Günther Ortmann Organisation und Welterschließung
Organisation und Gesellschaft Herausgegeben von Günther Ortmann, Th...
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Günther Ortmann Organisation und Welterschließung
Organisation und Gesellschaft Herausgegeben von Günther Ortmann, Thomas Klatetzki und Arnold Windeler Wie wünscht man sich Organisationsforschung? Theoretisch reflektiert, weder in Empirie noch in Organisationslehre oder -beratung sich erschöpfend. An avancierte Sozial- und Gesellschaftstheorie anschließend, denn Organisationen sind in der Gesellschaft. Interessiert an Organisation als Phänomen der Moderne und an ihrer Genese im Zuge der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus. Organisationen als Aktionszentren der modernen Gesellschaft ernstnehmend, in denen sich die gesellschaftliche Produktion, Interaktion, Kommunikation – gelinde gesagt – überwiegend abspielt. Mit der erforderlichen Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Organisation und Ökonomie, lebenswichtig nicht nur, aber besonders für Unternehmungen, die seit je als das Paradigma der Organisationstheorie gelten. Gleichwohl Fragen der Wahrnehmung, Interpretation und Kommunikation und also der Sinnkonstitution und solche der Legitimation nicht ausblendend, wie sie in der interpretativen resp. der Organisationskulturforschung und innerhalb des EthikDiskurses erörtert werden. Organisation auch als Herrschaftszusammenhang thematisierend – als moderne, von Personen abgelöste Form der Herrschaft über Menschen und über Natur und materielle Ressourcen. Kritisch gegenüber den Verletzungen der Welt, die in der Form der Organisation tatsächlich oder der Möglichkeit nach impliziert sind. Verbindung haltend zu Wirtschafts-, Arbeits- und Industriesoziologie, Technik- und Wirtschaftsgeschichte, Volks- und Betriebswirtschaftslehre und womöglich die Abtrennung dieser Departments voneinander und von der Organisationsforschung revidierend. Realitätsmächtig im Sinne von: empfindlich und aufschlussreich für die gesellschaftliche Realität und mit Neugier und Sinn für das Gewicht von Fragen, gemessen an der sozialen Praxis der Menschen. So wünscht man sich Organisationsforschung. Die Reihe „Organisation und Gesellschaft“ ist für Arbeiten gedacht, die dazu beitragen.
Günther Ortmann
Organisation und Welterschließung Dekonstruktionen 2. Auflage
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
2. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15658-3
Inhalt
Inhalt 5 Vorwort zur 2. Auflage Organisation und Welterschließung 1 Tour d’horizon: Über die Riesen, auf deren Schultern wir stehen, und über die Fähigkeit des Erstaunens 2 Organisationssoziologie und Theorie der Unternehmung 3 Mehrdeutigkeit 4 Strukturation und Dekonstruktion 5 Welterschließung und Verriegelung
9 11 11 14 15 16 17
I. Dekonstruktion 1. 1 2 3 4 5 2. 1 2 3 4 5 3. 1 2 3 4 5 6
Wiedergänger der Moderne Derrida, Giddens und die Geister der Aufklärung Déjà vu Finish Move Schachteln in Schachteln Reflexivität und Rekursivität Strukturation und Organisation
27 27 29 30 32 37
Post mortem? Nachrufe auf die Postmoderne Eine Polemik Fünf Topoi eines common sense Sokal‘s hoax Postscriptum, 2007 Post mortem? Im Reich des Bösen und des Guten: Mark Lilla Quiescant in pace?
40 40 42 45 47 52 57
Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte Kannitverstan Noch ein Déjà vu Ein institutionalisierter Denkstil Der Strudel der Geschichte Bedeutungsrelativismus? Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur? Performative Selbstwidersprüche?
59 59 61 63 65 68 70
6
7 8
4. 1 2 5. 1 2 3
Inhalt
Noch ein Gattungsunterschied: „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ Warum es sich lohnt, Derrida zu lesen – sogar, um Organisationen besser zu verstehen „Postmodernes“ Denken und neoliberale Politik Habermas in organisationstheoretischer Lesart Freihandel und „Postmoderne“ Universalismus, Relativismus, Neoliberalismus Deconstructing Tony Strukturation und Dekonstruktion „... this threefold connotation of différance“ Die anwesende und abwesende Struktur „... dead traditions of thought“
73 74
85 85 90
96 97 100 105
II. Organisation 6. 1 2 3 4 5 6 7
Organisation und Dekonstruktion Ein Hammer, ein Nagel und ein Pudding Anything goes? Organisation und Dekonstruktion – state of the art Entscheidungsprozesse – eine dekonstruktive Analyse Die Logik des Supplément Das eingeschlossene Ausgeschlossene der Organisation Zonen tolerierter Differenz
115 115 117 120 122 127 139 141
7.
Buridans Esel verhungert nicht Notiz zur Paradoxie des Entscheidens
145
„Für Unbefugte verboten“ Über nahezu, aber nicht vollkommen tautologische Regeln
148
9.
Rollentheorie: Eine dekonstruktive Denkbewegung
150
10.
Verträge, Standards, Private Governance Regimes Die Différance der Globalisierung und die Globalisierung der Différance Soft Law Corporate Governance, Private Governance Regimes, Compliance Contracting worlds Standardisierung und Selbstorganisation
8.
1 2 3
162 162 172 179
Inhalt
11.
7
7
Eine stille Produktion Über Ressourcen und ihre Veränderung im Gebrauch Wildern. Die Produktion von Gebrauchsweisen Technik und Anwendungskontexte. Rekursionen Produktion und Konsumtion Trajektorien des Gebrauchs Erzeugung und Erzeugnis Der Zement der Gesellschaft. Ressourcen und Regeln; Regeln und Regelmäßigkeiten Ressourcen, Organisation und strategisches Management
12. 1 2 3 4
Organisationen als Placebo-Responder Gute Besserung. Consulting als Placebo Placebo als Metapher Beispiele Organisationen als Placebo-Responder
211 211 214 215 218
13. 1 2 3 4
Organisationen und die Fabrikation von Identität Etwas als etwas – die Identität von Dingen Menschliche Identität Die Identität von Organisationen Identitätsfabrikation in und durch Organisationen
219 219 225 229 236
14.
Richtigstellung, betreffend die Realität Zu Dirk Baeckers Rezension des Buches „Als Ob“
239
1 2 3 4 5 6
185 187 193 195 197 199 201 206
III. Evolution und Kooperation Vertrauen, Geld, Macht 15. 1 2 3 4 5 16.
17.
Die Ehre der Prizzis, oder: Vertrauen ist nicht der Anfang von allem Über Vertrauen und Relianz Relianz, Vertrauen und die Ehre der Prizzis Der zu clevere Agent Pascals Wette Vertrauen ist nicht der Anfang von allem Zeugenschaft
245 245 252 253 254 258
„... die Natur, rot an Zähnen und Klauen“ Notiz über Evolution, Konkurrenz und Kooperation
259
Spandrillen der Organisation
263
8
Inhalt
18.
„... die mysteriöse Einheit der Operation“ – Für und wider Niklas Luhmann
268
19.
„... ein neues Amalgam von Geld und Macht“ Briefwechsel mit Niklas Luhmann
276
1 2 3
Anything goes. Rien ne va plus. Organisationswelten als Sinnprovinzen Eindeutigkeit, Mehrdeutigkeit Anything goes. Rien ne va plus. Eine Welt, viele Welten?
279 279 281 284
21. 1 2
„Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“? Parsifal Sisyphos. Ein Happy End
289 289 292
20.
Literatur
295
Personenregister
317
Sachregister
323
Vorwort zur 2. Auflage
Eine zweite Auflage bietet die Gelegenheit, Fehler in Wortwahl und Schreibweise zu korrigieren und kleine Ergänzungen und Aktualisierungen vorzunehmen. Das ist geschehen. Nur an einer Stelle war ein inhaltlicher Eingriff erforderlich: am Anfang von Kapitel 10, beim Rekurs auf die juristische Figur des Organisationsverschuldens, die, wie nun klargestellt ist, aus der zentralen Anspruchsgrundlage des zivilen Deliktrechts, dem § 823 Abs. 1 BGB, entwickelt worden ist. Von der Notwendigkeit dieser Präzisierung hat mich ein vorwitziger Jura-Student, Paul David Krell, überzeugt. Dafür und für einschlägige Formulierungshilfe mein säuerlicher Dank. Ferner habe ich die Möglichkeit genutzt, drei neue Kapitel und eine Erwiderung auf eine Rezension von Dirk Baecker aufzunehmen, die sich auf die Frage der Fiktionen des Organisierens bezog, eine Frage, die unsere Weisen der Welterschließung via Fiktionen betrifft. Um dafür Platz zu schaffen, ist das alte Kapitel 2 („Hitchcocks Vögel“) entfallen. Einige wenige Überschneidungen zu anderen Kapiteln habe ich in Kauf genommen, um die Geschlossenheit der neuen Kapitel zu wahren. Die neue Auflage enthält zusätzlich
ein Postscriptum zu Derridas Antwort auf „Sokal’s hoax“, jenen Streich, den Alan Sokal den so genannten Postmodernen mit einer Parodie auf den „postfranzösischen“ Jargon gespielt hat; ein neues Kapitel zu Habermas’ Versuch, „postmodernes“ Denken in die Nähe neoliberaler Politik zu rücken – aus Anlass organisationstheoretischer Reprisen dieses Versuchs in jüngerer Zeit; ein Kapitel über „Organisationen als Placebo-Responder“; ein Kapitel über Organisationen als Stätten der „Fabrikation von Identität“, einschließlich der corporate identity; eine Replik auf Dirk Baeckers Rezension des Buches „Als Ob“ mit einer „Richtigstellung, betreffend die Realität“.
Organisation und Welterschließung∗ Organisation und Welterschließung „Was ohne Schmach Anspruch hätte auf den Namen Sinn, ist beim Offenen, nicht in sich Verschlossenen.“ Theodor W. Adorno (1992, 370)
1
Tour d’horizon: Über die Riesen, auf deren Schultern wir stehen, und über die Fähigkeit des Erstaunens
Tour d’horizon Alfred Kieser, Herausgeber des wohl instruktivsten Lehrbuchs über Organisationstheorien, hat seinem „Weber-Kapitel“ als Motto dieses Wort Max Webers vorangestellt: „Die Fähigkeit des Erstaunens über den Gang der Welt ist Voraussetzung der Möglichkeit des Fragens nach ihrem Sinn.“ (Zit. in Kieser 1999, 39) Dass sich die Dinge, wiewohl im Alltag „taken for granted“, nicht von selbst verstehen, gehört zur Geschäftsgrundlage aller Wissenschaft, Befremden, Erstaunen, Neugier, Begehren zu wissen und so etwas wie die „problématisation“ eines Michel Foucault (dazu Lemke 1997) zu ihren ersten Regungen. Erich Gutenberg, der große deutsche Betriebswirt, hat an Frederick Winslow Taylor einmal gerühmt, „dass er der erste war, der den Vorgang beim Schaufeln wirklich sah“ – beim Schaufeln und bei „Arbeitsverrichtungen (...), wie sie sich täglich vor den Augen von Millionen abspielen, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, ihr Studium zum Inhalt seines Lebens zu machen“ (Gutenberg 1983, 146) und auf diesem Wege das Selbstverständliche in Frage zu stellen. Wem Taylor zu schlicht, zu zwanghaft, zu gewerkschaftsfeindlich, zu sehr Ingenieur, zu wenig Soziologe ist, der denke – ich schlage einen großen Bogen – an „die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation“, die erst als solche, als das schiere Gegenteil von Selbstverständlichkeit, zu Tage kam, als der befremdete Blick der Unzulänglichkeit der RohrpostModelle der Kommunikation innewurde und einem Erstaunen Platz machte: Nichts Gemeintes wird da abgeschickt, kein Kanal transportiert Sinn, nie kommt beim Empfänger an, was der Sender sich gedacht hat: Wie geht das dann eigentlich – Kommunizieren? Bei dieser Frage werden die meisten Soziologen an Niklas Luhmann denken, vielleicht auch an Norbert Wiener, aber einer der Riesen, die an dieser Stelle längst gestutzt hatten, war ein Biologe, Jakob von Uexküll, der lange vor Wiener, in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahr∗ Die ersten vier Abschnitte gehen auf einen Vortrag zurück, den ich auf der Gründungstagung der Arbeitsgruppe Organisationssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am 23.3.2001 in Bielefeld gehalten habe – unter dem Titel „Die Fähigkeit des Erstaunens“.
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Organisation und Welterschließung
hunderts, über Zeichenprozesse nachgedacht hat1 (und mit seiner Umweltlehre den Konstruktivismus und Karl Weicks Idee eines „enacted environment“ vorausgedacht hat) – von Husserl und Schütz und ferner all jenen zu schweigen, die den linguistic turn in den Sozialwissenschaften vorgedacht und vorbereitet haben. Henry Ford hat nicht das Fließband und schon gar nicht die Massenproduktion erfunden, aber hatte einen irritierbaren Sinn für so scheinbar triviale Dinge wie Maßgenauigkeit und das, was wir heute „smooth production“ nennen. Chester Barnard kam ins Grübeln über ein Problem, für das viel später Niklas Luhmann berühmt – und zu Unrecht berüchtigt – werden sollte: dass nicht Menschen, sondern Handlungen als Elemente sozialer Systeme aufzufassen seien – die Menschen daher als deren Umwelt. Herbert Simon hat uns das unübersichtliche Gelände begrenzter Rationalität erschlossen, James March mit der Organisation als „garbage can“ verblüfft. March hat auch eine der wichtigen Antworten auf die Frage gegeben, was wir eigentlich tun, wenn uns Zweckmäßigkeitserwägungen im Stich lassen: Wir stellen von erhoffter Zukunft auf bewährte Vergangenheit und von Um-zu- auf WeilMotive um und tun, was „man“ tut, und zwar, weil „es sich gehört“: rule following. Und March hat, zusammen mit Johan Olsen, als einer der ersten über die unabstellbare Mehrdeutigkeit allen Geschehens in Organisationen nachgedacht. Seither können wir Organisation als Organisation von Bedeutung auffassen (und sehen, dass schon Ambiguität die Idee modellhafter Maximierung ruiniert; McCloskey 1990). John Meyer und Brian Rowan, William Starbuck, noch einmal March, und schließlich der Organisations-Desillusionist und MeyerSchüler Nils Brunsson haben mit verrückten, verrückenden, zurechtrückenden Ideen Furore gemacht: mit institutionalisierten Mythen; Rationalitätsfassaden; Plänen, die nicht vorsorglich für Vernunft, sondern nachträglich für Legitimation sorgen; Organisationen als action generators statt als problem solvers; action rationality, die wie ein Hohn auf herkömmliche Entscheidungsrationalität sich ausnimmt; Reformen, die nichts ändern; Organisation als Organisation von Scheinheiligkeit. Das ergibt das Bild einer vor allem um Legitimationssiche-
Sein Sohn, Thure von Uexküll, hat die Zeichenlehre des Vaters anhand eines plastischen Beispiels verdeutlicht. Wer Zeichenprozesse ermitteln will, indem er mit Hilfe von Galvanometern die molekularen Bewegungsvorgänge in den Nervenbahnen von Tieren oder Menschen beobachtet, „läßt sich (...) mit einem Spion vergleichen, der eine Telefonleitung anzapft. Dieser Vergleich macht sofort klar, daß ein Anzapfen von Telefonleitungen nur dann zum gewünschten Erfolg führt, wenn der Spion die Sprache der Telefonbenutzer versteht. Im anderen Fall wird er nur Geräusche hören, mit denen er keinen Sinn verbinden kann. Die Geräusche können jedoch einem Techniker ausreichende Information über die Stromschwankungen in den Leitungen geben. Er ist in der Lage, mit ihrer Hilfe eine lückenlose Kausalanalyse der Zeichenträger durchzuführen. Der Vorschlag, den Zeichenbegriff zur Auseinandersetzung mit biologischen Grundsatzfragen zu verwenden, gibt uns folgende neue Denkfigur für den Zusammenhang zwischen molekularen Bewegungsvorgängen im Gehirn und seelischen Phänomenen: Die Stromschwankungen im Fernsprechnetz lassen sich wie die neurophysiologischen Abläufe im Gehirn als physikalische Bewegungsphänomene beschreiben, das heißt wir können Fragen nach Quantität und kausalem Zusammenhang der einzelnen Phänomene stellen und erhalten Antworten, die sich jederzeit durch Beobachtung und Experiment nachprüfen lassen. Aber diese Antworten sagen uns nichts über den Sinn und die Bedeutung, das heißt die Nachrichten, welche diese Phänomene den Benutzern der Fernsprechleitung vermitteln. Wir haben es daher mit empirisch beantwortbaren, aber dem Problem nicht angemessenen Fragen zu tun, mit Fragen, deren Antworten nur Verwirrung stiften, wenn wir sie mit Antworten auf das eigentliche Problem verwechseln. Nach der neuen Denkfigur haben wir in den physikalischen Stromschwankungen also Zeichenträger vor uns, die nur dann Sinn und Bedeutung erlangen, wenn der Empfänger die Sprache versteht, in der die Bedeutung der Zeichenträger festgelegt ist, oder wenn er, wie wir jetzt sagen können, in der Lage ist, die Zeichenträger zu codieren und zu decodieren, das heißt in Zeichen zu verwandeln.“ (Von Uexküll 1980, 34 f; Hervorh. G. O.) 1
1 Tour d’horizon
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rung besorgten Organisation, die sich auf diese Weise der Ressourcenzufuhr und Unterstützung aus der Umwelt zu versichern trachtet, und die sich bei der Legitimationsbeschaffung jederzeit mit Ersatz zufriedengibt, wenn das ausreicht, mit Katzengold der Legitimation (Ortmann 2004). Es könnte auch zurück zu Durkheim führen, der den institutionalistischen Kern all solcher Einsichten mit dem lapidaren Satz vorweggenommen hat: „Nichts hindert einen Industriellen daran, mit den Methoden eines anderen Jahrhunderts zu arbeiten. Er soll es aber nur tun. Sein Ruin wäre sicher.“ (Durkheim 1984, 106) Bleibt das randständig, bleibt es Fassade? Dann wäre die Peripherie der Organisation zuständig. Von James D. Thompson (1967) ist die Unterscheidung eines technischen Kerns und einer puffernden, gewährleistenden Peripherie auf uns überkommen. Tom Burns, Crozier, Friedberg und Pettigrew haben uns mikropolitische Mores gelehrt, zuvor schon Philip Selznick (1949) mit der legendären TVA-Studie. Karl Weick hat uns im geistreichsten aller Bücher über Organisation, nein, übers Organisieren, mit sprühenden Einfällen überhäuft, zum Beispiel dem (von Vickers geborgten), dass wir zwar einerseits niemals zweimal in den selben Fluss (und in die selbe Unternehmung) (ein-) steigen, andererseits aber doch – etwas, das allerdings schon Heraklit gewusst und gesagt hat, wiewohl darin beständig ignoriert. Der hat nämlich nicht, wie seit Aristoteles kolportiert wird, gesagt, dass es unmöglich sei, zweimal in denselben Fluss zu steigen, sondern: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht.” (Gregory Batseon, 1983, 373, hat daher Heraklit so paraphrasiert: „Kein Mann kann zweimal mit demselben Mädchen zum ersten Mal ins Bett gehen.” Hervorh. G. O.) Und Niklas Luhmann hat sie alle gekannt, genutzt, geplündert, ausgeweidet, und er durfte das, weil er selbst einer der ganz großen Organisationstheoretiker war. Die Fähigkeit des Erstaunens: Gibt es ein schlagenderes Beispiel dafür als Luhmanns erstaunte, erstaunliche Frage nach der Funktion von Zwecken? Ich jedenfalls habe lange gebraucht, ehe ich mich dieser verwegenen Frage gewachsen fühlte. Ich kenne Betriebswirte, die mir noch nach Jahrzehnten erzählten, wie ihnen damals, als „Zweckbegriff und Systemrationalität” bei Suhrkamp erschien, der Atem stockte – und mir war es ja genau so gegangen. Und „Funktionen und Folgen formaler Organisation” ist heute noch eine Fundgrube für alle möglichen Fragen, von brauchbarer Illegalität bis hin zur Frage organisationaler Grenzen, die heute, fast ein halbes Jahrhundert später, Furore machen. Eine solche Frage, die verblüfft, weil sie so einfach ist; weil sie vor unser aller Augen lag wie Edgar Allen Poes entwendeter Brief, hat, lange vor Luhmann, ein anderer gestellt – Ronald Coase: „Why is there any organization?” Das führt zum inzwischen längst zur Transaktionskostentheorie geronnenen Denken, zur Frage der Ökonomie und zu einer dringenden Aufforderung an die Organisationssoziologie, die wirtschaftliche Dimension organisationalen Geschehens nicht zu vernachlässigen und nicht den Fachökonomen zu überlassen. (Deren Reduktionismus, diesmal: die Reduktion der Frage nach der Genesis von Unternehmungen und gar von Organisationen überhaupt auf eine Sache optimaler Transaktionskosten, kann von einer historischen Organisationsforschung, wie sie etwa Alfred Kieser oder auch Klaus Türk in Angriff genommen haben, gründlich blamiert werden – ohne die darin enthaltene Teilwahrheit zu bestreiten; s. jetzt Türk, Lemke, Bruch 2002.)
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2
Organisation und Welterschließung
Organisationssoziologie und Theorie der Unternehmung
2 Organisationssoziologie und Theorie der Unternehmung Als 1986 Richard Scotts Lehrbuch „Grundlagen der Organisationstheorie“ bei Campus auf deutsch erschien, da gab es eine etwas süffisant gehaltene Rezension von Horst Albach, dem starken Mann der deutschen Betriebswirtschaftslehre: In dem ganzen Buch käme das Wort ‚Preise‘ nicht ein einziges Mal vor. „Unkenntnis der Wirtschaftsgeschichte, Unkenntnis der Wirtschaftstheorie“, lautete der Vorwurf (Albach 1986, 1046). Das zeugte zwar von wenig menschlicher Größe, erstens, weil Scott sehr wohl die Transaktionskosten- und die Informationsökonomie in seinem Buch behandelt hatte, und zweitens, weil umgekehrt, wie Albach Jahre später (1989, 17) selbst eingeräumt hat, „die mikroökonomische Theorie bis vor kurzem nicht viel zum Verständnis der Betriebsorganisation beigetragen hat.“ Das hat den Mainstream der Betriebswirtschaftslehre jahrzehntelang nicht gehindert, die betriebswirtschaftliche Organisationsforschung mit milder Herablassung und weitgehender Ignoranz zu bedenken, nach dem Motto: Wer nicht im Glashaus sitzt, der darf mit Steinen danach werfen. Leider aber hatte Albach mit seiner Kritik trotzdem recht: Man sieht weit und breit keine konsistente Organisationstheorie, die, ohne sogleich ökonomistisch zu verfahren, der Rolle der Ökonomie gebührend Rechnung trüge. Die Betriebswirtschaftslehre hat ihre Organisations-Lücke mit Williamson und der Principal-Agent-Theorie gestopft – dazu kam sie wie die Jungfrau zum Kinde. Das indes sollte die Organisationssoziologen nicht hindern, sich um Williamson und Coase zu kümmern – im Gegenteil. Es liegen da so manche mögliche Anschlussstellen bereit – man denke nur an Konzepte wie Vertrauen, Commitment, Reputation, Institutionen, Regeln –, und zumal, wenn man von Coase noch zu Commons zurückgeht. Bei ihnen geht es zwar in erster Linie um Unternehmungen – die aber gelten ja nicht ohne Grund als das Paradigma moderner Organisationen. Anders und noch allgemeiner formuliert: Die Arbeit an einer auf der Höhe befindlichen Theorie der Organisation sollte nicht in Angriff genommen werden, ohne einen kompetenten Austausch mit der Theorie der Unternehmung zu pflegen2. Deren Einsichten sind erhellend auch für das Geschehen in Non-Profit-Organisationen, weil es auch dort um asymmetrische Information, um Wirtschaftlichkeit trotz begrenzter Information und um den Umgang mit allokativen Ressourcen geht. Der Soziologie kommt es, nach wie vor, zu, Gegengifte wider den ökonomistischen Alleinvertretungsanspruch wirtschaftswissenschaftlicher Theorie beizubringen. Um nur einen Punkt aus dem Programm Johannes Bergers (1999) zu nennen: Die Endogenisierung der Präferenzen, zu der bekanntlich Organisationen, zumal Unternehmungen, ihr Scherflein beitragen, die aber von den meisten Ökonomen
2 Einen für den Anfang schon ziemlich kompletten Überblick verschafft ein einziger Reader: „The Economic Nature of the Firm“, herausgegeben 1996 von Louis Putterman und Randal S. Kroszner. Darin sind sie alle versammelt, die Größen der „theory of the firm“ von Smith und Marx über Frank Knight, Hayek, Chandler, Coase, Richardson, Alchian und Demsetz, Williamson, Milgrom und Roberts, Bowles und Gintis, Jensen und Meckling, Akerlof und Oliver Hart.
3 Mehrdeutigkeit
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gemieden wird wie vom Teufel das Weihwasser, wäre eine wahrhaft dankbare Aufgabe für Soziologen3. Die Unternehmung, um das noch anzumerken, ist auch die verlässlichste Quelle jener Mythen, denen viele von uns, jedenfalls zeitweise, anhingen, die wir darin naiv waren und dann erstaunt zur Kenntnis nehmen mussten: Der Taylorismus war keineswegs ein flächendeckender Erfolg, Massenproduktion und Fließband waren nicht ausschlaggebend für Henry Fords Produktivitätsvorsprünge auf Highland Park. Die taylorisierte Massenproduktion, organisiert im großen Konzern, ist nicht die universelle Form effizientester Produktion, und lean production auch nicht. (Auch Unternehmungsnetzwerke werden es nicht werden.) Elton Mayo war ein – sagen wir es hart: – Scharlatan. Die informelle Gruppe hat er weder entdeckt noch erfunden, seine Daten frisiert, kaum mehr als den Zeitgeist in Façon gebracht, mit psychoanalytischem Halbwissen. Zufriedenheit erhöht nicht signifikant, nicht generell die Produktivität.
3
Mehrdeutigkeit
3 Mehrdeutigkeit Ich habe schon Marchs und Olsens Forschungen zur Mehrdeutigkeit in Organisationen erwähnt. Bedeutung und Interpretation, Welterschließung durch Sprache, erobern seither ihren Platz in der Organisationsforschung. Seit den Arbeiten Donald McCloskeys wird die Rolle der Rhetorik, die Unverzichtbarkeit von Metaphern und von story-telling auch in der Ökonomik allmählich erkannt. Auch eine Nachfrage-Kurve ist eine Metapher – eben die Metapher einer Kurve. Und die ökonomische Theorie ist voll von erzählten Geschichten, zum Beispiel dieser: „Once upon a time we were poor, then capitalism flourished, and now as a result we are rich.“ (McCloskey 1990, 1) „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ betrifft eben auch die Welt der Organisation, und Alfred Schütz‘ Werk ist immer noch ein Hort voller ungehobener Schätze, auch für Organisationstheoretiker. Man denke nur an eine Husserl-Schütz-Bergsonsche Theorie der Willkür, des Entwurfs, des Wahlaktes, heute würden wir sagen: der Entscheidung. Man denke ferner an die beträchtliche organisationale Bewandtnis von Typen und Deutungsmustern. Letztere werden in interpretativen, symbolischen, kognitiven, kulturellen Ansätzen mit großer Aufmerksamkeit bedacht – von Schütz wäre gleichwohl noch viel zu lernen.
3 Ein möglicher Startpunkt dafür wäre René Girards Theorie des mimetischen Begehrens, weil sie nachdrücklich klarmacht, dass Präferenzen nicht eine Sache isolierter Subjekte und ihrer Beziehung zu Objekten sind, sondern eine Dreierbeziehung, an der „die Anderen“ einen konstitutiven Anteil haben; in den Worten Jean-Pierre Dupuys (1999, 36): „Die ökonomische Theorie, ob liberal oder marxistisch, fußt auf der einfachsten, auf der erlogensten Konzeption der Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt: das Subjekt begehrt das Objekt, oder es braucht es: Geschmäcker, Präferenzen, subjektive Bedürfnisse, objektive Bedürfnisse, immer handelt es sich dabei um einen Pfeil, der vom Subjekt aus in Richtung Objekt zeigt. Die geometrische Figur, die die Bedeutung der Zeichen darstellt, ist kein Pfeil mehr, sondern ein Dreieck. Dessen Ecken sind: Subjekt begehrt das Objekt, weil es glaubt, dass es nur über das Objekt vermittelt die Blicke der anderen auf sich ziehen kann: Blicke der Bewunderung, der Hochachtung, des Respekts, der Schätzung, des Vertrauens, der Anerkennung, der Liebe.“ Anerkennung, ob man sie nun wie Girard denkt oder wie Hegel, Freud, Mead, Heidegger, Sartre oder Lacan, verweist immer auf die konstitutive Rolle dieser Anderen bei der Herausbildung unserer Bedürfnisse und Präferenzen; für Überblicke vgl. Honneth (1992), Verweyst (2000).
