei ergebenden Ressourcen der Person fördern die bewältigungsorientierte Behandlung und verbessern die Compliance des Patienten. Dabei ist es allerdings notwendig, die gefundenen Bewältigungsstrategien hinsichtlich ihrer Angemessenheit und Nützlichkeit zu bewerten und zu optimieren. Neben mehr oder weniger gelungenen Bewältigungsstrategien kommen auch unwirksame, ja kontraproduktive Selbstheilungsversuche vor (zu denken ist an unangemessenen sozialen Rückzug oder auch Einsatz psychotroper Substanzen wie Alkohol oder Cannabis zur vermeintlichen Symptomreduktion). Konsequenz ist für die Forscher die Erarbeitung von Methoden und Kriterien zur Bewertung des Bewältigungsverhaltens, für die rehabilitative Praxis das Erfordernis einer individuellen Bewältigungsanamnese und Bewältigungsanalyse. Soziale Beziehungen. Zu den Auswirkungen primärer
und sekundärer Krankheitsprozesse der Schizophrenie gehören auch Behinderungen des Kommunikationsverhaltens und extrem niedrige Soziabilität. Die Folge sind
geringe soziale Unterstützung und nach qualitativen und quantitativen Gesichtspunkten rarifizierte soziale Netzwerke (Cresswell et al. 1992). Dauerhafte soziale Kontakte schizophren Erkrankter beschränken sich meist auf die Herkunftsfamilie, insbesondere die Eltern und die professionellen Bezugspersonen des psychiatrischen Versorgungssystems. Daraus ergibt sich die große Bedeutung des Einbezugs der Familien und der Angehörigen in die Rehabilitation. Psychiatrische Angehörigenarbeit ist schon deshalb für den Rehabilitationserfolg entscheidend, weil sich der angemessene emotionale Umgang der nahen Bezugspersonen mit dem Patienten als bestimmend für das Wiederauftreten störender Symptome und damit für den Krankheitsverlauf erwiesen hat (Hahlweg et al. 1989). Daneben sind der Aufbau und die Stärkung sozialer Beziehungen etwa in Patientenclubs und das Einüben angemessener nicht überfordernder sozialer Kontakte bedeutsam.
Symptom- und verlaufskorrelierte Bewältigung Bei allem Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten einer Bewältigung ist auch zu berücksichtigen, dass Bewältigungshandlungen symptom- und verlaufskorreliert sind. Kurzfristig kann wirksame Bewältigung aus eigenen Kräften nicht oder nur eingeschränkt möglich sein. Auch langfristig ist das Maß des Erreichbaren begrenzt. Mittels neuropsychologischer Untersuchungsverfahren ist es inzwischen möglich, Klienten, die von den derzeit verfügbaren Trainingsstrategien voraussichtlich profitieren werden von solchen mit ungünstigen Prognoseerwartungen zu unterscheiden. ! Um Enttäuschungen und Überforderungen zu vermeiden, ist es notwendig, diese Grenzen zu erkennen und dem Patienten Sensibilität und Offenheit hierfür zu vermitteln. Für die krankheits- und symptombezogene Bewältigung ergibt sich hieraus die Entwicklung von Methoden der Modifikation und Kompensation. Unter Modifikation wird dabei eine überdauernde Beeinflussung von Struktur oder Funktion, z. B. durch Training, verstanden, unter Kompensation eine aktuelle an die Präsenz der jeweiligen »prothetischen« oder »katalytischen« Hilfe gebundene Veränderung, die dementsprechend nur für die Dauer der Hilfeleistung Bestand hat (s. Übersicht). In diesem Sinne lassen sich beispielsweise Materialien zur Stützung der Gedächtnisfunktion, der Aufmerksamkeitslenkung etc. (Visualisierung, Signaltafel) einsetzen. Mit Hilfe neuropsychologischer Konzepte können Trainingsmaßnahmen entwickelt werden, die auch bei bisher mit ungünstiger Prognose behafteten Klienten Verbesserungen erzielen lassen und eine substratnahe Behandlung unter Nutzung der Neuroplastizität ermöglichen (Gauggel 2003).
37
914
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
Wichtige Elemente psychiatrischer Rehabilitation
Achsen der Rehabilitation. (Nach Ciompi 1989)
Katalytische Maßnahmen – Modifikation Optimierung von Bewältigungsstrategien Selbstwirksamkeitsüberzeugung Verbesserung des Netzwerks Funktionales Selbst- und Krankheitskonzept Prothetische Maßnahmen – Kompensation Unterstützung von außen
Funktionales Krankheits- und Selbstkonzept
Wirksamkeit und Prognose
Entwickelt werden soll ein »funktionales Krankheitskonzept«, das dem Betroffenen hilft, die Erkrankung zu verstehen und als ein Phänomen zu erleben, mit dem eine Auseinandersetzung möglich ist (Süllwold u. Herrlich 1990). Daneben ist ein »funktionales Selbstkonzept« zu entwickeln. Hierbei werden diejenigen Kognitionen über die eigene Person und ihre Beziehung zur realen oder vorgestellten Umwelt gefördert, die eine konstruktive Auseinandersetzung begünstigen. Dadurch entsteht auch die Überzeugung der Selbstwirksamkeit (Böker u. Brenner 1996).
Hinsichtlich der Erfolgsprognose und grundsätzlichen Wirksamkeit rehabilitativer Maßnahmen bei der Schizophrenie zeigt sich ein relativ günstiges Bild. Der Rehabilitationserfolg, gemessen beispielsweise an der Veränderung auf den Rehabilitationsachsen Ciompis (Ciompi 1989), liegt im Schnitt bei einer Größenordnung von 40– 70% (Hubschmid u. Aebi 1986). Hinsichtlich der Eingliederung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind die Ergebnisse meist deutlich schlechter, was neben der allgemeinenArbeitsmarktsituationauchmitweiterbestehenden Vorurteilen zusammenhängen dürfte. Die Bearbeitung von Einstellungen und Erwartungen in der Öffentlichkeit psychisch Kranken gegenüber erweist sich somit als ein wichtiges Feld psychiatrischer Rehabilitation (Anti-Stigma-Kampagne). Untersucht man die Prädiktoren des Rehabilitationserfolges, so ergeben sich 2 Klassen relevanter Einflussgrößen.
Für die Bewältigung relevante Lebensbereiche Schließlich sind die wesentlichen, nicht unmittelbar krankheitsbezogenen Lebensbereiche in die Überlegung der Rehabilitation einzubeziehen. Relevante Lebensbereiche sind dabei insbesondere Wohnen und Bewältigung des Alltags, materielle Grundsicherung, Beschäftigung und Tagesstruktur, möglichst Eingliederung in den allgemeinen, ersatzweise in einen besonderen Arbeitsmarkt, Aufnahme und Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, soziale Kontakte, Erlebnis- und Genussfähigkeit.
37
Krankheitsbewältigung Materielle Grundsicherung Wohnen Arbeiten, Tagesstruktur Freizeit, Genussfähigkeit Soziale Kontakte, Sexualität
Beziehungen zu dem auch für schizophrene Menschen in besonderem Maße relevanten Lebensbereich von Arbeit und Liebe (Freud) sind offensichtlich. Ciompi (1989) hat für die Achsen »Wohnen« und »Arbeiten« den Gang der Rehabilitation beschrieben und quantifiziert (s. Übersicht). Die Berücksichtigung psychosexueller Kompetenz, die Überwindung sexueller Funktions- und Kommunikationsstörungen und die Schaffung günstiger Bedingungen für eine befriedigende Sexualität sollten Bestandteile einer umfassenden Rehabilitation darstellen (Weig 2004).
Von der Rehabilitation unabhängige Einflussgrößen. Auf
der einen Seite stehen die Faktoren, die auch unabhängig von spezifischen Rehabilitationsmaßnahmen den Krankheitsverlauf beeinflussen wie Rezidivhäufigkeit, Ausmaß der psychopathologischen Symptomatik, Grad der Behinderung, Hospitalisationsdauer, prämorbides Niveau der sozialen Eingliederung, prämorbides Niveau der psychosexuellen Entwicklung, weibliches Geschlecht. Einfluss der Rehabilitation. Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch ein unmittelbarer Einfluss der rehabilitativen Ansätze, wobei sich die Rollenveränderung vom »Patienten« zum »Klienten«, die induktionsspezifisch positive Erwartung, strukturierte Therapieprogramme mit Fokus auf soziale Fertigkeiten und systematische Nachbetreuung als besonders wirksam erweisen (Ciompi 1989 ). Während ein Großteil der Katamnesestudien nur kurzfristige Veränderungen (Katamnesedauer bis zu
915 37.3 · Methoden und Vorgehensweisen
2 Jahren) belegt, konnte in einigen Studien eine langfristige Stabilisierung der einmal eingetretenen Erfolge, ja sogar eine Tendenz zur weiteren Verbesserung der Situation gezeigt werden (Pfister u. Sparlinger 1987, zit. nach Ciompi 1989; Grosch u. Weig 1995). ! Als wesentlich für den Rehabilitationserfolg erweist sich auch die Auswahl geeigneter und hinreichend motivierter Rehabilitationsteilnehmer zum geeigneten Zeitpunkt. Ein Beginn gezielter Rehabilitationsmaßnahmen etwa 3– 5 Jahre nach der ersten Behandlungsepisode (der ersten klinisch relevanten Manifestation der Erkrankung) scheint günstig zu sein: Zum einen ist dann eine hinreichende Erfahrung mit der Erkrankung entstanden, die auch zu einer ausreichenden Rehabilitationsmotivation führt, zum anderen sind Effekte der Fixierung der Erkrankung (Spitzer 1997) und der Hospitalisierung (Ciompi 1989) noch nicht rehabilitationshemmend ausgeprägt.
Wirtschaftliche Erwägungen Schließlich liegen auch Studien vor, nach denen die rehabilitative Behandlung schizophrener Patienten, auch wenn sie langwierig und aufwendig ist, volkswirtschaftlich zu besseren Ergebnissen führt als der Verzicht darauf. Neben der Einsparung der Kosten neuerlicher intensiver Behandlung bei Krankheitsrezidiven und bleibender Behinderung schlagen die Entlastung der Familien und die wirtschaftlichen Erfolge – wenn auch unvollständige Integration in den Arbeitsmarkt – positiv zu Buche (Hunsche 1995). Leider wird dieser Aspekt angesichts der vorwiegend betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise der Kostenträger und Leistungserbringer zu wenig beachtet.
37.3
37.3.1
Methoden und Vorgehensweisen Voraussetzungen
Medikation. Psychiatrische Rehabilitation bei schizo-
phrenen Erkrankungen ist mit Aussicht auf Erfolg nur auf der Grundlage einer angemessenen neuroleptischen Rückfallprophylaxe möglich. Eine möglichst niedrig dosierte Gabe von Depotneuroleptika hat sich bewährt. Eine Intervallmedikation scheint weniger gute Erfolge zu bringen. Neben der zuverlässigen Rückfallprophylaxe ist für die Rehabilitation wichtig, stärkere unerwünschte Nebenwirkungen mit Beeinträchtigungen der Motorik, der kognitiven Leistungsfähigkeit und anderer psychophysischer Funktionen, wie z. B. der Sexualität, zu vermeiden. Die neueren »atypischen« Neuroleptika sind hier i. Allg. besser geeignet als konventionelle Antipsychotika. Ein wirksamer medikamentöser Schutz gegenüber der Exazerbation psychotischer Symptome erweist sich v. a. un-
ter der doch erheblichen Stressbelastung in aktiven Phasen der Rehabilitation als notwendig. Die Vermittlung von Einsicht in die Notwendigkeit der Medikation und der angemessenen Informationen über Wirkung und Nebenwirkungen ist basaler Bestandteil des Rehabilitationsprozesses. ! Die Compliance hinsichtlich der medikamentösen Behandlung ist ein entscheidender Erfolgsprädiktor für jeden Rehabilitationsteilnehmer. In vielen Rehabilitationsprogrammen wird angestrebt, dass der Kranke lernt, mit den Medikamenten umzugehen und sich konstruktiv mit den Nebenwirkungen auseinanderzusetzen (Linden u. Müller 2005). Therapeutische Beziehung. Daneben ist eine selbstver-
ständliche und unabdingbare Voraussetzung für eine gelingende Rehabilitation die Herstellung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung und die personelle Kontinuität während der gesamten Rehabilitationszeit. Der Rehabilitationsteilnehmer benötigt eine eindeutige und verlässliche Bezugsperson, zu der eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung besteht, im Sinne eines therapeutischen Arbeitsbündnisses unter Wahrung der notwendigen Distanz und Rollenklarheit. Multiprofessionelles Team. Da psychiatrische Rehabilitation einen komplexen mehrdimensionalen Ansatz verfolgt, ist sie nur realisierbar durch ein gut kooperierendes, einem gemeinsamen Grundverständnis verpflichtetes multiprofessionelles Team. Vertreten sein müssen mindestens die Berufsgruppen Arzt, Diplom-Psychologe, Sozialpädagoge(-arbeiter), Ergotherapeut und ggf. Fachkrankenpflege.
37.3.2
Diagnostik
Neben der gewohnten klinischen Diagnostik nach syndromalen und nosologischen Gesichtspunkten (angelehnt an ein operationales Diagnoseschema wie ICD-10 oder DSM-IV) erfordert die Rehabilitationsplanung die zusätzliche Erfassung, Beschreibung und Kodifizierung, der durch die psychische Erkrankung eingetretenen Beeinträchtigungen von Funktionen und Struktur, der daraus folgenden Beeinträchtigung derjenigen Aktivitäten, die für die betroffene Person relevant und adäquat sind, der wiederum daraus sich ergebenden Gefährdungen, Beeinträchtigungen oder des Verlustes der Teilhabe an relevanten Lebensbereichen. Begrifflichkeit und Konzept, zusammenfassend als »Funktionsfähigkeit« oder »funktionale Gesundheit« einer Person bezeichnet, beruhen auf dem Klassifikations-
37
916
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
system ICF der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001, deutsch: DIMDI 2006). ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) sieht die funktionale Gesundheit dabei als Ergebnis der Interaktion von krankheitsbedingten Beeinträchtigungen, Ressourcen der Persönlichkeit sowie fördernden oder hemmenden Einflüssen der (sozialen) Umgebung. Philosophie und Begrifflichkeit von ICF haben Eingang in die Formulierungen des SGB IX als der entscheidenden rechtlichen Grundlage von Rehabilitationsleistungen in Deutschland gefunden und sind daher verbindlich (⊡ Abb. 37.1, Kap. 37.6.2). Instrumente der Funktionsdiagnostik. Für die rehabilita-
tive Funktionsdiagnostik in der Psychiatrie wurden verschiedene Verfahren entwickelt. Neben sorgfältiger Anamneseerhebung und strukturiertem Interview kommen Fragebogenverfahren zur Selbsteinschätzung, zur Fremdeinschätzung durch Angehörige und therapeutische Mitarbeiter, Verhaltensbeobachtung sowie objektive Funktionsdiagnostik in Betracht. Zur Ermittlung des individuellen Bewältigungsstils und der krankheitsbezogenen Belastung wurde ein 2-stufiges Erhebungsinstrument, das Osnabrücker Belastungs- und Bewältigungsinventar (OBBI), vorgeschlagen (Wiedl 1996). Die so gewonnen Erkenntnisse sollten einfließen in eine standardisierte Beschreibung und Beurteilung der psychischen Funktionen, des Aktivitätsradius und des Ausmaßes der Teilhabe der betroffenen Personen im Sinne von ICF (Assessment). Entsprechende Instrumente auf der Grundlage des ICF sind in Bearbeitung (Schuntermann 2001). Etabliert ist der Integrierte Behandlungs-/Rehabilitationsplan – IBRP (Aktion Psychisch Kranke 2005). Arbeitsdiagnostik. Für die Ermittlung vorhandener Kompetenzen und bestehender Defizite im Bereich Arbeit und lebenspraktische Bewältigung des Alltags hat sich der Ansatz der Arbeitsdiagnostik bewährt. Dabei werden dem Patienten in verschiedenen Arbeitsbereichen (z. B. handwerkliche Arbeiten mit Holz, Büroarbeiten) in der Schwierigkeit abgestufte normierte Aufgaben gestellt, die er nach Krankheit beeinträchtigt
37 Körperliche und psychische Funktionen und Strukturen
Relevante Aktivitäten
Teilhabe an unterschiedlichen Lebensbereichen
Hemmend oder fördernd
Umweltfaktoren
Eigene Ressourcen und Defizite
⊡ Abb. 37.1. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – ICF (DIMDI 2006)
Instruktion bearbeiten soll (Köhler 1998). Auf diesem Wege ist die Gewinnung individueller Leistungsprofile (z. B. MELBA) möglich. Zur weiteren Rehabilitationsplanung können derartige Leistungsprofile mit den Anforderungsprofilen eines angestrebten oder zur Verfügung stehenden Arbeitsplatzes verglichen werden (»P-U-fitmodell«/Person-Umwelt-fit-Modell; Weber 1993).
Auswertung und Rehabilitationsplan Die Auswertung der diagnostischen Instrumente ergibt ein individuelles Profil der relevanten Defizite, der zur Verfügung stehenden Ressourcen, aber auch der Ansprüche und Erwartungen des Rehabilitationsteilnehmers. Wichtig ist die gemeinsame Reflexion mit dem Teilnehmer, ggf. unter Beteiligung von Bezugspersonen zur Erarbeitung eines realistischen, vom Rehabilitationsteilnehmer selbst akzeptierten Rehabilitationsplans, der die wesentlichen Rehabilitationsziele, die dazu notwendigen Schritte und die erforderlichen Zeitvorgaben enthält und nach den verschiedenen Rehabilitationsbereichen (Krankheitsbewältigung, Alltagsbewältigung, Arbeiten) differenziert ist. Durch Verlaufsbeobachtung, Wiederholung der diagnostischen Instrumente und gemeinsame Reflexion von Rehabilitationsteam und Rehabilitationsteilnehmer muss der Rehabilitationsplan laufend, z. B. alle 4 Wochen, fortgeschrieben werden, um flexibel auf sich verändernde Bedingungen zu reagieren. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die einzelnen Rehabilitationsmaßnahmen relevant (nicht beliebig, aktionistisch) sind und der Rehabilitationsteilnehmer weder über- noch unterfordert wird.
Psychoedukative Verfahren Psychoedukative Verfahren spielen in der psychatrischen Rehabilitation eine zentrale Rolle ( Kap. 38).
37.3.3
Handlungsorientierte Therapie
Während psychoedukative Ansätze vorwiegend über kognitive und emotionale Prozesse wirken, spielt für den Transfer das unmittelbar handlungsbezogene Training eine bedeutsame Rolle. Neben dem Erwerb lebenspraktischer Fertigkeiten und dem Ausprobieren sozialer Aktivitäten unter therapeutisch-pädagogischer Begleitung spielt hier die Ergotherapie eine besondere Rolle ( Kap. 36). Durch gestuftes Training und Belastungsproben werden basale Arbeitsfähigkeiten und Sozialverhalten trainiert, Erfolgserlebnisse vermittelt und möglichst gezielt eine berufliche Wiedereingliederung vorbereitet. Die Auswahl von Arbeitsinhalten richtet sich dabei nach den vorhandenen Möglichkeiten und den Bedürfnissen des Rehabilitationsteilnehmers. Entsprechend internationalen Erfahrungen (Hoffmann et al. 2003) sollte so früh wie möglich die Platzierung an einem realen Arbeitsplatz im
917 37.4 · Psychiatrische Rehabilitation bei anderen Krankheitsbildern
Sinne eines Praktikums in enger therapeutischer Begleitung (»coaching«) erfolgen (»supported employment«).
37.3.4
Psychotherapie
! Während der gesamten Rehabilitationszeit bedarf der Rehabilitationsteilnehmer einer psychotherapeutischen Begleitung. Traumatische Lebensereignisse und andere die Bewältigung belastende Faktoren müssen erkannt und bearbeitet werden. Beziehungsstrukturen in der Familie und zu anderen Bezugspersonen sind häufig problematisch. Insbesondere aber stellt die Krankheit selbst für viele Betroffene eine erhebliche Kränkung dar, die es zu verstehen und zu überwinden gilt. Dazu gehört auch der angemessene Umgang mit Inhalten psychotischen Erlebens. Schließlich stellt sich die Frage nach dem Lebenssinn (Frankl 1985). Angemessene Bewältigung der Erkrankung bedeutet häufig den Verzicht auf vorher bestehende Pläne im Sinne einer »angemessenen Resignation«. Trauerarbeit ist nötig, um zu einem konstruktiven Neuansatz zu kommen. Je nach Schulorientierung des Therapeuten eignen sich hierfür tiefenpsychologisch orientierte, kognitiv verhaltenstherapeutische und sog. humanistische Ansätze wie Gesprächspsychotherapie und Logotherapie. Beziehungsaufbau und stützende Interventionen, die die gesamte Rehabilitation begleiten, erfordern Elemente einer »allgemeinen Psychotherapie« und setzen Kenntnisse in der therapeutischen Gesprächsführung voraus. Übende und entspannende psychotherapeutische Verfahren wie das autogene Training können den Rehabilitationsprozess unterstützen.
37.3.5
Hilfen zur Integration
Der Rehabilitationsprozess bleibt langfristig unwirksam, wenn dem Kranken nicht am Ende die Integration in ein möglichst normales und selbstständiges Leben gelingt. Hierzu hat es sich als notwendig erwiesen, langfristig über die Rehabilitationsphase hinaus, ggf. lebenslang, beratende und unterstützende Hilfen bereitzuhalten. In vielen Fällen sind daneben »prothetische« Hilfen notwendig. Hierunter sind besonders angepasste Lebensvoraussetzungen zu verstehen, die eine langfristige subjektiv befriedigende Alltagsbewältigung trotz nennenswerter Behinderung ermöglichen. Im Bereich des Wohnens gehören hierzu betreute Wohngemeinschaften und betreutes Einzelwohnen. Auf der Arbeitsachse sind sowohl Einrichtungen des ersten Arbeitsmarktes mit besonderen Möglichkeiten zur Integration seelisch behinderter Menschen wie Selbsthilfefirmen und soziale Betriebe als auch flankierende Hilfen
wie die psychosozialen Dienste der Hauptfürsorgestellen zu nennen. Bei geringerer Leistungsfähigkeit kommen Angebote des besonderen Arbeitsmarktes in Form von Werkstätten für seelisch behinderte Menschen in Frage. Ist eine Integration im Arbeitsmarkt nicht möglich oder wird sie individuell nicht gewünscht, so bieten sich zur Tagesstrukturierung Tagesstättenangebote an. Patientenclubs, Begegnungsstätten und Teestuben ermöglichen soziale Kontakte und dienen der Freizeitgestaltung. Beratungsstellen mit verlässlichen Ansprechpartnern und ambulante psychiatrische Krankenpflege unterstützen die ärztliche und psychotherapeutische Behandlung und dienen der Rückfallvermeidung und der Bewältigung von Krisen. Selbsthilfegruppen für Betroffene (»Psychoseerfahrene«) und Angehörige mobilisieren Selbstheilungskräfte, schaffen soziale Unterstützung und machen weniger abhängig von professioneller Hilfe.
37.3.6
Beratung und Koordination
Für Menschen, die von psychiatrischer Rehabilitation profitieren können oder schon Rehabilitationsmaßnahmen absolviert haben, ist ein leicht verfügbares und kompetentes Beratungsangebot wichtig. Notwendig sind Informationen über geeignete Hilfen und deren Finanzierung, Vermittlung von Kontakten, Unterstützung bei Leistungsanträgen etc. Rehabilitationsangebote sind umso wirksamer, je klarer sie auf eine überschaubare Region bezogen und mit den übrigen Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens der Region verzahnt sind (Weig u. Wiedl 1995). Die rehabilitativen Angebote der Region und die dort Tätigen müssen dabei angemessen kooperieren und verantwortlich koordiniert werden. Auch die Rehabilitationsangebote für den einzelnen Betroffenen müssen in einem übersichtlichen und eindeutigen Plan koordiniert und fortgeschrieben werden. Eine die Freiheit unnötig einengende Gängelung ist dabei zu vermeiden. Wirksame Koordinationsstrukturen wurden an einigen Orten des Bundesgebietes entwickelt (Weig 1998).
37.4
Psychiatrische Rehabilitation bei anderen Krankheitsbildern
Eine Reihe grundsätzlicher methodischer und konzeptioneller Überlegungen, die exemplarisch für schizophrene Erkrankungen ausgeführt wurden, sind auf die Rehabilitation von Patientinnen und Patienten mit anderen psychiatrischen Krankheitsbildern übertragbar. Spezifische Ansätze sind für andere Patientengruppen bisher nicht in demselben Umfang entwickelt worden. Einige Hinweise sollen jedoch gegeben werden.
37
918
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
37.4.1
Suchtkrankheiten
Seit Inkrafttreten der Empfehlungsvereinbarung zur Rehabilitation Abhängigkeitskranker 1979 werden Rehabilitationsmaßnahmen für Suchtkranke in den Phasen stationäre Entgiftung im Akutkrankenhaus und Entwöhnungsbehandlung in Fachkliniken angeboten. Daneben haben sich teilstationäre und ambulante Angebote auch mit der Möglichkeiten einer Substitutionsbehandlung, z. B. mit Methadon, bewährt (Finkbeiner et al. 1996). In der Nachbetreuung und langfristigen Integration Suchtkranker spielen Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Alkoholiker seit langem eine wichtige und erfolgreiche Rolle (Seitz et al. 1995).
37.4.2
Gerontopsychiatrie
Bei den typischen psychischen Erkrankungen des höheren Lebensalters stellen sich teilweise andere Schwerpunkte und Aufgaben als bei der Rehabilitation jüngerer Menschen. Vorrangiges Ziel ist es, die Selbstversorgungsfähigkeit des alten Menschen zu verbessern und damit seine Abhängigkeit von Fremdhilfen und Pflegebedürftigkeit zu reduzieren (Rehabilitation vor Pflege). Bei demenziellen Erkrankungen haben sich abgestufte Übungsprogramme zur Verbesserung der Realitätsorientierung bewährt (Vollhardt 1996).
37.4.3
Intelligenzminderung
Für Menschen mit Intelligenzminderungen und sich daraus ergebenden geistigen Behinderungen haben sich teilweise unabhängig von der Psychiatrie eigene Hilfsstrukturen einschließlich rehabilitativer, meist pädagogisch geprägter Ansätze entwickelt. Bei der sehr häufigen Verbindung der Intelligenzminderung mit psychischen Störungen ist jedoch ein psychiatrisches Rehabilitationsangebot unverzichtbar. Dazu gehört auch die familientherapeutische Bearbeitung der Konflikte und Belastungen, denen Familien mit einem geistig behinderten Mitglied ausgesetzt sind (Gaedt 1993).
37
37.4.4
Sonstige Krankheitsbilder
Menschen mit affektiven Erkrankungen, insbesondere depressiven Syndromen tauchen in den Einrichtungen der psychiatrischen Rehabilitation selten auf, obwohl chronifizierende und zu Behinderungen führende depressive Verläufe nicht ganz selten sind. Für die Rehabilitation von Patienten mit chronifizierten Neurosen ist eine konsequente Behandlung mit speziellen Psychotherapieverfahren, oft in Kombi-
nation mit einer antidepressiven Medikation, entscheidend. Stark zugenommen hat die Anzahl von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen (ICD10: F60, F61) bei der Inanspruchnahme von Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation. Für diese Gruppe wurden spezielle Rehabilitationsprogramme entwickelt. Besondere Probleme wirft die Rehabilitation von Patienten mit Komorbidität auf. Für die Kombination von endogener Psychose und Substanzabhängigkeit wurden in eigens dafür geschaffenen Einrichtungen Konzepte entwickelt, die sich stark an die Erfahrungen aus der Rehabilitation schizophren erkrankter Patienten anlehnen (Krauß et al. 1994).
37.5
Evidenz
Die Wirksamkeit rehabilitativer Strategien nach den inzwischen üblichen Evidenzkriterien zu beurteilen ist deshalb problematisch, weil diese ganz auf medikamentöse Behandlungsstrategien zentriert sind. Die Forderung nach doppelblinden plazebokontrollierten Studien ist für komplexe soziotherapeutisch dominierte Ansätze wie die medizinische und berufliche Rehabilitation unbrauchbar. Dennoch lassen sich auf der Ebene von Gruppenvergleich und katamnestischer Studien der Erfolg rehabilitativer Maßnahmen, die Nachhaltigkeit rehabilitative Strategien und deren methodische Elemente empirisch überprüfen. Daraus können Behandlungsleitlinien für diesen Bereich formuliert werden (Becker et al. 2005). Erfolge konsequenter und ausreichend lange durchgeführter rehabilitativer Programme bei psychischen Erkrankungen lassen sich hinsichtlich der Verbesserung der Autonomie in den Bereichen Lebensführung, Wohnsituation und finanzielle Unabhängigkeit, in der Verringerung der Zahl und Dauer stationärer Wiederaufnahmen und in der subjektiven Lebensqualität nachweisen. Auch die Gesamtrate der Integration in das Erwerbsleben verbessert sich deutlich, wenn auch Möglichkeiten wie Beschäftigung in sozialen Betrieben und Werkstätten für behinderte Menschen sowie berufliche Bildungs- und Fördermaßnahmen berücksichtigt werden. Die Quote der Integration im allgemeinen (ersten) Arbeitsmarkt hängt dagegen stärker von den Rahmenbedingungen (Ausmaß struktureller Arbeitslosigkeit) ab als vom individuellen Rehabilitationserfolg (Weig u. Niederstraßer 2007). Als wirksame Elemente psychiatrischer Rehabilitation im Sinne evidenzbasierter Medizin haben sich das Case Management, die Arbeitsrehabilitation unter den Bedingungen des »supported employment«, verschiedene psychoedukative Verfahren einschließlich der Angehörigenarbeit (siehe Kapitel 38) sowie kognitive Trainingsprogramme erwiesen. Für andere Ansätze ist die Evidenz nicht empirisch gesichert. Dies gilt auch für die Verfahren
919 37.6 · Organisation und Finanzierung
der Ergotherapie, die in der Versorgungsrealität eine erhebliche Rolle spielen. Studien zur differenziellen Wirksamkeit ergotherapeutischer Methoden lassen noch keine abschließende Beurteilung zu (Galvao et al. 2006).
37.6
Organisation und Finanzierung
37.6.1
Zeitliche Phasen der Rehabilitation
ziele sind belegt (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2000). Andere Einrichtungen. Prinzipiell stehen auch Berufsbil-
dungswerke, Berufsförderungswerke, berufliche Trainingszentren für psychisch Kranke und seelisch Behinderte zur beruflichen Rehabilitation zur Verfügung, doch haben sich nur manche dieser Einrichtungen dem Personenkreis geöffnet und spezielle Angebote entwickelt.
Rehabilitation während der Akutbehandlung
Dauer der Maßnahme
Rehabilitative Überlegungen müssen bei einer potenziell zur Chronifizierung neigenden Erkrankung schon während der Akutbehandlung einsetzen. Während der ambulanten teilstationären und stationären psychiatrischen Behandlung können rehabilitative Elemente neben der Akutbehandlung große Bedeutung gewinnen. Für die psychiatrische Krankenhausbehandlung sind entsprechende Möglichkeiten und die sich daraus ergebenen Konsequenzen für die Personalausstattung in der Psychiatrie-Personalverordnung Kategorie 3 beschrieben (Kunze u. Kaltenbach 2005).
Die erforderlichen Rehabilitationszeiten übersteigen die aus dem Bereich körperlich Behinderter bekannten Werte bei weitem. Für den erfolgreichen Abschluss einer RPK-Maßnahme sind im Schnitt Rehabilitationszeiten von 6 Monaten bis zu 2 Jahren erforderlich.
Zeitlich befristete Rehabilitation Ist nach Abschluss der Akutbehandlung eine Rückkehr in die gewohnten und vom Patienten gewünschten Lebensumstände wegen seiner Behinderung oder Funktionseinschränkung nicht möglich, so ist die Indikation zu einer speziellen zeitlich befristeten Rehabilitationsmaßnahme zu prüfen. Sie ist dann gegeben, wenn sie mit Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden kann und der Patient selbst dazu motiviert ist. Rehabilitation psychisch Kranker in Rehabilitationseinrichtungen für körperlich Kranke hatte eine sehr niedrige Rehabilitationsrate einerseits, einen hohen Anteil von Frühberentungen andererseits zu Folge (Häfner 1989). RPK-Einrichtungen. Durch Vereinbarung der beteiligten Kosten- und Leistungsträger (Rentenversicherung, Krankenversicherung, Bundesagentur für Arbeit) wurde daher ein spezielles Rehabilitationsangebot für (v. a. schwer und chronisch) psychisch kranke Menschen durch nahtlose Verzahnung medizinischer und beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen bei begleitender psychosozialer Betreuung unter der Bezeichnung »Rehabilitation für psychisch Kranke und Behinderte« (RPK) geschaffen. Die Empfehlungsvereinbarung RPK von 1986 wurde 2006 durch eine aktualisierte Neufassung abgelöst. RPK-Angebote existieren inzwischen in vielen Regionen des Bundesgebietes, jedoch noch nicht flächendeckend (Weig u. Schell 2005). RPK-Einrichtungen bieten medizinische und berufliche Rehabilitation (Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben) vorzugsweise ambulant (teilstationär), bei Bedarf auch stationär an. Erfolge von RPK-Maßnahmen hinsichtlich des Erreichens der gestellten Rehabilitations-
Nachbetreuung Entscheidend für den langfristigen Rehabilitationserfolg ist die sorgfältige Begleitung des Übergangs von der gezielten Rehabilitationsmaßnahme in die Nachbetreuung. Die langfristige Begleitung und Förderung der Integration ( Kap. 37.3.5) ist eine Aufgabe des sozialpsychiatrischen Verbundsystems in der jeweiligen Region. Diese Hilfen kommen auch Menschen zugute, die aufgrund der Schwere ihres Krankheitsverlaufs oder mangelnder Motivation nicht oder noch nicht für eine gezielte Rehabilitation in Frage kommen und ggf. stärker beschützter Wohnformen (z. B. in psychiatrischen Wohnheimen) bedürfen (Grosch u. Weig 1995).
37.6.2
Rechtsgrundlagen und Finanzierung
Für seelisch behinderte und von seelischer Behinderung bedrohte Menschen besteht unabhängig von der Ursache der Behinderung ein Rechtsanspruch auf Rehabilitation (§ 10 SGB I). Die sozialrechtlichen Grundlagen für die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen wurden in dem 2001 verabschiedeten IX. Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) zusammengefasst. Im Vordergrund steht das Ziel, behinderten Menschen Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken (§ 1). Behinderung wird definiert als eine voraussichtlich länger als 6 Monate dauernde Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand mit der Folge, dass die Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist, u. a. auf dem Gebiet der seelischen Gesundheit. Zu den »Leistungen zur Teilhabe«, die die zuständigen Sozialleistungsträger im Falle einer Behinderung zu erbringen haben, gehören die Leistungen der medizinischen Rehabilitation und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation). Die
37
920
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
Kostenzuständigkeit richtet sich weiterhin nach den Spezialvorschriften, wie sie in den übrigen Teilen des Sozialgesetzbuches niedergelegt sind. Voraussetzungen. Rehabilitationsleistungen im recht-
lichen Sinne kommen dann in Betracht, wenn aufgrund einer Funktionsstörung in Folge einer psychischen Erkrankung (ICD-10 F) Aktivitäten eingeschränkt und dadurch die Teilhabe in relevanten Lebensbereichen aufgehoben, wesentlich eingeschränkt oder gefährdet ist. die betreffende Person in der Lage ist, aktiv an einer Rehabilitationsmaßnahme teilzunehmen, dazu gehört insbesondere die Überwindung von Akutsymptomen und unmittelbaren Gefährdungen wie z. B. Suizidalität das Rehabilitationsziel vorausichtlich mit den vorhandenen Möglichkeiten innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit erreicht werden kann (positive Rehabilitationsprognose) ausreichende Motivation zur Teilnahme an der Rehabilitationsmaßnahme vorliegt.
Rechtliche Zuordnung und Finanzierung Medizinische Rehabilitation Grundsätze: §§ 26ff. SGB IX Rentenversicherung, wenn Anspruchsvoraussetzungen erfüllt (§ 15 SGB VI) Krankenversicherung (§ 27 SGB V) Berufliche Rehabilitation Grundsätze: §§ 33ff. SGB IX Rentenversicherung, wenn Anspruchsvoraussetzungen erfüllt (§ 16 SGB VI) Arbeitsverwaltung (§ 98 SGB III) Soziale Rehabilitation Nicht eigenständig ggf. Eingliederungshilfe (§ 54 SGB XII)
Medizinische Rehabilitation. Medizinische Rehabilitation
37
ist dabei ärztliche Behandlung einschließlich der Anleitung der Versicherten, eigene Abwehr- und Heilungskräfte zu entwickeln, ferner u. a. »Beschäftigungstherapie, Belastungserprobung und Arbeitstherapie«. Somit ist ein Großteil der erwähnten bewältigungsorientierten Therapie abgedeckt. Träger ist die gesetzliche Rentenversicherung (§ 15 SGB VI). Daneben kommt in bestimmten Fällen auch die gesetzliche Krankenversicherung (§ 27 SGB V) in Betracht. Die Krankenversicherung tritt dann ein, wenn entweder die Anspruchszeiten in der Rentenversicherung noch nicht erfüllt sind oder hinsichtlich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine positive Prognose gestellt werden kann.
Berufliche Rehabilitation. Leistungen zur Teilhabe am Ar-
beitsleben (§ 16 SGB VI) sind im Wesentlichen »Leistungen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, Berufsvorbereitung, berufliche Anpassung, Fort- und Ausbildung, Umschulung, Arbeits- und Berufsförderung auch im Eingangsverfahren und im Arbeitstrainingsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen«. Als Träger kommt, soweit die Anspruchszeiten für die Rentenversicherung nicht erfüllt sind, auch die Arbeitsverwaltung über die zuständige Agentur für Arbeit in Frage (§ 98 SGB III). Soziale Rehabilitation. Leistungen der sozialen Rehabili-
tation sind nur dann durch die Träger der gesetzlichen Sozialversicherung finanzierbar, wenn sie Bestandteil einer medizinischen oder beruflichen Rehabilitation sind. Andernfalls kommen nur die Leistungen der Eingliederungshilfe für Behinderte gemäß § 54 SGB XII durch die Träger der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfe in Frage. Dabei sind aber die Grundsätze der Subsidiarität (Nachrangigkeit gegenüber allen anderen in Frage kommenden Leistungsträgern) und der Verpflichtung des Betroffenen und seiner für ihn unterhaltspflichtigen Angehörigen zur Eigenbeteiligung zu beachten (Mrozynski 1992; Eichenhofer 1995). Rehabilitative Behandlung, Frührehabilitation. Rehabili-
tative Elemente, die die psychiatrische Krankenbehandlung zwingend enthält sowie die sog. Frührehabilitation gehören im Fach Psychiatrie und Psychotherapie leistungsrechtlich nicht zur Rehabilitation, sondern zur Akutbehandlung. Für die stationäre Krankenhausbehandlung ist dies in der Psychiatrie-Personalverordnung (Kunze u. Kaltenbach 2005) näher festgelegt. Die Grundsätze sind in einem Urteil des Bundessozialgerichtes eindrucksvoll bestätigt worden (Weig 2006).
37.7
Ausblick
Wirksame rehabilitative Konzepte, insbesondere für an Schizophrenie erkrankte Menschen, aber auch für eine Reihe anderer Krankheitsbilder stehen zur Verfügung. Noch mehr als in der Akutbehandlung gehen sie von einem mehrdimensionalen biopsychosozialen Verständnis der Krankheit aus und können nur in dem Dreiklang von empirisch-wissenschaftlicher Begründung, flexibler individueller Begleitung auf dem Boden einer tragfähigen therapeutischen Beziehung und Berücksichtigung organisatorischer Rahmenbedingungen einschließlich der Finanzierung umgesetzt werden. Weiterentwicklung und Evaluation rehabilitativer Konzepte bedürfen noch erheblicher wissenschaftlicher Bemühungen. Ausbau und Aufrechter-
921 Literatur
haltung eines flächendeckenden rehabilitativen Angebotes sind geboten. Rehabilitative Ansätze ergänzen die Akutbehandlung sinnvoll und verbessern Prognose und Lebensqualität vieler Betroffener. Doch sind auch die Grenzen des Möglichen sorgfältig zu beachten, um nicht Überforderung und schließlich Verzweiflung bis hin zu suizidalen Krisen zu provozieren.
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922
Kapitel 37 · Psychiatrische Rehabilitation
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37
38 38 Psychoedukation und Angehörigenarbeit R. Borbé, W. P. Hornung, G. Buchkremer
38.1 Psychoedukation – 924 38.1.1 Theoretische Grundlagen – 924 38.1.2 Anwendungsmöglichkeiten von Psychoedukation – 926
38.2 Angehörigenarbeit – 928 38.2.1 Begriffsbestimmung und Typologie – 928 38.2.2 Subtyp der Angehörigenarbeit: therapeutische Angehörigengruppen – 929 38.2.3 Anwendungsmöglichkeiten von Angehörigenarbeit – 930 Literatur
– 934
> > Der Begriff Psychoedukation stammt aus dem angelsächsischen Sprachraum. Mit »psychoeducational family treatment« (Anderson et al. 1980) wurde in der amerikanischen und englischen Psychiatrie Anfang der 80er Jahre eine Behandlungsform beschrieben, die den Familien schizophrener Patienten auf zweierlei Weise Hilfe bringt. Einerseits werden die Angehörigen der Kranken ausführlich über die schizophrene Erkrankung, deren Entstehungsbedingungen, den Verlauf und die Behandlungsmöglichkeiten informiert. Andererseits wird überwiegend mit verhaltenstherapeutischen Methoden die Kompetenz der Angehörigen bzw. der Gesamtfamilie im Umgang mit dem Patienten und dessen Erkrankung verbessert (Falloon et al. 1982). Dieses Vorgehen ist mittlerweile auch fester Bestandteil in Psychotherapieprogrammen für Patienten und steht für verschiedene psychiatrische, psychosomatische und somatische Erkrankungen meist in manualisierter Form zur Verfügung. In den letzten Jahren gab es eine Reihe von Studien, die die Wirksamkeit psychoedukativer Interventionen bei unterschiedlichen Diagnosen untersuchten. Parallel dazu hat sich der Begriff der therapeutischen Angehörigenarbeit weiterentwickelt, abzugrenzen von der Familientherapie und von Selbsthilfegruppen.
924
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
38.1
Psychoedukation
38.1.1
Theoretische Grundlagen
»Unter dem Begriff der Psychoedukation werden systematische didaktisch-psychotherapeutische Interventionen zusammengefasst, die dazu geeignet sind, Patienten und ihre Angehörigen über die Krankheit und ihre Behandlung zu informieren, das Krankheitsverständnis und den selbstverantwortlichen Umgang mit der Krankheit zu fördern und sie bei der Krankheitsbewältigung zu unterstützen« (Bäuml u. Pitschel-Walz 2003, S.3).
Es handelt sich damit um einen elementaren Bestandteil guter klinischer Praxis (GCP), der ein grundlegendes Recht unserer Patienten erfüllt: das Recht, über ihre Erkrankung informiert zu sein (Colom u. Lam 2005).
Historische Entwicklung
38
Eine einheitliche Definition von Psychoedukation gibt es bis heute nicht. Der Begriff selbst stammt aus den frühen 1980er Jahren. Anderson verwendete ihn erstmals 1980 in einem Manual zur Familientherapie schizophrener Störungen (Anderson 1980). In der interpersonellen Psychotherapie wird Psychoedukation als Haupttechnik zur Patientenentlastung, Informationsgewinnung und Symptombewältigung aufgeführt (Schramm 1998). Dies illustriert zweierlei: erstens entwickelten sich psychoedukative Ansätze aus verschiedenen Therapieformen heraus, zweitens waren und sind sie integraler Bestandteil in der Arbeit mit Angehörigen. Die Übersetzung der Manuale von Falloon und Mitarbeitern (1984) und Liberman (1988) durch Hahlweg et al. (1995), sowie Brenner (1990) zogen die Entwicklung psychoedukativ geprägter Interventionen auch im deutschen Sprachraum nach sich. Die größte Nähe besteht unter methodologischen Aspekten zu verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen, da es sich im Wesentlichen um lerntheoretisch fundierte psychotherapeutische Maßnahmen handelt. Mit ihrem informationsvermittelnden Anteil sind sie per se integraler Bestandteil der Verhaltenstherapie als Behandlungsmethode (Margraf 2000). Schon von ihren Anfängen an wurde innerhalb der Verhaltenstherapie betont, dass Patient und Therapeut in ein möglichst gleichberechtigtes Behandlungsbündnis eintreten sollten. Eine Voraussetzung dafür ist, dass der Patient weiß, worum es sich bei der vorliegenden Störung handelt und aus welchen Schritten die Behandlung im Einzelnen bestehen wird. Bei psychoedukativen Maßnahmen ist der informationsvermittelnde Anteil als Hauptschwerpunkt der Intervention anzusehen oder ist den verhaltensmodifizierenden Anteilen zumindest ebenbürtig. Diese Besonderheit kann als Abgrenzung zu anderen verhaltenstherapeutischen Maßnahmen betrachtet werden. Dabei werden die nach Grawe et al. (1994) im psychotherapeutischen Handeln reflektierten Perspektiven wie Transpa-
renz, Strukturiertheit, Kompetenz und motivationale sowie z. T. interaktive Aspekte berücksichtigt (Elmer 1996). Psychoedukation kann demnach eingesetzt werden als eigenständige kognitiv-behaviorale Therapiemethode mit edukativem Schwerpunkt oder als spezifische Technik innerhalb verhaltenstherapeutischen Vorgehens. Verhältnis zu anderen Therapiemethoden. Patienten (und
Angehörige) werden gerade durch Psychoedukation aktiv in die Therapie einbezogen. Behandlung wird dadurch zunehmend zur Mitbehandlung, bzw. Fremdbestimmung zur Mitbestimmung. Im Hinblick auf den Einbezug von Angehörigen in die psychoedukativ ausgerichtete Behandlung gilt, dass Psychoedukation keine Therapie der Familie oder bestimmter Familienstrukturen bedeutet. Dies bleibt den psychoanalytisch, strukturell oder strategisch orientierten Ansätzen vorbehalten (s. unten). Abgrenzung rein edukativer Maßnahmen. Von Psychoedukation abzugrenzen sind die rein edukativen Behandlungsmaßnahmen. Bei ihnen geht es ausschließlich um
Aufklärung und Information. Häufig werden dazu audiovisuelle Hilfen wie Videobänder, CD-ROMs, DVDs und schriftliche Materialien eingesetzt. Auch über das Internet wird mittlerweile eine Vielzahl von Edukationsprogrammen angeboten. Ein persönlicher oder gar interaktiver Kontakt zwischen Patienten und Behandelndem kommt dabei nur selten zustande. Zumeist beschränken sich die Programme auf einige wenige Demonstrationen oder Vorlesungen. Ihre Effekte sind begrenzt und führen zumeist nicht über die erwünschte Zunahme des Wissenstands und eine oft nur kurzfristige Verbesserung der Behandlungscompliance hinaus.
Inhalte und Ziele psychoedukativer Interventionen Kurzgefasst zielen psychoedukative Interventionen auf Wissensvermittlung und Verhaltensmodifikation. Die wortwörtliche Übersetzung von »education«, nämlich Erziehung macht in diesem Zusammenhang wenig Sinn. Vielmehr handelt es sich um eine Art »teaching« oder »coaching«. Dem Kranken und seinen Angehörigen soll Wissen über Entstehungsbedingungen, Häufigkeit, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten einer Erkrankung vermittelt werden. Dabei geht es weniger um ein schematisches schulmäßiges Vermitteln von Wissensinhalten. Vielmehr werden, auf dem Boden einer ärztlich-psychiatrischen Grundhaltung und mit psychotherapeutischem Verständnis, die Adressaten einer solchen Intervention in ihrer jeweiligen Situation wahr- und angenommen. Das heißt, ihre Erfahrungen, ihr bisheriges Erleben im Umgang mit der psychischen Erkrankung und ihre eigenen Standpunkte werden nicht nur erfasst, sondern im gesamten Behandlungsprogramm so gut wie möglich be-
925 38.1 · Psychoedukation
rücksichtigt. Das zweite Ziel, die Verhaltensmodifikation meint psychotherapeutische Interventionen, in der Regel verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Dabei kann es sich beispielsweise um ein lerntheoretisch begründetes Vermitteln von Problemlösefähigkeiten handeln (Falloon et al. 1982). Es soll zur besseren Lösung allgemeiner Alltagsprobleme verhelfen und zur effektiveren Bewältigung von Schwierigkeiten führen, die sich im Verlauf der Erkrankung und/oder im Verhalten gegenüber dem kranken Familienmitglied ergeben. Angestrebt wird dabei auch ein adäquater Umgang mit ggf. überdauernden (therapierefraktären) Krankheitssymptomen. Die Inhalte psychoedukativer Interventionen sind eine auf den individuellen Erfahrungen aufbauende strukturierte Vermittlung von Wissensinhalten über die zugrunde liegende (psychische) Erkrankung, ein systematisches, meist lerntheoretisch begründetes psychotherapeutisches Vorgehen zur Verhaltensmodifikation.
Praktisches Vorgehen Unabhängig von der Art der zugrundeliegenden psychischen Störung folgen psychoedukative Behandlungsmaßnahmen gewissen einheitlichen Regeln (s. Übersicht).
Allgemeiner Aufbau psychoedukativer Interventionen Informationsphase Gegenseitiges Vorstellen von Therapeuten und Teilnehmern Austausch über das Erleben der psychischen Erkrankung Vermittlung der zentralen Wissensinhalte zur Symptomatologie Austausch über subjektive Theorien zu Entstehung, Verlauf, Therapie Wissensvermittlung zu Krankheitsgenese, -verlauf, -behandlung Erarbeiten eines möglichst gemeinsamen Krankheitsmodells Therapeutische Phase Vermittlung von Fähigkeiten zur Symptombewältigung bzw. Verhaltensmodifikation Umsetzung in den Alltag und Generalisierung
Individuelle Erfahrungen. Am Anfang steht in jedem Fall
die umfassende Information über die jeweilige psychische Erkrankung. Der Ausgangspunkt dafür liegt bei den individuellen Erfahrungen der Teilnehmer mit ihrer Krankheit. Der Therapeut macht sich ein Bild von dem subjektiven Erleben, den (kognitiven und emotionalen) Erfahrungen, Einstellungen, Erwartungen, Vorbehalten usw.
hinsichtlich der psychischen Störung. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Erarbeitung des Krankheitskonzeptes. Wissensvermittlung. Unter Rückgriff auf diese individu-
ellen Konzepte erfolgt die ausführliche Wissensvermittlung. Sie sollte in klar verständlicher Sprache den aktuellen wissenschaftlich gesicherten Kenntnisstand wiedergeben. Dennoch sollte auch auf noch unklare Sachverhalte hingewiesen werden. Dies gerade vor dem Hintergrund, dass sich mittlerweile viele Patienten und Angehörige weitgehend ungefiltert Informationen aus dem Internet beschaffen. Zunächst wird auf die (vermutete) Entstehung der Erkrankung, auf deren mögliche Ursachen und Auslösebedingungen, auf die (selteneren und üblicherweise bekannten) Krankheitssymptome sowie auf den zu erwartenden Krankheitsverlauf und die allgemeinen Heilungs- bzw. Besserungsaussichten eingegangen. Breiten Raum werden die Angaben zu den Behandlungsmöglichkeiten einnehmen. Hier sind Vor- und Nachteile, kurz- und langfristige Wirkungen und Nebenwirkungen zu nennen. Das gilt für psycho- und pharmakotherapeutische Maßnahmen gleichermaßen. Grundlage jeglicher Ausführung sind auch hier die Vorerfahrungen der Adressaten. Verhaltensmodifizierende Intervention. An den Informa-
tionsteil schließt sich der verhaltensmodifizierende Teil der Intervention an. Eine strenge Trennung zwischen beiden ist nicht möglich und nicht sinnvoll, da dem ggf. immer wieder auftauchenden Informationswunsch der Teilnehmer stets Rechnung zu tragen ist. Verhaltensmodifikation kann bedeuten, mit Hilfe operanter Techniken Verhalten auf- oder abzubauen. Das kann im Rollenspiel handlungsorientiert oder in Form von kognitiver Psychotherapie erfolgen. Dabei bietet sich bei zahlreichen Störungen die Verbesserung von Problemlösefähigkeiten mittels eines Problemlösetrainings an.
Setting Psychoedukative Maßnahmen können in die Einzelbehandlung integriert werden. Sie eignen sich in besonderer Weise aber für die Anwendung in Gruppen. Je nach Zielgruppe (Angehörige oder Patienten) und bei Patientengruppen in Abhängigkeit von der Schwere der psychischen Erkrankung sollte die Gruppengröße zwischen 5 und 7 (z. B. bei schizophrenen Patienten) bzw. 12–14 Teilnehmern (z. B. bei Angehörigen) liegen. Zeitlicher Rahmen. Angehörigengruppen sollten in Ab-
ständen von 2–3 Wochen stattfinden, Patientengruppen im wöchentlichen oder 2-wöchentlichen Abstand. Die Dauer der einzelnen Sitzung hängt sehr von der Aufnahmekapazität der Teilnehmer ab. In der Regel sollte sie
38
926
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
45 min betragen. Sie kann sich jedoch auch über 60 oder 90 min (mit oder ohne Pause) erstrecken. Die Gesamtzahl der psychoedukativen Sitzungen variiert mit dem gewählten Setting. Psychoedukation kann als eine Form einer psychotherapeutischen Kurzintervention betrachtet werden. In der Regel wird es sich deshalb um 20–30 Sitzungen handeln. Mittlerweile gibt es aber auch eine Vielzahl von Manualen, die mit 8–12 Sitzungen arbeiten, was die Schwelle gerade bei Angehörigen deutlich erniedrigt.
Gruppenkonstellation Für die psychoedukative Behandlung in Gruppen sollte, unter dem Gesichtspunkt der diagnostischen Zuordnung, eine möglichst weitgehende Homogenität angestrebt werden. Das erleichtert den Austausch der Gruppenteilnehmer untereinander. Andererseits können unter Modifikation des Vorgehens auch diagnostisch heterogene Gruppen mit Erfolg psychoedukativ behandelt werden (Hornung et al. 1996 b). In bezug auf Alter, Geschlecht und bisherigen Krankheitsverlauf (Dauer, Schwere) können die Gruppen durchaus heterogen sein.
Stationär oder ambulant. Psychoedukative Behandlung
kann im stationären Rahmen stattfinden oder wenigstens während eines Aufenthalts im Krankenhaus beginnen. Als Domäne der Psychoedukation ist die ambulante Behandlung anzusehen. Die verhaltensmodifizierenden Interventionen können besonders gut im ambulanten Kontext geübt und im täglichen Leben der Teilnehmer umgesetzt werden.
Zielgruppen Gemäß dem Hauptschwerpunkt psychoedukativen Handelns sollten in erster Linie Patienten mit chronisch verlaufenden psychischen Erkrankungen bzw. deren Angehörige einbezogen werden (s. Übersicht). Gerade für chronisch Kranke ist es wichtig, dass sie ausführliche Informationen über die vorliegende Krankheit, deren Verlauf und die Möglichkeiten ihrer Behandlung erhalten. Sie müssen lernen, ggf. ein ganzes Leben lang mit der Erkrankung adäquat umzugehen. Dazu muss in vielen Fällen auch eine langjährige Medikamentenakzeptanz vorausgesetzt oder erarbeitet werden. Psychoedukative Maßnahmen eignen sich deshalb besonders für Betroffene, bei denen langfristig die regelmäßige Einnahme von Medikamenten zum Behandlungsplan gehört. Bei ihnen ist eine Aufklärung über die Wirkweise der Psychopharmaka und über die Notwendigkeit der kontinuierlichen Pharmakotherapie von zentraler Bedeutung. Die Akzeptanz gegenüber der psychotropen Medikation kann dadurch gefördert werden.
Einschlusskriterien für psychoedukative Interventionen Teilnehmerbezogene Kriterien:
38
Patienten und/oder deren Angehörige Fähigkeit zur intellektuellen Aufnahme und Verarbeitung des Informationsangebots unter diagnostischen Gesichtspunkten möglichst Homogenität Krankheitsbezogene Kriterien: chronisch verlaufende psychische Erkrankung langfristig angelegte Behandlung häufig: langdauernde Psychopharmakotherapie
Therapievoraussetzung Für den Erfolg einer psychoedukativen Intervention muss sichergestellt sein, dass die Teilnehmer den Inhalten folgen und sie in die Praxis umsetzen können. Nicht geeignet sind psychoedukative Interventionen deshalb für Patienten oder Angehörige mit stark unterdurchschnittlichen Intelligenzleistungen. Ebenfalls ausgeschlossen werden müssen Personen mit massiven kognitiven Beeinträchtigungen, beispielsweise aufgrund psychoorganisch bedingter Funktionsstörungen.
38.1.2
Anwendungsmöglichkeiten von Psychoedukation
Die in jüngerer Zeit konzeptualisierten verhaltenstherapeutischen Interventionen, welche schwerpunktmäßig psychoedukative Elemente enthalten, tun dies in der Regel in systematisierter und oft auch manualisierter Form. Durch diese Transparenz stellen sie sich der wissenschaftlichen Evaluation und dem Vergleich mit anderen Verfahren. Wie oben ausgeführt, müssen unter methodologischen Gesichtspunkten bei einer Auflistung psychoedukativer Methoden diejenigen verhaltenstherapeutischen Verfahren außer acht gelassen werden, die neben anderen Interventionsformen auch psychoedukative Elemente enthalten. Das sind beispielsweise die interpersonelle Psychotherapie (Schramm 1998), kognitiv-behavioral orientierte Psychotherapiemethoden wie die kognitive Therapie bei Depressionen (Hautzinger 2003) oder verhaltenstherapeutische Ansätze bei Angststörungen (Margraf u. Schneider 2006) und Zwangskrankheiten (Reinecker 1994). Da psychoedukative Prinzipien sehr häufig in die therapeutische Arbeit mit den Angehörigen psychisch Kranker intergriert sind, werden diese Behandlungsmodelle weiter unten vorgestellt. Zwischenzeitlich gibt es für eine Reihe psychischer Erkrankungen psychoedukative Interventionen. Einen Überblick geben Behrendt und Schaub (2005) in ihrem »Handbuch Psychoedukation & Selbstmanagement«. Am besten untersucht sind psychoedukative Interventionen in der Behandlung von schizophrenen Pati-
927 38.1 · Psychoedukation
enten, für die es im deutschen Sprachraum mittlerweile an die 20 verschiedenen Psychoedukationsprogramme gibt.