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Organisation und Welterschließung
Berger/Luckmann (1980) Peter Winch (1966) und Paul Ricœur (1978) haben das für die Sozialwissenschaften allgemein, David Silverman, James March und Karl Weick haben es für die Organisationssoziologie im Besonderen weiter ausgearbeitet. Zu Recht gelten Sinnkonstitution und Interpretation bei Giddens als eine – allerdings nur eine – der Dimensionen des Sozialen. Das indes bedarf einer weiteren Radikalisierung. Mehrdeutigkeit ist unabschließbar – unter anderem, weil Bedeutung kontextabhängig ist und die Zahl der Kontexte und Metakontexte prinzipiell unendlich ist. Das hätte man schon von Gregory Bateson wissen können. Der „unendliche Regreß von Kontexten“ (Bateson 1983, 250) war einer der seltsamen Attraktoren seines Denkens. Heute wird es in einer geradezu obsessiven Genauigkeit und Radikalität von einem Denker vorgebracht, der, nach dem Urteil vieler, in den Sozialwissenschaften nichts zu suchen hat: Jacques Derrida.
4 Strukturation und Dekonstruktion 4 Strukturation und Dekonstruktion Tatsächlich verfolgt Derrida keine, oder kaum, sozialwissenschaftliche Interessen. Seine Insistenz aber auf der „dissemination“, der nicht stillstellbaren Vervielfältigung und Zerstreuung der Bedeutung von Texten, brauchen wir nur auf die allseits doch völlig unbestrittene Sinndimension allen sozialen Handelns zu beziehen (Ricœur 1978), um die Relevanz seiner Arbeiten und Denkfiguren für die Organisationstheorie zu sehen. Organisation können wir ja geradezu als die Arbeit an der Fest-Stellung von Bedeutungen (auch: der Bedeutung des Handelns) auffassen – mit Derrida wäre zu ergänzen: eine immer notwendige und niemals gelingende, niemals zu Ende zu bringende Arbeit. Organisation ist das organisierte Ringen um die Absorption von Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, um die Entfaltung, Bearbeitung, Verschiebung und oszillierende Veränderung von Paradoxien, mit der Zuflucht zu immer nur vorläufigen „Lösungen“ mit eingebauten Folgeproblemen. Wir setzen auf „rule following“, aber handeln uns den Starrsinn der Bürokraten ein und sagen dann: „First, break all the rules“ (Buckingham, Coffman 1999); wir puffern den technischen Kern einer Organisation, aber sehen uns mit dann doch einsickernder Kontingenz aus der Umwelt in den technischen Kern konfrontiert; wir setzen auf Hierarchie statt auf Markt, aber in Gestalt von profit centers, intrapreneurship oder Unternehmungsnetzwerken kommt es irgendwann zu einem re-entry des Marktes in die Unternehmung. So etwas heißt bei Derrida: Différance, eine zugleich aussetzende, verschiebende, aufschiebende und verändernde Kraft. Man lese Erhard Friedbergs Buch über den beständigen Aufschub, das Aussetzen und die Veränderung organisationaler Regelwerke (Friedberg 1995; dazu: Ortmann 2003). Das alles endet, auch bei Derrida, nicht in einem Bedeutungsrelativismus. Es platziert aber die Figur des Wandels – der beständigen Différance organisationaler Strukturen – im Innersten allen Geschehens in Organisationen. Wer sich an Derridas Rekurs – Reduktion? – auf „den Text“ stört, bedenke: in der Rede vom Kontext haben wir alles Handeln, alles Kommunizieren, alles Interpretieren und jede Organisation längst selbst unter die Metapher des Textes gebracht. Dito mit der Rede vom „pretext“ – Vorwand –, der ja von Meyer/Rowan bis Brunsson eine so dominante Rolle in der neo-institutionalistischen Organisationstheorie spielt. Der gesamte Kontext-Determinis-
5 Welterschließung und Verriegelung
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mus der Kontingenzforschung hätte sich vermeiden und ein Vierteljahrhundert situative Organisationsforschung einsparen lassen, wäre nur von Uexkülls Umwelt- und Batesons Kontext-Konzept zur Kenntnis genommen worden. Das Gleiche gilt von den wirkmächtigen deterministischen Versionen der evolutionstheoretischen Organisationsforschung, etwa des population-ecology-Ansatzes. Damit aus dem Rekurs auf den Text keine Reduktion wird, brauchen wir einen Begriff der Ressourcen und des Eingreifens in die Welt, den ich – durchaus mit Derrida – im 11. Kapitel entwickle. Organisationen operieren zur Fest-Stellung von Bedeutung mit dem, was Gregory Bateson (1983, 374 ff) „Kontext-Markierung“ genannt hat. Hamlet spricht zu Ophelia über Selbstmord, aber wir rufen nicht die Polizei. Eintrittskarten, Vorhang, Sitzordnung und viele andere Zeichen markieren den Kontext. Organisationsanweisungen, Unternehmungsphilosophien, strategische Planungskonzepte, Gratifikationen zum Beispiel sind auch KontextMarkierungen (Bateson 1983, 168). Mehr noch: Die Anwendung von Regeln, die Einhaltung von Gesetzen impliziert, einigermaßen paradox, ihre situative Aussetzung, Verletzung, Modifikation und Rekreation. Was Regeln – und Gesetze! – bedeuten, entscheidet sich, alltäglich genug und dann jäh von höchster Brisanz, erst vollends in ihrer Anwendung, also mit einer gewissen kafkaesken Nachträglichkeit, die allen Juristen, die ja eisern am Rückwirkungsverbot festhalten müssen, die Haare zu Berge stehen lassen müsste. Wir dulden stillschweigend Regelverletzungen mit Blick auf Kontexte, in die wir Regeln einrücken – oft ist das sinnvoll, manchmal verheerend. (Ortmann 2003; auch diesmal übrigens war Luhmann, wie damals in Buxtehude der Igel, „schon da“: mit seiner Figur einer „brauchbaren Illegalität“, 1964, in „Funktionen und Folgen formaler Organisation“.) Regelwerke unterliegen, intendiert oder nicht, unausweichlich einer beständigen Différance. Es ist zu ergänzen, dass Giddens seinen Begriff der Strukturation, und gerade das Aufregende an ihm, von Derrida entlehnt hat, um den sogenannten Poststrukturalismus ein paar Jahre später zur „dead tradition of thought“ zu erklären – nicht eben die feine englische Art (dazu unten, Kapitel 5). Davon darf man sich nicht beirren lassen.
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Welterschließung und Verriegelung
5 Welterschließung und Verriegelung Nicht erst Derrida, sondern jene Denkbewegung in Philosophie und Sozialwissenschaften, die den Namen „linguistic turn“ erhalten hat, die spätestens mit den Arbeiten Donald McCloskeys (1985; 1990; 1994) auch die Wirtschaftswissenschaft ergriffen hat4, und der die interpretative, die konstruktivistische und die Organisationskultur-Forschung so viel verdankt, hat auf die Agenda der Organisationsforschung gesetzt, was wir seither nicht mehr ignorieren können:
Für die deutschsprachige Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss an McCloskey: Sadowski, Pull (1997); dazu s. unten, das 20. Kapitel.
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Organisation und Welterschließung
dass der menschliche Wirklichkeitsbezug „indirekt, umständlich, verzögert und vor allem ‚metaphorisch‘ (ist)“ (Blumenberg 1981, 115) – Schulz (1994) spricht vom „gebrochenen Weltbezug“; „(d)aß wir in mehr als einer Welt leben, (...) die Formel für Entdeckungen, die die philosophische Erregung dieses Jahrhunderts ausmachen“ (Blumenberg 1981, 3)5; dass wir uns Organisationen daher im Wege einer doppelten Hermeneutik (Giddens 1993) nähern müssen; dass alle Organisation die Organisation von Bedeutung ist, organisiertes sense-making, organisierte Selektion und auch Unterdrückung von Sinn; und dass wir es dabei unweigerlich mit Mehrdeutigkeit und mit Kontextabhängigkeit der Bedeutung sozialen Handelns zu tun bekommen.
Mit der linguistischen Wende – aber in Deutschland können wir sagen: seit Wilhelm von Humboldt – haben wir die traditionelle Auffassung hinter uns gelassen, nach der die Sprache nichts anderes ist als ein Instrument der Bezeichnung sprachunabhängiger Entitäten. Unsere Beziehung zur Welt ist vielmehr symbolisch vermittelt. Die Sprache spielt eine konstitutive Rolle für unsere Erfahrung und für unser Verständnis der Welt. Angesichts dieser so bedeutenden Einsicht müssen wir uns jedoch hüten, das Kind der Bezeichnungsfunktion der Sprache mit dem Bade linguistischer Reflexion auszuschütten. Besonders der Name Heidegger steht, in einer bestimmten Lesart, für eine Hypostasierung der Sprache6. Gefahren eines Relativismus oder Kontextualismus drohen dann von allen möglichen Seiten, weil die nur im Plural auftretenden natürlichen Sprachen und die vielfältigen Kontexte des Sprechens ebenso viele Welten zu konstituieren scheinen. Die bekannten Thesen von der Inkommensurabilität kulturspezifischer Diskurse, auch: kulturell differenzierter Organisationswelten, legen davon Zeugnis ab. Dagegen hat Christina Lafont geltend gemacht, „daß die mit der ‚linguistischen Wende‘ einhergehenden Gefahren in Richtung eines ‚Idealismus der Sprachlichkeit‘ keineswegs die Konsequenz aus diesem Paradigmenwechsel als solchen darstellen, sondern nur aus der Verabsolutierung der Welterschließungsfunktion und der damit einhergehenden Ausblendung der Bezeichnungsfunktion der Sprache resultieren.“ (Lafont 1994, 11) 5 Über den Sinn solcher Sätze gibt es natürlich fortbestehende Missverständnisse. Hartmut Kliemt etwa meint Sadowski und Pull, die Blumenberg zustimmend zitieren, entgegnen zu müssen: „Wir stoßen uns alle in der gleichen Welt das Knie an dem einen gleichen Tisch“ (Kliemt 1997, 441). So ähnlich pflegt Alan Sokal gegen die so genannte Postmoderne zu argumentieren; vgl. unten, die Fußnote 42 in Kapitel 2, und das Kapitel 20, 3. Abschnitt. 6 „Die Sprache ist ihrem Wesen nach weder Ausdruck, noch eine Betätigung von Menschen. Die Sprache spricht.“ (Heidegger 1986, 19) Natürlich liegen die Dinge auch bei Heidegger komplizierter, wie Lafont (1994, besonders prägnant: 134 ff) zeigt. Jean-Luc Nancy hat darüber hinaus dargelegt, dass die Sehnsucht nach Sinn, verstanden als Bedeutung, als präsentabler, präsentierter Sinn, eine Schutzreaktion gegen die Verlassenheit ist: „Wir ertragen es nicht, ohne den Entwurf einer Bedeutung, ohne die Bedeutung eines Entwurfs zu sein.“ (Nancy 2001, 33) Die Bedeutung aber ist für Nancy (2001, 33) „das Urbild einer in sich geschlossenen Struktur oder eines in sich geschlossenen Systems, besser noch einer Schließung in sich.“ Sie schützt, indem sie die Kluft oder den Abgrund wieder schließt, „der sich zwischen den beiden korrelativen Möglichkeiten auftut, dass das Denken leer und die Realität chaotisch sein könnte“. Das ist ein Gedanke, kaum auszudenken und von unabsehbarer Tragweite. Immerhin: Dass Organisation als organisierte FestStellung von Sinn an solcher Schließung teilhat, lässt sich wohl denken.
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Mittels der Sprache erschließen wir uns die Welt – auch die Welt der Sprache, genauer: der Sprachen, die wir zu entschlüsseln, zu entziffern haben (cipher = Chiffre, Schlüssel). Zum Dechiffrieren aber braucht man den Code, der die verabredeten – geregelten – Bedeutungen enthält. Mit Wittgenstein können wir ergänzen: Eine Sprache verstehen, heißt die Lebensform verstehen, in die jene Regeln eingelassen sind. (Sich) die Welt erschließen heißt aber nicht nur Verstehen. Es ist nur ein anderer, in Richtung auf den Pragmatismus führender Aspekt der Position Lafonts, dass wir uns nicht nur denkend und sprechend, sondern auch fühlend und handelnd die Welt erschließen. Dafür hat Arnold Gehlen ein Beispiel gegeben – es ist ein Beispiel, aber eines von großer metaphorischer Trächtigkeit –, für den die Handlung ein „Schlüsselthema“ (Gehlen 1961, 18) des Menschen darstellt und der Viktor von Weizsäckers Begriff des Gestaltkreises aufgreift und so erläutert: „Wenn Sie mit einem Schlüssel an einem Schloß herumprobieren, so gibt es eine Folge von sachlichen Veränderungen, die in der Ebene von Schlüssel und Schloß vor sich gehen, wenn es etwa klemmt, und Sie müssen noch etwas hin- und herprobieren. Dabei gibt es eine Serie von Erfolgen oder Mißerfolgen in der Sachebene, die Sie aber sehen und hören und fühlen, die also zurückgemeldet werden, die Sie wahrnehmen; und nach dieser Wahrnehmung wieder verändern Sie die Zugriffsrichtung Ihres Handelns, verändern Sie Ihre Probierbewegungen, und schließlich kommt dann doch in der Sachebene der Erfolg, und das Schloß schnappt auf. So geht der Vorgang im Kreise, d. h. man kann einen solchen Vorgang als einen einzigen Kreisprozeß beschreiben, der läuft dann aber über psychische Zwischenglieder, die Wahrnehmung, und über motorische Zwischenglieder, die Eigenbewegungen, in die Sachebene weiter und zurück. An diesem Beispiel habe ich vielleicht klargemacht, daß man, wenn man von der Handlung spricht, den ganzen Dualismus einfach ausklammert. Eine Zerlegung des Vorganges in Leibliches und Seelisches würde nichts beitragen und bei der Beschreibung nur hindern, genauso, wie jede Reflexion auf diesen Unterschied während des Vollzuges, beim Probieren mit dem Schlüssel, nur stören würde. Das Handeln selber ist – würde ich sagen – eine komplexe Kreisbewegung, die über die Außenweltsachen geschaltet ist, und je nach der Rückmeldung der Erfolge ändert sich das Verhalten. Man kann hier sehr gut zeigen, daß im Vollzuge der Handlung jederlei Reflexion, die nicht in eine Änderung der Zugriffsrichtung zum Zwecke glatteren Verlaufes übergeht, nur Hemmungen setzt. Da aber alle menschliche Arbeit nach diesem eben gebrauchten Modell des Mannes mit dem Schlüssel in Handlungskreisen abläuft, vom Feuerbohren bis zum Häuserbauen, so hatten wir ja nun eine Basis, die uns gestattete, über den Menschen nachzudenken, ohne in solche dualistische Formen zurückzufallen (...)“ (Gehlen 1961, 18f). Handeln, Probieren, Tasten, Experimentieren verschafft Aufschlüsse – wenn es in einen Gestaltkreis mit Fühlen und Denken eingefügt ist. Man beachte,
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Organisation und Welterschließung
dass dieses Hin- und Herprobieren als Metapher für einen Fallibilismus genommen werden kann, dessen wir auch nach der linguistischen Wende nicht entraten können7, dass die Uexküll-Weizsäcker-Gehlensche Kreisfigur eine Familienähnlichkeit zu Giddens‘ Rekursivität und zu Derridas zirkulärer Supplementarität aufweist, und dass, wer mit dieser Zirkularität/Rekursivität/Supplementarität ernst macht, sich auch dem Gedanken öffnen muss, dass es niemals nur um die Suche des richtigen Schlüssels (Sprache, Interpretation, Theorie) für ein Schloss („Welt“) geht, sondern immer auch um die Konstitution von Welt im Handeln und Sprechen: um die Suche nach der richtigen Welt für unsere Schlüssel8.
Sofern es dabei nicht nur ums Denken und Sprechen, sondern auch ums Handeln geht, trifft Derridas Begriff der Auslösung (déclenchment) die Ambivalenz der Sache (Derrida 1995, 326 ff, 335). Verriegelte Fenster können entriegelt, eine Blockade, eine Sperre kann gelöst, aber auch, und vielleicht ungewollt, ein Mechanismus, ein Automatismus, eine Trajektorie ausgelöst werden. Technologien, Institutionen, Branchen können verriegelt werden, und das Lock In kann auch ein kognitives sein: eine Denkblockade. Als Organisationsforscher haben wir es mit organisiertem Sprechen, Interpretieren und Handeln und mit zwei Gruppen von Fragen zu tun: 1. 2.
Inwiefern er- und verschließt der „Prozeß des Organisierens“ (Weick), aufgefasst als reflexives Strukturieren, die Organisationswelt(en)? Inwiefern er- und verschließt das dadurch organisierte Sprechen, Interpretieren und Handeln die Organisations- und die übrige Welt?
Organisationstheorie hat mit Blick auf beide Fragen komplexe Weisen der Welt(v)erschließung zu erschließen – mit Luhmann: Weisen des Beobachtens zu beobachten –, und jede besondere Organisationstheorie verschließt sich dabei unendlich vielen anderen Weisen, sich die Welt zu erschließen – erschließt uns die Welt nur auf ihre besondere Weise. Schließung und Erschließung, Restriktion und Ermöglichung, Ausschließung und Aktualisierung von Potentialen stehen einander dabei nicht als Alternativen oder Oppositionen gegenüber, sondern es handelt sich um Erschließung, Ermöglichung, Aktualisierung mittels Schließung, Restriktion, Ausschließung. Dass Organisieren und organisiertes Sprechen und Handeln Welt(en) erschließt, bedarf kaum der Erläuterung. Organisierend konstituieren wir Organisationswelten: sprechend9,
Auch dazu, unter Rekurs auf Putnam (bes. 1988), Lafont (194, 360 ff). Gute Erfinder, wie oft bemerkt worden ist, erfinden daher nicht nur Lösungen für Probleme, sondern auch Probleme für ihre Lösungen. Vgl. auch Paul Watzlawicks allerdings ironische Apologie des Betrunkenen, der seinen Schlüssel auf der einen Straßenseite verloren hat, ihn aber auf der anderen sucht, weil dort eine Laterne leuchtet (Watzlawick 1997, 27). Ich selbst habe gern und oft die neoklassische Ökonomie nach diesem Muster kritisiert. Man muss aber sehen, dass, solange man nicht weiß, wo der Schlüssel sein könnte, es ganz vernünftig ist, ihn dort zu suchen, „wo das Licht hinfällt“. 9 Vgl. Kiesers „Über die allmähliche Verfertigung der Organisation beim Reden“ (1998). 7 8
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interpretierend, regelsetzend10, über Ressourcen disponierend. Organisiertes Handeln erweitert unsere Möglichkeiten, uns auf diese Organisations- und auf die übrige Welt zu beziehen: unsere Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten, unser Wissen und die Möglichkeiten, Wissen zu erwerben und zu nutzen, unsere Kooperations- und Koordinationsmöglichkeiten. Organisierte Wahrnehmung ist enger, aber auch schärfer. Dann sehen wir Arbeitsprozesse auf Gilbreth‘ Chronozyklogrammen11, messen sie in TMU (time measurement unit: 0,036 Sekunden) und gestalten Arbeit. Wir erfassen die Augenbewegungen von Kunden und Rezipienten von Werbung über Produkte, Regale oder Werbebilder, die wir dementsprechend gestalten. Schließlich verfügt organisierte Wahrnehmung über einen „zwingenden Blick“ (Ortmann 1984), der mehr kann als nur schauen – der in den Bann schlägt. Mehr noch: Wir erfinden Begriffe, Deutungsweisen, Alltagstheorien, mittels derer wir die Welt in neuem Licht sehen: lean production, Kundenorientierung, mass customization, time to market, um nur einige Beispiele zu nennen. Wir etablieren und nutzen Normen und Standards und erschließen die Potentiale von Ressourcen (dazu das 11. Kapitel) so, wie wir es als einzelne und wie wir es ohne Organisation niemals könnten. Weil nun solches Erschließen der Welt ohne Verschließen nicht abgeht; weil Ersteres vielmehr nur durch Letzteres ermöglicht wird; weil nun allerdings die Weisen des Schließens und Erschließens niemals neutral sind gegen die Begehren, Bedürfnisse und Interessen der Menschen; weil sie niemals unabhängig von Machtdifferentialen gewählt oder zugelassen werden; und weil sie daher in praktischer Ein- und Ausschließung terminieren, in Inklusion und Exklusion, erleben wir Organisation auch als Gefängnis, als stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit. Für die von Exklusion Bedrohten wird access zum Engpass, Zugang zu Lebensmitteln, Wissen, Technologien, Organisationen, Netzwerken und überhaupt zu sozialen und kulturellen Chancen. Franz Kafka hat wieder und wieder die Paradoxien einer solchen Exklusion erzählt, die auf dem Wege der Inklusion zu Stande gebracht wird, allerdings in ihrer allgemeinsten Form: als Ausschluss vom Gesetz (in „Vor dem Gesetz“)12, als Auslieferung an einen Prozess, der eine leere Form des Gesetzes zur Geltung bringt (in „Der Prozeß“), und als aussichts- und trostlosen Kampf um den Zugang zu einem Schloss, das als Labyrinth angelegt (Politzer 1965, 316 ff), also seiner architektonischen und bürokratischen Struktur nach als Zugangssperre zu sich selbst gebaut ist, während es doch auf K. wie ein seltsamer Attraktor wirkt. In Ökonomie und Organisationstheorie tragen solche Sperrmechanismen viele Namen – Lock In ist vielleicht der derzeit bezeichnendste. Inertia, organisationaler Konservatismus, Sklerose (Olson 1982; 1996), ceremonial encapsulation (Reuter 1994, 262 ff), autopoietische Geschlossenheit, Entscheidungskorridor, Transaktionsspezifität, Fundamentaltransformati-
Schreyögg (1987) hat Organisationsstrukturen – Anreiz-, Gratifikations-, Karriereregeln – als „verschlüsselte Botschaften“ interpretiert. In der Tat: Sobald wir es mit Bedeutung zu tun haben, auch: der Bedeutung von Regeln, haben wir es mit Prozessen der Ver- und Entschlüsselung zu tun. 11 Vgl. die Überlegungen „Zur Ökonomie des Sehens“ in Ortmann (1984, 165 ff). 12 Vgl. dazu die fulminanten Lektüren von Giorgio Agamben (2002, 60 ff) und Jacques Derrida (1992), die viel tiefer reichen, als ich hier auch nur andeuten kann; ferner das Kapitel „Zonen des Schweigens“ in Ortmann (2003). 10
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on, straight jacket, bonding, hands tying, die core rigidities der resource-based view-Debatte, die Figur der Trajektorie, auf die Akteure von unwiderstehlichen Kräften genötigt werden, die Gefangenschaften der capture theory und des prisoner’s dilemma und schließlich der an den Mast gefesselte Odysseus vor den Sirenen, dessen Geschichte Jon Elster (1987) und Láurent Thévenot (1984) mit Blick auf die Ökonomie der Selbstbindung analysiert haben13 – das sind Metaphern einer Verriegelung der Welt, mit der wir ihre Erschließung mittels Organisationen zu bezahlen haben. Im Alltag ist die Rede von Reformstau und Reformblockaden, von Lehmschichten und Mehltau, und retirierte Politiker schreiben Bücher mit Titeln wie „Locked in the Cabinet“ (Reich 1997) oder „Im Joch des Profits“ (Dohnanyi 1997). Odysseen der Moderne führen in die Computerwelt. Ihr entstammt ein weiteres Bild für das Verhältnis von Schlüssel, Schloss und Welterschließung:14 Nicht die Geschichte des Computers, aber eine der Geschichten, aus denen sie besteht, hat Tracy Kidder (1982) erzählt: die Geschichte vom Bau eines neuen Computers. Sie heißt Die Seele einer neuen Maschine und handelt unter anderem von dem Alptraum der Computerbauer, „daß wir immer neue Fehler finden werden“, von ihrer Angst vor dem ganz großen Fehler, der unendlich tiefen Falle – dem „schwarzen Mann“. Besonders berüchtigt ist die sogenannte „Endlos-Seitenanforderung“, ein Fehler in der Software, der die Zentraleinheit eines Computers stillegt. Man stelle sich vor: Der Computer arbeitet Befehl für Befehl ein Programm ab, das er aber nur zum Teil in seinem Arbeitsspeicher verfügbar hat. Der Rest ist aus Platzgründen irgendwo anders, zum Beispiel auf einer Magnetplatte gespeichert. Wie die Maschine diese restlichen Befehle findet und in ihren Arbeitsspeicher überführt, das erklärt ihr die Seitenwechselanforderung. Sie erteilt der Maschine dazu die entsprechenden Befehle, und alles geht seinen Gang. Wie aber, wenn sich die Befehle der Seitenwechselanforderung ihrerseits nicht im Arbeitsspeicher, sondern extern auf einer Platte befinden? Dann müsste der Computer sie dort erst suchen, aber um sie zu finden, müsste er sie schon haben. „Das wäre so, als sperre man einen Schrank ab und ließ den Schlüssel im Inneren liegen“, sagte einer der Computerbauer. „Wenn das eintritt, dreht die Maschine durch.“ Die Geschichte von der Seele einer neuen Maschine erzählt den Mythos vom unwiederbringlichen Verlust des Schlüssels. Denn ein Mythos ist es, der da erzählt wird. Vordergründig nur geht es um einen Fehler in der Programmierung, der übrigens heute selten geworden ist und gegen den es Vorkehrungen gibt. Erzählt wird die Schlüsselgeschichte von der Übergabe des Schlüssels an den Computer, vom Verkauf der Seele an die neue Maschine und von der Angst, dass sie sich als Seelenverkäufer entpuppt. Dass wir den Schlüssel aus der Hand geben, dass die lebendige Wahrheit nicht in Worten, schon gar nicht in Algorithmen ausgedrückt werden kann: das ist der Alptraum, der den Computerbauer aus Kidders Buch des Nachts heimsucht. „Weil uns Aufgeklärten der Sinn – und dieser Sinn ist der Inbegriff mythologischer Weltauslegung –, der Glaube an die Geschichten verlorengegangen ist, weil wir in dem existentiellen Bedeutungsvakuum Geschichte vegetieren, das wir vergeblich mit wis-
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Auch dazu das Kapitel „Das Schweigen der Sirenen“ in Ortmann (2003). Der folgende Absatz ist wörtlich entnommen aus Ortmann (1988, 10 f).
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senschaftlichen Ersatzwerten auszufüllen suchen, eben deshalb gebiert sich in uns ein letzter, ein ultimativer Mythos, eine Schlüsselgeschichte vom unwiederbringlichen Verlust des Schlüssels, die Erzählung vom Ende aller Erzähler.“ (Horstmann 1986) Diesem Mythos müssen wir nicht erliegen. Wohl aber ist die Erschließung der Welt eine Sisyphos-Arbeit, wie Albert Camus sie verstand: sense-making, endlos, niemals ans Ziel kommend. Können wir uns Sisyphos, immer noch, als glücklichen Menschen vorstellen? Fenster zu möglichen Welten zu öffnen, das jedenfalls bleibt die Aufgabe. * Mit diesem Buch sollen Konturen meiner Organisationstheorie deutlich werden, wie sie sich seit „Formen der Produktion“ (1995) entwickelt hat. Lieb wäre mir, wenn das Buch im Zusammenhang mit zwei weiteren gelesen würde, die ein und demselben Arbeitsprozess entstammen: Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung (2003) und Als Ob. Fiktionen und Organisationen (2004). Zusammengenommen erschließen sie drei Aspekte von Organisationswelten, die mir besonders wichtig erscheinen: ihre Regeln, ihre Ressourcen und die notwendigen Fiktionen, auf denen, statt auf massiven Fundamenten, Organisationen aufruhen und aufsteigen – oder zu Fall kommen.
I Dekonstruktion
1. Wiedergänger der Moderne Derrida, Giddens und die Geister der Aufklärung∗ 1. Kapitel: Wiedergänger der Moderne „(...) seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben (...) (ist) das Paradies (...) verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“ Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater „(...) gibt es keine Rückkehr zur Unschuld des Weltwissens. Die Tür zum Paradies bleibt verriegelt.“ Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos „(...) wo eine solche Beschwörung heute in betäubender Einstimmigkeit darauf drängt, daß das, wovon sie sagt, daß es tot sei, auch tot bleibe, muß sie Verdacht erwecken. (...) Die Leiche ist vielleicht nicht so tot, nicht so einfach tot, wie die Beschwörung uns weismachen möchte. Das Dahingegangene scheint immer noch da zu sein, und sein Erscheinen ist nicht nichts. (...) Wie bei der Trauerarbeit nach einer Traumatisierung muß die Beschwörung sich versichern, daß der Tote nicht wiederkehrt: (...) Schnell eine Gruft, deren Schlüssel man in Gewahrsam hält!“ „(...) Entriegelung. Die Logik des Schlüssels (...) war die einer Politologie des Traumas und einer Topologie der Trauer.“ Jaques Derrida: Marx‘ Gespenster
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Déjà vu
1 Déjà vu Dass, wo Gefahr sei, das Rettende auch wachse, wie von Geisterhand, diese Tröstung wird uns Heutigen nicht mehr zuteil. Denjenigen unter uns, welche die „Dialektik der Aufklärung“ nicht als eine apokalyptische Verirrung der Horkheimer und Adorno gelten lassen mochten und mögen (sondern als eine Geisterbeschwörung von bis dato unerhörter Reali∗
Zuerst erschienen in: Soziologische Revue 19 (1996), 16-26; geringfügig modifiziert.