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen Die Psychoedukation bei schizophrenen Patienten arbeitet vornehmlich mit Informationen über die Erkrankung, die in der Rezidivprophylaxe und bei der Förderung der Compliance eine Rolle spielen und zielt damit auf eine Verbesserung des Krankheitsverlaufes. Sie ist umfassend konzipiert und beinhaltet auch die Erarbeitung von Krisenplänen. Wie auch in der Arbeit mit den Angehörigen zielt sie auch auf die Stigmatisierung und versucht diese zu bearbeiten. Folgende Teilziele lassen sich formulieren (nach Bäuml u. Pitschel-Walz 2003): Verbesserung des Informationsstandes über die Erkrankung (Ursachen, Verlauf, Therapiemöglichkeiten), Aufbau eines funktionalen Krankheitskonzeptes, Emotionale Entlastung des Patienten, Förderung der langfristigen Behandlungsbereitschaft bei den Patienten, Verbesserung der Fähigkeiten zur Bewältigung von Krisen, Gewinnen von Sicherheit im Umgang mit der Erkrankung, Erhöhung der Selbstwirksamkeit. Beispielhaft sei das Manual von Bäuml, Pitschel-Walz und Mitarbeitern genannt (2005). Einen Schwerpunkt in psychoedukativen Interventionen setzen aber auch viele kognitiv-verhaltenstherapeutische Manuale, z. B. mit dem Ziel der Rezidivprophylaxe (Klingberg et al. 2003). Der optimale Zeitpunkt für eine psychoedukative Intervention ist noch umstritten, wobei es Hinweise gibt, dass die höchste Effizienz einer solchen Maßnahme bei Patienten mit mittlerer Erkrankungsdauer erreichbar ist (Feldman et al. 2002). Dabei handelt es sich um Patienten, die ihre Erkrankung akzeptiert haben, aber noch keine fatalistische Einschätzung bezüglich Entstehung und Verlauf entwickelt haben.
kala u. Merinder 2002). Auch die Behandlungsleitlinie Schizophrenie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde DGPPN sieht den Empfehlungsgrad B für den Einsatz psychoedukativer Interventionen in Kombination mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Elementen zur Rückfallverhütung. Empfohlen wird die Behandlung nach einem Manual (DGPPN 2006, S. 115).
Affektive Störungen Hoch strukturierte psychoedukative Behandlungsformen wurden auch in der Therapie unipolar depressiver Patienten evaluiert. Ihr Hauptzielbereich ist die »Bewältigung der Depression«. Mittlerweile gibt es neben allgemeinen kognitiv-verhaltenstherapeutischen auch spezifische Manuale zur Psychoedukation bei depressiven Störungen (z. B. Pitschel-Walz et al. 2003).
EbM-Box Nach einer Metaanalyse von Cuijpers (1996) reduziert sich die depressive Symptomatik bei Patienten mit psychoedukativer Intervention deutlicher als bei Patienten aus den Kontrollbedingungen (Level C). Im (indirekten) Vergleich mit herkömmlichen Psychotherapieverfahren scheint die Psychoedukation genausogut abzuschneiden. Direkte Vergleiche zwischen psychoedukativer Therapie und beispielsweise kognitiver Psychotherapie bei unipolar Depressiven weisen in dieselbe Richtung (Dowrick et al. 2000).
Bipolare Störungen Ein wichtiges Prinzip ist bei diesen Störungsbildern die Durchführung der Psychoedukation in Euthymie (Colom u. Lam 2005). Einen Überblick über psychoedukative Programme bei bipolaren Störungen geben Wagner und Mitarbeiter (Wagner et al. 2006). Diese sind auch in manualisierter Form erhältlich (z. B. Wagner u. Bräuning 2004).
EbM-Box
EbM-Box
Eine Cochrane-Review, die 10 Studien einschloss, zeigte signifikant niedrigere Rückfall- bzw. Wiederaufnahmeraten für die PE-Gruppen im Vergleich zu den Patienten, die eine Standard-Versorgung erhielten (Level B). Weitere sekundäre Outcome-Parameter waren schwer interpretierbar, es zeigte sich jedoch ein Trend zur Verbesserung der Lebensqualität (Pek-
Es gibt eine Reihe von randomisiert-kontrollierten Studien, die die Wirksamkeit psychoedukativer Interventionen bei bipolaren Störungen zeigen konnten. Dies gilt für die Zielkriterien Rückfall, Zeit bis zum Rückfall und Zahl der Hospitalisierungen (Level B). Eine Übersicht von Colom und Lam (2005) führt alle wesentlichen Interventionsstudien auf.
38
928
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
Angst- und Panikstörungen Die Psychotherapie dieser Diagnosegruppe ist klassischerweise eine Domäne des kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansatzes. Psychoedukative Elemente waren daher schon immer Bestandteil der Therapie, mittlerweile gibt es aber auch Manuale, die diese in den Vordergrund rücken (Alsleben et al. 2004).
EbM-Box Eine randomisiert-kontrollierte Studie konnte zeigen, dass eine Telefon-gestützte psychoedukative Intervention für Panikstörungen und generalisierte Angststörung im Vergleich zur Grundversorgung durch den Hausarzt zu einer Reduktion der Angstsymptomatik, zur Verbesserung der Lebensqualität, sowie des Beschäftigungsgrades führt (Rollman et al. 2005; Level C).
Tumorpatienten sei auf das Manual von Weis und Mitarbeitern verwiesen (2006).
EbM-Box Für die Behandlung der Fibromyalgie wird eine multimodale Therapie unter Einschluss von edukativen und CBT-Elementen empfohlen (Adams u. Sim 2005; Level C). Gruppenpsychoedukation beim malignen Melanom führt zu Verminderung von psychischem Stress und zu verbesserter Krankheitsverarbeitung. Jedoch waren die Effekte nur kurzfristig nachweisbar (Boesen et al. 2005; Level C).
38.2
Angehörigenarbeit
38.2.1
Begriffsbestimmung und Typologie
Posttraumatische Belastungsstörung Obwohl psychoedukative Elemente auch in der Behandlung der PTSD in den meisten Schemata eingearbeitet sind, spielen sie keine führende Rolle.
EbM-Box Die meisten vorliegenden Studien zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen bei der PTSD unterscheiden nicht scharf zwischen den verschiedenen Bestandteilen eines Therapieschemas. Daher ist auch zur Wirksamkeit der einzelnen Bestandteile in diesen Studien keine Aussage zu machen. Es gibt aber 2 Studien, eine randomisiert, die keine Wirksamkeit eines psychoedukativen Selbsthilfeprogrammes nach akuter Traumatisierung bei Verletzten zeigte (Turpin et al. 2005) und eine randomisiert-kontrollierte Studie, die bei traumatisierten Flüchtlingen ebenfalls nur eine geringe Wirksamkeit der psychoedukativen Intervention zeigte (Neuner et al. 2004). Eine Empfehlung für Psychoedukation als alleinige Therapie kann daher bei PTSD nicht gegeben werden (Level B).
38
Anwendungsbeispiele in den somatischen Fächern Für verschiedenste somatische Erkrankungen gibt es mittlerweile Edukationsprogramme, die einer reinen Wissensvermittlung dienen, aber auch eine Reihe von psychoedukativen Interventionen. Als Beispiele seien hier die koronare Herzerkrankung (Linden 2000), Diabetes mellitus (Olmsted et al. 2002) und Asthma bronchiale (Durna u. Ozcan 2003) genannt. Zur Behandlung von
Der Terminus Angehörigenarbeit deutet bereits darauf hin, dass diese Interventionsform nicht identisch ist mit Familientherapie im engeren Sinne. Im Rahmen von Angehörigenarbeit geht es inhaltlich nicht ausschließlich um eine Behandlung der Familie oder von bestimmten familiären Strukturen und Interaktionen. Vielmehr spielen dabei auch Information, Beratung, Unterstützung der Angehörigen und konkrete Hilfestellungen eine Rolle. Inhalte und Zielsetzungen von Angehörigenarbeit können sehr differieren und, je nach Einteilungsprinzip, zu unterschiedlichen Typisierungen führen. In der wissenschaftlichen Begleitforschung wird neben der Wirksamkeit therapeutischer Angehörigenarbeit (s. unten) auch zunehmend die subjektive Belastung der Angehörigen untersucht. Dazu gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Veröffentlichungen (u. a. Möller-Leimkühler 2005; Wittmund et al. 2005). Die Belastung der Angehörigen scheint dabei weitgehend unabhängig von der Diagnose des erkrankten Angehörigen zu sein (Ostman et al. 2005). Als weiterer Schritt wurden Instrumente entwickelt, mit denen der Bedarf der Angehörigen und die Art der Unterstützung erfasst werden kann (u. a. Unger et al. 2005).
Experten- oder Angehörigendominanz Nach formalen Kriterien lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Gruppeninitiierung die Angehörigenarbeit nach Katschnig u. Konieczna (1984) zunächst in 2 Kategorien unterteilen (⊡ Abb. 38.1): Kategorie 1: Angehörigenarbeit mit hoher Expertenund geringer Angehörigendominanz, Kategorie 2: Angehörigenarbeit mit geringer Experten- und hoher Angehörigendominanz.
929 38.2 · Angehörigenarbeit
⊡ Abb. 38.1. Typen von Angehörigenarbeit. (Mod. nach Katschnig u. Konieczna 1984)
Kategorie 1. In die Kategorie 1 gehört vor allem die Fami-
lientherapie. Allen familientherapeutischen Ansätzen ist dabei gemeinsam, dass sie eine Modifikation der intrafamiliären Interaktionen anstreben, um zu einer Reduktion der Beschwerden, d. h. der Krankheitssymptome, des Patienten zu kommen (Gurman et al. 1986). Dabei richten sich die therapeutischen Interventionen an die Gesamtfamilie unter Einbezug des Patienten. Die Experten stellen die Indikation zur Familientherapie, initiieren diese und steuern das Gruppengeschehen durch ihre Interventionen im Sinne des gewünschten therapeutischen Prozesses. In Abhängigkeit von der Therapiemethode unterscheidet man psychoanalytische, strukturelle, d. h. kognitiv-behaviorale und strategische Familientherapie. Letztere wendet systemtheoretische Grundsätze an. Eine Frühintervention in der Familie des Erkrankten ist z. B. auch essenzieller Bestandteil des »Need-adapted Treatments«, eines integrativen Ansatzes zur bedürfnisangepassten Behandlung bei schizophrenen Psychosen, der in Finnland entwickelt wurde (Lehtinen 1994). Die entweder angehörigen- oder patientenzentrierten therapeutischen Angehörigengruppen nehmen in bezug auf Experten- bzw. Angehörigendominanz eine Mittelstellung ein. Auf sie wird weiter unten eingegangen. Kategorie 2. In die Kategorie 2 fällt die Selbsthilfe, die na-
hezu vollständig eine Domäne der Betroffenen selbst, in diesem Fall der Angehörigen, ist. Selbsthilfeaktivitäten werden von den Angehörigen selbst ins Leben gerufen und unterhalten. Im Vordergrund steht dann die Angehörigendominanz. Experten werden zur Klärung bestimmter Fragen oder zur Vermittlung konkreter Hilfen zu einzelnen Treffen eingeladen. Die Selbsthilfegruppe stellt auch ein Forum des Austauschs unter Betroffenen, der gegenseitigen Unterstützung, aber auch der gesellschaftspolitischen Aktivitäten dar. Die daraus entstandenen »Angehörigenvereine« verstehen sich zunehmend als
Vertreter ihrer eigenen Interessen, aber auch der ihrer psychisch kranken Familienmitglieder. Zu Recht fordern sie mehr Anerkennung und Berücksichtigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse im Rahmen gesundheitspolitischer Planungen. Ergänzend hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten die »trialogische Kommunikation« entwickelt, d. h. die Einbindung der Angehörigen und der Betroffenen mit dem Ziel der Entwicklung gemeinsamer Krankheits- und Behandlungskonzepte (Wolfersdorf 2004). Ein konkretes Beispiel sind Psychose-Seminare, die mittlerweile annähernd flächendeckend in der Bundesrepublik existieren und die den gleichberechtigten Informationsaustausch zwischen Therapeuten, Betroffenen und Angehörigen ermöglichen.
38.2.2
Subtyp der Angehörigenarbeit: therapeutische Angehörigengruppen
Formen therapeutischer Angehörigengruppen Therapeutische Angehörigengruppen sind, der oben aufgeführten Typologie folgend, entweder patientenzentriert oder mehr angehörigenzentriert. Bei den betroffenen Angehörigen handelt es sich in der Regel um einen oder beide Elternteile, meistens die Mütter der Patienten, oder um (Ehe-)Partner. Sodann kommen auch Geschwister oder (bei alterspsychiatrischen Patienten die erwachsenen) Kinder in Frage. Angehörigenzentrierte Angehörigengruppen. Sie stehen
den Selbsthilfeorganisationen sehr nahe. Mit Expertenhilfe werden primär Probleme der Angehörigen bearbeitet. Das psychisch erkrankte Familienmitglied spielt nur sekundär eine Rolle. Die Angehörigen sind von sich aus problembewusster und veränderungsbereiter als bei den
38
930
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
patientenzentrierten Gruppen. Es bestehen Parallelen zu Selbsterfahrungsgruppen. Patientenzentrierte Angehörigengruppen. Bei ihnen erfolgt die Kontaktaufnahme mit den Angehörigen über den Patienten. Entsprechend stehen auch dessen Erkrankung und Behandlung und der Umgang mit ihm zunächst im Mittelpunkt. Diese Gruppen sind in der Regel von Experten geleitet, welche im Sinne eines psychoedukativen Vorgehens die Angehörigen umfassend aufklären und ihnen ggf. konkrete Hilfsangebote machen. Deshalb kann auch von therapeutischer Gruppenarbeit mit den Angehörigen bzw. der Familie oder von therapeutischen Angehörigengruppen gesprochen werden (Buchkremer et al. 1989).
Ziele therapeutischer Angehörigengruppen Therapeutische Angehörigengruppen dienen der Entlastung und Unterstützung der Angehörigen. Durch umfassende Informationen sollen die Angehörigen dysfunktionale Denkstile korrigieren lernen. Direkte Hilfestellungen sollen dazu beitragen, die Interaktion innerhalb der Familie zu optimieren. Sodann wird angestrebt, die Angehörigen als Verbündete bei der Behandlung der psychischen Störung zu gewinnen und aktiv in die Therapie miteinzubeziehen. In Anlehnung an Buchkremer et al. (1989) lassen sich Sensibilisierung, Desensibilisierung und Einbezug in die Therapie als Behandlungsziele formulieren (s. Übersicht).
Ziele therapeutischer Angehörigengruppen. (Nach Buchkremer et al. 1989) Sensibilisierung der Angehörigen durch Vermittlung von Verständnis für den Patienten und dessen (krankheitsbedingte) Situation Verbesserung der Fähigkeit, zwischen krankem und nichtkrankhaftem Verhalten des Patienten zu differenzieren Erfassen und Bearbeiten eigener Defizite im Umgang mit dem Patienten und dessen Krankheit Erlernen adäquater Interaktionsmuster
Inhalte therapeutischer Angehörigengruppen
38
Die wesentlichen Inhalte therapeutischer Angehörigengruppen lassen sich aus dem psychoedukativen Paradigma ableiten. Demnach gehören umfassende Informationen über die psychische Erkrankung ebenso dazu wie gezielte lerntheoretisch fundierte Instruktionen und Hilfsangebote. Je nach Zielbereich steht mehr die Informationsvermittlung oder mehr der verhaltenstherapeutische Zugang im Vordergrund der Intervention. Für das konkrete Vorgehen hat sich bewährt, nach einer ersten Kontaktphase eine ausführliche edukative Informationsphase zu etablieren. Dadurch lassen sich Ängste, Selbstvorwürfe und dysfunktionale Einstellungen in bezug auf die psychische Erkrankung und den Umgang mit ihr reduzieren. Daran anschließend kann mit der Präzisierung konkreter Schwierigkeiten, die sich für die Familie aufgrund der Krankheit ergeben haben, begonnen werden. Unter Verzicht auf die Betonung eines Defizitmodells ist dabei besonders auf vorhandene Problembewältigungsfertigkeiten der Angehörigen zu achten. Die professionellen Helfer haben nicht selten anzuerkennen, dass die Angehörigen bereits selbst Experten für die Erkrankung sind.
Desensibilisierung der Angehörigen durch Reduktion von Hilflosigkeit, Schuld- und Schamgefühlen, übertriebenem Veranwortungsgefühl Ermöglichen einer größeren emotionalen Distanz zum Patienten Erwerb von mehr Selbstsicherheit im Umgang mit dem Patienten und dessen Erkrankung Einbezug der Angehörigen in die Therapie durch umfassende Aufklärung über die psychische Erkrankung und ihre Behandlung, Schulung zum Umgang mit der Erkrankung, Vermittlung von Krisenbewältigungsfertigkeiten.
38.2.3
Anwendungsmöglichkeiten von Angehörigenarbeit
Angehörigenarbeit wird in weiten Bereichen psychiatrischer Therapie eingesetzt. Je nach Störungsbild finden sich unterschiedliche Typen von Angehörigenarbeit (Wiedemann u. Buchkremer 1996).
Organische Störungen Bereits seit mehr als 20 Jahren gibt es therapeutische Gruppen für Angehörige von Demenzkranken (Bruder 1983). Dabei stehen die Angehörigen selbst oft im Mittelpunkt. Häufig sind sie durch die Pflege des Demenzpatienten erheblich reaktiv psychisch belastet (Rainer 2002) und leiden unter psychosomatischen Beschwerden. Obwohl sie durch die oft langjährige Betreuungsarbeit bereits viel Erfahrung im Umgang mit Demenzkranken gesammelt haben, bestehen Bedürfnisse nach Information, gegenseitigem Austausch und emotionaler Unterstützung.
931 38.2 · Angehörigenarbeit
EbM-Box Unkontrollierte und kontrollierte Untersuchungen zeigen, dass informationszentrierte Angehörigengruppen, insbesondere aber die systematischen kognitiv-behavioral ausgerichteten Therapieangebote für pflegende Angehörige zu deutlicher Entlastung, zum Rückgang depressiver Symptomatik und zu verbesserten Bewältigungsstrategien beitragen (Kahan et al. 1985; Mittelmann et al. 1993). Nach einer Metaanalyse von Sorensen et al. (2002) sind psychoedukative und psychotherapeutische Interventionen am wirksamsten (Level B).
Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen Typischerweise werden bei der integrativen Behandlung stoffgebundener Abhängigkeiten Paartherapie und therapeutische Angehörigengruppen in Kombination mit psycho- und soziotherapeutischer Einzelbehandlung durchgeführt. Sodann existieren die bekannten Selbsthilfegruppen, beispielsweise von Angehörigen Alkoholabhängiger (AlAnon; vgl. hierzu: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren 1993). In den letzten Jahren hat sich die Arbeit mit Patienten mit Doppeldiagnose, z. B. Alkohol und Psychose, intensiviert, wobei keine kontrolliertrandomisierten Studien zur Wirksamkeit einer therapeutischen Angehörigenarbeit vorliegen. In Übersichten wird diese aber wie auch die Psychoedukation regelhaft genannt (z. B. Gouzoulis-Mayfrank 2004).
EbM-Box Am besten untersucht ist die Effizienz von Angehörigenarbeit auf die Rückfallrate bei Alkoholkranken. Die vorliegenden Befunde sprechen in der Mehrzahl dafür, dass die Kombination von invididueller Alkoholismustherapie mit beispielsweise verhaltenstherapeutisch angelegter Paartherapie (O’Farrell et al. 1985; McCrady et al. 1986) oder interaktionell orientierter Paartherapie (O’Farrell et al. 1985) die Zahl abstinenter Tage auch langfristig erhöhen kann. Die verhaltenstherapeutische Paartherapie vermochte auch noch 6 Monate nach Therapieende die Zufriedenheit innerhalb der Ehe zu verbessern. Allerdings wird auch von weniger ermutigenden Ergebnissen berichtet (Fichter u. Frick 1992).
hend von den Therapiestudien von Goldstein et al. (1978) wurden vor dem Hintergrund des Vulnerabilitäts-StressBewältigungsmodell schizophrener Psychosen (Nuechterlein u. Dawson 1984) eine Vielzahl psychoedukativer Interventionen für Angehörige entwickelt. Neben den »klassischen« Formen psychoedukativer Familientherapie mit Behandlung der Familie unter (nicht immer ständigem) Einbezug des Patienten (Falloon et al. 1982) sind dies multiple Familientherapiegruppen, z. T. mit Patiententeilnahme (McFarlane et al. 1995), und die therapeutische Gruppenarbeit mit Angehörigen ohne Einbezug der Patienten (Buchkremer et al. 1995 a, b; Cassidy et al. 2001). Sodann existiert die sog. bifokale therapeutische Gruppenarbeit. Bei dieser besteht das Therapieangebot aus Angehörigengruppen und parallel dazu stattfindenden psychoedukativen Patientengruppen (Lewandowski u. Buchkremer 1988; Kissling 1995). Eine neue Entwicklung ist der Einsatz von Angehörigen als Gruppenleiter in psychoedukativen Gruppen. Die Durchführbarkeit, Praktikabilität und Wirksamkeit eines vorbereitenden Trainigsprogrammes konnte bereits in einer Studie gezeigt werden (Rummel et al. 2005). Angehörigenarbeit in der Schizophreniebehandlung hat neben der rückfallverhindernden Wirkung günstige Effekte auf das Ausmaß an Expressed Emotions (EE) innerhalb der Familie, beeinflusst das Familienklima positiv und führt zu einer Verringerung von Stress und Belastung der Angehörigen (Bruns u. Hornung 1998). Zudem wirkt sie sich günstig auf einzelne Patientenvariablen aus (⊡ Tab. 38.1).
⊡ Tab. 38.1. Effekte der verschiedenen Typen von Angehörigenarbeit auf Angehörigen- und Patientenvariablen Angehörigenmerkmale Reduktion von
Zunahme von
Psychosomatischen Beschwerden (Mütter),
Wissen über Schizophrenien, Zuversicht
subjektiver Belastung, persönlichem Stress, Kritik (EE), emotionalem Überengagement (EE) Patientenmerkmale Reduktion von
Zunahme von
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
Rezidivzahl,
Arztvertrauen,
Rehospitalisierungsrate,
Medikamentenvertrauen,
Die Angehörigenarbeit nimmt im Rahmen der Schizophreniebehandlung einen breiten Raum ein, besonders innerhalb der ambulanten Rezidivprophylaxe. Ausge-
psychopathologischer Gestörtheit
Compliance, allgemeinem und sozialem Funktionsniveau
38
932
Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
EbM-Box Im Einzelnen unterscheiden sich die psychoedukativen Programme für Familien deutlich. Sie sind in bezug auf ihre Effizienz überwiegend sehr gut evaluiert (Übersicht bei Pitschel-Waltz et al. 2001). Im Kontrollgruppenvergleich reduziert die Angehörigenarbeit die Rückfallraten, verbessert die Erholung der Patienten und die familiäre Interaktion (McFarlane et al. 2003; Level B). Das gilt auch für die im deutschen Sprachraum evaluierten bifokalen psychoedukativen Interventionen (Buchkremer u. Hornung 1995 a). Nach eigenen Befunden an 191 chronisch schizophrenen Patienten bleibt der rezidivprophylaktische Effekt sogar langfristig erhalten. Noch 5 Jahre nach Beendigung der Intervention lag die Rehospitalisie-
Affektive Störungen Depressive Syndrome einerseits und Spannungen in der Familie oder Partnerschaft andererseits können auf unterschiedliche Weise miteinander interferieren. Angehörigenarbeit kann deshalb bedeuten, die in pathologischen Interaktionen liegenden Ursachen depressiver Störungen zu behandeln (z. B. O’Leary u. Beach 1990) oder die durch die Depression belastete Beziehung zu verbessern (Coyne et al. 1987). Am häufigsten wird dabei der (männliche)
rungsrate der Patienten mit bifokaler Gruppenarbeit signifikant unter derjenigen der Kontrollgruppe (Hornung et al. 1996 a). Im Gegensatz dazu steht eine Cochrane-Review, die familiäre Interventionen bei schizophrenen Psychosen in ihrer Wirksamkeit gerade was Langzeiteffekte angeht sehr zurückhaltend beurteilt (Pharoah et al. 2003). Die therapeutische Wirkung scheint einerseits von den Inhalten abzuhängen, da Informationsvermittlung alleine nicht zur Rückfallverhütung beiträgt. Andererseits ergibt sich aus den vorliegenden Befunden kontrollierter Studien, dass sich nur bei Einbezug der Patienten zumindest in Teile der Intervention ein wesentlicher rezidivprophylaktischer Effekt ergibt (Barbato u. D’Avanzo 2000).
Partner der (überwiegend weiblichen) erkrankten Indexperson mitbehandelt. Seltener werden Eltern oder Kinder miteinbezogen. Methodisch gesehen werden in der Mehrzahl der Studien verhaltenstherapeutische oder psychoedukative Techniken bzw. eine besondere Form der interpersonellen Psychotherapie für die Behandlung von Paaren angewandt.
EbM-Box Die vorliegenden Befunde weisen zusammenfassend daraufhin, dass die verhaltenstherapeutisch orientierten Paartherapien die depressive Symptomatik der Patienten effektiv reduzieren können, wenn Konflikte in der Beziehung vorhanden sind. Es scheint sogar ein überdauernder, das Rückfallrisiko reduzierender Therapieeffekt vorzuliegen. Sie führen zusätzlich zu einer Verbesserung innerhalb der Paarbeziehung (Level D). Eine randomisierte kontrollierte Studie legt nahe, dass die Ergänzung der Standardtherapie durch familientherapeutische Interventionen nach Entlassung aus der Klinik die Symptomatik verbessert und Suizidalität verringert (Miller et al. 2005; Level C).
In Bezug auf die Behandlung bipolar affektiv Erkrankter zeichnen sich günstige Effekte psychoedukativer Angehörigenarbeit ab. Eine randomisierte kontrollierte Studie konnte zeigen, dass die Kombination von Psychoedukation, Kommunikationstraining, Problemlösetraining, und Pharmakotherapie im Vergleich zu einer Standardversorgung zu weniger Rückfällen und verbesserter Medikamentencompliance führt (Miklowitz et al. 2003; Level C). Eine andere Studie konnte zeigen, dass die subjektive Belastung der Angehörigen durch psychoedukative Intervention und Vermittlung von Coping-Strategien deutlich abnahm (Reinares et al. 2004; Level C).
38 PTSD, Angst-, Panik- und Zwangsstörungen Angst- und Panikstörungen, PTSD (Post traumatic stress disorder). Bislang ist noch nicht entschieden, inwieweit
bei der Entstehung und Behandlung von Angststörungen die Situation innerhalb der Paarbeziehung eine Rolle
spielt (Emmelkamp 1988; Peter et al. 1993). In den verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen werden dennoch vereinzelt die Ehepartner der Betroffenen aktiv in die Therapie miteinbezogen, überwiegend zur Unterstützung des Expositionstrainings.
933 38.2 · Angehörigenarbeit
EbM-Box Aus kontrollierten Untersuchungen finden sich Hinweise, dass die Hilfe des Ehepartners (als »Kotherapeut«) zu deutlicherer Symptomreduktion führt als die (Gruppen-)Behandlung des Patienten allein. Der Effekt lässt sich auch noch 2 Jahre nach Abschluss des 12-stündigen Verhaltenstrainings nachweisen (Cerny et al. 1987). Eine andere Studie kombiniert partnerunterstützte Expositionsbehandlung entweder mit einem Kommunikationstraining oder mit einem Entspannungstraining für Paare (Arnow et al. 1985). Die Ergebnisse sprechen für das zusätzliche Kommunikationstraining. Nach wie vor bleibt aber offen, bei welchen Patienten der Partner (oder die Partnerin) in die Therapie einbezogen werden sollte und wie man sich die Wirkweise dieser Intervention vorzustellen hat. Generelle Empfehlungen für therapeutische Angehörigenarbeit werden daher auch nicht in Übersichten zu diesem Thema ausgesprochen.
Zwangsstörungen. Durch das Auftreten von Zwangs-
störungen bei einem Patienten werden die Beziehungen innerhalb einer Partnerschaft oder Familie sehr häufig extrem belastet. Außerdem können langdauernde Eheprobleme die Erfolgsaussichten einer Verhaltenstherapie bei Zwangssyndromen reduzieren (Hand 1988). Die Einbeziehung der Angehörigen in die (bei Zwangssymptomen indizierte) Expositionsbehandlung liegt deshalb nahe. Familien- oder Paartherapie kann, ohne unmittelbare Behandlung des Symptomträgers, zu einer Reduktion der Zwangssymptomatik führen. Andererseits kann über die symptomorientierte Behandlung auch erst der Weg für eine Paartherapie frei werden (Hand 1993). Wie die Angehörigen in die Behandlung der Zwangssymptomatik miteingebunden werden können, zeigt die strategisch-systemische, multimodale Verhaltenstherapie von Hand u. Tichatzki (1979) auf. Ein aktuelles, in der Praxis evaluiertes Manual zur Gruppenpsychoedukation haben Terbrack und Hornung herausgegeben (2004).
EbM-Box Erste kontrollierte Studien unter Einbeziehung der Familien wiesen positive Effekte auf (Van Noppen et al. 1997). Die Datenbasis hat sich seitdem nur unwesentlich verbreitert, so dass die Empfehlung für therapeutische Angehörigenarbeit bei Zwangsstörungen Evidenzlevel C hat.
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren Anorexia nervosa. Die therapeutische Arbeit mit der Fa-
milie ist gerade bei jugendlichen Essgestörten unbedingt erforderlich. Konsequenterweise wurden integrative familientherapeutische Konzepte erarbeitet, die sich unterschiedlicher Methoden bedienen. Sie kombinieren verhaltenstherapeutische Ansätze mit systemischen, strukturellen und psychodynamischen Modellen (Russell et al. 1987).
EbM-Box Rusell et al. (1987) beschreiben die Ergebnisse einer kontrollierten Studie: Die einjährige Familientherapie war im Vergleich zu supportiver Einzeltherapie effektiver bei nicht chronifiziert essgestörten Patientinnen mit einem Krankheitsbeginn vor dem 19. Lebensjahr. Körpergewicht und Essverhalten besserten sich signifikant. Patientinnen mit späterem Krankheitsbeginn profitierten mehr von der supportiven Behandlung. Einzelne Studien zeigen eine verminderte Belastung der Angehörigen und eine Reduktion der »Expressed Emotions« durch psychoedukative Intervention (Uehara et al. 2001), bzw. die Gleichwertigkeit von Gruppenpsychoedukation für Angehörige und Familientherapie bei Anorexia nervosa (Geist et al. 2000). Insgesamt erscheint die Studienlage für therapeutische Angehörigenarbeit bei Essstörungen aber dünn, die Evidenz befindet sich auf dem Level C.
Sexualstörungen. Bei Sexualstörungen ist die Paartherapie seit Jahrzehnten etabliert (Masters u. Johnson 1973). Viele Autoren bevorzugen ein verhaltenstherapeutisch ausgerichtetes Vorgehen (Gerard 1983). Dabei nimmt der Ehepartner aktiv an den sexualtherapeutischen Sitzungen und den zu Hause stattfindenden Übungen teil. Diese Form der paarbezogenen Sexualtherapie ist effizient hinsichtlich einer Reduktion der Sexualstörungen (am häufigsten werden weibliche Orgasmusstörungen, unterschiedliche sexuelle Dysfunktionen, Erektionsstörungen und Ejaculatio praecox behandelt). Seltener führt sie auch zu Verbesserungen in der Paarbeziehung selbst. Allerdings liegen auch Befunde vor, nach denen eine verhaltenstherapeutische Paartherapie einer Individualtherapie unterlegen ist (Obler 1982). Insgesamt wird angesichts des heterogenen multikausalen Störungsbildes immer wieder auf die Notwendigkeit der Einbindung des Partners, aber auch aller beteiligten Fachdisziplinen hingewiesen, da monokausale, auch psychotherapeutische Ansätze einem multidisziplinären Ansatz meist unterlegen sind (Althof et al. 2005).
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Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
Im Hinblick auf einsichtsorientierte Sexualtherapien sei auf die Arbeiten von Arentewicz u. Schmidt (1993) verwiesen. Sie kombinieren verhaltenstherapeutische Sexualübungen mit Gesprächssitzungen, in denen unbewusste Konflikte der Sexualpartner aufgedeckt werden sollen. Auch hierbei werden sexuelle Dysfunktionen in rund 70% der Fälle sogar langfristig behoben oder gebessert. Nach Schmidt (1996) hat der Paartherapeut 4 Perspektiven des Symptomverständnisses zu beachten (s. Übersicht).
Die Perspektiven des Symptomverständnisses bei Sexualstörungen. (Nach Schmidt 1996) Paardynamisches Verständnis: Sexualstörung betrifft stets ein Paar Probleme werden auf Partner/-in delegiert Biografisch-kausales Verständnis: Sexualstörung ist Ergebnis einer Lerngeschichte Finales Verständnis: Sexualstörung liefert Symptomgewinn Feministisches Verständnis: Weibliche Sexualstörung als Machtausdruck gegenüber dem Mann
Andere psychische und psychosomatische Störungen Angehörigenarbeit des einen oder anderen Typus ist noch bei zahlreichen anderen psychischen Störungsbereichen anwendbar. Der Grad der Evidenz ist aber angesichts nur weniger randomisierter-kontrollierter Studien so gering, dass eine allgemeine Empfehlung nicht ausgesprochen werden kann. Von ganz zentraler Bedeutung ist dagegen die therapeutische Arbeit mit der Familie in der psychiatrischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Sie wird in der entsprechenden Spezialliteratur dargestellt.
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Kapitel 38 · Psychoedukation und Angehörigenarbeit
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39 39 Versorgungsstrukturen W. Rössler
39.1
Geschichte – 938
39.2
Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien – 939 Bedarfsgerechte Versorgung – 939 Gemeindenahe Versorgung – 941 Dezentralisierung und Sektorisierung – 942 Koordination und Zusammenarbeit – 942 Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker – 943
39.2.1 39.2.2 39.2.3 39.2.4 39.2.5
39.3 39.3.1 39.3.2 39.3.3
System der psychiatrischen Versorgung Stationäre Versorgung – 946 Ambulante Versorgung – 950 Komplementäre und rehabilitative Versorgung – 952
39.4 Spezielle Versorgungsprobleme – 954 39.4.1 Einstellung der Bevölkerung zu psychisch Kranken und deren Versorgung – 954 39.4.2 Arbeitslosigkeit – 954 39.4.3 Wohnsitzlosigkeit und psychische Störungen – 955 39.4.4 Krankenhausmortalität – 957 39.4.5 Kosten der Versorgung psychisch Kranker – 959 Literatur
– 959
– 945
> > Ausgelöst durch z. T. erhebliche Mißstände in den großen psychiatrischen Anstalten setzten Mitte der 1970er Jahre in Deutschland Reformbemühungen ein, die zu einer verbesserten Versorgung psychisch Kranker führen sollten. Im Laufe dieser Reformen zielten die Konzepte zunehmend weniger auf eine institutionsgerichtete, sondern mehr auf eine klientenorientierte und damit auf eine bedarfsgerechte und gemeindenahe Versorgung. Dabei umfasst das System der psychiatrischen Versorgung neben den professionellen Versorgungsstrukturen wie ambulante, stationäre und komplementäre Institutionen auch nichtprofessionelle Hilfesysteme. Die Versorgungmöglichkeiten und auch die Koordination der Hilfsmöglichkeiten sind immer noch nicht optimal. Bedacht werden muss auch, dass bei der Versorgung psychisch Kranker neben medizinischen und organisatorischen v. a. auch gesellschaftliche (z. B. Akzeptanz oder Vorurteile) und rechtliche Faktoren eine Rolle spielen. So werden beispielsweise psychisch Kranke aufgrund der bestehenden sozialrechtlichen Anspruchsgrundlagen im Vergleich zu körperlich Erkrankten in der Versorgung öfter benachteiligt. Ein besonderes Problem stellt die psychiatrische Versorgung bestimmter Patientengruppen, v. a. der Wohnsitzlosen dar, für die trotz eines erheblichen Problemdrucks kaum adäquate Versorgungsmöglichkeiten bestehen.
938
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
39.1
Geschichte
Entwicklung im 19. Jahrhundert Spezialisierte Einrichtungen für die Versorgung psychisch Kranker und Behinderter erlangten erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts größere Bedeutung (Deutscher Bundestag 1975), nachdem sich in der Folge der bürgerlichen und industriellen Revolution die Staaten Europas der sozialen Fürsorge für ihre Bürger verstärkt zugewandt hatten. So entstanden staatliche Alters- und Fremdenheime, Waisenhäuser, Kindergärten und erstmals auch von Zuchthäusern für Kriminelle getrennte »Irren- und Idiotenanstalten« (Wedel-Parlow 1981). Teils durch Neuerrichtung, teils durch Umwandlung ehemaliger Klöster, Abteien und Schlösser entwickelten sich in Deutschland zwischen 1800 und 1860 insgesamt 94 psychiatrische Anstalten (Deutscher Bundestag 1975).
Anstalten auf dem Lande: Ruhe und Stille Obwohl sich die Psychiatrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts neben Chirurgie und innerer Medizin als eigenständiges medizinisches Fach etabliert hatte, verstand sie sich unter dem Einfluss der Romantik zunächst weniger als medizinische Disziplin denn als »aufgeklärte oder spekulative, moraltherapeutische Humanitätspsychiatrie« (Schrenk 1973). Menschen mit »verwirrten Sinnen« und »entordneter Vernunft« sollten aus dem vermeintlich pathogenen Milieu ihrer Lebenswelt herausgenommen werden, um in dem idealen Milieu einer psychiatrischen Anstalt die »verlorene Ordnung ihres Lebens und ihres Geistes« wiederzufinden (Häfner 1979). Die Isolation in der Stille und Ruhe geografisch entfernt von den städtischen Ballungsräumen abgeschiedener Anstalten schien die angemessene Behandlungsmethode, um den Kranken von möglichst allen pathogenen Einflüssen freizuhalten. Der herausragende Exponent einer solchen Anstaltspsychiatrie in Deutschland war C. F. W. Roller, der Begründer und erste Direktor der badischen Musteranstalt Illenau, die in ländlicher Umgebung gleich weit von den Universitätsstädten Heidelberg und Freiburg entfernt, entstanden war (Roller 1831).
te er Reformpläne für die Versorgung psychisch Kranker, die auf die Integration der Psychiatrie in die medizinische Versorgung abzielten. Er forderte in Ergänzung zu den Heilanstalten, die aufgrund ihrer ländlichen Lage mit Erholungs- und Arbeitsmöglichkeiten für die langfristige – mit heutiger Terminologie – Rehabilitation psychisch Kranker geeignet seien, sog. »Stadtasyle« (Griesinger 1872) für die kurzfristige Behandlung akut Erkrankter im Verbund mit den allgemeinen Stadtkrankenhäusern. Obgleich Griesinger mit seinen gesundheitspolitischen Vorstellungen den Befürwortern der isoliert gelegenen Heil- und Pflegeanstalten unterlegen war, gab es um die Jahrhundertwende trotzdem knapp 40 Stadtasyle, mit der Einschränkung, dass sie vorwiegend der Weiterleitung psychisch Kranker in entfernte Heilanstalten dienten (Dannemann 1901).
Verschlechterung um die Jahrhundertwende Stationäre Versorgung Der Schwerpunkt der stationären Versorgung lag somit eindeutig bei den großen Heil- und Pflegeanstalten, die infolge des Mangels an wirksamen Behandlungsmethoden unter einer ständig wachsenden Überfüllung litten. So wurden z. B. 1880 in sämtlichen preußischen Irrenanstalten 27.000 Kranke gezählt, 1919 waren es 143.000. Diesem Zuwachs von rund 400 steht ein Bevölkerungszuwachs von nur 48 entgegen (Blasius 1980). Damit war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Entwicklung eingetreten, die allen humanitären Reformbestrebungen des 19. Jahrhunderts entgegenlief. Der wachsende Aufnahmedruck und die fehlenden Möglichkeiten, chronisch psychisch Kranke wieder zu entlassen, hatten letztlich alle therapeutischen Bemühungen zunichte gemacht. Aufgrund der geografischen Isolation, von Behörden und der Öffentlichkeit immer mehr im Stich gelassen (Schrenk 1973), war schließlich auch die investive und personelle Ausstattung der psychiatrischen Krankenhäuser so weit abgesunken, dass selbst eine adäquate Langzeitversorgung der Patienten nicht mehr möglich war.
Offene Irrenfürsorge Stadtasyle
39
Ein völlig entgegengesetztes Grundsatzprogramm der Versorgung psychisch Kranker entwickelte W. Griesinger. Obwohl er psychologische Ursachen der Geisteskrankheit anerkannte, warnte er sowohl vor deren Überschätzung als auch vor der Vernachlässigung physischer Ursachen (Ackerknecht 1985). Aus seinen ätiologischen Überlegungen, dass »in den psychischen Krankheiten jedes Mal Erkrankungen des Gehirns zu erkennen (sind)« (Griesinger 1861), leitete er folgerichtig ab, dass die Psychiatrie eine selbständige medizinische Disziplin frei von »poetischen und moralistischen Einflüssen« (Blasius 1980) werden müsse. Vor diesem Hintergrund entwickel-
Während der Niedergang der abgelegenen Großanstalten um die Jahrhundertwende bereits absehbar war, erlebte die offene Irrenfürsorge in den ersten 3 Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Blüte. Unabhängig von ähnlichen Bemühungen der nordamerikanischen Mental-HealthBewegung erlangten die in Deutschland praktizierten Formen der offenen Fürsorge weltweite Anerkennung (Schulz 1962). Die offene Fürsorge geriet dann aber in den 1930er Jahren in den Strudel der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Vereinnahmung der offenen Fürsorge als Instrument der nationalsozialistischen Rassenideologie ging dabei Hand in Hand mit dem Abbau therapeutischer
939 39.2 · Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
und fürsorgerischer Versorgungsaufgaben im Rahmen des 1934 verabschiedeten Gesetzes über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens und den dazu erlassenen Durchführungsbestimmungen. Die öffentliche Gesundheitsfürsorge und Gesundheitspflege und die damit verbundenen ärztlichen Aufgaben wurden in den neu geschaffenen Gesundheitsämtern zusammengefasst. Die ärztlichen Aufgaben der Fürsorgestellen an den Gesundheitsämtern beschränkten sich fast nur noch auf Maßnahmen zur Gefahrenabwendung und Sicherung der öffentlichen Ordnung. Die Fürsorgestellen hatten darüber hinaus eine unrühmliche Rolle bei der Erfassung und Registrierung von Geisteskranken, die in Mord und Zwangssterilisierung endete.
Nachkriegsentwicklung Während die offene Fürsorge Anfang der 1950er Jahre wieder einen bescheidenen Aufschwung erlebte, verschwanden die psychiatrischen Krankenhäuser für Jahrzehnte aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Erst in den 1960er und 1970er Jahren ging von den Missständen dieses Versorgungssektors der Anstoß aus, eine Enquête zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik zu erstellen. 1973 rügte die von der Bundesregierung für diese Aufgabe berufene Sachverständigenkommission in ihrem Zwischenbericht (Deutscher Bundestag 1973) die »groben, inhumanen Missstände« in den psychiatrischen Krankenhäusern. In dem 1975 erschienenen Schlussbericht war dann zu lesen, dass die Hauptlast der stationären Versorgung von aus dem vorigen Jahrhundert oder aus der Jahrhundertwende stammenden Fachkrankenhäusern getragen werde, die zu groß, in der Bausubstanz veraltet, in ihrer geografischen Lage ungünstig und zu 60% mit Langzeitpatienten belegt seien. Seither hat die öffentliche Hand auf der Grundlage der Enquête erhebliche Investitionen in der psychiatrischen Versorgung getätigt. Darüber hinaus wurden staatlich gestützte Modellprogramme und Forschungsvorhaben in Gang gesetzt, die den Entscheidungsträgern rationale Kriterien zur weiteren Verbesserung der Lage der psychisch Kranken und zur Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen liefern sollten.
Modellprojekte So wurden z. B. im Modellverbund »ambulante psychiatrische und psychotherapeutische/psychosomatische Versorgung« zwischen 1976 und 1994 insgesamt 60 Einzelprojekte gefördert, mit dem Ziel, innovative institutionelle Versorgungskonzepte zu erproben und ggf. in die Regelversorgung zu implementieren. Das Zusammenspiel und die regionale Vernetzung psychiatrischer und psychosozialer Hilfeeinrichtungen wurden zwischen 1981 und 1986 im Modellprogramm Psychiatrie der Bundesregierung in 14 Regionen mit etwa 140 Modelleinrichtungen erprobt (BMJFFG 1988). Ähnliche Ziele wurden im Lan-
desprogramm Psychiatrie Baden-Württemberg zwischen 1982 und 1987 in 9 Regionen mit 41 Modelleinrichtungen verfolgt (Rössler u. Häfner 1985; Rössler et al. 1987).
Bewertung der Veränderungen Gleichwohl ist eine Bewertung dieses mittlerweile 30 Jahre andauernden Reformprozesses schwierig. Voraussetzung hierfür wäre eine quantitativ wie qualitativ zureichende Dokumentation der aktuellen Versorgungssituation, die eine kritische Bestandesaufnahme der Versorgungsstrukturen und der Dynamik des Reformprozesses erlauben würde. Die gegenwärtig vorhandenen Informationen im Bereich der psychiatrischen Versorgung sind jedoch unzureichend und den Erfordernissen nicht angemessen. Die unzureichenden Kenntnisse quantitativer Parameter der Versorgung begleiteten den gesamten Reformprozess. Von der Enquêtekommission 1975 bis zur Expertenkommission 1988, die das Modellprogramm der Bundesregierung beraten und auf dieser Grundlage die Empfehlungen zur Versorgung aktualisieren sollte, führten die beteiligten Experten Klage über die bestehenden Informationsdefizite (Rössler u. Salize 1996 a). Die nachfolgenden Ausführungen stehen deshalb unter dem Vorbehalt einer häufig unzulänglichen Datenbasis.
39.2
Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
Die wichtigsten in den letzten Jahrzehnten international vollzogenen Reformen der psychiatrischen Versorgung gründen auf einheitlichen Versorgungsgrundsätzen, die bereits 1950 von der WHO formuliert und in den folgenden Jahren präzisiert wurden (vgl. Rössler u. Salize 1993). Die wichtigsten Reformziele finden sich auch im genannten Enquêtebericht wieder (Deutscher Bundestag 1975). Dass sie trotz der mittlerweile vergangenen Zeit nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt haben, zeigt sich sowohl in den Empfehlungen der Expertenkommission (BMJFFG 1988) als auch in einer Stellungnahme der Bundesregierung 1993 (BMG 1993). Die wichtigsten Reformziele sind bis heute: Aufbau eines bedarfsgerechten Versorgungssystems, Aufbau eines gemeindenahen Versorgungssystems, Koordination und Zusammenarbeit innerhalb der Versorgungssysteme, Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker in rechtlicher, finanzieller und sozialer Hinsicht.
39.2.1
Bedarfsgerechte Versorgung
Institutionsbezogene Versorgung Die konkrete Versorgungsdiskussion in den ersten Abschnitten der Reform zentrierte sich vorwiegend auf die
39
940
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
Frage, welche Einrichtungen für eine bedarfsgerechte Versorgung benötigt werden. Ein solches Einrichtungsraster gab beispielsweise die Enquêtekommission mit der Aufzählung erforderlicher Einrichtungen in einem sog. Standardversorgungsgebiet vor (⊡ Abb. 39.1). In den 2 Jahrzehnten, die seither vergangen sind, hat diese institutionsbezogene Sichtweise ihr Monopol verloren.
Verwirklichung materieller Rechte. Erst in einem zweiten Schritt werden diese Behandlungsbereiche bestimmten Institutionen zugeordnet. Die Umsetzung eines solchen personenzentrierten Versorgungsansatzes setzt aber Wissen über den Versorgungsbedarf z. B. bestimmter Patientengruppen ebenso voraus wie über den Versorgungsbedarf bestimmter Versorgungsgebiete.
Personenzentrierte Versorgung In Abgrenzung von einem institutionszentrierten Ansatz wird heute einem personenzentrierten Ansatz Vorrang eingeräumt unter der Perspektive, welche Hilfen ein Patient institutionsunabhängig benötigt (NIMH 1980, 1982; Wing 1992; ⊡ Abb. 39.2). Auch die Expertenkommission hat diesen Ansatz in ihren Planungsvorschlägen für die psychiatrische Versorgung aufgegriffen und 4 funktionale Behandlungsbereiche definiert (BMJFFG 1988): Behandlung, Pflege, Rehabilitation und Hilfen im Bereich Wohnen und Arbeit und Hilfen zur sozialen Teilhabe und
Versorgungsbedarf bestimmter Patientengruppen. Diese
Bedarfsbestimmung setzt auf der individuellen Ebene an, d. h. bei der Frage, was den krankheitsbezogenen und sozialen Versorgungsbedarf seelisch kranker Personen ausmacht. Ein solch umfassendes Verständnis von Versorgungsbedarf überschreitet das traditionelle Krankheitsverständnis und bezieht v. a. die sozialen Folgen seelischer Erkrankungen mit in die Versorgungsüberlegungen ein.
Das Vorfeld psychiatrischer und psychotherapeutischer, psychosomatischer sowie rehabilitativer Dienste Allgemeine professionelle und nichtprofessionelle Beratung in den Bereichen: Erziehung, Seelsorge, Rechtspflege, Gesundheitsämter, Arbeitsverwaltung und Sozialversicherung, Sozialarbeit
Beratungsstellen
Psychosoziale Kontaktstellen
Praktische Ärzte und Ärzte für Allgemeinmedizin
Fachärzte anderer Disziplinen
Ambulante Dienste Niedergelassene Nervenärzt e
Niedergelassene Psychagogen (Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten)
Niedergelassene ärztliche und nichtärztliche Fachpsychotherapeuten Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern Ambulante Dienste an Krankenhauseinrichtungen
Halbstationäre Dienst e
Ambulante Dienste Tageskliniken und an psychiatrischen Nachtkliniken Behandlungszentren Tageskliniken und PsychotherapeuNachtkliniken für tisch/psychosomabesondere Patientische Polikliniken tengruppen Fachambulanzen
Stationäre Dienste
Komplementäre Dienste
Spezielle rehabili- Dienste für tative Dienste Behinderte
Psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern
Übergangsheime
Werkstätten für Behinderte
Psychotherapeutisch/psychosomatische Abteilungen an psychiatrischen Krankenhäusern und Allgemeinkrankenhäusern Gerontopsychiatrische Abteilung Assessment-Unit für psychisch kranke alte Menschen
39 KOORDINATION
Psychosoziale Versorgungseinrichtungen (in unterversorgten Gebieten)
Wohnheime und Wohnheime für besondere Patientengruppen
Sonderkindergärten
Wohngruppen und Wohnungen
Sonderschulen
Familienpflege
Sonderklassen
Tagesstätten
Wohnangebote
Patientenclubs
Bildungs-, Freizeitund Erholungsstätten
Einrichtungen für Schwerst- und Mehrfachbehinderte
Psychosozialer Ausschuss Kooperation der Träger Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft
⊡ Abb. 39.1. Angebote in einem Standardversorgungsgebiet
Beschützende Arbeitsplätze
Einrichtungen zur Früherkennung. Frühdiagnose und Frühbehandlung
P LANUNG
941 39.2 · Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
⊡ Abb. 39.2. Bestandteile des Community Support Systems. (Nach Stroul 1988)
Versorgungsbedarf von Versorgungsgebieten. Diese Be-
darfsbestimmung ist weniger für die individuelle Behandlung als vielmehr im Zusammenhang gesamtplanerischer Überlegungen von Bedeutung. Der bisherige Planungsansatz hat sich im Wesentlichen mit einer wünschenswerten Ausstattung einzelner Dienste und Einrichtungen beschäftigt und damit sowohl Überlappungen mit anderen Diensten in einer Region als auch nicht ausgefüllte Leistungsfelder aus dem Blick verloren. Modernere, dem Versorgungsbedarf angepasste Planungsansätze sind auf eine einrichtungsübergreifende Verteilung der regional erforderlichen Fachkräfte gerichtet. So hat die Expertenkommission (BMJFFG 1988) im Rahmen eines sog. gemeindepsychiatrischen Verbundes bezogen auf eine Versorgungsregion von 150.000 Einwohnern ein Personalsoll von 23,5 Fachkräften im städtischen und 19,5 Fachkräften im ländlichen Bereich geschätzt. Der unterschiedliche Versorgungsbedarf im städtischen und ländlichen Bereich weist auf Unterschiede im regionalen Bedarf hin. ! Es ist bekannt, dass über die räumlichen Indikatoren hinaus nichträumliche Indikatoren, die auf Armut, soziale Isolation und soziale Desintegration in einer Region hinweisen, mit einer erhöhten psychiatrischen Morbidität verbunden sind
(Hirsch 1988). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer differenzierten Zuweisung von Ressourcen in verschiedenen Regionen.
39.2.2
Gemeindenahe Versorgung
Untrennbar mit einer bedarfsgerechten Versorgung ist ein gemeindenahes Versorgungssystem verbunden. Psychisch kranke und behinderte Menschen haben einen Anspruch darauf, die ihnen zustehenden Hilfen in Anspruch nehmen zu können, ohne ihre gewohnte Lebenswelt aufgeben zu müssen. Dieses Prinzip des Lebensweltbezugs findet sich als zentrale Versorgungsleitlinie weltweit in nationalen Programmen zur Reform der psychiatrischen Versorgung. Dies gilt uneingeschränkt auch für die Bundesrepublik Deutschland, die Schweiz und Österreich.
Erreichbarkeit der Versorgungseinrichtung Es ist vielfach versucht worden, den Begriff »Gemeindenähe« zu konzeptualisieren. Eine der dahinterstehenden versorgungspolitischen Leitlinien basiert auf der Bevorzugung solcher Behandlungsmethoden, die mit den
39
942
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
wenigsten Einschränkungen für Patienten verbunden sind (Chambers 1978). In diesem Zusammenhang ist v. a. die Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen von Belang. Die Bedeutung der Entfernung zwischen Wohnund Behandlungsort für die Inanspruchnahme stationärer Behandlungseinrichtungen wurde bereits im letzten Jahrhundert erkannt. Die inverse Beziehung zwischen der Entfernung vom psychiatrischen Krankenhaus und Aufnahmeraten ging als Jarvis-Gesetz 1852 in die psychiatrische Literatur ein (vgl. Shannon et al. 1986). Die Enquêtekommission hielt Einrichtungen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb einer Stunde erreichbar oder in einer Entfernung von maximal 25 km liegen, für hinreichend gemeindenah. Verschiedene Analysen haben aber inzwischen aufzeigen können, dass sowohl für ambulante Einrichtungen (Rössler et al. 1987) als auch für stationäre Einrichtungen (Meise et al. 1996) die Inanspruchnahmerate bereits ab einer halben Stunde Anreisezeit deutlich abnahm. Die wachsende Kundenorientierung in der Gesundheitsversorgung machte es deshalb zunehmend erforderlich, das Inanspruchnahmeverhalten der Betroffenen in Rechnung zu stellen.
39.2.3
39
Dezentralisierung und Sektorisierung
Besondere Bedeutung bei der Umsetzung von »Gemeindenähe« im Sinne von Erreichbarkeit hat die Aufteilung der Versorgungsangebote auf viele kleinstrukturierte und leichter erreichbare Einrichtungen und Dienste erlangt (Dezentralisierung). Mit kleindimensionierten Einrichtungen und Diensten war auch die Hoffnung verknüpft, wie in einem Baukastensystem individueller auf die Versorgungsbedürfnisse der Betroffenen eingehen zu können. In der Realität der Versorgung hatte aber eine solchermaßen aufgesplitterte Versorgung eine Vielzahl von Unter-, Fehl- und Doppelbetreuungen zur Folge (BMJFFG 1988; Rössler u. Salize 1993). Auch ist zu beachten, dass kleinstrukturierte Einrichtungen mit einem gewissen Grad an Entspezialisierung einhergehen. Dies steht heutzutage im Widerspruch zu dem wachsenden therapeutischen Wissensstand, der zukünftig in einem bestimmten Umfang eine Rezentralisierung der Institutionen erforderlich machen wird, um die notwendige Spezialisierung sicherzustellen. Die formalisierte Zuordnung eines bestimmten Versorgungsgebietes zu psychiatrischen Fachinstitutionen, v. a. stationären Einrichtungen, wird »Sektorisierung« genannt. Für die psychiatrische Klinik in einem »Sektor« bringt das die Versorgungsverpflichtung aller stationär zu Behandelnder mit sich. Diese Versorgungsverpflichtung ist aus der Vorstellung heraus entstanden, dass damit »unbequeme Patienten« nicht einfach in andere psychiatrische Kliniken weiterverwiesen werden können. Für
die Patienten bleibt selbstverständlich das Recht auf freie Krankenhauswahl erhalten. Die Sektorisierung ist in der Regel an eine psychiatrische Klinik/Abteilung innerhalb des Sektors geknüpft. Da viele psychiatrische Fachkrankenhäuser viel größere Einzugsgebiete haben als das, was für einen Sektor für angemessen gehalten wird (50.000 bis 150.000 Einwohner), haben viele der Fachkrankenhäuser eine sog. innere Sektorisierung durchgeführt, d. h. dass bestimmten Stationen oder Abteilungen des Fachkrankenhauses bestimmte Regionen des Gesamtversorgungsgebietes zugeordnet werden. Obwohl damit keine »Gemeindenähe« hergestellt wird, ermöglicht die innere Sektorisierung eine gewisse Behandlungskontinuität für Patienten mit mehrfachen Hospitalisationen.
39.2.4
Koordination und Zusammenarbeit
Case Management und Assertive Community Treatment Vor dem Hintergrund der Fragmentierung der Hilfesysteme werden zusätzliche Versorgungsangebote zur Koordination erforderlich. Mit der Koordination von Angeboten verbunden ist das Konzept der Einzelfallbetreuung, das in der angelsächsischen Literatur unter dem Begriff »case management« (CM) bekannt geworden ist. Unter Betonung der langfristigen therapeutischen Beziehung ist dieses Modell zum sog. Clinical Care Management weiterentwickelt worden (Bachrach 1992). Ein anderes dem Clinical Case Management ähnliches Konzept ist das sog. Assertive Community Treatment (ACT). Das ursprünglich in den 1970er Jahren in den USA entwickelte Programm war darauf gerichtet, gemeindepsychiatrische Alternativen zur stationären Behandlung für Personen mit schweren Erkrankungen zu entwickeln. Für die Betroffenen wird ein umfangreiches Betreuungsprogramm durch ein multidisziplinäres Team rund um die Uhr angeboten. Das wesentliche Kernelement von ACT ist, dass die Betroffenen vorwiegend in ihrer natürlichen Umgebung betreut werden (Scott u. Dixon 1995). Die wichtigsten »Erfolgsfaktoren« der vorgenannten Betreuungsmodelle sind: eine kleine Zahl zu betreuender Personen, regelmäßige und häufige Hausbesuche, Integration von medizinischer und sozialer Betreuung sowie ein multidisziplinäres Team (Burns et al. 2006). Inwieweit sich mit diesen Betreuungsmodellen die Versorgung effizienter gestalten lässt, wird unterschiedlich beurteilt (Renshaw 1987; Holloway 1991; Borland et al. 1989). Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob sich dadurch stationäre Aufenthalte verhindern lassen. Hinsichtlich eines reduzierten Wiederaufnahmerisikos in
943 39.2 · Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
stationäre Behandlung durch Case management halten sich negative wie positive Ergebnisse die Waage. Die Zahl positiver Ergebnisse nimmt allerdings bei Betrachtung längerer Analysezeiträume ab (Rubin 1992; Solomon 1992). In einer der wenigen deutschen Untersuchungen konnten z. B. Rössler et al. (1992, 1995 a; Rössler u. Salize 1993) bei krankheitsbedingt vergleichbarem Wiederaufnahmerisiko keinen Einfluss von Case management auf die Wiederaufnahmehäufigkeit schizophrener Patienten oder anderer Patientengruppen im Vergleich zu Patienten ohne koordinierende Einzelfallbetreuung feststellen. Für ACT sind die Ergebnisse im Hinblick auf die Reduzierung des Wiederaufnahmerisikos deutlich besser. Über die Tatsache hinaus, dass das Wiederaufnahmerisiko in stationäre Behandlung durch deutlich mehr Faktoren als alleine durch Case management und Assertive Community Treatment gesteuert wird, wird der Erfolgsindikator »Vermeidung stationärer Behandlung« zunehmend fragwürdiger. In wachsendem Maße geraten institutionsorientierte Indikatoren wie die Wiederaufnahme zugunsten personenorientierter Indikationen wie z. B. Lebensqualität in den Hintergrund. Für einen anderen personenorientierten Indikator, nämlich die Symptomatologie wie die Funktionsfähigkeit im Alltag gibt es nur wenig empirische Belege. Überwiegend kann gezeigt werden, dass die Auswirkungen der vorgenannten Betreuungsmodelle auf diese Parameter mäßig bis schwach sind.
Disease Management Auf die deutsche Versorgungsrealität bezogen bedeutet CM oder ACT, dass für chronisch psychisch kranke Personen eine Bezugsperson in der Regel in einem sozialpsychiatrischen Dienst zur Verfügung steht, die alle Aspekte der medizinischen, psychiatrischen, berufsbezogenen und sozialen Rehabilitation koordiniert und einrichtungsübergreifend die Kontinuität der Versorgung gewährleistet. Bemerkenswerterweise sind im deutschen Gesundheitswesen seit etwa 2002 sog. Disease-Management-Programme (DMP) mit einer ganz ähnlichen Zielsetzung eingeführt worden. Sie haben sich zunächst einmal ausschließlich auf chronische körperliche Erkrankungen bezogen. Die Disease-Management-Programme basieren auf dem Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleiches in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Programme sind hoch formalisiert und bürokratisch. Die ursprüngliche Nichtberücksichtigung psychiatrischer Krankheitsbilder in den Disease-Management-Programmen hat sich deshalb im Laufe der Jahre für die psychiatrische Versorgung eher als Vorteil herauskristallisiert. In der wissenschaftlichen Evaluation haben sich Orientierung an Therapieleitlinien durch die Versorger und auf seiten der Patienten Edukationsprogramme, Erinnerungshilfen und finanzielle Anreize als Erfolgsfaktoren
für die Disease-Management-Programme erwiesen (Weingarten et al. 2002).
Integrierte Versorgung Angesichts der Institutionsorientierung des Gesundheitswesens hat der Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen, im Rahmen einer sog. integrierten Versorgung innovative Versorgungsmodelle an der Schnittstelle zwischen verschiedenen Versorgungssektoren zu implementieren (§ 140 SGB V). Ziel dieser Versorgungsmodelle sollte sein, die Behandlungsqualität zu verbessern und nach Ablauf der Modellphase in die Regelversorgung übernommen zu werden. ! Insgesamt wurden bis 2006 ca. 2000 Anträge für integrierte Versorgungsmodelle genehmigt. Davon stammen jedoch nur ca. 30 aus der Psychiatrie. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen liegen sie in der restriktiven Ablehnungspraxis der Krankenkassen gegenüber psychiatrischen integrierten Versorgungsmodellen, zum anderen aber auch an der teilweise niedrigen Qualität diesbezüglicher Anträge.
39.2.5
Gleichstellung körperlich und seelisch Kranker
Dieses Reformprinzip betrifft alle Bereiche der psychiatrischen Versorgung. Das Ziel gleichberechtigter Teilhabe psychisch Kranker am gesellschaftlich-kulturellen Leben bleibt der zentrale Prüfstein des Erfolgs von Psychiatriereformen. Paradigmatisch für direkte oder indirekte Ausgrenzungsprozesse ist die Anwendung des Sozialrechts im Zusammenhang der psychiatrischen Rehabilitation. Hier ist die Benachteiligung chronisch psychisch Kranker und Behinderter gegenüber chronisch körperlich Kranken und Behinderten eklatant. Die wesentliche Ursache liegt in einem komplizierten Sozialversicherungssystem der Kranken- und Rentenversicherung, der Arbeitsverwaltung und der Sozialhilfe (Rössler et al. 1995 b).
Sozialrechtliche Anspruchsgrundlagen Die Maßnahmen zur Eingliederung Behinderter, die mit dem Begriff Rehabilitation bezeichnet werden, stellen einen Ausschnitt aus dem gesamten Sozialrecht dar. Viele Jahre war die Gesetzgebung damit befasst, das zersplitterte Sozialrecht im Sozialgesetzbuch zusammenzufassen. Seit 2001 sind alle Leistungen zur Rehabilitation in einen Gesetzestext, dem Sozialgesetzbuch IX, integriert (Gerke u. Schäfer 1992). Der prinzipielle Rechtsanspruch auf Rehabilitation ist im Sozialgesetzbuch I, § 10 festgelegt. Danach hat jeder psychisch Kranke und Behinderte und jede Person, die von Behinderung bedroht ist, ein Recht auf Hilfe, die notwendig ist, um
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944
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern, und ihm einen seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern. Rehabilitative Leistungen werden in der Regel nach Einzelbereichen in medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation unterteilt. Nach dem Finalitätsprinzip sollen alle erforderlichen Leistungen ohne Rücksicht auf die Ursache der Behinderung ausgerichtet am Bedarf erbracht werden (Mrozynski 1986), auch wenn für diese Hilfen unterschiedliche Träger und Institutionen mit unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen zuständig sind (Deutscher Bundestag 1989).
Das beitragsfinanzierte System der sozialen Sicherung Leistungsträger im gegliederten System der sozialen Sicherung sind die Kranken- und Rentenversicherung, die Arbeitsverwaltung und nachrangig die Sozialhilfe. Diese Leistungsträger führen die Rehabilitation als zusätzliche Aufgabe zu ihren originären Aufgaben durch. Der zuständige Kostenträger ergibt sich aus der Art der erforderlichen Leistungen. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sind im Sozialgesetzbuch V, die der Rentenversicherung im Sozialgesetzbuch VI festgelegt. Leistungsansprüche an die Sozialleistungsträger haben in der Regel nur Versicherte (BAR 1992).
Bundesanstalt für Arbeit. Die Rehabilitationsleistungen
der Bundesanstalt für Arbeit haben nach dem Arbeitsförderungsgesetz das Ziel, ihre Versicherten in das Erwerbsleben einzugliedern. Wiederum müssen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sein. Die Bundesanstalt tritt darüber hinaus mit berufsfördernden Leistungen subsidiär nur dann ein, wenn nicht die anderen Rehabilitationsträger für die Gewährung entsprechender Leistungen zuständig sind (BAR 1992).
Schwerbehindertengesetz
lichen Krankenversicherung für die ambulante Krankenbehandlung umfasst ärztliche Versorgung, Arzneimittel, Psychotherapie, häusliche Krankenpflege, Haushaltshilfe und Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit. Seit 1990 können Beschäftigungs- und Arbeitstherapie sowie Belastungserprobung zu Lasten der Krankenversicherung ambulant verordnet werden. Seit 2000 ist ambulante Soziotherapie und seit 2005 ambulante psychiatrische Pflege in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 37a SGB V) übernommen worden (vgl. bez. Soziotherapie Kap. 35). Alle diese Leistungen können zur medizinischen Rehabilitation eingesetzt werden.
Außerhalb der Zuständigkeit der Sozialleistungsträger sind v. a. Leistungen nach dem Schwerbehindertengesetz erwähnenswert (BAR 1992). Das Schwerbehindertengesetz regelt das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und schwerbehindertem Arbeitnehmer mit dem Ziel, die berufliche Eingliederung des Schwerbehinderten sicherzustellen und ihm die Erhaltung eines angemessenen Arbeitsplatzes zu gewährleisten. Den Hauptfürsorgestellen obliegt hierbei die Gewährung begleitender Hilfen im Arbeitsleben. Diese Hilfen können materieller Art sein oder in Form der Beratung von Klienten und Betrieben erfolgen. Voraussetzung für Leistungen nach dem Schwerbehindertengesetz ist die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft durch das Versorgungsamt. Viele Hauptfürsorgestellen gewähren jedoch auch Leistungen ohne den entsprechenden Schwerbehindertenausweis, sofern ein Fachgutachten die Schwerbehinderung bestätigt. Arbeitgeber sind verpflichtet, 6% ihrer Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen. Falls sie diese Quote nicht erreichen, sind sie zu einer Ausgleichsabgabe an die Hauptfürsorgestellen verpflichtet. Andererseits können sie von den Hauptfürsorgestellen u. U. finanzielle Förderung erhalten, wenn sie Schwerbehinderte beschäftigen.
Rentenversicherung. Rehabilitationsleistungen der Ren-
Nachrangigkeit der Sozialhilfe
tenversicherung haben vorrangig das Ziel, den Versicherten für das Erwerbsleben zu stabilisieren bzw. ihn in dieses einzugliedern. Der Leistungskatalog umfasst hierbei sowohl berufsfördernde als auch medizinische Rehabilitationsmaßnahmen. Wenngleich die Rentenversicherer rechtlich in der Lage sind, ambulante Rehabilitation durchzuführen, sind sie nach dem SGB VI gehalten, Rehabilitationsmaßnahmen v. a. im stationären Rahmen zu
Sofern der Betroffene die Anspruchsvoraussetzungen der einzelnen Sozialleistungsträger für die genannten Leistungen nicht erfüllt und weder er noch seine unterhaltspflichtigen Angehörigen über hinreichendes Einkommen oder Vermögen verfügen, um die notwendige Hilfe selbst zu finanzieren, können alle erforderlichen rehabilitativen Hilfen aus Mitteln der Sozialhilfe bereitgestellt werden. Nach dem Bundessozialhilfegesetz können psychisch
Krankenversicherung. Der Leistungskatalog der gesetz-
39
betreiben. Maßnahmen werden nur dann gewährt, wenn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, d. h. ausreichende Vorversicherungszeiten bestehen, und eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass die gewährte Maßnahme zu einer wesentlichen Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit führt.
945 39.2 · Gesundheitspolitische Versorgungsleitlinien
Kranke Krankenhilfe oder bei (drohender) Behinderung medizinische, berufliche oder allgemein soziale Rehabilitationsleistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe erhalten. Bei Pflegebedürftigkeit kann Hilfe zur Pflege gewährt werden. Zuständig für Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege sind bei ambulanten Maßnahmen die örtlichen und bei stationären und teilstationären Maßnahmen die überörtlichen Sozialhilfeträger, also z.B. die Landschafts- und Wohlfahrtsverbände oder die Bezirkssozialverwaltungen. Dabei sind die Begriffe »stationär« und »teilstationär« weit gefasst, insofern als unter stationären Einrichtungen Wohnheime und unter teilstationären Einrichtungen Werkstätten und z. T. Tagesstätten subsumiert werden.
Sozialrechtliche Defizite Vor diesem Hintergrund lassen sich die sozialrechtlichen und institutionellen Defizite der Rehabilitation chronisch psychisch Kranker zu 2 Problemkomplexen zusammenfassen (Beraterkommission 1985): Probleme, die nicht nur psychisch Kranke und Behinderte, sondern auch andere Patientengruppen mit ungünstiger bzw. unsicherer Prognose und/oder bei dauerhafter oder langfristiger Pflegebedürftigkeit betreffen, und Probleme, die spezifisch psychisch Kranke und Behinderte benachteiligen, da sich Prognoseverfahren, gewährte Leistungen, Maßnahmen, Strukturen und Institutionen der Rehabilitation zu einseitig an den Anforderungen somatisch Kranker und Behinderter orientieren, ohne die besonderen Bedingungen psychischer Erkrankungen und Behinderung ausreichend zu berücksichtigen.
unterliegt einer strengeren Mittelknappheit als sie für die Träger der Sozialversicherung gilt (Schwartz 1991). Entwicklung der ambulanten Soziotherapie. Ein weiteres
gutes Beispiel für die Benachteiligung psychisch kranker Menschen in der praktischen Anwendung des Sozialrechts ist die Entwicklung der ambulanten Soziotherapie, die 2000 in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen wurde. Obwohl seinerzeit vom Bundesgesundheitsministerium als eine » … finanzierungsrechtlich und gesetzestechnisch ungewöhnlich sauber und umfassend ausgearbeitete vorbereitete Massnahme« qualifiziert, wurde die praktische Einführung von den Krankenkassen durch eine äußerst restriktive Bewilligungspraxis und unzureichende Bewertung der ärztlichen Leistungen im Rahmen von Soziotherapie wesentlich behindert. Heute, 6 Jahre nach ihrer gesetzlichen Verankerung, spielt die ambulante Soziotherapie praktisch keine Rolle, da ihre Anwendung blockiert wird. Verfahren der Diagnose- und Prognosestellung. Der
zweite Problemkomplex resultiert zum einen daraus, dass das übliche Verfahren der Diagnose- und Prognosestellung vor Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen dem individuell nur schwer vorhersagbaren Verlauf psychischer Erkrankungen nicht gerecht wird, mit der Folge eines überproportional großen Anteils ungünstiger Prognosen bei abgelehnten Rehabilitationsverfahren. Zum anderen trägt die enge zeitliche Beschränkung medizinischer und beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen der Phasenhaftigkeit und Langfristigkeit schwerer seelischer Erkrankung nicht Rechnung (Beraterkommission 1985).
Praktische Anwendung des Sozialrechts. Der erste Prob-
Konzeptionelles Missverständnis
lemkomplex trifft auf alle Behinderten zu, die nicht, nicht ausreichend oder nicht lange genug versichert waren und die keine günstige Prognose aufweisen, was unabdingbare Voraussetzungen für Leistungen der Kranken- und v. a. der Rentenversicherung und Arbeitsverwaltung sind.
Schließlich besteht ein konzeptionelles Missverständnis über die Reichweite medizinisch-psychiatrischer Rehabilitation. Aus wissenschaftlicher Sicht bestehen keine Zweifel, dass gerade die Therapie sozialkommunikativer Funktionseinbußen im Zentrum psychiatrischer Rehabilitation chronisch psychisch kranker Menschen steht (Rössler u. Riecher-Rössler 1994). Dadurch, dass aber Maßnahmen, die sich auf die Behandlung dieser Funktionseinbußen beziehen, nicht als medizinische, sondern als allgemeine Maßnahmen zur sozialen Wiedereingliederung definiert werden (Deutscher Bundestag 1990), werden die Krankenkassen und v. a. die Rentenversicherer als primäre Leistungsträger der medizinischen Rehabilitation von einem wesentlichen Teil ihrer Leistungsverpflichtungen für die Rehabilitation psychisch Behinderter entlastet (Schwartz 1991).
! Psychisch Behinderte sind durch diese Rechtslage zwar nicht ausdrücklich gesetzlich benachteiligt, wohl aber in der praktischen Anwendung des Sozialrechts. Da sie in der Regel die Anspruchsvoraussetzungen für die Leistungen der Sozialversicherungsträger nicht erfüllen, hat sich für diesen Personenkreis faktisch eine Regelfinanzierung rehabilitativer Leistungen durch die Sozialhilfe eingebürgert. Eine solche steuerfinanzierte Kostenträgerschaft setzt allerdings die Selbstleistung des Kranken bis zur Armutsgrenze prinzipiell voraus und
39
946
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
39.3
System der psychiatrischen Versorgung
Je nach Schweregrad und Spezifität des Hilfebedarfs nehmen psychisch Kranke verschiedene Einrichtungen oder Hilfeinstanzen des Versorgungssystems in Anspruch. Der Versorgungsbedarf in einem gegliederten Versorgungssystem wird gedeckt durch das nichtprofessionelle Hilfesystem wie z. B. Selbst-, Bürger- und Nachbarschaftshilfe, ambulante Vorfeldeinrichtungen der allgemeinen Gesundheits- und Sozialversorgung wie z. B. Hausärzte, Gemeindepflegedienste, Sozialbehörden, ambulante Einrichtungen des psychiatrischen Kernfelds wie z. B. niedergelassene Nervenärzte und sozialpsychiatrische Dienste, stationäre Einrichtungen des psychiatrischen Kernfelds wie z. B. psychiatrische Fachkrankenhäuser und psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, sowie komplementäre/rehabilitative Einrichtungen des psychiatrischen Kernfelds wie z. B. Wohnheime, Wohngruppen, Werkstätten und Tagesstätten. Hierbei handelt es sich um eine traditionelle Aufteilung in ein nichtprofessionelles Hilfesystem einerseits und ein professionelles Hilfesystem andererseits, das sich wiederum in nichtspezialisierte Vorfeldeinrichtungen und in spezialisierte Kernfeldeinrichtungen unterteilen lässt.
Dynamischer Versorgungsansatz Einen dynamischen Versorgungsansatz entwarfen Goldberg u. Huxley (1980). Auf der Basis verschiedener Felduntersuchungen und Inanspruchnahmestudien identifi-
zierten sie ein Stufenmodell der medizinischen Versorgung psychisch kranker und gestörter Menschen und beschrieben Einflussfaktoren, die den Eintritt in das medizinische Versorgungssystem mitbestimmen sowie die Weiterverweisung zu spezialisierten fachärztlichen Einrichtungen und Diensten beeinflussen (⊡ Tab. 39.1). Dieses hier aus Mangel an vergleichbaren deutschen Studien dargestellte britische Modell ist nicht in allen Teilen auf die Versorgungsstruktur in Deutschland übertragbar, zumal die Funktion des praktischen Arztes im System des britischen Health Service wesentlich umfassender ist als in der Bundesrepublik. Dennoch macht es deutlich, wie in jedem Versorgungssystem individuell und kulturell spezifisches Inanspruchnahme-, Behandlungs- und Überweisungsverhalten mit objektiven Bedarfsparametern interagiert.
39.3.1
Stationäre Versorgung
Bettenzahl und Verweildauer Der Funktionswandel der psychiatrischen Krankenhäuser von einer überwiegend pflegenden zu einer überwiegend therapeutischen Disziplin vollzog sich in der Bundesrepublik Deutschland vor dem Hintergrund eines wesentlich niedrigeren Bettenbestandes mit 1,6 Betten je 1.000 Einwohner im Vergleich zu anderen industrialisierten Ländern wie beispielsweise den USA mit 4,5 Betten je 1.000 Einwohner 1955 vor Reformbeginn Anfang der 1970er Jahre (Dowell u. Ciarlo 1983). Seitdem ist noch eine beachtliche Zahl von Betten abgebaut worden. Der heute erreichte Stand von durchschnittlich 0,65 Betten je 1.000 Einwohner weist in den verschiedenen Bundesländern eine erhebliche Varianz auf (⊡ Abb. 39.3). Besonders bei
1,03 0,82 0,69 0,62 0,62 0,60 0,60 0,60 0,59
39
0,53
⊡ Abb. 39.3. Psychiatrische Betten je 1000 Einwohner in allen Bundesländern 2002. (Statistisches Bundesamt 2005)
947 39.3 · System der psychiatrischen Versorgung
⊡ Tab. 39.1. Einflussfaktoren auf die Inanspruchnahme verschiedener Stufen des psychiatrischen Versorgungssystems. (Aus Goldberg u. Huxley 1980) Gemeinde
Primärärztliche Versorgung
Psychiatrische Versorgung
Gemeinde
Häufigkeit seelischer Störungen in der Bevölkerung
Gesamtheit aller seelischen Störungen in allgemeinärztlicher Behandlung
Vom Allgemeinarzt erkannte seelische Störungen
Gesamtheit seelischer Störungen in psychiatrischer Behandlung
Seelische Störungen in stationärer psychiatrischer Behandlung
25%
23%
14%
1,70%
0,60%
→
→
→
→
Haupteinflussfaktor
(1. Filter) Krankheitsverhalten
(2. Filter) Krankheitserkennung
(3. Filter) Überweisung zu psychiatrischer Behandlung
(4. Filter) Stationäre Zuweisung
Schlüsselperson
Patient
Allgemeinarzt
Allgemeinarzt
Nervenarzt
Einflussfaktoren auf Schlüsselperson
Art und Schweregrad der Symptome; Art der Krankheitsbewältigung
Ausbildung, Einstellung zu psychisch Kranken; Persönlichkeitsfaktoren
Ausbildung, Vertrauen auf eigene Fähigkeit; Verfügbarkeit und Qualität psychiatrischer Dienste; Einstellung gegenüber Nervenärzten
Bettenangebot, Verfügbarkeit ergänzender gemeindepsychiatrischer Angebote
Andere Einflussfaktoren
Einstellung des sozialen Umfelds; Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der Versorgungseinrichtungen
Darstellung der Krankheitssymptome, soziodemografische Merkmale des Patienten
Einstellung des Patienten und der Angehörigen
den Fachkrankenhäusern ist die Entwicklung nicht stehen geblieben: Zwischen 1994 und 1998 reduzierte sich die Zahl dort vorgehaltener Betten nochmals von etwa 48.500 auf 38.000 (Bauer et al. 2001).
Kürzung der Verweildauer Mit der Reduktion der Krankenhausbetten ging auch eine erhebliche Verkürzung der Verweildauer einher. Während die Anfänge der Reform von einer relativ raschen Reduktion der Verweildauer begleitet waren, z. B. zwischen 1981 und 1984 von 90 auf 70 Tage für die gesamte Bundesrepublik, bedurfte es zu einer weiteren Verkürzung um 10 Tage weiterer 8 Jahre. Zwischen 1992 und 2003 fand dann eine weitere erhebliche Reduktion von ca. 57 Tage auf 25 Tage statt (Statistisches Bundesamt 2005). Die Verkürzung der Verweildauer weist aber zwischen den verschiedenen Bundesländern erhebliche Unterschiede auf. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind v. a. im Zusammenhang mit der Entlassung sehr inhomo-
gener Patientengruppen zu sehen. Eine zunächst sehr lange durchschnittliche Verweildauer und eine sich daran anschließende starke Verkürzung ist vorwiegend in Verbindung mit der Entlassung einer großen Zahl chronisch psychisch Kranker zu sehen, während in Bundesländern, die traditionellerweise größere Anteile chronisch Kranker außerhalb der psychiatrischen Krankenhäuser versorgten, die Verweildauer relativ konstant, aber von vornherein wesentlich kürzer war.
Einflussfaktoren auf die Verweilzeiten Die Vermutung, dass die Verkürzung der Verweilzeiten sowie der Abbau der Betten erst durch die Einführung der Psychopharmaka möglich geworden ist, ist nur z. T. richtig, da die Psychopharmaka in der Bundesrepublik bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt eingesetzt wurden. Vermutlich ist vielmehr die (im internationalen Vergleich verspätete) Entwicklung im Zusammenhang mit verschiedenen, spezifisch bundesdeutschen Gegebenheiten zu sehen:
39
948
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
Zum einen war die Ausgangszahl psychiatrischer Betten nach dem zweiten Weltkrieg – mitbedingt durch die als »Euthanasie« bezeichnete Ermordung psychisch Kranker während der nationalsozialistischen Ära – wesentlich geringer als in anderen industrialisierten Ländern. So war der Druck zur Bettenreduktion zunächst weniger stark. Gleichzeitig steht der erhebliche Bettenabbau aber auch im deutlichen Zusammenhang mit dem 1972 erlassenen Krankenhausfinanzierungsgesetz, das die finanzielle Beteiligung des Bundes für Bau und Unterhalt von Krankenhäusern der Akutversorgung regeln sollte (Zumpe 1978). Krankenhausfinanzierungsgesetz. In diesem Gesetz wurden die Länder verpflichtet, Krankenhausbedarfspläne aufzustellen, wobei allerdings nur rund 75% der vorhandenen Krankenhäuser einer Planung unterworfen wurden. Die übrigen 25% der Krankenhäuser blieben planungsfrei. Dies hatte im planungsgebundenen Bereich der Akut- und psychiatrischen Kliniken zwischen 1973 und 1983 einen deutlichen Bettenabbau zur Folge, wohingegen im planungsfreien Raum der Sucht-, Kur-, Rehabilitations- und psychosomatischen Kliniken die Zahl der vorgehaltenen Betten zugenommen hat (Bruckenberger 1986). Vor dieser Zunahme hatte Häfner bereits 1975 in einem Sondervotum zum Enquêtebericht aus fachlicher Sicht gewarnt (Häfner 1975). Zum einen betonte er den Vorrang ambulanter vor stationärer Behandlung. Zum anderen gab er zu bedenken, dass auch vom wirtschaftlichen Standpunkt aus viele dieser Patienten nicht der Versorgungsintensität eines Krankenhauses bedürften (Deutscher Bundestag 1975).
Weitere Reduktion von Betten Die Weltgesundheitsorganisation (Freemann et al. 1985) geht davon aus, dass unter optimalen Bedingungen der Bettenschlüssel unter 0,5 Betten je 1000 Einwohner abgesenkt werden könnte. Die Bestimmungsgrößen dieser Berechnung wurden jedoch nicht weiter präzisiert, so dass es sich hier eher um eine programmatische Aussage mit dem Ziel einer weitestmöglichen Bettenreduzierung handelt.
39
gungsbereiche – wie dies zu Beginn der Reformen angenommen wurde – ganz aufgelöst werden können. Ein (kleiner) Teil der chronisch psychisch Kranken wird weiterhin der intensiven langfristigen Pflege in Krankenhäusern bedürfen. Aufbau der gemeindepsychiatrischen Versorgung. Die
Möglichkeiten einer Bettenreduktion durch den Auf- und Ausbau einer gemeindenahen ambulanten Versorgung sind kritisch einzuschätzen. Der Aufbau eines gemeindepsychiatrischen Versorgungssystems setzt komplexe Bedarfsprozesse in Gang, die sowohl die Inanspruchnahme des Versorgungssystems insgesamt als auch einzelner Versorgungssektoren in quantitativer und qualitativer Hinsicht verändern und nicht nur eine Substitution von stationären durch ambulante Angebote darstellen (Rössler u. Häfner 1985). Tageskliniken. Gesicherte Hinweise gibt es hingegen, dass
nicht alle gegenwärtig stationär behandelten Patienten die Versorgungsintensität eines Krankenhauses benötigen, sondern gleichermaßen in Tageskliniken behandelt werden könnten (Kluiter 1997). Es kann davon ausgegangen werden, dass etwa 30% der gegenwärtig stationär behandelten Patienten auch teilstationär in sog. Akuttageskliniken mit gleicher Effektivität behandelt werden könnten. Die Bedeutung von sog. Akuttageskliniken wird deshalb in den nächsten Jahren wesentlich zunehmen. Naturgemäß ist der Aufbau von Tageskliniken im städtischen Ballungsraum erheblich einfacher (Eikelmann u. Reker 2004).. Nachtklinikplätze, die berufstätigen psychisch Kranken in den Abendstunden ein therapeutisches Angebot machen können, sind bei der gegenwärtigen Beschäftigungslage chronisch psychisch Kranker nicht mehr von großer Bedeutung. Der Ausbau psychiatrischer Tageskliniken – heute noch mit vorwiegend rehabilitativem Charakter – in den verschiedenen Bundesländern ist sehr unterschiedlich. Gesamthaft gab es im Jahr 2003 in Deutschland 339 Tages-/Nachtkliniken mit einem Gesamtbestand von 8539 Plätzen (Salize et al. 2007; Kallert et al. 2003).
Auslagerung von Versorgungsbereichen. Gegenwärtig
Gemeindenähe und Integration psychiatrischer Krankenhäuser in die allgemeinmedizinische Versorgung
kann davon ausgegangen werden, dass durch Auslagerung der in den Fachkrankenhäusern verbliebenen Versorgungsbereiche, die der langfristigen Versorgung chronisch psychisch Kranker und Behinderter dienen, noch eine spürbare Verminderung der Bettenzahl zu erreichen ist. In einer Reihe von Fachkrankenhäusern wurde dieses Problem dadurch »gelöst«, dass die Pflegebereiche einen anderen Finanzierungsträger erhalten haben. Eine echte Bettenreduktion wurde damit nicht vollzogen. Allerdings ist auch nicht damit zu rechnen, dass alle Langzeitversor-
Durch die häufig abgeschiedene Lage psychiatrischer Krankenhäuser ist die Zusammenarbeit mit anderen medizinischen Disziplinen zwangsläufig unterentwickelt – eine Qualitätseinbuße der Versorgung, wenn man bedenkt, dass rund ein Drittel der dort behandelten Patienten zusätzlich unter einer körperlichen Erkrankung leidet (Rössler et al. 1987). Weiter zeigte eine unter der wissenschaftlichen Begleitung von Böcker (1993) in den psychiatrischen und allgemeinen Krankenhäusern Bayerns durchgeführte Patientenstrukturanalyse, dass 1983
949 39.3 · System der psychiatrischen Versorgung
von insgesamt rund 27.000 AOK-Patienten mit psychiatrischen Diagnosen 51% in Krankenhäusern nichtpsychiatrischer medizinischer Disziplinen behandelt worden waren. Nach einer neueren Untersuchung aus dem Jahr 2000 ist dieser Anteil rückläufig – inzwischen werden nur noch 27% der Patienten mit psychiatrischen Diagnosen in allgemeinen Krankenhäusern Bayerns versorgt (Melchinger et al. 2006). Gründe des immer noch hohen Anteils psychiatrischer Patienten in Allgemeinkrankenhäusern sind nicht nur in den Vorurteilen der Bevölkerung gegen psychiatrische Krankenhäuser zu suchen, sondern auch darin, dass die Akutversorgung für psychisch Kranke durch das nächstgelegene Allgemeinkrankenhaus übernommen wird, wenn die psychiatrische Klinik zu weit entfernt ist oder wenn die Mitbehandlung ernsterer körperlicher Leiden erforderlich ist, für die in vielen psychiatrischen Krankenhäusern die notwendige Kompetenz fehlt(e). ! Durch den zunehmenden Anteil multimorbider älterer Mitbürger, die gleichzeitig an körperlichen und seelischen Erkrankungen leiden, wird in den nächsten Jahrzehnten die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit noch dringlicher werden.
Psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern Die Sachverständigenkommission hatte 1975 zur Lösung dieser Probleme die Einrichtung von psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern empfohlen (Deutscher Bundestag 1975). Der Aufbau solcher Abteilungen ist in der Bundesrepublik Deutschland zunächst nur recht zögernd vorangeschritten. Eine der Ursachen für diese zögerliche Umsetzung in die Praxis dürfte die fortdauernde berufspolitische Kontroverse um die Struktur dieser Abteilungen sein: Die Enquêtekommission war 1975 davon ausgegangen, dass – anstelle der sonst üblichen Stufung der medizinischen Krankenhausversorgung in Grund-, Regel-, Haupt- und Schwerpunkt- bzw. Maximalversorgung – in der Psychiatrie alle Versorgungsstufen in einer Einrichtung zusammengefasst werden müssten. Dies bedeutet, dass psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern nur verkleinerte Abbilder der Großkrankenhäuser mit einer Richtgröße von etwa 200 Betten sein sollten. Solchen Abteilungen sollte die Verpflichtung zur Versorgung aller akut und chronisch Kranken einer Region auferlegt werden. Hauptanliegen dieser »Nivellierung« der Krankenhäuser war es, ein Abschieben vermeintlich unbequemer und schwer zu behandelnder chronisch psychisch Kranker in weiterhin unzureichend ausgestattete psychiatrische Großkrankenhäuser zu vermeiden (vgl. Abschn. 39.2.3). Trotz aller Widrigkeiten und Widerstände gibt es inzwischen eine beträchtliche Anzahl psychiatrischer Ab-
teilungen an Allgemeinkrankenhäusern, und zwar insgesamt 215 mit rund 22.000 Betten. Damit überflügeln inzwischen psychiatrische Abteilungen zahlenmässig die 190 psychiatrischen Fachkrankenhäuser in 2003. Allerdings gibt es mit rund 32.000 Betten immer noch deutlich mehr Betten in den Fachkrankenhäusern.
Psychosomatische Kliniken Eine Besonderheit der deutschen Gesundheitsversorgung ist die grosse Zahl von Betten in psychosomatischen Kliniken (s. o. Krankenhausfinanzierungsgesetz). Während rund 15.000 Betten in der Trägerschaft der Rentenversicherungen stehen, sind inzwischen rund 3200 Betten in psychosomatischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern hinzugekommen (Salize et al. 2007). Während ursprünglich in psychosomatischen Kliniken Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen im engeren Sinne behandelt wurden (z. B. Colitis ulcerosa etc.), machen diese Kliniken zunehmend den psychiatrischen Abteilungen und Fachkrankenhäusern in der Behandlung psychiatrischer Patienten aus dem psychiatrischen Kernbereich z. B. mit Depressionen oder Angststörungen Konkurrenz. Über diese Entwicklung gibt es eine intensive Diskussion, insbesondere im Hinblick darauf, ob und inwieweit der Vorrang der ambulanten Versorgung dieser Patientengruppen gewährleistet bleibt, wenn der stationären Versorgung wieder ein solches Gewicht eingeräumt wird. Ausserdem werden die psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern stigmatisiert, weil ihnen dann nur noch die »unangenehmen« Patienten wie Suchtund Psychosekranke verbleiben.
Forensische Psychiatrie Psychisch kranke Rechtsbrecher werden in völlig eigenständigen Behandlungseinrichtungen betreut (Salize u. Dressing 2005). Im so genannten »Maßregelvollzug« befanden sich 2003 insgesamt rund 7.300 Betten (Osterheider u. Dimmek 2005). Mit 0,08 Betten pro 1000 Einwohner verfügt Deutschland über die größten stationären Behandlungskapazitäten für psychisch kranke Rechtsbrecher im europäischen Vergleich.
Konsiliarpsychiatrische Versorgung Angesichts des Bedarfs an konsiliarpsychiatrischer Tätigkeit an somatischen Krankenhäusern ist dort, wo keine psychiatrischen Abteilungen vorhanden sind, Ausmaß und Intensität der Kooperationstätigkeit zwischen Psychiatrie und Psychotherapie einerseits und somatischer Medizin andererseits gering. Nur die wenigsten Krankenhäuser verfügen über eigenständige Konsiliar-/Liaisonabteilungen. Der überwiegende Teil der konsiliarpsychiatrischen Versorgung an somatischen Krankenhäusern wird durch niedergelassene Psychiater geleistet. Dieses Versorgungsmodell kann jedoch den umfassenden Anforderungen einer modernen Konsiliar-/Liaisonpsychi-
39
950
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
atrie nur eingeschränkt gerecht werden (Herzog u. Hartmann 1990).
39.3.2
Ambulante Versorgung
Niedergelassene Ärzte Allgemeinmediziner Die Erstbetreuung psychisch Kranker und die Koordinierung medizinischer, psychiatrischer und sozialer Hilfen liegen häufig in den Händen niedergelassener Allgemeinmediziner oder praktischer Ärzte. Ihre Angebote sind jedoch zumeist relativ unspezifischer Art. Dies ist z. T. durch die mangelnde psychiatrisch-psychotherapeutische Ausbildung der meisten Allgemeinärzte bedingt. Wie z. B. Dilling et al. (1984) oder Zintl-Wiegand et al. (1980) zeigten, erkennen Allgemeinmediziner rund die Hälfte bis ein Drittel der psychischen Störungen nicht. Im Vergleich zur Einschätzung durch einen Forschungspsychiater werden von Allgemeinärzten Patienten mit Psychosen am häufigsten erkannt, während es weit weniger Übereinstimmung bei neurotischen und psychosomatischen Erkrankungen gibt. Dies mag damit zusammenhängen, dass zum einen psychovegetative oder somatisierte depressive Syndrome leicht als somatische Erkrankungen verkannt werden können. Zum anderen richten Allgemeinärzte ihre Aufmerksamkeit eher auf solche Erkrankungen, die aus ihrer Sicht behandelbar sind. Deshalb diagnostizieren Allgemeinärzte, geleitet durch ihre bisherigen Erfahrungen, selektiv die mit besserem Erfolg behandelbaren psychischen Erkrankungen bzw. vernachlässigen solche Erkrankungen, die aus ihrer Sicht nicht behandelbar sind oder ohnehin spontan remittieren würden (Geiselmann u. Linden 1989). Aber auch bei behandelbaren psychischen Störungen sind den allgemeinärztlichen Behandlungsbemühungen enge Grenzen gesetzt, wenn man bedenkt, dass ein Kassenarzt in der Bundesrepublik Deutschland an einem Tag durchschnittlich 35 Beratungen durchführt, 11 Patienten eingehend untersucht und 3 Hausbesuche durchführt (Stackelberg 1986). Welchen Stellenwert Haus- und Allgemeinärzte im deutschen Gesundheitswesen haben, kann man daran ermessen, dass in 2003 rund 59.000 Haus- und Allgemeinärzte in freier Praxis praktizierten (KBV 2005).
Nervenärzte
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Die spezialisierte Versorgung im engeren Sinne obliegt den niedergelassenen Nervenärzten. Dilling et al. (1984) stuften in ihrer Feldstudie 6,3% der Bevölkerung als behandlungsbedürftig durch einen Nervenarzt ein. Tatsächlich in nervenärztlicher Behandlung befanden sich jedoch nur 2,1% – eine im Übrigen international durch Fallregisterdaten bestätigte Inanspruchnahmerate (Wing et al. 1977).
Für diese sog. epidemiologische Behandlungsdifferenz von 4,2% wurden in den vergangenen Jahren viele Gründe genannt. Zum einen wird argumentiert (z. B. Bosch u. Pietzcker 1975), dass schwerer psychisch Kranke, insbesondere schizophren Erkrankte, aufgrund mangelnder Krankheitseinsicht niedergelassene Nervenärzte nicht ausreichend in Anspruch nähmen. Unterstützung fand diese These durch Untersuchungen, die sich mit der Diagnosenverteilung nervenärztlich behandelter Patienten beschäftigten. So zeigte z. B. eine Untersuchung von Dilling (1977), dass Patienten mit neurotischen bzw. psychosomatischen Krankheitsbildern mit nahezu 50% den Schwerpunkt der nervenärztlichen Klientel bilden. Aus heutiger Sicht muss allerdings davon ausgegangen werden, dass die geringe Inanspruchnahme nervenärztlicher Praxen durch schwerer und chronisch psychisch Kranke auch durch das mangelnde Angebot an Nervenärzten in den vergangenen Jahren bedingt war. Inzwischen wurden Hinweise gefunden, dass unter den Bedingungen eines gut ausgebauten, gemeindepsychiatrischen Versorgungssystems mit einer relativ großen Zahl niedergelassener Ärzte die Inanspruchnahme ärztlicher und nervenärztlicher Praxen durch schwerer psychisch Kranke ganz wesentlich gesteigert werden kann (Häfner u. an der Heiden 1983; Häfner u. Rössler 1989). Der Dichte der nervenärztlichen Versorgung kommt also hierbei wesentliche Bedeutung zu. Die hier in ungefähr den letzten 25 Jahren vollzogene Entwicklung mit einer Verdreifachung der neu niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiater ist bemerkenswert. In 2003 praktizierten in Deutschland rund 5500 Nervenärzte, was einer Rate von 0,6% pro 10.000 der Bevölkerung entspricht (KBV 2005). Trotz dieser inzwischen erreichten relativ großen Dichte in der fachpsychiatrischen Grundversorgung wird eine weitere Verdreifachung der Zahl von »Nervenärzten« zur Bedarfsdeckung für notwendig erachtet (Berger 2005).
Ambulante Psychotherapie Neben der Zahl von rund 3600 Psychiatern mit einer Spezialisierung in Psychotherapie (KBV 2005) wird ambulante Psychotherapie gegenwärtig von rund 12.000 niedergelassenen Psychologen vorgehalten. Zu dieser explosionsartigen Vermehrung von niedergelassenen Psychologen ist es im Rahmen der 1999 eingeführten Finanzierung psychologischer Psychotherapie durch die Krankenkassen gekommen. Dies bringt eine Verschiebung der Finanzierung von psychiatrisch-psychotherapeutischen Leistungen für »schwerer« Kranke zu »leichter« Kranken mit sich (Melchinger et al. 2003).
Institutsambulanzen und sozialpsychiatrische Dienste Bis 2000 kam es vor der Zulassung einer Institutsambulanz an einer psychiatrischen Abteilung eines Allgemein-
951 39.3 · System der psychiatrischen Versorgung
krankenhauses zu einer Bedarfsprüfung durch die zuständigen kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen, die häufig negativ beschieden wurden. Nach einer Gesetzesrevision in 2000 können inzwischen alle psychiatrischen Abteilungen Institutsambulanzen führen. Dies hat zu einem starken Anwachsen der Institutsambulanzen von 27 in 1980 auf 304 in 2001 geführt. Über die Institutsambulanzen gibt es darüber hinaus zusätzlich rund 220 sogenannte Ermächtigungsambulanzen, die einen ähnlichen Auftrag erfüllen, aber in der Regel an die Person des Leiters der Abteilung gebunden sind (Salize et al. 2007). Für einen Teil der chronisch psychisch Kranken schließt die ambulante Behandlungsmöglichkeit an der Einrichtung, die sie auch im Falle stationärer Behandlung betreut bzw. nachbetreut, eine wesentliche Versorgungslücke (Finzen 1991). Die erforderliche Nachbehandlung findet aber nicht immer durch Institutsambulanzen statt, sondern z. B. auch durch ermächtigte Krankenhausärzte oder sozialpsychiatrische Dienste mit ähnlichem Aufgabenspektrum in der Nachsorge. Generalisierende Aussagen über das spezifische Aufgabenspektrum sozialpsychiatrischer Dienste sind allerdings schwierig. Zum einen können unter dem von der Expertenkommission formulierten Ziel der »vorsorgenden, begleitenden und nachgehenden Hilfen« für chronisch psychisch Kranke und Behinderte eine Reihe verschiedenartiger Hilfansätze verstanden werden, zum anderen ist die Heterogenität der gesetzlichen institutionellen und finanzierungstechnischen Voraussetzungen in den Bundesländern erheblich. Selbst die Bezeichnung »sozialpsychiatrischer Dienst« wird in den Ländern unterschiedlich verwendet. Gemeinsam ist diesen dezidiert extramuralen Diensten der Bezug auf die Gemeinde, die Kooperation mit anderen Einrichtungen als konstitutive Aufgabe sowie die Multiprofessionalität mit mehr oder weniger starker ärztlicher Beteiligung (Rössler 1992). In 2000 gab es in der Bundesrepublik insgesamt 586 sozialpsychiatrische Dienste mit einer durchschnittlichen Teamgrösse von 5–6 Mitarbeitern (Salize et al. 2007).
Krisen- und Notfallversorgung Die Auffassung, was als seelische Krise oder psychiatrischer Notfall zu bezeichnen ist und welche institutionelle Antworten hierauf zu geben sind, sind weit gespannt und vielfältig (Häfner et al. 1986). Dringlichkeit. Auf der funktionalen Ebene muss bei er-
forderlichen Interventionen wegen psychiatrischer Notfälle und Krisen vorwiegend nach der Dringlichkeit der Intervention unterschieden werden, d. h. danach, ob sofortige, zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbare Maßnahmen notwendig sind oder lediglich »rechtzeitige Hilfe«. Rechtzeitige Hilfe kann von allen Einrichtungen ge-
währt werden, die zu den üblichen Bürozeiten geöffnet haben. Für schwere psychiatrische Krisen (Delirien, Vergiftungen, körperlich bedingte Psychosen, seelische Erkrankungen mit einem hohen Maß an Eigen- und Fremdgefährdung) müssen spezielle Dienste vorgehalten werden, die rund um die Uhr in Anspruch genommen werden können und verkehrstechnisch günstig zu erreichen sind. Art der Maßnahme. Auf der organisatorischen Ebene ist
dagegen von Bedeutung, welcher Art die einzuleitenden Maßnahmen sein müssen, d. h. ob medizinische, psychiatrische und/oder soziale Maßnahmen erforderlich werden.
Versorgung in Allgemeinkrankenhäusern Eine umfassende Krisen- und Notfallversorgung dieser Art gibt es in der Regelversorgung nicht. Einschränkungen unterliegen z. B. Allgemeinkrankenhäuser ohne psychiatrische Abteilungen, die zwar ausreichend medizinische, aber v. a. keine psychiatrische und problemorientierte sozialarbeiterische Hilfen anbieten können. Dagegen können Krankenhäuser mit psychiatrischen Abteilungen eine integrierte medizinisch-psychiatrische Versorgung anbieten. Psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern sind deshalb unter den gegenwärtigen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen am ehesten in der Lage, zureichende Hilfe bei psychiatrischen Krisen- und Notfällen zu leisten. Schwierigkeiten resultieren eher aus der Notwendigkeit einer anschließenden ambulanten Behandlung, die psychiatrische Abteilungen z. T. nur erschwert zu leisten imstande sind.
Nichtärztliche ambulante Versorgung Eine neue Berufsgruppe in der ambulanten Versorgung stellen niedergelassene Ergotherapeuten dar. Anlässlich der Ergänzung der Heil- und Hilfsmittelrichtlinien im Jahr 1990 beschloss der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, die ambulante Verordnung von Beschäftigungs- und Arbeitstherapie auch auf psychische Funktionseinschränkungen auszudehnen. Auf dieser Grundlage hat sich in den letzten Jahren die Zahl ergotherapeutischer Praxen deutlich erhöht. Die Zahl variiert jedoch erheblich von Bundesland zu Bundesland. Dies steht vermutlich mit der unterschiedlichen Abrechnungspraxis in den einzelnen Bundesländern im Zusammenhang. Ein gefestigtes Berufsbild für den ambulant tätigen Soziotherapeuten existiert nicht. Wie für die Ergotherapie gilt aber auch für die ambulante Soziotherapie, dass sie von einem Arzt verordnet werden muss und zeitlich limitiert ist.
39
952
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
39.3.3
Komplementäre und rehabilitative Versorgung
Betreute Wohneinrichtungen
39
Der in den 1970er Jahren eingeleitete Prozess der Umstrukturierung der psychiatrischen Krankenhausversorgung führte zur Übertragung der meisten sozialen Betreuungsaufgaben in den Bereichen Wohnen, Arbeit und Freizeit auf außerstationäre Einrichtungen und Dienste. Bekannt ist, dass seit Beginn der Krankenhausreform zahlreiche Patienten aus anderen Bundesländern in Heime im Schwarzwald verlegt wurden, die infolge der nachlassenden Nachfrage nach Tuberkulosenkrankenhäusern durch deren Umbau entstanden waren (Kunze 1977). Gemeindenahe betreute Wohneinrichtungen standen und stehen bis heute nicht in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung. Eine von Wing (1993) genannte Bedarfsanhaltszahl von etwa 1,5 betreuten Wohnplätzen je 1000 Einwohner wird in der Bundesrepublik Deutschland kaum erreicht. In 2000 standen mit rund 63.000 beschützten Wohnplätzen, was ca. einer Planungszahl von 0,77 Plätzen pro 1000 Einwohner der Bevölkerung entspricht, gerade einmal die Hälfte der für erforderlich gehaltenen Plätze zur Verfügung. Der vollständige Ausbau der außerstationären Versorgung ist bisher nur an wenigen Stellen in der Bundesrepublik modellhaft verwirklicht worden. Dies weist nicht nur auf strukturelle Mängel, sondern möglicherweise auch auf konzeptionelle Mängel hin. Idealerweise wird erwartet, dass im Rahmen vom beschützten Wohnen ein Kontinuum unterschiedlicher Wohnoptionen (mit unterschiedlich intensiver Betreuung) vorgehalten werden sollte. Konzeptionell wird davon ausgegangen, dass die Betroffenen je nach Zustand in verschiedenen Wohnformen platziert werden könnten. In der Realität der Versorgung hat sich allerdings gezeigt, dass die Zuordnung zu verschiedenen Wohnformen eher zufällig erfolgt und die Betroffenen, unabhängig von ihrem Zustand, in der Regel langfristig in der jeweiligen Wohneinrichtung verbleiben, also unabhängig von ihren tatsächlichen Wohnbedürfnissen. In den USA hat sich deshalb zu dem konventionellen Kontinuum ein neues Wohnmodell entwickelt, das sog. Supported Housing, das die Wohn- und Betreuungsnotwendigkeiten voneinander abkoppelt. Dies bedeutet, dass die Intensität der jeweils ambulant erbrachten Leistungen sehr variabel und je nach den Bedürfnissen der Betroffenen vorgehalten werden können (Rössler 2006). Dieses an und für sich sinnvolle Modell wird sich in der deutschen Versorgungsrealität aufgrund der aufgesplitterten Finanzierungsverantwortlichkeiten für die verschiedenen Wohnoptionen vermutlich nur schwer durchsetzen lassen.
Berufliche Eingliederung Auch im Bereich der Hilfen zur beruflichen Eingliederung sind in den vergangenen Jahren viele Initiativen gestartet
worden. Mit großen Erwartungen wurden berufsbegleitende Dienste aufgebaut, Rehabilitationsarbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entwickelt und Selbsthilfefirmen für psychisch Behinderte gegründet. Das dominierende Versorgungsangebot zur beruflichen Rehabilitation sowohl in Hinblick auf berufsvorbereitende Maßnahmen als auch in Hinblick auf beschützte Beschäftigungsmöglichkeiten ist aber nach wie vor die Werkstatt für Behinderte. Von den ca. 200.000 Plätzen in Werkstätten für Behinderte werden ca. 12%, d. h. in etwa 24.000 Plätze, speziell für psychisch kranke Behinderte vorgehalten. Zusätzlich gibt es ungefähr 4000 beschützte Arbeitsplätze in sog. Integrationsfirmen, die meistens mit Nischenangeboten auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben (Salize et al. 2007). Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke. Daneben existieren noch Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke, die in gewissem Umfang die berufliche Rehabilitation psychisch Kranker übernehmen. Berufsbildungswerke dienen der erstmaligen beruflichen Eingliederung v. a. jugendlicher Behinderter. Die Einrichtungen arbeiten z. T. überregional und sind teilweise stationär, z. T. ambulant und teilweise gemischter Art. Rund ein Viertel der Berufsbildungswerke nehmen psychisch Behinderte im Jugendalter bzw. bis zu einem Alter von maximal 30 Jahren auf. Berufsförderungswerke dienen hingegen der Fortbildung und Umschulung von in der Regel bereits berufstätig gewesenen behinderten Erwachsenen. Ihr Angebot ist z. T. überregional und in den meisten Fällen stationär. Etwa 60 der existierenden Berufsförderungswerke nehmen auch psychisch Behinderte auf, dabei z. T. nur nach Einzelfallprüfung. Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke (RPK).
Eines der wesentlichen Probleme der beruflichen Rehabilitation war und ist die aufgesplitterte Finanzierung auf Krankenkassen, Rentenversicherungsträger und Sozialhilfe. Ende der 1980er Jahre haben sich die Finanzierungsträger in einem historischen Kompromiss auf die gemeinsame Finanzierung einer »Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke« (RPK) geeinigt. Die RPK ist ein Komplexleistungsangebot, das berufliche, medizinische und soziale Rehabilitation mit dem Ziel der Wiederherstellung der Arbeitsmarktfähigkeit vereint. Die RPK ist für psychisch Behinderte gedacht, für die die Angebote einer ambulanten, gemeindepsychiatrischen Rehabilitation nicht ausreichend sind. Eine Rehabilitationsmotivation der Betroffenen und eine möglichst günstige Prognose sind Voraussetzungen zur Aufnahme in eine RPK. Die RPKs haben sich relativ zögerlich entwickelt: Im Jahr 2000 gab es insgesamt 42 RPKs mit 827 Plätzen (Fritze et al. 2005).
953 39.3 · System der psychiatrischen Versorgung
Begleitende Hilfen im Arbeitsleben. Für die Gewährung
begleitender Hilfe im Arbeitsleben sind die Hauptfürsorgestellen der Landessozialämter bzw. Landeswohlfahrtsverbände zuständig. Ihre Zuständigkeit resultiert aus einer Erweiterung des Schwerbehindertengesetzes im Jahre 1986, in dem allen Schwerbehinderten ein besonderes Recht auf Beschäftigung und Kündigungsschutz sowie Ansprüche auf begleitende Hilfen im Arbeits- und Berufsleben eingeräumt wurden. Neben der Gewährung finanzieller Mittel gehören zum Spektrum der begleitenden Hilfen auch Beratungs- und Betreuungsangebote, die von Fachdiensten der Hauptfürsorgestellen wahrgenommen werden. Dieser Fachdienst für psychosoziale Betreuung trägt in den meisten Bundesländern die Bezeichnung psychosozialer Dienst. Der gegenwärtig erfolgversprechendste Ansatz zur ambulanten beruflichen Rehabilitation ist das sog. Supported Employment. Supported Employment folgt der Philosophie »first place than train« anstelle der traditionellen beruflichen Rehabilitationsphilosophie »first train than place«. Es hat sich erwiesen, dass dieser Ansatz erfolgreich auch schwerer behinderte psychisch Kranke auf dem ersten Arbeitsmarkt etablieren kann. Darüber hinaus führt Supported Employment zu einer verbesserten sozialen Integration der Betroffenen und damit zu einer Lebensqualitätsverbesserung (Rössler 2006).
Tagesstrukturierende Maßnahmen Die wachsende Zahl in der Gemeinde lebender chronisch psychisch Kranker und Behinderter hat aber gezeigt, dass für einen kleinen Teil der Betroffenen berufliche Rehabilitationsmaßnahmen wenig nützlich, wenn nicht gar schädlich im Sinne einer Rückfallgefährdung durch Überforderung sind. Für diesen Kreis von Patienten fehlen jedoch heute noch ganz überwiegend Einrichtungen wie
⊡ Abb. 39.4. Das gegliederte System der sozialrehabilitativen Versorgung. (Nach Rössler u. Riecher-Rössler 1994)
z. B. Tagesstätten, die der sinnvollen Tagesstrukturierung und Freizeitgestaltung dienen. Im Jahr 2000 gab es gesamthaft 536 Tageszentren in Deutschland mit insgesamt rund 7600 Plätzen, die ein strukturiertes Angebot 5 Tage die Woche vorhalten. Darüber hinaus gibt es ca. 1000 weitere Tageszentren ohne strukturierte Programme (Salize et al. 2007). Die Expertenkommission hat 1988 im Hinblick auf tagesstrukturierende Maßnahmen einen über die Tagesstätte hinausgehenden Strukturvorschlag gemacht. Die Kommission schlägt auf der institutionellen Ebene die Einrichtung sog. gemeindepsychiatrischer Verbunde vor, die neben der Tagesstätte einen ambulant aufzusuchenden Dienst und eine Einrichtung mit Kontaktstellenfunktion umfassen. Die Idee des »gemeindepsychiatrischen Verbundes« hat inzwischen vielerorts Anklang gefunden. Die Verbünde sind häufig über formale Kooperationsverträge zwischen den verschiedenen Leistungsanbietern in einem Versorgungsgebiet – meistens unter Einbezug der stationären Einrichtungen – organisiert.