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1. Kapitel: Wiedergänger der Moderne
tätsmächtigkeit), ist vielmehr die umgekehrte Vorstellung mindestens ebenso geläufig: dass, wo das Streben der Moderne nach dem Rettenden sei, nach Sicherheit vor den Gespenstern des Mythos, nach sicherer Beherrschung der Natur und der Menschen, jedenfalls auch die Gefahr wachse, und alle guten Geister uns lieber verlassen wie Ratten das sinkende Schiff. Die profane, professionelle, um Geister aller Art bereinigte15 Version dieses Gedankens auszuarbeiten, ist inzwischen zum Geschäft der Risikosoziologie geworden, die es denn auch mit einer gewissen Folgerichtigkeit zu dieser verrückten Paraphrase des HölderlinWortes gebracht hat: „Wo aber Kontrolle ist, wächst das Risiko auch“ (Luhmann 1991, 103). Natürlich ist es nicht ohne Ironie, wie Niklas Luhmann mit dieser Formulierung das ungeliebte, ungewollte16 Erbe kritischer Theorie antritt. Wir können, mit Derrida (1996, 148) zu sprechen, nicht nicht Erben sein, die Erben dieses Geistes der Aufklärung – was immer wir aus der Aufgabe machen, die dieses Erbe uns stellt. Auch Luhmann aber, der über Angst überwiegend wie über ein moralisches und daher theoretisches Ärgernis schreibt – „Wer Angst hat, ist moralisch im Recht“ (1986, 244). Und: „Gegenüber einer Moral, die angstbezogene Unterscheidungen propagiert, haben theoretische Analysen einen schweren Stand“ (1986, 246) –, wie über einen besonders raffinierten Trick, leider unwiderlegbar mit der Kraft der Authentizität ausgestattet, alsbald gar nur noch über die Finessen einer Rhetorik der Angst und die Fallen der Angstkommunikation, auch Luhmann zeigt sich in Angst vor den Gespenstern der Aufklärung, vor der unheimlichen Komplexität der Welt, vor der überbordenden, uns überfordernden, überflutenden Fülle der Möglichkeiten, vor der Kontingenz, diesem „Midas-Gold der Moderne“ (1992, 94). Auf Parallelen des Luhmannschen „horror potentialitatis“ mit Kierkegaards „Schrecken der Möglichkeiten“ haben Wolf-Dieter Narr und Dieter H. Runze schon 1974 aufmerksam gemacht. Anders als bei diesen Autoren ist hier nicht schon diese Diagnose kritisch gemeint, sondern erst die Verleugnung der Angst als Theoriemotiv und die abwertende Thematisierung von Angst, sobald sie Gegenstand der Theorie wird. Beides interpretiere ich im Lichte des Motivs der Angstabwehr: als Abwehr der Angst vor den Gespenstern der Aufklärung. Nicht dieser Angst also, die weiß Gott ihr Recht hat, sondern jenem Umgang mit ihr gilt meine Kritik. Im Spiel ist Angst vor der Angst, vor Betroffenheit, vor Moral und Ethik,
15 Die Rede Luhmanns (1991, 2) jedenfalls von „unserer Gesellschaft“, die „Unheil in der Form von Risiko zu erfassen sucht“ und „zum Beispiel nicht mehr in der Form von Zauber und Hexerei und auch kaum noch in der Form von Religion, nachdem (...) der Teufel seine kosmologische Funktion, wenn nicht sogar seine Existenz verloren hat“: diese Beschwörung eines erfolgreichen Exorzismus kommt, wie wir noch sehen werden, eine Idee zu schnell. Der Rekurs der Soziologie der vergangenen Jahrzehnte auf Marx, findet Luhmann (1992, 19) andererseits, „mag angesichts zahlreicher Anachronismen erstaunen und wie eine Geisterbeschwörung wirken“ (Hervorh. G. O.). Da hat er gewiss recht – nur dass solche Grabgesänge oder Sterbeurkunden – siehe unten – der Angelegenheit nicht Herr zu werden pflegen. Vgl. dagegen das Kapitel „Den Marxismus beschwören“ in „Marx‘ Gespenster“ von Derrida (1996); ferner unten, 11.3. 16 So sicher ist selbst das nicht, wenn man bedenkt, dass er sein Risikobuch mit einem emphatischen Statement zu „einer kritischen Soziologie“ eröffnet (Luhmann 1991, 1), das Kapitel über „Zukunft als Risiko“ mit der Frage beendet: „ist das noch unsere Welt? Können wir so weitermachen?“ (ebd., 58) und diese Frage an anderer Stelle in einer Manier beantwortet, die von Ferne geradezu an Benjamins Thesen über den Fortschritt erinnert: „ (...) heute hat man von der Voraussetzung auszugehen, daß die Gesellschaft (...) sich ändern wird, ja sich ändern muß, wenn es gutgehen soll.“ (Luhmann 1992, 160; Hervorh. i. Orig.) Dass es so weitergeht, hatte Benjamin gesagt, ist die Katastrophe. Wir können nicht nicht Erben sein. Oder, mit Giddens (1984, xxxv): ”The formulation of critical theory is not an option”.
2 Finish Move
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Angst zumal vor dem Gespenst neuer sozialer Bewegungen, nachdem jene alte schon einmal als Gespenst umging in Europa. Wie es anders geht, wie geradezu umgekehrt ein Schuh daraus wird, führt Jaques Derrida in „Spectres de Marx“ vor. Darin wird jene Angst als treibendes Motiv einer paradoxen Jagd thematisch, einer ebenso unwiderstehlichen wie unendlichen Jagd auf Spuk und Gespenster, einer Jagd, die uns jagt und hetzt, die uns Verfolger verfolgt, in deren Verlauf wir uns selbst Angst einjagen, aus jedem Holz – hylè – einen Pfeil schnitzen, jagen um zu jagen, die Gespenster willkommen heißen, um sie zu verjagen, einer Jagd, deren Opfer wir nicht verlassen können, deren Beute uns gefangenhält17, zu der wir blasen, als ob – weil? – wir vor jemand in uns selbst Angst haben. Das zielt beileibe nicht nur auf jenes Gespenst, das da 1848 in Europa und, Wiedergänger der Moderne, hundert Jahre später in den USA umging. („Angst vor dem roten Gespenst. Zwei neue Bücher über amerikanische Kommunisten – richtige und vermeintliche – und ihre Jäger“ ist eine Rezension von Ulrich Greiner in „Die Zeit“ Nr. 30 vom 21. Juli 1995, 12, überschrieben18, die mir in Collioure in die Hände fällt, wo ich diese Zeilen schreibe, und das nur ein paar Kilometer von Port Bou entfernt liegt, jenem Ort, an dem Walter Benjamin sich tötete, gejagt und gehetzt von den Faschisten, die in ihm ein Gespenst jagen und endgültig zur Strecke bringen wollten, was aber nicht gelang, weil Gespenster eben wiederkehren, wie man 1992 sah, als der israelische Künstler Dani Karavan Benjamin ein Denkmal19 zu seinem 100. Geburtstag setzen wollte, wofür das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland den in solchen Fällen üblichen Zuschuss lange verweigerte20 – in dem wiederholten Versuch, den Toten ruhen zu lassen und das Gespenst zu bannen.) Nein, Derrida meint auch und zunächst die Gespenster von Marx, etwa die, die er in Max Stirner verfolgte – „der nicht weit davon entfernt ist, ihm zum Verwechseln ähnlich zu sehen: ein Bruder, ein Doppelgänger, mithin ein teuflisches Bild. Eine Art Gespenst seiner selbst“ (Derrida 1996, 219) – in einer theoretischen Jagd, einem „Gemetzel mit der (eigenen) Obsession“, die Assoziationen weckt an ganz andere Jagden der Kommunisten auf Anarchisten.
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Finish Move
Finish Move In Collioure, nicht weit von Barcelona, wo solche Jagden stattgefunden haben vor über einem halben Jahrhundert, frequentieren die Kinder ein Etablissement, das wir „die Hölle“
„Doch Du verlörst Ruhm als Eroberer, verfiel ich, deine Beute, deinem Haß.“ (John Donne, zit. n. Jon Elster 1987, 148 f) Bei Elster steht das Donne-Zitat im Kontext seiner Erörterung von „Zuständen, die wesentlich Nebenprodukt sind“, die wir intendiert also gerade nicht erreichen können – wie Vergessen, Gelassenheit, Spontaneität. Die Vergeblichkeit jeder Gespensterjagd hat es auch damit zu tun: dass die Gespenster nicht weichen, ja, uns verfolgen in dem Maße, in dem wir sie verfolgen und ihren Garaus intendieren. 18 Eines dieser Bücher heißt „Red Scare“ (Fariello 1995). 19 Das Denkmal ist schließlich doch gebaut worden. Eine Treppe an den Klippen vor Port Bou, in den Felsen gehauen und links und rechts von einer stählernen Wand begrenzt, verläuft hinab zum Meer und weist in die Freiheit, in die Benjamins Flucht hätte führen sollen – es wäre die Freiheit jener USA gewesen, in der wenig später McCarthy sein Unwesen trieb, seine Gespensterjagd. 20 Vgl. zum Beispiel „Der Spiegel“ Nr. 29/1992, 182. 17
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1. Kapitel: Wiedergänger der Moderne
nennen – eine Spielhölle, in der die Flipper „Twilight Zone“ heißen, „The Adams Family“ oder „Tales from the Crypt“, die begehrtesten Videospiele „Streetfighter“ und „Mortal Combat“. Wer einen seiner unheimlichen Gegner – sie tragen Namen wie Sub-Zero, Scorpion, Guile, Liu Kang oder Cage – besiegt hat, darf ausführen, was im Jargon „finish move“ heißt. Das ist nicht einfach Totmachen. Es ist ein besonders finales Totmachen, weshalb es seinen Namen ganz zu Recht trägt. Es ist ein Schlussmachen, ein Schließen, das jedweder (Wieder-)Eröffnung ein Ende setzen soll – ein für alle Mal. Der Böse wird mittels Flammenwerfer-Hauch in Asche verwandelt, per Kälteschock tiefgefroren und anschließend zerbröselt oder auch seines Kopfes und Rückgrats beraubt. Die „finish moves“ sind das Objekt der Begierde der Kinder, wieder und wieder. (Kinder wissen, dass Wiedergänger wiederkommen, und dass Finalität ein Spiel der Wiederholungen ist. „Dreh dich nicht um, der Plumpsack geht um.“ „Who’s afraid of the bogey man?”21) Was Derrida (1996, 10 f) vorschlägt, ist: „Lernen, mit den Gespenstern zu leben,“ also auch mit der Angst vor ihnen; statt eines finalen Exorzismus „das Prinzip einer radikalen und unabschließbaren (...), unendlichen Kritik“ (ebd., 146), und das gar „im Namen einer neuen Aufklärung für das kommende Jahrhundert.“ (Ebd. 147). Déjà vu? Gewiss. Wer aber weiß, dass der Grabgesang oder die Sterbeurkunde im Falle von Gespenstern nur „der Performativ einer kriegerischen Handlung oder das ohnmächtige Gebärdenspiel, der von einer Tötung umgetriebene Traum ist“ (ebd., 83), für den gibt es zur Ausführung des finish move keinen Ort22. Nirgendwo. Außer in unserer kindlichen Phantasie. (Derridas Credo gilt einem „Geist der Aufklärung, auf den wir nicht verzichten sollten“, einer radikalisierten Vernunft, die mit ihrem Anderen rechnet, nicht: sich diesem Anderen der Vernunft ausliefert; Derrida 1996, 143.)
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Schachteln in Schachteln
3 Schachteln in Schachteln Derrida geht es zunächst darum, den entmutigenden Eindruck des Déjà vu scharf herauszuarbeiten, der sich beim Blick auf die immer neuen Versuche einstellt, die Gespenster der Aufklärung kraft der Anstrengung der Reflexion auf immer höherem Reflexionsniveau doch noch und endgültig zu bannen. Der Prozess der Moderne gerät ihm zu einer Genealogie von Gespenstern, einer Kette von Kopfgeburten. Er zitiert Valéry: „(...) erschaut der 21 Im Jargon von Computerbauern, die Tracy Kidder in seinem Buch „Die Seele einer neuen Maschine“ (1984) beschreibt, bezeichnet „bogey man“, der Schwarze Mann, den ganz großen Fehler, das Schlimmste, die Angst vor dem tödlichen Absturz, noch ein Gespenst, mitten in der Welt des High Tech. „Zu Hause schreckte Rosala (ein Computerbauer, G. O.) manchmal mitten in der Nacht aus dem Schlaf hoch. Er wusste nichts von einem Traum. Er war plötzlich wach und ertappte sich bei der Überlegung, ob eine der Maschinen aus irgendeinem ganz neuen, noch unbekannten Grund die Arbeit eingestellt hatte. Oder er dachte beim Aufwachen an den letzten Defekt, dessen Ursache schon seit einer Woche gesucht wurde und noch immer nicht gefunden war. Der Schwarze Mann – la Machine – leistete ihm auch nachts Gesellschaft.“ (Kidder 1984, 153) Seine Gegenwart, Präsens, Präsenz, ist eine derridaeske, auf Abwesenheit, Vergangenheit und Zukunft gestellte Gegenwärtigkeit, und auch sie untergräbt die Opposition von Subjekt und Objekt: Es träumte mir – so, wie es spukt. Zu Kidders Buch ausführlich: „Auf dem Rücken fliegen. Thrills am Computer“ (Huebner, Krafft, Ortmann) und weitere Beiträge in Krafft, Ortmann (1988). 22 Auch keinen Ort in der Reflexion: kein „Ende der Geschichte“. Für eine fulminante Kritik des Buches von Fukuyama (1992) mit seiner These einer Art „idealer Finalität“ vgl. Derrida (1996, 96 ff).
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europäische Hamlet Millionen Gespenster. (...) Greift er nach einem Schädel, so ist es ein erlauchter Schädel. (...) Der da war Lionardo. (...) Und der da ist der Leibnizens, der vom Weltfrieden träumte. Und der da war Kant; Kant zeugte Hegel, dieser zeugte Marx, dieser zeugte – wen?“ (Valery 1956, 12 f, zit. n. Derrida 1996, 19) Also kann Derrida fortfahren: „Shakespeare, der Marx zeugt, der Valéry zeugt“ (ebd.) Also kann ich fortfahren: Marx aus dem Schädel von Shakespeare, Valéry aus dem Schädel von Marx, Derrida aus dem Schädel von Valéry. Und nun: Giddens aus dem Schädel von Derrida. Das ist, versteht sich, im Sinne interaktiver, rekursiver Reflexionsprozesse gemeint, nicht im Sinne von Schulenbildung. Schädel aus dem Schädel aus dem Schädel, Schachtel in der Schachtel in der Schachtel: in genau diesem Sinne geht es hier um die Rekursivität der Reflexion. Reflexion der Reflexion der Reflexion. Dem hat Dieter Claessens, darin nolens volens Erbe von Horkheimer und Adorno, Schädel aus dem Schädel von..., 1965 eine weitere rekursive Schleife hinzugefügt mit dem Begriff einer von Tradition losgemachten, losgelassenen Beweglichkeit, einer technischen Mobilmachung der Moderne, die nun aber ihrerseits auf- und abgefangen werden müsse, gehalten, da sie nicht selber hält und trägt, nicht hält, was sie verheißen hatte, wozu der Mensch neue Beweglichkeit brauche – noch eine Puppe in der Puppe. Für eben diese losgemachte Beweglichkeit hat Anthony Giddens ein Vierteljahrhundert später (1990, 139) das Bild des Juggernaut vorgeschlagen – „a runaway engine of enormous power which, collectively as human beings, we can drive to some extent but which also threatens to rush out of our control and which could rend itself asunder“. Asunder: auseinander, aus den Fugen, wie Derrida wohl sagen würde, der – Derrida aus dem Schädel von Heidegger, wie ein bisschen auch Giddens – dieser Wendung eine Analyse widmet, die unvergleichlich viel tiefer geht als Giddens‘ Überlegung (Derrida 1996, 38 ff). Tatsächlich zielt Derrida mit dem Begriff der „spectres“ – Spektren und Gespenster – auf ein „aus den Fugen geratenes Jetzt“ (1996, 17), auf die „Erscheinung des unkörperlichen Körpers“ (1996, 73) – man denke dabei getrost auch an Marx‘ Geldbegriff oder den Warenfetisch –; auf die Spektralität eben dieses Gespenstischen, dessen ontologische Behandlung – hier die wirkliche Wirklichkeit, da der leere Schein des Simulakrums – jene totalitären Perversionen zum Effekt hat, denen die Gespensterjagd doch galt und immer wieder gilt; auf das, was nicht da ist, es sei denn in der Form der Abwesenheit, auf das, was kommt und wiederkommt, was immer (noch) aussteht, auf „die Fortdauer einer vergangenen Gegenwart“ (1996, 163), auf die Différance zwischen Geist und Gespenst, die in einer gewissen Verleiblichung und Verschiebung des Geistes zugleich liegt – Verschiebung im Sinne eines Aufschubs, eines unweigerlichen Noch-Ausstehens. „Das Ideologische, ebenso wie mutatis mutandis der Fetisch, das wäre der Leib, der einer anfänglichen Idealisierung gegeben oder vielmehr verliehen, geborgt wäre, die Verkörperung in einem Leib, der zwar weder wahrnehmbar noch sichtbar würde, aber dennoch ein Leib bliebe, in einem Leib ohne Natur, in einem a-physischen Leib, den man, wenn man diesen Oppositionen vertrauen könnte, einen technischen Leib oder institutionellen Leib nennen könnte.“ (Derrida 1996, 201) Es spukt jenseits der Oppositionen von Präsenz und Nicht-Präsenz, Faktizität und Nicht-Faktizität, Leben und Nicht-Leben, Subjekt und Objekt. Da gibt es Anschlüsse bei Giddens, zumal mit Blick auf Struktur und Strukturation, besser: ein Erbe, und das ist für Derrida (1996, 36, 92, 176 ff) immer schon ein
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kritisches, eines, über das man verfügt, und das heißt, wählend, filternd, siebend, kritisch verfügt. Zauberlehrling, Dschagannath – die Gespenster der Aufklärung jedenfalls sind hartnäckige Wiedergänger. Giddens aber kommt Derridas Ansinnen – sie anzunehmen statt in einem vermeintlichen finish move zur Strecke zu bringen – insofern nahe, als er nicht mehr, wie vielleicht noch Claessens 1965, glaubt, sie in einer neuen, größeren Reflexions-Schachtel einfangen und darin sicher halten zu können. Nicht nur ist die Idee obsolet, dass wir dem Containment namens Aufklärung nur ein Containment fürs Containment hinzuzufügen hätten, um das Unheil ein für alle Mal abzuwenden. Sondern es liegt eben darin, nämlich in der Reflexivität und Zirkularität sozialen Wissens, also auch in der Reflexion auf die unintendierten Konsequenzen der Moderne, immer auch neue Gefahr, die Möglichkeit neuen Unheils. Midas-Gold. „Wo Kontrolle ist, wächst das Risiko auch.“ Aus solchen Gründen können wir sagen: Es kehrt die Titanic, Metapher und Gespenst des frühen 20. Jahrhunderts, an seinem Ende in der Gestalt von Tschernobyl wieder, jenes Beispiels für die finale Lösung unserer Energieprobleme, dessen Containment (selbst schon Ummantelung einer „ewig“ haltbaren Hülle, in einem zweiten, ergänzenden finish move noch einmal für die Ewigkeit ausgelegt, als nun aber wirklich finale Gruft des atomaren finish move) nun doch nicht ganz so lange hält, sondern nur – vielleicht – 30, 40 Jahre, weswegen es ein Containment für das Containment für das Containment braucht, das wir vielleicht nach Ablauf seiner Ewigkeit erneut werden ummanteln müssen, und es gehört zu den gespenstischen Ironien der Geschichte dieses Jahrhunderts, dass das ganze Ding, Schachtel in Schachtel in Schachtel, zu sinken droht wie die Titanic. Ist Anthony Giddens‘ Theorie all dem gewachsen? Das wird niemand behaupten wollen, dem es ernst ist mit der Idee einer unabschließbaren Kritik. Kein finish move, auch diesmal. Immerhin ...
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4 Reflexivität und Rekursivität Immerhin, um damit zu beginnen, findet sich in Giddens‘ Werk, von „The Constitution of Society“ bis zu „The Consequences of Modernity“ und „Modernity and Self-Identity“ ein ernsthafter, ernstzunehmender Umgang mit Angst: in den jüngeren Arbeiten nicht mehr nur zurückgreifend auf die Ich-Psychologie Eriksons, sondern auch, durchaus ein Schritt hin zu einer – wenn auch wenig ausgearbeiteten – Verfeinerung und Erweiterung, auf die Theorie der Objektbeziehungen eines Winnicott und Balint. Dass jene letzteren beiden Bücher Giddens‘, zumal in Deutschland, nach Habermas‘ zeitdiagnostischen und philosophischen Reflexionen der Moderne, nach Luhmanns Arbeiten zur Ökologie, zur Soziologie des Risikos und zur „Beobachtung der Moderne“ und nach Becks Analysen der Risikogesellschaft nicht als Sensation daherkommen, gar, horribile dictu, im Vergleich zu früheren Arbeiten vermissen lassen, was hierzulande Tiefe heißt, ist sicher diskussionswürdig. Immerhin bietet Giddens darin Analysen „ontologischer Sicherheit“, existentieller Angst und der Rolle des Vertrauens angesichts der Riskanz der Moderne, die, in vielem inspiriert durch die genannten Autoren, dem Motiv der Angst Raum und Recht gewähren, wie sie es im Lichte der Derridaschen Gespensteranalyse verdienen. Gerade dadurch liegen sie für meinen Ge-
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schmack auch ganz gut, nämlich irgendwie britisch nüchtern, zwischen Luhmanns Abgesang an Angst, Betroffenheit, Moral (und Kritik?) und jener zeitgenössischen Alarmstimmung und Betroffenheitsbeschwörung, die ja nicht nur Luhmann auf den Geist geht. Das rührt auch daher, dass Giddens Reflexivität nicht nur performativ in Anschlag bringt, sondern sie auch auf der Seite des Gegenstandes thematisiert, und zwar nicht erst in seinen zeitdiagnostischen Arbeiten, sondern an zentraler Stelle innerhalb seiner Sozialtheorie: mit dem für seinen Handlungsbegriff entscheidenden Konzept des „reflexive monitoring of action“. Das erlaubt ihm heute eine reflektierte Beobachtung der Reflexivität der Moderne, die auch insofern durch und durch rekursiv verfährt, als sie diese Reflexivität nicht einfach am Gegenstand festmacht, sie auf dessen Seite schlägt, sondern ihrer eigenen konstitutiven Rolle in diesem allerdings gewaltigen und, wie es scheint, unaufhaltsamen Prozess des Reflexivwerdens innewird. Das verleiht seinen Analysen viel Augenmaß, bewahrt ihn insbesondere vor der Illusion, in diesem Reflexivwerden liege auf jeden Fall das Gegengift wider die Gespenster der Aufklärung (Giddens 1990, 36 ff; zustimmend Luhmann 1991, 226). (Ein Moment der Reflexivität der Moderne ist das Reflexivwerden des Selbst, die praktizierte Kunst der Selbstbeobachtung – „What am I doing? What am I thinking? What am I feeling? How am I breathing?“ –, ein anderes die rasant wachsende Bedeutung des Expertentums und komplexer Expertensysteme für alle möglichen Bereiche der Welt. Beides trifft zusammen in der an sich selbst wachsenden Lawine von Beratungsliteratur. In der Frankfurter Rundschau erschien einmal eine Rezension, also eine schriftliche Beratung zum Kauf und Lesen von Büchern, über Beratungsliteratur zum Thema „Alleinerziehende Eltern machen mit ihren Kindern Urlaub“, einschließlich eines Buches, das auf den Fall des Wanderurlaubes dieser single parents spezialisiert ist. Was uns, nach Derridas paradoxer Jagd, die uns jagt, die komplementäre Idee einer verzweifelten Flucht vor der schier allfälligen Rettung aufdrängt: vor den Therapien; vor den Büchern über den Therapiedschungel; vor den Rezensionen dieser Bücher; vor den Ausbildern der Moderatoren der Treffen von Supervisoren von Therapeuten und Organisationsberatern hilfsbedürftiger Lehrer, Eltern, Erzieher, Vorgesetzter schwieriger Kinder und Untergebener.) Der darin zum Ausdruck kommenden „circularity of social knowledge“ wird Giddens (1990, 153) um so eher gerecht, als auch dieser Aspekt an zentraler Stelle seiner Sozialtheorie schon berücksichtigt ist, und es ist dies die Stelle, die der Rede von einem wie immer kritischen Anschluss an Derrida ihre Berechtigung gibt: das Konzept der Strukturation und der Dualität und Rekursivität von Struktur. Handelnd rekurrieren wir auf Strukturen – kognitive, legitime und Herrschaftsordnungen –, die wir eben dadurch (re-)produzieren: hervorbringen, wiederherstellen, befestigen, ausbauen und, nota bene, verändern. Wir rekurrieren auch auf unser Wissen, das wir in eben dieser Manier entwickeln, vertiefen, verwässern, verändern, auch auf Wissen, das die Sozialwissenschaftler bereitstellen, bekanntlich sogar auf Wissen über dieses Wissen, zum Beispiel auf die Ergebnisse empirischer Forschung über psychologische Therapieformen, die heutzutage jährlich ein paar Mal in „Der Spiegel“, „Die Zeit“ oder „Psychologie heute“ dem Publikum vorgestellt und von vielen Beteiligten und Betroffenen breit diskutiert werden. „Strukturation“ bewahrt daher bei Giddens ausdrücklich jenen Doppelsinn von „Strukturieren“ und „Strukturiertheit“, von Prozess und Resultat, von, mit Schütz zu sprechen, „Erzeugen“ und „Erzeugnis“, der so vielen wichtigen sozialwissenschaftlichen Termini wie
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auch alltagssprachlichen Ausdrücken anhaftet – etwa „Organisation“ und „Konstitution“, um zwei zu nennen, auf die ich gleich zurückkomme, aber auch Handlung, Erfahrung, Beobachtung, Einstellung, Beziehung, Erziehung, Bildung oder auch: Kommunikation. Dass wir beide auseinanderhalten müssen, lässt sich mit unübertroffener Klarheit von Alfred Schütz lernen. Prozesse des Konstituierens von Sinn, um es an diesem gewiss nicht unerheblichen Beispiel zu erläutern, dürfen nicht mit ihren Resultaten verwechselt werden. Ein Ding, ein Geschehen „macht Sinn“, sofern wir es vermittelst Deutungsschemata interpretieren können, und indem wir das tun, also Sinn „schöpfen“, (re-)produzieren wir eben jene Deutungsschemata, bringen also zwei Resultate zugleich hervor: die Sinnhaftigkeit des – nunmehr gedeuteten – Dings oder Geschehens, und die Gültigkeit (oder Modifikation) des in Anschlag gebrachten Deutungsmusters. Der Weg des Zur-Geltung-Bringens eines notwendig irgendwie allgemeinen, typisierenden, Schütz sagt: idealtypischen, Deutungsschemas in konkreten Situationen führt dabei zu seiner „Erfüllung“: „Die idealtypischen Deutungsschemata sind gewissermaßen Leerformen, die das Ich an das umweltliche Du heranbringt und die durch die jeweilige Konkretisierungs- und Aktualisierungsstufe der Wirbeziehung zugleich erfüllt, aber auch ihres typischen Wesens beraubt werden.“ (Schütz 1974, 259) Das ist so wegen der Kontextualität jeder Sinnkonstitution. Jede Deutung ist ein Akt rekursiver Sinnkonstitution unter bestimmten Umständen und geschieht durch Anwendung eines Deutungsschemas auf diese Umstände – eines Schemas, das aber erst in dieser Anwendung und durch sie bestimmt, erfüllt und also vollends konstituiert wird: „Weil sich der Sinn aller Erlebnisse erst in der reflexiven Zuwendung konstituiert, dieser aber (...) immer den Index des jeweiligen Jetzt und So trägt, muß auch die Synthesis der Rekognition und damit das Deutungsschema, unter welches die Einordnung erfolgt, den Index des jeweiligen Jetzt und So tragen. (...) Mit einem Paradox könnte gesagt werden, dass das als Problem Aufgegebene, nämlich das einzuordnende Erlebnis, das Deutungsschema, in welches die Einordnung erfolgt, selbst bestimme.“ (Schütz 1974, 113) Darin, „daß das Deutungsschema durch das zu Deutende mitkonstituiert wird“, liegt indes kein fehlerhafter Zirkel, keine petitio principii, weil wir zwischen der Konstitution (im Sinne von: via Anwendung Erzeugen) und dem auf diese Weise konstituierten Deutungsschema, dem Erzeugnis (das wir wiederum anwenden und dabei erneut spezifizieren, modifizieren, reproduzieren) unterscheiden können. Dass ich hier so ausführlich Schütz zitiert habe, dafür gibt es vor allem drei Gründe: (1.) Zunächst sehe ich in dieser durch und durch rekursiven Husserl-Schützschen Denkfigur eine gemeinsame Quelle – ein aufgegebenes Erbe – sowohl für die Derridasche Logik des Suppléments (Derrida 1976, 1983) als auch für die Giddenssche Rekursivität von Struktur (Husserl zeugt Schütz zeugt Derrida zeugt Giddens,) und es ist mir sehr darum zu tun, diese beiden letzteren Figuren einander nahezubringen. Gegenüber spezifisch deutschen Reserven23, Aversionen und – sagen wir ruhig: – Ressentiments möchte ich eine gelassene, souveräne, kritische parallele Lektüre Derridas und Giddens vorschlagen, eine Lektüre, bei 23 Vgl. zum Beispiel Habermas‘ einflussreiche Kritik (1985); für eine Zurückweisung seines Vorwurfs, Derridas Denken sei einerseits eine auf die Spitze getriebene Ursprungsphilosophie und führe andererseits in einen Bedeutungsrelativismus: Kimmerle (1988), Naumann-Beyer (1994) resp. Gondek (1987); ferner unten, das 4. Kapitel.