Differenzierte Angebote Wenn auch die erforderlichen Einrichtungen und Dienste in der komplementär/rehabilitativen Versorgung in vielen Regionen Deutschlands noch nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, so ist die Ausdifferenzierung der Angebote trotzdem bemerkenswert. ! Während zu Anfang der Versorgungsreformen in diesem Bereich nur beschützte Heime und Werkstätten für Behinderte vorhanden waren, verfügen wir heute über ein Spektrum unterschiedlicher Angebote (⊡ Abb. 39.4), das die wachsende Sensibilisierung für eine personenorientierte, anstelle einer einrichtungsorientierten Versorgungsplanung erkennen lässt.
39
954
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
39.4
Spezielle Versorgungsprobleme
39.4.1
Einstellung der Bevölkerung zu psychisch Kranken und deren Versorgung
Aus allen historischen Epochen sind Zeugnisse überliefert, aus denen hervorgeht, dass sich die Normalbevölkerung vor psychisch Kranken fürchtete (Bhugra 1989; Nunally 1961). Diese Furcht war nicht nur auf die »Irren«, »Wahnsinnigen« und »Verrückten« beschränkt, sondern hat sich auf die Orte übertragen, in denen diese sich – freiwillig oder gezwungenermaßen – aufhielten. Die großen psychiatrischen Krankenhäuser, insbesondere diejenigen, deren Gründung aus dem letzten Jahrhundert datiert, haben dieses Erbe ungebrochen übernommen ( Abschn. 11.4). Stereotyp vom »gefährlichen Geisteskranken«. Das Aus-
maß der öffentlichen Toleranz gegenüber psychisch Kranken stand zuletzt im Zusammenhang mit den Attentaten auf die Politiker Lafontaine und Schäuble, die im Jahr 1990 von psychisch kranken Tätern verübt wurden, auf dem Prüfstand. Wie aus mehreren Repräsentativerhebungen hervorgeht, nahm die Ablehnung von psychisch Kranken infolge dieser Ereignisse deutlich zu, und das Stereotyp vom gefährlichen und unberechenbaren Geisteskranken wurde reaktiviert (Angermeyer u. Siara 1994 a, b).
der Bevölkerung wieder geschlossen werden (Baron u. Piasecki 1981). Allerdings äußert sich Bürgerprotest gegen Versorgungseinrichtungen ebenso wie die Ablehnung psychisch Kranker allgemein nicht in allen Bevölkerungsgruppen gleichförmig. Differenzierte Untersuchungen in der Umgebung bereits bestehender Einrichtungen geben Hinweise darauf, dass Art und Intensität des Kontakts, den die Bevölkerung mit psychisch Kranken hat, sich positiv auf deren Einstellungen auswirkt. Ebenso lassen sich auch Zusammenhänge zwischen Qualität und Ausbaugrad der Versorgung und den Einstellungen der Bevölkerung erkennen (Voges u. Rössler 1995; Rössler et al. 1995 b, c; Rössler u. Salize 1995 b, c).
Öffentlichkeitsarbeit ! Grundlage einer dauerhaften Ansehenssteigerung der Psychiatrie mit einer besseren Akzeptanz psychisch Kranker ist somit eine objektive Verbesserung der Versorgung und der Lebensbedingungen psychisch Kranker. Begleitend sind Informationskampagnen in der Öffentlichkeit erforderlich sowie der verantwortliche Einbezug von meinungsbildenden Schlüsselpersonen, sog. »opinion-leaders« (Wilmoth et al. 1987) oder »gate-keepers« (Grausgruber 1989; Schöny u. Grausgruber 1991) in Vorständen und Trägervereinen neu zu errichtender Einrichtungen.
Akzeptanz als Einflussfaktor der Rehabilitation Die Haltung der Bevölkerung zu psychisch Kranken bestimmt jedoch das Gelingen des Konzeptes der Gemeindenähe, indem sie das Lebensumfeld prägt, in das ein psychisch Kranker nach seiner Entlassung zurückkehrt bzw. das er sich neu erschließen muss. Die Akzeptanz und Ablehnung der direkten sozialen Umgebung hat somit Einfluss auf Symptomatik und Rezidivrate, also auf das Gelingen der Rehabilitation (Taylor et al. 1984).
Bürgerprotest gegen geplante Einrichtungen
39
Durch den Ausbau der gemeindenahen Versorgung wird die Bevölkerung in ihrem alltäglichen Leben weit mehr mit psychisch Kranken konfrontiert, als es vor den Reformen der Fall war. Die ambivalente bis ablehnende öffentliche Einstellung gegenüber psychisch Kranken hat sich jedoch nicht in gleichem Maße gebessert, wie Reformen vollzogen wurden. Für die Versorgungsplanung ist dies insofern von Bedeutung, als in der Regel mit massiven Bürgerprotesten gegen die Gründung von Versorgungseinrichtungen wie Wohnheimen, Wohngemeinschaften etc. in Wohngebieten zu rechnen ist. In einigen Gebieten der USA konnten aus diesem Grund rund die Hälfte aller geplanten Einrichtungen nicht eröffnet werden oder mussten aufgrund des massiven Widerstands
39.4.2
Arbeitslosigkeit
Arbeitslosigkeit ist eines der bedeutsamsten Strukturprobleme in den Volkswirtschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Betroffen davon sind alle Wirtschaftssysteme, unabhängig von ihrer ökonomischen oder ideologischen Ausrichtung. Die Entwicklung der Arbeitslosenquote seit Ende der 1970er Jahre signalisiert für die meisten industrialisierten Länder ein stetiges Ansteigen mit einer Stabilisierung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre auf einem Wert von etwa 9–10%. Arbeitslosigkeit bedeutet für die Betroffenen einen fundamentalen Einschnitt in die Lebensplanung und -gestaltung, der mit einer Vielzahl sozialer und gesundheitlicher Begleit- und Folgeerscheinungen verbunden ist. Neben den Auswirkungen auf der nationalökonomischen und politischen Ebene ist Arbeitslosigkeit somit v.a. ein Problem der Sozial- und Gesundheitsversorgung.
Arbeitslosigkeit und psychische Erkrankungen Die Wirkungszusammenhänge zwischen Gesundheit und Arbeitslosigkeit sind vielfältig. Neben der unmittelbaren finanziellen Notlage bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes meist auch den Verlust von mit Arbeit verbunde-
955 39.4 · Spezielle Versorgungsprobleme
nen immateriellen Qualitäten (Sozialstatus), den Verlust der zeitlichen und inhaltlichen Strukturierung des Alltags sowie den Verlust der durch die Arbeit vermittelten sozialen Beziehungen und Unterstützungssysteme (Weyerer 1994; Häfner 1988). Alle diese Aspekte können vermittelt über Lebensführung und Gesundheitsverhalten negativ auf die physische und psychische Gesundheit einwirken.
Wechselwirkungen zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit Häfner (1987, 1988, 1990) beschreibt folgende Wirkungszusammenhänge und Vermittlungsmechanismen: Arbeitsplatzverlust kann direkter Auslöser von Krankheit oder Suizid sein; Arbeitslosigkeit stellt ein indirektes Gesundheitsrisiko als auslösender bzw. begünstigender Faktor erhöhten Konsums von Nikotin, Alkohol oder Drogen dar; soziale Verteilungsprozesse um das knappe Gut Arbeit benachteiligen längerfristig oder chronisch erkrankte Personen. Solche Gruppen können folglich unter den Erwerbslosen überrepräsentiert sein; Arbeitslosigkeit begünstigt Attributionseffekte: Erwerbslosen wird von Ärzten, Angehörigen usw. bei gleicher Symptombelastung wie bei Erwerbstätigen möglicherweise früher ein Krankenstatus zugewiesen; Arbeitsplatzverlust kann in entsprechenden Arbeitsbereichen auch das Entfallen von arbeitsplatzbedingten Gesundheitsrisiken bedeuten. Im Einzelfall kann dies auch positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben.
Kontroverse um Wirkmechanismen Diese Aufstellung macht die vielfältigen Interdependenzen zwischen Gesundheit und Arbeitslosigkeit deutlich. Unbestritten ist, dass ein enger Zusammenhang zwischen seelischen Störungen und Arbeitslosigkeit besteht. Zahlreiche Studien haben entsprechende Zusammenhänge festgestellt. Die Frage der kausalen Verursachung und der Richtung der Wirkzusammenhänge ist jedoch Gegenstand kontroverser Diskussionen. Die Annahme monokausaler Wirkmechanismen gilt heutzutage übereinstimmend als vereinfachte Sichtweise, ohne dass dabei jedoch Konsens über allgemeingültige multifaktorielle Zusammenhangsmodelle erreicht wäre. Untersuchungen im englischsprachigen Raum. Einige der
bekanntesten und umfangreichsten empirischen Studien in diesem Problembereich wurden in den USA von Brenner und seinen Mitarbeitern durchgeführt (Brenner 1967, 1969, 1971, 1973, 1979, 1983). Hier wurde mittels gemeinsamer Analyse von ökonomischen und Gesundheitsdaten bei steigenden Arbeitslosenquoten anhand verschiedener Indikatoren eine Zunahme seelischer Störungen in der Bevölkerung gefunden.
! Ein zeitlich verzögerter Anstieg der Suizidrate sowie eine Zunahme der psychiatrischen Erstaufnahmen bei wachsenden Arbeitslosenquoten gehören in diesem Zusammenhang zu den wichtigsten Einzelergebnissen. Studien mit anderen Ansätzen bestätigen diese Befunde teilweise. Bebbington et al. (1981) zeigten an einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe in London, dass im Vergleich zu Erwerbstätigen sowohl arbeitslose Männer als auch arbeitslose Frauen signifikant häufiger an psychischen Erkrankungen litten. Untersuchungen im deutschsprachigen Raum. Auch im
deutschsprachigen Raum fanden sich ähnliche Zusammenhänge. In der umfangreichen epidemiologisch-psychiatrischen Feldstudie von Weyerer u. Dilling (1984, 1987; Dilling u. Weyerer 1980) wurden bei Arbeitslosen wesentlich häufiger behandlungsbedürftige seelische Erkrankungen festgestellt als bei Erwerbstätigen. Dabei fanden sich auch Hinweise auf Langzeiteffekte, da sich bei Nachuntersuchungen nach 5 Jahren die Rate psychiatrischer Neuerkrankungen bei den Arbeitslosen erhöht hatte. Darüber hinaus zeigte die Nachuntersuchung bei den Arbeitslosen, die bereits bei der Erstuntersuchung psychische Störungen aufwiesen, zu einem sehr hohen Anteil einen chronischen Verlauf der Störung (Weyerer 1994).
Beschäftigungssituation chronisch psychisch Kranker Eine chronische psychische Erkrankung führt viele Betroffene in die Armut. Die schlechte wirtschaftliche Lage chronisch psychisch Kranker wird bei näherer Betrachtung ihrer Beschäftigungssituation deutlich. Müller u. Worm (1987) fanden in einer entsprechenden Untersuchung chronisch psychisch Kranker 16,5% Arbeitslose, 11,9% Sozialhilfeempfänger und 13,9% Frührentner. Insgesamt waren 42,3% der psychisch Kranken im erwerbsfähigen Alter aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden. In der in dieser Studie ebenfalls untersuchten Vergleichspopulation von Gesunden waren es nur 17,2%. Unter den aus dem Arbeitsprozess ausgeschiedenen psychisch Kranken sind die an Schizophrenie erkrankten Personen überdurchschnittlich vertreten. Müller u. Worm (1987) und Kunze (1983) beklagen die bei dieser Patientengruppe deutlich hervortretende Tendenz zu vorzeitigen und übereilten Frühberentungen.
39.4.3
Wohnsitzlosigkeit und psychische Störungen
Die Diskussion um die Ursachen von Wohnsitzlosigkeit ist über lange Zeit hinweg überwiegend psychiatrisch ge-
39
956
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
führt worden. Die lange Zeit postulierten psychopathologischen Ursachen von Nichtsesshaftigkeit (Wilmanns 1904; Schneider 1934) wurden von den Nationalsozialisten zur ideologischen Legitimation der Ermordung Tausender von alleinstehenden Wohnsitzlosen benutzt und missbraucht. Die Diskussion über endogene vs. exogene Ursachen von Wohnsitzlosigkeit und Nichtsesshaftigkeit ist jedoch auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht verstummt und flammt immer wieder auf (Ritzel 1974; Veith u. Schwindt 1976; Goschler 1983; Sperling 1985; Garcia 1986; Locher 1990). Einer der Hauptgründe für diese Diskussion ist der Mangel an gesicherten empirischen Erkenntnissen über die Zusammenhänge zwischen Wohnsitzlosigkeit, sozialer Notlage und psychischer Krankheit.
Zunahme der Wohnsitzlosen Der Mangel an gesicherten empirischen Kenntnissen tritt in der Bundesrepublik Deutschland in verschärfterer Form zutage als etwa in den USA oder in Großbritannien, wo die empirische Wohnsitzlosenforschung einen größeren Stellenwert besitzt. In der Bundesrepublik wird das Problem derzeit in seiner gesamten Dimension noch nicht angemessen wahrgenommen, obwohl der Problemdruck in den letzten Jahren deutlich angewachsen ist. Die wenigen verfügbaren Datenquellen vermerken einen deutlichen Anstieg der Zahl Wohnsitzloser in Deutschland in den letzten Jahren. Einige regionale Schätzungen und Zählungen (Iben 1989; LWV Baden/LWV WürttembergHohenzollern 1993) deuten auf eine Rate von etwa 0,17– 0,18% der Gesamtbevölkerung hin. Will man sich bei aller Unübersichtlichkeit der Lage trotzdem auf quantitative Werte stützen, so scheinen diese Zahlen noch die beste Annäherung oder Schätzungsgrundlage für die alten Bundesländer zu sein. Jedoch ist die Situation von einer solchen Dynamik gekennzeichnet, dass jede Schätzung sehr schnell veraltet. Driessen u. Dilling (1997) konstatieren z. B. 1996 in Schleswig-Holstein eine Rate von etwa 1% Wohnsitzloser in der Allgemeinbevölkerung. Steigender Problemdruck. Wohnungsmangel und Ar-
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beitslosigkeit lassen das in den vergangenen Jahren latent vorhandene Problem psychisch kranker Wohnsitzloser in der Bundesrepublik Deutschland zu einem akuten Problem werden. Die für die psychiatrische Versorgung bedeutsamste Gruppe Wohnsitzloser sind die sog. alleinstehenden Wohnsitzlosen. Darüber sollten andere große Gruppen Wohnsitzloser, die für die psychiatrische Versorgung von Belang sein können, wie z. B. alleinerziehende Mütter oder große Familien, nicht vergessen werden.
Mangelhafte Datenlage Für eine angemessene institutionelle Antwort auf diese sozial- und gesundheitspolitische Herausforderung man-
gelt es jedoch bereits an solch fundamentalen Daten wie die Zahl der Betroffenen. Zählungen oder Hochrechnungen für die Gruppe der »alleinstehenden Wohnsitzlosen« unterliegen der Schwierigkeit, dass sie sich auf Erhebungen der Hilfeeinrichtungen für Wohnsitzlose stützen müssen. Jedoch bei weitem nicht alle diese Einrichtungen registrieren Zahl, Kontakte oder Besuche ihrer Klientel. Darüber hinaus gibt es unter den Wohnsitzlosen einen bestimmten Anteil, der Hilfeeinrichtungen völlig meidet und sich somit jeder Erfassungsmöglichkeit entzieht. Schätzungen der Größe dieser Gruppe reichen von »sehr gering« bis zu einem Drittel der Gesamtgruppe. Die institutionellen Reformmaßnahmen im Bereich der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik sind an der Randgruppe der Wohnsitzlosen weitgehend vorbeigegangen. In den wissenschaftlich begleiteten Modellprogrammen, die in den 1970er und 1980er Jahren in großem Umfang die Prüfung von Versorgungsinstitutionen für psychisch Kranke zum Ziel hatten, fanden die alleinstehenden Wohnsitzlosen keine Berücksichtigung (Rössler et al. 1987; BMJFFG 1988). Wohnsitzlose und stationäre Behandlung. Der Anteil der
psychisch kranken Wohnsitzlosen, die in den vergangenen Jahrzehnten aus stationärer Behandlung in die Wohnsitzlosigkeit entlassen wurden, ist aufgrund der besonderen historischen Umstände in der Bundesrepublik wahrscheinlich geringer als in den USA. Allerdings ist zu vermuten, dass der Anteil enthospitalisierter psychisch Kranker unter den Wohnsitzlosen auch in Deutschland wächst (Wessel et al. 1997). Dagegen dürfte eine relativ große Gruppe besonders schwierig zu behandelnder psychiatrischer Patienten unter den Wohnsitzlosen in der Bundesrepublik zu finden sein, die jeglichen Kontakt zu dem konventionellen medizinischen und sozialen Hilfesystem meiden. Verfügbare Studien. Eine quantitative Abschätzung des
Anteils psychisch Kranker unter den Wohnsitzlosen in der Bundesrepublik kann sich nur auf wenige Einzelstudien stützen, die in der jüngsten Vergangenheit durchgeführt worden sind. Diese Studien beschränken sich weitgehend auf die Ermittlung von Morbiditätsraten und unterliegen z. T. methodischen Mängeln, die bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen (u. a. selektive Stichproben, unterschiedliche und z. T. ungenügende psychiatrische Diagnosestellung).
Hilfen für Wohnsitzlose und psychisch kranke Wohnsitzlose in der Bundesrepublik Deutschland Die Regelung des Hilfeangebots für alleinstehende Wohnsitzlose erfolgt nach dem Bundessozialhilfegesetz. Psychiatrische Hilfen können nur Einrichtungen für Wohn-
957 39.4 · Spezielle Versorgungsprobleme
sitzlose und auch nur im Rahmen einer allgemeinen medizinischen Beratung leisten. Diese Hilfen bestehen häufig nur in einer Weitervermittlung an spezialisierte psychiatrische Facheinrichtungen. Neben den quantitativen Defiziten macht sich somit auch ein qualitatives Defizit bemerkbar, das aus der Struktur des deutschen Sozial- und Gesundheitswesens resultiert. Beide Bereiche stellen deutlich voneinander getrennte Versorgungssysteme dar und sind in sich selbst in eine Vielzahl kleinerer Einrichtungen zersplittert. Der Bereitstellung psychiatrischer Hilfen in den Einrichtungen der Wohnsitzlosenhilfe sind damit nicht nur finanzielle, sondern auch strukturellinstitutionelle Grenzen gesetzt. Kostenerstattung für medizinische Versorgung. Als Vor-
teil erweist sich jedoch, dass im Gegensatz etwa zu den USA die Inanspruchnahme der medizinischen Versorgungssysteme in der Bundesrepublik auch für Wohnsitzlose nicht an eine bestehende Krankenversicherung gebunden, sondern – falls kein Krankenversicherungsschutz besteht – durch die Rechtsverpflichtung der Sozialhilfe zu subsidiärer Kostenerstattung faktisch kostenfrei ist. Die Inanspruchnahme medizinischer Hilfen erfordert allerdings Krankheitseinsicht und Eigeninitiative, wobei es aber Wohnsitzlosen häufig gerade hieran aus verschiedenen Gründen besonders mangelt. Keine Präventivmaßnahmen. Aus der Sichtweise der Ge-
sundheitsversorgung stellt sich das Problem der psychisch kranken Wohnsitzlosen in der Bundesrepublik Deutschland v. a. als ein Versorgungsproblem dar. Aufgrund der sozialen Genese der Problematik und der Komplexität der Wirkungszusammenhänge übersteigt die Durchführung geeigneter Präventivmaßnahmen Kompetenz, Verantwortung und Leistungsfähigkeit der Gesundheits- und insbesondere der psychiatrischen Versorgung. Überforderung der Wohnsitzlosenhilfe. Dagegen fällt die
Bereitstellung bedarfsgerechter, spezialisierter Einrichtungen in ausreichenden Kapazitäten durchaus in den Zuständigkeitsbereich des Gesundheitswesens. Eine Unterkunft zu haben, ist für chronisch psychisch kranke Menschen eine Grundvoraussetzung, um selbstständig und eigenverantwortlich zu leben. Gegenwärtig tragen die Einrichtungen der allgemeinen Wohnsitzlosenhilfe in Deutschland den größten Teil der Problemlast. Sie fungieren als Vorfeldeinrichtung der psychiatrischen Versorgung von Wohnsitzlosen, sind jedoch nur in seltenen Fällen dafür ausgestattet. Existenzsicherung der Klientel steht bei der Arbeit der Hilfeeinrichtungen im Vordergrund. Darüber hinausgehende, spezialisierte Hilfen können angesichts der Struktur und der Personalausstattung der Einrichtungen nur unzureichend oder gar nicht geleistet werden. Die Einrichtungen der Wohnsitzlosenhilfe
sind in der Versorgung der Mehrzahl der auftretenden psychischen Störungen überfordert. Das Alkoholproblem nimmt in diesem Zusammenhang eine besonders herausgehobene Stellung ein. Wohnsitzlosenhilfe in der Bundesrepublik aber als spezialisierte und qualifizierte Suchthilfe zu sehen, kommt einem Etikettenschwindel gleich (Rieger u. Wesel 1992). Das Problembewusstsein ist bei den professionellen Helfern aufgrund ihrer täglichen Praxiserfahrung in den Hilfeeinrichtungen groß (Kujat 1991). Konzeptionelle Überlegungen zur Weiterentwicklung der Wohnsitzlosenhilfe berücksichtigen dagegen das Problem der psychiatrischen Versorgung Wohnsitzloser derzeit kaum. Dies ist natürlich nicht geeignet, die künftigen Probleme, die im Zusammenhang mit Wohnsitzlosigkeit und psychischen Erkrankungen in der Bundesrepublik Deutschland zu erwarten sind, in den Griff zu bekommen. Die wenigen verfügbaren Prävalenzdaten signalisieren über die Suchtproblematik hinaus bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen erheblichen, mit großer Wahrscheinlichkeit weithin ungedeckten psychiatrischen Versorgungsbedarf.
39.4.4
Krankenhausmortalität
Die lange Tradition von Mortalitätsuntersuchungen in der Psychiatrie, die bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurückreicht, belegt übereinstimmend ein erhöhtes Mortalitätsrisiko psychisch Kranker gegenüber der Allgemeinbevölkerung. Schwerpunkte solcher Untersuchungen lagen v. a. in Großbritannien, Skandinavien und den USA (Ödegard 1936; Saugstadt u. Ödegard 1979; Allebeck u. Wistedt 1986; Craig u. Lin 1981). Häfner u. Bickel (1989) zeigen in einer Übersicht, dass diese Befunde nicht nur anhand von Untersuchungen an Krankenhauspopulationen oder Stichproben aus Pflegeeinrichtungen – wo entsprechende Daten leicht gesammelt werden konnten – gewonnen wurden, sondern sich auch in Feldstudien unabhängig von der Inanspruchnahme psychiatrischer Einrichtungen bestätigten. Mortensen und Juel (1993) konnten in einer jüngeren Untersuchung die Todesursachen bei ersthospitalisierten schizophrenen Patienten nach Krankheitsbildern aufschlüsseln und nach Geschlechtern getrennt mit den Raten der Allgemeinbevölkerung vergleichen. Dabei wurde ebenfalls die generell erhöhte Mortalitätsrate dieser Patientengruppe gegenüber der Allgemeinbevölkerung ersichtlich, wobei dazu v. a. das stark erhöhte Risiko für schizophren Erkrankte beiträgt, an Suizid zu versterben. Im deutschsprachigen Raum sind hierzu nur wenige empirische Untersuchungen durchgeführt worden. Lediglich die Untersuchungen von Schwalb et al. (1987) und Hewer et al. (1991) haben fundiertere Ergebnisse zur Mortalität psychisch Kranker erbracht. Beide Studien wurden
39
958
Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
an Krankenhauspopulationen durchgeführt. Bezüglich der Krankenhausmortalität in Deutschland bei Patienten mit funktionellen Störungen konnte eine gegenüber der Allgemeinbevölkerung signifikant erhöhte Mortalität der Patienten (⊡ Abb. 39.5) festgestellt werden (Hewer et al. 1995).
Kliniksuizide Beim gehäuften Auftreten von Suiziden bei psychisch Kranken kommt dem sog. Kliniksuizid eine eigene Bedeutung zu. Die Gefährdung während stationärer psychiatrischer Behandlung ist erschreckend hoch. Die Auswertung der Daten von 475 Patienten eines Landeskrankenhauses ergab bei 38 suizidale Krisen oder Handlungen (Schmölzer et al. 1990). In Deutschland ist bei etwa jedem 10. Suizidopfer ein enger zeitlicher Zusammenhang mit einer stationären oder ambulanten psychiatrischen Behandlung gegeben. Das Risiko ist besonders groß für die Patienten, die an Psychosen leiden. ! Jeder zehnte Patient, der mit der Diagnose einer affektiven oder schizophrenen Psychose mindestens einmal stationär behandelt wurde, verstirbt durch Suizid (Milch u. Putzke 1994). Dabei findet nur etwa ein Drittel aller Kliniksuizide auf der Station statt. Außerhalb vorgenommene Suizidhandlungen geschehen häufig bei unerlaubter Entfernung. Ein erhöhtes Suizidrisiko ist ebenfalls während Wochenendurlauben zu verzeichnen sowie in den sich unmittelbar an die Entlassung anschließenden Phasen. Kliniksuizide nehmen weltweit zu. In der Bundesrepublik zeigt die Analyse von Daten aus 4 psychiatrischen Landeskliniken, dass sich die Selbsttötungsrate zwischen
⊡ Abb. 39.5. Standardisierte Mortalitätsraten: Alle Todesursachen insgesamt bei stationär behandelten psychiatrischen Patienten. (Aus Hewer et al. 1995) *p<0,05, **p<0,01, ***p<0,001
39
1970 und 1984 nahezu verdoppelt hat, nämlich von 103,7 auf 204,0 pro 100.000 Aufnahmen. Beim Versuch, die Suizidgefährdung für Personen mit stationär-psychiatrischen Vorerfahrungen zu quantifizieren, errechnete Köhler (1985) ein gegenüber dem Bevölkerungsmittel 50fach erhöhtes Risiko. Innerhalb dieser Risikopopulation ist das größte Gefährdungspotenzial bei den jüngeren schizophrenen Patienten auszumachen. Einfluss von Unterbringungsart und Verweildauer. Die
wachsende Zahl von Kliniksuiziden ist im Zusammenhang mit der steigenden Aufnahmerate und kürzeren Verweildauer in stationär-psychiatrischer Behandlung zu sehen (Ritzel 1989; Wolfersdorf et al. 1988; Lutz u. Reuhl 1994). Sie kann somit als Effekt des Bedeutungswandels der stationär-psychiatrischen Behandlung innerhalb der Reform zur gemeindepsychiatrischen Versorgung interpretiert werden. Kliniksuizide werfen die Frage möglicher Präventions- und Behandlungsansätze für suizidale Patienten auf. Finzen (1988) sowie Heinrich u. Klimke (1990) konnten in diesem Zusammenhang einen Effekt der Unterbringungsart (offen oder geschlossen) nicht nachweisen. In ihren Untersuchungen ließ sich bei Suiziden auf offenen Stationen im Nachhinein keine zwingende Notwendigkeit einer geschlossenen Unterbringung der betroffenen Patienten nachweisen.
Suizidprävention Vor dem Hintergrund der multifaktoriellen Genese der Suizidalität gibt es keine allgemein akzeptierten Strategien der Prävention. Voraussetzung für Suizidprophylaxe
959 Literatur
ist eine valide Abschätzung der Suizidgefährdung. Finzen (1988) schlägt hierfür ein kombiniertes Verfahren vor, das aus einer routinemäßigen Prüfung klinischer Kriterien durch den Arzt oder das Pflegepersonal besteht und durch die standardisierte Erfassung eines »Basisrisikos« (s. Übersicht), das eine latente Suizidgefährdung anzeigt, ergänzt wird (Finzen 1988; Milch u. Putzke 1994). Die routinemäßige Erfassung eines Basisrisikos bei psychisch Kranken wird allerdings kontrovers diskutiert, weil sie nicht geeignet erscheint, eine situativ auftretende Suizidalität festzustellen (Milch u. Putzke 1994).
Faktoren des »Basisrisikos« für Suizidalität. (Nach Finzen 1988)
Vorausgegangene Suizidversuche Depressive oder schizophrene Psychosen Mehrere Aufnahmen im Zeitraum von 3 Monaten Fehlende Lebensperspektiven im sozialen/ persönlichen Bereich Besondere Belastungen und/oder lebensverändernde Ereignisse
können. Zumindest in den 1990er Jahren wurde der Abbau von Betten in der psychiatrischen Versorgung durch eine wesentliche Aufstockung des Personals in psychiatrischen Kliniken oder Abteilungen kompensiert. Weitere Entwicklungen im Hinblick auf eine gemeindenahe Versorgung stehen unter der Einschränkung, dass es keine Möglichkeiten gibt, die Klinikbudgets in den ambulanten Sektor zu verlagern. Darüber hinaus werden die dringend erforderlichen Entwicklungen im außerstationären Bereich durch die intensive Kostendiskussion im Gesundheitswesen allgemein behindert. Es ist schwer vorstellbar, dass in einem Gesundheitssystem, das gegenwärtig einem enormen Kostendruck ausgesetzt ist, gerade in der psychiatrischen Versorgung vermehrt Versorgungsangebote auf- und ausgebaut würden. Hinzu kommt, dass von vielen Beteiligten die psychiatrische Versorgung als »Sonderfall« der Gesundheitsversorgung betrachtet wird. So wurden in der stationären psychiatrischen Behandlung keine Fallpauschalen eingeführt, während in allen sonstigen medizinischen Fächern die Fallpauschalen flächendeckend eingeführt worden sind.
Literatur 39.4.5
Kosten der Versorgung psychisch Kranker
Psychische Störungen gehören nicht nur für Betroffene, sondern auch für die Volkswirtschaft zu den bedeutsamsten und einschneidendsten Krankheiten überhaupt. Für Deutschland wissen wir, dass die direkten Behandlungs- und Versorgungskosten für psychische Erkrankungen ca. 22,4 Mrd. Euro in 2002 betragen haben (Statistisches Bundesamt 2004). Dies entspricht ca. 10% des gesamten Gesundheitsbudgets in Deutschland von 223,6 Mrd. Euro. Für die Behandlung Schizophreniekranker werden 2,8 Mrd. Euro aufgewendet, für die Behandlung der Demenz 5,6 Mrd. und 3 Mrd. Euro für Suchterkrankungen. Es wurden 4 Mrd. für depressive Störungen und 7 Mrd. für andere psychische Störungen ausgegeben (Statistisches Bundesamt 2004). Nach einer anderen Untersuchung wurden im Jahr 2000 ca. 13 Mio. Euro pro 100.000 der Bevölkerung für die Versorgung psychischer Erkrankungen ausgegeben. Zwei Drittel der Ausgaben werden von den Krankenkassen getragen, und die Finanzierung des letzten Drittels erfolgt durch die Sozialhilfe (Melchinger et al. 2003).
Kosten gemeindenaher Versorgung vs. Kosten Krankenhausbehandlung Zu Beginn der psychiatrischen Reformen in der Bundesrepublik Deutschland gab es keine Kostenanalysen, die die möglichen Kosteneinsparungen durch die Schließung der Vielzahl psychiatrischer Betten hätte belegen
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Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
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Kapitel 39 · Versorgungsstrukturen
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40 40 Integrierte Versorgung/Disease Management W. Kissling
40.1
Hintergrund und Ziele – 964
40.2
Beispiel für eine Integrierte Versorgung: »Münchner Modell« – 967
40.3
Grundlegende Bewertung Literatur – 969
> > Integrierte Versorgung ist eine neue, vom Gesetzgeber geförderte, sektorenübergreifende Versorgungsform. Sie soll zu einer stärkeren Vernetzung der verschiedenen Fachdisziplinen und Sektoren (Hausärzte, Fachärzte, Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen) führen, die Qualität der Patientenversorgung verbessern und die Gesundheitskosten senken. Disease-Management-Programme sollen Patienten, die unter chronischen Krankheiten leiden, durch eine gut abgestimmte, kontinuierliche Behandlung vor Komplikationen und Rückfällen bewahren. In diesen Programmen sollen Haus- und Fachärzte sowie Krankenhäuser und Rehabilitationseinrichtungen koordiniert zusammenarbeiten und eine evidenzbasierte Therapie anbieten. Mittelfristig sollen dadurch die Behandlungsqualität verbessert und die Kosten einer Erkrankung gesenkt werden.
– 969
964
Kapitel 40 · Integrierte Versorgung/Disease Management
Die oben aufgeführten Definitionen zeigen, dass es zwischen Integrierter Versorgung (IV) und Disease-Management-Programmen (DMP) sehr viele Gemeinsamkeiten gibt. Der Hauptunterschied zwischen beiden besteht in der Finanzierung. Während die Finanzmittel für die IV aus den Budgets aller Krankenhäuser und niedergelassenen Ärzte abgezogen und danach an erfolgreiche Antragsteller ausgezahlt werden, werden die DMP über den Risikostrukturausgleich der Krankenkassen finanziert. Ziele und Inhalte beider Versorgungsformen sind aber sehr ähnlich, weshalb beide hier gemeinsam abgehandelt werden. Da es bis jetzt noch keine DMP mit psychiatrischen Indikationen gibt, beziehen sich die hier beschriebenen praktischen Beispiele überwiegend auf integrierte Versorgungsmodelle.
40.1
Hintergrund und Ziele
Ausgangspunkt für die Suche nach neuen Versorgungsformen wie IV oder DMP ist der seit Jahrzehnten von Gesundheitspolitikern beklagte sog. »Efficacy-EffectivenessGap«. Dieser Begriff beschreibt die Tatsache, dass die Umsetzung wissenschaftlicher Evidenz in der Routineversorgung häufig mit großer zeitlicher Verzögerung und oft nur unvollständig erfolgt. So haben zahlreiche Studien gezeigt, dass es in der Regel ca. 10 Jahre dauert, bis gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse flächendeckend in der Regelversorgung umgesetzt werden. ! Dieses Implementierungsdefizit führt dazu, dass Patienten schlechter behandelt werden, als es nach dem aktuellen Wissensstand möglich wäre und dass die dabei erreichten Behandlungsergebnisse hinter den eigentlich erreichbaren zurück bleiben. Efficacy-Effectiveness-Gap. So ergab eine repräsentative
Untersuchung an mehr als 6700 nordamerikanischen Patienten mit 30 verschiedenen Erkrankungen (darunter auch Depression), dass im Durchschnitt nur ca. 55% der Patienten die bei der jeweiligen Erkrankung indizierte Therapie tatsächlich auch erhielten (McGlynn et al. 2003). Dieser, auch für die Behandlung deutscher psychiatrischer Patienten mehrfach bestätigte (Kissling u. Seemann 2006) »Efficacy-Effectiveness-Gap« hat natürlich viele verschiede Ursachen (⊡ Abb. 40.1). Er hängt u. a. mit ⊡ Abb. 40.1. Ursachen des Efficacy-Effectiveness-Gap
Patienteneigenschaften (wie z. B. Compliance) zusammen, aber auch mit den Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems (verfügbare Ressourcen) und natürlich auch mit den in den Gesundheitsberufen tätigen Personen und deren Ausbildung und Qualitätsbewusstsein. Eine Ursache für Qualitätsdefizite sehen viele auch in der strengen Abschottung der verschiedenen Behandlungssektoren. Insbesondere die organisatorischen und budgetären Grenzen zwischen dem ambulanten und dem stationären Behandlungssektor können zu Kommunikationsdefiziten zwischen den Behandlern, zu Doppeluntersuchungen und zu Abstimmungsdefiziten bei der Weiterbehandlung der Patienten führen, was wiederum zu einer suboptimalen Therapie und zu vermeidbaren Kosten führt. Um nun die niedergelassenen Ärzte und die Krankenhäuser zu motivieren, durch neue, sektorenübergreifende Versorgungsformen diese Qualitätsprobleme abzubauen, hat der Gesetzgeber in Deutschland eine Reihe finanzieller Anreize geschaffen. In entsprechenden Gesetzen zur IV und zu DMP werden eine extrabudgetäre Anschubfinanzierung bzw. zusätzliche Honorare für Programme angeboten, die dazu beitragen, die genannten Probleme – insbesondere an den Schnittstellen zwischen den Behandlungssektoren – abzubauen. Dass mit solchen Programmen Qualitätsverbesserungen erreicht werden können, wurde bereits in zahlreichen Studien – auch für psychische Erkrankungen – nachgewiesen (Badamgarav et al. 2003). Es ist allerdings noch nicht ausreichend untersucht worden, wie kosteneffektiv diese Programme sind.
Gesetzliche und finanzielle Rahmenbedingungen Am 1.1.2004 ist in Deutschland als Teil der Gesundheitsreform das Gesetz zur Integrierten Versorgung (§140 SGB V) in Kraft getreten (ähnliche Gesetze gelten auch in Österreich und der Schweiz; Peinhaupt u. Nowak 2005; Hildebrandt 2001) Dieses Gesetz eröffnet den Kliniken, den Rehabilitationseinrichtungen und den niedergelassenen Ärzten die Möglichkeit, zusätzlich zu den geltenden Budgets eine Anschubfinanzierung für neue sektorenübergreifende Versorgungsmodelle zu erhalten. Hierfür werden – für alle medizinischen Fachgebiete zusammen – ca. 2,1 Milliarden € zur Verfügung gestellt. In Anbetracht der Häufigkeit und der ökonomischen Bedeutung psychischer Erkrankungen stehen davon ca. 10%, d. h. ca. 210 Mio. €, als Anschubfinanzierung für psychiatrische
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40
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965 40.1 · Hintergrund und Ziele
Versorgungsmodelle bereit. Damit ließen sich bundesweit mindestens 200 Modellprojekte über 2 Jahre hinweg finanzieren. Bisher wurden allerdings von psychiatrischen Antragstellern nur ca. 5% dieser ihnen eigentlich zustehenden Gelder abgerufen (Kissling 2006). Während im Rahmen der Integrierten Versorgung Anträge zu allen Indikationen gestellt werden können, werden die Indikationen bei DMP vom Gesetzgeber vorgegeben. Bisher sind darunter noch keine psychiatrischen Indikationen, als eine der nächsten Indikationen ist allerdings die Depression im Gespräch. Auslaufen der Anschubfinanzierung. Dass es die psy-
chiatrischen Leistungserbringer bisher versäumt haben, erfolgreiche Anträge zu stellen, hat – über den kurzfristigen finanziellen Verlust hinaus – auch langfristig negative Folgen. Denn nach Auslaufen der Anschubfinanzierung (voraussichtlich Ende 2008) werden die Kostenträger alle bis dahin finanzierten integrierten Modellprojekte evaluieren und die erfolgreichen Versorgungsmodelle dann im Rahmen der Regelversorgung dauerhaft weiter finanzieren. ! Wenn aber aus dem Bereich der Psychiatrie kaum Modellverträge abgeschlossen wurden, dann kann 2008 auch kein psychiatrisches Versorgungsmodell evaluiert und in die Regelversorgung überführt werden. Damit wäre eine – sich wohl nicht so schnell wieder bietende – Chance vertan worden, neue Versorgungsformen für psychiatrische Patienten zu entwickeln und auf Dauer im Rahmen der psychiatrischen Regelversorgung zu finanzieren. Da die Frist für die Antragstellung voraussichtlich noch einmal verlängert werden wird, sollen im Folgenden die wichtigsten Informationen über diese neuen Finanzierungsmöglichkeiten dargestellt werden. Es soll gezeigt werden, wie man – z. B. durch den Beitritt zu einem bereits genehmigten IV-Vertrag – eine Anschubsfinanzierung mit vertretbarem Aufwand erreichen kann. Über diesen aktuellen gesundheitspolitischen Bezug hinaus soll gezeigt werden, warum ein integriertes Versorgungsmodell im Bereich der Psychiatrie besonders sinnvoll ist und wie ein solches Programm inhaltlich aussehen könnte. Eine ausführlichere Darstellung der gesetzlichen Rahmenbedingungen der Integrierten Versorgung und der erfolgreichsten Strategien für einen Vertragsabschluss finden sich u. a. bei Kissling (2004, 2006).
Integrierte Versorgung – gesetzliche Vorgaben Was bei der Integrierten Versorgung inhaltlich im Einzelnen gemacht werden soll, hat der Gesetzgeber im § 140 des Sozialgesetzbuches V nur relativ vage beschrieben. Es wird dort nur gesagt, dass die Krankenkassen mit den in § 140b Abs. 1 genannten Vertragspartnern (z. B. Kliniken,
Rehabilitationseinrichtungen, Niedergelassenen) Verträge über eine »verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung der Versicherten oder eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung« abschließen können. Die Ziele dieser neuen Versorgungsform sind mehr oder weniger die gleichen wie bei der üblichen Regelversorgung, nämlich die »qualitätsgesicherte, wirksame, ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung« der Versicherten. Diese sehr allgemein gehaltene Definition von Inhalten und Zielen der Integrierten Versorgung macht es möglich, dass man prinzipiell für fast alle Versorgungskonzepte eine Anschubfinanzierung beantragen kann, so lange es sich um eine sektorenübergreifende oder fachübergreifende Versorgung handelt. Aus der bisherigen Bewilligungspraxis kann man allerdings ersehen, dass die Krankenkassen (die alleine über die Bewilligung der Anschubfinanzierung entscheiden) Anträge bevorzugen, die ihnen eine Kostenreduktion und/oder eine Steigerung der Behandlungsqualität versprechen. Psychiatrische Modellprojekte. Verträge für psychiatri-
sche Modellprojekte wurden bisher nur sehr selten abgeschlossen. Offensichtlich haben sich die Krankenkassen anfänglich mit psychiatrischen Anträgen besonders schwer getan, deren – auch ökonomische – Relevanz unterschätzt und deshalb bis zu 90% der Anträge – oft ohne eingehende Prüfung – abgelehnt. Darüber hinaus wurden aber auch von den psychiatrischen »Leistungserbringern« (Kliniken, Niedergelassenen, Reha-Einrichtungen) wesentlich weniger Anträge gestellt, als dem Anteil psychiatrischer Patienten an der medizinischen Gesamtversorgung entspricht. Viele potenzielle Antragsteller aus der Psychiatrie waren offenbar nicht bereit oder nicht in der Lage, die Vorleistungen zu erbringen, die erforderlich sind, um das in § 140 SGB V geforderte innovative Versorgungsmodell sektorenübergreifend zu entwickeln, erfolgreich zu implementieren und in einem überzeugenden Antrag den Kassen schmackhaft zu machen (Kissling 2004, 2006). Dies ist umso bedauerlicher, da die chronisch-rezidivierenden psychischen Erkrankungen mit ihrem sektorenübergreifenden Versorgungsbedarf geradezu prädestiniert für die Integrierte Versorgung erscheinen. Möglicherweise bekommt die Psychiatrie aber noch einmal eine zweite Chance, Anträge zu stellen. Obwohl die Zeit für die Anschubfinanzierung ursprünglich Ende 2006 auslaufen sollte, wird die Modellphase nochmals bis mindestens Ende 2008 verlängert. Somit ist es vermutlich für die Krankenkassen noch nicht zu spät, ihre restriktive Begutachtungspraxis gegenüber psychiatrischen Anträgen zu überdenken. Und auch die psychiatrischen Leistungserbringer können wahrscheinlich noch rasch eine Anschubfinanzierung für ein innovatives psychiatrisches Versorgungsmodell beantragen. Was bei einer solchen Antragsstellung im Einzelnen zu beachten ist, wurde an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Kissling 2004,
40
966
Kapitel 40 · Integrierte Versorgung/Disease Management
2006) und soll im Folgenden kurz zusammengefasst werden.
Integrierte Versorgung – Voraussetzungen für Antragsstellung Zeitlicher und organisatorischer Aufwand. Konzeptent-
wicklung, organisatorische Vorbereitungen und praktische Implementierung eines IV-Modells sind aufwändiger, als man vielleicht auf den ersten Blick denken mag. Durchschnittlich dauern die Vorbereitungsarbeiten, die Antragsformulierung und die Verhandlungen mit den Krankenkassen ca. 18 Monate und binden etwa 9 Arztmonate an Manpower. Und auch nach Vertragsunterzeichnung müssen nochmals mehrere Monate in die konkrete Organisation des neuen Versorgungsmodells, in die Entwicklung der Dokumentation und Evaluation, in die Organisation der Abrechnungen etc. investiert werden. Und da die meisten Krankenkassen nicht zu Vorauszahlungen bereit sind, dauert es auch nach Einschluss der ersten Patienten nochmals mindestens 3 Monate, bis die ersten Zahlungen von den Kostenträgern eintreffen. Für eine erfolgreiche Antragstellung muss man also Vorinvestitionen z. B. an Manpower in der Größenordnung von mindestens 50.000 € erbringen. Wenn man zu diesen Vorleistungen bereit ist, sollte man als Nächstes genau prüfen, ob man die erforderlichen Voraussetzungen für eine Antragstellung erfüllt (Kissling 2004, 2006).
40
Die bisher gemachten praktischen Erfahrungen zeigen, dass insbesondere folgende Voraussetzungen erfüllt sein sollten: Alle Teilnehmer an der Integrierten Versorgung haben die Fähigkeit zur sektorübergreifenden, kollegialen Zusammenarbeit und sind bereit, ausreichend Zeit in die Rekrutierung der Patienten, in die Dokumentation und in die korrekte Durchführung der Interventionen zu investieren. Eine ausreichende Zahl von Patienten der gewählten Indikation (n > 300) kann innerhalb von 6–12 Monaten zur aktiven Teilnahme an der Integrierten Versorgung motiviert werden. Mit dem geplanten Versorgungsmodell können tatsächlich die Behandlungsqualität verbessert und die Gesamtkosten gesenkt werden (Voruntersuchungen?). Die spätere Übernahme des Versorgungsmodells in die Regelversorgung erscheint möglich. Die Kosten für alle Beteiligten sind realistisch und transparent kalkuliert worden und die Anschubfinanzierung deckt zumindest diese Kosten. Die Klinikverwaltung ist bereit, die erforderlichen Rahmenbedingungen (Bereitstellung von Räumen, Vorfinanzierung der Manpower etc.) zu schaffen. Es besteht Einvernehmen unter allen Beteiligten über Art und Ausmaß der Dokumentation, der Erfolgsbeurteilung und der Qualitätssicherung.
Fehlermöglichkeiten. Die Erfahrungen aus den zurücklie-
genden 4 Jahren seit Inkrafttreten des § 140 SGB V zeigen, dass ein IV-Antrag nur Sinn macht, wenn alle oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Die häufigsten Fehler, die in diesem Zusammenhang bisher gemacht wurden, waren folgende: Indikationen oder Versorgungsmodelle zu wählen, bei denen keine ausreichenden Kostensenkungen und/oder Qualitätsverbesserungen erreicht werden können, Überschätzung der tatsächlich erreichbaren Rekrutierungszahlen, Fehlen von effizienten Management- und Monitoringstrukturen, die ausreichende Rekrutierungszahlen und die Qualität der Dokumentation und der Interventionen sicherstellen, zu komplexe und zu aufwändige Versorgungsmodelle. Versorgungsmodelle zu beantragen, bei denen bereits bestehende Versorgungsangebote (z. B. in Institutsambulanzen, Rehabilitationseinrichtungen) als Integrierte Versorgung umetikettiert werden, erscheint aus mehreren Gründen nicht sinnvoll. Zum einen, weil die Krankenkassen nicht bereit sind, für inhaltlich ähnliche Leistungen doppelt zu bezahlen und man deshalb mit derartigen Anträgen nur bewährte Versorgungsstrukturen ersetzen würde, ohne zusätzliche Finanzmittel zu bekommen. Zum anderen können durch solche Modelle auch nicht die geforderten Qualitätsverbesserungen oder Kostensenkungen im Vergleich zur jetzigen Regelversorgung erreicht werden. ! Der häufigste Fehler ist aber, dass in der Planungseuphorie die später tatsächlich erreichbaren Rekrutierungszahlen überschätzt werden. Wenn dann später deutlich weniger Patienten als geplant in das Programm eingeschlossenen werden, kommt es wegen der fehlenden Fallhonorare rasch zu einer Unterfinanzierung, an der das gesamte Projekt scheitern kann. Um das zu vermeiden, sollte man so früh wie möglich Proberekrutierungen durchführen, bei denen sich zeigt, wie viele Patienten tatsächlich zum Einschreiben in ein Programm motiviert werden können. Einige psychiatrische Projekte, die darauf vertraut haben, dass durch eine angemessene Honorierung quasi automatisch die optimale Rekrutierung sichergestellt wird, haben nach den ersten 6 Monaten feststellen müssen, dass sich diese Erwartung nicht erfüllt hat und die geplanten Rekrutierungszahlen bei weitem nicht erreicht wurden. Insbesondere bei indikations- oder kassenspezifischen Verträgen, die nur einen Teil der in einer Praxis oder Klinik versorgten Patienten betreffen, wird unter dem Zeitdruck des Versorgungsalltags immer wieder vergessen, diese
967 40.2 · Beispiel für eine Integrierte Versorgung: »Münchner Modell«
Patienten für die Integrierte Versorgung zu motivieren und die eigentlich möglichen Rekrutierungszahlen werden dann nicht erreicht. Um zu vermeiden, dass Projekte an zu niederen Teilnehmerzahlen scheitern, bedarf es eines intensiven Projektmanagements und Monitorings, für das ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen bereitgestellt und finanziert werden müssen. Häufig begehen Antragsteller auch den Fehler, sich bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Integrierten Versorgung zu viel oder zu wenig vor zu nehmen. Entweder werden – wie oben beschrieben – bereits existierende sektorenübergreifende Versorgungsformen einfach umetikettiert und die Regelversorgung wird unter neuem Namen weitgehend unverändert weiter praktiziert. Damit ist aber niemandem gedient. Genauso wenig sollte man allerdings versuchen, alle diagnostischen und therapeutischen Prozesse der Regelversorgung gleichzeitig verändern und verbessern zu wollen. Solchen – irgendwo zwischen Lehrbuch und Leitlinie angesiedelten – IV-Konzepten merkt man an, dass ihre Autoren sie selbst nie praktisch umgesetzt haben. Denn dann hätten sie rasch bemerkt, dass es nichts bringt, aufzulisten, wie die optimale Diagnose, Behandlung oder Rehabilitation bei einer bestimmten Indikation idealerweise auszusehen hätten. Denn dass sie in der Realität nicht so aussehen, hat ja Gründe. Die meisten Ärzte wissen sehr wohl, wie unter idealen Bedingungen optimale diagnostische und therapeutische Prozesse ablaufen sollten, aber die Bedingungen (Manpower, Budget, Compliance etc.) sind in der Regelversorgung eben nicht ideal. Und auch die zusätzlich über die Integrierte Versorgung zur Verfügung gestellte Anschubfinanzierung macht es nicht möglich, die in solchen Rahmenkonzepten beschriebenen optimalen Prozesse auf allen Stufen des Behandlungspfads zu realisieren. Solche Konzepte sind in der Praxis nicht umsetzbar und führen eher zu Kostensteigerungen als zu den von den Krankenkassen angestrebten Kostensenkungen. Bessere Erfolgschancen als diese umfangreichen Konzepte haben schlanke Versorgungsmodelle, die sich auf die wichtigsten Probleme (z. B. Noncompliance, intersektorale Kommunikationsdefizite) konzentrieren und versuchen, diese Probleme mit wenigen, wirksamen Interventionen kosteneffektiv zu lösen. Eine besonders erfolgreiche Version dieses schlanken Konzepts ist das sog. »Münchner Modell«, das als bisher einziges IV-Modell in der Psychiatrie beide Kassenforderungen – Qualitätsverbesserung und Kostensenkung – erfüllen konnte. Bereits nach 1-jähriger Laufzeit führte es zu einer Halbierung der Kosten bei gleichzeitiger deutlicher Verbesserung der Behandlungsqualität. Um zu veranschaulichen, wie IV bzw. DMP bei psychiatrischen Indikationen inhaltlich aussehen können, soll dieses Münchner Modell im Folgenden etwas ausführlicher beschrieben werden.
40.2
Beispiel für eine Integrierte Versorgung: »Münchner Modell«
Inhaltlich konzentriert sich dieses Versorgungsmodell auf 2 Bereiche, 1. die Verbesserung der rezidivprophylaktischen Compliance schizophrener und depressiver Patienten und 2. die optimale Abstimmung der Behandlung zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Ausgehend von dem Befund, dass die Hauptursache für Qualitätsdefizite und hohe Kosten bei diesen beiden Indikationen darin zu sehen ist, dass mehr als die Hälfte der betroffenen Patienten keine rezidivprophylaktische Behandlung durchführen, werden im Münchner Modell ca. 80% der Ressourcen darauf verwendet, Patienten und Therapeuten zu einer leitliniengerechten, optimalen Rezidivprophylaxe zu motivieren. In dem Programm werden – ohne Beschränkung durch die gängigen Budgets – alle Maßnahmen angeboten, deren compliancefördernde Wirksamkeit in Vorstudien nachgewiesen werden konnte (⊡ Tab. 40.1). Folgende Elemente wurden im Modell realisiert: Nach Einschluss eines Patienten ins Programm wird auf der Basis einer mehrstündigen, individuellen Compliancediagnostik zusammen mit dem Patienten und seinen Angehörigen eruiert, wie compliant der Patient in der Vergangenheit die rezidivprophylaktische Behandlung durchgeführt hat, wo es dabei Probleme gab und wie diese Complianceprobleme in Zukunft gelöst werden können. Gemeinsam mit dem Patienten wird dann von einem ärztlichen und einem sozialpädagogischen Case Manager für den jeweiligen Patienten ein individuelles Programm zur zukünftigen Optimierung der Rückfallverhütung aufgestellt, fortlaufend angepasst und seine Umsetzung über mindestens 18 Monate im Rahmen regelmäßiger Wiedervorstellungstermine monitoriert. Durch eingebaute Wellness- und Bonuselemente, durch spielerischen Compliance-Wettbewerb unter den Teilnehmern und durch Gelegenheit zu Sozialkontakten wird versucht, das Programm für die Teilnehmer so attraktiv wie möglich zu machen. Verschiedene Anreize wie Fahrtkostenerstattung, Befreiung von Zuzahlungen etc. sollen die Teilnahmefreudigkeit der Patienten erhöhen. Pro Jahr werden so mindestens 20–30 ManpowerStunden pro Patient für die Verbesserung seiner rezidivprophylaktischen Compliance aufgewandt. Ein derartiger Aufwand nur für die Complianceverbesserung kann in der – traditionell eher auf die Akutbehandlung fokussierten – Regelversorgung auch nicht
40
968
Kapitel 40 · Integrierte Versorgung/Disease Management
⊡ Tab. 40.1. Probleme und Lösungsansätze im Rahmen der Integrierten Versorgung
40
Problem
Lösung
Noncompliance der Patienten für die Rückfallschutzbehandlung
Drop-out nach Klinikentlassung, Nichteinhaltung von Terminen
Extra honorierte Vorstellung beim weiterbehandelnden niedergelassenen Nervenarzt noch während der stationären Behandlung Terminerinnerungen, bei Bedarf Hausbesuche
Umstellung der Medikation kurz nach Entlassung des Patienten aus der Klinik
Suboptimale ärztliche Therapieempfehlungen
Implementierung von Behandlungsleitlinien (Qualitätszirkel) Optimierung eines gemeinsamen Behandlungspfades (Qualitätszirkel) Benchmarking von Prozess- und Ergebnisindikatoren anhand der sektorübergreifenden Dokumentation
Verspätete Reaktion auf Krisen
Differenzialdiagnose der Noncompliance Psychoedukation für Patient und Angehörige (Pitschel-Walz et al. 2006) Compliance-Monitoringsysteme Medikamententraining (Asani u. Eißmann 2006) Reminder (Telefon, SMS) »Shared Decision Making« (Hamann et al. 2006) Depotmedikation Bonus für Teilnahme an complianceverbessernden Maßnahmen (Post et al. 2006)
Abstimmung der Entlassungsmedikation zwischen Klinikern, Niedergelassenen und Patienten Fallkonferenzen in sektorübergreifenden Qualitätszirkeln Benchmarking von Prozess- und Ergebnisindikatoren Standardisierter, beschleunigter Informationsfluss bei Aufnahme und Entlassung
Training der Patienten im Erkennen von Frühwarnzeichen Krisenplan für Patienten und Angehörige Garantierte, beschleunigte stationäre Aufnahme im Bedarfsfall Telefonische Hotline für Patienten und Angehörige
annähernd geleistet werden. Der damit natürlich auch verbundene erhöhte Kostenaufwand (ca. 1250 € pro Patient) rentiert sich aber auch für den Kostenträger, da durch diese Interventionen pro Patient ca. 6250 € an stationären Behandlungskosten pro Jahr eingespart werden, wie eine Zwischenauswertung des »Münchner Modells« nach einjähriger Laufzeit ergab. Die therapeutische Verantwortung für den Patienten liegt bei diesem Modell weiterhin beim niedergelassenen Arzt, der seine sonstigen Leistungen wie bisher über die Kassenärztliche Vereinigung abrechnet. Für die zusätzlich zur Regelversorgung angebotenen Compliance verbessernden Maßnahmen bekommen die Niedergelassenen und die das Programm unterstützenden Kliniken außerhalb ihres Budgets ein zusätzliches, kostendeckendes Honorar. Da sich die mangelnde Abstimmung zwischen niedergelassenen Ärzten und Klinikern häufig negativ auf die Compliance der Patienten und auf die Effizienz der Behandlung auswirkt, wird im Rahmen der Integrierten Versorgung auch versucht, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Behandlungssektoren zu optimieren. Durch regelmäßige gemeinsame Fallkonferenzen und standardisierte (und zusätzlich honorierte) Kommunikationsinstrumente wird verhindert, dass es beim Wechsel des Patienten von einem Sektor in den anderen zu vermeidbaren Doppeluntersuchungen oder Medikamentenumstellungen kommt.