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der ein weiteres Mal der französische Sinn für das Tragische und britische Nüchternheit einander zum Korrektiv werden können, so ähnlich, wie es Jean-Pierre Dupuy (1991) schon einmal empfohlen hat24. Dieser kleine und ein weiterer, gemeinsam mit Francisco Varela verfasster Beitrag Dupuys (Dupuy, Varela 1991) sind Fundgruben für eine „Derrida-Lektüre gegen den Strich“, wider bestimmte Intentionen des Autors (und eben deshalb diesen Intentionen gerecht werdend), Fundgruben für den außerordentlich fruchtbaren Gebrauch, der sich von Dekonstruktion und Logik der Ergänzung in den Sozialwissenschaften (und übrigens auch in den Naturwissenschaften) machen lässt, überall dort, wo es um einen „Ursprung“ geht, „der weder nicht existent oder nicht faßbar noch ein letzter Grund oder eine absolute Bezüglichkeit ist“ (Dupuy, Varela 1991, 273): in der Molekular- und Zellbiologie, in der Evolutionsbiologie und der sozialwissenschaftlichen Evolutionstheorie, in der Anthropologie25, in der Ökonomie26, in der Kognitionswissenschaft, in Organisationstheorie und Industriesoziologie27, in der Ethik28, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Beispiele laufen für mich darauf hinaus zu sagen: in Sozial- und Gesellschaftstheorie, und in Giddens‘ Konzept der Rekursivität und Dualität von Struktur und seinem Begriff der Strukturation finden sich die nötigen Anschlussstellen – einschließlich einer Derrida-Kritik, von der mir indes noch gar nicht ausgemacht scheint, ob sie Derrida überhaupt trifft oder vielmehr verfehlt, aber auf klärende Weise, nämlich Anlass bietend zur Klärung eines möglichen Missverständnisses, das auch hierzulande verbreitet ist, betreffend Derridas Begriff von Text und Schreiben resp. die Reichweite seines Denkens: „Derridean différance is associated too closely with the spacing of writing; the conception of spacing that can be discerned in Wittgenstein is superior to this in referring to the involvement of language with social practices. Social practices occur not just as transformations of a virtual order of differences (Wittgenstein’s rules), and differences in time (repetition), but also in physical space. I shall argue (...) that the theory of the structuration of social systems should be based upon this threefold connotation of différance.” (Giddens 1979, 45 f)29 Der Zirkel aber von Deutungsschema und
24 In einem Beitrag „Zur Selbst-Dekonstruktion von Konventionen“. Darin wird der Gedanke entwickelt, dass jede Konvention und jede Regel unter dem Gesichtspunkt des eingeschlossenen Ausgeschlossenen zu betrachten ist, also dem Gesichtspunkt ihrer Verletzung als in der Regel Eingeschlossenem. Es liegt wohl auf der Hand, dass wir an die Stelle von Konventionen auch Giddens‘ Strukturen und Institutionen setzen und so sehen können, warum es Rekursivität von Struktur heißt und Strukturation: weil Strukturen eben diesem Prozess der beständigen Re-Konstruktion und (Selbst-) Dekonstruktion unterliegen. S. unten, das 6. Kapitel. 25 Zum Beispiel Girard (1992), McKenna (1992). 26 Vgl. zum Beispiel die Keynes-Lesart von Dupuy (1991) und Orléans (1986) und des letzteren Theorie (der Genesis) des Geldes (Orléans 1992). 27 Vgl. meinen Versuch (Ortmann 1995a), die Denkfigur der Logik der Ergänzung für eine Kritik des Ökonomismus in Theorie und Praxis und für ein Verständnis der Genesis von Formen der Produktion fruchtbar zu machen; für eine strukturationstheoretisch angelegte Organisationsforschung s. auch unten, den 5. Abschnitt dieses Kapitels. 28 Auch dazu Ortmann (1995a, 226 ff, 249 ff). 29 S. unten, Kapitel 5. Man vgl. die folgende Formulierung: „Untrennbar geht es dabei aber auch um die differantielle Entwicklung der techne, der Techno-Wissenschaft oder der Tele-Technologie. Sie zwingt uns mehr denn je dazu, die Virtualisierung des Raumes und der Zeit zu denken, die Möglichkeit virtueller Ereignisse, deren Bewegung und Geschwindigkeit uns von jetzt an verbieten (mehr und anders als je zuvor, denn dies ist nicht absolut und durch und durch neu), die Präsenz ihrer Repräsentation gegenüberzustellen, die ‚reale Zeit‘ (‚temps réel‘) der ‚aufgeschobenen Zeit‘ (‚temps différé‘) die Wirklichkeit ihrem Simulakrum, das Leben dem Nichtlebendigen, kurz das Lebendige dem Lebendig-Toten seiner Gespenster“. (Derrida 1996, 265, mit Rekurs auf die Arbeiten Paul Virilios)
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dem zu Deutenden, von Konstitution als Erzeugen und Erzeugnis, entstammt einer Denkströmung, von Husserl und Schütz herkommend, die den Strom des Denkens beider speist. (2.) Ferner lässt sich die Bestimmung von Struktur als „intersection of presence and absence“, als „virtual order of modes of structuring“ (paradigmatische Dimension), die in die Reproduktion situierter Praktiken in Raum und Zeit (syntagmatische Dimension) einbegriffen ist30, in bestimmter Weise erhellen, wenn man sie im Lichte der Husserl31-Schützschen Opposition von Leere und Fülle – resp. Erfüllung und Ergänzung (sic! Vgl. Schütz 1974, 87, 116) – betrachtet. Denn Giddens will ja mit seinem Strukturbegriff auf Regeln und Ressourcen hinaus, die außerhalb von Raum und Zeit sind, außer in ihren „instantiations“ im Handeln und in ihrer „coordination as memory traces“, und die insofern durch eine Abwesenheit des Subjekts charakterisiert sind: in genau dem Sinne, in dem dies für „Sprache“ gilt. Der Opposition „außerhalb von Zeit und Raum“ und „situated in time-space“ entspricht nun genau die Opposition von Leere und Fülle, insofern jene „leeren“ Regeln und Ressourcen, wie von Schütz am Beispiel der Deutungsschemata vorgeführt, unter situativen Umständen ge-/erfüllt werden müssen, mit den Indizes des Hier, Jetzt und So versehen, dabei aber ihrer Typik, ihres Charakters der Verallgemeinerbarkeit beraubt werden. Die derart ge/erfüllten, hic et nunc von jemand mit spezifischer Biographie und Kompetenz in Anschlag gebrachten Regeln und Ressourcen heißen bei Giddens: (Handlungs-) Modalitäten. Sie bezeichnen dieser Interpretation zufolge32 die Stelle der Vermittlung zwischen Handlung und Struktur (zwischen Subjekt und Objekt), und es ist daher das Schütz-Erbe Giddens‘ in dieser Lesart von einiger Bedeutung für die bekanntlich umstrittene Frage, ob Giddens diese Vermittlung gelungen ist.33 Wenn ich hier als Beispiel stets die Konstitution von Sinn mittels Deutungsschemata und die mitlaufende (Re-)Produktion einer kognitiven Ordnung als entsprechender struktureller Dimension angeführt habe, so gilt dies alles doch gleichermaßen für die Konstitution von Legitimität mittels Normen und die mitlaufende (Re-)Produktion einer Legitimationsordnung – und für jedes praktische Eingreifen in die Welt mit Hilfe von Machtmitteln (im weitesten Sinne) und die mitlaufende (Re-)Produktion einer 30 Giddens (1984, 16 f); die Unterscheidung einer syntagmatischen und einer paradigmatischen Dimension von Struktur geht auf Saussure (1967) zurück: „Syntagmatisch“ bezieht sich auf die raum-zeitliche Ausdehnung der Sprache im Sprechen, auf Relationen zwischen Satzteilen in presentia, in je spezifischen Raum-Zeit-Stellen. „Paradigmatisch“ werden Beziehungen außerhalb von Raum und Zeit wie zum Beispiel die grundsätzliche Beziehung von Plural zu Singular genannt, aber auch die Beziehung zu alternativen Möglichkeiten, Satzstellen zu füllen, wie sie eben „die“ (raum-zeitlich nicht fixierte) Sprache zur Verfügung stellt. Zur Übertragung dieser auf Sprechen und Sprache bezogenen Begriffe auf Handeln und Struktur und auf Giddens‘ Strukturationstheorie vgl. im einzelnen Duschek (2001). 31 „Jeder ursprünglich konstituierende Prozeß ist beseelt von Protentionen, die das Kommende als solches leer konstituieren und auffangen, zur Erfüllung bringen.“ (Husserl 1928, 410; vgl. Schütz 1974, 74 ff) 32 Sie ist entwickelt von Stephan Duschek (2001), dem ich so manche Klärung, betreffend das Schütz-Erbe Giddens‘ und weiterführende Anschlussmöglichkeiten, zum Beispiel an ethnomethodologische Forschung, verdanke. Dass Zeichen – und, da und soweit es selbst eine kommunikative Dimension hat, Handeln! – indexikalisch im Sinne von „kontextabhängig“ sind, heißt ja: erst ihre Füllung mit den Indizes des Jetzt, Hier und So „macht“ ihren Sinn. Giddens‘ Modalitäten sind die mit jenen Indizes versehenen strukturellen Handlungsbedingungen: situativ ge-/erfüllte, ergänzte/ersetzte Regeln und Ressourcen. All das ist daher sozial- und organisationstheoretisch höchst relevant, nicht etwa nur für Konversationsanalysen und face-to-face-Interaktion. 33 Dabei ist zu bedenken, dass Giddens‘ Handlungsbegriff nicht dem Schützschen gleicht und, grob gesagt, des letzteren bewusstseinsphilosophische Fundierung hinter sich lässt. Vgl. Giddens (1993, 29 ff).
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Herrschaftsordnung. Letzteres geschieht ja unter Rekurs auf Ressourcen, die eine bestehende Herrschaftsordnung zur Verfügung stellt, und jede Verfügung unter situativen Umständen impliziert eine analoge Bewegung von einer Leere – der irgendwie noch leeren Allgemeinheit von Ressourcen als Mittel für typische, aber nicht konkret festgelegte Zwecke – zu der Fülle des Jetzt, Hier und So, die ihm der Anwender erst in praxi verleiht. (Auch das hat, vielleicht überraschend, Schütz für den Fall des „Geräts“ gezeigt: eines Erzeugnisses, das in weiteren rekursiven Schleifen menschlicher Praxis zum Zwecke des Erzeugens verwendet wird; vgl. Schütz 1974, 281 f. )34 (3) Strukturen (Regeln und Ressourcen) „binden“, in Giddens‘ Terminologie, Zeit und Raum. „Instantiiert“ in situierten Praktiken sorgen sie für deren zeit-räumliche Ausdehnung, Institutionalisierung, heute: Globalisierung, wobei Techniken der Lagerung, der Konservierung, des Transports, heute besonders der Informationsspeicherung und -verarbeitung und der Kommunikation für jene enormen Möglichkeiten der Raum-Zeit-Ausdehnung erst sorgen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Die Herkunft dieses besonderen Akzents (dazu Giddens 1979, 198 ff) aus einer Tradition, die von Husserl über Schütz und Heidegger bis zu Derrida die Zeitlichkeit und Räumlichkeit menschlicher Existenz zum prominenten Gegenstand der Reflexion gemacht hat, dürfte die Rezeption in Deutschland erschwert haben und weiter erschweren. Das wird sich jedoch ändern in Zeiten, da Oppositionen wie global-lokal die Spanne und zerreißende Spannung räumlich andeuten, die darin steckt – die Spanne, zeitlich gesehen, zwischen jenen Nanosekunden, in denen ein Computer seine Operationen ausführt, und der Ewigkeit, der finalen Verbannung des Unheils, der die Sehnsucht der Aufklärung gilt. Das muss ich hier kaum näher ausführen. Ich begnüge mich damit, es am Fall moderner Organisationen und Organisationsforschung zu erläutern.
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5 Strukturation und Organisation Mit Organisationen ist es so eine Sache. Kaum jemand, der ihre unerhörte Relevanz für die moderne Gesellschaft bestritte, wie unter anderem die allerdings etwas betagte Rede von der Organisationsgesellschaft indiziert – und kaum jemand unter den Autoren „großer Theorie“, mit den wichtigsten Ausnahmen: Luhmann und Coleman, der der modernen Organisation in seiner Theoriearchitektur einen dem entsprechenden Platz einräumte: nicht Parsons, nicht Habermas, nicht Bourdieu und auch nicht Giddens. Wohl aber gibt es im Falle der Strukturationstheorie eine wachsende Zahl von Autoren und Arbeiten, die sie für die Organisationsforschung fruchtbar zu machen versuchen. Das hatte von Giddens her gesehen nahegelegen, weil die drei hier als zentral herausgestellten Konzepte Giddens‘: Reflexivität, Strukturation und Rekursivität, im Begriff der Organisati34 Zur damit angelegten Rekursivität von Zweck und Mittel – nicht einfach werden die („zweckmäßigen“) Mittel aus den Zwecken abgeleitet und an ihnen gemessen, sondern auch im Lichte neuer Mittel Zwecke neu gesehen, neu entdeckt, neu gesetzt – vgl. Ortmann (1995a, 84, Fn. 3, 112 ff); sie unterminiert – dekonstruiert – jedwede Affirmation von Ökonomie, sofern diese mit feststehenden Bedürfnissen, Präferenzordnungen und Zwecken operieren muss, wie ich (ebd., 98 ff) am Verhältnis von „Rekursivität, Produktivität, Viabilität“ zu zeigen versucht habe.
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on auf zwanglose und einleuchtende Weise zusammentreffen, wenn man Organisation als reflexive Strukturation bestimmt, und zwar in genau jenem Doppelsinn rekursiven Erzeugens („Organisieren“) eines Erzeugnisses („Organisiertheit“, Organisation als soziales System), von dem oben die Rede war. Dort, wo der Blitz der Reflexion auf Strukturen und Strukturation fällt und sie zu Gold zu machen trachtet, und sei es Midas-Gold, haben wir es mit Organisation zu tun. In Organisationen ist Reflexivität institutionalisiert – was nicht heißen soll, dass sie ein Ausbund an Rationalität wären. Die Arbeits-, Management- und Organisationswissenschaften dieses Jahrhunderts, zumal die Betriebswirtschaftslehre, sind dabei bereits Gestalten der Reflexion der Reflexion, und die sich in Literatur und Praxis überbietenden und überschlagenden, überstürzenden und überstürzten Wellen der Management- und Organisationsberatung „in search of excellence“ nur Anzeichen und Ausdruck jener Kontingenzerfahrung, mit der wir, einem Luhmann-Wort zufolge, gewonnene Transparenz bezahlen müssen (Luhmann 1984, 159). (Auch diese Beratungswellen, wie jene zu life und body politics, sind hilflose Gesten wider das Bewusstsein der Kontingenz. In selbst-dekonstruktiver Bewegung unterminieren sie das Prinzipielle eben jenes Prinzips, des one best way, dem ihre Jagd gilt. An die Stelle eines Prinzips, eines Ursprungs, dem die Hatz und die Hetze gilt, setzen sie eine Kette abgehetzter Übersprunghandlungen – eine jagt die andere.) Die Nutzung der Strukturationstheorie für die Zwecke der Organisationstheorie hatte aber auch von letzterer her gesehen nahegelegen. Denn erstens bedurfte und bedarf die Organisationstheorie dringend einer sozial- und gesellschaftstheoretischen Fundierung, und zwar um so dringender angesichts einer Entwicklung, die auch anderswo – etwa in der Industriesoziologie, der Technikforschung, der Ökonomie – zu beobachten ist, zu einer geradezu explosionsartig wachsenden Zahl theoretischer Perspektiven und Paradigmen, die kaum miteinander kommunizieren, so dass die Warnung vor der Zersplitterung und gar „Auflösung der Organisationsforschung“ ihre Berechtigung hat. Sie stammt von Erhard Friedberg (1995, 96), dessen bedeutendes Buch selbst durch und durch strukturationstheoretisch, fast möchte man sagen: dekonstruktivistisch verfährt, so wenig er sich auf Giddens und Derrida beruft. Zweitens eignen sich die von Giddens in Anschlag gebrachten Dimensionen des Sozialen – Signifikation, Legitimation und Herrschaft (incl. Ökonomie) – nach meinem Eindruck recht gut, diese auseinanderdriftenden Theorieperspektiven zu integrieren: interpretative, kulturalistische, institutionalistische, macht-, herrschafts- oder kontrolltheoretische und ökonomische Ansätze der Organisationsforschung. Drittens bietet Giddens‘ Strukturbegriff mit seiner Betonung der Zeit-Raum-Bindung und mit seinen beiden Bestandteilen, Regeln und Ressourcen, besonders günstige Zugänge zu organisationstheoretischen Fragen. Das mag sich für die Zeit-Raum-Bindung und den Regelbegriff von selbst verstehen – die Relevanz organisationaler Regeln liegt auf der Hand, und dass Organisation immer auch eine raum-zeitliche ist, wird ja schlagend klar angesichts von just-in-timeProduktion in regionalen und globalen Netzwerken –, es gilt aber sodann auch und gerade für den Ressourcenbegriff, der im Rahmen politischer und ökonomischer Organisationsanalysen unverzichtbar ist – man denke nur an den resource dependence approach der Organisationsforschung, an den resource-based view des Strategischen Managements, an die mikropolitische oder strategische Organisationsanalyse und generell an die Sicht der Unternehmung als Institution der Transformation von Produktionsfaktoren in Produkte (zu alledem: Ortmann, Sydow, Türk 1997).
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So ist es kein Wunder, dass strukturationstheoretische Elemente oder Fundamente sich inzwischen in einer beträchtlichen Zahl organisationstheoretischer Arbeiten finden. Bemerkenswert besonders, dass mit Alfred Kieser ein führender Vertreter des situativen Ansatzes, der in der betriebswirtschaftlichen Organisationsforschung eine große Rolle spielt, sich behutsam Giddens‘ Strukturbegriff zuzuwenden scheint35; dass mit DiMaggio und Powell die weltweit vielleicht wichtigsten Vertreter neoinstitutionalistischer Organisationsforschung sich vorsichtig auf strukturationstheoretisches Gedankengut zubewegen, einschließlich einer dringend gebotenen Erweiterung des Neoinstitutionalismus um Gesichtspunkte von Macht, Interessen und Konflikt36; dass schon des längeren der social rule system approach von Burns und Flam (1987) unter Bezugnahme auf den strukturationstheoretischen Ansatz Giddens‘ entwickelt wird; dass dessen Ansatz sich auch bei der kommunikations-, kulturund machttheoretischen Analyse organisationaler Diskurse und Ideologien bewährt hat (Mumby 1988). Viele derer, die mikropolitische Organisationsanalysen betreiben, unterfüttern das Konzept der Mikropolitik strukturationstheoretisch37. Die Formen der Produktion, insbesondere lean production (Ortmann 1995a), das Verhältnis von Organisation und Psyche (Ortmann 1995b, 1995c), Fragen interorganisationaler Beziehungen und Netzwerke38 und das strategische Management39 sind Gegenstand strukturationstheoretisch informierter Analysen. Zwei umfangreiche Sammelbände (Bouchikhi, Kilduff, Whittington 1995, Bryant, Jary 1996) und ein Überblicks-Aufsatz (Ortmann, Sydow, Windeler 1997) behandeln das Verhältnis von Strukturationstheorie und Organisationsforschung und geben Kenntnis vom internationalen state of the art. Organisation, das Reflexivwerden von Strukturation, erweist sich in solchen Analysen als zweischneidiges Schwert. Die Reflexivität wird ersichtlich gesteigert, etwa in Gestalt von Organisationsberatung, oder in Gestalt reflexiver Strukturation interorganisationaler Beziehungen. Die Gespenster der einschlägigen Theorie heißen heute: hie Markt-, da Organisationsversagen. Derrida hatte seine Gespensteranalyse gleichsam im Gespräch mit Hamlet – „The time is out of joint“ – und dessen Vaters Geist entwickelt: „I am thy Fathers Spirit.“ Seine Warnung, dass wir uns der Gespenster nicht werden entledigen können, wird gewiss nicht hinfällig angesichts des Versuchs der „Organisation der Welt“ (Türk 1995), der uns vielmehr ein neues Gespenst beschert, das der total verwalteten Welt, besser: ein altes Gespenst in neuer Gestalt, Moloch, Wiedergänger der Moderne. Auch das aber ist nur einer der Geister, die wir riefen, in unserem Jagdeifer. In ihrer Vielfalt sieht Derrida (1996, 13) eine Hoffnung darin, dass die Geister „mehr als einer sind: das mehr als Eine.“ Wie Shakespeare selbst, wenn wir Borges Glauben schenken dürfen, „wie du, mein Shakespeare, (...) der du wie ich viele und niemand bist.“ Vgl. Kieser (1994); ferner das schon entschiedenere Plädoyer eines seiner Mitarbeiter: Walgenbach (1995). Vgl. DiMaggio, Powell (1991) und besonders Powell (1991). Zarte, vorsichtig positive Bezugnahmen auf Giddens finden sich jetzt auch bei anderen wichtigen Vertretern neoinstitutionalistischer Organisationsforschung, etwa bei Jepperson/Meyer, (1991) und Scott (1994). 37 Für eine erste Forderung in diese Richtung vgl. Ortmann (1987), wiederabgedruckt in Ortmann (1995a). Wir selbst haben dem Rechnung zu tragen versucht in Ortmann u. a. (1990). Vgl. ferner z. B. Schienstock (1993), das gewichtige theoretische Werk von Küpper und Felsch (2000) und das vorzügliche Lehrbuch von Oswald Neuberger (1995). 38 Vgl. Sydow, Windeler (1993, 1994, 1996), Sydow u. a. (1995), Windeler, Sydow (1995), Windeler (2001). 39 Becker (1996); Ortmann, Sydow (2001). 35 36
2. Post mortem? Nachrufe auf die Postmoderne Eine Polemik Post mortem? „ (...) nicht überhörbar der Oberton, das Komplizierte entspringe der Verworrenheit oder Wichtigmacherei des Betrachters.“ Theodor W. Adorno (1969, 52) „Verstehen ist eine zweistellige Relation.“ Jürgen Habermas (1969b, 266)
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Fünf Topoi eines common sense
common sense Im Frühling 1983, während seines letzten Paris-Besuchs, es ging um Verhandlungen über die Atomrüstung in Europa angesichts des Nato-Doppelbeschlusses, fragte eine amerikanische Journalistin Leonid Breschnew zu später Stunde, am Ende einer in überraschend launiger Atmosphäre verlaufenen Pressekonferenz, was er von den neuen französischen Philosophen halte. Breschnew antwortete, einigermaßen erwartungsgemäß: „I confess that I‘m an unabashed Old Leftist who never quite understood how deconstruction was supposed to help the working class.“ (The New York Times Nr. 60 vom 29.2.1983, S. 12) Man wird sagen, derlei sei allenfalls als Stilblüte von Interesse. „Nicht benutzen!“ – schon gar nicht zur Verteidigung Derridas, den es nicht ins Recht setzt, wenn Kritik – wie manchmal auch Beifall – von der falschen Seite kommt. Nutz und Frommen der Arbeiterklasse als Sinnkriterium der Philosophie? Schwamm drüber. Meine kleine Geschichte aber klingt nicht nur fast zu schön, um wahr zu sein, sie ist auch nicht wahr. Ich habe sie erfunden, kleiner Kunstgriff, ich gestehe es, um nun sagen zu können: Erstaunlich, wieviel Vertrauensvorschuss wir als Leser einem Autor gewähren, ich glaube: zunächst gewähren müssen, und wie leicht wir uns daher täuschen lassen. Das Jahr 1983 war kein Schaltjahr, der 29.2. hätte jedenfalls vor Frühlingsanfang gelegen, Verhandlungen über die Atomrüstung in Europa hat es damals nicht gegeben, Breschnew war in diesem Jahr nicht in Paris noch überhaupt unter den Lebenden, und das schwungvolle Statement stammt nicht von ihm, sondern vom „old leftist“ Alan Sokal (und ist nachzulesen nicht in der New York Times, sondern bei Sokal, Bricmont 1998a, 249; deutsch 2001, 320). Der wird mir meinen kleinen Schabernack verzeihen, denn er hat bekanntlich mit einem großen – in die Annalen eingegangen als Sokal‘s hoax – Berühmtheit erlangt, den er den sogenannten Postmodernen gespielt hat und auf den ich im 2. Abschnitt zurückkomme. Man würde es trotzdem lieber beim „Schwamm drüber“ belassen und hätte es bei einem „Argument“ vom linientreuen Niveau eines solchen Altlinken sonst auch jederzeit getan,
1 Fünf Topoi eines common sense
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aber es muss hier die Rede davon sein, weil Sokals hoax zu einem der Topoi geworden ist, die den Affekt wider den französischen Poststrukturalismus speisen. Diese Topoi lauten: 1. 2. 3. 4. 5.
Ich verstehe es nicht. Daher muss es Nonsens sein – bloßer Jargon. Schwarzgekleidete Gläubige lauschen den Verlautbarungen der Meister oder Meisterinnen kritiklos – in überfüllten Sälen. (In und um Frankfurt:) Habermas hat es auch gesagt. Sokal hat ins Schwarze getroffen.
Natürlich möchte ich nicht behaupten, darin erschöpfe sich die argumentative Substanz, wohl aber: damit sei präsentiert, was, in publizierten Beiträgen eher am Rande und im Subtext, in persönlichen Briefen schon deutlicher, und face to face recht uneingedämmt als gesunder Menschenverstand aufwallt und die eigentlich verfügbaren Reflexionsstandards mit wegspült – ein common sense, dessen affektive Aufladung uns noch beschäftigen muss. In dieser Lage, angesichts starker Animositäten auf allen Seiten, möchte ich zwei vielleicht nicht nur private Leseerlebnisse mitteilen. Das eine ist ein Déjà vu, das sich bei der Lektüre der landesüblichen Derrida-Rezeption einstellte – die Erinnerung schließlich an den Positivismusstreit und der Eindruck, dass damals gegen Adorno und Habermas so erstaunlich ähnlich argumentiert wurde wie heute gegen Derrida, Foucault und Lyotard. Darauf komme ich später – im 2. Abschnitt des folgenden Kapitels. Das andere ist, dass ich, von Haus aus Betriebswirt und Organisationstheoretiker, befasst mit der Ausarbeitung einer gesellschaftstheoretisch tragfähigen Organisationstheorie, bei Derrida ganz anderes finde als das, was das Feuilleton und die science wars-Debatten nahelegen. Ich finde ein ernsthaftes, um äußerste Verbindlichkeit und Genauigkeit bemühtes Denken, dessen Radikalität und dessen wichtigste Figuren beim Nachdenken über Gesellschaft, Ökonomie und Organisation sehr hilfreich sind. Auch Letzteres werde ich erst im nächsten Kapitel erläutern, und zwar mit Blick auf Organisationstheorie, von dort aber Ausflüge machend in Felder der Sozialtheorie, der Rechts- und der Politikwissenschaft, der Technikforschung. Bis dorthin aber müssen zunächst allerlei schwere Brocken und so manches Geröll aus dem Wege geräumt werden, und das beginnt im 2. Abschnitt dieses Kapitels mit Sokals brillantem Schelmenstück, das als mächtiger, schier unüberwindlich anmutender Stein des Anstoßes im Wege liegt. Ich muss mich dann, im 3., 4. und 5. Abschnitt, mit dem schweren Geschütz auseinandersetzen, das besonders seit 1998, und gewiss ermutigt durch Sokals hoax, im Feuilleton und in wissenschaftlichen Zeitschriften aufgefahren wird und dessen stärkstes die Todesurkunde ist, ausgestellt von Autoren, denen die Effekte sich selbst erfüllender Prophezeiungen nicht unbekannt sind. Meine Erwiderungen, Antworten auf ungewöhnlich heftige Polemiken, sind schon durch deren bloße Zusammenstellung wie von selbst polemisch geraten. Es sind Einsprüche gegen einen inakzeptablen Verfall von Standards der Diskussion. Das ist ja keine konzertierte Aktion – die zeitlichen und inhaltlichen Koinzidenzen bedürfen daher einer Erklärung, und ich möchte argumentieren, dass sie angesichts einer erstaunlichen Anhäufung von Fahrlässigkeiten, stilistischen faux pas, Selbstwidersprüchen und anderen Fehlern, auch angesichts von offensichtlichen Rezeptionslücken vieler Kritiker, nur zum
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geringen Teil in der Sache – in Derridas Werk – begründet liegen können. Es ist, als ob Sokals Streich das Wild zum Abschuss freigegeben hätte, Waidgerechtigkeit hin oder her. In den Abschnitten 1 und 2 des nächsten, des 3. Kapitels also komme ich auf formale und inhaltliche Parallelen der Argumentationsweisen 1968 und 20, 30 Jahre später zu sprechen – auf mein Déjà vu. Warum diese Parallelen und jene Koinzidenzen? Meine Antwort im 3. Abschnitt jenes Kapitels lautet: Es handelt sich um einen institutionell gefestigten Denkstil im Sinne Ludwik Flecks und Mary Douglas‘, rekursive Selbstverstärkung nicht ausgeschlossen. Wissenssoziologie indes, Wissenschaftssoziologie und -geschichte können die anstehende Frage wegen der bekannten Aporien ihrer Selbstbezüglichkeit und mangels Immanenz einer von ihnen sich herleitenden Kritik nicht zur Entscheidung bringen. Im Abschnitt 3.4 benenne ich daher die tiefere Beunruhigung, die den inhaltlichen Beweggrund jedenfalls der Habermasschen Aversion gegen Derrida ausmacht: die Sorge, das „Haus des Seins“ selber in den Strudel eines vermeintlich, nämlich Habermas‘ Derrida-Lesart zufolge, ungerichteten Sprachstroms gerissen zu sehen. Dabei stellt sich heraus, dass Habermas und Derrida einander so ferne vielleicht gar nicht sind, besonders in dem wichtigen Punkt eines vermeintlichen Bedeutungsrelativismus (Kapitel 3, Abschnitt 5). Im 6. und 7. Abschnitt des 3. Kapitels gehe ich auf Habermas‘ Vorwürfe der Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur sowie performativer Selbstwidersprüche in Derridas Werk ein. Am Ende aber läuft doch alles auf die Frage hinaus, die ich im Abschnitt 8 von Kapitel 3 stelle: Warum sollte Derrida lesen, wer ein wirtschafts-, entscheidungs-, organisations- und gesellschaftstheoretisches Erkenntnisinteresse verfolgt? Meine Antwort aber handelt von (sozialer) Ordnung und Krise, von Ordnung am Rande des Chaos, und von einer schwindelerregenden Zirkularität, für die ich die einschlägige Metapher einer Formulierung von Habermas entlehne: Strudel der Geschichte.
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Sokal‘s hoax
Sokal‘s hoax Das war ein gelungener Scherz, den Alan Sokal mit der Cultural-Studies-Zeitschrift Social Text getrieben hat, der er erfolgreich einen Nonsens-Artikel mit dem ergreifend schönen Titel „Transgressing the boundaries: Towards a transformative hermeneutics of quantum gravity“ untergeschoben hat, verfasst in dezent-maniriertem Derridada-Lacancan-Jargon, von der Redaktion für bare Münze genommen, akzeptiert und publiziert in Social Text 46/47 (1996), von Sokal (selbst-)decouvriert in einem anderen Journal, Lingua Franca (1996a), neu aufbereitet und ergänzt in einem Sammelband über „Postmodern philosopher’s abuse of science“ (Sokal, Bricmont 1998, deutsch 2001). Chapeau! Von beträchtlicher, allerdings unfreiwilliger Komik auch die Erwiderungen seitens der blamierten Social-Text-Herausgeber, die sich über den „bad joke“ gar noch moralisch entrüstet zeigten, statt einzusehen: „there is only one thing to say: Is my face red!“ (Pollitt 1996, 9) Auch in der nachgereichten Sammlung über „Eleganten Unsinn“ haben Sokal und Bricmont zweifellos den Finger auf eine Wunde gelegt: die einer beträchtlichen Inkompetenz in Sachen moderner Naturwissenschaften. Das bleibt wichtig genug. Mehr noch: Wie Evelyn Fox Keller, Professorin für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie am MIT, im anschließenden Sokal‘s hoax-Forum in Lingua Franca, July/August
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(1996, 58) lakonisch resümierte: „The editors of Social Text have been shown to be unable to distinguish a hilarious jargon-ridden spoof from real argument.“ Oder, in der Verallgemeinerung von Katha Pollitt: „Indeed, the comedy of the Sokal incident is that it suggests that even the postmodernists don‘t really understand one another‘s writing“ (1996, 9). Dieser Verallgemeinerung ist man zuzustimmen geneigt, weil auch im deutschsprachigen Raum diese Gattung zahlreich vertreten ist und eine enervierende Sprache spricht, die wir mit Klaus Laermann (1986) Frankolatrie – eben Derridada und Lacancan – und mit Birgit Wagner und Rudolf Burger postfranzösisch nennen können40. Wie indes die beiden zunächst zitierten Autorinnen zu bedenken gegeben haben, ist die wirklich heikle Frage in dieser Angelegenheit, wo die berechtigte Verallgemeinerung endet. Das ist gewiss nicht leicht zu sagen. Leicht zu sagen indes ist, dass Sokal zu viel will. Das Märchen vom „Fischer un sin Fru“ kommt einem in den Sinn. So hat Katha Pollitt bedauert, dass Sokal „in his Lingua Franca piece cites as ridiculous postmodern ‚dogma‘ the argument that the world is real but unknowable, a position put forward by Kant in 1781“ (Pollitt 1996, 9). Und Evelyn Fox Keller (1996, 58) hat, mit der gleichen Stoßrichtung, gefragt: „Alan Sokal‘s prank was a brilliant strategy for making an extremely important point, but what exactly is this point (...)? (...) Is it that the academy houses scholars who have the audacity to question the meaning of objectivity, or to challenge the immunity of science from social forces? (...) Not only does Sokal seriously weaken his case with such suggestions, but he helps fuel the media‘s enthusiasm for the outlandish idea that a Left antiscience conspiracy is perpetrating the claim that the world is not real.“ Das nun bringt Sokal in eine eigentümliche Lage. Einerseits haben weder Nietzsche noch Heidegger noch Derrida sich dem aussichtslosen Projekt des Solipsismus und der Leugnung einer äußeren Realität hingegeben41, das sich ja sofort in nichts als Widersprüche verstricken muss. Andererseits würden Sokals erklärtermaßen naiver Überzeugung, betreffend die Erkennbarkeit dieser äußeren Welt, „daß es objektive Wahrheiten über sie (die äußere Welt, G. O.) gibt und daß meine Aufgabe darin besteht, ein paar davon zu entdecken“ (Sokal, Bricmont 2001, 320), 40 Burger (1993, 462); Laermann übrigens sieht, dass „keine Theorie gegen den Unsinn gefeit ist, den ihre Adepten regelmäßig dann aus ihr machen, wenn sie zur Mode wird“ (1986, 35) und lässt in seinem Beitrag die „Frage, welche der polemisch unter diesem Hieb- und Stichwort (Frankolatrie, G. O.) vereinigten, höchst unterschiedlichen Theorien in welchem Umfang ernstzunehmen sind,“ ausdrücklich „ausgeklammert“ (ebd., 37). 41 Heidegger (1975, 77 ff) hat vielmehr diese ganze Frage als falsch gestellt zurückgewiesen: „Die Idee eines Subjekts, das nur in seiner Sphäre intentionale Erlebnisse hat und noch nicht draußen ist, sondern in seiner Kapsel eingeschlossen, ist ein Unbegriff, der die ontologische Grundstruktur des Seienden, das wir selbst sind, verkennt“ (ebd., 90). Vgl. auch Stegmüller (1965, 169): „Die Frage nach der Realität der Außenwelt ist für Heidegger ohne Sinn. Sie entsteht erst daraus, daß, statt das eigentliche Phänomen des In-der-Welt-seins zu analysieren und vor Augen zu legen, durch Aufsprengung der Einheit ein weltloses Subjekt konstruiert wird, das man jetzt vergeblich mit den anderen Sprengstücken (Außenwelt) zusammenzuleimen sucht.“ Und Derrida hat, explizit genug, unmissverständlich genug, klargestellt, „daß der Text- oder Kontext-Begriff, der mich leitet, die Welt, die Realität, die Geschichte umfaßt und nicht ausschließt.“ (Derrida 1988, 137, deutsch 2001, 212).
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nicht nur jene Denker ihre Zustimmung verweigern, jedenfalls vorbehaltlich schwierigster Erläuterungen solcher Wörter wie „objektiv“, „Wahrheit“ und „entdecken“, sondern auch unverdächtigere Philosophen von Kant bis zum früheren Popper. Pomo, wie das Spottwort für ‚postmodern‘ in dieser Debatte heißt, ist demzufolge der folgende Satz: „Es gibt keine rein beobachtende Wissenschaft, sondern nur Wissenschaften, die mehr oder weniger bewusst und kritisch theoretisieren.“ (Popper 1969, 119) Der Hohn, den Sokal über Positionen ergießt, die er für pomo hält, trifft auch diese Autoren. Sokals Problem ist nicht, dass ihm nicht ein guter Witz und eine schlagende Demonstration gelungen wäre; nicht, dass sie keine willkommene Bloßstellung des postmodernen Geredes wäre. Sein Problem ist, dass er der naturwissenschaftlichen Naivität der Social-Text-Herausgeber nur eine ebenbürtige philosophische Naivität entgegensetzt, einen altbackenen Objektivismus, dem noch die Ansichten Poppers42 und Kants für abwegig gelten, von Denkern wie Einstein, Bohr, Pauli, Heisenberg, Gregory Bateson oder Thomas Kuhn zu schweigen, die, bei allen Differenzen, das eine gemeinsam hatten: ein Bewusstsein von der Vertracktheit des Problems der Erkennbarkeit einer beobachterunabhängigen Wirklichkeit. Sokals Problem ist, dass er, würden wir ihm einen Kant-Text zur Publikation einreichen, sich vor Lachen schütteln würde. Sein Problem ist, dass er die Ansichten Immanuel Kants für pomo hält. Nicht zu Unrecht fragte Mara Beller (1999), die Wissenschaftsphilosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt: „Über wen haben wir gelacht?“
42 Nicht viele Denker, und gewiss nicht der frühe Popper, glaubten das Problem der Existenz und Erkennbarkeit der äußeren Welt auf Sokals Niveau abtun zu können: „Übrigens ist jeder, der die Gesetze der Physik für bloße gesellschaftliche Konventionen hält, eingeladen, diese Konventionen von meinem Fenster aus zu überwinden. Ich wohne im 21. Stock.“ So stand es in einem Nachwort Sokals zu der Debatte (Sokal 1996b, hier zit. n. Sokal, Bricmont 2001, 320). Natürlich kommt es darauf an, was „bloße gesellschaftliche Konventionen“ heißen soll. Darüber gehe ich hinweg, weil einen reinen Konventionalismus niemand, der ernstzunehmen wäre, behauptet, die Notwendigkeit von Konventionen bei der Entscheidung über Basis- bzw. Protokollsätze andererseits schon von Carnap und Popper anerkannt ist – Derrida und Adorno allerdings haben darin ein reflexionsbedürftiges Problem gesehen. In der Buchfassung hat Sokal den Fensterprung-Witz wiederholt, dort jedoch mit einem bemerkenswerten Postscriptum: „P.S.: Ich bin mir bewußt, daß diese Witzelei unfair gegenüber den differenzierteren relativistischen Wissenschaftstheoretikern ist, die zugestehen werden, daß empirische Aussagen objektiv wahr sein können – zum Beispiel wird der Fall von meinem Fenster auf das Pflaster etwa 2,5 Sekunden dauern –, aber behaupten, daß die theoretischen Erklärungen, für diese empirischen Aussagen mehr oder weniger willkürliche Konstruktionen sind. Ich glaube, daß auch diese Vorstellung weitgehend falsch ist, aber das ist eine ganz andere Geschichte.“ (Sokal, Bricmont 2001, 320) Dieses Verfahren nenne ich: Erst Buhmänner aufbauen, dann sie abschießen, im Kleingedruckten zugeben, dass dies unfair ist, schnell einen neuen Buhmann aufbauen – wer redet ernstlich von willkürlichen Konstruktionen? – und von dem demagogischen Effekt weiterhin zehren. Die Problematisierung des Konventionalismus durch Derrida ähnelt derjenigen, die Adorno im Positivismusstreit vorgenommen hat – auch darin übrigens, dass keiner von beiden dabei das Kind namens „Wahrheit“ mit dem Bade der Objektivismus-Kritik ausgeschüttet hat: „So hat der scheinbar neutrale Begriff ‚konventionalistischer Bindung‘ fatale Implikationen. Durch die Hintertür der Konventionstheorie wird gesellschaftlicher Konformismus als Sinnkriterium der Sozialwissenschaften eingeschmuggelt.“ (Adorno 1969, 25) Vgl. damit Derridas Bestimmung: „Das, was man die ‚Objektivität‘ nennt, zum Beispiel die wissenschaftliche (an die ich in einer gegebenen Situation fest glaube), besteht nur innerhalb eines extrem großen, alten, stark verankertes, in einem Netz von Konventionen (zum Beispiel denen der Sprache) stabilisierten oder verwurzelten Kontextes, der nichtsdestoweniger ein Kontext bleibt. Man kann, wenn Sie so wollen, die gesamte ‚reale Weltgeschichte‘ den ‚Kontext‘ nennen, in dem dieser Wert Objektivität und im weiteren Sinn der der Wahrheit, Bedeutung gewonnen und sich behauptet haben. Das diskreditiert sie in keiner Weise. In welchem Namen, im Namen welcher anderen ‚Wahrheit‘ würde man sie im übrigen diskreditieren?“ (Derrida 1988, 136; deutsch 2001, 211; Hervorh. G. O.)
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Wir aber müssen weiterfragen: Könnte es sein, dass jemand, dessen philosophisches Diskriminierungsvermögen nicht genügend ausgebildet ist, um zwischen den Social TextPomos einerseits und Kant, Carnap und Popper andererseits die Unterschiede auszumachen, sich vertut, wenn es um die Reihe Kant-Husserl-Heidegger-Derrida geht? Allerdings, das will ich nicht verhehlen, leistet Derrida in manchen Formulierungen Missverständnissen Vorschub, wie Sokal sie hegt – dass ersterer nämlich einen Relativismus in puncto Existenz und nomologischer Erklärung der äußeren Natur im Sinne habe. Bedenklich etwa diese Bestimmung: „Denn Gesetze existieren ebenso wenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhärieren, sofern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen, sofern es Sinne hat.“ (Derrida 1974, 112 f; Hervorh. G. O.) Das indes sind Positionen, die auch andere Auslegungen zulassen als den RelativismusVorwurf, und die Derrida jedenfalls seit vielen Jahren hinter sich gelassen hat (s. u., Ende des Abschnitts 5).
Postscriptum, 2007 Derrida hat sich zu Sokal’s hoax nur in einem Interview für Le Monde geäußert (deutsch 2006). Diese Form und die Sparsamkeit seiner Erwiderung sind Ausdruck seiner Überzeugung, dass mit der von Sokal gewählten Form und dem Niveau seiner Einlassungen „die Chance zu einer ernsthaften Reflexion vertan zu sein scheint“ (Derrida 2006, 257). Das ist, insofern hier Anspruch auf Philosophie und besonders auf Erkenntnistheorie erhoben wird, durchaus berechtigt – dass Sokal da nicht satisfaktionsfähig ist, habe ich selbst zu verstehen gegeben. Weil ich aber davon überzeugt bin, dass Sokals Streich seine Wirkung überhaupt nicht auf der Ebene der Reflexion, sondern des Ressentiment entfaltet hat, habe ich oben eine ausführlichere Antwort gegeben und rücke die Episode in einen größeren Zusammenhang ein, in dem auch ernstzunehmende Autoren vorkommen, vor allem aber eine wissenschaftshistorische und -politische Konstellation, die jenes Ressentiment erst verständlich macht. Da geht es – neben traditionsreichen Differenzen, beteffend den Stil französischen Denkens und Philosophierens – um so etwas wie Hegemonie im Diskurs kritischer Philosophie und Sozialwissenschaften (s. Kapitel 3). In Frankreich ist Sokal und Bricmont vorgeworfen worden, ihre Attacke, soweit sie Derrida betreffe, sei ungerecht. Ihre Antwort in der Libération vom 18./19. Oktober 1997: eine solche Attacke habe es nie gegeben. Überhaupt haben sie in diesem Artikel bemerkenswerten Eifer im Zurückrudern gezeigt: „Berühmte Denker wie Althusser, Barthes, Derrida und Foucault fehlen in unserem Buch im Wesentlichen“ (meine Übers. und meine Hervorh., G. O.). Dieses „im Wesentlichen“ („essentiellement“) muß man sich auf der Zunge zergehen lassen. Sind diese „berühmten Denker“ nun von der Kritik ausgenommen worden oder nicht – oder doch, aber nur „im Wesentlichen“? Derrida (2006, 258) macht darauf aufmerksam, daß der Libération-Artikel (Bricmont, Sokal 1997b) nur die Übersetzung eines Artikels
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aus dem Times Literary Supplement (Bricmont, Sokal 1997a) war, in dem sein Name in dieser Aufzählung der von der Kritik Ausgenommenen allerdings fehlte. Sollen wir daraus schließen, dass Derrida gegenüber dem französischen Publikum von der Kritik auszunehmen ist, gegenüber dem anglo-amerikanischen jedoch nicht? Sollen wir das, wie Derrida, Opportunismus nennen? Oder vielleicht Kontextualismus? Relativismus? Aus der Feder der wackerstmöglichen Relativismus-Kritiker? Halten wir fest: Zwar haben Sokal und Bricmont in ihrem Buch Eleganter Unsinn Derrida weitgehend ausgespart und kein einziges inhaltliches Argument gegen ihn vorgebracht. Aus dieser Not machen sie in der Libération die Tugend, Derrida von ihrer Kritik ausgenommen zu haben. Das hat sie nicht gehindert, gleich zu Anfang, in der Einführung zu ihrem Buch, unmissverständlich klarzumachen, wer gemeint ist: „Die Autoren, um die es sich handelt, bilden ein wahres Pantheon der zeitgenössischen ‚Französischen Theorie’: Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Félix Guattari, Luce Irigaray, Jacques Lacan, Bruno Latour, Jean-François Lyotard, Michel Serres und Paul Virilio.“ (Sokal, Bricmont 2001, 19). Die französische Originalausgabe dieses Werks ist 1997 erschienen, im selben Jahr wie das Libération-Statement. Schon im ursprünglichen Beitrag, dem fake in Social Text, war der parodistische Hohn ausdrücklich auch gegen Derrida gerichtet – mit der Insinuation des Relativismus (Sokal 1996, 221). Den Lingua-Franca-Artikel, mit dem Sokal den fake als Täuschung enthüllte, eröffnet er mit dem höhnischen Bekenntnis: „If I find myself unable to make heads or trails of jouissance and différance, perhaps that just reflects my own inadequacy.“ (Sokal 1996a, 62; Hervorh. i. Orig.) In einem Kasten innerhalb dieses Beitrages wird die Derrida-Passage aus Social Text noch einmal wiederholt. Einen Angriff gegen Derrida hat es (im Wesentlichen) nicht gegeben? Die wohlwollendste, womöglich allzu wohlwollende Interpretation wäre eine, die hier nicht eine Lüge, sondern eine Verdrängung am Werk sähe – inspiriert von einem Autor, der indes Sokals Wohlwollen ebenfalls nicht hätte: „‚Das habe ich gethan’ sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht gethan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtnis nach.“ (Friedrich Nietzsche 1988a, Jenseits von Gut und Böse, § 68)
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Post mortem?
Post mortem? „Structuralism, and post-structuralism also, are dead traditions of thought.“ Giddens (1987, 195) „Schnee von gestern“ Assheuer (1998, 36) „ (...) eigenartig passé“ J. Lau, (1998, 944) „Lassen wir also die Toten ruhen, in Frieden.“ Müller (1998, 981) In der Frankfurter Rundschau des Jahres 1998 waren es Autoren einer ganzen Serie über science wars; in der New York Review of Books war es Mark Lilla (1998); im Merkur-Doppelheft „Postmoderne. Eine Bilanz“ aus demselben Jahr kamen Mariam Lau, Jörg Lau, Hans-Peter Müller und, wiederum, Alan Sokal (Sokal, Bricmont 1998a) zu Wort; in der Zeit spitzte kurz darauf Thomas Assheuer die Feder; in kleinen Nebenbemerkungen ließ auch immer wieder einmal Jürgen Habermas von sich hören; im Spiegel Reinhard Mohr; im Leviathan, nun in deutscher Übersetzung, wieder Mark Lilla (1999a), und in der Süddeutschen Zeitung noch einmal Mark Lilla (1999b) – in diesen Jahren, besonders seit 1998, ist es modern geworden, „postmodern“ unmodern zu finden in linksliberalen Kreisen. Dagegen habe ich nichts 43, außer, dass die Abgesänge ohne Unterschied auch ernstzunehmenden Denkern wie Foucault, Lyotard und Derrida gelten, und dass es inzwischen auch solchen Autoren gegenüber als hoffähig und sogar chic zu gelten scheint, Mindeststandards argumentativer Auseinandersetzung zu unterbieten. Witzig geschriebene Polemiken, denen es um Pointen und Sottisen mehr zu tun ist als um inhaltliche Argumente oder gar Fairness, scheinen das Äußerste zu sein, was dem Publikum noch zuzumuten ist zu dem von Jargonproduzenten gründlich verleideten Thema – Hohn, Spott und Häme ist der Ton, der dabei die Musik macht, Rache zweifellos für das Leiden an einem Salongeschwätz, von dem ich als erster zugebe, dass es wehtut und das ich allerdings daher einfach meide. Davon zu unterscheiden: Jürgen Habermas und Anthony
Denn ich neige dazu, auf die Frage „Was heißt Postmoderne?“ mit Foucault zu antworten: „Ich bin nicht auf dem Laufenden“. Es gehört zu den eingangs erwähnten Topoi der Aversion, dass die genannten französischen Autoren von ihren Gegnern – sie selbst haben sich nach Kräften, wenn auch stets vergeblich, dagegen gewehrt – erst in einen Topf geworfen werden, dem dann ein Etikett aufgeklebt wird: „Postmodernismus“, ein Etikett, von dem im dritten Schritt beklagt wird, dass niemand wisse, was das heißen soll. Zu guter Letzt wird den Franzosen dann vorgeworfen, dass unter diesem Etikett gänzlich Disparates firmiere (so zum Beispiel Burger 1993, 463 f; Lilla 1999a, 180 f, 198). Burger zum Beispiel macht sich über das von Hans Robert Jauß so genannte „Gespenst des Postismus“ und über „blödelnde“ Merve-Bändchen lustig. Auch Derrida macht sich über solche Ismen seine eigenen Gedanken – in einem dieser MerveBändchen, in einem 1986 geschriebenen, 1990 erstmals publizierten Text über „Some statements and truisms about neologisms, newisms, postisms, parasitisms, and other small seisms“ (deutsch bei Merve 1997). Aber solche Heftchen fassen wir ja nicht an.
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Giddens, die sich mit Argumenten, wenn auch nach meinem Eindruck wenig überzeugenden, ihr gewohntes Niveau unterschreitenden, 1985 resp. 1987 geäußert haben, und die daher insoweit gesondert zu diskutieren sind (vgl. die beiden folgenden Kapitel). Seit 1998 nun häufen sich die Stimmen, und der Ton wird schärfer. Nun sind es auch in Deutschland Totenscheine, die ausgestellt werden, mit kaum verhüllter Genugtuung. Sollte all dies der Sache geschuldet sein? „Das stille Ende der Postmoderne“, das Hans-Peter Müller zu einem „Nachruf“ im Doppelheft des Merkur über die Postmoderne („Eine Bilanz“) veranlasst hat – warum nur ist es so gar nicht still, sondern begleitet von lautem Klirren? Die Toten, die er „in Frieden ruhen lassen“ will – warum muss er ihnen im selben Atemzug den Krieg erklären? Wenn diese „verblichene Denkweise“ (Müller), dieser allzu tote Tote, nicht nur tot ist, nicht nur 1998 gestorben, sondern auch, wie damals Anthony Giddens öffentlich festgestellt hat, 1987; wenn ferner die Vertreter dieser leichenblassen Philosophie und Theorie ein so unwürdiges Leben gelebt haben – Geniekult, Eitelkeit, Homosexualität, Eigenschaften, deren die Verfechter ernsthafter Theorien bekanntlich entraten; und wenn die unvoreingenommene Würdigung erweist, dass ihr Denken und Schreiben in jedem Sinne dieses Wortes indiskutabel ist, Jargon der Uneigentlichkeit, populäre Vulgärsemiotik, Gratis-Durchblickertum, rasende Tiefschwätzerei, fleischgewordener Unsinn, selbstquälerische Meditationen, GänsefüßchenDenken, von dem verzweifelten Wunsch angetrieben, jeder Festlegung zu entkommen, in der Nähe der Paranoia, alter Trick, Anzeichen intellektueller Verzweiflung, (bis hier Jörg Lau im Merkur, ab jetzt Hans-Peter Müller:) nicht einmal mehr ein Gespenst, eine suggestive Chimäre modischer Denker jenseits des Rheins, radical chic, Nebel über den Diskursen, perhorreszierter Geniekult, grotesk falsch, fahles Licht, pessimistischer Fatalismus, radikaler Gestus, bilderstürmerischer Impetus, Instant-Denkweise, „don‘t worry, be happy“, scholastische Ideenmetaphysik im kulturrelativistischen Himmel, unbewusste Affirmation der bestehenden Gesellschaft, radikales Neo-Biedermeier, Sackgasse: warum solch Indiskutablem eine Diskussion widmen, gar eine Bilanz? „Kritiken“ solcher Dignität haben die stille Kraft der Selbsterübrigung – auch wenn sie im „Merkur“ stehen. Falls es im übrigen Schule machen sollte, die Stilübungen von Epigonen, die es doch immer gibt, und die auch im Falle Derridas ganz gewiss eine enervierende Jargonproduktion betreiben, zur Messstrecke für große Philosophen und Theoretiker zu machen, wie es hier ständig geschieht, dann verfielen allerdings auch Hegel und Husserl, Marx und Freud, dann verfielen Adorno und Habermas, Parsons und Luhmann, dann verfiele alle Philosophie und Wissenschaft, zumal die Soziologie, schon deshalb der Kritik. „Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen“, hieß es einmal bei Hegel (1969, 250), „und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst anzugreifen und da recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht“. Foucault, Lyotard und Derrida dort anzugreifen, wo sie nicht sind: bei einer „Koalition mit den Propheten des Posthistoire“; bei der „postmodernen Prophezeiung eines ‚Endes der Geschichte’“44; bei einem anything goes, das schon nicht Paul Feyerabend, geschweige denn
44 Assheuer in „Die Zeit“. Die derzeit prominenteste Variante stammt von Fukuyama (1992). Und eine der schärfsten und scharfsinnigsten Fukuyama-Kritiken stammt von Derrida, dem insistierendsten Kritiker jedweden finalen Gestus,
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Derrida je im Sinn hatte; bei Gerechtigkeit als „Denkstaub der Aufklärung“ – da recht zu behalten, fördert, milde gesagt, die Sache nicht. Thomas Assheuer immerhin, der so sein Verdikt „Schnee von gestern“ begründet („Die Zeit“ Nr. 34 vom 13.8.1998, 36), lässt erkennen, dass er den Unterschied zwischen Gerede und seriösem Denken sieht, und das führt allerdings zu dem eigenartigen Resultat, dass die stärksten Zeugen, die er für seine Sache aufruft, Lyotard, Rorty und Žižek heißen. Wenn dem so ist, wenn, wie Assheuer ausdrücklich hervorhebt, die postmoderne Vernunftkritik und das Beharren von Lyotard und von Rorty (und, wie sich gleich zeigen wird, von Derrida) auf der Idee der Gerechtigkeit über Zweifel an ihrer Seriosität erhaben sind – was nicht schon heißen soll, dass ihre Lösungen des Problems überzeugen –, warum wird dann das Ende dieser Ideen ausgerufen und nicht, sagen wir, das Ende eines postmodern sich nennenden Geschwätzes in den Salons, dem sich diese Rufer vielleicht zu lange ausgesetzt haben? Die – pardon! – Differenz wäre wichtig. Warum, in einem Wort, statt „Schnee von gestern“ nicht „Spreu vom Weizen“? Und warum habe ich den Eindruck einer irritierenden Unterbietung des eigenen Niveaus bei Autoren, deren Arbeiten ich ansonsten hoch achte, diesmal, wo es um den sogenannten Poststrukturalismus geht? Das muss, wie man so sagt, tiefere Gründe haben. Hans Joas gehört in diese letztere Reihe. Sottisen nach dem Muster, es könnten doch wohl nicht „nur Walt Disney und Jean Baudrillard“ durchblicken (Joas 1992, 359), zeigen eine bei diesem so zurückhaltenden Autor befremdliche Bereitschaft zur Herabsetzung ohne ernstliche Auseinandersetzung mit ernstzunehmenden Positionen.45 Ein anderes, kleines Beispiel: Ein so umsichtiger Denker wie Jürgen Habermas (1989, 180) kritisiert „als postmoderne Stimmungslage“, dass „der bekannte Krimi-Autor (Jan van de Wetering: Rattenfang, Hamburg 1986; G. O.) (...) den roten Faden seiner Fabel im Wirrwarr abwechslungsreicher Kontexte so weit zerfasern (läßt), bis der gattungsspezifische Unterschied zwischen Täter und Opfer im Gewebe der vielen kleinen Differenzen unkenntlich wird – und die Polizei nach verständnisvoller Aussprache mit dem endlich ertappten, aber sympathischen Mörder auf Anzeige und Strafverfolgung verzichtet.“ (Hervorh. G. O.) Geht die Angst vor dem Chaos, vor dem „Abgrund des Irrationalen“ (Habermas), der Affekt wider die Unübersichtlichkeit, die Sehnsucht nach wohlgefügter Ordnung so weit, dass Kriminalliteratur nach dem Muster kritisiert werden darf: die Guten müssen, und zwar erkennbar, die Guten bleiben und die Bösen die Bösen? Verfallen Romane schon deshalb der Kritik, weil sie Verwicklungen und Verstörungen bei der Einordnung als Täter und Opfer und bei einer Gerechtigkeit jenseits des positiven Rechts zum Thema machen? „Die Perhorreszierung des Einen“, fährt Habermas fort, „und das Lob der Differenz und des Anderen verdunkeln den dialektischen Zusammenhang zwischen beiden.“ Das ist, soweit ich sehe, jedweder, wie wir noch sehen werden, Beschwörung des Todes einer Idee, sei sie modern oder „postmodern“; vgl. Derrida (1996, 96 ff.). 45 Derrida kommt in den Kapiteln über die Postmoderne in Joas (1992, 358 ff) und (1997, 227 ff) überhaupt nicht vor, Foucault am Rande. Dafür gibt es eine abweisende Nebenbemerkung zu beiden (Joas 1997, 264). Von einer DerridaLektüre sehe ich in beiden Büchern keine Spur.