Das »Münchner Modell« unterscheidet sich in einigen entscheidenden Aspekten von anderen integrierten Versorgungsmodellen für diese Indikationen. Im Gegensatz z. B. zum Rahmenkonzept der DGPPN (2005) versucht das Münchner Modell nicht, alle Aspekte der Behandlung zu optimieren sondern konzentriert sich auf einige wenige, aber sehr wirksame complianceverbessernde Maßnahmen, die in der derzeitigen Regelversorgung so nicht angeboten werden können. Voruntersuchungen (Pitschel-Walz et al. 2006) und die bisherige einjährige Laufzeit des Vertrags haben gezeigt, dass ein derartiges schlankes Interventionspaket problemlos in der Regelversorgung implementiert werden kann und nicht nur zu einer Verbesserung der Behandlungsqualität, sondern auch zu einer Halbierung der pro Patient anfallenden Krankenhaustage führt. Da damit die beiden zentralen Zielsetzungen der Krankenkassen – Qualitätsverbesserung und Kostensenkung – erreicht werden, haben diese sich entschlossen, die Implementierung des Münchner Modells in weiteren Regionen zu unterstützen und weiteren Leistungserbringern den Beitritt zum Münchner Vertrag zu ermöglichen. ! Angesichts des bevorstehenden Auslaufens der Anschubfinanzierung (Ende 2008) ist der Beitritt zu einem bereits laufenden Vertrag wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, in einer neuen Region noch rasch ein Integriertes Versorgungsmodell zu etablieren.
969 Literatur
40.3
Grundlegende Bewertung
Von vielen Therapeuten wird zu Recht beklagt, dass eine optimale Behandlung unter den heutigen gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen kaum mehr angeboten werden kann. Die zu geringen Honorar- und Medikamentenbudgets, die kontinuierliche Verkürzung stationärer Behandlungszeiten und Streichungen bei den komplementären Diensten erschweren zunehmend die Umsetzung einer leitliniengerechten Therapie. Und an die Implementierung neuer Versorgungsstrukturen ist unter diesen Umständen überhaupt nicht mehr zu denken. In dem vorliegenden Kapitel wird eine Möglichkeit aufgezeigt, wie man auch unter diesen schwierigen Rahmenbedingungen eine optimale leitliniengerechte Therapie und darüber hinaus sogar noch zusätzliche Leistungen und neue Versorgungsformen finanzieren kann. Die gesetzliche Basis hierfür bietet der § 140 SGB V, über den prinzipiell alles finanziert werden kann, was die Behandlungsqualität verbessert und mittelfristig die Gesamtkosten senkt. Besonders geeignet für diese über § 140 geförderte sog. Integrierte Versorgung erscheint die rezidivprophylaktische Behandlung schizophrener und affektiver Störungen, weil auf diesem Gebiet noch große Qualitätsverbesserungen möglich sind, die gleichzeitig zu deutlichen Kostensenkungen führen. Wie ein solches integriertes Versorgungsmodell in der Rezidivprophylaxe im Einzelnen aussehen kann, wird am Beispiel des »Münchner Modells« erläutert. In diesem neuen Versorgungsmodell ist es niedergelassenen Nervenärzten, Klinikern und Krankenkassen gemeinsam gelungen, für alle Beteiligten eine »Win-Win-Situation« herbeizuführen. Patienten und Angehörige bekommen ein deutlich verbessertes Leistungsangebot, die Leistungserbringer bekommen ein angemessenes extrabudgetäres Honorar für die Durchführung dieser zusätzlichen Leistungen und die Kostenträger sparen trotzdem bis zu 50% ihrer bisherigen Kosten ein. Auch wenn dieses neue Gesetz – gerade in der derzeitigen Übergangsphase – manche Abläufe etwas komplizierter macht und auch berufspolitisch nicht ganz unproblematisch ist (Meißner 2006), überwiegen aus unserer Sicht die Chancen, die es gerade für die Psychiatrie bietet, bei weitem. Erstmals seit der Psychiatrie-Enquete besteht wieder eine realistische Chance, neue Versorgungskonzepte in der Regelversorgung zu implementieren und dafür auch ausreichend Finanzmittel zu erhalten. Die Psychiatrie sollte diese Chance nutzen und das Feld (und die Finanzmittel!) nicht völlig den somatischen Fächern überlassen. Parallel zur Implementierung dieser neuen sektorenübergreifenden Versorgungsformen muss dann aber auch eine intensive Versorgungsforschung betrieben werden, um heraus zu finden, wie auch in der Psychiatrie der »Efficacy-Effectiveness-Gap« weiter verkleinert werden kann.
Literatur Asani F, Eißmann I (2006) Medikamententraining. Psych Pflege 12: 205–207 Badamgarav E, Weingarten SR, Henning JM et al. (2003) Effectiveness of disease management programs in depression: a systematic review. Am J Psychiatry 160: 2080–2090 DGPPN (2005) Rahmenkonzept Integrierte Versorgung Depression. Nervenarzt 76: 104–121 Hamann J, Langer B, Winkler V et al. (2006). Shared decision making for in-patients with schizophrenia. Acta Psychiatr Scand 114: 265– 273 Hildebrandt H (2001) Die Evaluation integrierter Versorgung und ihr wirtschaftliches Umfeld. In: Preuss et al. (Hrsg) Managed Care – Evaluation und Performance-Measurement integrierter Versorgungsmodelle – Stand der Entwicklung in der EU, der Schweiz und den USA. Schattauer, Stuttgart Kissling W (2006) Integrierte Versorgung in der Psychiatrie. Neurotransmitter 7–8: 26–31 Kissling W, Seemann U (2006) Qualitätsmanagement in der Schizophreniebehandlung. In: Schmauß M (Hrsg) Schizophrenie – Pathogenese, Diagnostik und Therapie. Uni-Med Verlag, Bremen, S 333–348 Kissling W, Seemann U, Fritze P (2004) Integrierte Versorgung. Neurotransmitter 10: 28–35 McGlynn EA, Asch SM, Adams J et al. (2003) The quality of health care delivered to adults in the United States. N Engl J Med 348: 2635– 2645 Meißner A (2006) Leserbrief. Psychiat Prax 33: 251–252 Peinhaupt C, Nowak P (2005) PatientInnenbeteiligung und Integration im Gesundheitswesen. Empfehlungen des Wiener Modellprojekts PIK. Österreichische Krankenhauszeitung, 46: 01–02, 18–19 Pitschel-Walz G, Bäuml J, Bender W et al. (2006) Psychoeducation and compliance in the treatment of schizophrenia: results of the Munich PIP-study. J Clin Psychiatry 67: 443–452 Post EP, Cruz M, Harman J (2006) Incentive payments for attendance at appointments for depression among low-income african americans. Psychiatr Serv 57(3): 414–416
40
III Therapeutische Grundlagen 27
Psychopharmakotherapie – Klinisch-empirische Grundlagen – 627 S. Kasper, H.-J. Möller
28
Sonstige biologische Therapieverfahren (EKT, Schlafentzugsbehandlung, Lichttherapie, TMS, VNS) – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien – 669 S. Kasper
29
Supportive Psychotherapie und ärztliche Gesprächsführung – 691 K. Schonauer
30
Psychodynamische Psychotherapie – Grundlagen und klinische Anwendungen – 703 M. Ermann, B. Waldvogel
31
Verhaltenstherapie – Theoretische und empirische Grundlagen sowie klinische Anwendungsprinzipien – 743 M. Linden, M. Hautzinger
32
Entspannungsverfahren – 777 M. Zaudig, R. D. Trautmann-Sponsel, A. Pielsticker
33
Systemische Psychotherapie – Theoretische Grundlagen und klinische Anwendungsprinzipien – 815 A. Retzer
34
Humanistische Psychotherapieverfahren – 841 W. Butollo, M. Krüsmann, M. Hagl
35
Soziotherapie – 871 S. Weinmann, Th. Reker, T. Becker
36
Ergotherapie, Kreativtherapie, Körper- und Sporttherapie C. Habermann, J. Unterberger, A. Broocks
37
Berufliche und sonstige Rehabilitationsverfahren – 911 W. Weig
38
Psychoedukation und Angehörigenarbeit – 923 R. Borbé, W. P. Hornung, G. Buchkremer
39
Versorgungsstrukturen W. Rössler
40
Integrierte Versorgung/Disease-Management W. Kissling
41
Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie – 971 H.-J. Möller
42
Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung – 985 M. Philipp, G. Laux
– 883
– 937 – 963
41 41 Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie H.-J. Möller
41.1
Kernelemente und Grundprobleme der evidenzbasierten Medizin in der Psychiatrie – 972
41.2
Grundsätzliches zu Evidenzfindung, Evidenzkriterien und Evidenzgraduierung – 973
41.4
41.4.1
41.3
Unterschiede in den Evidenzkriterien und der -graduierung – 975 41.3.1 Metaanalyseresultate versus Resultate aus Einzelstudien zur Definition des höchsten Evidenzgrades – 976 41.3.2 Plazebokontrollierte Studien versus Standardmedikament-kontrollierte Studien als Voraussetzung für den höchsten Evidenzgrad – 978 41.3.3 Unterschiede der Evidenzgraduierung in der Psychopharmakotherapie und der Psychotherapie – 979
41.4.2 41.4.3 41.4.4
41.5
Kann die Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse evidenzbasiert werden? – 979 Wirksamkeits-/Verträglichkeitsaspekte beim Vergleich verschiedener Medikamente – 979 Schwierigkeit der vergleichenden Nutzen-Risiko-Abwägung – 980 Evidenzbasierung für Therapiealgorithmen – 980 Evidenzfindung in einer durch medizinische, gesundheitsökonomische und individualisierende Entscheidungsprozesse definierten klinischen Entscheidungslogik – 981 Schlussfolgerungen Literatur
– 981
– 981
> > Der Begriff evidenzbasierte Medizin (EbM) ist zu einem zentralen Begriff im heutigen Gesundheitswesen (Grell 2006; Kunz et al. 2000; Sackett et al. 1999; Sackett 2000) und damit auch in der Psychiatrie geworden. Im Gegensatz zur in Deutschland tradierten alltagssprachlichen Verwendung des Begriffes »Evidenz« im Sinne von intuitiver Erfahrung, wird »Evidenz« im Kontext der evidenzbasierten Medizin als Summe empirischen Wissens verstanden, das zu einem bestimmten Sachverhalt verfügbar ist.
972
41
Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
41.1
Kernelemente und Grundprobleme der evidenzbasierten Medizin in der Psychiatrie
Evidenz im Sinne der evidenzbasierten Medizin ist das Ergebnis einer kritischen und systematischen Gesamtbewertung (»critical appraisal«) von (publizierten) Resultaten wissenschaftlicher Studien. Die Evidenz kann sich auf verschiedene Bereiche, wie z. B. Diagnostik oder Therapie, beziehen. Das komplexe medizinische Wissen zu einem bestimmten Bereich wird durch Metaanalysen, systematische Reviews, u. a. aufbereitet und zusammengefasst und dann durch in bestimmten Fachgremien verabschiedete Empfehlungen bzw. Therapieleitlinien umgesetzt (Antes 2004; Cartabellotta et al. 1998 a,b; Gonzalez 2001; Jadad et al. 1998; Kawamura et al. 1999; Manser u. Walters 2001). Der Arzt soll sich in seinen diagnostischen bzw. therapeutischen Entscheidungen nach diesen evidenzbasierten Empfehlungen richten. Sein ärztliches Handeln soll dadurch besser empirisch begründet bzw. rationaler werden (Craig et al. 2001). Subjektive Ermessensspielräume sollen soweit wie möglich eingeschränkt werden. Im Rahmen der EbM gelten als entscheidende Stufe der wissenschaftlich belegten Evidenz, soweit therapeutische Aspekte betroffen sind, randomisierte Kontrollgruppenstudien. Das auf Einzelfällen bzw. deren Kumulation aufgebaute Wissen wird nur als Ergänzung zu solchen Studien oder als Ersatz im Fall fehlender empirischer Studien relevant. Diese Sichtweise entspricht dem methodischen Verständnis empirischer Forschung (Möller 2007). Evidenzbasierte Medizin und im Zusammenhang damit Therapieempfehlungen und -leitlinien sowie andere konsensuelle Zusammenfassungen des Wissensstandes sind auch in der Psychiatrie, insbesondere hinsichtlich der Psychopharmakotherapie, zu einem wichtigen Teil der Qualitätsverbesserung und Qualitätssicherung geworden, um eine ausreichende Rationalität der Diagnostik und Therapie zu gewährleisten. Es besteht kein Zweifel, dass dies ein wichtiges Anliegen ist, und dass Leitlinien angesichts des für den einzelnen Arzt meist nicht mehr zu durchschauenden komplexen und komplizierten Wissensstandes über die Behandlung einer bestimmten psychischen Erkrankung eine große Entscheidungshilfe sein können. Viele nationale und internationale psychiatrische Fachgesellschaften haben in den letzten Jahren Therapieempfehlungen oder Leitlinien erstellt. Im Bereich der deutschen Psychiatrie bzw. Psychopharmakotherapie sind in dem Zusammenhang u. a. verschiedene Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Gaebel u. Falkai 1998) sowie die Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft (Höffler et al. 2001) zu nennen. Auf internationaler Ebene sind insbesondere die von der amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft (APA) herausgegebenen, aber weit über die amerikanische Psychiatrie hinaus verbreiteten »practice guidelines« zu nennen. Als weitere im internationalen Umfeld zunehmend etablierte Leitlinien sind die »guidelines« der World Federation of Societies of Biological Psychiatry zu erwähnen (u. a. Bandelow et al. 2003; Bauer et al. 2002 a, b; Falkai et al. 2005; Falkai et al. 2006; Grunze et al. 2002; Grunze et al. 2003; Grunze et al. 2004).
Festlegen und Vermitteln des Standards Ein wichtiges Anliegen in diesem Kontext ist, Standards festzulegen, die im Rahmen der Leitlinienentwicklung zu beachten sind. In Deutschland gibt es diesbezügliche Bemühungen seitens der Bundesärztekammer wie auch der Arbeitsgemeinschaften wissenschaftlicher Fachgesellschaften (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2006; Ollenschlager et al. 1998). Ein weiteres wichtiges Anliegen ist, dafür Sorge zu tragen, die jeweiligen Leitlinien an die entsprechenden Ärztegruppen zu vermitteln und für ihre Befolgung zu werben. Gerade auf der Ebene des Transfers in die Praxis gibt es viele Probleme (Grimshaw et al. 2004; Grimshaw et al. 2006). So hat z. B. die im Zusammenhang mit den Problemen der Gewichtszunahme und dem damit assoziierten metabolischen Syndrom unter Neuroleptikatherapie entstandenen diesbezüglichen amerikanischen Leitlinien (American Diabetes Association et al. 2004) der amerikanischen Diabetes Gesellschaft und der amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie (APA) nicht dazu geführt, dass die amerikanischen Psychiater die vorgeschlagenen Kontrolluntersuchungen durchführen (Cuffel et al. 2006).
Qualitätssicherung Parallel zur Entwicklung von Leitlinien auf der Grundlage der EbM vollzieht sich der Aufbau der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen (Gaebel 1996; Gaebel u. Falkai 2003; Harter et al. 2003; Ollenschlager et al. 2002): Selbstkontrollmaßnahmen der Ärzteschaft, möglicherweise aber in Zukunft auch Fremdkontrolle durch entsprechende Institutionen des Gesundheitssystems, sollen garantieren, dass Ärzte der evidenzbasierten Medizin, wie sie in Therapieempfehlungen bzw. Leitlinien festgeschrieben sind, in ihren Entscheidungen folgen. Wegen dieser normativen Implikationen der EbM und Leitlinienkultur wird dieser prima vista so sinnvoll klingende Ansatz nicht ohne kritisches Hinterfragen hingenommen (Helmchen 2002; Hunink 2004). Auch wenn Therapieempfehlungen und Leitlinien, im Gegensatz zu Richtlinien, den Arzt nicht völlig im Sinne der priorisierten Therapieoptionen verpflichten, besteht doch die nicht unbegründete Sorge, dass sie z. B. von ge-
973 41.2 · Grundsätzliches zu Evidenzfindung, Evidenzkriterien und Evidenzgraduierung
sellschaftlich relevanten Kräften des Gesundheitssystems überinterpretiert werden, was zu weitergehenden Konsequenzen führen könnte, wie z. B. der, dass eine Krankenkasse einen bestimmten Therapieansatz nicht zahlt bzw. dass eine kassenärztliche Vereinigung empfiehlt, bestimmte Medikamente nicht mehr zu verschreiben.
Organisatorisch-technische Faktoren Organisatorisch-technische Faktoren der Leitlinienentwicklung (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 2006; Kopp et al. 2005), wie die Vorgehensweise bei der Auswahl der Experten für die diesbezügliche Expertenkommission und die Art des Abstimmungsprozesses in diesen Gremien sowie die diesbezüglichen Beeinflussungsmöglichkeiten von verschiedener Seite sind von großer Relevanz und können in erheblichem Maße das Ergebnis beeinflussen. Die »Evidenz« kann oft eine durch Voreinstellungen verschiedener Interessensgruppen sehr gebiaste Sicht der Datenlage sein. Versuche der Einflussnahme über diese eher organisatorisch-technischen Faktoren können von verschiedenen Interessengruppen ausgehen. Nicht nur die im Kontext der Beeinflussung des Verschreibungsverhaltens der Ärzte immer wieder gescholtene pharmazeutische Industrie ist als potenzielle Interessensgruppe zu sehen. Auch staatliche Institutionen des Gesundheitssystems oder Institutionen der Ärzteschaft sind diesbezüglich oft nicht so »neutral«, wie sie es vorgeben. Man denke z. B. an die (in Deutschland mit besonderer Intensität) geführte Debatte über den Vorteil der atypischen Neuroleptika und die konträren Positionen verschiedener Gruppen (Möller et al. 2006 a).
41.2
Grundsätzliches zu Evidenzfindung, Evidenzkriterien und Evidenzgraduierung
Die beiden wichtigsten Ansätze der Evidenzfindung (Khan et al. 2004) sind systematische Reviews und Metaanalysen (s. auch »Übersicht einiger relevanter Fachbegriffe« weiter unten). Systematische Reviews. Sie bieten eine kritische Darstel-
lung und qualitative Bewertung der für eine bestimmte Fragestellung vorhandenen Studien in einer narrativen Darstellung. Vor- und Nachteile einzelner Studien werden argumentativ gegeneinander abgewogen und ein qualitativ dargestelltes Ergebnis der Studiengesamtheit (x ist wirksamer als Plazebo bzw. gleich wirksam zu einem aktiven Medikament) dargestellt. Diese Strategie wird z. B. von den Zulassungsbehörden zur Prüfung der Wirksamkeit von Arzneimitteln angewandt; das Ergebnis der Prüfung ist eine Bewertung der neuen Substanz als wirksamer im Vergleich zu Plazebo bzw. als gleich wirksam im Vergleich zu einer Standardtherapie. Dieses Vorgehen wurde in modifizierter Form bei der Erstellung einiger Leitlinien verwandt [z. B. durch die World Federation of Biological Psychiatry (Bauer et al. 2002)]. Systematische Übersichtsarbeiten im Sinne der evidenzbasierten Medizin müssen hohe methodische Anforderungen hinsichtlich der Vollständigkeit der einbezogenen Studien und ihrer kritischen Bewertung erfüllen und gehen somit über andere, nicht so strikte Anforderungen befolgende Übersichtsarbeiten hinaus. Metaanalysen. Sie kombinieren die Ergebnisse der für
Rückwärtsgerichtete Sichtweise problematisch Eine weitere Problematik besteht darin, dass Leitlinien aufgrund ihrer rückwärtsgerichteten Sichtweise, insbesondere bei länger dauernder Leitlinienentwicklung eher zu konservativen Therapieentscheidungen führen und dem jeweiligen aktuellen Fortschritt nicht ausreichend Rechnung tragen können. Dies ist insbesondere dann von praktischer Relevanz, wenn die Vorgaben für die Entwicklung von Leitlinien immer größeren Anforderungen [wie in Deutschland die so genannten »S3-Leitlinien«, z. B. die neue Version der Schizophrenie-Leitlinien der DGPPN, (Gaebel et al. 2006)], stellen und die Entwicklung einer Leitlinie 2–3 Jahre dauern kann. Da sich die daran beteiligenden Experten den zeitlichen Aufwand nicht andauernd leisten können und obendrein die Kosten einer solchen Leitlinienentwicklung immens sind, hat das zur Folge, dass an eine Revision erst nach mehreren Jahren zu denken ist. Angesichts der bekannten kurzen Halbwertszeit medizinischen Wissens, ist eine so lange Gültigkeitsdauer von Leitlinien problematisch.
eine spezifische Fragestellung vorhandenen und als methodisch adäquat eingestuften Studien in quantitativer Weise. Es resultiert eine Effektgröße (»effect size«; ⊡ Abb. 41.1), die den quantitativen Unterschied zwischen 2 Vergleichssubstanzen (z. B. Plazebo vs. aktives Medikament) wiedergibt. Der Vergleich von Effektgrößen setzt die Ziehung aus derselben Grundgesamtheit voraus. Diese Voraussetzung ist meist bestenfalls approximativ erfüllt, da die verschiedenen zu kombinierenden Studien auf verschiedenen Designs mit jeweils meist unterschiedlichen Rahmenbedingungen basieren (z. B. in Bezug auf SettingVariablen, Ein- und Ausschlusskriterien, Vorbehandlung, Begleitmedikation). Metaanalysen vs. systematische Reviews. Den Ergebnis-
sen von Metaanalysen wird zunehmend bei der Erstellung von Leitlinien (Czekalla 2006) und Lehrbüchern auf der Basis der evidenzbasierten Medizin besondere Bedeutung beigemessen, möglicherweise weil die quantitative Ergebniszusammenfassung in Effektgrößen leichter zu vermitteln ist als differenzierende qualtitative Schlussfolge-
41
974
41
Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
⊡ Abb. 41.1. Effekt-Size-Differenzen zwischen »Second Generation Antipsychotics« und Haloperidol (Haloperidol unterteilt in 2 Dosisstufen) bei Studien an Patienten mit Schizophrenie oder ähnlicher Störung (standardisiert gewichtete Mitteldifferenz und 95% Vertrauensbereich). (Nach Geddes et al. 2000)
≤ 12 mg Haloperidol > 12 mg Haloperidol
-0,5
-0,4
-0,3
-0,2
-0,1 Vorteil atypisches Neuroleptikum
rungen auf der Basis systematischer Reviews. In der Tat haben Metaanalysen im Vergleich zum systematischen Review den Vorteil, dass sie die Ergebnisse auf quantitative Kenngrößen (Effektgrößen) verdichten können, während Reviews lediglich qualitative Schlussfolgerungen ziehen. Trotzdem können Metaanalysen nicht die in narrativer Form dargestellten systematischen Reviews ersetzen, die den Vorteil haben, in differenzierter Weise den speziellen Gegebenheiten der einzelnen Studien hinsichtlich Studiendesign, Patientenselektion, Dosierung des Pharmakons etc. Rechnung tragen zu können. Gerade diese Detailanalyse verlangt hohen klinisch-psychopharmakologischen Sachverstand und eine detailreiche Darstellung, die in den manchmal den Metananalysen vorangestellten und oft relativ kurzen systematischen Reviews nicht immer zu erkennen sind. Beide Verfahren sollten als komplementär angesehen werden. Eine Vorrangstellung der Metaanalysen im Vergleich zum umfangreichen narrativen systematischen Review lässt sich nicht begründen. Der so eindeutig und aussagekräftig erscheinende Zahlenwert der Effektgröße steckt voller Ambiguitäten, die aus grundsätzlichen methodischen Problemen der Metaanalysen resultieren. Der so griffig und bildhaft erscheinende Wert der Effektgröße kann nur zu leicht naiv vereinfachend oder gezielt tendenziös interpretiert werden, da die komplexe dahinter stehende Gemengelage klinischer Daten nicht mehr in Erscheinung tritt. Cave Überinterpretationen der Effect-size-Werte als letzte Entscheidungsinstanz, wie sie heute häufig zu lesen sind, sind angesichts verschiedener Grundprobleme der Metaanalyse unangemessen und müssen jeweils kritisch hinterfragt werden (Lieberman et al. 2005 a; Maier u. Möller 2005).
Übersicht einiger relevanter Fachbegriffe (Nach Gaebel u. Falkai 1998) Systematisches Review. Systematische Reviews sind Zu-
sammenfassungen von wissenschaftlichen Originalstu-
0
0,1 Vorteil für Haloperidol
dien, bei denen spezifische methodische Strategien verwendet werden, um Verzerrungen (Bias) zu vermeiden: systematische Identifikation, Zusammenstellung, kritische Bewertung und Synthese aller relevanten Studien. Metaanalyse. Verwendung statistischer Techniken, bei denen die Ergebnisse einzelner Studien integriert werden. Die Integration kann auf der Basis der Rohdaten (PoolAnalyse) erfolgen. Wenn diese nicht zugänglich sind, werden auf der Basis der publizierten Daten Effektstärken berechnet und je nach Fragestellung verglichen. Effektstärke. Differenzmaß in definierten Outcome-Para-
metern (z. B. psychopathologischen Skalen) zwischen Interventions- und Kontrollgruppen, dividiert durch die (gemeinsame) Standardabweichung. Die Effektstärke wird als Maß für die Wirksamkeit einer Intervention zwischen zwei oder mehreren Behandlungsgruppen verwendet. Konfidenzintervall. Der Bereich, innerhalb dessen ein
wahrer Wert (bspw. die Effektstärke) bei einer Studienpopulation mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (etwa 95 oder 99%) liegt. Konfidenzintervalle geben die Wahrscheinlichkeit von Zufallsfehlern, nicht jedoch von systematischen Fehlern in Studien wieder. Gewichteter mittlerer Unterschied (»weighted mean difference« – WMD). Ein bei Metaanalysen angegebenes Differenzmaß, zu dessen Errechnung verschiedene Messergebnisse aus unterschiedlichen Studien mit bekanntem Mittelwert, Standardabweichungen und Stichprobengröße gemittelt und nach deren Einfluss gewichtet werden. Number Needed To Treat (NNT). Statistisch berechnete
Anzahl der Menschen, die behandelt werden müssen, um ein unerwünschtes krankheitsbedingtes Ereignis zu vermeiden bzw. ein erwünschtes Ergebnis zu erzielen. Je höher der NNT, desto geringer ist der Unterschied zwischen zwei Behandlungsverfahren. Ein NNT von 5 bedeutet hier, dass 5 Menschen über den Beobachtungszeitraum behan-
975 41.3 · Unterschiede in den Evidenzkriterien und der -graduierung
delt werden müssen, damit bei 1 Mensch das Ereignis (z. B. Response) ausbleibt. Number Needed To Harm (NNH). Statistisch berechnete
Anzahl der Menschen, die behandelt werden müssen, um ein unerwünschtes (behandlungsbedingtes) Ereignis zu bekommen. Je niedriger die NNH, desto höher die Wahrscheinlichkeit eines Schadens für den Patienten. Odds Ratio (OR). Ursprünglich epidemiologisches Maß
für die Auftretenswahrscheinlichkeit von Ereignissen. Das Odds (a/b) bezeichnet das Verhältnis, wie häufig das Ereignis in einer Gruppe aufgetreten ist (a), geteilt durch die Häufigkeit des Nichtauftretens in der gleichen Gruppe (b). Die Odds von 2 Gruppen werden verglichen, indem sie in Beziehung zueinander gesetzt werden ((a/b)(c/d)). Die Odds ratio kann Werte zwischen 0 und unendlich einnehmen. Der Wert 1 bedeutet, dass es bezüglich von Ereignissen oder Therapieeffekten keine Unterschiede zwischen zwei Gruppen gibt.
Therapieempfehlungen/Leitlinien Therapieempfehlungen/Leitlinien werden auf der Basis von systematischen Reviews bzw. Metaanalysen über das empirische Wissen und einem diesbezüglichen Expertenkonsens erstellt. Sie geben Bewertungen der jeweiligen Evidenzlage empirischen Wissens auf einer Ordinalskala an. So wurden die 2001 erschienenen Demenz-Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (Höffler et al. 2001) erstmals in einer für die Psychiatrie relevanten deutschen Therapieempfehlung mit solchen Evidenzgraden versehen. Auch die revidierten Fassungen verschiedener Therapieleitlinien der DGPPN sollen in diese Richtung verändert werden, was derzeit erstmals bei der Revision der Schizophrenie-Leitlinie (Gaebel u. Falkai 1998) im Rahmen eines S3-Leitlinienverfahrens (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie 2006) umgesetzt wurde. Die Evidenzgraduierung orientiert sich u. a. daran, dass aus methodischen Gründen die Verwendung bestimmter Studiendesigns zu Ergebnissen führt, die mit höherer Wahrscheinlichkeit verlässlich sind. Dies entspricht dem Regelkanon empirischer Forschungsmethodologie (Campbell et al. 2000; Eccles et al. 2003; Möller 2007). Randomisierte Kontrollgruppenstudien haben demnach z. B. eine höhere Wertigkeit als nichtrandomisierte oder unkontrollierte Studien. Als Beispiel ist die Evidenzgraduierung der jüngsten Version der DGPPN Therapieleitlinie Schizophrenie dargestellt (⊡ Tab. 41.1). Die Graduierung der Evidenz empirischen Wissens wird in vielen Leitlinien in einem zweiten Schritt verbunden mit einer Handlungsempfehlung, die ebenfalls graduiert werden kann hinsichtlich der Stärke, mit der die Empfehlung empirisch begründet scheint. Während die Evidenzgraduierung je nach Graduierungskriterien noch
relativ nah an der empirischen Datenebene bleibt, geht die Empfehlungsgraduierung weit darüber hinaus und lässt, je nach Zusammensetzung des Gremiums regionale/nationale Behandlungstraditionen, persönliche Behandlungsstereotypien u. a. einfließen. Auf diese Weise können die Empfehlungen inhaltlich und in der Graduierung erheblich von der Evidenz der empirischen Datenebene abweichen. ! Zu betonen ist, dass Evidenzgraduierungen und insbesondere Empfehlungsgraduierungen keine trivialen Prozesse sind, in denen die empirische Datenebene gewissermaßen 1:1 umgesetzt wird, sondern Prozesse, die voller Detailprobleme stecken und die weit über die Datenebene hinausgehen (Atkins et al. 2004; Guyatt et al. 2006; Lohr 2004; Pfaff 2005). Dies gilt schon für die Evidenzgraduierung und in noch wesentlich stärkerem Maße für die Empfehlungsgraduierung. Wegen dieser Problematik der Empfehlungsgraduierung wird in einigen Leitlinien, so z. B. den jüngsten NICE Schizophrenie Guidelines auf eine Empfehlungsgraduierung verzichtet (Pilling u. Price 2006).
41.3
Unterschiede in den Evidenzkriterien und der -graduierung
Die Kriteriologie für die verschiedenen Evidenzgrade, die klar formuliert scheint, steckt de facto voller Risiken der Widersprüchlichkeit und entspricht bei weitem nicht einer operationalen Definition. Dies wird deutlich, wenn man auf jeweilige Details fokussiert, was hier aus Platzgründen nicht getan werden kann. Das prinzipielle Problem besteht darin, dass es eine einheitliche, international akzeptierte Definition der Evidenz und der sich daraus ableitenden Evidenzgrade nicht gibt, und zwar obwohl der Begriff »Evidenzgrad« die Eindeutigkeit der Definition suggeriert. Allein aufgrund der Wahl der Evidenzkriterien bzw. Evidenzgrade können sich also sehr unterschiedliche Ergebnisse für die entsprechenden Sachverhalte ergeben. Eine Zufallsauswahl einiger konkreter Beispiele macht dies deutlich (⊡ Tab. 41.1– 41.4). Die EbM insgesamt und viele Leitlinien gründen die Evidenz vorzugsweise auf randomisierte kontrollierte Studien (»randomized controlled trials«, abgekürzt RCTs). Unklar ist aber, ob Ergebnisse von plazebokontrollierten Studien Vorrang gegenüber nichtplazebokontrollierten Studien haben, was angesichts des Regelkanons empirischer Forschung in der Psychopharmakotherapie, sinnvoll wäre und den Forderungskatalog von Zulassungsbehörden entsprechen würde. Auch das Kriterium der Prüfung unter Doppelblindbedingungen findet meis-
41
976
41
Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
⊡ Tab. 41.1. Evidenzkriterien der DGPPN Behandlungsleitlinie Schizophrenie. (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie 2006) Evidenzgrad
Kriterium
Ia
Metaanalyse von mindestens 3 randomisierten kontrollierten Studien (Randomised Controlled Trials, RCTs)
Ib
Mindestens 1 RCT oder Metaanalyse von weniger als 3 RCTs
IIa
Mindestens 1 kontrollierte nichtrandomisierte Studie mit methodisch hochwertigem Design
IIb
Mindestens 1 quasi-experimentelle Studie mit methodisch hochwertigem Design
III
Mindestens 1 nicht-experimentelle deskriptive Studie (Vergleichsstudie, Korrelationsstudie, Fallserien)
IV
Berichte/Empfehlungen von Expertenkomitees, klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten
tens keine differenzierende Betrachtung (s. u.). Strittig ist insbesondere, ob die Ergebnisse wichtiger, methodisch herausragender Einzelstudien Vorrang vor den Resultaten von Metaanalysen haben (Clark u. Mucklow 1998). Die meisten Leitlinien präferieren Ergebnisse aus Metaanalysen allein oder zusammen mit Ergebnissen aus Einzelstudien. Narrative systematische Reviews scheinen in der Evidenzgraduierung der Leitlinien keine größere Rolle zu spielen, jedenfalls werden sie in den meisten Evidenzgraduierungen nicht aufgeführt, obwohl sie wichtige komplementäre Aspekte zu den Aussagen von Metaanalysen ermöglichen würden.
41.3.1
Metaanalyseresultate versus Resultate aus Einzelstudien zur Definition des höchsten Evidenzgrades
Der höchste Evidenzgrad wird in vielen Leitlinien, so auch in der jüngsten Fassung der DGPPN-Leitlinien zur Schizophreniebehandlung, über Metaanalysen randomisierter kontrollierter Studien definiert. Die Priorisierung von Metaanalysen ist nicht so unproblematisch, wie es zunächst scheint (Khan et al. 2004; Lieberman et al. 2005 a; Maier u. Möller 2005; Moher et al. 1999; Möller et al. 1993; Schöchlin et al. 2002). Methodische Stringenz. Grundsätzliche Voraussetzung für die Durchführung einer Metaanalyse und auch für die spätere Anwendung ihrer Ergebnisse ist die methodische Stringenz bei der Durchführung. Das gilt für die systematische Suche einzuschließender Studien, für deren methodische Beurteilung und für die vor allem klinische Beur-
teilung eventueller Heterogenität. Zu Vorsicht sollte gemahnt werden gegenüber Metaanalysen ausschließlich kleiner randomisierter kontrollierter Studien, gegenüber Metaanalysen von randomisierten klinischen Prüfungen minderer methodischer Qualität und gegenüber der unkritischen Anwendung und Übertragung der Ergebnisse von Metaanalysen (z. B. Angaben von Effektgrößen, z. B. Angaben zu »number needed to treat«) auf die Erstellung von Leitlinien. Unterschiedliche methodische Ausgangspositionen. Es
sei betont, dass die großen Zulassungsbehörden, wie die amerikanische FDA und die europäische EMEA, aus grundsätzlichen methodisch-statistischen Überlegungen zur konfirmativen Hypothesenprüfung Metaanalysen nicht als primäre Entscheidungsbasis für die Zulassung eines Arzneimittels anerkennen, sondern ihre Entscheidung auf das Ergebnis von methodisch adäquat durchgeführten Einzelstudien konfirmativen Charakters (insbesondere Phase-III-Studien, meistens plazebokontrollierte Studien) gründen. Die daraus resultierenden Konflikte sind absehbar: Eine zugelassene Substanz kann im Rahmen der evidenzbasierten Medizin im Extremfall auf metaanalytischer Basis als unwirksam klassifiziert werden, da anders als im Rahmen der Zulassung nicht nur die pivotalen Studien der Phase III bewertet werden, sondern auch andere mit unterschiedlichen Zielsetzungen, oft nicht primär zum Wirksamkeitsnachweis durchgeführte Studien einbezogen werden und vice versa. Anders ausgedrückt: Eine evidenzbasierte Medizin mit Therapieempfehlungen/-leitlinien, die metaanalytischen Ergebnisse als höchstes Evidenzkriterium bewertet, kommt ggf. zu anderen, ggf. konträren Ergebnissen als die Zulassungsbehörden, da sie einer anderen Entscheidungslogik folgt. Auch die schon jetzt erkennbaren Diskrepanzen der Bewertungsergebnisse des Instituts für Wirtschaftlichkeit und Qualitätssicherung (IQWiG) und der deutschen Zulassungsbehörde (BFArM) lassen sich zum Teil auf derartige unterschiedliche methodische Ausgangspositionen zurückführen. Wichtige Einzelstudien als Grundlage. Die Therapieleit-
linien der World Federation of Biological Psychiatry (Bandelow et al. 2003; Bauer et al. 2002 a, b; Falkai et al. 2005; Falkai et al. 2006; Grunze et al. 2002; Grunze et al. 2003; Grunze et al. 2004) beziehen sich auf ein anderes System von Evidenzgraduierung, das primär in dem »Schizophrenia Patient Outcome Research Team« (PORT)- Behandlungs-Empfehlungen verwendet wurde (Lehman u. Steinwachs 1998; ⊡ Tab. 41.2). Der entscheidende Unterschied zu den Evidenzkriterien vieler anderer Leitlinien ist, dass nicht die Ergebnisse von Metaanalysen den höchsten Evidenzgrad begründen, sondern die Resultate wichtiger und methodisch hervorragender adäquater Einzelstudien (Möller et al. 1993). Insofern ent-
977 41.3 · Unterschiede in den Evidenzkriterien und der -graduierung
⊡ Tab. 41.2. Evidenzkriterien die bei der Erstellung der WFSBP Behandlungsleitlinien angewendet werden. (Bauer et al. 2002) Evidenzgrad
Kriterium
A
Evidenz aus mindestens 3 großen, positiven, randomisierten kontrollierten (doppelblinden) Studien (RCT). Darüber hinaus muss mindestens eine der 3 Studien methodisch gut konstruiert und plazebokontrolliert sein
B
Evidenz aus mindestens 2 großen, randomisierten Doppelblindstudien (entweder aus ≥2 Vergleichsstudien oder aus einer kontrollierten Vergleichsstudie und einer plazebokontrollierten Studie) oder aus einer großen randomisierten Doppelblindstudie (Plazebo- oder Vergleichssubstanz-kontrolliert) und ≥ eine prospektive, große (Stichprobengröße ≥50), offene, naturalistische Studie
C
Evidenz aus einer randomisierten Doppelblindstudie mit einer Vergleichssubstanz und einer prospektiven, offenen Studie/Fallserie (Stichprobengröße ≥10), oder mindestens zwei prospektiven, offenen Studien/ Fallserien (Stichprobengröße ≥10)
D
Expertenmeinung-basierte Evidenz aus mindestens einer prospektiven, offenen Studie/Fallserie (Stichprobengröße ≥10)
keine
Expertenmeinung über die allgemeinen Behandlungsprozeduren und -prinzipien
spricht die Evidenzkriteriologie prinzipiell dem Ansatz von Zulassungsbehörden. Auch die APA Practice Guidelines bewerten die Evidenz auf der Basis von Einzelstudien (⊡ Tab. 41.3, 41.4). Es ist von größter Wichtigkeit, zu einer international einheitlichen Evidenzgraduierung zu kommen, was allerdings angesichts der dargestellten Detailprobleme nicht leicht sein wird. Internationale Arbeitsgruppen von Methodikern wie z. B. GRADE bemühen sich um eine Vereinheitlichung der Evidenzgraduierung (Atkins et al. 2004).
⊡ Tab. 41.4. Evidenzkriterien, die in der Zeitschrift »Core Evidence« (www.coremedicalpublishing.com) angewandt werden Stufe
Erklärung
1
Starke Evidenz aus mindestens einem systematischen Review
2
Evidenz aus randomisierten kontrollierten Studien
3
Evidenz aus gut konstruierten Studien, ohne randomisierte, Prä-/Postinterventionen- Einzelgruppen-, Kohort-, Verlaufs- oder Fallkontrollstudien
4
Evidenz aus gut konstruierten nichtexperimentellen Beobachtungsstudien von mehr als einem Zentrum oder einer Forschungsgruppe
5
Meinungen von angesehenen Autoritäten, basierend auf klinischen Erfahrungen, deskriptive Studien und Berichten von Expertenkomitees
⊡ Tab. 41.3. Evidenzkriterien der APA-Behandlungsleitlinien. (American Psychiatric Association 2006) Evidenzgrad
Art der Studie
Erklärung des Inhaltes
[A]
Randomisierte, doppelblinde klinische Studie
Eine Studie von einer Intervention in der Probanden prospektiv beobachtet werden; es gibt Behandlungs- und Kontrollgruppen; Probanden werden den beiden Gruppen randomisiert zugewiesen; und sowohl Probanden als auch Prüfärzte sind »blind« der Zuordnung gegenüber
[A-]
Randomisierte klinische Studie
Dasselbe wie oben nur nicht doppelblind
[B]
Klinische Studie
Eine prospektive Studie, in der es eine Intervention gibt und die Ergebnisse der Intervention fortlaufend dokumentiert werden. Es entspricht nicht den Anforderungen einer randomisierten klinischen Studie
[C]
Kohort- oder Prospektivstudie
Eine Studie, in der Probanden prospektiv beobachtet werden, ohne irgendeine spezifische Intervention
[D]
Kontrollstudie
Eine Studie, in der eine Gruppe von Patienten und eine Gruppe von Kontrollprobanden in der Gegenwart identifiziert werden und Informationen über diese nachträglich oder rückwirkend eingeholt werden
[E]
Übersichtsarbeit mit sekundärer Datenanalyse
Eine strukturierte analytische Übersicht der vorliegenden Daten, z. B. eine Metaanalyse oder eine Entscheidungsanalyse
[F]
Übersichtsarbeit
Eine qualitative Übersicht und Diskussionen der bereits publizierten Literatur ohne eine quantitative Synthese der Daten
[G]
Andere
Meinungsähnliche Essays, Fallberichte und andere Berichte, die nicht oben kategorisiert sind
41
978
41
Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
41.3.2
Plazebokontrollierte Studien versus Standardmedikamentkontrollierte Studien als Voraussetzung für den höchsten Evidenzgrad
In manchen Leitlinien, wie den WFSBP Guidelines, werden plazebokontrollierte Studien als Vorausbedingung für den höchsten Evidenzgrad gefordert. In anderen Leitlinien, wie z. B. APA Practice Guidelines (American Psychiatric Association 2006) genügen auch andere randomisierte kontrollierte Therapiestudien (insbesondere randomisierte Kontrollgruppenvergleiche einer neuen Substanz mit einem Standardmedikament), häufig z. B. sogar ohne dass Doppelblindbedingungen gefordert werden. Die APA Practice Guidelines differenzieren nur minimal zwischen Evidenz aus randomisierten doppelblinden Kontrollgruppenstudien, die zum Evidenzgrad [A] führen und Evidenz aus nichtverblindeten Kontrollgruppenstudien, die zum Evidenzgrad [A-] führen. Werden sowohl Studien, in denen das Medikament gegen Plazebo geprüft wurde, als auch Studien, in denen das Medikament gegen ein Standardpräparat geprüft wurde, und zwar ggf. ohne bezüglich der Verblindung/Nichtverblindung zu differenzieren, in der obersten Evidenzklasse zusammengefasst, so werden unterschiedlich valide Studientypen gleichgestellt. Das ist nicht sinnvoll, da bekannt ist, dass zumindest in mehreren psychiatrischen Indikationsgebieten, z. B. Depression, Studien ohne Plazebokontrolle aufgrund immanenter Methodenprobleme keine validen Schlüsse (interne Validität) zulassen und deshalb plazebokontrollierte Studien von den großen internationalen Zulassungsbehörden (z. B. FDA, EMEA) gefordert werden (Baldwin et al. 2003; Fritze u. Möller 2001). Andererseits ist eine zu einseitige und weitgehende Überbetonung der Relevanz plazebokontrollierter Studien nicht wünschenswert. Während sie für den Wirksamkeitsnachweis für viele Indikationsgebiete unerlässlich sind, ist die Generalisierbarkeit solcher Studienergebnisse auf klinische Routinebedingungen häufig nicht gewährleistet (Problematik der internen versus externen Validität). Es ist bekannt, dass plazebokontrollierte Studien, wie sie für die Zulassung von neuen Arzneimitteln in der Psychiatrie durchgeführt werden, das Problem haben, dass sie eine besondere Ferne zum klinischen Routinealltag haben und somit eher als Proof-of-concept-Studien verstanden werden müssen. Generell ist zu sagen, dass selbst in nichtplazebokontrollierten, randomisierten, kontrollierten Studien der Phase III in der Psychiatrie in der Regel etwa nur 10% der Patienten rekrutiert werden können, die prinzipiell für diese Studie in Betracht kämen (Bottlender et al. 1998; Carpenter 2001; Lieberman et al. 2005 b; Riedel et al. 2005). Es ist auch bekannt, dass die rekrutierten Patienten unter verschiedenen Aspekten selektiert sind (z. B. Ausschluss von Komorbidität, Ausschluss von
Patienten höherer Altersgruppen, Ausschluss von Patienten mit hoher Gefährdung), und dass sie somit nicht einmal repräsentativ für die Stichprobe im Prinzip einbeziehbarer Patienten der jeweiligen Diagnosegruppe des entsprechenden Behandlungszentrums sind, geschweige denn für die Gesamtgruppe aller Patienten der Diagnosegruppe. Die Selektionsproblematik nimmt zu, je eingreifender die Studienmethodik ist. Plazebokontrolle ist unter diesem Aspekt besonders problematisch und führt zu einem besonders hohen Ausmaß an Selektion. Man denke zum Beispiel an plazebokontrollierte Studien bei Manikern, die zur Folge haben, dass in der Regel nur Patienten mit relativ leichten manischen Symptomen einbezogen werden. Analog gilt für plazebokontrollierte Depressionsstudien, dass z. B. Patienten mit schwerster depressiver Symptomatik und/oder Suizidalität nicht eingeschlossen werden. Andere empirische Forschungsansätze. Um die Konsequenz zu vermeiden, dass die Leitlinien bei Bevorzugung von Studientypen mit zu geringer Generalisierbarkeit den Bezug zur klinischen Realität verlieren, sollten auch andere empirische Forschungsansätze stärker berücksichtigt werden. Ein Medikament, das in plazebokontrollierten Studien mit den eben dargelegten Selektionsproblemen untersucht worden ist, sollte zusätzlich in methodisch weniger restriktiven Studien, z. B. randomisierten Kontrollgruppenstudien, gegen ein Standardpräparat geprüft werden, die Ergebnisse sollten zumindest tendenziell konsistent sein. Das von der europäischen Zulassungsbehörde EMEA/CHMP nahegelegte 3-Arm-Design [Committee for Proprietary Medicinal Products (CPMP) 2002], das die experimentelle Substanz gegen Plazebo und gegen ein Standardpräparat vergleicht, ist aussagekräftiger, kann aber wegen der Mitführung einer Placebogruppe die dargelegte Problematik der erheblichen Selektion der Patienten nicht verhindern. Phasenmodell. Es sei daran erinnert, dass traditionell gefordert wurde, dass die klinische Evaluation eines Psychopharmakons im Sinne eines Phasenmodells auf verschiedenen methodischen Ebenen empirischer Forschung und mit Ansätzen unterschiedlicher methodischer Stringenz zu erfolgen hat. Das bedeutet, dass die Ergebnisse der methodisch resriktiven Phase-III-Prüfung durch Evidenzen aus den stärker an den Routineversorgungs-orientierten Phase-IV-Prüfungen sowohl unter Wirksamkeitsaspekten, aber ganz besonders unter Verträglichkeitsaspekten ergänzt werden müssen (Linden 2003; Schöchlin et al. 2002). Im Sinne dieses Phasenmodells der klinisch/pharmakologischen Prüfung wurden die Evidenzen jeder Prüfphase als Teil einer komplementären Gesamtevidenz gesehen (Czekalla 2006; Koller et al. 2006). Diese Sichtweise ist in den derzeit in den Leitlinien praktizierten Systemen der Evidenzbeurteilung nicht
979 41.4 · Kann die Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse evidenzbasiert werden?
mehr zu erkennen, da die Evidenzgraduierung nach für die jeweilige Therapie methodisch anspruchsvollstem Designtyp vorgenommen wird (z. B. plazebokontrollierte Studien), nicht aber festgestellt wird, ob auch konsistente Ergebnisse aus weniger restriktiven Studientypen, die aber eine bessere Generalisierbarkeit haben, vorliegen. Eine für die klinische Realität relevanterer Evidenzgraduierung sollte bewerten, ob sowohl Studien mit hoher interner Validität (z. B. Kontrollgruppenstudien) als auch Studien mit hoher externer Validität (z. B. Anwendungsbeobachtungen) vorliegen und zu prinzipiell gleichlautenden Ergebnissen führen.
41.3.3
Unterschiede der Evidenzgraduierung in der Psychopharmakotherapie und der Psychotherapie
Es kann hier nicht auf grundsätzliche Probleme der Wirksamkeitsforschung in der Psychiatrie eingegangen werden (Möller 2007; Schmacke 2006), sondern nur auf Probleme, die entstehen, wenn Effektgrößen bzw. Evidenzbewertungen aus dem Bereich der Psychotherapieforschung direkt mit Effektgrößen bzw. Evidenzbewertungen aus dem Bereich der klinischen Psychopharmakologie verglichen werden (Gerson et al. 1999; Hegerl et al. 2004; Klein 2000; Wampold et al. 2002). Nachdem auch zur Darstellung der empirischen Evaluation der Psychotherapie/psychosozialen Therapie z. T. zunehmend Effektgrößen berechnet und Evidenzgraduierungen eingeführt werden, besteht prinzipiell die Möglichkeit diese mit den Evidenzkriterien aus dem Bereich der Psychopharmakotherapie zu vergleichen. Dies führt zu der Gefahr, dass Effektgrößen bzw. Evidenzgraduierungen, die auf einer unterschiedlichen Methodik der Therapieevaluation aufbauen, unsinnigerweise miteinander verglichen werden. Einer psychotherapeutischen Methode X würde der höchste Evidenzgrad für die Depressionsbehandlung zugeordnet werden, den das Antidepressivum in bestimmten Leitlinien nur auf der Basis doppelblinder randomisierter und ggf. plazebokontrollierter Studien erreichen kann. Die Evaluation der Psychotherapieverfahren wurde hingegen nicht unter Plazebo- bzw. Doppelblindbedingungen geprüft. Die unterschiedliche methodische Basis, auf der die Evidenzgraduierung in der Psychotherapie und in der Psychopharmakologie aufbauen, impliziert, dass ein solcher direkter Vergleich unmöglich ist. Besser wäre, um derartige Verwirrungen zu vermeiden, ein für alle Therapieverfahren in der Psychiatrie einheitliches Evidenzgraduierungssystem zu entwickeln, bei dem dann wegen der prinzipiellen methodischen Sonderstellung in der Evaluation psychotherapeutischer Verfahren diese per se nicht den höchsten Evidenzgrad erreichen können, da die Rea-
lisierung von Plazebokontrollen schwer und die Realisierung von Doppelblindbedingungen unmöglich ist. Dies gilt in noch weitergehender Weise für psychosoziale Verfahren, die wegen immanenter Besonderheiten meist nicht einmal den Anspruch randomisierter verblindeter Kontrollgruppenuntersuchungen gerecht werden können, sondern methodisch weniger restriktive Verfahren zur Evaluation einsetzen.
41.4
Kann die Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse evidenzbasiert werden?
Die Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse geht weit über das hinaus, was im eigentlichen Sinne evidenzbasiert ist. Therapieleitlinien, die sich der Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse nähern wollen, müssen deshalb zwangsläufig in weiten Bereichen den evidenzorientierten Ansatz durch einen konsensusorientierten Ansatz ersetzen.
41.4.1
Wirksamkeits-/ Verträglichkeitsaspekte beim Vergleich verschiedener Medikamente
Schon die sehr wichtige Frage der Wirksamkeit oder Verträglichkeit von zwei oder mehreren Substanzen im Vergleich, kann von der EbM viel schwerer beantwortet werden als die Beantwortung der Frage, ob eine Substanz eine ausreichende Wirksamkeit hat. Diese Frage ist viel komplexer und schwieriger zu beantworten, weil es kaum Mehr-Arm-Studien gibt, die verschiedene Substanzen direkt miteinander vergleichen, in der Regel allenfalls 3Arm-Studien nach dem Muster: neues Präparat versus Standardpräparat versus Plazebo. Deshalb sind weitergehende Schlussfolgerungen, die auch andere Substanzen einbeziehen, häufig nur indirekt auf der Basis weiterer Vergleichsstudien möglich: zum Beispiel die in einer 3Armstudie geprüfte neue Substanz X, die in der Studie mit Plazebo und mit der Standardsubstanz A verglichen wurde, wurde in einer anderen Studie mit der Standardsubstanz B verglichen. Daraus resultiert insgesamt bei einer Vielzahl von verschiedenen Studien eine ausreichend große Datenbasis, die man im Sinne direkter, aber auch indirekter Vergleiche durch metaanalytische Vergleiche strukturieren kann, um zu entsprechenden Schlussfolgerungen über die Graduierung der Wirksamkeit und Verträglichkeit der Substanzen untereinander zu kommen. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die indirekten Schlussfolgerungen mit größter Vorsicht zu interpretieren sind, da viele konfundierende Faktoren das Ergebnis der Studien beeinflussen können. Man denke
41
980
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Kapitel 41 · Evidenzbasierung und leitliniengestützte Therapie in der Psychiatrie
z. B. an die Selektionsproblematik, die dazu führen kann, dass bei einem neuen Neuroleptikum Wirksamkeitsvorteile bzgl. Negativsymptomatik im Vergleich zu einem traditionellen Neuroleptikum gar nicht gezeigt werden können, da der Mittelwert der Negativsymptomatik in den Studienstichproben zu klein war, um überhaupt Effekte nachweisbar zu machen.
41.4.2
Schwierigkeit der vergleichenden Nutzen-Risiko-Abwägung
Im Rahmen komplexer klinischer Entscheidungsprozesse geht es oft nicht nur um Wirksamkeitsunterschiede bzw. Unterschiede der Evidenz, mit der Wirksamkeit evaluiert wurde, sondern gleichzeitig auch um Verträglichkeitsaspekte. Das folgende Beispiel der medikamentösen Behandlung der akuten bipolaren Depression (Gijsman et al. 2004) macht deutlich, wie schwer es ist, komplexere klinisch-therapeutische Entscheidungsprozesse auf eine empirische Basis im Sinne der evidenzbasierten Medizin zu stellen. Insbesondere von Seiten der amerikanischen Psychiatrie wurde die Position vertreten, dass Patienten mit akuter bipolarer Depression wegen der Gefahr des »switches« in die Manie in der Regel nicht mit Antidepressiva behandelt werden sollten (Bottlender et al. 1998), sondern, dass stattdessen Mood-Stabilizer zur Therapie der akuten bipolaren Depression eingesetzt werden sollten. Diese Empfehlung wurde in verschiedenen Guidelines gegeben, obwohl die antidepressive Wirksamkeit von Mood-Stabilizern keinesfalls im Sinne der üblichen Anitdepressiva-Prüfungen belegt und somit nicht evidenzbasiert ist. Allein Verträglichkeitsaspekte (Switchrisiko) führten somit zu einer Empfehlung, die möglicherweise vielen Patienten eine wirksame Depressionsbehandlung mit Antidepressiva vorenthält (Eccles et al. 2003; Möller u. Grunze 2000), die bei Bevorzugung von SSRI kein erhöhtes Switch-Risiko hat (Altshuler et al. 2003; Bottlender et al. 2002; Gijsman et al. 2004; Möller et al. 2006 b). Das zeigt, dass offensichtlich Leitlinien, wenn sie sich an komplexe Therapieentscheidungsprozesse heranwagen, häufig nicht mehr genügend evidenzbasiert vorgehen und z. T. einseitige Bewertungsprozesse eine viel größere Rolle spielen als die Datenanalyse.