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nicht der bei anderer Gelegenheit geläufigen Rhetorik-Kritik verfallen. Gattungsspezifische Unterschiede aber werden uns im nächsten Kapitel noch einmal beschäftigen. Dort wird es um einen anderen Habermas-Text gehen. Auch der gibt sich seltsame Blößen46 und ist zugleich, zusammen mit den übrigen Beiträgen in Der philosophische Diskurs der Moderne, einer der folgenreichsten, soweit es die Rezeption und Diskussion des französischen Poststrukturalismus in Deutschland betrifft. Die Wirkmacht dieses Bandes wird leider auch nicht durch den Respekt aus der Welt geschafft, den Habermas Derrida seither auf manche Weisen bekundet hat. Das demonstriert im Merkur noch einmal Hans-Peter Müller, der auf eben diesen Band wie auf einen etablierten Standard rekurriert – „Es war wieder einmal Jürgen Habermas, der (...) mit einer überzeugenden Kritik aufwartete.“ So gerinnt die Berufung auf Autoritäten ausgerechnet kritischer Theorie zum Stoff, aus dem die Dogmen sind. Ohne weiteres Zutun gerät Habermas‘ Text so in einen Kontext, der ihm nicht lieb sein kann, der ihm selbstverständlich in keiner Weise zugerechnet werden kann, und den man nicht eigens qualifizieren, sondern nur zitieren möchte – den man am liebsten durch bloßes Zitieren qualifizieren möchte. Weiter: Karl-Otto Apel (1990, 64) meinte, die Formulierung wählen zu sollen, Foucault sei von dem Problem der Menschenrechte „a tergo“ überrascht worden. Für Mariam Lau hat Foucault (1998, 921) „(m)it seiner Darstellung der Körper und der Sexualität“ – man traut seinen Augen nicht – „nebenbei sein Schweigen über die eigene Homosexualität geadelt“. (1998, 921) Widerstand sei, folge man Foucault, zwecklos. Zwischen einer modernen Tagesklinik und den Asylen mittelalterlicher Fürstentümer (sic!) könne Foucault nicht differenzieren (ebd.). Hans-Ulrich Wehler (1998, 91) nennt Foucault einen „kryptonormativistische(n) ‚Rat46 Habermas bezieht sich in einem fast dreißigseitigen „Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur“, (eine Einebnung, die, wie ich noch zeigen werde, Derrida keineswegs im Sinn hat,) nahezu ausschließlich auf den Derrida-Rezipienten Jonathan Culler statt auf Derrida selbst, rezipiert Derrida dort also im wesentlichen aus dieser Quelle, die er gar noch als die womöglich authentischere – „J. Culler rekonstruiert sehr klar die etwas undurchsichtige Diskussion zwischen Jacques Derrida und John Searle“ (Habermas 1985, 228) – dem Leser anempfiehlt. Dieses erstaunliche Vorgehen krönt Habermas (ebd.) mit einer noch erstaunlicheren Entschuldigung: „Da Derrida nicht zu den argumentierfreudigen Philosophen gehört, ist es ratsam, seinen im angelsächsischen Argumentationsklima aufgewachsenen literaturkritischen Schülern zu folgen (...)“. Er zitiert Culler, übrigens nicht korrekt, um unmittelbar anzuschließen: „Offensichtlich setzt Derrida im Argument schon voraus, was er beweisen möchte (...)“ (Habermas 1985, 230; Hervorh. G. O.). Zuvor (205, Fußnote 28) schreibt Habermas eine Husserl-Passage versehentlich Derrida zu (zu alledem: Gondek 1987, insbes. die Anmerkungen 28-31 und den zugehörigen Text). Er stellt Derrida, der erkennbar und erklärtermaßen das Projekt einer neuen Aufklärung verfolgt, in den Kreis der Gegenaufklärung (s. a. Habermas 1985, 390). Er zeiht einen Autor der Ursprungsphilosophie, der wie kaum ein anderer gegen die Idee reiner Ursprünge angeschrieben hat: „Die Ursrpunglosigkeit ist es, die ursprünglich ist.“ (Derrida 1976, 312; vgl. auch Derrida 1983; Kimmerle 1988; Naumann-Beyer 1994). Zu „Jacques Derridas Recht auf (Zugehörigkeit zur) Philosophie“ vgl. auch den gleichnamigen Beitrag von Gondek (1993) mit einem instruktiven Überblick über eine Fülle einlässlicher Arbeiten zu Derrida, auch über das Verhältnis von Dekonstruktion und Ethik. Derrida (1988, 156 ff; deutsch 2001, 256 ff) hat gegen Habermas‘ Procedere vehement protestiert und dessen Kritik auch inhaltlich minutiös zurückgewiesen – auch von dieser Antwort nimmt man in Deutschland kaum Notiz. Vor dem erwähnten Exkurs präsentiert sich Habermas eher so, wie man ihn kennt, argumentierend und bemüht, dem Denken Derridas gerecht zu werden. Ich merke nur an, dass Habermas auch dort, mit seiner Parallele von Urschrift und Thora, nach meinem Eindruck den Derridaschen Begriff der archi-écriture im Sinne eines Ursprungsdenkens missversteht, so bedenkenswert seine Derrida-Lektüre vor dem Hintergrund der jüdischen Mystik auch ist. Derrida selbst hat übrigens seine Haltung in dieser letzteren, überaus komplizierten Frage über die Jahrzehnte hinweg erheblich modifiziert. Ob jener Hintergrund zur Verdunklung oder Erhellung gereicht, muss ja im übrigen, wie Habermas seit seiner Dissertation über Schelling weiß, durchaus als offene Frage behandelt werden.
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tenfänger‘ für die Postmoderne“, nachdem er seitenlange Ausführungen über Foucaults sexuelle Präferenzen, einen Selbstmordversuch als Primaner, einen „zufälligen“ Autounfall – zufällig in bedeutungsschweren Anführungszeichen –, einen LSD-Trip und über die GayCommunity in San Francisco mit der Notwendigkeit begründet hat, auf den Zusammenhang zwischen diesen „Grenzerfahrungen“ – Foucaults Leben – und seinem Werk zu reflektieren. (Von der kaum zu überbietenden Bigotterie und unfreiwilligen Komik zu schweigen, mit der Wehler, zwecks Rechtfertigung dieses seines Verfahrens, eine Habilitationsschrift über Meinecke rühmt, die dessen „exzessive Vorliebe für Freudenmädchen“ als „unablässige erotische Fortbildung“ und „Verpflichtung gegenüber Humboldts Bildungsbegriffen“ [Wehler 1998, 89 f] deutet, und sie als Vorbild für seine Foucault-Rezeption in Anspruch nimmt.) Judith Butler – „bekennende Lesbe und Popstar-Säulenheilige der Gender Studies“ (Mariam Lau 1998, 926)? Im „Merkur“? Jörg Lau (1998, 955) exculpiert sich, im eigenen Rückblick auf die Dignität seines Beitrags, mit dem Seufzer, „wie schwer es ist, Kritik nicht als Denunziation zu betreiben“. Was sind die Maßstäbe solcher Kritik? War es bei Sokal der Beitrag zum Wohle der Arbeiterklasse, so ist es nun offenbar die heterosexuelle Correctness der Kritisierten. Hans-Peter Müller bringt es über sich, das postmoderne Denken, Derrida immer einbegriffen, „Instant-Denkweise“ zu nennen, unbeeindruckt durch die fast über die Maßen intensiven, ausführlichen und um strengste Verbindlichkeit ringenden Rousseau-, Lévi-Strauss-, Marx-, Blanchot-, Lévinas-Lesarten Derridas, um nur einige Beispiele zu nennen. Dieser geradezu obsessiv genaue Denker sei, so J. Lau (1998, 951), „von dem verzweifelten Wunsch angetrieben (...), jeder Festlegung zu entkommen“. „Wischen wir uns erst einmal die Speichelfäden vom Mund“, beendet Lau (1998, 955) seinen Beitrag. Dem ist nichts hinzuzufügen. Allerdings würde Derrida wohl – anders als Lau, Lau und Müller? – den folgenden Satz unterschreiben: „Weil die Kontexte veränderlich sind und sich in beliebige Richtungen expandieren lassen, kann sich derselbe Text verschiedenen Lesearten öffnen; es ist der Text selbst, der seine unkontrollierbare Wirkungsgeschichte ermöglicht.“ Dies stammt aus einem Text, dessen unkontrollierbare Wirkungsgeschichte wir im MerkurHeft über die Postmoderne erlebt haben. Der Autor heißt Habermas, der daran anschließend gleichwohl seinen Vorwurf des Bedeutungsrelativismus an Derrida zu adressieren versucht, leider wiederum auf dem Umweg einer Culler-Kritik (Habermas 1985, 232 f). Darauf komme ich noch zurück – im 5. Abschnitt des folgenden Kapitels. Auch Derridas Texte erleiden jenes Schicksal, wie man sieht, und dazu gehört ihre Entstellung – in einer Art, wenn ich so sagen darf, von performativem Bedeutungsrelativismus. Danach fällt es leicht, den Überbringer der schlechten Nachricht – für tot zu erklären. So mancher Nachruf indes, wie Derrida weiß, wie wir alle wissen, ist in Wirklichkeit eine Beschwörung. In meinem Fachgebiet, der Organisationstheorie, wird die Leiche gerade erst richtig lebendig (s. u., Abschnitt 8 des folgenden Kapitels). Exorzieren lassen sich die zugrundeliegenden Aporien nicht, oder nur um den Preis ihrer Wiederkunft als Gespenst. Exorzismus aber ist das Geschäft derer, die uns die Foucault, Lyotard, Derrida austreiben wollen.
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„Aber der wirksame Exorzismus gibt sich den Anschein, den Tod festzustellen, nur um zu töten.“ Ein Totenschein als „Performativ einer kriegerischen Handlung oder (...) ohnmächtige(s) Gebärdenspiel“.47
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Im Reich des Bösen und des Guten: Mark Lilla
4 Im Reich des Bösen und des Guten: Mark Lilla Besonders große Anstrengungen sind nötig, die jüngeren Arbeiten Derridas auf die Linie landläufiger Vorurteile zu bringen – die ja lautet: Beliebigkeit, Folgenlosigkeit, Relativismus, moralisches Leichtgewicht. Ihr nun fügen sich, wie auch J. Lau und Müller bemerken, besonders schlecht Arbeiten wie Spectres de Marx, Force de loi, L‘autre cap, Préjugés und etliche andere mit ihrer Insistenz auf einer Idee der Gerechtigkeit und auf der Notwendigkeit, trotz der darin enthaltenen Aporien zu entscheiden und zu handeln, und zwar so gut es uns endlichen Menschen eben möglich ist. Man muss diesen Arbeiten die nötige Wendung geben. Die dazu nötigen Argumente borgen sich Lau und Müller bei einer Buchrezension, deren Niveau und deren niedermachende Absicht nicht dem ersten, jedoch dem zweiten Blick sich offenbaren, die aber durch die Etikettierung als „glänzende Analyse (...) in der New York Review of Books“ (J. Lau 1998, 953) mit der erforderlichen Autorität ausgestattet wird, und die im Leviathan auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. Mark Lilla, der Autor dieses sorgfältig auf Wirkung bedachten Beitrags, schreckt nicht vor dem Argument zurück, diese jüngeren Bücher seien nicht wirklich ernst zu nehmen, sondern taktisch motiviert: „Wie ernst ist das alles gemeint? Eine Frage, die, wie immer bei Derrida, schwer zu beantworten ist.“ (Lilla 1999a, 193) Hauchzarter Hohn statt eines Arguments. Es folgen freihändige Insinuationen, die Derridas Motive betreffen – „Er will die Dekonstruktion in den Dienst eines politischen Programms stellen“ (ebd.) – und in einem Ton gehalten sind, als sei dies nun der Gipfel welscher Hochstapelei. Darauf gibt es nur eine zweiteilige Antwort: Jeder, der Augen hat zu lesen, kann sehen: Gemessen an der Ernsthaftigkeit von Marx‘ Gespenster oder Gesetzeskraft, ihrem beeindruckenden Bemühen um eine wahrhaftige Position, wirken solche unangenehm berechnenden Unterstellungen einfach peinlich. Zweitens aber: Lautete der Vorwurf nicht eben noch, genau umgekehrt, „pessimistischer Fatalismus“ (Müller)? Eben. Genau deshalb muss die böswillige Karikatur eines Autors her, der die Substanz seines Werkes zwecks Irreführung der Kritik in ihr Gegenteil verkehrt. Bemerkenswert auch, dass Lilla seine Kritik aus einer recht dezidiert Marx-feindlichen Perspektive führt – an Derridas Marx-Kritik stört ihn, dass Derrida das eine oder andere gute Haar an Marx lässt, „giving bad faith a bad name“48 –, während Hans-Peter Müller
Derrida (1996, 82 f). Lilla (1998, 40) „Einem falschen Glauben einen falschen Namen geben“? Diese Übersetzung im Leviathan (Lilla 1999a, 195) tilgt den ätzenden Ton Lillas. „In bad faith“ heißt „in böser Absicht, arglistig“, und „bad name“ ist nicht einfach
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seine Berufung auf die Autorität Lillas mit der klappernden Mechanik von Basis und Überbau zu kombinieren weiß, sich aufdrängende Einwände mittels einer in scheuem Ton gehaltenen Einleitung – „Es mag altmodisch klingen“ – antizipierend: „Es mag altmodisch klingen, aber wo an die Stelle von Gesellschaftskritik Kulturkritik tritt, wird die Basis zugunsten des Überbaus vernachlässigt. Statt kritischer Wirklichkeitsanalyse, so könnte man mit Marx sagen, (...)“ – giving bad faith a bad name? – „(...) wird scholastische Ideenmetaphysik im kulturrelativistischen Himmel betrieben.“ (Müller 1998, 980) („Wenn den Pegasus ich reite...“ – könnten wir uns nicht darauf einigen, dass, wer solche weißen Pleonasmen auf den Schimmeln seiner Wortgewalt in derart luftige Lüfte entführt, im Glashaus der Jargon- und Rhetorik-Kritik mit Steinen nicht werfen sollte?) Bevor ich auf die, wie sich zeigen wird, nicht nur für Derrida schockierend komplizierte Frage der Begründbarkeit von Gerechtigkeit eingehe, müssen wir uns die kalkulierte Tauto-Logik der gesamten Argumentation Lillas klarmachen. Es handelt sich um ein Catch 22 von der ganz unlauteren Sorte: Der frühere Derrida hat sich in Fragen der Praxis – der Moral, der Gerechtigkeit und, horribile dictu, der Politik – zwar nicht enthaltsam, aber zurückhaltend gezeigt, und das verfällt – warum eigentlich? – der Kritik. Der spätere Derrida hat sich dazu ausführlich geäußert – das kann nur eine taktische Reaktion auf diese Kritik sein und bestätigt sie daher. Die Zwickmühle klappt zu. Schachmatt-Stellerei, double bind als Strategie, statt um Verständnis ernstlich bemühte Lektüre. Die ganze Konstruktion aber hängt an der Unterstellung des taktischen Motivs, und von deren Glaubwürdigkeit überzeuge sich jeder selbst durch eigene Lektüre. Dann kann man auch sehen, wohin es führt, wenn Textinterpretation sich, anstelle des Textes, ad libitum herbeizitierte Motive des Autors verfügbar macht: bis an die Schwelle zur üblen Nachrede. Wer noch zweifelt, ob all dies kühle Berechnung ist oder nicht doch nur ein Lapsus aus Übereifer, dem sei der Titel der Rezension von Mark Lilla in Erinnerung gerufen: The Politics of Jacques Derrida. Von Anfang an, und zunächst subkutan, subsumiert Lilla, in wohldosierter Zweideutigkeit, das gesamte jüngere Werk Derridas unter „Politik“, macht daraus politische Manöver. Ob das nicht vielleicht eine unzulässige Einebnung von Gattungsunterschieden wäre? Lau, Lau und Müller fragen das nicht. Sie stoßen sich auch nicht daran, dass Lilla Derridas neuere Arbeiten schließlich zu einer Public-Relations-Kampagne erklärt, in Szene gesetzt – ja, nun wird es ein ganz klein wenig schmutzig, aber, nicht wahr, wo gehobelt wird, fallen Späne – zur Beschwichtigung der Bedenken, betreffend Jacques Derridas Verteidigung Paul de Mans. So wird‘s gemacht: Erst rückt man den Juden Derrida in die Nähe von Kollaboration und Anti-Semitismus, dann erklärt man sein Werk zu einem Manöver,
ein falscher, sondern ein übler Name (für eine üble Sache). Dass manchmal der Ton die Musik macht, wissen wir ja alle. Ich komme darauf zurück.
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nämlich der Verdunklung und Vertuschung dieser Nähe, und zuletzt höhnt man ihm hinterher: „Derrida (is) leaving the impression that deconstruction means you never have to say you‘re sorry. It now appears that deconstruction had, at the very least, a public relations problem, and that the questions of politics it so playfully left in suspension would now have to be answered.“ (Lilla 1998, 38; Hervorh. G. O.)49 Ich schlage ein Gedankenexperiment vor: Lilla lese Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“, verfasse eine noch glänzendere Kritik, worauf Derrida, diesem Scharf-Sinn zufolge, noch politischere Traktate schreiben wird, wie Lilla sie für geboten hält, was einen noch stärkeren Beweis für Lillas Verdacht und daher Anlass für eine noch brillantere Kritik liefert... Und wenn er, ein Schicksal, das ihn alsbald ereilen wird, und das tragisch zu nennen ich nicht anstehe, auf Leute treffen wird, die einwenden: „Wieso, Derridas politische Abstinenz gibt‘s doch gar nicht?“ – dann kann er antworten: „Sehen Sie?“ (Näheres bei Watzlawick, s. das Kapitel: „Die verscheuchten Elefanten“. Kenner werden sich auch der Geschichte von dem kleinen Mann mit dem Zauberstab erinnern, der den kanadischen Holzfällern erklärte, wie er damit die Wüste Gobi gerodet habe. Da gibt‘s doch gar keine Bäume? „Sehen Sie?“) Weiter: Derrida, klagt Mark Lilla (1999a, 187), halte sich an „den harten Grundsatz, daß infolge der Ambiguitäten und der verschiedenen Lesearten aller Texte (la différence) die erschöpfende Interpretation für alle Zeiten aufgeschoben werden mußte (la différance).“ Will Lilla uns sagen, die erschöpfende, abschließende Interpretation, sagen wir, der Bibel, der „Kritik der reinen Vernunft“ oder auch nur seines Beitrags sei lediglich eine Frage der Zeit? Dann ist auch er in Gefahr, über sein Ziel hinauszuschießen und zum Beispiel auch Habermas für pomo zu erklären (s. o.). Lilla fährt fort: „Die Frage, wie denn der Dekonstruktivismus seine eigenen Behauptungen verstanden wissen wollte, folgte sozusagen auf dem Fuße. Die Zahl der Kritiker, die darauf hinge49 In Hanne Herkommers allzu wohlmeinender Übersetzung „Dekonstruktion bedeute, daß man sich niemals entschuldigen müsse, nie sagen müssen (sic! Muss wohl heißen: müsse; G. O.), ‚es tut mir leid‘“ (Lilla 1999a, 188) fehlt, einmal mehr, der hämisch-ironische Ton, der in dieser Passage daher rührt, dass Lilla die große kitschige Botschaft aus Erich Segals Love Story zitiert. In den USA ist der Kitsch dieses Satzes Gegenstand landläufiger Ironie, wie am Ende des Films „Is‘ was, Doc?“ von Peter Bogdanovich, dessen Happy End dadurch ironisch gebrochen wurde, dass Barbra Streisand zu Ryan O‘Neal – er war auch Hauptdarsteller in der Verfilmung der „Love Story“ – sagt: „Liebe bedeutet, nie um Verzeihung bitten zu müssen“, worauf er grinsend antwortet: „Was Dümmeres hab‘ ich noch nie gehört.“ „Playfully“ heißt nicht nur, wie in der deutschen Übersetzung, „spielerisch“, sondern auch „neckisch“, und das ist hier angesichts jener Ironie ein deutlich wahrnehmbarer Unterton. Ich erwähne das nur, weil der triumphierend-höhnische Ton, den Lilla anschlägt, und der in der deutschen Übersetzung viel sanfter und seriöser klingt, wichtig ist: An ihm kann man erkennen, dass nicht Argumente, sondern Giftpfeile die wahre Vorliebe dieses Autors sind, und dass Argumente deswegen weniger wichtig sind, weil er weiß, woher der Wind weht, und weil er des Beifalls der Seinen – seiner Denkgemeinde – sicher sein kann.
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wiesen haben, daß in der Verwendung der Sprache zum Zwecke der Behauptung, Sprache könne keine eindeutigen Behauptungen aufstellen, ein unlösbarer Widerspruch enthalten sei, ist nicht eben gering. Sich mit solch offensichtlichen Widersprüchen zu befassen, hält Derrida jedoch für absolut unnötig.“ (Lilla 1999a, 187; Hervorh. G. O.) Indes: „Utterly beside the point“, wie es im Original heißt, ist mit dieser Behauptung nur einer: Mark Lilla, und er muss das wissen. Derrida nämlich hat die Auseinandersetzung mit diesem Einwand – er stammt von John R. Searle (1983) – explizit geführt, lange Jahre vor Lillas Verdikt, in einer direkten Erwiderung auf Searle. Darin stellt er nahezu wortwörtlich die Fragen, die Lilla mit Searle aufgeworfen hat, stellt sie, um sie, wie man gleich sehen wird, einigermaßen entschieden zu beantworten – all das unterschlägt Lilla. Die Fragen lauten in Derridas Formulierung: „Da man annimmt, daß der Dekonstruktionist (das heißt ohnedies der SkeptikerRelativist-Nihilist!) nicht an die Wahrheit, die Stabilität oder Einheit der Bedeutung, an die Intention und das Sagen-Wollen glaubt, wie kann er dann von uns verlangen, ihn mit Kompetenz, Genauigkeit und Strenge zu lesen? Wie kann er fordern, daß man seinen eigenen Text richtig interpretiert? Wie kann er jemanden beschuldigen, ihn schlecht verstanden, vereinfacht oder entstellt zu haben? Anders gesagt, wie kann er etwas diskutieren, und wie kann er die Lektüre dessen diskutieren, was er schreibt?“ (Derrida 1988, 146; deutsch 2001, 226; Übers. leicht modifiziert, G. O.) Um diese Fragen hätte Derrida sich also nicht geschert? Oder vielmehr Lilla nicht um Derridas Antwort? „Die Antwort ist recht einfach: Diese Definition des Dekonstruktionisten ist falsch (ich sage wirklich: falsch – nicht wahr) und schwach (...) Man wird sehen, daß der Wert der Wahrheit (und alle damit verbundenen Werte) darin (in Derridas Texten, G. O.) nie bestritten oder zerstört, sondern nur in stärkere, weitere und vielschichtigere Kontexte eingeschrieben wird.“ (Derrida 1988, 146; deutsch 2001, 226; Übers. leicht modifiziert, G. O.) Es folgen ausführliche Erläuterungen. Derridas Position zu den von Lilla aufgeworfenen Fragen, enthalten in umfassenden Auseinandersetzungen mit Austin und Searle, zuerst auf Englisch publiziert in der Zeitschrift Glyph 1977, liegt seit 1988 in einer um ein 50-seitiges Nachwort Derridas erweiterten englischen Buchausgabe vor, einschließlich sorgfältiger Erörterungen der von Lilla monierten performativen Selbstwidersprüche, die aber Derrida, wie sich noch zeigen wird, schon 30 Jahre vor Lillas Kritik, in L’Écriture et la Différence gesehen, benannt und reflektiert hat (s. u., Kapitel 3, Abschnitt 6). Wie sagte Lilla? Sich damit „zu befassen, hält Derrida jedoch für absolut unnötig.“ Mehr noch: Wer je irgend etwas von Derrida wissen und verstehen wollte, dem kann nicht entgangen sein, wovon es in dessen Werk wimmelt: eine Bekundung nach der anderen der klaren Einsicht in die Aporetik der Probleme, die er stellt, und zumal in Sachen ‚Mehr-
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deutigkeit‘ und ‚Selbstreferentialität der Sprache‘50. Ich nenne daher die Behauptung Lillas das gerade Gegenteil der Wahrheit, weil Derrida es nicht nur nicht für unnötig hält, sich mit solchen Widersprüchen zu befassen, sondern ihnen vielmehr seine gesamte Denkanstrengung widmet. Was mich beim Lesen solcher Sätze schier zur Verzweiflung treibt, ist das traurige Wissen: Es bleibt davon etwas hängen, weil keine Leserin, kein Leser mit einer solchen Entstellung des Sinns von Texten bis in deren blankes Gegenteil rechnet. Der Rest ist, inzwischen, ermüdend: „extravaganter Stil“, „aufreizende Digressionen“, „eitle Pose“, „mehr Vortragskünstler (...) als Logiker“? Darauf mag man nicht mehr eingehen. Eine letzte Entstellung: „Tatsächlich, so Derrida, sind wir heute in gewisser Weise allesamt Marxisten, weil (...) ja, einfach deshalb, weil es den Marxismus gegeben hat“? (Lilla 1999a, 195) Das sagt einer, der direkt im Anschluss daran Derrida wörtlich so zitiert: „Ob sie es wollen oder wissen oder nicht wollen oder nicht wissen, alle Männer und Frauen sind heute bis zu einem gewissen Grade Erben von Marx, Erben des Marxismus. (...) Und ob es uns gefällt oder nicht, (...) wir können die Erbschaft dieses Versprechens nicht ausschlagen, wir können seine Erben nicht nicht sein.“ (Derrida 1996, 147 f, zit. in der abweichenden Übersetzung bei Lilla 1999a, 195; Hervorh. G. O.) Muss man darüber aufklären, dass nicht alle Erben Kants Kantianer, nicht alle Erben Darwins Darwinisten, nicht alle Erben der Aufklärung Aufklärer sind? Weiß Lilla nicht, dass in einem der von ihm rezensierten Bücher, spectres de Marx, seitenlange Passagen (Derrida 1996, 35 ff, 92 f, 95, 144, 146 ff, 177 f, 223) der Reflexion der Figur des Erbens, unseres Erbes, und zumal unseres geistigen Erbes gewidmet sind, das für Derrida immer nur ein kritisches, ein verfügendes sein kann? („Die kritische Wahl, nach der jede Reaffirmation des Erbes verlangt (...)“; Derrida 1996, 36.) Von dieser Machart ist der gesamte Beitrag Lillas, eines Autors, der Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung ohne viel Federlesens als Gegenaufklärung und Farce (Lilla 1996, 408) und einen Philosophen wie Jacob Taubes als „somewhat mysterious professor of Jewish theology“ abtut (Lilla 1997, 39). Am Ende seines Derrida-Beitrages (1999a, 198) zollt Lilla den Amerikanern eine Art betrübter Aufmerksamkeit – „ihrer schrecklichen Fähigkeit, von jedermann und jeder Idee gut zu denken.“ Lilla will sagen: Sogar von Derrida und der Dekonstruktion. Auch so kann man die weltweite Resonanz eines philosophischen Werks erklären: mit der heiligen Einfalt der Rezipienten. Zum Glück gibt es eine Ausnahme: Mark Lilla (1999a, 198), der die „düsteren 50 Allein in dem von Lilla rezensierten Buch „Force de loi“ wird von der gesamten Problematik – Allgemeinheit und daher Mehrdeutigkeit von Regeln, besonders: Gesetzen, versus eindeutiger, gerechter Anwendung in situ – ständig wiederholt: Sie fordere „die Erfahrung der Aporie“ (Derrida 1991, 33). Mehr noch: „diese Aporien sind die bevorzugte Gegend, der bevorzugte Ort der Dekonstruktion“ (ebd., 44). Schließlich gibt es in diesem Buch drei Abschnitte (46 ff, 49 ff, 54-59), die schon im Titel auf diese Aporien aufmerksam machen („1. Erste Aporie: Die Epoché der Regel“, „2. Zweite Aporie: Die Heimsuchung durch das Unentscheidbare“, „3. Dritte Aporie: Die Dringlichkeit, die den Horizont versperrt“). Damit könnte man sich auseinandersetzen. Zu behaupten jedoch, Derrida hielte eine Auseinandersetzung mit solchen Widersprüchen für absolut unnötig, wo er fast nichts anderes tut, als sie zu führen – es fällt schwer, das noch als Fahrlässigkeit zu werten.
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und abstoßenden Schriften von Jacques Derrida“ durchschaut hat. Performativer Selbstwiderspruch eines gutgläubigen Amerikaners? Nein. Gemeint waren gewiss nur die gewöhnlichen Amerikaner. Verstehen ist eine zweistellige Relation. Oder, wie einst Georg Christoph Lichtenberg fragte: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ (1980, Sudelbücher I, Nr. 399)
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Quiescant in pace?
Quiescant in pace? Lang ist die Kette der Verweisungen, die jene geheimnisvolle Selbstverstärkung des Arguments durch Autoritätsinfusion bewerkstelligen: Lau und Müller bauen auf die Autorität der New York Review of Books und Mark Lillas, Müller außerdem auf die Habermas‘. Lilla baut auf die Autorität François Dosses und seiner umfangreichen „Geschichte des Strukturalismus“ (deutsch 1997). Hans-Dieter Gondek (1998, 320) bescheinigt diesem Fundament der Polemik Lillas, einer Polemik, die das Fundament der Polemik Laus und Müllers liefert: „Dosse spricht über Dinge, von denen er zu wenig versteht.“ Bei Lilla (1999a, 184) wird sie zur „soeben erschienenen klugen Strukturalismusstudie“. Von Dosse und Habermas zu Lilla zu Müller und Lau zu dessen Redaktionskollegen Assheuer zu Reinhard Mohr im Spiegel: höher und höher türmen sich die Bauklötze der Autoritätsverweise, oder sollte man sagen: die Karten dieses Hauses, das wir daher getrost seinem Schicksal überlassen könnten, hätten wir es nicht mit der institutionell verstärkten Hartleibigkeit eines kollektiven Denkstils zu tun (s. u., Abschnitt 3 des folgenden Kapitels). Seltsam berührt indes hat mich der Umgang Dosses mit dem Sterben der Barthes, Lacan, Foucault und Poulantzas und dem Mord, den Louis Althusser an seiner Frau beging, ein Umgang, für den Gondek (1998, 323) „keine andere Bezeichnung finde(t) als die der Geschmacklosigkeit“: „Dann plötzlich schlug all dies um: Anfang der achtziger Jahre ereilte den Strukturalismus ein unheilvolles Schicksal. Die meisten französischen Heroen dieses Epos traten von der Bühne der Lebenden ab, als hätten die Theoretiker vom Tode des Menschen sich alle gleichzeitig um eines spektakulären Abgangs willen (sic!) dahinraffen lassen. (...) In der Nacht des 16. Novembers erwürgt Louis Althusser seine treue Gattin Hélène. Der herausragende Vertreter des strengsten Rationalismus wird für unzurechnungsfähig erklärt und in die Nervenheilanstalt Sainte-Anne eingeliefert. (...) Der Mann des Wortes, der große Schamane der modernen Zeiten, Jacques Lacan, verstirbt, an Aphasie (Sprachlosigkeit, G. O.) leidend, am 9. September 1981. Nur wenige Jahre später wird Michel Foucault (...) dahingerafft. Er schrieb an einer Geschichte der Sexualität, und diese schlug ihn schonungslos mit der neuen Krankheit des Jahrhunderts: Aids.“ (Dosse 1997, Bd. 1, 11) Das ist für Gondek (1998, 323) die „Denkfigur einer mit dem Leben bezahlten Vermessenheit des Werkes.“
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2. Kapitel: Post mortem? Nachrufe auf die Postmoderne
Diese Formulierung ist von großer Milde. Teuflische Teufel, die solcher Exorzismen bedürfen: Schrieb Derrida eben noch sein Werk aus opportunistischer Berechnung ins gerade Gegenteil um, so spielt Dosse mit dem Gedanken berechnender Autoren, die in den Tod gehen, die in den passenden Tod gehen, um – Lilla würde sagen: – Public Relations zu treiben, und mit der unausgesprochenen, ihm selbst vielleicht nicht zu Bewusstsein gekommenen, Figur der Gerechtigkeit des Schicksals. Wenn sie noch leben, werden sie totgesagt. Wenn sie gestorben sind, wird die Todesart gegen die Theorie gewendet, und, noch einmal, gegen ihre Autoren: Recht geschieht ihnen. Als Hölle jedem die Seine: Beschwörungen, diesmal wirklich post mortem. Quiescant in pace? * Ein Nachtrag: Das „relativistische“ Statement, das ich auf Seite 45 zitiere, direkt vor dem 3. Abschnitt, stammt nicht von Derrida. Das haben Sie vielleicht gemerkt. Wenn nicht, sind Sie in guter Gesellschaft. 17 interessierte Kolleginnen und Kollegen, mit den Fächern Soziologie (6), Betriebswirtschaftslehre (3), Literaturwissenschaft (3), Philosophie (2), Medizin (1), Volkskunde (1) und Jura (1) haben eine frühe Fassung des voranstehenden Textes gelesen, ohne diesen Nachtrag. Davon hat mit Ausnahme eines Derrida-Kenners niemand die Täuschung bemerkt. Die Quelle war in Wirklichkeit: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1981, 156 [B 164]). „Auf diesem reinen, echt deutschen Eichenblatt saß ein französischer Gallapfel, den ein überrheinisches Insekt dahin gestochen hatte.“ 51
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Lichtenberg (1980), Sudelbücher I, Heft J, [G 89].
3. Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte 3. Kapitel: Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte
„Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein.“ Walter Benjamin (1980, 226)
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Kannitverstan
Fünf Kannitverstan: „Ich bin Philosoph, und ich kann französisch, aber ich kam einmal auf dem Weg aus meinem Büro an einer Veranstaltung mit Lyotard vorbei und bin reingegangen, und, glauben Sie mir, ich habe kein Wort verstanden.“ (Mündliche Mitteilung) „But I‘m a mere physicist: If I find myself unable to make heads or tails of jouissance and differance, perhaps that reflects my own inadequacy.“ (Sokal, 1996a, 62) „Meine erste persönliche Begegnung mit dem postmodernen Denken hatte ich im Herbst 1983 (...) in Wien. Es war ein trüber Sonntagnachmittag Ende September (...), und ich gestehe, daß ich kein Wort verstand. (...) Ich dachte, den (Jargon, G. O.) lern‘ ich auch noch, inzwischen habe ich die Sache aufgegeben. Irgendwas hatte das mit dem späten Heidegger zu tun, aber was? (...) Was sie sagten, weiß ich nicht mehr, und habe es auch damals nicht gewußt (...) Durch das Fenster fiel mein Blick auf einen Garten, das Laub war welk, (...) Bald jedoch kam ich ins Schwitzen, (...) auch, weil ich, trotz ernstestem Bemühen, nach spätestens zehn Minuten bei keinem der Referenten mehr wußte, wovon die Rede war.“ (Burger 1993, 461) „Wie es der Zufall will, besuchte ich dieses Seminar (Derridas, G. O.) und hatte, wie die meisten Teilnehmer, mit denen ich in Kontakt kam, Schwierigkeiten zu verstehen, worauf Derrida hinauswollte.“ (Lilla 1999a, 189; vgl. auch 180) „Da Derrida nicht zu den argumentationsfreudigen Philosophen gehört, ist es ratsam, seinen im angelsächsischen Argumentationsklima aufgewachsenen literaturkritischen Schülern zu folgen (...) J. Culler rekonstruiert sehr klar die etwas undurchsichtige Diskussion zwischen Jacques Derrida und John Searle (...)“ (Habermas 1985, 228).
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3. Kapitel: Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte
Eine von zwei Antworten auf solche „Argumente“, allerdings damals, im Positivismusstreit, als die Frankfurter Schule Adressat solcher Kritik war, Antworten an Hans Albert, seinerzeit Autor des Unverständlichkeitsvorwurfs: „Alberts Strategie hingegen könnte ich in Symmetrie zum Vorwurf der Verdunklung als Dummstellen charakterisieren: Man will nicht verstehen, was der andere sagt. Diese Strategie, die den Gegner zwingen soll, die eigene Sprache anzunehmen, ist einige Jahrhunderte alt und seit den Tagen Bacons außerordentlich erfolgreich. (...) Das methodisch geübte Kannitverstan trocknet eine Diskussion aus, die sich schon im Umkreis eines gemeinsam vorausgesetzten Vorverständnisses immer bewegen muß. Auf diesem Wege fördert man allenfalls einen Ethnozentrismus wissenschaftlicher Subkulturen, der die Offenheit wissenschaftlicher Kritik zerstört. In diesen Zusammenhang gehört der Vorwurf der Unverständlichkeit. Soweit er mich als empirisches Subjekt trifft, nehme ich ihn mir reuevoll zu Herzen; soweit er sich aber gegen eine Struktur des Sprechens und Denkens richtet, bedarf er der Erläuterung. Verstehen ist eine zweistellige Relation (Hervorh. G. O.). Bei meiner Pflichtlektüre von scharfsinnigen positivistischen Untersuchungen habe ich die schmerzliche Erfahrung gemacht, vieles nicht oder nicht sogleich zu verstehen. Ich habe die Schwierigkeit meinen mangelhaften Lernprozessen zugerechnet und nicht der Unverständlichkeit der Texte. Ich wage nicht, die Vermutung ganz auszuschließen, daß es sich im umgekehrten Fall bei jemand, der Hegel aus zweiter Hand zitiert, auch so verhalten könnte.“ (Habermas 1969b, 266) Dem ist fast nichts hinzuzufügen. Ich trage nur nach, dass der Vorwurf der Unverständlichkeit nicht nur dessen Autor von eigener Argumentation entlastet, sondern auch seine Leser von den Mühen des Lesens, von den Schuldgefühlen, betreffend Lektüre-Lücken, und von Scham wegen Verständnisschwierigkeiten, die nicht jeder so gelassen verarbeitet wie Habermas im Jahre 1969. Lilla zum Beispiel arbeitet routiniert mit der Verführung dieser Abschreckung-plus-Entlastung. (Trösten Sie sich: Die meisten haben „Schwierigkeiten zu verstehen, worauf Derrida hinauswill“. Und: „Readers of Derrida‘s early works can be forgiven for assuming that he believes there can be no escape (...) from deconstruction for any of our concepts.“52) „Ich verstehe es zwar nicht, aber es wird schon irgendwie Unsinn sein?“ Oder gar: „Ich verstehe es nicht, daher muß es Unsinn sein?“ Da beeindruckt doch eher die Reaktion des früheren Habermas, die Schwierigkeiten den eigenen Lernprozessen zuzurechnen. Möglich, dass Habermas den Vorwurf der Unverständlichkeit seinerzeit auch deswegen so souverän abgewiesen hat, weil er damals Adorno an seiner Seite wusste, der über
Lilla (1998, 39; Hervorh. G. O.). Zu vermerken ist, dass sich in die deutsche Übersetzung dieser Passage im Leviathan (Lilla 1999a, 191) der unglückliche Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen hat: „ (...) daß keiner unserer Begriffe der Destruktion entgehen werde“, wo Lilla sagt: „that (...) there can be no escape (...) from deconstruction for any of our concepts“. Das ist um so bedauerlicher, als „Destruktion“ genau das ist, was allseits als Botschaft der Dekonstruktion suggeriert wird, zum Beispiel, wenn Habermas (1985, 221) von der „Zerstörung eingeschliffener grundbegrifflicher Hierarchien“ und vom „Umsturz der Fundierungsverhältnisse“ spricht. 52
2 Noch ein Déjà vu
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den „Begriff allgemeiner, quasi demokratischer Nachvollziehbarkeit“ (Adorno 1969, 54) noch sehr viel unnachsichtiger geurteilt hat. Das ist die zweite Antwort: „Geheimes Einverständnis waltet zwischen dem Lob einfachen Lebens und der antiintellektuellen Präferenz fürs Einfache als das vom Denken zu Erlangende; die Richtungstendenz vereidigt das Denken selbst auf Einfachheit.“ (Adorno 1969, 55) Natürlich ist diese Antwort, so allgemein, geeignet, jeden Jargon zu entschuldigen. Darum ist es mir nicht zu tun, wohl aber darum, die Selbstverständlichkeit zu irritieren, mit der das Kannitverstan als Argument in Anspruch genommen wird.
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Noch ein Déjà vu
Déjà vu Mein Déjà vu klärte sich also schnell auf: Es wich der Erinnerung, dass einzelne Argumentationsfiguren und die gesamte Denkbewegung der etablierten kritischen Theorie (im weitesten Sinne, einschließlich Marx Nahestehender) wider die Foucault, Lyotard und Derrida eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Figuren und Argumentationen aufweisen, die um die achtundsechziger Jahre von Hans Albert und seinen Mitstreitern gegen Adorno und Habermas ins Feld geführt worden sind. Das hat zum allerdings einigermaßen ironischen Nebeneffekt, dass sich die Einleitung Adornos in den von ihm, Albert, Dahrendorf, Habermas, Pilot und Popper getragenen Band „Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“ über weite Strecken als Zurückweisung HabermasЮscher Argumente gegen Derrida lesen lässt – ich kann hier nur nahelegen, die Probe aufs Exempel selbst zu machen, werde aber gleich etliche Beispiele geben. Dies alles hat, wie ich im 4. Abschnitt dieses Kapitels ferner andeutungsweise zeigen möchte, seinen tieferen Grund darin, dass im Denken Derridas, auf den ich mich beschränke, eine vergleichbare, ähnlich tiefgreifende Beunruhigung für Habermas und die jüngere kritische Theorie enthalten ist wie seinerzeit für Albert und den kritischen Rationalismus im Denken Adornos und Habermas‘. Habermas verhält sich zu Derrida wie Albert zu Habermas – natürlich nicht in jeder Hinsicht, aber das „verhält sich“ kann man in des Wortes doppelter Bedeutung lesen: die Relation der Denkinhalte und das Verhalten der Personen im Disput bezeichnend – „Kannitverstan“ als ein Beispiel. Tatsächlich muss man noch einer dritten Bedeutung Rechnung tragen: Auch in puncto Etabliertheit gilt jener Satz. Wie 1968 beansprucht heute eine Denkrichtung Platz, der in Deutschland von anderen gehalten wird. Bis 1968 war der kritische Rationalismus Platzhalter, danach, wenn auch in der kleineren Denkwelt der linksliberalen Intelligenz und nicht ohne Anfechtungen seitens des Mainstream, die traditionell-kritische Theorie, und der Platz, um den es sich handelt, ist jedes Mal der einer kritischen Reflexion auf die Grundlagen wissenschaftlichen Denkens. Er wird der traditionellen Linken, auch in der Resonanz, streitig gemacht von den Foucault, Lyotard und Derrida, und die Gegenwehr ist daher heftig. All dies ist ja 1968 den Adorno und Habermas und vielen von uns, die wir damals anfingen, widerfahren: dass uns vom sicheren Hort des Mainstreams der Hohn und die Häme entgegenschlugen. Das ist ein Motiv für diesen Beitrag, das ich nicht akzeptieren mag, heute, unter veränderten Machtvorzeichen, kritische Theorie sich derselben Mittel bedienen zu
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3. Kapitel: Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte
sehen, die damals gegen sie aufgeboten worden sind: Appelle an die Angst vor dem Chaos, vor dem Abgrund des Irrationalen; die „Perhorreszierung der Differenz“; Präsupposition von Regeln, die gerade zur Diskussion stehen, als selbstverständlich gültig; KannitverstanStrategien und Unverständlichkeitsvorwürfe; Lektüren aus zweiter Hand; Kritik ohne Kenntnisse der kritisierten Positionen; die Verfälschung der anderen Position bis zur Unkenntlichkeit; Missachtung der Spielregeln immanenter Kritik; das vorschnelle Festnageln auf Selbstwidersprüchlichkeit bei der kritischen Inspektion des Bodens, auf dem wir stehen53 (Logik, Vernunft); Verstrickung in double binds à la Watzlawick; Lob der Einfachheit; der Vorwurf totalisierender Vernunft(kritik)54; das In-die-Nähe-des-Totalitarismus-Rücken55, das Lilla nur mit umgekehrtem Vorzeichen wiederholt; die Dezisionismus- respektive Normativismus-Vorwürfe; die Dehnung der Behauptung „Die absolute Trennung von Faktum und Gesellschaft ist ein Kunstprodukt der Reflexion“ (Adorno 1969, 20) zu der Nonsens-Behauptung, Fakten seien nichts als soziale Konstruktionen; der Solipsismus-Vorwurf (dazu Adorno 1969, 45); der Affekt wider die Bedeutungsvielfalt, umgemünzt in den Beliebigkeitsvorwurf (ebd., 42-47); der Einwand des Ursprungsdenkens, gegen den Adorno (1969, 48) sich mit dem Satz wehren musste: „Den Begriff eines ansichseienden Ersten überhaupt akzeptiert Dialektik weniger als die Positivisten“; der „Vorwurf des Megalomanischen“ (Adorno 1969, 49); jener „Puritanismus der Erkenntnis“, den Adorno (1969, 67) am Positivismus ausgemacht hat, dem er neurotische Berührungsangst attestiert hat („Reinheit wird überwertig“), und von dem ich etwas in Habermas‘ Aversion gegen Derrida wiederzuentdecken meine, besonders in dem Affekt wider die „Ästhetisierung der Sprache, die mit der doppelten Verleugnung des Eigensinns von normaler und poetischer Rede erkauft wird“ (Habermas 1985, 240), einem Affekt, demgegenüber ich die Frage hätte: „ob vielleicht die Monopolisierung aller möglichen Erkenntnis erst die Norm schafft, an der gemessen alles, was sich ihr nicht fügt, die Fetischgestalt des Wertens, Entscheidens oder Glaubens annimmt“ (Habermas 1969a, 173). Wie sich die Manöver gleichen! Ich sage: die Manöver, nicht: die derart umkämpften Positionen. Natürlich gibt es zwischen Adorno und Derrida Differenzen – Stoff für ein ganzes Buch. Von Autoren aber, die einmal, und sei es auch vor mehr als drei Jahrzehnten,
53 Diese Verwendungsweise der Einrede des performativen Selbstwiderspruchs versenkt die Möglichkeit der kritischen Reflexion des Bodens, auf dem wir stehen – man denke an die Sprachkritik seit Wittgenstein –, in der Spalte zwischen einem Noch Nicht und einem Nicht Mehr: „Noch darfst Du die Grundlagen nicht kritisieren, denn du nimmst sie ja noch in Anspruch“ – „Jetzt darfst Du es nicht mehr, denn nun argumentierst Du ja bar jeder Vernunft und Logik.“ Von solchen Denkverboten haben sich die älteren Frankfurter nicht abhalten lassen, und auch Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Anatol Holt, Gregory Bateson, Karl Weick, um etwas wahllos einige zu nennen, die mir gerade einfallen, haben es nicht als ehrenrührig betrachtet, an den Ästen jener kathedralenähnlichen Bäume zu sägen, auf denen wir seit Jahrhunderten sitzen. Vgl. auch diese Formulierung Derridas (1976, 425): „ (...) es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache (...), die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre.“ 54 Albert (1969) gegen Habermas: „Mythos der totalen Vernunft“; Habermas (1985, 219) gegen Adorno und Derrida: „Die totalisierende Selbstkritik der Vernunft verstrickt sich in den performativen Selbstwiderspruch (...)“; Adorno (1969, 17, 19) in Verteidigung Habermas‘: „Habermas wird von Albert einer totalen Vernunftidee geziehen. (...) Totalität ist keine affirmative, vielmehr eine kritische Kategorie.“ 55 Albert (1969, 223 f) gegen Habermas: „ (...) dialektische Deutungsversuche (...) in totalitären Gesellschaften häufig nicht unbeliebt (...)“.
3 Ein institutionalisierter Denkstil
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mittels solcher Manöver und Mittel in die Ecke gedrängt werden sollten, hätte ich mir mehr Zögern, mehr Irritation, mehr Skrupel bei der Wahl eben dieser Waffen erhofft.
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Ein institutionalisierter Denkstil
3 Ein institutionalisierter Denkstil Natürlich ist meine Enttäuschung naiv. Sie hält sich trotzdem, und meine Naivität weiß ich zu schätzen. Sie hält sich, obwohl wir wissen: So läuft der Hase. Noch besser wissen wir es, seit wir Thomas Kuhn und auch Mary Douglas‘ „How Institutions Think“ gelesen haben, ein Buch, das ja von selektiver Taubheit handelt, von der „Unfähigkeit, sich durch vernünftige Argumente umstimmen zu lassen“ (Douglas 1991, 17), und zwar auch und zumal zwischen wissenschaftlichen Gemeinden, und das diese Taubheit als Effekt „der Institutionen auf unsere Klassifikations- und Erkenntnisprozesse“ (ebd., 17 f) analysiert. Zur Erinnerung: Douglas nimmt ihren Ausgangspunkt bei dem polnischen Juden Ludwik Fleck, dessen Einsichten 1935 aus naheliegenden Gründen keine Aufnahme in den herrschenden Denkstil fanden, uns aber mitten in die Schwierigkeit stürzen, dass sie selbst Gegenstand der hier gestreiften Problematik sind und sich gewiss Sokals Hohn und Spott zuziehen würden: „Das Erkennen stellt die am stärksten sozialbedingte Tätigkeit des Menschen vor (...) Jede Erkenntnistheorie, die diese soziologische Bedingtheit allen Erkennens nicht grundsätzlich und einzelhaft ins Kalkül zieht, ist Spielerei.“ (Fleck 1935/1993, 58 f) Zweitens: „Das Individuum hat nie oder fast nie das Bewußtsein des kollektiven Denkstiles (...)“ (Ebd., 57) Drittens: „Fleck verwandte einige Mühe auf die Untersuchung der inneren Struktur von Gruppen. Im Zentrum befindet sich eine Elite aus hochrangigen Eingeweihten, im äußeren Bereich stehen die Massen. Die Bewegung geht vom Zentrum aus. Die Peripherie übernimmt von dort die Ideen, ohne sie in Frage zu stellen. An den Rändern kommt es zu einer Verknöcherung.“ (Douglas 1991, 33) Viertens: Den Zusammenhalt stiften die bekannten Weisen der Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung: Strafandrohungen, Belohnungsangebote, Sozialisation und strukturelle Eigenschaften wie Reziprozitätsmuster, Verwandtschaft und Heirat. Das alles ist so neu nicht, und, um diesen Einwand gleich vorwegzunehmen: es gilt ganz gewiss auch für Poststrukturalisten. Aber eben auch: für die Gemeinde namens Frankfurter Schule, und wohl auch für die größere namens „linksliberale Intelligenz“. Erstere zumal erzielt mit ihrer Abwehr gegen Derrida gleich eine ganze Reihe sekundärer Gewinne,
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3. Kapitel: Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte
sekundär in dem Sinne, dass sie vom Ausgang der Debatte selbst ein Stück weit losgelöst anfallen, also auch dann, wenn es mit der inhaltlichen Berechtigung hapert. 1. 2.
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Sie bleibt, innerhalb jener Gemeinde, Platzhalterin der kritischen Reflexion auf die Grundfragen wissenschaftlichen Denkens. Sie verschafft sich eine Ersatzhandlung für Vatermord (weil nämlich viele starke Denkmotive Derridas mit solchen Adornos eine Verwandtschaft haben, wie Habermas selbst in einer eindrucksvollen Zusammenschau dargetan hat).56 Sie reinigt sich durch Distanzierung von einem Odium, das sie nie ganz losgeworden ist: gemessen an den hygienischen Standards des kritischen Rationalismus die doch nicht recht saubere Sorte Wissenschaft respektive Philosophie darzustellen. Das betrifft ihre Außendarstellung und ihr Verhältnis zum Mainstream. Sie bringt – siehe Derridas luzide Marx-Stirner-Lektüre – eine Art Gespenst ihrer selbst zum Verschwinden oder wenigstens zum Verstummen, das sie „entfernen, unterscheiden, in Gegensatz zu sich bringen möchte.“ Das betrifft ihre Selbstwahrnehmung, und dieses Gespenst, totalitär, dezisionistisch, obskur, relativistisch führt fortan seine Existenz unter anderem Namen: Derrida.
Ich kann das hier natürlich nicht im einzelnen zeigen, muss also auf eine beträchtliche Bereitschaft der Leserinnen und Leser – to whom it may concern – setzen, in sich hineinzuhören. Ich füge nur an: Rekursive Selbstverstärkungsprozesse derart, dass der mittlere Ring sich durch das Zentrum ermutigt fühlt und die Peripherie durch den mittleren Ring, und sodann das Zentrum durch die Peripherie, gehören zu den stabilisierenden Momenten57. An der Peripherie agiert so mancher nur, weil er ein Gespür dafür hat, woher und wohin der Wind weht. Und schließlich: Zu den Institutionalisierungsprozessen zählt auch die Herausbildung, Festigung und selektive und kumulative Wirkung der Publikationspraktiken selbst so
56 Kein Zufall ist es, dass Habermas in seinem „Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur“ gleich zum Auftakt, in der ersten Zeile, Adornos „Negative Dialektik“ und Derridas „Dekonstruktion“ in einem Atemzuge nennt und gegenüber beiden seinen Standardeinwand erhebt: performativer Selbstwiderspruch. Auf die „Verwandtschaft im Denkgestus“ (Habermas 1985, 220) komme ich zu Beginn des 5. Abschnitts. Den Aspekt einer indirekten Absetzung von Adorno übersieht Paul Michael Lützeler in seiner ansonsten treffsicheren Einschätzung: „In Deutschland hat die Postmoderne (...) nur wenige Anhänger und Vertreter gefunden. (...) Das hängt zum Teil mit dem Einfluß der Frankfurter Schule Horkheimers und Adornos im intellektuellen Haushalt der Deutschen zusammen. Was sollte die postmoderne Kritik des Rationalismus und die Selbstkritik der Aufklärung auch bringen, wenn sie in Horkheimers/Adornos Dialektik der Aufklärung schon vorweggenommen worden war. Aber war sie es? Das postmoderne Denken scheut auch vor einer Kritik an der Hegelschen Dialektik und an neomarxistischen Geschichtsdeutungen nicht zurück. Es orientiert sich eher an der Dialogik Bakhtins, bei der konkurrierende Dualitäten nicht in Synthesen aufgehen müssen.“ Indes „bedeutete das nicht – und hier liegt das Mißverständnis der Postmoderne bei Habermas begründet –, daß ihnen (den Theoretikern der Postmoderne, G. O.) die Ideale der Aufklärung gleichgültig geworden wären.“ (Lützeler 1998, 68) 57 Wir müssen daher auch mit Blick auf Denkbewegungen mit selbstverstärkenden Prozessen und Trajektorien rechnen, manchmal ausgelöst durch kontingente institutionelle Umstände – das wäre wohl ein anderes fundamentum in re als Hegel, Marx und auch noch Adorno mit der Rede vom notwendig falschen Bewusstsein im Sinn hatten.
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liberaler Zeitschriften und Zeitungen wie New York Review of Books, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Spiegel, Merkur, Leviathan58. Mary Douglas hat ein Konzept für den Denkstil einer Denkwelt gefunden, das den respektiven Kritiken an individualistischen und funktionalistischen Reduktionismen standhält. Der wissenssoziologische Rekurs aber kann das inhaltliche Argument nur flankieren, nicht ersetzen. Wir müssen daher nun zusehen: Welche seriöse inhaltliche Bewandtnis hat es mit der Debatte (Abschnitt 4 bis 7)? Und: Nachdem wir die Gründe, Derrida nicht zu lesen, durchgemustert und erstaunlich fragwürdig gefunden haben – welche Gründe gibt es, ihn zu lesen (Abschnitt 8)?
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Der Strudel der Geschichte
4 Der Strudel der Geschichte Ich möchte also nicht bestreiten, dass im Herzen der Debatte ernstzunehmende, tiefe Beunruhigungen ihre Rolle spielen, die jenseits jener sekundären Gewinne jeden ernsthaften Teilnehmer bewegen. Die oben zitierte Formulierung vom „Abgrund des Irrationalen“ (Habermas 1989, 160) bezeichnet recht gut eine solche ernstliche Sorge, von der ich aber den Eindruck habe, dass sie zu früh kommt. Ohne zu übersehen, dass es Welten sind, die beide trennen, sehe ich eine Parallele darin, wie Arnold Gehlen mit seiner vielgeschmähten Sorge um die Entlastungsfunktion von Institutionen so falsch nicht lag, aber, in konservativer Angst vor dem Chaos59, viel zu früh kam und sich hinreißen ließ, soll heißen: schon an Punkten, wo er noch hätte Ruhe bewahren sollen und können, und: die Konservierung jedweder besonderen Institution politisch verteidigend, schließlich gar, auch darin von Habermas zu Recht scharf kritisiert, mit der Bereitschaft und dem Versuch, jene Angst mittels nationalsozialistischer ‚Ordnung‘ zu bändigen. An einer Stelle sagt Habermas (1989, 247), fernab solcher Intentionen, mit Blick auf Derrida: „Das Haus des Seins (die Sprache, G. O.) wird selber in den Strudel eines ungerichteten Sprachstroms hineingerissen.“ (Hervorh. G. O.)