41.4.3
Evidenzbasierung für Therapiealgorithmen
Es gibt Versuche, kompliziertere Therapieansätze, wie sie im psychiatrischen Alltag üblich sind, z. B. Komedikationsansätze oder sequenzielle Ansätze, in eine evidenzbasierte Darstellung einzubeziehen. Die Probleme, die sich bereits hinsichtlich der Evaluation der Wirksamkeit und Verträglichkeit von einzelnen Medikamenten bei der ver-
gleichenden Bewertung ergeben, stellen sich in dem Bereich komplexerer Therapieabläufe in ganz besonderer Weise. Größtenteils gibt es nicht genügend empirische Daten, komplexere Therapieabläufe empirisch zu belegen. So ist z. B. die häufig durchgeführte Vorgehensweise, bei Unwirksamkeit eines Neuroleptikums auf ein anderes mit unterschiedlicher chemischer Struktur bzw. einem anderen Wirkschwerpunkt umzusetzen, bisher nicht ausreichend empirisch geprüft (Möller 2000). Lediglich für die Behandlung von auf klassische Neuroleptika nicht respondierenden schizophrenen Patienten mit Clozapin, scheint die diesbezügliche Studie von Kane (1988) eine gute empirische Basis zu haben, wenn auch später zur gleichen Frage durchgeführte Studien diesen Erfahrungsstandard z. T. nicht bestätigen konnten. Analoges gilt für das Umsetzen von einem Antidepressivum auf das andere mit einem anderen Wirkschwerpunkt. Auch hier ist die Datenbasis unzureichend, um daraus irgendwelche evidenzbasierten Entscheidungen gründen zu können (Hirschfeld et al. 2002; Möller 2004). Die Komplexität von Studien zu sequenziellen Therapieabläufen wird aus neueren diesbezüglichen Untersuchungen zur Therapie unipolarer Depressionen deutlich (Adli et al. 2003). Es ist fraglich, ob es je in suffizienter Weise gelingen wird, komplexe Therapiealgorithmen in methodisch stringenten Studien (z. B. randomisierten Kontrollgruppenstudien) zu belegen. Die erforderlichen Fallzahlen sind so hoch, dass allein schon die Rekrutierung nur gelingt, wenn sehr viele Studienzentren zusammenarbeiten. Selbst, wenn die Bereitschaft dazu da wäre, würden wahrscheinlich die Finanzmittel für eine so aufwendige Studie schwer aufzutreiben sein. Daraus folgt, dass vieles, was im klinischen Alltag eigentlich von viel größerer Wichtigkeit ist, als die Frage, ob dieses oder jenes (zugelassene!) Medikament in seiner Wirksamkeit besser empirisch belegt ist bzw. unter bestimmten Wirksamkeits- oder Verträglichkeitsaspekten Vorteile hat und deshalb als Medikament erster Wahl eingesetzt werden sollte, auf lange Sicht, nicht oder nur schwer im Sinne evidenzbasierter Medizin zu regeln ist. Ein Versuch, diese schwierige Problematik im Sinne evidenzbasierter Medizin zu regeln, ist eine groß angelegte Studie im Rahmen des Kompetenznetzwerkes Depression/Suizidalität, in der verschiedene Therapiealgorithmen im Sinne sequenzieller medikamentöser Therapieansätze bei Depressionen in randomisierten Kontrollgruppenvergleichen überprüft werden. Dabei wird unter anderem auch die Frage geprüft, ob die vorgegebenen »starren« Algorithmen eventuell nachteilig sind im Vergleich zu einer individualisierten, die bisherige individuelle Therapievorgeschichte berücksichtigenden Vorgehensweise (Adli et al. 2003, 2006). Eine andere, noch viel umfangreichere Algorithmusstudie zur Depressionsbehandlung ist die in den USA durchgeführte STAR-D-Studie. Trotz der beeindrucken-
981 Literatur
den Stichprobengröße, die in diesem Multicenter-Projektverbund erreicht wurde, lassen die Ergebnisse wenig praktisch relevante Hinweise erkennen, u. a. weil Zeiteffekte (Fortsetzen der bisherigen Therapie statt Umsetzen) nicht kontrolliert wurden (Fava et al. 2003; Fava et al. 2006; Nierenberg et al. 2006; Rush et al. 2006; Trivedi et al. 2006 b; Trivedi et al. 2006 a).
41.4.4
Evidenzfindung in einer durch medizinische, gesundheitsökonomische und individualisierende Entscheidungsprozesse definierten klinischen Entscheidungslogik
Die oben diskutierte Evaluation von Komedikationsansätzen bzw. sequenziellen Therapieansätzen macht die Komplexität klinischer Therapieentscheidungen deutlich. Diese Komplexität ist aber im klinischen Alltag noch viel größer, da in der Regel die diesbezüglichen Therapieentscheidungen im Sinne der besonderen Gegebenheiten des einzelnen Patienten, seiner Therapievorgeschichte, seiner psychopathologischen und sonstigen Krankheitscharakteristika, seiner Disposition zu Nebenwirkungen individualisiert getroffen werden. Gesundheitsökonomische Analysen werden angesichts der Ressourcenknappheit im Gesundheitssektor eine immer größere Rolle spielen. Sie können zusätzliche Gesichtspunkte in klinische Entscheidungsprozesse hineinbringen, insbesondere, wenn in Zukunft die Ressourcenallokation im Gesundheitssystem nicht primär durch die medizinischen Ergebnisse von Therapiestudien, sondern über gesundheitsökonomische Differenzierung verschiedener Therapieverfahren durch Institutionen wie IQWiG oder NICE erfolgt (Möller et al. 2005). Je nachdem, welche inhaltlichen und methodischen Kriterien man dabei zugrunde legt, kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen. Gegenüber Tendenzen, dabei vorrangig Kriterien wie z. B. Hospitalisierung oder auch Arbeitsunfähigkeit in den Vordergrund zu stellen, sollte ärztlicherseits insbesondere die Bedeutung der subjektiven Lebensqualität des Patienten in den Vordergrund gestellt werden.
41.5
Schlussfolgerungen
Die Forderung nach einer evidenzbasierten Therapie in der Psychiatrie ist im Rahmen der allgemeinen Forderung nach einer evidenzbasierten Medizin heute ein wichtiges Anliegen. Es sollte versucht werden, klinische, insbesondere psychopharmakotherapeutische Entscheidungsprozesse soweit wie möglich in diesem Sinne zu regeln. Dazu gehört u. a. die sorgfältige Aufbereitung der diesbezüglichen Ergebnisse von randomisierten klinischen Studien
im Rahmen von narrativen systematischen Übersichtsarbeiten und von statistischen Metaanalysen. Auf der Basis dieser Ergebnisse können unter Einbeziehung der Kompetenz klinischer Experten Leitlinien für die therapeutischen Entscheidungen im klinischen Alltag erstellt werden. Bei genauer Betrachtung dieses an sich sinnvollen Ansatzes wird deutlich, dass bisher eine Reihe damit zusammenhängender Probleme nicht ausreichend gelöst sind. Die an sich geplanten Vorteile dieses Ansatzes bergen deshalb auch Risiken in sich, die berücksichtigt werden müssen.
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41
42 42 Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung M. Philipp, G. Laux
42.1
Einleitung
42.2
Gesetzliche Grundlagen – 986
42.3
Begriffe und Definitionen
42.4
Grundsätze des prozessorientierten Qualitätsmanagements – 988
42.5
Qualitätsmanagement-Methoden
42.6
Aufbauorganisation und Dokumentation des Qualitätsmanagements – 990
42.7
– 986
42.8 42.8.1 42.8.2 42.8.3 42.8.4
– 987
Qualitätsmanagementsysteme
Umsetzungsbeispiele – 994 Qualitätsplanung – 995 Qualitätslenkung – 996 Qualitätssicherung – 996 Qualitätsverbesserung – 997
42.9
– 989
– 993
Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien, Algorithmen – 998 42.9.1 Evidenz-basierte Medizin (EbM) – 998 42.9.2 Leitlinien – 998 42.9.3 Algorithmen – 999 42.10 Zertifizierung Literatur
– 1000
– 1000
> > Inzwischen gesetzlich vorgeschriebene Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zum Qualitätsmanagement zielen aus klinisch-therapeutischer Sicht auf eine Verbesserung der Versorgungsqualität psychisch Kranker. Basierend auf den Komponenten der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität lassen sich – unter Berücksichtigung immer wichtiger werdender ökonomischer Aspekte – als grundlegende Elemente Dokumentationssysteme, die Entwicklung von Leitlinien sowie der Aufbau von internen und externen Qualitätssicherungsmaßnahmen aufführen. Für Kliniken und in absehbarer Zeit auch für Praxen stellen »Benchmarking« und Zertifizierung zunehmend bedeutsame Elemente dar.
986
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
42.1
42
Einleitung
Die Sicherstellung einer möglichst hohen Qualität von Diagnostik und Therapie zum Wohle des Patienten ist ein integraler Bestandteil des ärztlichen Selbstverständnisses. Patientenorientierung und Risikomanagement, Grundpfeiler modernen Qualitätsmanagements, sind bereits im hippokratischen Eid angelegt: »Die diätetischen Maßnahmen werde ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil zum Nutzen der Kranken einsetzen, Schädigung und Unrecht aber ausschließen.« Die Obduktion ist seit Jahrhunderten die älteste Form der Qualitätssicherung ärztlicher Diagnosen. Chef- und Oberarztvisiten sowie ärztliche Konsile stellen im Krankenhausbereich seit jeher die Qualität des Therapieverlaufs sicher (Selbmann 1984). Evidenzbasierung ist immer schon die Grundlage für die Publikationsannahme medizinischer Studien. Psychiatrische Basisdokumentation sowie die Erfassung definierter Komplikationen bei einer vorgegebenen Anzahl somatischer Erkrankungen und therapeutisch-operativer Prozeduren stellen die Säulen ärztlicher Qualitätssicherung der letzten zwei Jahrzehnte dar (Masing 1999). Warum also jetzt noch einmal die Zusammenfassung all dieser berufsimmanenten Bemühungen um hohe Versorgungsqualität unter dem modernistisch erscheinenden Begriff des Qualitätsmanagements? Wozu darüber hinausgehend der gesetzliche Zwang zur Einführung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements für Krankenhäuser und Arztpraxen? Ist das alles eine lästige – und durchaus teure – Mode, wird der Medizin unter dem zunehmenden Einfluss der Ökonomie jetzt auch noch ein weiterer wesensfremder, aus dem Gewinnmaximierungsstreben der Industrie stammender Zwang auferlegt oder steckt hinter dem Konzept des Qualitätsmanagements mehr? Qualitätsmanagement ist tatsächlich mehr, als nur ein modisches Schlagwort und eine nur lästige, von der Politik aufgezwängte Pflicht. Qualitätsmanagement ist ein methodischer Ansatz, der uns in die Lage versetzen soll, die im ärztlichen Selbstverständnis begründeten Qualitätsziele durch definierte, systematische, aufeinander abgestimmte organisatorische Maßnahmen und Methoden mit höherer Wahrscheinlichkeit erreichen zu lassen, als dies im gewachsenen ärztlichen Handlungsrahmen möglich ist. Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass diese systematischen organisatorischen Maßnahmen und Methoden universeller Art sind. ! Es gibt demnach kein spezifisches ärztliches Qualitätsmanagement und erst Recht kein psychiatrisches Qualitätsmanagement, sondern nur die Anwendung von Qualitätsmanagement in einer Organisation Krankenhaus oder Praxis, in welcher Ärzte den Kernprozess der medizinischen Behandlung lenken und durchführen.
Diese der kontinuierlichen Qualitätsverbesserung dienenden Organisationgrundsätze letztlich aus der produzierenden Industrie übernommen zu haben, ist nicht, wie oft beklagt, Ausdruck einer immer stärker werdenden Entfremdung vom eigentlichen ärztlich-medizinischen Kerngeschäft, sondern angewandtes Qualitätsmanagement – nämlich: Lernen vom Besseren, Wissenstransfer über Branchen- und Methodengrenzen hinweg. So profitiert die Medizin von Entwicklungen, die in der Industrie mit der Einführung der Qualitätskontrolle im Rahmen der Fließbandproduktion zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der Entwicklung der statistischen Qualitätssicherung der Vorkriegsphase, bis hin zum prozessorientierten, auf dem auf der Mitwirkung aller Beteiligten beruhenden Total Quality Management der Gegenwart annähernd 100 Jahre gebraucht hat und nun in verdichteter Form das Gesundheitswesen zu bereichern vermag.
42.2
Gesetzliche Grundlagen
Die gesetzlichen Grundlagen für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung im Krankenhaus und in der Arztpraxis sind im Sozialgesetzbuch V, Abschnitt 9 »Sicherung der Qualität der Leistungserbringung«, §§ 135 bis 139 festgelegt. § 135a formuliert die allgemeine Verpflichtung zur Qualität, zur Beteiligung an einrichtungsübergreifenden Maßnahmen der Qualitätssicherung sowie zum einrichtungsinternen Qualitätsmanagement (s. nachfolgende Übersicht). Die Aufgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Festlegung der Richlinien für Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement werden in § 136a für die vertragsärztliche Praxis und in § 137 für die zugelassenen Krankenhäuser festgeschrieben. § 137f schreibt die Einführung strukturierter Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten vor, § 139a die Gründung eines Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Die Koordinierung der Leitlinienentwicklung und die Einführung evidenzbasierter Medizin werden maßgeblich vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) vorangetrieben. Für die vertragsärztliche ambulante Versorgung sind zusätzlich die aus § 75 Abs. 7 SGBV resultierenden Qualitätssicherungsrichtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV-Richtlinien) maßgeblich, in denen u. a. die Verpflichtung zur Einrichtung von Qualitätszirkeln festgeschrieben ist. Für den Krankenhausbereich hat sich die seit dem Jahre 2000 festgeschriebene Androhung von Vergütungsabschlägen für den Fall des Nichteinhaltens der Verpflichtung von Qualitätssicherung als besonders stimulierend erwiesen. In Zukunft wird des Weiteren die im Jahre 2003 eingeführte Zielsetzung des verpflichtend zu veröffentlichenden Qualitätsberichts zu beachten sein, der die KVen und die Krankenkassen in die Lage versetzt, ihre Versi-
987 42.3 · Begriffe und Definitionen
cherten vergleichend über die Qualitätsmerkmale der Krankenhäuser zu informieren und Empfehlungen auszusprechen.
§ 135a SGB V: Verpflichtung zur Qualitätssicherung (1) Die Leistungserbringer sind zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der von ihnen erbrachten Leistungen verpflichtet. Die Leistungen müssen dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und in der fachlich gebotenen Qualität erbracht werden. (2) Vertragsärzte, medizinische Versorgungszentren, zugelassene Krankenhäuser, Erbringer von Vorsorgeleistungen oder Rehabilitationsmaßnahmen und Einrichtungen, mit denen ein Versorgungsvertrag nach § 111a besteht, sind nach Maßgabe der §§ 136a, 136b, 137 und 137d verpflichtet, 1. sich an einrichtungsübergreifenden Maßnahmen der Qualitätssicherung zu beteiligen, die insbesondere zum Ziel haben, die Ergebnisqualität zu verbessern und 2. einrichtungsintern ein Qualitätsmanagement einzuführen und weiterzuentwickeln.
42.3
planung«, »Qualitätslenkung«, »Qualitätssicherung« und »Qualitätsverbesserung« unterteilt wird; »Qualitätssicherung« erscheint jetzt also nur noch als einer dieser Unterbegriffe (⊡ Tab. 42.1). Von zentraler Bedeutung für das Qualitätsmanagement in der Medizin ist die Einteilung der verschiedenen Qualitätsaspekte nach Donabedian in Struktur-, Prozessund Ergebnisqualität (⊡ Tab. 42.2): Es müssen finanzielle, personelle, gebäudliche, technologische und informationelle Strukturen in Form von Klinik bzw. Praxis vorgehalten werden, die geeignet sind, solche Prozesse von Diagnostik und Therapie ablaufen zu lassen, die – dem aktu-
⊡ Tab. 42.1. Definitionen und Begriffe des Qualitätsmanagements (Quelle: ISO 9000) Begriff
Definition
Qualitätsmanagement
Aufeinander abgestimmte Tätigkeiten zum Leiten und Lenken einer Organisation bezüglich Qualität
Qualitätsplanung
Teil des Qualitätsmanagements, der auf das Festlegen der Qualitätsziele und der notwendigen Ausführungsprozesse sowie der zugehörigen Ressourcen zur Erfüllung der Qualitätsziele gerichtet ist
Qualitätslenkung
Teil des Qualitätsmanagements, der auf die Erfüllung von Qualitätsanforderungen gerichtet ist
Qualitätssicherung
Teil des Qualitätsmanagements, der auf das Erzeugen von Vertrauen darauf gerichtet ist, dass Qualitätsanforderungen erfüllt werden
Qualitätsverbesserung
Teil des Qualitätsmanagements, der auf die Erhöhung der Fähigkeit zur Erfüllung der Qualitätsanforderungen gerichtet ist
Begriffe und Definitionen
Zentrale Begriffe des Qualitätmanagements sind in der Norm DIN EN ISO 9000:2000 (im Folgenden »ISO 9000« abgekürzt) branchenübergreifend und international einheitlich festgelegt. Nationale und branchenspezifische Anpassungen der Begriffsdefinitionen finden sich in vielfältigen, zumeist auch internetbasierten Glossaren, unter anderem im »Glossar Qualitätssicherung« der Bundesärztekammer (http://www.bundesaerztekammer.de/30/ Qualitaetssicherung/78Glossar.html). Im Folgenden wird primär auf die Definition der ISO 9000 Bezug genommen. Da die branchenübergreifende Sprache der ISO für den Ungeübten zunächst oft spröde und irritierend wirkt, wird überall dort, wo es sinnvoll erscheint, zusätzlich die Erläuterung der Bundesärztekammer dargestellt. Die im Folgenden aufgeführten zentralen Begriffsdefinitionen sind der Norm DIN EN ISO 9000:2000 entnommen; die Bundesärztekammer verwendet diese Begriffe in ihrem »Glossar Qualitätssicherung« in identischer Form. Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass sich in den 1990er Jahren international ein Begriffswandel vollzogen hat: während früher die Bezeichnung »Qualitätssicherung« als Oberbegriff über alle Aspekte des Qualitätswesens verwendet wurde, hat nunmehr die Bezeichnung »Qualitätsmanagement« diese Funktion eines Oberbegriffs inne, der seinerseits in die Unterbegriffe »Qualitäts-
⊡ Tab. 42.2. Qualitätsaspekte nach Donabedian (Quelle: Bundesärztekammer 2006) Begriff
Definition
Strukturqualität
Die Rahmenbedingungen, das Umfeld für die medizinische Versorgung, personelle und materielle Ressourcen, organisatorische und finanzielle Gegebenheiten einschl. der Zugangsmöglichkeiten für die Patienten
Prozessqualität
Alle medizinischen/pflegerischen/therapeutischen Tätigkeiten, die zwischen Anbietern und Verbrauchern von Gesundheitsleistungen ablaufen
Ergebnisqualität
Die dem medizinischen/pflegerischen/therapeutischen Handeln zuschreibbaren Veränderungen des Gesundheitszustandes der Patienten einschl. der von diesem Veränderungen ausgehenden Wirkungen
42
988
42
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
ellen Stand der Wissenschaft entsprechend – in der Lage sind, die gewünschten medizinischen Ergebnisse zu erzielen. Kernziel jedes Qualitätsmanagements ist die kontinuierliche Sicherung und Verbesserung der Qualität. Grunderkenntnis ist es, dass dies nur in einem systematischen und fortwährenden Durchlaufen eines Regelkreises erreicht werden kann. In Anlehnung an den Regelkreis hat hierfür Deming die systematisch abzuarbeitenden Schritte als PDCA-Zyklus dargestellt (⊡ Abb. 42.1): Der Planung (P = »plan«) des zu erreichenden Qualitätszieles folgt die Durchführung (D = »do«) dieser Planung; ihr folgt die Überprüfung der Zielerreichung (C = »check«) und aus dem Soll-Ist-Vergleich die Verbesserungsmaßnahme (A = »act«). Für die Planung und Durchführung der zentralen diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen sind dokumentierte Vorgaben maßgeblich, die den Charakter einer der folgenden Begriffe haben können (Bundesärztekammer):
Standards/Normen. Es sind normative Vorgaben qualitativer und/oder quantitativer Art bezüglich der Erfüllung vorausgesetzter oder festgelegter Qualitätsforderungen. Allgemein werden Begriffe wie Maßstab, Norm, Richtschnur, Leistungs- und Qualitätsniveau hierunter verstanden. Die Wertigkeit und damit die Verbindlichkeit eines Standards entsprechen dem einer Richtlinie. Beispiel: Pflegestandard Dekubitusprophylaxe.
Leitlinien. Sie sind systematisch entwickelte Entschei-
42.4
dungshilfen über die angemessene Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen. Leitlinien erlauben, von ihnen abzuweichen, ihre Anwendung verpflichtet aber dazu, Abweichungen zu begründen und dies auch zu dokumentieren. Beispiel: S3-Behandlungsleitlinie Schizophrenie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (2006). Richtlinien. Dies sind von einer rechtlich legitimierten
Institution konsentierte, schriftlich fixierte und veröffentlichte Regelungen des Handelns oder Unterlassens, die für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich zieht. Beispiel: Krankenhaushygienerichtlinien des Robert Koch-Instituts.
Qualitätsindikator. Quantitatives Maß, welches zum Mo-
nitoring und zur Bewertung der Qualität wichtiger Leitungs-, Management-, klinischer und unterstützender Funktionen genutzt werden kann, die sich auf das Behandlungsergebnis beim Patienten auswirken. Ein Indikator ist kein direktes Maß der Qualität. Es ist mehr ein Werkzeug, das zur Leistungsbewertung benutzt werden kann, das Aufmerksamkeit auf potenzielle Problembereiche lenken kann, die einer intensiven Überprüfung innerhalb einer Organisation bedürfen könnten.
Grundsätze des prozessorientierten Qualitätsmanagements
Als Qualitätsmanagementsystem kann sich ein Managementsystem dann bezeichnen, wenn es die folgenden von der ISO 9000 beschriebenen 8 Grundsätze des Qualitätsmanagements beinhaltet, die unter den Schlagworten Kundenorientierung, Führung, Einbeziehung der Personen, prozessorientierter Ansatz, systemorientierter Managementansatz, ständige Verbesserung, sachbezogener Ansatz zur Entscheidungsfindung sowie Lieferantenbeziehungen zum gegenseitigen Nutzen zusammengefasst und in ⊡ Tab. 42.3 erläutert werden. Die Prozessorientierung, d. h. Orientierung am Behandlungsauftrag des Patienten (in der QM-Sprache der zentrale »Kunde« des Arztes bzw. Krankenhauses) und an
⊡ Abb. 42.1. PDCA-Zyklus nach Deming (1986)
P
A
D
C
42
989 42.5 · Qualitätsmanagement-Methoden
⊡ Tab. 42.3. Acht Grundsätze des Qualitätsmanagements (ISO 9000) Grundsatz
Erläuterung
a) Kundenorientierung
Organisationen hängen von ihren Kunden ab und sollten daher gegenwärtige und zukünftige Erfordernisse der Kunden verstehen, deren Anforderungen erfüllen und danach streben, deren Erwartungen zu übertreffen
b) Führung
Führungskräfte schaffen die Übereinstimmung von Zweck und Ausrichtung der Organisation. Sie sollten das interne Umfeld schaffen und erhalten, in dem sich Personen voll und ganz für die Erreichung der Ziele der Organisation einsetzen können
c) Einbeziehung der Personen
Auf allen Ebenen machen Personen das Wesen einer Organisation aus, und ihre vollständige Einbeziehung ermöglicht, ihre Fähigkeiten zum Nutzen der Organisation einzusetzen
d) Prozessorientierter Ansatz
Ein erwünschtes Ergebnis lässt sich effizienter erreichen, wenn Tätigkeiten und dazugehörige Ressourcen als Prozess geleitet und gelenkt werden
e) Systemorientierter Managementansatz
Erkennen, Verstehen, Leiten und Lenken von miteinander in Wechselbeziehung stehenden Prozessen als System tragen zur Wirksamkeit und Effizienz der Organisation beim Erreichen ihrer Ziele bei
f ) Ständige Verbesserung
Die ständige Verbesserung der Gesamtleistung der Organisation stellt ein permanentes Ziel der Organisation dar
g) Sachbezogener Ansatz zur Entscheidungsfindung
Wirksame Entscheidungen beruhen auf der Analyse von Daten und Informationen
h) Lieferantenbeziehungen zum gegenseitigen Nutzen
Eine Organisation und ihre Lieferanten sind voneinander abhängig. Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen erhöhen die Wertschöpfungsfähigkeit beider Seiten
der Zufriedenstellung seiner Anforderungen, bildet sich im Prozessmodell der ISO 9001 ab (⊡ Abb. 42.2): Aufgrund der Patienten (= Kunden)-Anforderung entwickelt die oberste Leitung (Praxisinhaber, Krankenhausleitung und Chefarzt) das auf die Erfüllung der Patientenanforderungen ausgerichtete medizinische Leistungskonzept, stellt die für die Leistungserbringung notwendigen personellen, technologischen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung, legt die diagnostischen und therapeutischen Leistungsprozesse fest und lässt diese durchführen und misst kontinuierlich den Zielerreichungsgrad und die Zu-
friedenheit der Patienten (und anderer an der Behandlungsleistung Interessierter) mit dem Ziel der kontinuierlichen Qualitätsverbesserung.
42.5
QualitätsmanagementMethoden
Für die praktische Umsetzung von Qualitätsmanagement bedarf es der Verfügbarkeit und Anwendung handwerklicher Methoden des Qualitätsmanaments, die hier nur
⊡ Abb. 42.2. Modell der ISO 9001
ständige Verbesserung des Qualitätsmanagementsystems
K U N D E N
Z U F R I E D E N H E I T
Produkt
Z U F R I E D E N H E I T
K U N D E N
990
42
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
dem Namen nach erwähnt werden können; zur Vertiefung sei auf Standardlehrbücher des QM verwiesen (Kamiske u. Brauer 2003; Masing 1999). Für die Problemerkennung und Problemanalyse finden Methoden Anwendung, die traditionell unter der Bezeichnung »die 7 Werkzeuge des Qualitätsmanagements« zusammengefasst werden (⊡ Abb. 42.3). Für die Fehlererfassung sind dies: Datensammelblatt, Histogramm und Qualitätsregelkarte (letzteres in der Medizin als »Fieberkurve« immer schon im Einsatz); für die Fehlanalyse: Paretodiagramm, Korrelationsdiagramm, Ursachen-Wirkungs-Diagramm (auch Fischgräten-Diagramm oder nach seinem Erfinder Ischikawa-Diagramm genannt) und das Flussdiagramm. Für die Umsetzung von Anforderungen im Rahmen der Entwicklung von neuen Produkten bzw. Dienstleistungen hat sich im QM die Methode des Quality Function Deployment (QFD) etabliert (⊡ Abb. 42.4). Die Anforderungen an die Ergebnisse eines diagnostisch-therapeutischen Leistungs- oder Unterstützungsprozesses werden systematisch erfasst (Lastenheft) und in technische Prozessmerkmale (Pflichtenheft) umgesetzt. Für die systematische Planung von Fehlerverhütung hat die ursprünglich in der Apollo-Raumfahrt entwickelte Methode der Fehler-Möglichkeits- und Einfluss-Analyse (FMEA) einen festen Platz in der »Werkzeugkiste« des QM inne (⊡ Abb. 42.5). Für einen ausgewählten Teilprozess (Beispiel: Überwachung akut suizidaler Patienten) wird eine erschöpfende Liste möglicher Fehler, Fehlerfol-
⊡ Abb. 42.3. Die 7 Werkzeuge des Qualitätsmanagements
gen und Fehlerursachen erarbeitet. Für jeden denkbaren Fehler werden die Fehlerfolgen nach Bedeutung gewichtet (0 bis 10), die Fehlerursachen nach Auftretenswahrscheinlichkeit der Fehlerursache geschätzt (0 bis 10) und die Fehlerentdeckungswahrscheinlichkeit (0 bis 10) ermittelt; aus allen drei Parametern wird eine Risikoprioritätenziffer errechnet durch Multiplikation der Einzelgewichte (0 bis 10 × 10 × 10), wodurch eine Priorisierung der besonders risikoträchtigen Fehlermöglichkeiten möglich wird und für jene 20% Fehlerursachen vordringliche Feh lerverhütungsmaßnahmen erarbeitet werden, die erfahrungsgemäß 80% der Risiken bewirken (ParetoPrinzip).
42.6
Aufbauorganisation und Dokumentation des Qualitätsmanagements
Die Einführung, Aufrechterhaltung und kontinuierliche Verbesserung eines Qualitätsmanagementsystems bedarf bestimmter Strukturen der Aufbauorganisation und definierter Dokumentationen der geplanten und durchgeführten Abläufe. In der Aufbauorganisation haben sich folgende Strukturelemente bewährt: Qualitätsmanagementbeauftragter, Qualitätslenkungsgruppe, Qualitätskonferenz, Qualitätszirkel, Qualitätsverbesserungsprojekte (⊡ Tab. 42.4).
991 42.6 · Aufbauorganisation und Dokumentation des Qualitätsmanagements
⊡ Abb. 42.4. Quality Function Deployment (nach Eichhorn)
42
992
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
42
⊡ Abb. 42.5. Fehlermöglichkeit und Einflussanalyse (FMEA)
⊡ Tab. 42.4. Aufbauorganisation des Qualitätsmanagements Strukturelement
Definition
Qualitätsmanagementbeauftragter (QMB)
Beauftragter der obersten Leitung mit der festgelegten Befugnis und Verantwortung dafür, dass ein Qualitätsmanagementsystem festgelegt, verwirklicht und aufrechterhalten wird, alle QM-Maßnahmen konsequent umgesetzt werden und deren Wirksamkeit kontinuierlich überprüft und dargestellt wird
Qualitätslenkungsgruppe
Üblicherweise die oberste Leitung (Geschäftsführung/Krankenhausleitung bzw. Praxisinhaber) plus QMB, die die Durchführung von Planung, Lenkung, Sicherung und Verbesserung aller qualitätsbezogenen Aspekte von Klinik bzw. Praxis steuern
Qualitätsbeauftragte
Beauftragte einzelner Bereiche (z. B. Stationen, Funktionseinheiten, Berufsgruppen), die in ihrem Bereich für die Pflege des QM-Systems Verantwortung tragen und die Bereichsleitung methodisch unterstützen
Qualitätskonferenz
Nur in größeren Organisationen (Krankenhaus) üblich und sinnvoll: Summe aller Qualitätsbeauftragten der Organisation, die die oberste Leitung bzw. den QM in der Lenkung des QM-Systems beraten und die qualitätsbezogene Kommunikation der Leitung mit der ausführenden Ebene fördern
Qualitätszirkel
Kleine institutionalisierte Gruppe von 5–12 Mitarbeitern, die regelmäßig zusammentreffen, um in Ihrem Arbeitsbereich auftretende Probleme freiwillig und selbständig zu bearbeiten
Qualitätsverbesserungsprojekte
Von der obersten Leitung oder einzelnen Bereichs- bzw. Funktionsleitungen eingesetzte, in der Regel multiprofessionell besetzte Gruppe mit definiertem Arbeitsauftrag und festgelegten zeitlichen und finanziellen Ressourcen zur von einer Projektleitung moderierten Erarbeitung eines Verbesserungsprojekts
Prozessverantwortliche
Von den Prozesseigentümern (i. d. Regel den Linienendverantwortlichen) eingesetzte, im jeweiligen Prozess arbeitende Mitarbeiter, die die Qualität des Prozessablaufs überwachen, Anstöße zur kontinuierlichen Verbesserung geben und Ansprechpartner bei Schnittstellenproblemen sind
993 42.7 · Qualitätsmanagementsysteme
⊡ Tab. 42.5. Dokumentation des Qualitätsmanagements Strukturelement
Definition
Qualitätsmanagementhandbuch
BÄK (Bundesärztekammer): Beauftragter der obersten Leitung mit der festgelegten Befugnis und Verantwortung dafür, dass ein Qualitätsmanagementsystem festgelegt, verwirklicht und aufrechterhalten wird, alle QM-Maßnahmen konsequent umgesetzt werden und deren Wirksamkeit kontinuierlich überprüft und dargestellt wird
Qualitätspolitik
BÄK: Übergeordnete Absichten und Ausrichtung einer Organisation zur Qualität, wie sie von der obersten Leitung formell ausgedrückt wurden. Generell steht die Qualitätspolitik mit der übergeordneten Politik der Organisation im Einklang und bildet den Rahmen für die Festlegung von Qualitätszielen
Prozesslandschaft
Aufgliederung der Organisationsprozesse in Kernprozesse (i. d. R. Patientenbehandlung ), Führungsprozesse (z. B. Führung, Zielentwicklung) und Unterstützungsprozesse (z. B. Personalmanagement, Materialwirtschaft, Finanzwesen, Haustechnik, Medizinprodukte, Essensversorgung, Labor, Apotheke) sowie Darstellung der wesentlichen Schnittstellen zwischen den Prozessen
Qualitätsziele
Von der obersten Leitung für die Gesamtorganisation bzw. von den Bereichsleitungen für die Bereiche (z. B. einzelne Abteilungen, Stationen, Funktionsgruppen) festgelegte, auf die Qualität bezogene strategische Ziele und ihre operative Umsetzung in Maßnahmen. Wichtig ist die Messbarkeit von Zielen
Prozessbeschreibungen
Beschreibung und verpflichtende Festlegung von Prozessen (z. B. Aufnahmeprozess, Diagnostikprozess, Behandlungsprozess, Entlassungsprozess, Prozess der Essensversorgung, Prozess der innerbetrieblichen Fortbildung)
Verfahrensanweisungen
Festlegung des Ablaufs eines Prozesses bzgl. »wer macht was wann wo«
Arbeitsanweisungen
Festlegung des Ablaufs eines einzelnen Prozessschritts bzgl. »wie wird es gemacht« (z. B. welche Labordiagnostik bei einer definierten Erkrankung, welche Daten werden in der administrativen Aufnahme eingegeben, welche Leistungen werden dokumentiert)
Qualitätsaufzeichnungen
Dokumentation aller qualitätsrelevanten Prozesse (z. B. Krankengeschichte, Kurvenführung, Verlaufsdokumentation, Audits, Managementbewertung)
In der Dokumentation des Qualitätsmanagements sind die unverzichtbaren Inhalte: Qualitätsmanagementhandbuch, Qualitätspolitik, Qualitätsziele, Prozesslandschaft, Prozessbeschreibungen, Verfahrensanweisungen, Arbeitsanweisungen und Qualitätsaufzeichnungen (⊡ Tab. 42.5). Interne Qualitätssicherung. Sie findet in Form von Pro-
zess- und Ergebnismessungen statt (etwa der psychiatrischen Basisdokumentation BADO oder dem Monitoring von unerwünschten Arzneimittelwirkungen und Komplikationen wie Suiziden, Entweichungen, Stürzen, fremdaggressiven Übergriffen u. a. m), die im Idealfall anhand von internem und externem Benchmarking (also dem Vergleich mit anderen und dem Lernen vom Klassenbesten) die Qualität der internen Behandlungs- und Unterstützungsprozesse sichert und kontinuierlich verbessert. Externe Qualitätssicherung. Sie findet als vertrauensbildende Darlegung der Qualitätsfähigkeit interessierten Dritten gegenüber (Patienten, Zuweisern, Kostenträgern, Öffentlichkeit) in Form von Zertifizierungen des Qualitätsmanagementsystems durch unabhängige Auditierung (ISO 9001) bzw. Visitation (KTQ) statt ( Kap. 42.10). Eine gesetzlich vorgeschriebene Beteiligung an externen Krankenhausvergleichen über die Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung (BQS) betrifft bislang nur definierte
Tracerdiagnosen und Prozeduren operativer Bereiche, (noch) nicht jedoch die Psychiatrie.
42.7
Qualitätsmanagementsysteme
Die ISO 9000 definiert ein Qualitätsmanagementsystem (QM-S) als ein »Managementsystem zum Leiten und Lenken einer Organisation bezüglich der Qualität«. Zum Aufbau eines eigenen einrichtungsinternen Qualitätsmanagements können 2 eingeführte Modelle als Referenz herangezogen werden: 1. das internationale Modell der DIN EN ISO 9001:2000 (im Folgenden ISO 9001 abgekürzt) und 2. zum anderen das europäische Modell der EFQM (European Foundation for Quality Management 1999). Abzugrenzen von diesen QM-Systemen sind die krankenhaus- bzw. praxisspezifischen Zertifzierungssysteme KTQ und QEP ( Kap. 42.10). Beides sind keine Qualitätsmanagementsysteme sondern setzen vielmehr die Einführung eines QM-Systems voraus. Die Ähnlichkeiten im Modell-Aufbau von ISO 9001 und EFQM lassen sich im Vergleich von ⊡ Abb. 42.2 (ISO 9001) und ⊡ Abb. 42.6 (EFQM) verdeutlichen: Beide Modelle sind prozessorientiert, beide bilden grundsätzlich den PDCA-Zyklus (Plan-Do-Check-Act) ab: Die Planung (»plan« = Qualitätsplanung) ist in der ISO 9001 in
42
994
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
⊡ Abb. 42.6. Modell der EFQM
Befähiger (50%)
Ergebnisse (50%)
42
Innovation und Lernen
den Bereichen »Verantwortung der Leitung« sowie im »Management der Ressourcen« verankert, im EFQMModell analog hierzu in den Bereichen »Führung«, »Politik und Strategie«, »Mitarbeiter« sowie »Partnerschaften und Ressourcen«. Die Durchführung (»do« = Qualitätslenkung) wird im ISO 9001-Modell vom Abschnitt »Produktrealisierung« angesprochen (wobei der Produktbegriff immer auch die Dienstleistung, in unserem Falle also die medizinische Behandlung, mit einschließt); in der EFQM wird dieser Bereich mit der Bezeichnung »Prozesse« belegt. Das Messen (»check« = Qualitätssicherung) findet im ISO 9001-Modell in den Bezeichnungen »Messung, Analyse« seinen Niederschlag, im EFQM-Modell in den Bereichen mitarbeiterbezogener, kundenbezogener, gesellschaftsbezogener und zentraler Ergebnisse. Das Anpassen (»act« = Qualitätsverbesserung) geht im ISO 9001Modell unmittelbar aus Messung und Analyse hervor und wird regelkreiskreisförmig als ständige Verbesserung des Qualitätsmanagementsystems auf die Qualitätsplanung der Leitung zurückgeführt, im EFQM-Modell wird dieser Regelkreis mit den Begriffen »Innovation und Lernen« geschlossen. Trotz der genannten Analogien im Modellaufbau bestehen aber grundlegende Unterschiede zwischen ISO 9001 und EFQM bezüglich Zielsetzung, Anspruchsniveau, Zertifzierbarkeit und Quantifizierbarkeit (⊡ Tab. 42.6). Zertifzierbar ist z. B. nur das »Mindestqualitäts«-Modell der ISO 9001, quantifizierbar dagegen nur das »Exzellenz«-Modell der EFQM. Quantifizierbar heißt: Sowohl über eine Selbstbewertung als auch über eine Fremdbewertung durch sog. Assessoren kann der Erreichungs- und Durchdringungsgrad für jedes der 9 Systemelemente des EFQM-Modells anhand eines umfangreichen Katalogs an Bewertungsfragen detailliert zahlenmäßig auf einer Summenskala von zwischen 0 und 1000 eingeschätzt werden. Exzellente Organisationen, die in die Auswahl um den European Quality Award kommen,
⊡ Tab. 42.6. Unterschiede zwischen den QM-System-Modellen ISO 9001 und EFQM Merkmal
ISO 9001
EFQM
Zertifizierbarkeit
Ja
Nein
Anspruchsniveau
Mindestqualität
Exzellenz
Quantifizierbarkeit
Nein
Ja (Punktwert zwischen 0 und 1000)
Preisbewertung
Nein
Ja (European Quality Award, LudwigErhard-Preis)
erreichen einen Punktwert von über 600; Organisationen mit einem noch geringen Reifegrad des Qualitätsmanagementsystems werden nur mit Mühe die 100-Punkte-Marke überspringen. Krankenhäusern und Arztpraxen mit einem bereits gut eingeführten QM-System werden in die Größenordnung von 300–400 Punkten kommen; Preisträger hat es aus dem Bereich des Gesundheitswesens bislang noch nicht gegeben.
42.8
Umsetzungsbeispiele
Die bisherigen Ausführungen waren theoretischer Natur. Sie sollen jetzt durch praktische Beispiele aus der Anwendung in der psychiatrischen Klinik und Praxis vertieft werden. Beispiele sollen insbesondere für die 4 zentralen Bestandteile des Qualitätsmanagements gegeben werden; für die 1. Planung, 2. Lenkung, 3. Sicherung und 4. Verbesserung der Qualität.
995 42.8 · Umsetzungsbeispiele
42.8.1
Qualitätsplanung
⊡ Tab. 42.7. RUMBA-Regel für die Definition von Qualitätszielen
Die Qualitätsplanung gehört in die zentrale, nicht delegierbare Verantwortung der obersten Leitung. Der Versorgungsauftrag des Krankenhauses bzw. der psychiatrischen Arztpraxis ist in der Regel durch den Zulassungsvertrag festgelegt. Mit der Formulierung der Qualitätspolitik legt die oberste Leitung den Rahmen fest, aus dem sie ihre Qualitätsziele ableitet. Dieser Rahmen beinhaltet Auftrag, Werte und Vision der Organisation. Die Formulierung der Vision stellt eine in der Regel auf mindestens 5 Jahre angelegte Vorausschau dar, die 2 Aspekte beinhalten: zum einen die auf der Kenntnis von Stärken und Schwächen beruhende Willensbildung, wohin sich die Klinik bzw. die Praxis in den nächsten Jahren entwickeln soll und zum anderen die Prognose, in welche Richtung sich die politischen, gesetzlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entwickeln werden. Aus diesem Spannungsfeld entwickelt die Krankenhausleitung bzw. der Praxisinhaber strategische Langfristziele, deren operative Umsetzung es gilt, mit den Mitarbeitern der Praxis bzw. der mittleren Führungsebene der Klinik abzustimmen und zu vereinbaren. Qualitätsziele und Unternehmensziele sind auf dieser strategischen Ebene inhaltlich kaum zu trennen. Auftrag, Werte und Vision werden sinnvollerweise plakativ in ein aus 5–10 Sätzen bestehendes Leitbild gefasst, welches Mitarbeitern, Patienten und interessierten Parteien wie Einweisern, Kostenträgern und der Öffentlichkeit als Orientierung dient und als solche in Form von Postern in der Klinik bzw. Praxis wie auch auf der Internet-Homepage öffentlich gemacht wird.
Regel
Erläuterung
Relevant
Das festzulegende Ziel soll für den Bereich von Bedeutung sein
Understandable
Die Formulierung des Ziels soll für die Mitarbeiter verständlich sein
Measurable
Das Ziel muss messbar sein, es sollten Zielwerte festgelegt und gemessen werden
Behaviorable
Die Zielgröße muss durch das Verhalten der Mitarbeiter beeinflussbar sein
Achievable
Der geplante Zielwert sollte erreichbar sein
chen werden auf der unmittelbar daruntergelegenen Prozessebene auf die einzelnen Behandlungs- und Unterstützungsprozesse bezogene Ziele definiert, die geeignet sind, das Erreichen der Ziele aus Patientensicht zu fördern; Zweite Ebene: Um die Behandlungs- und Unterstützungsprozesse erfolgreich ablaufen zu lassen, bedarf es kompetenter und motivierter Mitarbeiter sowie technologischer Innovationen; Dritte Ebene: Mitarbeiterentwicklung und technologische Innovationen werden entsprechend auf der dritten Zielebene beschrieben; Vierte Ebene: Ohne die notwendigen finanziellen Ressourcen können die patientenbezogenen Ziele des Krankenhauses bzw. der Arztpraxis nicht erreicht werden. Da die finanziellen Ressourcen begrenzt sind, gilt es, die Prozesse der Leistungserbringung so effizient (wirtschaftlich) wie möglich zu gestalten. Finanzielle Effizienzziele konstituieren die vierte Zielebene.
RUMBA-Regel. Die Umsetzung strategischer Ziele in ope-
rative Maßnahmen des Folgejahres bezieht insbesondere in funktionell und nach Bereichen gegliederten Organisationen wie einem Krankenhaus die Ableitung von Abteilungs-, Stations- bzw. Funktionsbereichszielen ein. Bei der Formulierung von Zielen ist darauf zu achten, dass sie relevant, verständlich, messbar, durch Verhalten beeinflussbar und erreichbar sind (sog. RUMBA-Regel, ⊡ Tab. 42.7). Balanced Scorecard (BSC). Ein anspruchsvolles Instru-
ment zur Ableitung und Systematisierung strategischer Ziele ist die Balanced Scorecard (BSC; Kaplan u. Norton 1996). Hier werden auf 4 untereinander gestaffelten Zielebenen (»Perspektiven« genannt) Ziele entwickelt, die sich gegenseitig vorantreiben: Oberste Ebene: Im Bereich des nichtprofitorientierten Gesundheitswesens steht an oberster Ebene die Zielebene aus Patientensicht (also gute Behandlungsergebnisse und zufriedene Patienten). Um dies zu errei-
In profitorientierten Organisationen rückt diese finanzielle Zielebene allerdings an die höchste Position: Mitarbeiterentwicklung und Innovationen, Prozessoptimierung und Ergebnisqualität dienen auch dem Ziel, eine möglichst hohe Kapitalrendite zu erzielen. Zweiter Aufgabenbereich der obersten Leitung ist die formale Festlegung der für die Erfüllung des Auftrags notwendigen Prozesse (Hauptprozess, i. d. R. Diagnostik und Therapie; Führungsprozesse, s. o, Unterstützungsprozesse). Der dritte Aufgabenbereich der obersten Leitung ist das Management der Ressourcen. Die Krankenhausleitung bzw. der Praxisinhaber muss die für die Aufgabenerfüllung und die Zielerreichung notwendigen Ressourcen bereitstellen und lenken. Von zentraler Bedeutung sind dabei die personellen Ressourcen: es muss der Personalbedarf nach Quantität und Qualifikation ermittelt, das notwendige Personal rekrutiert, allokiert und eingearbeitet werden, die Mitarbeiter müssen den Werten der
42
996
42
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
Organisation entsprechend kooperativ und zielorientiert geführt werden, das Personal muss seinen Aufgaben wie auch ihren persönlichen Interessen entsprechend entwickelt werden, d. h. die bestehende Qualifikation muss aufrechterhalten, zusätzlich benötigte Qualifikationen müssen durch innerbetriebliche und externe Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen (u. a. Facharztweiterbildung!) vermittelt werden. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen muss evaluiert werden. Die Arbeitsumgebung muss dem Arbeitsauftrag entsprechend gestaltet werden (Ausstattung mit Betriebsmitteln wie Arbeitsplatzrechner mit Intranet- und Internetzugang, Einhaltung gesetzlicher und behördlicher Arbeitsschutz- und Arbeitszeitvorgaben). Schließlich müssen die gebäudliche und apparative Infrastruktur und die Kooperationen gemanagt werden (u. a. Konsilwesen, Einkauf fremder diagnostischer Leistungen). Im psychiatrischen Kernbereich der diagnostischen und therapeutischen Leistungserbringung stützt sich die Qualitätsplanung vor allem auf die vorliegenden operationalisierten Diagnosesysteme ICD-10 und DSM-IV, Leitlinien der wissenschaftlichen Fachgesellschaften ( Kap. 42.9) sowie störungsspezifische psychotherapeutische Behandlungsmanuale etwa im Bereich von Borderline-Erkrankungen [dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan].
42.8.2
Qualitätslenkung
Die inhaltliche Festlegung und Steuerung der Prozesse ist der Gegenstandbereich der Qualitätslenkung. Wie soll der administrative Aufnahmeprozess an der Praxisrezeption bzw. bei Klinikaufnahme erfolgen, wie die pflegerische und ärztliche Aufnahme auf Station und deren Integration und Abstimmung mit der ärztlichen Aufnahme? Welche Vorgaben müssen als Orientierungshilfe (Leitlinien), als Sollvorschriften (Verfahrensanweisungen, Arbeitsanweisungen, Standards) und welche als strafbewehrte Vorgaben (Richtlinien, Dienstanweisungen) für Diagnostik und Therapie sowie für die Ablaufregelung der Unterstützungsprozesse (Labor, apparative Diagnostik, externe Konsile, Apothekenversorgung, Hygiene, Essensversorgung, Reinigung, Patiententransport, Hol- und Bringedienste) festgelegt werden? Wie werden diese Vorgaben dokumentiert und wie werden diese Dokumente gelenkt, d. h. wie wird sichergestellt, dass immer nur aktuelle, bezüglich Erstellungsdatum und Freigabe eindeutig identifizierbare Vorgabedokumente am Arbeitsplatz verfügbar sind (Vorhaltung in Aktenordnern und/oder im Intranet)? Wie wird sichergestellt, dass Diagnostik und Therapie stets nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Forschung erfüllt und gleichzeitig die dafür vom Kostenträger in Anspruch genommenen finanziellen Ressourcen nur das Notwendige und Ausreichende an
Leistung abdecken? Wie wird sichergestellt, dass im Leistungserstellungsprozess sämtliche vom Patienten bzw. Einweiser bzw. Kostenträger formal vorgegebenen Anforderungen erfüllt und dass alle relevanten gesetzlichen und behördlichen Vorgaben eingehalten werden (Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit nach SGB V, Medizinproduktegesetz, Medizinproduktebetreiberverordnung, Hygienerichtlinien des Robert-Koch-Instituts, Röntgenverordnung, Strahlenschutzverordnung, Arbeitsschutzgesetz, Arbeitssicherheitsgesetz, Berufsgenossenschaftliche Unfallverhütungsvorschriften, Bildschirmarbeitsplatzverordnung, Datenschutzgesetz (u. a.)? Wie werden diese Vorgaben den Mitarbeitern vermittelt und sichergestellt, dass sie auch eingehalten werden bzw. bei Abweichungen von Leitlinien der Grund der Abweichung dokumentiert wird? Sind alle relevanten Risiken erkannt und Maßnahmen zur Risikoabwehr geplant (medizinische Notfälle, nichtmedizinische Notfälle wie Brandoder Katastrophensituationen)?
42.8.3
Qualitätssicherung
Die vertrauensbildende Darlegung der Fähigkeit, die geforderten Qualitätsanforderungen zu erfüllen, ist Gegenstand der Qualitätssicherung. Gesetzliche Vorgaben zur Beteiligung an Maßnahmen der externen vergleichenden Qualitätssicherung treffen im Krankenhausbereich (noch) nicht den psychiatrischen Bereich: Die gesetzliche Teilnahmeverpflichtung nach § 137 bezieht sich auf definierte Erkrankungen bzw. Diagnosen im Bereich von Chirurgie, Orthopädie, Geburtshilfe, Kardiologie, Herzchirurgie und Pflege. Hingegen gibt es freiwillige Maßnahmen sowohl hinsichtlich der internen, als auch der externen Qualitätssicherung und Selbstbewertungen.
Interne Qualitätssicherung Freiwillige Maßnahmen. Diese haben in der stationären
Psychiatrie eine lange Tradition. Zu nennen ist hier vor allem die von der DGPPN entwickelte psychiatrische Basisdokumentation (Cording et al. 1995). Viele Kliniken ermitteln des weiteren fortlaufend Komplikationsraten wie Suizide, Suizidversuche, Entweichungsraten, Unterbringungsraten, Fixierungsraten sowie absetzrelevante Unerwünschte Arzneimittelwirkungen. Projektgebundene Maßnahmen der internen Qualitätssicherung sind ferner Zufriedenheitsbefragungen von Patienten, Einweisern und Mitarbeitern. Betriebswirtschaftliche Messungen. Typische betriebs-
wirtschaftliche Messungen im Rahmen der Qualitätssicherung sind Soll-Ist-Vergleiche von vereinbarten und erzielten Berechnungstagen, Kurzliegeranteilen, mittlerer Verweildauer sowie Arzneimittel- und Sachkostenverbräuchen pro Berechnungstag.
997 42.8 · Umsetzungsbeispiele
Prozessbezogene Kennzahlenmessungen. Sie werden
üblicherweise überall dort vorgenommen, wo Wartezeiten qualitätsrelevant sind: Wartezeiten bis zur stationären Aufnahme, bei der administrativen Aufnahme und bis zur ersten Kontaktaufnahme auf Station, in der Funktionsdiagnostik (EEG, Bildgebung), und von besonderer Bedeutung für die Zuweiser des Krankenhauses: Wartezeiten bis zum Herausgehen des endgültigen Arztbriefes (z. B. ausgedrückt in Prozent der endgültigen Arztbriefe, die innerhalb von 2 Wochen das Krankenhaus verlassen).
Externe Qualitätssicherung Freiwillige Maßnahmen der externen Qualitätssicherung finden sich in der Psychiatrie vor allem im Bereich der Arzneimittelüberwachung in Form einer systematischen Erfassung, Bewertung und Kommunikation absetzrelevanter unerwünschter Arzneimittelwirkungen, sei es auf Bundesebene (AMSP) oder auf Länderebene (Bayern: AGATE). Eine behördlich vorgeschriebene Form der externen Qualitätssicherung im Bereich der Strukturqualität existiert ausschließlich in der stationären Psychiatrie in Form der dreimonatlichen Erhebung und vergleichenden Veröffentlichung der Patientenstruktur sowie den aus der Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) resultierenden Personalansprüchen.
Selbstbewertungen Zu den auf die Funktionsfähigkeit des Qualitätsmanagementsystems bezogenen Qualitätssicherungsmaßnahmen gehören des weiteren Selbstbewertungen nach vogebenen Selbstbewertungssystemen, etwa Selbsteinschätzung nach dem KTQ-Katalog, Selbst-Assessment nach dem EFQM-Modell oder interne Audits zur Überprüfung der Normkonformität mit der ISO 9001 bzw. dem Aufdecken von Verbesserungspotenzialen nach der ISO 9004. Auch die bei ISO-Ausrichtung verpflichtende jährliche Managementbewertung sowie das externe Zertifizierungsbzw. Überwachungsaudit gehört zu den klassischen Maßnahmen der vertrauensbildenden Darlegung der Qualitätsfähigkeit nach außen.
42.8.4
Qualitätsverbesserung
Grundidee jedes Qualitätsmanagements ist das Streben nach kontinuierlicher Verbesserung. Jeder diagnostische und therapeutische Prozess, jedes Behandlungsergebnis, aber auch das Qualitätsmanagementsystem als Ganzes, muss regelmäßig überwacht und als Ergebnis des Soll-IstVergleichs kontinuierlich verbessert werden. Mehrere methodische Voraussetzungen müssen erfüllt werden, um das Krankenhaus bzw. die Praxis in die Lage zu versetzen, mögliche Verbesserungspotenziale zu identifizie-
ren und auszuschöpfen. Erste Voraussetzung ist die als Vorbild gelebte Verpflichtung der obersten Leitung, also der Krankenhausleitung bzw. des Praxisinhabers zur Qualität und ihrer kontinuierlichen Verbesserung. Wird diese Werthaltung nicht gelebt, wird es nicht möglich sein, sie den Mitarbeitern der Klinik bzw. der Praxis abzuverlangen. Zweite Voraussetzung ist die in der Wertewelt der Organisation (z. B. im Leitbild) zu verankernde Beteiligung aller Mitarbeiter an der kontinuierlichen Verbesserung (Total Quality Management). ! Qualität ist nicht an andere deligierbar, jeder ist für die Qualität seiner eigenen Arbeit und deren kontinuierlichen Verbesserung selber verantwortlich; demnach muss er auch von der Führung motiviert und autorisiert werden, eigenverantwortlich Verbesserungspotenziale zu identifizieren und zu realisieren. »Fehlerverzeihende Kultur«. Verbesserungen resultieren
ganz wesentlich aus beobachteten Fehlern oder der Entdeckung potenzieller Fehlerquellen. Die Organisation Praxis bzw. Krankenhaus wird umso erfolgreicher ihr theoretisches Verbesserungspotenzial mobilisieren, je ausgeprägter ihre fehlerverzeihende Kultur ist. Fehlerverzeihende Kultur meint eine Grundhaltung von Führenden und Geführten, dass ein beobachteter Fehler stets als Chance begriffen wird, aus ihm zu lernen und durch eine Beseitigung von Fehlerursachen die Wahrscheinlichkeit der Fehlerwiederholung zu senken. Fehlerverzeihende Kultur ist also das Gegenteil von fehlerbestrafender Kultur – was freilich nicht als Freibrief für Fahrlässigkeit oder Vorsatz gemeint ist. Critical Incidence Reporting Systems. Die systematische
Erfassung, Auswertung und Kommunikation von Beinahefehlern in Form eines anonymisierten Critical Incidence Reporting Systems (CIRS) gewinnt gegenwärtig in der klinischen Medizin eine zunehmende Bedeutung. Vorbeugemaßnahmen, wie sie durch gesetzliche und behördliche Vorschriften vorgeschrieben und in innerbetrieblichen Verfahrensanweisungen umgesetzt sind (z. B. Hygienepläne, Notfallpläne, Einweisungen nach Medizinproduktebetreiberverordnung), werden von der ISO 9001 genauso gefordert, wie die systematische Beseitigung von Fehlerursachen (sog. Korrekturmaßnahmen). Weitere Quellen kontinuierlicher Verbesserungen sind: ein innerbetriebliches Vorschlagswesen, die systematische Bearbeitung und Auswertung von Patienten-, Angehörigen- und Einweiserbeschwerden sowie kontinuierliche oder periodische Zufriedenheitsbefragungen von Patienten, Einweisern und Mitarbeitern.
42
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42
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
Wesentliche Verbesserungen resultieren aber auch aus der kontinuierlichen Überwachung von Prozessen. Die oberärztliche Supervision des Stationsarztes, Oberarztund Chefarztvisiten, Pflegevisiten, Fallkonferenzen, Teambesprechungen und Teamsupervisionen sind traditionelle Formen der Prozessüberwachung von Diagnostik und Therapie in der Klinik bzw. Praxis. Prozessüberwachung schließt aber auch die Überwachung jener Messmittel ein, die für den diagnostischen und therapeutischen Prozess eingesetzt werden – also Blutdruckmessgeräte, Blutzuckermessgeräte, EKG, EEG, bildgebende Verfahren.
42.9
Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien, Algorithmen
42.9.1
Evidenz-basierte Medizin (EbM)
ben und die Entscheidungsfindung für eine angemessene Behandlung in spezifischen Krankheitssituationen erleichtern sollen. Die nachfolgenden Übersichten geben die Definition sowie die Ziele von Leitlinien wieder.
Definition von Leitlinien Systematisch entwickelte Entscheidungshilfen, wissenschaftlich begründete praxisorientierte Handlungsempfehlungen,»Orientierungshilfen« im Sinne von »Entscheidungskorridoren«, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss Transparenter, reproduzierbarer Konsens von Experten; RCT, Metaanalysen, Delphianalysen Regelmäßige Aktualisierung
Evidenz-basierte Medizin beinhaltet zum einen metho-
Ziele von Leitlinien
disch die systematische Bewertung von Nutzen und Risiken, zum anderen dient sie als Entscheidungshilfe für Klinik und Praxis. Dies impliziert die Anwendung der besten zzt. vorhandenen externen Evidenz aus systematischer Forschung kombiniert mit der individuellen klinischen Erfahrung (»nachweisorientierte Medizin«, externe und interne Evidenz). Leitgedanke ist, dass Entscheidungen auf objektiven, publizierten Daten basieren sollen. In Abhängigkeit vom zugrunde gelegten Datenmaterial wird in der EbM eine hierarchische Einteilung der Evidenz in Evidenzstufen bzw. nach Evidenzgraden (Grad Ia–Grad IV bzw. Level A–D) vorgenommen ( Kap. 15; Sackett et al. 1997; Gray 2004; Laux 2007). Als »Goldstandard« hat sich in der Therapieforschung die randomisierte, kontrollierte Studie (RCT) etabliert (höchster Evidenzgrad), allerdings wird bemängelt, dass RCTs das Feld der Versorgung nicht ausreichend genau abbilden können (Schmacke 2006). Aktuell diskutiert werden patientenrelevante Endpunkte anstelle von Surrogatparametern, da durch falsche Auswahl von Wirksamkeitsparametern (Surrogatergebnisse versus klinische Endpunkte) Trugschlüsse und Irrtümer hinsichtlich Behandlungsmaßnahmen entstanden sind (Übersicht: Mühlhauser u. Meyer 2006). EbM setzt somit voraus, dass der Arzt mit den Grundlagen wissenschaftlicher Methodologie und Statistik vertraut und in der Lage ist, sich über das vorhandene empirische Wissen z. B. über Datenbanken zu informieren und dieses kritisch zu bewerten.
Vermeidung unnötiger und überholter medizi-
42.9.2
Leitlinien
Zu den Instrumenten der EbM gehören Leitlinien (Guidelines), die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiederge-
nischer Maßnahmen und unnötiger Kosten
Berücksichtigung systematisch entwickelter Entscheidungshilfen, Etablierung von Standards
Verminderung von Qualitätsschwankungen Motivation zu wissenschaftlich begründeten Therapie-Entscheidungen/-strategien
Information der Öffentlichkeit (Patienten, Angehörige, Kostenträger)
Leitlinien geben einen Entscheidungskorridor, einen klinischen Pfad vor und sollen in Deutschland nach dem Sozialgesetzbuch künftig die Grundlage zur Beurteilung der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung sein. Leitlinien müssen eine Reihe von Qualitätsanforderungen erfüllen. Die Entwicklung durch fachlich legitimierte Gruppierungen und die regelmäßige Revision/Aktualisierung gehört derzeit und künftig zu den Kernaufgaben wissenschaftlicher Fachgesellschaften. Inzwischen existiert eine Vielzahl von Leitlinien international wie national; zu den ersteren gehören vor allem die Guidelines der American Psychiatric Association (APA), der Kanadischen, Britischen und Australisch-Neuseeländischen Psychiater-Gesellschaften, zu letzteren die der DGPPN (APA 2006; DGPPN 2006). Auch zur Diagnostik in Versorgungskliniken oder für spezielle Situationen wie Suizidalität wurden Leitlinien vorgelegt (Laux et al. 2003; Dick et al. 2006). Jüngst wurde eine Leitliniencheckliste – das Deutsche Instrument zur methodischen LeitlinienBewertung (DELBI) – vorgelegt. Zweifelsohne ist das Bestreben, mittels EbM und Leitlinien mehr Therapietransparenz mit homogeneren Therapieentscheidungen zu erreichen, prinzipiell zu begrüßen. Vor einer Überbewertung ist allerdings zu warnen:
999 42.9 · Evidenzbasierte Medizin, Leitlinien, Algorithmen
Als alleinige Basis für Leitlinien und Disease-Management-Programme (DMP) wird eine checklistenartige »Programm-Medizin« mit Patienten als statistischen Größen propagiert. Evidenz-basierte Leitlinien beschreiben das Prozedere im (weltweiten) Durchschnitt, der behandelnde Arzt muss im Einzelfall entscheiden, was richtig ist (Antes 2004). Die Akzeptanz von Leitlinien vor allem von in der Praxis tätigen Ärzten ist bislang begrenzt: Zum einen existiert inzwischen eine Vielzahl von Leitlinien, die empirischen Daten sind komplex und nicht zu durchschauen, zum anderen sind die Daten zur Effektivität rar und inkonsistent. Kritisch wird die übertriebene Vereinfachung, die Gefahr der Überinterpretierung, ja der Dogmatisierung gesehen, und auch, dass die proklamierte Aktualisierung kaum umgesetzt wurde. Guidelines offerieren zum Teil nur viele Optionen, sind somit vage, ja banal. Kritiker bemerken weiter, dass sie von wenigen Personen geschrieben sind und ihr Ziel der Verbesserung ärztlichen Tuns (bislang) nicht erreicht hätten (Linden 2005; Hasenbein u. Wallesch 2005).
⊡ Abb. 42.7. Guideline »Therapieresistente Depression« der World Federation of Societies of Biological Psychiatry. (Aus Bauer et al. 2004)
42.9.3
Algorithmen
Ein wichtiges Element sind Entscheidungsalgorithmen, d. h. Behandlungsempfehlungen in sequenzieller Abfolge mit standardisierter Evaluation des Therapieerfolgs zu kritischen Entscheidungszeitpunkten – typischerweise mittels psychometrischer Skalen. Therapiealgorithmen bieten also strukturierte, systematische Behandlungsempfehlungen (»Stufenpläne«) mit dem Ziel einer Steigerung der Behandlungseffizienz an. Eine inadäquate Behandlungsdurchführung mit teilweise wahllos aneinandergereihten, unkontrolliert vorgenommenen Therapien soll vermieden werden. Neben dem Berliner wurde bislang das Texas-Medication-Algorithmusprojekt bekannt (Adli et al. 2002; Trivedi et al. 2004). Beide evaluierten algorithmusgestützte Therapien für stationäre bzw. ambulante Patienten mit depressiven Störungen und konnten deren Nutzen bzgl. Therapieergebnis und Gesundheitsökonomie belegen. Ein anderes Beispiel ist der vom Weltverband vorgestellte Algorithmus zum Prozedere bei sog. therapieresistenten Depressionen (Bauer et al. 2004; ⊡ Abb. 42.7).
Therapeutische Möglichkeiten bei teilweisem oder keinem Ansprechen auf die anfängliche Behandlung mit einem Antidepressivum bei Major Depression
Teilweises oder kein Ansprechen auf eine 4- bis 6-wöchige Behandlung mit einer antidepressiven Medikation in adäquater Dosierung1
Optimierung der Behandlung (Dosiserhöhung)
Kombination zweier Antidepressiva aus unterschiedlichen Klassen2
Augmentationsstrategien 1. Wahl: Lithium Andere: Schilddrüsenhormone (T3 oder T4), Pindolol, Bispiron
Erwägen einer zusätzlichen Psychotherapie zu jedem Zeitpunkt während der Behandlung
Wechsel zu einem neuen Antidepressivum aus einer anderen oder der gleichen pharmakologischen Klasse2
Erwägen einer EKT zu jedem Zeitpunkt während der Behandlung
1
Teilweises Ansprechen: 26–49%ige Abnahme der Schwere der depressiven Symptomatik; kein Ansprechen: ≤25%ige Abnahme der Schwere der depressiven Symptomatik
2
Vorsicht bei der Kombination mit irreversiblen MAO-Hemmern
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1000
Kapitel 42 · Qualitätsmanagement in der psychiatrischen Therapie und Versorgung
42.10
42
Zertifizierung
Zertifizierung meint ein Verfahren, in dem ein (unparteiischer) Dritter schriftlich bestätigt, dass ein Erzeugnis, ein Verfahren, eine Dienstleistung oder eine Organisation in ihrer Gesamtheit vorgeschriebene Anforderungen erfüllt (Bundesärztekammer). Im Krankenhausbereich sind 2 verschiedene Zertifizierungssysteme im Einsatz: 1. das branchenübergreifende, internationale System der DIN EN ISO 9001:2000 (abgekürzt ISO 9001) und 2. das krankenhausspezifische, rein deutsche System der KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen). Arztpraxen können nach der ISO 9001, nach einer praxisspezifischen Variante der KTQ (KTQ-Prax) sowie nach dem von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung entwickelten System QEP (Qualität und Entwicklung in Praxen) zertifiziert werden. Es gibt in Deutschland keine gesetzliche Verpflichtung, ein Krankenhaus oder eine Arztpraxis zertifizieren zu lassen. Dementsprechend sind sowohl Krankenhauszertifizierungen als auch Praxiszertifizierungen nach der damals noch einzigen Möglichkeit der ISO 9001 bis Ende der 1990er Jahre eine Seltenheit geblieben. Erst mit der Verschärfung der QM-Anforderungen des SGB V ab dem Jahr 2000 hat sich in den letzten Jahren ein sprunghafter Anstieg von Zertifizierungen im Krankenhausbereich ergeben. ! Die seit 2003 bestehende krankenhausspezifische Zertifizierung nach KTQ haben innerhalb von 3 Jahren bis Ende 2006 annähernd 500 Krankenhäuser vollzogen, d. h. annäherend ein Viertel aller deutschen Krankenhäuser; der jeweils aktuelle Stand KTQ-zertifizierter Krankenhäuser ist auf der Homepage der KTQ zu sehen (http://www.ktq.de/ index.php). Ein Überblick über die Zahl der nach ISO 9001 zertifizierten Krankenhäuser ist methodisch nicht möglich, da ISO-Zertifizierungen durch mehr als 40 verschiedene akkreditierte Zertifizierungsstellen vorgenommen werden und weder das DIN noch die ISO ein für den Interessierten einsehbares zentrales Zertifizierungsregister führt. Eine repräsentative Umfrage von Blumenstock et al. (2005) aus dem Jahr 2004 ergab, dass seinerzeit 29% der befragten Krankenhäuser in Teilbereichen (wie etwa Küche, Zentralsterilisation, OP, Medizintechnik, Brustzentrum oder eine einzelne Klinik) oder komplett ISOzertifziert waren (KTQ-Zertifizierungen beziehen sich im Unterschied hierzu immer auf den gesamten Krankenhausbereich). Eine eigene Vollbefragung von 24 versorgungspflichtigen nicht-universitären psychiatrischen Krankenhäusern in Bayern ergab, dass zum damaligen
Zeitpunkt (Stand: Mitte 2006) 37% der Kliniken bereits zertifiziert waren und sich weitere 41% auf dem Wege zur Zertifizierung befanden, so dass bei insgesamt 78% eine Zertifizierung angestrebt oder bereits erfolgt war. Auch in anderen Bundesländern wie etwa Baden-Würtemberg oder Nordrhein-Westfalen sind die psychiatrischen Versorgungskliniken fast vollständig auf dem Weg zur Zertifizierung oder haben das Ziel bereits erreicht; faktisch ist die Zertifizierung in psychiatrischen Kliniken damit ein bereits erreichter Standard. Die Orientierung an KTQ bzw. ISO 9001 gestaltet sich allerdings regional sehr unterschiedlich: Während sich in Bayern 85% der Häuser für die ISO 9001 und nur 15% für die KTQ entschieden haben, sind sämtliche Zentren für Psychiatrie in Baden-Würtemberg und in Nordrhein-Westfalen KTQ-orientiert. KTQ und ISO 9001 sind zwei mögliche, wenn auch strukturell unterschiedliche Wege zur Zertifizierung des Qualitätsmanagementsystems.
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42
1003
Sachverzeichnis Band 1
A Aachener Aphasietest 496 Abbaumaße 487 abnorme Erlebnisreaktionen 384, 385 Abnorme Varianten seelischen Wesens 380, 384 Abreaktion 700 Abstinenz 710 Abulie 450 Abwehr 707 – Auslösesituation 708 Achtmonatsangst 242 Adaptionsphänomene 600 ADAS 462 ADHS-Therapeutika 620 Affektarmut 449 Affekte 235 Affektinkontinenz 450 affektive Erkrankungen 139, 574 – bildgebende Verfahren 574 – fMRT 139 affektive Psychosen 116 affektive Störungen 124, 132, 149, 200, 216, 237, 328 – Bildgebung 132 – evozierte Potenziale 216 – Histopathologie 124 – neuropsychologische Störungen 237 – 5-HT2-Rezeptordichte 149 – strukturelle Bildgebung 132 – transkulturelle Aspekte 328 Affektivität 448 Affektlabilität 450 Affektstarre 449 Agitiertheit 450 Agnosie 496 Agoraphobie 760 – psychophysiologisches Modell 761 – Therapieprozess 761 – Verhaltenstherapie 760 Aggressivität 451 Akoasmen 448 Aktivität 890 Aktivitäten des täglichen Lebens 893 aktuelle Anamnese 415 akustisch evozierte Potenziale 216, 532 Alaninaminotransferase (ALAT) 518 Alertness 493 Algorithmen 999 Alkoholabhängigkeit 133, 576, 770 – Bildgebung 133 – CT 576 – MRT 576 – theoretische Modelle 770 – therapeutischer Prozess 771
– Verhaltenstherapie 771 Alkoholismus 517, 518 – biochemische Marker 517 – Laborparameter 518 Alprazolam 639 Alter 246 Alzheimer-Demenz 520, 521, 536 – Amyloid Precurser Protein (APP) 94, 521 – Apolipoprotein E (ApoE) 520 – Ätiopathogenese 520 – β-Amyloid(1-42) 521 – EEG-Analyse 536 – genetische Disposition 520 – senile Plaques 521 – tangles 521 – τ-Protein 521 Ambivalenz 450 ambulante Psychotherapie 950 ambulante Soziotherapie (AST) 872, 878 ambulante Versorgung 950 AMDP-Syndrome 460 AMDP-System 462 , 467 Amentia 378 Aminpräkursoren 161 analytische Gruppenpsychotherapie 723 analytische Psychotherapie 721 analytischer Prozess 716 Anamneseerhebung 410 – Bereiche 410 Androgynie 290 Angehörigenarbeit 928, 930 – Abhängigkeit 931 – affektive Störungen 932 – Angst- und Panikstörungen (PTSD) 932 – Anorexia nervosa 933 – organische Störungen 930 – Schizophrenie 931 – Sexualstörungen 933 – Typen 931 – Zwangsstörungen 933 Angehörigengruppen 929 Angst 449 – generalisierte 449 – phobische 449 Angsterkrankungen 181 – GABA 181 Angst-Glücks-Psychose 386 Ängstlichkeit 449 Angststörungen 858 Anhedonie 449 Anschubfinanzierung 964, 965 anthropologische Aspekte 305 anthropologische Psychiatrie 21, 307 Antidementiva 619, 660 – Wirksamkeit 660 Antidepressiva 203, 601, 608, 630, 632, 633, 635, 637 – adaptive Veränderungen 606
– – – – – – – – – – – – – – – –
Akutbehandlung 631 Dosierung 636 duale 633 Entwicklung 630 Erhaltungstherapie 633, 635 immunologische Effekte 203 Indikationsgebiete 637 klinische Wirkprofile 604 Langzeitbehandlung 633 Langzeitstudien 635 neurotrophe Hypothese 608 prophylaktische Therapie 633 Rezeptorprofile 602 Sedierungspotenz 604 unerwünschte Wirkungen 604, 632 Wiederaufnahmehemmung (re-uptake-inhibition) 605 – Wirkung auf Rezeptoren 603 – Wirkungsmechanismen 601 Antiepileptika 637 »Antipsychiatrie« 21, 259 Antipsychotika 654 – Rezidivprophylaxe 654 – tardive Dyskinesien 660 Antrieb 450 Antriebsstörungen 450 Apolipoprotein E 94, 520 Apoptose 174 Appetenzstörungen 452 Apraxie 496 Arbeitsbündnis 696 Arbeitsdiagnostik 916 Arbeitsfähigkeitenkreis 894 Arbeitsgedächtnis 500 Arbeitslosigkeit 954 Arbeitsrehabilitation 877 Arbeitstherapeutische Verfahren 893 Arbeitstherapie 885 Arzneimittelüberwachung 997 Ärztliche Gesprächsführung 691 Ärztliche Visite 300 Ärztliches Gespräch 695 Arzt-Patient-Beziehung 298, 301 Aspartataminotransferase (ASAT) 518 Assertive Community Treatment (ACT) 880, 942 Assoziationsstudien 50 Assoziationsuntersuchungen 101 Ätiopathogenese 41, 43 – modulare Modelle 43 Atomoxetin 620 Attributionstheorie 253 atypische Neuroleptika 614, 647, 657 – orale Rezidivprophylaxe 657 – Wirkungsmechanismus 614 Auffassungsstörung 444 Aufmerksamkeit 232, 492, 493, 494 – geteilte 494
A
1004
Sachverzeichnis Band 1
– selektive 493 Aufmerksamkeits-Belastungs-Test 493 Aufmerksamkeitsdimensionen 493 Aufmerksamkeitssysteme 233 Auftragsklärung 835 Ausschlussdiagnostik 578 autogenes Training 783, 794 – Effektivität 796 – Indikationen 796 – Kontraindikationen 796 – Oberstufe 796 – Unterstufe 795 Autoimmunerkrankungen 201 automatische Gedanken 754 Autopoiesis 819 Azetylcholin 160, 164 Azetylcholinesterasehemmer 619, 661 – Verträglichkeit 661 – Wirksamkeit 661
B Balanced Scorecard (BSC) 995 Balint 257 Basisdokumentation 996 Basisstörungskonzept 452 BDI 464 BDNF (brain derived neurotrophic factor) 607 Beck Depression Inventar (BDI) 474 Befehlsautomatismus 450 Befindlichkeitsskala (Bf-S) 473 Befunderhebung 419, 435, 440, 455 – psychopathologische 440 – standardisierte 455 Befundkonstellationen 430 Belastungs-Überforderungsprozesse 284 Benzodiazepine 618, 639, 642 – Hang-over-Effekt 642 – Nebenwirkungen 642 – pharmakologische Wirkungen 618 – therapeutische Anwendungen 639 – Toleranzentwicklung 642 Benzodiazepinhypnotika 641 Benzodiazepinrezeptor 169 Benzodiazepintranquilizer 638 Beobachtbarkeit 348 Beobachtungsebene 349 Beobachtungsgleichheit 356 berufliche Eingliederung 952 Berufsförderungswerke 952 beschützende Heime 953 Beschwerdenliste (BL) 473 Besessenheit 334 betreute Wohneinrichtungen 952 Bettenzahl 946 Bewältigung (Coping) 285 Bewegungskoordination 425 Bewusstsein 443 Bewusstseinseinengung 444 Bewusstseinsstörungen 427 Bewusstseinstrübung 443 Beziehung 710 Beziehungsanamnese 413
Beziehungsgestaltung 697 Bezugsrahmen 321 BfArM 976 bildgebende Verfahren 553 Bildgebungsforschung 129, 146 – Untersuchungsparadigmen 146 Bindungstheorie 243 Binswanger 312 Biofeedback 784, 799, 805 – Effektivität 805 – Indikationen 805 – Kontraindikationen 805 biografische Anamnese 409, 411 biologische Merkmale 210 biologische Psychiatrie 228, 350 biomedizinisches Modell 39 biopsychosoziales Krankheitsmodell 32, 228, 230 bipolare affektive Störungen 757 Bleuler 15, 385 Blutbild 512 Blut-Hirn-Schranke 199, 200 – HLA-System 200 Blut-Liquor-Schrankenfunktion 515 Blutspiegelverlauf 585 Bonhoeffer 15, 377 Borderline-Pathologie 732 Borderline-Übertragung 717 Bowlby 243 BPRS 462 Braid 781 Brain-fag-Syndrom 335 Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS) 469 Bulbärhirnsyndrom 428 Buspiron 642 Butyrophenone 645 Carbamazepin 610, 611
C Carbohydrate Deficient Transferrin (CDT) 519 Carus 781 Case Management 878, 880, 942 CERAD-Batterie 504 Charakterstruktur 257 Charcot 782 Checklisten 405 Chlorpromazin 653 Chorea Huntington 567 chronische Belastungen 283 chronische körperlich begründbare Psychosen 383 CIDI 468 Clozapin 512, 544 – Agranulozytose 512 – EEG 544 Community Support Systems 941 Compliance 915 Composite International Diagnostic Interview (CIDI) 404 Computertomografie (CT) 554 Copingressourcen 285 Core Evidence 977
CREB 166, 171, 176, 607 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung 538 – EEG-Muster 538 CRH-1-Rezeptor-Antagonist 190 CRH-Stimulationstests 188 Critical Incidence Reporting System 997 CT 430 – Indikationen 430 Cushing-Syndrom 188 CYP2D6 522 CYP-Isoenzyme 589
D d2 493 Daseinsanalyse 312 Datensammlung 410 – psychiatrische 410 Defizitmessung 487 DELBI 998 Delir 539 Demenz 503 – Testverfahren 503 Demenz, Alzheimer 179 – Azetylcholindefizit 179 Demenzen 133, 238 – Bildgebung 133 – neuropsychologische Störungen 238 demenzielle Syndrome 151 – Glukosemetabolismus 151 – PET 151 Denkhemmung 445 Denkstörungen 445 – formale 445 Dependenzanalyse 356 Depersonalisation 448 Depotarzneiformen 594 Depotneuroleptika 657 – Rezidivprophylaxe 658 Depressionen 140, 179, 187, 202, 203, 229, 608, 634, 731, 753, 755, 756 – Aktivitätsaufbau 755 – Förderung der sozialen Kompetenz 755 – gelernte Hilflosigkeit 179 – HHA-System 187 – Hypoaktivierung 140 – Immunsystem 202 – Integratives Modell 229 – Interleukin-6 202 – kognitive Verhaltenstherapie 753 – kognitive Verhaltenstherapie 756 – Langzeitverlauf 634 – neurodegenerative Hypothese 608 – Noradrenalinhypothese 179 – Serotoninhypothese 179 – Therapeutisches Basisverhalten 755 – Verhaltensanalyse 755 – zelluläres Immunsystem 203 depressive Syndrome 329 – interkultureller Vergleich 329 – Somatisierung 329 – transkulturelle Symptomvariationen 329 Derealisation 448 Deskription 437 deskriptive Psychopathologie 351
1005 Sachverzeichnis Band 1
deskriptiver Ansatz 391, 394 Deutungen 714, 715 Dexamethason-CRH-Test 188 Dexamethason-Suppressionstest 188 Dezentralisierung 942 DHEA 194 Diagnostik 405 – Untersuchungsinstrumente 405 diagnostische Manuale 398 diagnostischer Prozess 402, 403 – Fehlerquellen 403 dialogische Positivierung 734 Diätetik 693 Diffusions Tensor Imaging 130 Dimere 176 DIN EN ISO 9001:2000 993 Dipolquellenanalyse 216 – LAAEP 217 Disease Management 943 Dismaturationsprozess 131 Dopamin 121, 160, 165 dopaminerge Projektionsbahnen 612 dopaminerges System 165 Dopplersonografie 432 Dosierungsintervall 592 Dosis 591 Dreiinstanzenmodell 255 Drifthypothese 280 Drogenabhängigkeit 577 DSM-III 389 DSM-IV 36, 37, 389, 401 – Achse I 401 – Achse II 401 – Achse III 401 – Achse IV 401 – Achse V 401 – multiaxiale Ansätze 401 DSM-V 38 Duplexsonografie 432 Durcharbeiten 716 Durchgangssyndrome 382, 383 Dynamische Psychotherapie 726 Dysbindin 82 Dysphorie 449
E E4-Allel 94 EbM 972 EEG 544, 545 – Antidementiva 546 – Antidepressiva 545 – Benzodiazepine 546 – Carbamazepin 545 – Clomethiazol 546 – Clozapin 544 – Lithium 545 – Neuroleptika 544 EEG-Feedback 804 EEG-Untersuchung 530 Effectiveness 359 Effektoren 171 Effektstärke 974
Efficacy-Effectiveness-Gap 964 Effizienzkriterien 364 EFQM 993, 994 Einheitspsychose 374 Einstellung der Bevölkerung 954 Einstellung professioneller Helfer 272 Einzelfallstudien 362 Einzelgruppenuntersuchungen 362 EKT 671 – Indikation 673 – Kontraindikationen 674 – Nebenwirkungen 674 – Praktische Durchführung 672 – Wirkmechanismus 671 Elektrodermale Aktivität (EDA) 221 Elektrogenese 535 Elektrokrampftherapie 671, 672 Elektromyografie (EMG) 431 Elektroneurografie 431 Elektrophysiologie 210 elektrophysiologische Diagnostik 431 Eliminationshalbwertszeit 588, 593 EMEA 976 EMG-Feedback 803 emotionale Misshandlung 249 Emotionen 230, 231, 235 – Neuropsychologie 236 Emotionspsychologie 230 Empathie 854, 693 empirische Forschung 345 empirische Psychiatrie 353 Empowerment 24, 274, 301 endogene Psychosen 382 Endogenität 390 Endon 307 Endophänotypen 75 Entscheidungslogik 981 Entspannung 700, 785 Entspannungsreaktion 784 Entspannungsverfahren 777, 779, 785, 810 – historischer Überblick 779 – Indikationen 786 – Kontraindikationen 786 – Leitlinien 810 Entwicklungskrisen 706 Entwicklungsmodell 239 – transaktionales 239 Entwicklungspsychopathologie 239, 246 Entwicklungsschaden 257 Entwicklungsstörungen 247, 706 Epidemiologie 55 – Grundgesamtheit 58 – Stichproben 58 Epigenetik 77 epileptische neuronale Aktivität 218 episodische periodische Psychosen 327 Erbgesundheitsgesetz 19 Ereigniskorrelierte Potenziale (EKP) 531 Ergebnisqualität 987 ergotherapeutisches Assessment 888 Ergotherapie 876, 884, 886, 892, 894 – Befunderhebung 886 – Definition 884 – Geschichte 884 – Material 892 – Paradigmen 884
A–F
– Wirkfaktoren 894 Erhebungsinstrumente 466 – vollstandardisierte 466 Erickson 791 Erikson 241 Erklären 440 Erlebtes Leben 820 erlernte Hilflosigkeit 254 Erwachsenenzeit 245 Erwerbstätigkeit 291 Erzähltes Leben 821 Erzählung 828 Erziehungsstil 239 Erziehungsverhalten 239 Es 255 Esquirol 7 – moral insanity 7 Ethnologie 320 Ethylglucuronid 520 Euphorie 449 Evaluation 359 Evidenz 972 Evidenz-basierte Medizin (EbM) 972, 998 Evidenzgrad 975, 976, 998 Evidenzgraduierung 975, 979 Evidenzkriterien 976, 977 evozierte Potenziale 431 exekutive Funktionen 234, 499 existenzialistisches Modell 259 Existenzphilosophie 842 exogene Reaktionstypen 378 Expertendominanz 929 expressed emotions 287 expressive Psychotherapie 726 Exzellenz-Modell 994
F Faktorenlösungen 468 Falldefinition 61 Falsifikationsprinzip 347 Familie 288 Familienanamnese 416 Familienbild 246 Familienmodell 259 Familiensysteme 260 FDA 976 FDG-PET 563 Feldstudien 62 figurale Gedächtnistests 498 Flimmerverschmelzungsfrequenz (CFF) 222 Fluphenazin 655 fokale Anfälle 218 – psychische Störungen 218 forensische Anamnese 417 forensische Psychiatrie 949 Forschungsmethoden 345 Frankl 847 Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI) 475, 502 Fremdanamnese 417 Fremdbeurteilungsskalen 462 Fremdreflexe 423
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Sachverzeichnis Band 1
Freud 15, 254 – Behaviorismus 16 – Psychoanalyse 16 frühe Kindheit 242 funktionaler Ansatz 51 funktionelle Entspannung 808 funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) 139, 557 Funktionsdiagnostik 45, 47, 48, 916
G GABA 122, 160, 169 GABA-Benzodiazepin-Rezeptorkomplex 617 γ-Glutamyltransferase (GT) 518 Ganzheitliche Störung 862 Gaupp 14 Gedächtnis 195, 233, 496 Gedächtnisstörungen 444 Gedächtnissysteme 234, 497 Gedächtnistestbatterien 497 Gedankenausbreitung 448 Gedankeneingebung 448 Gedankenentzug 448 Gegenübertragung 713 Gemeindenähe 948 gemeindenahe Versorgung 941 Gene 74 generalisierte Angsterkrankung 758 Genetik 71, 77 – Adoptionsstudien 99 – affektive Störungen 83 – Alkoholismus 90 – Alzheimer-Demenz 93 – Angsterkrankungen 87 – bipolare Störungen 83 – Demenzen 93 – Depression 83 – Drogenabhängigkeit 91 – Familienstudien 98 – Nikotinabhängigkeit 91 – Panikstörung 88 – Schizophrenie 77 – Zwangsstörung 88 – Zwillingsstudien 99 Genom 74 Genomscan 101 Geschichte 3 – Animismustheorie 6 – antike Medizin 4 – Humoralpathologie 4 – Neurose 6 Geschlechterstereotype 292 Geschlechtsrolle 289 geschlechtsspezifische Verteilungen 290 Gesichtererkennen 498 Gesprächspsychotherapie 853 Gestaltpsychologie 842 Gestalttherapie 848 gestufte Aktivhypnose 792 Gesundheitsmodelle 34 – humanistische 34 – religiöse 34 – Salutogenese-Konzept 34 – transpersonale 34
Gießen-Test (GT) 476, 502 Ginkgo-biloba-Extrakt 619 Glasgow Coma Scale 427 Gleichgewichtstheorien 178 Gleichstellung 943 Glia(zellen) 120 Global burden of disease 66 – Angststörungen 68 – Demenzielle Erkrankungen 68 – depressive Erkrankungen 67 – Schizophrenie 67 – Substanzmissbrauch 68 Globusgefühl 452 Glukokortikoidrezeptor 189 Glukokortikoidrezeptor-Antagonisten 190 Glutamat 121, 168 Glutamatantagonisten 168 Glutamatdehydrogenase (GLHD) 518 Glutamatrezeptor 168 Glyzin 160 – Glyzinsystem 169 Goldstein 843 G-Proteine 171 Griesinger 9, 10, 266, 373 – Degenerationslehre 11, 18 – Materialismus 9 – Rassenhygiene 11, 18 – Stadtasyle 10 Growth-hormone-Releasinghormon (GHRH) 191 Gütekriterien 457, 486 – testtheoretische 457
H Halluzinationen 447 Halo-Effekt 351, 463 – (Thorndike) 629 Haloperidol 645, 652, 653 – Dosiseffekte 647 – extrapyramidalmotorische Verträglichkeit 652 – Nebenwirkungen 647, 653 – Wirksamkeit 647 HAMA 462, 467 Hamilton-Depressionsskala (HAMD) 470 handlungsorientierte Therapie 916 Handlungsteil 491 Hauptdiagnosen 398 HDL-Cholesterin 519 Heinroth 8 hepatischer Metabolismus 589, 595 Herkunftsfamilie 412 hermeneutische Ansätze 311 Herzfrequenzvariation (HRV) 221 HHA-System 186 Hirnanatomie 118 – Geschichte 118 Hirnläsionen 113 Hirnnerven 420, 421 – Routineuntersuchung 421 Hirnplastizität 112 Hirnschäden 115 – alkoholbedingt 115
Hirnstammfunktionen 427 Hirnstammreflexe 427 Hirnstammsyndrome 428 Hirntumoren 579 Histamin 160 HIV-Infektion 539, 863 – EEG 539 – gestalttherapeutischer Ansatz 863 HLA-Serologie 200 – System 195 Hoche 14, 377 Hollingshead-Index 278 – psychiatrische Morbidität 280 Homöostasemodell 51 humanistische Psychologie 258, 844 humanistische Psychotherapieverfahren 841 hyperästhetisch-emotionelle Schwächezustände 378 Hypnose 784, 792, 793 – Effektivität 793 – Indikationen 792 – Kontraindikationen 792 Hypnotherapie 790 Hypnotismus 781 hypothalamisch-hypophysär-adrenales (HHA-)System 186 hypothalamisch-hypophysär-gonadales (HHG-)-System 191 hypothalamisch-hypophysär-somatotropes (HHS-)System 191 hypothalamisch-hypophysär-thyreoidales (HHT-)System 190 Hypothesen 350 – Findung 350 – Prüfung 350
I IBRP 916 IBZM-Bindung 564 ICD-10 36, 396, 397, 398, 400 – Achse I 400 – Achse II 400 – Achse III 400 – multiaxiales System 400 – Kodierungsebenen 397 – Versionen des Kapitels V (F) 398 ICD-11 38 ICF 916 Ich 255, 257 Ich-Funktionen 256 Ich-Psychologie 705 Ich-Störungen 448 Ich-struktuelle Störung 258 IDCL 406 Ideenflucht 445 Identitätslehre 32 IL-6 197 Illusionen 447 imaginative Verfahren 808 Immunabwehr 195 Immungenetik 199 – HLA-System 199
1007 Sachverzeichnis Band 1
Immunsystem 194, 196 implizite Gedächtnistests 499 Indolamine 167 Informationsdefizit 300 Informationsverarbeitung 110, 158 – kortikal 110 – zerebral 110 Inkohärenz 446 Inkongruenz 854 institutionsbezogene Versorgung 939 Institutsambulanzen 950 Insuffizienzgefühle 449 integrierte Versorgung 943, 965, 966, 967 – Antragsstellung 966 – Aufwand 966 – Disease Management 963 – gesetzliche Vorgaben 965 – Münchner Modell 967 – Probleme 968 – psychiatrische Modellprojekte 965 Intelligenz 241, 451 – fluide 241 – kristalline 241 Intentionalität 450 Intent-to-treat-Analyse 358 Intent-to-treat-Stichprobe 630 interaktionelle Psychotherapie 727 Interaktionen 523, 595 – pharmakokinetische 595 Interaktionsdefizite 300 Interaktionspotenziale 596 Interaktionszirkel 240 Interleukin-2 198 Interleukin-6 198 International Classification of Functioning, Disabilities and Health (ICF) 65, 916 Internationale Diagnosencheckliste 406 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit 65, 916 interpersonelles Modell 260 Introspektionsfähigkeit 697 Inzidenz 59 IQWiG 976 ISO 9000 993 ISO 9001 989, 1000 isoelektrische Fokussierung 516 ITT-Analyse 358
J Jacobson 783 Jasper 17, 309, 378, 440 Jugendalter 244
K Kahlbaum 12, 375 kardiovaskuläres Feedback 805 katathymes Bilderleben 808 Katecholamine 164
Kennmuskeln 425 Ketaminpsychose 149 Kindesmisshandlung 240 Kindheit 244 Klassifikation 37, 321 – Achsen 37 – kulturabhängige Syndrome 321 Klassifikationssysteme 371, 393 – operationalisierte 393 – traditionelle 371 klassisches Konditionieren 252, 745 Kleine-Levin-Syndrom 547 Kleist 14, 386 Klienten 836 klientenzentrierte Psychotherapie 853 Kliniksuizide 958 klinische Demenz 537 – P300 537 klinische Prüfung 355, 628, 629 – ethische Standards 629 – Phase I 628 – Phase II 629 – Phase III 629 – Phase IV 629 kognitiv-behaviorale Therapie 253 kognitive Leistung 490 kognitive Psychologie 252 kognitive Therapie 744 kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit 493 kognitive Verhaltenstherapie 744 Kommunikationssystem 821, 823 Komorbidität 73 Komorbiditätsprinzip 398 Konfabulationen 444 Konfidenzintervall 974 Konflikt 258 Konfliktmodell 256 – psychodynamisches 256 Konfliktstörungen 706 konsiliarpsychiatrische Versorgung 949 Kontextualität 826 Konversionsneurosen 730 Konversionssymptome 452 Konzentrationsstörungen 444 konzentrative Bewegungstherapie 807 Kopplungsuntersuchungen 100 Körperhalluzinationen 448 körperlich begründbare Psychosen 382 körperliche Misshandlung 250 Korrelate 49 Kortisolsynthese 189 Kosten 959 Kraepelin 13, 375, 376 Kraftgrad 424 Krankenhausfinanzierungsgesetz 948 Krankenhausmortalität 957 Krankenhausversorgung 299 Krankheitsanamnese 409 Krankheitseinheiten 375 Krankheitseinsicht 452 Krankheitsgefühl 451 Krankheitsgewinn 256, 698 Krankheitsmodelle 28 – wissenschaftliche 31 – subjektive 31 Kranksein 308
Kretschmer 14 Krisen- und Notfallversorgung 951 kritische Lebensereignisse 271 KTQ 993, 1000 Kulte 327 Kultur 320 kulturabhängige Syndrome 335 kulturelle Ausdrucksvarianten 326 kulturelle Einflüsse 321 – Leitlinien 321 Kunsttherapie 896 – Definition 896 – Geschichte 896 – Grundlagen 897 – Indikationen 898 – Methoden 897 – Ziele 898
L LAAEP 216 Laborchemische Diagnostik 511 Laborkontrollen 512 Laienkonzepte 272 Lamotrigin 611 L-Dopa 165 Lebende Systeme 819 Lebensabschnitte 242 Lebensereignisforschung 283 Lebensereignisse 281 Lebensgeschichte 411 – objektive 411 – subjektive 411 Lebenspartnerschaft 414 Lebensqualität 296 – objektive 297 – subjektive 297 – Typen 298 Lebensspanne 241 Lebenszeit(life time)prävalenz 59 Lebenszeitprävalenz 64 Leberwerte 513 Leib-Seele-Problem 31 Leitlinien 975, 988, 998 Leonhard 15, 386 Lernen 234 Lernprinzipien 745 lerntheoretische Grundlagen 745 Lichttherapie 679, 681, 683 – Dauer 682 – Indikation 683 – Nebenwirkungen 683 – photochemische Hypothese 681 – praktische Durchführung 681 Liquor/Serum-Quotient 516 Liquordiagnostik 432, 433, 514 – Indikationen 432 Liquor-IgG-Gehalt 199 Liquorpunktion 515 Lithium 610, 637 – Wiederauftretensraten 637 – Wirkungsmechanismen 610 LOCF-Methode 630 Lodscore-Methode 101
F–L
1008
Sachverzeichnis Band 1
logische Struktur 347 logischer Fehler 351, 463 – (Newcomb) 629 Logorrhö 443 Logotherapie 847 Loops 177 Loose-Binding-Concept 615 Lorazepam 641 LORETA 215 lösungsorientierte Befragung 833 Low-T3-Syndrom 190 Lübecker Fähigkeitenprofil 888 Lues-Screening 513 Lumbalpunktion 512
M MADRS 462, 471 Magie 779 Magnetenzephalografie 136 Magnetismus 780 Magnetresonanzspektroskopie (MRS) 130, 559 Magnetresonanztomografie (MRT) 555 Manieriertheit 443 manisch-depressive Störung 757 – verhaltenstherapeutische Interventionen 757 Marchiafava-Bignami-Syndrom (MBS) 577 Materialismus 32 Meditation 807 Mehrfachwahl-Wortschatz-Intelligenztest (MWT-B) 492 Melancholiekonzeption 314 Memantin 619 menschliches Leben 819 – Phänomenbereiche 819 Merkfähigkeitsstörungen 444 Merkmalslisten 405 Mesmer 7, 780 – Psychiker 8 – romantische Psychiatrie 8 – Somatiker 8 Metaanalysen 973, 974 Metaanalyseresultate 976 Metaerzählungen 828 Methylphenidat 620 Metyrapon 189 Migranten 336 – gesundheitliche Gefährdung 336 – Krankheitskonzepte 338 Migration 336 Migrationsprozess 337 Milieutherapie 872, 878 mind-brain 31 Mini-Mental-Status-Test 504, 505 Mirtazapin 633 Missbrauch 249 Mittelhirnsyndrom 428 Mittelwert 458 mittleres Erythrozytenvolumen (MCV) 518 MMPI 474 MMPI-2 502
Model of Human Occupation (MOHO) 885 Modell des Selbst 245 Modelllernen 746 Monismus 32 Monoamine 161 Mono-Neurotransmittertheorien 177 Morbus Alzheimer 115, 565 – hirnpathologisch 115 – cCT 565 – Hippokampusregion 565 – MRT 565 – PET 565 – SPECT 565 – zerebrale Atrophie 565 Morbus Binswanger 569 Morbus Parkinson 566 – MRT 566 Morbus Pick 566 – cCT 566 – MRT 566 – PET 566 – SPECT 566 Morbus Wilson 567 Moreno 846 Mortalitätsraten 958 Mosaiktest 495 Motorik 424 multiaxiale Diagnostik 400 – psychosoziale Funktionseinschränkungen 400 multiaxialer Aufbau 389 Multimorbidität 399 multiple Baseline-Technik 363 multiple Sklerose (MS) 579 multivariates Design 357 Musiktherapie 898 – Definition 898 – Geschichte 899 – Grundlagen 900 – Indikationen 901 – Methoden 901 – Musikinstrumentarium 900 – Ziele 901 Muskeleigenreflexe 423 Mutismus 443
N Nackensteife 427 Narkolepsie 547 narzisstische Persönlichkeitsstörungen 731 Nebendiagnosen 398 Negativismus 450 Neologismen 446 NEO-Persönlichkeitsinventar 502 Nephelometrie 516 Nervenärzte 950 Neuregulin 82 neuroaktive Steroide 192 neuroendokrinologische Grundlagen 185 Neurofeedback (FPH) 804 Neurofibrillen 116 – neuropathologische Befunde 116
Neurohypnologie 781 Neuroleptika 203, 606, 611, 612, 613, 643, 655, 658 – Akutbehandlung 643 – immunologische Effekte 203 – Niedrigdosierungsstrategie 659 – Rezeptorblockade 612 – Spätdyskinesien 658 – Wirkmechanismen 611 – Wirkung 606, 613 Neurone 121 – dopaminerge – GABAerge – glutamaterge Neuropeptide 169 Neurophilosophie 23 neurophysiologische Grundlagen 209 neurophysiologische Untersuchungsmethoden 529 Neuropil 120 Neuropsychologie 232, 484 neuropsychologische Behandlungsverfahren 893 neuropsychologische Testbatterien 504 Neurosen 116, 730 Neurosenlehre 254 – psychodynamische 254 Neurosteroide 192 neurotische Persönlichkeiten 706 – Systematik 707 neurotische Störungen 333, 708 – Entwicklungsdiagnostik 708 – transkulturelle Aspekte 333 Neurotransmission 157 Neurotransmitter 159 Neurotransmitterkonzentrationen 146 Neurotransmittersysteme 160 Neutralität 824, 835 Neutropenie 512 nichtkonvulsiver Status epilepticus 540 – EEG-Diagnose 540 Nimodipin 619 NMDA-Rezeptor 168 Non-Compliance 300 Noradrenalin 160, 165 Noradrenalinwiederaufnahmehemmer 633 noradrenerges System 167 Normalverteilung 485 Normalverteilungskurve 458 Normbereich 514 Normen 988 Normwerte 457 nosologische Klassifikation 35 Notfalluntersuchung 426 Number Needed To Harm (NNH) 975 Number Needed To Treat (NNT) 974 Nutzen-Risiko-Abwägung 980
O Objektbeziehungspsychologie 257 objektive Tests 456 Objektivität 457, 486 Observed-case-Stichprobe 630
1009 Sachverzeichnis Band 1
Odds Ratio (OR) 60, 975 öffentliches Bild psychisch Kranker 271 Öffentlichkeitsarbeit 954 OPD 401 Open the doors 274 operantes (instrumentelles) Konditionieren 252, 745 operationale Diagnostik 37 operationalisierte Psychodynamische Diagnostik 256, 401, 402 Operationalisierung 22, 352, 390 Opioidpeptide 170 orale Bioverfügbarkeit 588 organische psychische Störungen 542 – EEG 542 organische Psychosyndrome 113 osmotische Myelinolyse (OM) 577 Östrogene 192 Outcome 239 Overprotection 243
P P300 211, 542 Paliperidon 614, 616 Panikattacken 220, 449 Panikerkrankungen 760 Panikstörung 219, 639, 761 – Anfälle 219 – Epilepsie 220 – psychophysiologisches Modell 761 – Studienergebnisse 639 – Verhaltenstherapie 760 PANSS 462 paradoxe Intervention 762 Parakinesen 443 Parallelisierung 355 Paramnesien 444 Paranoid 447 Paranoid-Depressivitäts-Skalen 472 parasuizidale Handlungen 451 Parathymie 450 Partizipation 301 pathogene psychosoziale Faktoren 248 pathogenetische Endstrecke 390 Patientenbefragungen 295 Patientenorientierung 301 Patientenrechte 300 Patientenzufriedenheit 294 PDCA-Zyklus 988 Peptide 161 periiktuale psychische Störungen 220 Perls 849 Perseveration 445 personale Ressourcen 285 personenzentrierte Versorgung 940 Persönlichkeit 502 Persönlichkeitsbeschreibung 451 Persönlichkeitseigenschaften 181 – harm avoidance 181 – novelty seeking 181 – reward dependence 181 Persönlichkeitsfragebögen 476, 502
Persönlichkeitsstörungen 116, 762, 764 – Affektstörungen 764 – dysfunktionale Kognition 764 – Therapeutische Leitlinien 766 – Therapeutischer Prozess 765 – Verhaltenstherapie 762 Persönlichkeitszüge 451 personzentrierte Psychotherapie 855, 858 – Basismerkmale 861 Persuasion 700 PET-Untersuchungen 145 p-Glykoprotein 522 Phänomenologie 843 phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie 306 phänomenologischer Ansatz 309 Phänotypen 73 Pharmako- vs. Psychotherapie 635 Pharmakogenetik 97, 522 Pharmakogenomik 97 Pharmakokinetik 585, 787, 597 – Alter 597 – Phase-I-Reaktionen 587 – Verteilungsvolumina 587 Phase-advance-Hypothese 675 – Phase-advance-Therapie 676 – praktische Durchführung 676 Phase-I-Reaktionen 589 Phase-II-Reaktionen 589 Phenothiazine 643 Piaget 253 Pinel 6 Place-and-train-Ansatz 877 Plasmaspiegel 592 Plastizität 112 Plazebogruppe 361 plazebokontrollierte Studien 629, 978 pontine Myelinolyse 577 poor-metaboliser 522 PORT 976 Positronenemissionstomografie (PET) 145, 561 Post- und interiktuale Psychosen 220 postiktualer Dämmerzustand 220 Post-mortem-Untersuchungen 182 Postpartalzeit 191 Post-stroke-Depression 576 posttraumatische Belastungsstörungen 134 Prägnanztypen 383 Prävalenz 59, 66, 290 – geschlechtsspezifisch 290 Pregabalin 611, 642 – Angriffspunkte 611 Pregnenolon 194 Primäraffekte 235 primäre Verrücktheit 374 Primärpersönlichkeit 411, 450 Problemsystem 817 progressive Muskelrelaxation 783, 797 – Durchführung 798 – Effektivität 799 – Indikationen 798 – Kontraindikationen 798 Projektionsbahnen 178 – dopaminerge 178 – noradrenerge 178
L–P
– serotoninerge 178 projektive Testverfahren 503 Protektive psychosoziale Faktoren 248 Prozentränge 485 Prozessqualität 987 pseudoneurasthenisches Syndrom 384 Psychiatrie 320 – transkulturelle 320 psychiatrische Abteilungen 949 psychiatrische Betten 946 psychiatrische Diagnostik 351 psychiatrische Exploration 308 Psychiker 373 psychische Gesundheit 33 psychische Krankheit 35 psychische Krankheiten 439 – Nominaldefinition 439 – Realdefinition 439 psychische Störungen 267 – geografische Variation 268 – in Europa 267 – kulturelle Einflüsse 268 psychische Struktur 257 psychisches Modell 39 Psychoanalyse 704, 709 – Geschichte 704 – Krankheitskonzept 705 – methodischer Rahmen 709 psychoanalytische Behandlungsstrategien 717 psychoanalytische Fokaltherapie 722 Psychodrama 846 Psychodynamische Hypnotherapie 791 Psychodynamische Psychotherapie 703, 718, 737 – Indikation 719 – Wirkungsnachweise 737 psychodynamisch-psychoanalytisches Krankheitsmodell 254 Psychoedukation 877, 924 psychoedukative Interventionen 926 psychogene neurologische Symptome 429 psychologische Grundlagen 227 psychologische Testdiagnostik 483 psychologischer Test 484 Psychomotorik 442 psychomotorische Ausdrucksformen 443 psychoneuroendokrinologische Grundlagen 186 psychoneuroimmunologische Grundlagen 185, 194 psychopathische Persönlichkeiten 384 Psychopathologie 380, 440 – deskriptive 440 – Systemik 380 psychopathologischer Befund 442 Psychopharmaka 203, 584, 587 – Eliminationshalbwertszeiten 587 – Klassifikation 584 – Phase-II-Reaktionen 587 Psychopharmakotherapie 583, 627 – Grundlagen 583 Psychophysischer Dualismus 31 Psychophysischer Parallelismus 31 Psychosen 733 – psychodynamische Aspekte 733
1010
Sachverzeichnis Band 1
psychosomatische Kliniken 949 psychosomatisches Modell 39 – integrative Modelle 41 psychosoziale Behandlungsverfahren 892 psychosoziale Interventionen 872, 876 psychotherapeutische Basisaspekte 694 psychotherapeutische Verfahren 360 – Einflussfaktoren 360 psychotherapeutisches Milieu 736 Psychotherapie 341, 697, 782 – Begriff 782 – Indikationsstellung 697 – kulturübergreifende Wirkfaktoren 341 Psychotherapieevaluation 739 Psychotherapieforschung 738 Psychotherapieverfahren 718 – psychoanalytisch begründet 718 Psychotonik 809 Punktprävalenz 59 Pupillometrie 221 Pupillomotorik 421
Q Qualitätslenkung 996 Qualitätsmanagement 985 – Aufbauorganisation 992 – Begriffe 987 – Definitionen 987 – Dokumentation 993 – gesetzliche Grundlagen 986 – Grundsätze 989 – Methoden 989 – Werkzeuge 990 Qualitätsmanagementsysteme 993 Qualitätsplanung 995 Qualitätssicherung 972, 996 – externe 997 – interne 996
R randomisierte kontrollierte Studien 738, 975 Randomisierung 355 rationale Psychotherapie 781 Raven-Test 492 RCTs 975 Reaktionsexposition 762 Reaktionszeitmessungen 493 reaktive Psychosen 387 Realwissenschaften 347 Real-world-Studien 359 Reboxetin 633 recovery 873 Reflexe 423, 425 Regelkreisläufe 177 Regression 710 Rehabilitation 873, 911, 918 – Achsen 914 – Definition 912 – Elemente 914
– Evidenz 918 – Finanzierung 919 – Gerontopsychiatrie 918 – Konzepte 912 – Organisation 919 – rechtliche Zuordnung 920 – Rechtsgrundlagen 919 – Suchtkrankheiten 918 – Wirksamkeit 914 Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke (RPK) 952 Rehabilitationsziele 890 rehabilitative Leistungen 944 Reil 781 Reliabilität 457, 486 REM-Schlaf-EEG 542 Resilienz 248, 249 respiratorisches Feedback 804 Rezeptoren 162, 599 Rezeptorgrundtypen 163 Rezeptorsubtypen 162 Rezeptortyrosinkinasen 172 Richtlinien 988 Risiko 248 Risikofaktoren 49 Risperidon 657 Rogers 258, 853 Rollenwandel 300 romantische Psychiatrie 373 Rorschach-Verfahren 503 Rosenthal-Effekt 351, 463, 629 Routinelaborwerte 514 RPK-Einrichtungen 919 RUMBA-Regel 995
S saisonal abhängige Depression (SAD) 680 – Melatoninhypothese 680 – Phasenverschiebungshypothese 680 Salutogenese-Konzept 34 SCAN 468 Schädel-Hirn-Trauma (SHT) 579 Schichtbegriff 278 Schichtenregel 416 Schichtzugehörigkeit 278 Schilddrüsenuntersuchung 513 schizoaffektive Psychose 387 schizophrene Erkrankungen 569, 767, 864 – Bildgebung 569 – personzentrierte Gesprächspsychotherapie 864 – therapeutischer Prozess 768 – Verhaltenstherapie 767 schizophrene Psychosen 116, 122, 130, 139, 148, 180, 199, 201, 211, 236, 268, 269, 270, 322, 386, 395, 452, 558, 571, 653, 768 – Basissymptome 452 – diagnostische Eingangskriterien 395 – diagnostische Hauptgruppen 396 – Dopaminhypothese 180 – Dopaminmetabolismus 148 – Double-bind Theorie 270 – Epidemiologie 322 – expressed emotion 270
– Familienatmosphäre 270 – fMRT 139, 558 – frühkindliche Umgebung 270 – Glutamathypothese 180 – Hebephrenie 324 – Hirnentwicklungsstörung 122 – Immunsystem 201 – Katatonie 324 – Langzeitbehandlung 653 – Migrationsstudien 268 – P300 211 – paranoider Subtyp 324 – Pathogenese 571 – Prävalenz 323 – Rezidivprophylaxe 653 – soziale Selektion 269 – soziokulturelle Einflussfaktoren 323 – sozioökonomische Einflussfaktoren 269 – Strukturelle Bildgebung 130 – Subtypen 324 – systematische 386 – transkulturelle Aspekte 322 – unsystematische 386 – Verlaufsstudien 269 – Zytokine 201 Schizophrenie-Spektrum 78 – Zwillingsstudien 80 Schlafapnoesyndrom 547 Schlafentzugsbehandlung 675, 676 – Effektivitätsbeurteilung 677 – Indikation 678 – Nebenwirkungen 678 – Wirkmechanismus 675 Schlafpolygrafie 533, 547 Schlafprofil 534 Schlafstadien 533, 534 Schlussintervention 837 Schneider 18, 381, 385, 441 Schrankenstörung 199 Schuldgefühle 449 Schule der Salpêtrière 782 Schule von Nancy 782 Schultz 783 Schutzfaktoren 248 Schwerbehindertengesetz 944 SCL-90 464 Screeninginstrumente 60 Second messenger 170 Seelenstörungen 376 – Einteilung 376 Sektorisierung 942 Selbst 245, 257, 850 Selbst-(Identitäts-)System 245 Selbstbeurteilungsskalen 463 Selbstbeurteilungsverfahren 464 Selbstschädigendes Verhalten 451 Selektionshypothese 280 selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer 632 Self-Report Symptom Inventory (SLC-90) 474 Senile Plaques 116 Sensibilität 424 Sensitivität 60, 486 Serotoninsynthese 167 Serotonintransporter-Gen 86 Sertindol 648, 652, 653 – extrapyramidalmotorische Verträglichkeit 652 – Nebenwirkungen 653
1011 Sachverzeichnis Band 1
Sexualhormone 191 – weibliche 191 Sexualstörungen 934 sexueller Missbrauch 250 Shared-Decision-Making 301 Sicht der Betroffenen 273 Signaltransduktion 157, 170 Signal-Transduktions-TranskriptionsKopplung 166 Single-Photon-EmissionsComputertomografie (SPECT) 145, 563 Sinnestäuschungen 447 Sinnkontinuität 379 Sinn-Verstehen 311 Skalenniveau 457, 485 Skalierung 456 SKID 468 Skills-Training 878 social brain 48 social stress 280 somatische Krankheitsanamnese 417 Somatisierungsstörungen 731 somatoforme Störungen 452 SORC-Schema 748 soziale Anthropologie 320 soziale Distanz 272 soziale Kognition 48 soziale Lebenslage 291 soziale Ressourcen 286 soziale Schicht 280 soziale Stressoren 281 soziale Unterstützung vs. soziales Netzwerk 286 sozialer Rückzug 451 soziales Lernen 252 Sozialhilfe 944 sozial-interaktionelle Modelle 259 Sozialisation 293 – männlich 293 – weiblich 293 Sozialpsychiatrie 22, 266 – Erbgesundheitsgesetz 19 – Neurophilosophie 23 sozialpsychiatrische Aspekte 265 sozialpsychiatrische Dienste 951 sozialpsychologische Aspekte 277 sozialrechtliche Defizite 945 sozialrehabilitative Versorgung 953 soziokulturelle Faktoren 259 soziologische Aspekte 277 Soziotherapie 871 – Charakteristika 874 – Definition 872 – Prinzipien 874 – Wirkfaktoren 875 – Ziele 873 – Zielgruppe 873 Spätdyskinesien 658 Sperrung 445 Spezifität 60, 486 Spiegelmethode 656 Sport- und Bewegungstherapie 902 Sprachcodes 299 – schichtspezifisch 299 Sprache 426, 496 sprachfreie Tests 492
Sprachstörungen, Sprechstörungen 426 SSRI 217, 636 Stadtasyle 266, 938 Standard 988 Standardabweichung 458 standardisierte Befunddiagnostik 455 standardisierte Beurteilungsverfahren 460 standardisierte Interviews 468 standardisierte Untersuchungsverfahren 456 standardisiertes Interview 403 Standardisierung 460 Standards 972 Standardversorgungsgebiet 940 State-Marker 50 stationäre psychodynamische Psychotherapie 735 stationäre Psychotherapie 735 Stereotyp 954 Stereotypien 443 Steroide 193 Steroidresistenz 188 Stichprobe 358 – Selektion 358 Stichprobenauswahl 359 Stichprobengröße 358 Stigma 271 stoische Lebenseinstellung 693 Störung 35 Störungsmodelle 38, 824 Stressbelastung 293 – Frauen 293 Stressmodell 281 – soziogenetisches 281 Stressoren 281 Struktur 258 Strukturdynamik 21 strukturiertes Interview 405 Strukturqualität 987 Stufenpläne 999 Stupor 443 subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE) 569 – MRT 569 Suchtanamnese 416 Suchterkrankungen 150 – Bildgebung 150 – Dopaminfreisetzung 150 Suggestibilität 782 Suggestion 701 Suizidalität 330, 332, 451, 959 – Basisrisiko 959 – kulturvergleichende Bewertung 332 – transkulturelle Aspekte 330 Suizidprävention 958 Suizidraten 331 Suizidtraditionen 333 Suizidversuche 332 supportive Psychotherapie 691, 694, 698, 699 – Indikationsspektrum 698 – Kontraindikationen 699 – Verfahrensweisen 699 Susto 335 Suszeptibilitätsgene 76, 82 Symptome ersten Ranges 385
P–T
Symptome zweiten Ranges 385 Synapse 598 systematische Reviews 973, 974 systematische Schizophrenien 386 systematische Verhaltensbeobachtung 456, 476 systematischer Wahn 447 systemische Psychotherapie 815, 830, 838 – Anwendungsbereiche 838 – Evaluation 838 – Heidelberger Gruppe 816 – Mailänder Gruppe 816 – Palo Alto Gruppe 816 – Setting 830 Systemtheorie 259, 817
T Tageskliniken 948 tagesstrukturierende Maßnahmen 953 Taijin Kyofu 333 TDM 524 – Antidepressiva 524 – Antipsychotika 524 – Clozapin 524 Teilhabe 890 Tellenbach 314 Temperamentsunterschiede 240 temporolimbische Strukturen 135 Testdiagnostik 483, 488 – Aggravation 489 – Indikationen 488 – Simulation 489 – Störeinflüsse 489 Tests für Altgedächtnis 499 Testtheorie 486 T-Gedächtniszellen 196 Theatralik 443 thematischer Apperzeptionstest 503 Therapeutencompliance 750 Therapeutische Bereiche 526 therapeutische Beziehung 749, 850 therapeutische Grundeinstellung 693 therapeutisches Drugmonitoring (TDM) 511, 522, 525, 526 – Indikationen 522 – Konsensusleitlinien 526 – Lithium 525 – Phasenprophylaktika 525 Therapeut-Patient-Beziehung 749 Therapiealgorithmen 980 Therapieempfehlungen 975 Therapieforschung 352, 353 Therapiestudien 354, 357 – Einflussgrößen 357 tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 724 tiefenpsychologische Gruppenpsychotherapie 727 tiefenpsychologische Paar- und Familientherapie 728 T-Lymphozyten 195 TMS 684
1012
Sachverzeichnis Band 1
– Indikation 685 – Nebenwirkungen 685 – praktische Durchführung 685 – Wirkmechanismus 684 TNF-α 197, 198 Todesrezeptor 174 Token-Test 496 TPHA 513 Train-and-place-Ansatz 877 Trait-Marker 50 Trance 334 Trancezustände 334 Tranquilizer 616, 638 – Wirkungsmechanismen 616 Transduktionsmechanismen 170 transkranielle Magnetstimulation (TMS) 683 Transkriptionsfaktoren 172, 175 Transkriptionskopplung 174 transkulturelle Aspekte 319 Transmitterfreisetzung 599 Transmittersynthese 599 traumatisierende Lebensereignisse 249 Tremorformen 426 TRH-Stimulationstest 191 triadische Anordnung 376 triadische Gesamtstruktur 380 triadisches System 382 Trizyklika 631 – Nebenwirkungen 631 Typus melancholicus 314
U Übergangsrituale 829 Über-Ich 255 Übertragung 710, 711 Übertragungsformen 712 Übertragungsneurose 717 überwertige Idee 447 Ultraschalldiagnostik 431 – Indikationen 432 unspezifische Einflussfaktoren 364 Untersuchung 420 – allgemeinmedizinische 420 – neurologische 420 Utilisationsansatz 791
V Vagusnervstimulation (VNS) 685 – Indikation 686 – Nebenwirkungen 686 – praktische Durchführung 686 – Wirkmechanismus 686 Validierungskriterien 37 Validität 60, 457, 486 Validitätsstudien 468 Valproinsäure 611 – Wirkungsmechanismus 611
vaskuläre Demenz 537 – EEG 537 vasomotorisches Feedback 804 vegetativ-autonome Funktionen 221 vegetative Symptome 452 verbale Gedächtnistests 498 Verbalteil 491 Verblindung 356 Verfälschungstendenzen 463 Verhaltens- und Kognitionsmodell 252 Verhaltensanalyse 747 Verhaltensbeobachtung 749 Verhaltensmedizin 747 verhaltenstherapeutische Methodik 747 Verhaltenstherapie 252, 743, 750 – Anwendungsspektrum 751 – Indikationsbereiche 753 – Nebenwirkungen 750 – therapeutische Techniken 750 – wissenschaftliche Evidenz 752 Verlaufsbeschreibung 465 Verlaufsdiagnostik 44 – Krankheitsbeginn 44 – psychopathologische 45 – Remission 44 Verlaufsformen 42 Vernachlässigung 249 Versorgungsansatz 946 – dynamischer 946 Versorgungskosten 959 Versorgungsleitlinien 939 – gesundheitspolitische 939 Versorgungsstrukturen 937 – Geschichte 938 Versorgungssystem 947 – Inanspruchnahme 947 Verstehen 440, 822 Verstehensgrenzen 379 Verstehenskonzepte 823 Verweildauer 946 Verwirrtheit 378 Vigilanz 494 Vigilanzstadien 533 visuelle Konstruktion 495 visuelle Wahrnehmung 495 visueller Neglekt 495 Visumotoriktests 494 Vitalgefühle 449 Vulnerabilität 247, 249 Vulnerabilitätsmarker 49 Vulnerabilitäts-Resilienz-Modell 247 Vulnerabilitäts-Stress-Modell 41, 43, 768 – Verhaltenstherapie 768 Vulnerabilität-Stress-Coping-Modell 875
W Wahn 326, 446 – kulturelle Ausdrucksvarianten 326 Wahneinfall 447 Wahnstimmung 447 Wahnsymptome 447 Wahnthemen 447
Wahnwahrnehmungen 447 Wahrnehmung 495 Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (WIE) 490 Wechsler-Intelligenztests 490 Wechsler Memory Scale (WMS) 497 Weltentwurf 312 Werkstätten für Behinderte 953 Wernicke 14, 377, 386 Wernicke-Enzephalopathie 115 Wernicke-Enzephalopathie (WE) 576 – MRT 576 WHO Quality of Life Assessment 66 WHO-Psychiatric Disability Assessment Schedule 65 Widerstand 713 Widerstände 711 Wille 450 Wisconsin Card Sorting Test 500 Wohnsitzlosigkeit 955 Wortschatztests 492 Wunderfrage 834
Y Y-BOCS 462
Z Zahlen-Symbol-Test 494 Zahlen-Verbindungs-Tests 495 Zeitreihenplan 362 zerebrovaskuläre Störungen 567 Zerfahrenheit 446 Zertifizierung 1000 zirkuläre Befragung 831 Zirkularität 825, 827 Zoenästhesien 448 Zolpidem 642 Zopiclon 642 Zufriedenheitsstudien 295 Zwangsneurosen 730 Zwangsstörungen 333 – transkulturelle Aspekte 333 Zwangssymptome 446 Zwei-Kammern-Setting 830 zykloide Psychosen 386, 387 Zytochrom P-450 589 Zytokine 196, 199 Zytokinsystem 197
1013 Sachverzeichnis Band 2
Sachverzeichnis Band 2
A Abhängigkeitssyndrom 146 Abwehrmechanismen 510 Acamprosat 159, 161 ACE-Hemmer 529 ADHS 924, 1162 – Ätiopathogenese 924, 1164 – Basisuntersuchungen 1169 – Bildgebung 926 – Diagnose 933 – Diagnosekriterien 930 – Diagnostik 932, 1168 – Differenzialdiagnose 1170 – Epidemiologie 924 – Neuropsychologie 927 – Pharmakotherapie 936 – Prognose 934 – Psychotherapie 940 – Subtypen 930 – Symptomatologie 929, 1166 – Symptomskalen 933 – Therapie 935, 1171 – Umweltfaktoren 929 – Verlauf 934, 1166 – Wender-Utah-Kriterien 931 Affektdelikte 1354, 1355 Affektive Störungen 392 – Einteilung 394 – Historische Entwicklung 392 – Klassifikation 394 Agoraphobie 579, 596 – Diagnostische Kriterien 601 – Expositionstherapie 611 – Psychotherapie 609 AIDS 116 AIDS-Demenz-Komplex 25, 120 »AIDS mania« 121 Akathisie 325 Aktenstudium 1370 Aktometrie 978 Akustische Halluzinosen 105 Akute Angst- und Panikstörung 1321 Akute Belastungsstörung – Diagnostische Kriterien 696 Akute Dystonie 1332 Akute polymorphe psychotische Störung 375 Akute vorübergehende Psychosen 360 Akute vorübergehende psychotische Störungen 372, 375, 377 – Therapie 378 Akutes Massentrauma 699 Akuttrauma 699 Alexithymie 810 Alkohol 147, 165
– Interaktionen 165 – Pro-Kopf-Verbrauch 147 Alkoholabhängigkeit 146, 152 – Antidepressiva 163 – Buspiron 164 – Lithium 164 – Pharmakotherapie 158 – Therapie 152, 154 Alkoholabusus – Erkrankungen 170 Alkoholdelir 168, 171, 173 – Behandlung 173 Alkoholdemenz 180 Alkoholentzugssyndrom 168, 169, 173 – Behandlung 173 – Benzodiazepine 174 – Protrahiertes 176 Alkoholepilepsie 185 Alkoholhalluzinose 181 Alkoholiker 157, 177 – Prädiktoren 157 – Testverfahren 177 – Therapieerfolge 157 Alkoholinduzierte Störungen 145 Alkoholintoxikation 166, 167 Alkoholische Kleinhirnatrophie 184 Alkoholische Myelopathie 184 Alkoholische Myopathien 183 Alkoholischer Eifersuchtswahn 182 Alkoholismus 148 – Ätiopathogenese 150 – Depression 149 – Genetische Befunde 150 – Komorbidität 148 Alkoholmissbrauch 145 – Epidemiologie 146 Allgemeinbevölkerung – Psychische Morbidität 1269 Alpträume 999, 1001 Altenbevölkerung 1246 Alternativpsychosen 128, 131 Altersdepressionen 412, 417, 448, 1247, 1249 – Psychotherapie 448 – Therapie 1249 – Untersuchung 1249 Alzheimer – Neuropathologie 30 Alzheimer-Demenz (AD) 27, 68 – Ätiologie 28 – Bildgebung 39 – Diagnose 37 – Diagnostische Kriterien 38 – Differenzialdiagnose 37 – Epidemiologie 27 – Hippokampusformation 72 – Klinisches Bild 35 – MRT 68
– Positivmarker 72 – Positronenemissionstomografie (PET) 70 – Prognose 37 – Risikofaktoren 27 – Therapie 41 Ambivalenz 275 Amisulprid 301 Amnestisches Syndrom 179 Amphetamine 214, 1331 Amphetamin-Saft 939 Amygdala 584, 585, 840 β-Amyloid 31, 67 Amyloidangiopathie 65 anabole Steroide – Missbrauch 234 Anankastische Persönlichkeitsstörung 1065, 1082 androgene Steroide 234 angel dust 220 Angst 514 – Medikamente 514 – Somatische Krankheit 514 – substanzinduziert 1322 Angstanfall – Psychodynamik 581 Angst-Glücks-Psychose 374 Angstkonflikte 509 Ängstlich/vermeidende Persönlichkeitsstörung 1054, 1066, 1082 Angstneurose 568 Angstskalen 603 Angststörungen 507, 1182, 1257 – Ätiopathogenese 508, 572 – Definition 568 – Diagnostik 600 – Differenzialdiagnose 600 – Epidemiologie 569 – Genetische Modelle 580 – im Alter 1257 – Kindes- und Jugendalter 1182 – Kombinationsbehandlung 613 – Komorbidität 598 – körperliche Krankheiten 508 – Modelle 577 – Neurobiologische Modelle 582 – Neuroendokrines Modell 588 – Neurotransmitter-/Rezeptormodelle 586 – Persönlichkeitsmodelle 572 – pharmakogene 604 – Pharmakotherapie 605, 616 – Prävalenz 507, 570 – Prävalenzraten 570 – Prognose 598 – Psychotherapie 609, 616 – Risikofaktoren 574 – Somatische Krankheiten 604 – Verlauf 598 Angstzustände – Somatische Ursachen 1258
A
1014
Sachverzeichnis Band 2
Anhaltende wahnhafte Störungen 380 – Akuttherapie 382 – Langzeittherapie 382 – Psychotherapie 383 Anonyme Alkoholiker 154 Anorexia nervosa 951, 959, 960 – Diagnose 961 – Diagnostische Kriterien 951 – Prognose 960 – Symptomatologie 959 – Therapie 961, 963 – Verlauf 960 Anpassungsstörung 661, 665, 691 – Diagnose 695 – Diagnostische Kriterien 695 – Epidemiologie 665 – Modell 670 – Symptomatologie 691 – Therapie 697 – Verlauf 693 Anticholinergika 324 Anti-craving-Substanzen 159, 160 Antidementiva – Übersicht 1416 Antidepressiva 423, 521, 1415 – Akuttherapie 426 – Altersdepressionen 437 – Atypische 425 – Einteilung 424 – Entwicklungsgeschichte 426 – Interaktionen 434, 435 – Kombinationstherapien 440 – Kontraindikationen 434 – Nebenwirkungen 432, 521 – Noradrenalin- und serotoninselektive 424 – Responseprädiktoren 428 – Rezidivprophylaxe 430 – Schwangerschaft 437, 1241 – Selektivität 425 – Serotoninselektive 424 – Suizidversuche 1301 – teratogene Effekte 1241 – Toxizität 434 – Trizyklische 423 – Übersicht 1415 – Unerwünschte Wirkungen 431 – Wechselwirkungen 521 – Wirklatenz 428 – Wirkpotenz 427 – Zytochrom-P 450-Isoenzyme 524 Antiepileptika 130, 133 Antihistaminika 985 Antikonvulsiva 490 – Interaktionen 492 Antipsychotika 321 – Dosierung 321 – Übersicht 1416 Antipsychotika der 1. Generation 297 Antipsychotika der 2. Generation 297 Antisoziale Persönlichkeitsstörung 1050 Aphasie – Globale 6 ApoE-Gen 29 Apraxie 7 Artifizielle Störungen 904, 917 – Ätiopathogenese 908
– Begriffsbestimmung 904 – Diagnostik 914 – Differenzialdiagnose 914 – Epidemiologie 906 – Juristische Aspekte 919 – Klinische Indikatoren 915 – Konsiliardienst 917 – Prävalenz 907 – Psychodynamische Aspekte 908 – Symptomatologie 911 – Synonyme 906 – Therapie 917 – Verdachtsmomente 914 – Verlauf 915 Artikulationsstörung 1127 Ärztliches Gespräch 831 Ärztliches Zeugnis 1366 Arzt-Patienten-Beziehung 831, 1273 Asperger-Syndrom 1154, 1155 Asthma bronchiale 539 Atomoxetin 939, 1173 Atypische Depression 412 Aufbewahrungsfristen 1388 Aufklärung 1381 – alternative Behandlungsmöglichkeiten 1383 – Fachinformation 1383 – Gebrauchsinformation 1383 – Heilversuch 1383 – Modalitäten 1384 – Off-label-Gebrauch 1383 – Wirtschaftliche 1383 Aufmerksamkeit 5 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung 924, 1162 – Ätiopathogenese 924, 1163 – Epidemiologie 924, 1163 Augmentationsstrategien 440 Aussagepsychologie 1349 Autistische Psychopathie 1154
B »Baby blues« 1226 BADO 1387 Barbiturate 227 Basisdokumentation 1387 Basisstörungen 271 Basissymptome 264 Beck-Depressionsinventar 502 Begutachtung 1370 Begutachtungsleitlinien 1392 – Kraftfahrereignung 1392 Behandlungsdokumentation 1387 Behandlungsleitlinien 1389 Belastungsstörung 662 – Akute 662 – Posttraumatische 662 – Subtypen 662 Benzodiazepine 223, 224, 520, 709 – Amnestisches Syndrom 227 – Entzugssymptome 226 Benzodiazepinrezeptor 587
Berufsunfähigkeit 1368 Beschwerdestil 830 Betreuungsrecht 1363 Beurteilungsskalen 1411 Bevölkerungsstatistik 1246 Bewusstseinsstörungen 1322 – Untersuchungsgang 1324 – Ursachen 1323 Bindungsstörung 1188 Binge Eating Disorder 953 – Diagnostische Kriterien 953 Bipolare affektive Störungen – Ätiopathogenese 473 – Definition 472 – EbM-Box 494 – Epidemiologie 472 – Kognitive Verhaltenstherapie 493 – Leitlinien 493 – Prävalenz 473 – Prognose 478 – Psychoedukation 493 – Rezidivprophylaxe 484 – Verlauf 478 Bipolare Depression – Behandlung 483 Bipolares Spektrum 472 Blutbildungsstörungen 1333 Body-mass-Index (BMI) 960 Borderline-Persönlichkeitsstörung 1061, 1046, 1075 – Antidepressiva 1080 – Dialektisch behaviorale Therapie 1075 – Mood-Stabilizer 1081 – Neuroleptika 1079 – Psychotherapie 1075 Bouffée délirante 374 Brandstiftung 1357 Brief Psychosis 376 Broca-Aphasie 6 Bruxismus 999, 1001 BUB-Richtlinien 206 Bulimia nervosa 959, 960, 961 – Ätiopathogenese 952 – Diagnose 961 – Diagnostische Kriterien 952 – Therapie 961 Bulimie – Behandlungsziele 963 – Therapeutische Interventionen 963 Buprenorphin 197, 208 Bupropion 249, 940 Buspiron 164
C CADASIL 64 Cannabinoide 192 Cannabis 1332 Cannabisabhängigkeit 195 cannabisassoziierte Psychosen 195 Cannabisintoxikation 194 Capgras-Syndrom 7, 384 Carbamazepin 164, 175, 490
1015 Sachverzeichnis Band 2
– teratogene Wirkung 1240 CBASP 447 CERAD-Testbatterie 19 CFS 848 Charakter 1032 Charles-Bonnet-Syndrom 104 Chloralhydrat 985 Cholinesterasehemmer 42 Chorea Huntington 56 Chromosomenaberrationen 1109 chronic fatigue syndrome 848 Chronisch subdurales Hämatom 26 Chronische schizophrene Störungen 1254 chronisches Müdigkeitssyndrom 848 – Anamneseerhebung 856 – ätiologische Faktoren 853 – Diagnostische Kriterien 856 – Therapie 857 Chronisches Schmerzsyndrom 833 Circumplexmodell 1041 Clomethiazol 174, 229, 1327, 1328 Clomipramin 650 Clonidin 176 Clozapin 123, 297 C-/L-Psychiatrie 1264 Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy 447 COPD 539 Cotard-Syndrom 385, 1255 Creutzfeldt-Jakob-Krankheit 57, 59
D Dämmerzustände 1323 Debilität 1104 Debriefing 700 Delir 88, 168, 1325 – Ätiopathogenese 88 – Diagnose 89 – Diagnostische Kriterien 89 – Epidemiologie 88 – Pharmakotherapie 90 – Postoperatives 1327 – Symptomatologie 88 – Therapie 90, 1326 – Ursachen 1326 – Zentral-anticholinerges 1329 Delirantes Syndrom 16, 17 Demenz mit Lewy-Körperchen 50 Demenzen 14, 36 – behandelbare 22 – bei Parkinson-Krankheit 51 – Beurteilungsinstrumente 20 – Blutanalysen 21 – Diagnose 15 – Differenzialdiagnose 23 – Differenzialdiagnostik 15 – Einteilung 14 – Epidemiologie 14 – Liquoruntersuchung 23, 40 – Pharmakotherapie 42 – primäre 14 – Psychometrie 18
– reversible 21 – Screeningverfahren 18 – sekundäre 14 – Symptome 36 – Testbatterien 19 – Ursachen 21 Dependente Persönlichkeitsstörung 1068, 1083 Depersonalisation 274, 742, 744, 753 – Neurobiologie 734 – Therapie 753 Depersonalisationsstörung 745 Depotantipsychotika – Dosierung 321 Depressionen 105, 289, 326, 395, 429, 451 – Begleittherapien 451 – Begriffsbestimmung 393 – Chronifizierung 421 – Chronischer Schmerz 511 – Dialyse 544 – Differenzialdiagnose 419 – Elektrokonvulsionstherapie 443 – Immunsystem 526 – kardiovaskuläre Erkrankung 526 – kognitive Therapie 444, 445 – kognitive Verhaltenstherapie 444 – Kombinationsbehandlungen 449 – larvierte 836 – Leitlinien 451 – Niereninsuffizienz 544 – organische Ursachen 105 – pharmakogene 326, 512 – postpartale 1227 – postschizophrene 289, 290 – Prognose 421 – Psychopharmakotherapie 423 – Psychotherapie 443 – Rezidivprophylaxe 429 – Schmerz 838 – stationäre Aufnahme 451 – Suizidrisiko 421 – symptomatische 515 – Symptome 411 – Therapie 423 – therapieresistente 438, 439, 441 – Tumorerkrankung 547 – Verhaltenstherapie 444 Depression-Executive-Dysfunction-Syndrom 1248 Depressionsformen 412 Depressionsinduktion 511 Depressionssubtypen 415 Depressionstherapie – EbM-Box 455 Depressionsverschlüsselungen 414 Depressiv-ängstliche Störung – diagnostische Spezifizierung 518 Depressive Episode 410 – Diagnosekriterien 415 depressive Erkrankungen – Bedeutung 396 depressive Pseudodemenz 419 Depressive Störungen 409 – Ätiopathogenese 402 – Chronobiologische Faktoren 405 – Definition 400
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A–D
diagnostische Kriterien 416 Epidemiologie 400 Kognitiv-behaviorales Modell 408 Kombinationstherapie 450 Komorbidität 422 Neurobiologische Faktoren 402 Neuroendokrinologische Befunde 404 Neuropsychologie 408 Paar- und Familientherapie 448 Paarbeziehung 409 Persönlichkeitsfaktoren 408 Prävalenz 507 Psychobiologische Faktoren 409 Psychodynamisch-psychoanalytische Modelle 406 – Psychologische Faktoren 405 – Psychopharmakotherapie 423 – Psychotherapie 443 – Risikofaktoren 406 – Soziotherapie 450 – Suizidrisiko 410 – Symptomatologie 410 – Therapie 423 – Verlauf 420 Derealisation 742 – Therapie 753 Dermatozoenwahn 106, 384 Diabetes mellitus 536 – Depression 537 Diagnoseaufklärung 1382 Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) 1075 Diogenes-Syndrom 104 Disability 1368 Dissexualität 1026 Dissoziale Persönlichkeitsstörung 1060 dissoziale Störungen 1174 – Jugendliche 1174 – Kinder 1174 Dissoziationsbegriff 726 Dissoziative Amnesie 96, 738 – Ätiopathogenese 739 – Diagnose 740 – Epidemiologie 738 – Symptomatologie 740 – Verlauf 740 Dissoziative Fugue 741 Dissoziative Identitätsstörung 745, 749, 754 Dissoziative Phänomene 727 Dissoziative Störungen 724, 727 – Ätiopathogenese 729 – Epidemiologie 728 – Forensische Aspekte 757 – Historische Entwicklung 724 – Neurobiologie 730 – Prävalenz 729 – Therapie 752 Dissoziative Trancestörungen 751 Disulfiram-Alkohol-Reaktion 157 Diuretika – Missbrauch 235 Dokumentation 1385 – Ärztliche 1387 – Nichtärztliche 1387 Donepezil 43, 44, 65, 1416 Dopamin-D2-Rezeptorbesetzung 299
1016
Sachverzeichnis Band 2
Doppelgängersyndrom 385 Double-bind-Theorie 267 Down-Syndrom 1107 Drogenabhängigkeit – Epidemiologie 188 – Psychotherapie 190 Drogenentwöhnungstherapien 191 Drogennotfälle 1329 Dysthymia – Diagnosekriterien 418 Dysthymie 409
E Ecstasy 219 Ecstasyintoxikation 219, 1331 Eifersuchtswahn 383 Einwilligungsfähigkeit 1364 Einwilligungsvorbehalt 1363 Elektiver Mutismus 1186 EMDR 706 Enkopresis 1201 – Therapie 1204 Enkopresisdiagnostik 1204 Entwicklungsdyspraxie 1143 Entwicklungsstörungen 1120 – Klassifikation 1121 – Ursachen 1237 Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen 1142 Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache 1125 Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten 1133 – Therapie 1141 Entzugsdelir – Psychopharmakotherapie 1328 Enuresis 1194 – Antidepressiva 1200 – Ätiopathogenese 1194 – Definition 1194 – Diagnostik 1197 – Epidemiologie 1194 – Pharmakotherapie 1200 – Subtypen 1196 – Symptomatologie 1196 – Therapie 1199 – Verlauf 1197 Enuresisdiagnostik 1198 Epilepsieassoziierte Psychosen 128, 130, 134 Epilepsien 126, 128 – Begriffsdefinition 127 – Epidemiologie 128 – Klinik 128 – Therapie 131 epileptische Wesensänderung 126 Erhebungsinstrumente – standardisierte 10 Ernährungstagebuch 967 Erotomanie 384 Erregungszustände 1313 – Behandlungsprinzipien 1315 Ersatzeinwilligung 1365
Erwerbsminderung 1368 Essen – Soziokulturelle Faktoren 953 Essstörungen 950 – Ätiopathogenese 952 – Begriffsbestimmung 950 – Biologische Faktoren 954 – Diagnostische Kriterien 952 – Epidemiologie 950 – Genetik 954 Essverhalten 957 Exekutive Funktionen 7 Exhibitionismus 1351 Expositionstherapie 611 Expressed-emotion-Konzept 267 Expressive Sprachstörung 1128 Extremstress 680 – Dissoziative Veränderung 680 – Neuronale Mechanismen 689 – zerebrale Informationsverarbeitung 680
F Fachzeitschriften 1413 Fagerström-Test 230, 247 Fahrerlaubnisklassen 1392 Fahrtauglichkeit 1392, 1398 – Antidepressiva 1399 – Antipsychotika 1399 – Begutachtung 1392 – Psychopharmaka 1398 – Rechtliche Rahmenbedingungen 1392 – Tranquilizer 1399 Fahrtüchtigkeit 1393 – Affektive Psychosen 1396 – Alkohol 1396 – Beratung 1400 – Leistungsanforderungen 1393 – schizophrene Psychosen 1396 – Testverfahren 1393, 1394 Fentanyl 197 Fertigkeitentraining 1076 Fibromyalgie 841 – Ätiopathogenese 842 flash-backs 218 flooding 610 Flunitrazepam 984 Forensische Psychiatrie 1340 – Prognoseinstrumente 1347 – Prognosekonzepte 1346 – Risikovariablen 1348 Forensisches Setting 1359 Formale Denkstörungen 274 Fremdbeurteilungsskalen 1411 Frontotemporale Degeneration 52 Frontotemporale Demenz 53 Frühdyskinesien 324, 1332 Frühe posttraumatische Krise 698 Frühinterventionsstrategie 322 Frühkindlicher Autismus 1153, 1154, 1156 funktionelle Beschwerden – Prävalenz 823 Funktionelle somatische Syndrome 824 funktionelle Störungen 822
– Ätiopathogenese 824 funktionelle Syndrome – Verlauf 829 Furcht 568 Furchtaffekt 584
G Galantamin 44, 45, 65, 1416 Ganser-Syndrom 751 Geburtsvorbereitung 1242 Gedächtnis 5, 739 – declaratives 5 – episodisches 6 – semantisches 6 Geistig Behinderte 1105 Gelernte Hilflosigkeit 407 Gemischt-schizoaffektive Episode 365 Generalisierte Angststörung 569, 571, 575, 579, 591, 596, 599 – Diagnostische Kriterien 602 – Pharmakotherapie 607 Geschäftsunfähigkeit 1361 Geschlechtsidentität 1020 Geschlechtsidentitätsstörungen 1021 – Ätiopathogenese 1021 – Prognose 1022 – Symptomatologie 1022 – Therapie 1024 – Verlauf 1022 Geschwisterrivalität 1185 Gesetze 1409 – § 126a StPO 1409 – § 1896 BGB 1409 – § 1904 BGB 1409 – § 20 StGB 1409 – § 21 StGB 1409 – § 63 StGB 1409 – § 64 StGB 1409 Gesundheitsängste 861 Gewichtsvertrag 965 Gilles-de-la-Tourette-Syndrom 1190, 1191 Ginkgo Biloba 46, 47, 1416 Grad der Behinderung (GdB) 1368 Grenzdebilität 1104 Gutachten – schriftliches 1371 Gutachtenerstattung 1373 Gutachtenerstellung 1369 Gutachterdarstellung 1374
H Halluzinationen 273 Halluzinogene 216, 1332 Halluzinogeninduzierte Halluzinose 217 Handicap 1368 Hashimoto-Enzephalitis 24 hebephrene/desorganisierte Schizophrenie – Diagnostische Kriterien 289
1017 Sachverzeichnis Band 2
Hebephrenes Syndrom 277 Heimliche Selbstmisshandlung 904 Hepatische Enzephalopathien 180 Hepatitis C 542 Heroin 197, 198 Herpes-Enzephalitis 25 Heultage 1226 Histrionische Persönlichkeitsstörung 1063, 1079 HIV-Epidemie 118 HIV-Erkrankung 116 – Klinik 119 HIV-induzierte affektive Störungen 121, 123 HIV-induzierte schizophreniforme Psychosen 122 HIV-Therapie 122, 126 Hormonersatztherapie 1223 Hypersomnien 988 Hypnotika 222, 984, 985 – Abhängigkeit 222 – Missbrauch 222 – Übersicht 1414 Hypnotisierbarkeit 738 Hypochondrie 859 – Arzt-Patienten-Beziehung 862 – Ätiopathogenese 860 – Definition 859 – Diagnostik 864 – Differenzialdiagnose 865 – Epidemiologie 859 – Irrationale Annahmen 866 – kognitive Verhaltenstherapie 866 – Symptomatologie 863 – Therapie 866 Hypochondriemessung 865 Hypokortisolismus 688 Hypomanie – Diagnosekriterien 476
I ICF 1368 Ich-Stärke 671 ideomotorische Apraxie 1144 Iktale Psychosen 128, 131 Imbezillität 1105 Impulskontrollstörungen 1096 – Ätiopathogenese 1097 – Charakteristika 1097 – Diagnostik 1098 – Epidemiologie 1096 – Therapie 1098 Impulstaten 1356 Inhalanzien 221 Insomnien 975, 987 – Definition 975 – Diagnostik 978 – Nichtorganische 975 – organische Erkrankung 987 – Symptomatologie 975 – Therapie 978 – Therapieverfahren 980
Intelligenz – Klassifikation 1104 Intelligenzminderung 1104 – Ätiologie 1106 – Chromosomenaberrationen 1107 – Diagnostik 1110 – Epidemiologie 1106 – Rehabilitation 1114 – Testverfahren 1112 – Therapie 1114 interiktale depressive Störung (IDS) 129 Interpersonelle Psychotherapie (IPT) 446 Intrusion 691 Intrusionsphase 518 IPT 446
J Jet lag 996, 998 Johanniskraut 125, 531 Jugendrecht 1349
K Kanner-Autismus 1153 Kataplexie 993 katatone Schizophrenie – Diagnostische Kriterien 289 Katatones Syndrom 277 Kataton-stuporöse Zustände 1325 Kleine-Levin-Syndrom 995 Kleptomanie 1357 Klimakterische Beschwerden 1222 Klimakterium 1222 Klinefelter-Syndrom 1107 Kodein 197 Koffein 215 Koffeinintoxikation 216 Kognitive Störungen 5 Kokain 210, 1332 Kokaindelir 213 Kokainentzugssyndrom 213 Kokainintoxikation 211 Kokainschock 1332 Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie 1264 – Notfallpsychiatrische Situationen 1272 – Risikopatienten 1274 – Somatisierungssyndrome 1272 Konsiliarbericht 1274 Konsiliardienst – Psychopharmakotherapie 1275 – Psychotherapie 1276 Konsiliarpsychiater 1273 Konsil-Typen 1273 Konstruktive Apraxie 1144 Konsultation 1267 Konsultationsmodell 1268 Kontraindikationen 330 Konversion – Schmerz 836
D–L
Konversionsmechanismus 789 Konversionsstörung 787 – Ätiopathogenese 788 – Biopsychosoziale Konzeptualisierung 804 – Definition 787 – Diagnostik 801 – Epidemiologie 787 – Follow-up-Studien 800 – Prognose 798 – Symptomatologie 794 – Therapie 802 – Verlauf 798 Konversionssymptome 799 Körperdysmorphe Störung 869 – Ätiopathogenese 871 – Definition 869 – Diagnostik 875 – Differenzialdiagnose 875 – Epidemiologie 870 – Hinweisreize 876 – Komorbidität 874 – Psychotherapeutische Ansätze 877 – Symptomatologie 873 – Therapie 877 – Verlauf 873 Korsakow-Syndrom 178 Kortikobasale Degeneration 56 Krankenblattdokumentation 1386 Krankheitsbegriff – Juristischer 1341 Krebserkrankungen 546 Kriegsneurosen 664 Krisen 1308, 1309 – Epidemiologie 1308 Kurze psychotische Störung 376
L LAAM 197 Lamotrigin 490 – teratogene Wirkung 1240 Landau-Kleffner-Syndrom 1121 Langzeitbehandlung – symptomsuppressive 322 larvierte Depression 412 Late-onset schizophrenia 1253 Laxanzien – Missbrauch 235 Lebertransplantation 1272 Leichte kognitive Störung 16, 47, 100, 101, 102 Leistungsträger – sozialrechtliche 1368 Leitlinie nichterholsamer Schlaf 974 Lernbehinderte 1105 Lese- und Rechtschreibstörungen 1136, 1139 Liaison 1268 Liaisonmodell 1268 Lichttherapie 442 Liebeswahn 384 Life-Chart 479, 480
1018
Sachverzeichnis Band 2
Lithium 164, 484, 546, 1240 – Kontraindikationen 486 – Operation 546 – Schwangerschaft 485 – teratogene Wirkung 1240 – Unerwünschte Wirkungen 485, 487 – Untersuchungen 485 Lithiumintoxikation 486, 488 Lithiumprophylaxe 485 Locus coeruleus 583 Lormetazepam 984 LSD 217 L-Tryptophan 985 Lysergsäurediäthylamid (LSD) 217
M Magersüchtig – Endokrine Veränderungen 955 Major Depression 410, 506 – Epidemiologie 506 Malariatherapie 114 Malignes neuroleptisches Syndrom 1333 Manien 476, 1251 – Akutbehandlung 482 – Diagnosekriterien 476 – Differenzialdiagnosen 478 – im Alter 1251 Manische Episode – Symptomatologie 475 Mann-Zeichentest 1145 MAO-Hemmer 425, 433, 708 – Diätvorschriften 434 Marchiafava-Bignami-Syndrom 184 Maßregelvollzug 1344, 1360 Maßregelvollzugspatienten 1358 MDMA 219 Medikation – Psychodynamik 617 Melatonin 985 Memantin 46 Mentalization-based-therapy 1078 Meskalin 219 Methadon 197, 198, 207 Methylphenidat 936, 1172 Mild Cognitive Impairment (MCI) 100 Milieueinfluss 333 Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 1367 minimale zerebrale Dysfunktion 1122 Modafinil 939, 1173 Montgomery-Asberg-Depressionsskala (MADRS) 414 Mood-charting 479 Moodstabilizer 708 Morbidität 1270 – Abhängigkeit 1271 – Affektive Störungen 1270 – Missbrauch 1271 Morbus Binswanger 64 Morbus Parkinson 533 Morbus Pick 52 Morphin 197, 198, 1331
Morphinintoxikation 1331 Motilitätspsychose 374 Multiinfarktdemenz 64 multiples somatoformes Syndrom 808 Münchhausen by proxy 905 Münchhausen-Syndrom 905 Musikalische Halluzinose 105
N Nächtliche Myoklonien 991 Naltrexon 160, 209 Naltrexonbehandlung 210 Narkolepsie 993 – Diagnostik 994 – Therapie 994 narzisstische Krise 1291 Narzisstische Persönlichkeitsstörung 1069, 1084 nCPAP-Therapie 990 Negativismus 275 Neurasthenie 848 – Ätiopathogenese 849 – Definition 848 – Diagnostische Kriterien 855 – Epidemiologie 848 – Symptomatologie 854 – Verlauf 854 Neurodegeneration 34 Neuroleptika 296, 298, 323 – Antipsychotische Äquivalenzdosen 304 – Blutbildveränderungen 326 – Dopaminrezeptorblockade 298 – Endokrine Störungen 326 – Extrapyramidalmotorische Störungen 323 – Gewichtszunahme 327 – Interaktionen 328 – Kardiovaskuläre Störung 326 – Medikamenteninteraktionen 323 – metabolische Veränderung 327 – Nebenwirkungen 323 – QT-Verlängerungen 326 – Strukturformeln 296 – Therapieresistenz 311 – Übersicht 1416 – Wechselwirkungen 328 – Wirkmechanismen 298 – Wirkprofil 304 Neuroleptika/Antipsychotika der 1. Generation 305 Neuroleptika der 2. Generation 305 Neuroleptikatherapie – Responder 303 – Vorhersagemöglichkeiten 303 Neurosyphilis 110 – Liquordiagnostik 113 – Suchreaktionen 113 Nichtorganische Hypersomnie 994 Nichtorganische Insomnie 976 – Ätiopathogenese 977 – Diagnosekriterien 976 – Epidemiologie 976
– Leitsymptome 976 Nikotin 229, 245 – Entzugssyndrom 231 – Therapie 231 Nikotinabhängigkeit 230, 246 – Diagnostik 246 – Entzugssyndrom 246 – Therapie 247 Nikotinersatztherapeutika 249 Nikotinersatztherapie 232 Nikotinsubstitution 232 Nootropika 47 Normaldruckhydrozephalus (NPH) 25 Notfälle 1308 – Diagnose 1310 – Epidemiologie 1308 – Psychopharmakainduzierte 1332 Notfallpsychiatrie 1308 – Dokumentation 1313 – Grundsätze 1310 – Psychopharmakotherapie 1311 – Rechtliche Aspekte 1311
O Opiatabhängigkeit – Behandlung 205 Opiatentzugssyndrom 202 Opioidderivate 197 Opioide 196 Opioidentzugssyndrom 200 Opioidintoxikation 199 Opipramol 820 Organische affektive Störung 105, 504 Organische Angststörungen 106, 1321 Organische Depression 417 Organische Halluzinosen 104 Organische Persönlichkeitsstörung 103 Organische psychische Störungen 3 – Diagnostik 8 – Epidemiologie 5 – Klassifikation 4 – Symptomatologie 5 Organische wahnhafte Störung 106 Organisches amnestisches Syndrom 94 – Ätiopathogenese 94 – Epidemiologie 94 – Symptomatologie 94 – Therapie 96 Othello-Syndrom 384
P Paartherapie 1011 Pädophilie 1350, 1351 Palliativmedizin 1260 PANDAS 649 Panikattacken – Symptome 595 Panikstörung 576, 578, 581, 589 – Behandlung 1322
1019 Sachverzeichnis Band 2
– Diagnostische Kriterien 601 – Laktathypothese 589 – Pharmakotherapie 605 – Prävalenz 571 – Psychotherapie 609 – Symptomatologie 594 Paniksyndrom – Psychophysiologisches Modell 577 Parakinesen 275 Paranoide Persönlichkeitsstörung 1058 paranoide Schizophrenie – Diagnostische Kriterien 288 Paraphilien 1025 – Ätiopathogenese 1026 – Diagnostik 1027 – Epidemiologie 1026 – Symptomatologie 1027 – Therapie 1028 – Verlauf 1027 Parasomnien 998 – Ätiopathogenese 1000 – Diagnostik 1000 – Epidemiologie 1000 – Leitsymptome 999, 1001 – Therapie 1000 – Therapieverfahren 1001 Parasuizidale Handlung 1293 Parasuizidale Verhaltensweisen 1292 Parathymie 275 Parkinson 534 – Angststörungen 535 – depressive Störungen 534 Parkinson Depression 534 Parkinsonoid 324 Paroxetin 530 Pathologische Trauer 662 Pathologischer Rausch 167 Pathologisches Glücksspiel 1357 Pavor nocturnus 687, 999, 1001 PCP 220 Penicillin 115 Pentazocin 198 Perimenopausale psychische Störungen 1222 Perimenopause 1222 periodische Beinbewegungen 991 Persönlichkeitsstil 1072 Persönlichkeitsstörungen 1032, 1033 – Ätiopathogenese 1039 – biologisches Modell 1042 – biopsychosoziales Modell 1042 – Circumplexmodell 1039, 1041 – Cluster A 1035 – Cluster B 1035 – Cluster C 1035 – Definitionen 1032 – Diagnostik 1037 – Epidemiologie 1038 – Komorbidität 1055 – Schizotypische 1043 – SCID II 1037 – soziologisches Modell 1041 – Spektrummodell 1040 – Therapie 1071 – Typologien 1033, 1036 – Verlaufsstudien 1056
Perversion 1026 Pethidin 197, 198 Pharmakoökonomie 441 Phenylcyclidin 220 Phobien 569, 570 – Kindesalter 1183 Phobische Störungen – Kindesalter 1183 Phytopharmaka 425 Poltern 1129 Polyneuropathie – alkoholinduzierte 183 Polysomnografie 975 Polyvagale Emotionstheorie 685 post stroke depression 532 Postiktale Psychosen 128, 131 Postpartale Angst- und Zwangsstörungen 1228 Postpartale Belastungsstörungen 1229 Postpartale Depressionen 1227 Postpartale psychische Störungen 1225 Postpartale Psychose 1230 Posttraumatische Belastungsstörung 663, 691, 702 – Ätiopathogenese 670 – behaviorale 675 – Diagnostische Kriterien 696 – Häufigkeit 666 – hirnstrukturelle Veränderungen 690 – kognitive Modelle 675 – Neurotransmitterdysfunktionen 683 – Psychodynamisches Modell 672 – Risikofaktoren 669 – Symptomatologie 691 – Therapie 702 – Verlauf 693 Posttraumatische Informationsverarbeitung 682 Prämenstruelle dysphorische Störung 438, 1219 – Kriterien 1221 – Therapie 1221 prämenstruelles Syndrom 1218 präsuizidales Syndrom 1293 Prävalenz – psychische Störungen 1269 Presenilin 29 Primärpersönlichkeit – hysterische 790 Prionenerkrankungen 57 progressive Aphasie 54 progressive Paralyse 112, 114 Progressive supranukleäre Blickparese (PSP) 56 Propoxyphen 197, 198 Prozessunfähigkeit 1362 Prüfung – kognitive Funktionen 9 Pseudodemenz 16 Pseudotherapieresistenz 441 Psychiatrische Karte 1404 – Adressen 1405 – Fachgesellschaften 1405 psychische Erkrankungen – Prävalenz 148 psychodelische Substanzen 216
Psychoedukation 337 psychogene Anfälle 797 Psychogene Psychosen 374 psychogenes Schmerzsyndrom 835 psycho-organische Symptome ersten Ranges 3 psycho-organische Symptome zweiten Ranges 3 Psychopathie 1032 Psychopathy-Konzept 1060 Psychopharmaka 1414 – Teratogenität 1237 Psychopharmakaübersicht 1414 Psychosomatische Medizin 1264 Psychostimulanzien 215, 936 – Entzugssyndrome 215 – Intoxikationen 215 psychotische Störungen – Differenzialdiagnose 358 PTSD 662, 703 – Coping-Strategien 677 – Diagnostische Kriterien 678 – Faktoren 667 – genetische Disposition 677 – neurobiologische Modelle 677 – Pharmakotherapie 707 – Psychotherapie 703 – Risiko 667 – Schlafstörungen 686
Q Querulantenwahn 384
R Rauchen 244, 245 – Folgeerkrankungen 245 Raucherentwöhnung 233 Rauschdrogen – Intoxikationssymptome 1330 Rauschgifttote 189 Rauschmittelintoxikation 1316 Rauschzustände 166 Reaktive Bindungsstörung 1188 Reaktive Psychosen 374 Rechenstörung 1136, 1140 Reduktionsdiäten 957 Reizüberflutung 610 Residuales Syndrom 277 Resilienz 668 Restless-legs-Syndrom 991 – Behandlung 992 Retrieval-Störung 688 Rett-Syndrom 1155 Rezeptive Sprachstörung 1128 rezidivierende kurze depressive Störungen 413 Rezidivprophylaxe 320 Risikoaufklärung 1382, 1384
L–R
1020
Sachverzeichnis Band 2
Rivastigmin 43, 45, 1416 Rückfallprognosen 1345
S Sadismus 1351 Sadomasochismus 1351 Saisonale Depression 417 »Schädlicher Gebrauch« 145 Schemafokussierte kognitive Therapie 1077 Schichtarbeit 996, 998 Schizoaffektive Psychosen 360 – präepisodische Alterationen 367 – Prophylaxe 371 – Therapie 369 – Typen 365 – Verlauf 367 Schizoaffektive Störung 362 – Diagnostische Kriterien 361, 363 Schizoaffektives Syndrom 277 Schizodepressive Episode 365 Schizoide Persönlichkeitsstörung 1059 Schizomanische Episode 365 Schizophrenia simplex 290 Schizophrenien 254, 269, 277, 285, 317 – Akutbehandlung 305 – Arbeitstherapie 332 – Ätiopathogenese 255 – Behandlung depressiver Störungen 316 – Behandlung der Negativsymptomatik 313 – Behandlung kognitiver Störungen 315 – Beschäftigungstherapie 332 – Biochemische Hypothesen 263 – Depotneuroleptika 318 – Diagnostische Kriterien 286 – Diagnostische Kriterien 287 – Diagnostische Kriterien 291 – Differenzialdiagnostische Abgrenzung 294 – Dopaminhypothese 261 – Einteilung 269 – Einteilung 269 – Epidemiologie 254 – Erkrankungsbeginn 254, 278 – Erkrankungswahrscheinlichkeit 256 – Ersterkrankungsrate 255 – Fahrtauglichkeit 315 – Familieninterventionen 336 – Frühdiagnostik 284 – Genetische Faktoren 256 – Glutamathypothese 261 – Immunologische Veränderungen 262 – Informationsverarbeitung 263 – Integriertes Psychologisches Therapieprogramm 342 – Klassifikation 285 – kognitive Basissymptome 265 – Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze 336 – Kontinuitätsmodell 257 – Langzeitausgang 281
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Life-event-Forschung 268 Milieugestaltung 331 Negative Symptome 270 Neuropathologie 258 Noncompliance 318 Positive Symptome 270 Prädiktoren 282 Prodromales Syndrom 276 Psychoanalytische Ansätze 334 Psychopharmakotherapie 295, 301 Psychopharmakotherapie 295 Psychosoziale Therapie 330 Psychotherapie 330 Reizfilterfunktion 265 Rezidivprophylaxe 317 Rezidivprophylaxe 318 somatische Untersuchungsverfahren 293 – Sozialarbeit 334 – Soziotherapeutische Maßnahmen 331 – Symptomatologie 268 – Symptomatologie 273 – Therapieresistenz 311 – Training sozialer Fertigkeiten 341 – Verlauf 277 – Verlauf 288 – Verlaufstyp 278 – Vulnerabilitätskonzept 256 – Wahl des Neuroleptikums 306 Schizophrenietypen 271 Schizophrenogene Mutter 266 Schizotype Störung 291 Schizotypische Persönlichkeitsstörung 1070, 1084 Schlaf – Verhaltensregeln 981 Schlafapnoesyndrom 989, 990 Schlafentzugsbehandlung 442 Schlafhygiene 980 Schlaflosigkeit 977 Schlafmedizinische Zentren 974 Schlafmittelverordnung 983 Schlafparalyse 993 Schlafphasenvorverlagerung 442 Schlafstörungen 186, 972 – Algorithmus 974 – alkoholbedingte 186 – Einteilung 973 – Klassifikation 972, 973 – Therapieverfahren 980 Schlaftagebuch 978 Schlaf-Wach-Rhythmus 972, 995 Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen 996 – Leitsymptome 997 – Therapie 997 Schlafwandeln 998, 1001 Schlankheitsideal 953 Schmerzanamnese 840, 844 Schmerzstörung 833, 834, 837 – Antidepressiva 845 – Ätiopathogenese 834 – Definition 833 – Diagnostik 843 – Differenzialdiagnose 844 – Epidemiologie 834 – kognitiv-behaviorale Therapie 846
– Neuroimaging-Studien 839 – psychodynamische Ansätze 847 – Symptomatologie 840 – Therapie 845 – Verlauf 842 Schmerzsyndrome 513 – typische 841 »Schnüffelstoffe« 221 Schuldausschließungsgründe 1342 Schuldfähigkeit 1343, 1409 – verminderte 1343 Schuldfähigkeitsbeurteilung 1342 Schwangerschaft 1236 – Arzneimittelstoffwechsel 1239 – vulnerable Phasen 1238 Schwangerschaftsabbruch 1239 Sedativa 222 – Abhängigkeit 222 – Missbrauch 222 sekundäre Depression 501, 503 Selbstbeschädigung 910 Selbstbestimmungsaufklärung 1381 Selbstbestimmungsrecht 1380 Selbstbeurteilungsskalen 1412 Selbsthilfegruppen 154 Selbstmanipulation 912 Semantische Demenz 55 Serotonerge Dysfunktion 684 Sertralin 530 Sexualdelikte – aggressive 1351 Sexualdelinquenz 1350 Sexualstörungen – Begriff 1008 – Charakteristika 1010 – Diagnostik 1016 – Epidemiologie 1014 – Klassifikation 1008 – Konzepte 1009 Sexualstraftäter – Risikoeinschätzung 1347 – Rückfallprognose 1353 sexuelle Deviation 1026 Sexuelle Funktionsstörungen 1012 – Ätiopathogenese 1015 – Differenzialdiagnostik 1017 – Paartherapie 1017 – Therapie 1017 Sildenafil 1019 Simulation 904 Somatische Krankheit – Psychologische Reaktion 510 Somatisches Syndrom/melancholischer Subtyp 416 Somatisierung 769, 770, 778 – Mechanismen 821 Somatisierungsspektrum 808 Somatisierungsstörung 805 – Ätiopathogenese 808 – Definition 805 – Diagnostik 818 – Epidemiologie 807 – Konsiliarbericht 819 – Symptomatologie 816 – Therapie 819 – Verlauf 816
1021 Sachverzeichnis Band 2
Somatisierungssymptome 771 Somatisierungssyndrome 1272 Somatoforme autonome Funktionsstörung 822, 827, 828, 830 – Definition 822 – Diagnostik 830 – Differenzialdiagnose 830 – Entstehung 826 – Epidemiologie 822 – Symptomatologie 827 – Therapie 831 – Verlauf 828 Somatoforme Störungen 772, 1259 – Ätiopathogenese 776 – Behandlungsaspekte 781 – Checkliste 775 – Diagnostische Charakteristika 772 – Differenzialdiagnose 785 – im höheren Lebensalter 1259 – Rehabilitationsmodell 784 – Screeninginstrumente 780 somatoforme Symptome 824 Somatothymia 810 Somnambulismus 999, 1001 Soziale Phobie 569, 570, 574, 576, 580, 592, 596, 599, 608 – Diagnostische Kriterien 603 – Pharmakotherapie 608 Sozialrecht 1367 Soziopathie 1032 Spätdyskinesien 325 Spätschizophrenie 1252 – Ätiopathogenese 1253 – Behandlungswege 1256 – Symptomatologie 1253 – Verlauf 1253 Spezifische Phobien 580, 594, 597 – Diagnostische Kriterien 603 – Subtypisierungen 597 Sprachdiagnostik 1130 Sprache 6 Sprachentwicklungsstörungen 1126 Sprachtests 1130 SSRI 424, 430, 432, 1415 – Pharmakokinetik 433 Standardisierte Untersuchungsverfahren 9 Stationäre Behandlung 1312 Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom 56 Sterbehilfe 1302 Sterben 1259 Stimmungsstabilisierer 481, 482, 1415 – Übersicht 1415 Störung mit Geschwisterrivalität 1185 Störungen des Sozialverhaltens 1173 – Ätiopathogenese 1174 – Diagnostik 1176 – Epidemiologie 1174 – Symptomatologie 1175 – Therapie 1177 – Verlauf 1176 Stottern 1128 – Behandlung 1132 Strafrecht 1341 Straftäterbehandlung 1074
Stupor 275, 1324 Substanzabhängigkeit 146 Substanzinduzierte Schlafstörung 987 substanzinduzierte Störung – Diagnostik 144 – Klassifikation 144 Substanzmissbrauch 145 Substitutionsbehandlung 205 Substitutionsmittel 207 subtreshold depression 413 Sucht 144 Süchtige Selbstschädigung 904 Suizid – Konkordanzraten 1288 – Psychologische Autopsiestudien 1294 Suizidales Verhalten 1285 – Ätiopathogenese 1285 – Biochemische Studien 1289 – Pharmakotherapie 1299, 1302 – Prädiktoren 1295 – Psychotherapie 1299 – Risikofaktoren 1285 – Risikolisten 1317 – Soziale Erklärungsmodelle 1285 Suizidalität 1282 – Abschätzung 1317 – Akute 1316 – Biologische Erklärungsmodelle 1288 – Definition 1282 – Epidemiologie 1282 – Imitationshypothese 1288 – Impulshandlungen 1294 – Indikatoren 1296 – Krankheitsmodell 1319 – Krisenintervention 1296, 1297 – Krisenmodell 1319 – Pharmakotherapeutische Behandlung 1297 – Psychologische Erklärungsmodelle 1290 – Psychopharmakotherapie 1319 – Psychotherapeutische Behandlung 1297 – Risikogruppen 1318 – Risikolisten 1317 – Serotonin-Hypothese 1290 Suizidpakte 1298 Suizidpatienten 1299 Suizidprävention 1320 Suizidprophylaktische Maßnahmen 1300 Suizidraten 1282, 1283, 1284 Suizidtheorien 1291 Suizidversuche 1297, 1284 – Imitationshypothese 1287 – Kinder 1284 – Methoden 1284 – Verläufe 1295 Suizidversuchsziffern 1283 Switch 479 Symptome 1. Ranges 270 Syndrom des ungeschickten Kindes 1143 Synkopen 1323 Syphilis 112 Systematische Desensibilisierung 613 Systematrophien 56
R–T
T Tabakabhängigkeit 231, 244, 246 – Ätiopathogenese 244 – Diagnostik 246 – Entzugssyndrom 231, 246 – Therapie 231 Tabak-Alkohol-Amblyopathie 184 Take-Home-Vergabe 206 taktile Halluzinose 385 Tätigkeitsmuster – Konsiliarpsychiatrische 1266 Tau-Protein 33, 66 Teilleistungsschwächen 1124, 1134 Teilleistungsstörung 1120 Temazepam 984 Temperament 1043 Testierfähigkeit 1410 Testierunfähigkeit 1362 Testosteron 234 THC 194 Therapiemodalitäten 549 – Onkologische 549 Thiaminmangel 178 Ticstörungen – Ätiopathogenese 1189 – Behandlungsindikationen 1192 – Definition 1189 – Epidemiologie 1189 – Selbstkontrolltechniken 1193 – Symptomatologie 1190 – Therapie 1192 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen – Ätiopathogenese 1152 – Definition 1152 – Epidemiologie 1152 – Frühförderung 1158 – Therapie 1158 Tramadol 198 Tranquilizer – Übersicht 1414 Transference-focused-psychotherapy 1077 transitorische globale Amnesie 95 Transsexualismus 1020, 1023 – Diagnostik 1023 Transsexualität 1352 Transsexuellengesetz 1353, 1354 Trauma 663 Traumaexposition 667 – Symptome 692 Traumatische Erinnerungen – Charakteristika 681 traumatische Erlebnisse – Häufigkeit 666 traumatische Neurose 664 Traumatisches Gedächtnis 679 Traumatypus 668 Trazodon 530 Trennungsängste 1179 Triazolam 984 Trisomie 21 1107 Tumorerkrankung 549 – Angststörungen 550 – Depressivität 549
1022
Sachverzeichnis Band 2
Turner-Syndrom 1110 Typus melancholicus 408
Verleugnungsphase 518 Verwirrtheit 1327, 1329 Verwirrtheitspsychose 374 Vorsorgevollmacht 1363
U W Umschriebene Entwicklungsstörungen – Ätiopathogenetische Aspekte 1122 Unfallrisiken 1394, 1397 – Alkohol 1397 – Cannabis 1397 – Demenz 1395 – Drogen 1394 – Drogenmissbrauch 1397 – Methadon 1398 – Opiate 1397 – Psychopharmaka 1395 Unterbringung 1366, 1409 Untersuchung – kognitive Funktionen 8
V Valproat 490 Valproinsäure 164 – teratogene Wirkung 1240 Vareniclin 249 Vaskuläre Demenz 58, 60, 62, 63 Vegetative Funktionsstörungen 829 Venlafaxin 530 »Verdrängte Schwangerschaft« 1124 Verhaltensmedizin 1265 Verlaufsaufklärung 1382
Wach-Therapie 442 Wagner-Jauregg 114 Wahn 271 Wahnhafte Störung 381 Wender-Utah-Kriterien 931 Wernicke-Aphasie 6 Wernicke-Korsakow-Syndrom 177, 178 – Diagnostische Kriterien 179 – Therapie 179 Whiteley Index 865 Widerstandsfähigkeit 668 Widerstandskraft 671
Y Y-BOCS 647
Z Zentrale pontine Myelinolyse 185 Zerfahrenheit 274 Zivilrecht 1361
Zoenästhesien 866 Zolpidem 984, 985 Zopiclon 984, 985 Zwangshandlungen 644 Zwangsspektrum 637 Zwangsstörung 634 – Ätiopathogenese 636 – Definition 634 – Diagnostik 646 – Epidemiologie 635 – Faktorenstruktur 634 – Genetisches Modell 643 – Kognitiv-behaviorales Modell 639 – Lerntheoretisches Modell 638 – Neuroanatomisches Modell 639 – Neurochemisches Modell 642 – Neurochirurgische Therapieansätze 652 – Neuroimaging-Befunde 640 – Prognose 645 – Psychoanalytisches Modell 636 – Psychopharmakologische Therapieansätze 650 – Psychotherapeutische Ansätze 650 – Symptomatologie 644 – Therapie 649 – Verhaltenstherapie 650 – Verlauf 645 Zwangsvorstellungen 644 Zykloide Psychosen 373 Zyklothymia 476 – Diagnosekriterien 477 Zyklusabhängige Störungen 1218 Zytokine 526