Daran lässt sich lernen, was mediale Selbstreferenz und Selbstverstärkung heißt: Die New York Review of Books bringt Lillas Beitrag, Hans-Peter Müller und Jörg Lau loben ihn im Merkur, weil er der Gemeinde aus dem Herzen spricht und weil er in der New York Review of Books erschienen ist; der Merkur bringt zusätzlich einen resümierenden Beitrag Sokals und Bricmonts (1998b); der Leviathan übersetzt Lilla aus dem selben Grund, die Süddeutsche Zeitung bringt einen Folgebeitrag Lillas, vielleicht, weil der erste im Merkur so gelobt worden ist? Jörg Lau jedenfalls bespricht in Die Zeit (Nr. 11 vom 11.3.1999, S. 52) Newsletter, das Mitteilungsblatt des Committee on Intellectual Correspondence: „Neuerdings spielt Mark Lilla eine führende Rolle, ein junger Philosoph aus New York, der einem breiteren Publikum durch seine scharfsinnigen Essays in der New York Review of Books (über Derrida, Foucault, Heidegger, Schmitt) bekannt ist. Ab der nächsten Nummer wird er die Redaktion leiten, eine gute Entscheidung.“ Der Spiegel (42/1998, S. 77) wiederum zitiert Jörg Lau mit seinem extrem aggressiven Merkur-Beitrag, den Reinhold Mohr dort wie folgt qualifiziert: „Eine sanft-kritische, durchaus ironische Haltung, die im Zweifelsfalle lieber bewahrt als zerstört.“ Und im Leviathan lesen wir demnächst vielleicht einen einigermaßen selbstreferentiellen, aber kritischen Beitrag über Selbstreferentialität und Macht der Medien. 59 Vgl. zum Beispiel Gehlens Sorge um Institutionen dann, wenn alles darauf ankomme, sie aus dem „Chaos der Meinungen“ herauszuhalten (1956, 74), die gelegentlich in Angst vor der „Barbarei der Reflexion“ (1961, 73) umschlug. „Das Chaos ist ganz im Sinne ältester Mythen vorauszusetzen und natürlich, der Kosmos ist göttlich und gefährdet.“ (Gehlen 1961, 59) Auf das Verhältnis von Chaos und Ordnung komme ich im 8. Abschnitt noch zurück. 58
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Bezeichnend auch die Formulierung: „Dieser radikale Kontextualismus rechnet mit einer verflüssigten Sprache, die nur noch im Modus ihres Fließens besteht, so dass alle innerweltlichen Bewegungen diesem Fluß erst entspringen.“ (Habermas 1989, 247; Hervorh. G. O.) Hier ist die Sehnsucht nach Grund, nach Hegels festen Haltepunkten, unübersehbar. Groß ist auch Habermas‘ Beunruhigung durch „die ‚Wellenbewegung‘, in die das (rechtliche, G. O.) Regelsystem von Fall zu Fall durch jede weitere kohärente Interpretation versetzt wird“, die in jeder besonderen Situation, in jedem besonderen Fall erforderlich wird, ein Gesichtspunkt, der, wie ich im 8. Abschnitt zeigen werde, von Derrida mit größtmöglicher Radikalität ausgearbeitet worden ist. „Die überraschenden Aspekte jedes neu auftretenden Falles scheinen nun die Theorie selbst in den Strudel der Geschichte zu ziehen.“ (Habermas 1994, 269; Hervorh. G. O.) Das ist Habermas‘ beherrschendes Denkmotiv, die Sorge, die ihn beherrscht, derer er durch seine gewaltige und großartige Theorieanstrengung Herr zu werden trachtet – und um derentwillen ihm Derrida so nahegeht, dass er ihn sich vom Leibe halten zu müssen glaubt. Ich glaube ferner, dass Derrida diese Reaktion nicht auslösen müsste; dass es vielmehr weiterer Denkanstrengungen bedarf, und dass bei Derrida Denkfiguren bereitliegen, die es erlauben, Ruhe zu bewahren und von hier aus – angesichts jener Strudel – weiterzudenken. Denn es gibt ja eine gemeinsame inhaltliche Frage, um die eine Kontroverse kreist, die jenseits der landläufigen Strategien des (Fest-)Stellens und (Fest-)Legens zu führen sich lohnte. Diese inhaltliche Frage ist die der Gerechtigkeit, und tatsächlich ist sie es, die Jacques Derrida in seinen jüngeren Arbeiten umtreibt. Da gibt es bedenkenswerte Parallelen zu Habermas (Faktizität und Geltung) und zu Luhmann (Das Recht der Gesellschaft). Auch diese Autoren haben sich aus guten Gründen mit der Frage auseinandergesetzt, nicht, um Public Relations zu treiben. Nun führt nichts an der schwer zu akzeptierenden Einsicht vorbei, die die respektiven Diskurse der Rawls, Dworkin, Hart, Habermas, Luhmann und nun auch Derrida erbracht haben: dass die Idee der Gerechtigkeit als positiv fixierbare Idee nicht artikuliert werden kann. Auf diese in jeder Hinsicht schockierende, aber heute nicht mehr ganz neue Erkenntnis haben diese Denker unterschiedlich reagiert: Luhmann mit der Verweigerung eines moralischen Diskurses, außer als Gegenstand einer kühlen Beobachtung zweiter Ordnung – als Faktum der Gesellschaft und Erkenntnisobjekt einer auf Fakten sich beschränkenden Soziologie; Habermas mit dem bekannten Projekt der Ausarbeitung eines prozeduralen, kommunikativen Vernunftbegriffs; Derrida mit der Absage an die Idee einer wie auch immer, und sei es in der Prozedur des herrschaftsfreien Diskurses, in einem Grund zu verankernden Vernunft, ohne aber, nota bene, die Idee von Aufklärung, Vernunft und Gerechtigkeit damit preiszugeben: „Die Gerechtigkeit bleibt im Kommen“. Sie steht noch aus, sie muss noch kommen, aber sie bleibt im Kommen. Daraus zieht Derrida keineswegs, wie Jörg Lau zu verstehen gibt, fatalistische Schlüsse.60 60 „Was bleibt uns aber in der Zwischenzeit zu tun,“ fragt Jörg Lau (1998, 953), „bis der Messias eines unerwarteten Tages erscheinen mag? Und wem fällt unterdessen die Aufgabe zu, die Hoffnung wachzuhalten und die Menschen an den Aufschub ihres Wunsches nach Gerechtigkeit zu gewöhnen?“ Das sind, seit einem „Was tun?“ aus dem Jahre 1902, brennende Fragen. Will Lau uns sagen, akzeptabel seien nur Philosophien und Theorien, die Trost und Hoffnung
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Gewiss zeigt Derridas Philosophie manchmal eine Neigung zur tragischen Geste und zum Pastoralen, die das Stilgefühl außerhalb Frankreichs enervieren kann. So unangemessen indes ist der Hang zum Dramatischen vielleicht nicht angesichts des Zustandes unserer Welt. Die Warnung jedenfalls vor dem finalen Gestus, in dem so manchen Ideen und Idealitäten ein Leib gegeben worden ist – der prometheischen Idee des Feuers: der Leib der Atomkraft; der kommunistischen Idee des Paradieses: der Leib „der“ Partei; der liberalistischen Idee der Freiheit: der Leib des allheilenden Marktes –, diese Warnung zu beherzigen, würde uns vor einer tödlichen Sorte Trost und Hoffnung bewahren. Ich kann sehr gut verstehen, dass Derridas „Lösung“, die ja keine Lösung ist, sondern die paradoxale Erklärung der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer Lösung, also die Aufforderung, sich dieser Aporie radikal auszusetzen, Unbehagen und Besorgnis auslöst, die etwa um einen möglichen Dezisionismus kreisen. Der Name Carl Schmitt stellt sich ein (und wird von Mark Lilla, versteht sich, seinen zahllosen Insinuationen sogleich beigemischt), und tatsächlich gibt es bei Derrida (wie übrigens schon einmal in der Geschichte von einem Juden, den aber die Umstände seines Todes vor Denunziation schützen: Walter Benjamin61) eine ernsthafte und allerdings kritische Auseinandersetzung mit Schmitt, für Lilla (1998, 38) Grund genug, sich indigniert zu zeigen: „Derrida sees Schmitt not as a mere Nazi apologist with a thirst for conflict, but as a deep thinker (...)“ Das darf man nicht, das braucht man nicht, wie Lilla uns schon in einer Schmitt-Kritik (Lilla 1997) versichert hatte – in einem Beitrag von der Art, die Jacob Taubes einmal (1987, 76) so qualifiziert hat: „Da wird ein demokratisches ABC abgehört, und jeder Privatdozent in der Politologie in seiner Antrittsvorlesung muß natürlich einen Tritt in den Arsch von Carl Schmitt geben, dass Freund/Feind nicht die richtige Kategorie sei. (...) das ist ja lächerliches Zeug verglichen mit den Problemstellungen, die Schmitt in die Irre führten, aber die mindestens Problemstellungen sind.“ Heidegger, Schmitt: vor ihnen stehen Schilder, errichtet von Lau, Müller und Lilla: ab hier nicht weiterlesen. Wir aber, die wir uns in der Lage fühlen weiterzulesen und die politischen Abgründe in Augenschein zu nehmen, die sich da auftun, finden diese Schilder jäh im eigenen Rücken. Allerdings gibt es auch im Umkreis Habermas‘, um das eine Mal aus der Frankfurter Schule zu plaudern, den einen oder anderen, der am Ende einschlägiger Debatten leise einräumt: nun ja, ein Rest Dezisionismus sei wohl auch im diskurstheoretischen Argumentationsgang unvermeidlich. Von jenen abgesehen, die in dieser Begründung von Normen einfach einen naturalistischen Fehlschluss erblicken, wie Popper oder der Erlanger Konstruktivismus, der aber seinerseits in Frankfurt des Dezisionismus geziehen wird; abgesehen auch von Ernst Tugendhats gewichtigem Einwand der Reproduktion eines gigantischen Zirkelspenden, am besten in dem Maße, wie er sie braucht? Wie zum Beispiel die Botschaft Fukuyamas? „Ich (...) beuge mich ihrem Vorwurf,“ hat Freud, die Enttäuschung seiner Mitmenschen antizipierend, einmal gesagt, am Ende just jenes Textes, auf den Mariam Lau mit dem Titel ihres Beitrages anspielt, „daß ich ihnen keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen.“ (Freud 1930/1982, 270) 61 Vgl. dazu, ohne jeden denunziatorischen Zungenschlag, Bredekamp (1998), ferner Agamben (2002). Bredekamp übrigens hebt (ebd., 915) aus Derridas „kongenialer Analyse“ der Affinitäten zwischen Benjamin und Schmitt den einen Satz heraus, der den ausschlaggebenden Punkt dieser ihrer Nähe benennt: „Es ist der Augenblick, da die Begründung des Rechts im Leeren oder über dem Abgrund schwebt, an einem rein performativen Akt hängend.“ (Derrida 1991, 78) Von diesem Augenblick „am Rande des Chaos“ wird unten, im 8. Abschnitt, noch zu reden sein.
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3. Kapitel: Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte
schlusses (Tugendhat 1997, 161 ff); und abgesehen schließlich vom Apelschen „shocking“, ausgerufen angesichts HabermasЮscher Begründungsmängel, allerletztes Glied in der Kette einander überbietender Schockiertheiten. Genügt das nicht, um sich mit Neugier der Lektüre eines Autors zu nähern, der an genau dieser Stelle eine radikale Aporie behauptet: der uns nicht beschwichtigt, sondern unsere Sorge nährt, indem er nämlich Ernst macht mit dieser Sorge, sie ausspricht, die doch, wie insgeheim auch immer, unsere eigene Sorge ist, und die genau darin terminiert, Gerechtigkeit könne eine aporetische innere Struktur aufweisen? So dass es vielleicht die Nähe Derridas ist, die Angst macht und Anlass gibt, den Abstand zu übertreiben – so, wie es, Derridas Analyse zufolge, Marx mit Stirner gemacht hat? Bei Habermas hat man diesen Eindruck, und eben deshalb den Wunsch und die Hoffnung auf Annäherung62.
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Bedeutungsrelativismus?
5 Bedeutungsrelativismus? Die Nähe und die Differenz zwischen Habermas und Derrida möchte ich an dem auch für meinen Zusammenhang ausschlaggebenden Einwand des Bedeutungsrelativismus (Habermas 1985, 232 ff) präzisieren, der meines Erachtens Derrida zu Unrecht trifft. Dass auch für Habermas jeder Text sich verschiedenen, vom Kontext abhängigen Lesarten öffnet und damit „seine unkontrollierbare Wirkungsgeschichte eröffnet“, hatte ich schon erwähnt. Derrida fasst also in Sachen ‚Bedeutung‘ allenfalls schärfer als Habermas die durch keinerlei finalen Gestus abschließbare „Dissemination“ in das nicht eingrenzbare Feld ihrer Auslegungs- und Anschlussmöglichkeiten ins Auge. Was Habermas daher Culler – und qua Culler Derrida – noch vorwerfen zu können glaubt, nachdem insoweit Übereinstimmung besteht, ist nurmehr die Vernachlässigung „der idealisierenden Unterstellung eines erreichbaren Konsens“ als notwendige Bedingung einer jeden Kommunikation/Interpretation (Habermas 1985, 232 f). Nur wenn und weil diese Bedingung erfüllt ist, lassen sich Interpretationen kritisieren, und das setzt Interpretationen Grenzen – eine Absage an Beliebigkeit. Ob dem Husserl-Kenner Derrida ein solcher gravierender Lapsus unterlaufen ist? Nun, was Derrida im Sinn hat, ist der Begriff einer Schrift-Lektüre „im Vertrauen auf eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit des Konsens bezüglich der Verständlichkeit eines Textes, der auf der stabilen Festigkeit zahlreicher Vereinbarungen beruht“ (Derrida 2001, 225). Aber er meint „nicht die Selbstidentität des ‚meaning‘, sondern eine relative Stabilisierung der vorherrschenden Auslegung“ (ebd., 221). „Mein Gefühl also ist es, daß Marx sich angst macht, daß er selbst auf jemanden versessen ist, der nicht weit davon entfernt ist, ihm zum Verwechseln ähnlich zu sehen: ein Bruder, ein Doppelgänger, mithin ein teuflisches Bild. Eine Art Gespenst seiner selbst. Das er entfernen, unterscheiden, in Gegensatz zu sich bringen möchte.“ (Derrida 1996, 219) Die Nähe zwischen Derrida und Habermas – die Punkte, an denen sie einander nahekommen – betont Waltraud Naumann-Beyer (1994). Inzwischen, im Jahre 2001, ist Derrida der Theodor W. Adorno-Preis verliehen worden, und die Tonlage wird versöhnlicher.
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„Diese Stabilität ist relativ, auch wenn sie manchmal so groß ist, daß sie unverrückbar und permanent erscheint.“ (Ebd., 224) Gleichwohl weiß Derrida, „daß in einer (beispielsweise akademischen) Gemeinschaft keine Forschung ohne vorherige Suche nach diesem Minimalkonsens und ohne eine diesen Minimalkonsens einkreisende Diskussion möglich ist.“ (Ebd., 225) Die Relativität jener Stabilität wahrzunehmen und gedanklich zu verarbeiten, impliziert keinen Relativismus. Darin kann es keine Meinungsverschiedenheit mit Habermas geben, der die Kontextabhängigkeit von Lesarten selbst betont. Wie verständigen wir uns dann? Nun, mittels jener wie auch immer prekären und relativen Stabilität und der von Habermas angemahnten Idealisierung. Dass Derrida dabei die Denkfigur eines solchen kontrafaktischen Ideals durchaus parat hat, sieht man an der folgenden Bemerkung über die immer mögliche Wiederholung-einschließlich-Veränderung einer Äußerung/Interpretation: „Die Iterabilität setzt (bei aller Dissemination, G. O.) eine minimale Bleibe (als eine wie auch immer begrenzte Idealisierung) voraus, damit die Identität des Selben wiederholbar und identifizierbar sei in, durch und sogar im Hinblick auf die Veränderung. Denn die Struktur der Iteration (...) impliziert in einem Identität und Differenz. Die ‚reinste‘ Iteration – doch sie ist niemals rein – trägt in sich die Aufspreizung einer von ihr in der Iteration konstituierten Differenz.“ (Derrida 1977, 24 f; zit. in der Übersetzung von Gondek 1987, 93; erste Hervorh. G. O.; vgl. jetzt die deutsche Buch-Version: Derrida 2001, 89.) Das ist, was Habermas (1994, 35) die „Idealität der Bedeutungsallgemeinheit“ nennt. Es ist seit Jahrzehnten ein ganz zentrales Thema Derridas. Nicht in der Einsicht in die Notwendigkeit einer solchen Idealisierung, ja, „eines ganzen Systems von Idealisierungen“ (Derrida 2001, 113), liegt der Kern des Streits, sondern in der Frage, ob darin ein der Sprache oder gar dem Begriff der Sprache innewohnendes Telos der Verständigung und also der Vernunft ausgemacht werden kann, wie Habermas (z. B. 1994, 18) meint – und dies nun wirklich im Unterschied zu Derrida (vgl. Gondek 1987, 87 f).63 Das ist ein Beispiel par excellence für jene minimale Differenz, die in der Philosophie manchmal die Differenz ums Ganze ausmacht – ob auch diesmal, scheint mir noch gar nicht ausgemacht. Eben wegen dieser Differenz – wegen ihrer Wichtigkeit und wegen ihrer Winzigkeit – lohnte sich die Kommunikation zwischen beiden. Das wird vielleicht noch deutlicher an einer weiteren, späteren Erläuterung Derridas der „messianischen“ Struktur, die jeder Sprache innewohne:
63 Zur Kritik des Habermasschen Rekurses auf eine idealisierende Sprechsituation als „Ideal der Wirklichkeit“ vgl. auch Wellmer (1986; 1992). Letzteren Beitrag hat Habermas seinerseits (1994, 32, Fn. 12) zustimmend zitiert.
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3. Kapitel: Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte
„Es gibt keine Sprache ohne die performative Dimension des Versprechens; in dem Augenblick, da ich meinen Mund öffne, bin ich im Versprechen. Selbst wenn ich sage ‚Ich glaube nicht an die Wahrheit‘ oder was auch immer, selbst dann ist in dem Moment, in dem ich meinen Mund öffne, schon ein ‚Glaube mir‘ am Werk. Selbst wenn ich lüge, ist ein ‚Glaube mir‘ am Werk.“ (Derrida 1999c, 183) Das wird in Frankfurt vertraut klingen, und die Stelle macht deutlich, dass Derrida sich über die unhintergehbare performative Inanspruchnahme eines Geltungsanspruchs oder versprechens in jeder Rede völlig im Klaren ist. Vorbehalte meldet Derrida nur darin an, dass er „den Diskurs der Emanzipation in keine Teleologie, keine Metaphysik, keine Eschatologie und auch in keinen klassischen Messianismus einschreiben möchte“ (Derrida 1999, 182) – nicht gegen den großen, unverzichtbaren Diskurs der Emanzipation an sich. Immer muss man im Auge behalten, dass Derrida, wie auch Lilla (1999a, 193) vermerkt, aber übergeht, einen „Messianismus ohne Religion“ meint, ein „Messianische(s) ohne Messianismus“, eine „Idee der Gerechtigkeit – die wir immer noch vom Recht und sogar von den Menschenrechten unterscheiden – und einer Idee der Demokratie – die wir von ihrem aktuellen Begriff und ihren Prädikaten, wie sie heute bestimmt werden, unterscheiden“ (Derrida 1996, 101); eine Idee von Gerechtigkeit, die nicht als Telos in Anschlag gebracht und die nicht vor dem Strudel der Geschichte bewahrt werden kann. Angesichts der Bedeutung von Texten, der Bedeutung von Regeln, der Bedeutung von Entscheidungskriterien, der Bedeutung sozialen Handelns geht es Derrida allerdings immer um eine differentielle Kraft, die in jedem Versuch der Fixierung der Bedeutung, der Anwendung der Regel, der Interpretation eines Handelns unweigerlich am Werk ist und die deren Verschiebung und/oder Veränderung durch eben diesen interpretierend-anwendenden Zugriff zur Folge hat – „die différance ist eine aufgeschobene-verzögerte-abweichendeaufschiebende-sich-unterscheidende Kraft oder Gewalt“ (Derrida 1991, 15). Dieser Derrida, gewiss ein anderer als der, den Lilla uns nahezubringen versucht – sollte der vielleicht doch der Lektüre wert sein? Und dies, obwohl – oder gar: weil – er die Gattungen Philosophie und Literatur nicht auf die Weise auseinanderhält, die Habermas für geboten hält?
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Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur? Performative Selbstwidersprüche?
6 Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur? Schon einmal, im 3. Abschnitt des voranstehenden Kapitels, begegnete Habermas‘ Aversion wider die Verwischung von Gattungsunterschieden, dort des „gattungsspezifischen Unterschied(s) zwischen Täter und Opfer“ in Jan van de Weterings Kriminalroman Rattenfang. Habermas führt darüber jeweils Klage, als verstünde sich von selbst, dass dies Akzeptanz keinesfalls finden kann, und als seien Gattungen und Gattungsunterschiede (1.) naturgegeben und (2.) von Natur aus eindeutig. Das ist natürlich nicht, was er meint, wohl aber, dass sie jedenfalls nicht zur Disposition stehen – auch nicht zur Disposition differentieller Interpretationen. Auch die Kritik an der vermeintlichen Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur führt Habermas ohne die wünschenswerte Tuch-
6 Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur?
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fühlung mit den Standards immanenter Kritik, die eine solche Debatte kaum wie mit einem Paukenschlag eröffnen würde, und gar mit dem bekannten des Vorwurfs eines performativen Selbstwiderspruchs, als hätten wir es nicht mit schwierigsten Fragen der Welterschließung durch Sprache zu tun, und als würde nicht Derrida, ohne übrigens einer Einebnung jemals das Wort geredet zu haben, die strikte Trennung jener Gattungen ausdrücklich, ausführlich und mit jedenfalls beachtlichen Gründen zum Problem erheben. Darüber kann man wohl kaum miteinander ins Gespräch kommen, wenn man am Anfang der Debatte jene Gattungsunterschiede für sakrosankt erklärt. Der Vorwurf der Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur verrät, wie Anselm Haverkamp kommentiert, „die Angst der ins Trockene der Selbstreflexion gebrachten philosophischen Ansprüche vor dem in blinder Sprachgewalt vor der Tür zur Emanizipation Zurückgelassenen, der Kunst und Literatur. (...) Der probate Vorwurf der Gattungseinebnung bedient sich uneingestandenermaßen selbst rhetorischer Kategorien (der der ‚Gattung‘), nicht philosophischer Argumente.“ (Haverkamp 1994, 10) Mit einer Ernsthaftigkeit, die angesichts der leichten Hand, mit der jener Vorwurf erhoben zu werden pflegt, imponiert, hat Derrida erwidert, er habe „nicht (...) die Philosophie, die Wissenschaft, die Theorie, die Kritik, das Recht, die Moral und so weiter den literarischen Fiktionen gleichgestellt. Sich für eine bestimmte Fiktionalität in der ersten Serie zu interessieren, (...) das bedeutet in keiner Weise zu reduzieren, zu nivellieren oder gleichzusetzen. Ganz im Gegenteil, das heißt, die Differenzen zu verfeinern.“ (Derrida 2001, 256) Das deucht mich ein bündiges Argument. Habermas, den man über die Fiktionen etwa der Rechtstheorie nicht belehren muss – dort wimmelt es von Erzengeln (Hare) und herkulischen Richtern (Dworkin) –, müsste akzeptieren können, dass diese Art Fiktionalität Interesse verdient. Mir als Ökonomen begegnet seit jeher die Fiktion des homo oeconomicus, des großen Als Ob neoklassischer Ökonomik. Und es war einer der scharfsinnigsten Denker aus der guten Stube der Neoklassik, Donald McCloskey, der dargetan hat, dass die ökonomische Theorie immer eine Vierfaltigkeit aus Fakten, Logik, Metaphern und erzählten Geschichten ist und sein muss, ohne damit Gattungsunterschiede einzuebnen, allerdings in der Absicht, uns in der Beruhigung aufzustören, die wir an wohletablierten Unterscheidungen und disziplinären Arbeitsteilungen – hie reine Wissenschaft, da erzählte Geschichten, hie strenge Begriffe, da wolkige Metaphern und so fort – zu finden suchen (s. u., Kapitel 20). „(...) totalisierende Selbstkritik der Vernunft (...) nur unter Rückgriff auf deren eigene Mittel“ (Habermas 1985, 219), lautet andererseits Habermas‘ Verdikt. Nun sehe ich nicht, dass Derrida eine totalisierende Kritik irgendwo betriebe, schon gar nicht in Sachen Vernunft. Was aber gegen eine nicht-totalisierende Selbstkritik der Vernunft oder jedenfalls besonderer Spielarten der Vernunft einzuwenden wäre, zumal von einem Erben und Verwalter des Erbes kritischer Theorie, das wäre ja schwer einzusehen. Der Vorwurf des (performativen) Selbstwiderspruchs aber hängt in seiner generellen Berechtigung davon ab, wie man das
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3. Kapitel: Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte
Verhältnis von performativen und konstativen Äußerungen bestimmt64, und auch das ist selbst Gegenstand der Debatte, kann also kaum als ihr Maßstab fungieren. Es kann dies in unserem Falle um so weniger, als Dekonstruktion sich geradezu als Untersuchung nichtkontingenter, nicht frontal abweisbarer, sondern womöglich gerade konstitutiver performativer Selbstwidersprüche in der Philosophie verstehen lässt. Platon oder Rousseau schreiben Philosophie und verurteilen die Schrift? Darauf reagiert Derrida (1995) nicht mit einem Verbot, sondern mit der Frage: Warum? Habermas zumal müsste das bekannt vorkommen, dem es ja im Positivismusstreit selbst widerfahren ist, auf die Spielregeln des Gegenparts verpflichtet zu werden, seinerzeit auf eben jene Spielregeln eines szientistischen Wissenschaftsverständnisses, welches aus Sicht der kritischen Theorie gerade den Gegenstand der Debatte ausmachte. Und er ist von Adorno, unter anderem, mit genau dem Argument verteidigt worden: Es „droht (...), daß die Spielregeln der einen Position stillschweigend anerkannt werden, die nicht zum letzten den Gegenstand der Diskussion abgeben“. (Adorno 1969, 9) „Gedanken indessen, welche die kritische Selbstreflexion des Primats der Logik in sachhaltigen Disziplinen fordern, geraten unvermeidlich in taktischen Nachteil. Sie müssen mit Mitteln, unter denen die logischen sich behaupten, über Logik nachdenken – ein Widerspruch jenes Typus, dessen bereits Wittgenstein (...) inne wurde.“ (Adorno 1969, 9) Derrida hält gewiss nicht die Einebnung, wohl aber die Problematisierung, möglicherweise: Verschiebung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur aus Gründen für geboten, die, wie Habermas doch sieht, mit seiner Kritik identifizierenden Denkens zu tun haben. Dass Derrida damit nicht, wie Habermas im Wege einer petitio principii unterstellt (explizit: Habermas 1985, 232), auf einen Bedeutungsrelativismus hinaus will, habe ich zu zeigen versucht und hat Derrida selbst65 nachdrücklich klargestellt – in einer Erwiderung auf Habermas, von der man seither in Deutschland wenig liest oder hört66. Derrida hat sein Problembewusstsein, betreffend jenen performativen Selbstwiderspruch, früh und in aller Deutlichkeit artikuliert: „Das Problem des Status eines Diskurses, der einer Überlieferung die erforderlichen Hilfsmittel entlehnt, die er zur De-konstruktion eben dieser Überlieferung benötigt, muß ausdrücklich und systematisch gestellt werden.“ (Derrida 1976, 427) Daran hat sich Derrida – ich bin versucht zu sagen: – in jedem seiner Werke abgearbeitet. Die Inspektion des Bodens, auf dem wir stehen, und der Gattungsunterschiede, mit denen wir operieren, zählt für ihn zu den erstrangigen Aufgaben der Philosophie. Eine Konsequenz daraus, eine performative Konsequenz, die Derrida zieht, ist es, auf den literarischen Ton seiner Philosophie Wert zu legen – auf den Ton, der die Musik macht, wenn man Ohren hat zu hören.67 64 Auf weitere Schwierigkeiten mit dem Einwand des performativen Selbstwiderspruchs macht Tugendhat (1997, 166 ff) aufmerksam. Für eine Kritik des tu quoque-Arguments McCloskey (1994, 199 ff). 65 „Dieses Denken des Kontextes ist als solches kein Relativismus mit allem, was man damit assoziieren könnte (Skeptizismus, Empirismus, sogar Nihilismus). (...) Husserl hat es besser denn irgend jemand sonst gezeigt, weil der Relativismus, ebenso wie all seine Surrogate, eine philosophische Position bleibt, die sich selbst widerspricht.“ (Derrida 1988, 137; deutsch 2001, 211) 66 Wohl aber in der kritischen, aber einlässlicheren Derrida-Rezeption McCarthys (1993). 67 Vgl. etwa die Hinweise auf die Notwendigkeit, einer Stimme Gehör zu schenken und sie zu Gehör zu bringen, bei Derrida (2000, 65, 69, 197, 207, 411 ff). Das, weit davon entfernt, Regeln des Argumentierens zu suspendieren, ließe sich vielmehr zu den Standards interpretativer, hermeneutischer Sorgfalt zählen.
7 Noch ein Gattungsunterschied: „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“
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Noch ein Gattungsunterschied: „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“
7 Noch ein Gattungsunterschied: „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ Können Mäuse singen? Kommt der Gattung der Mäuse die Gattung Gesang zu? Brehms Illustrirtes Thierleben aus dem Jahre 1864 ist da ganz eindeutig: „Das Blöken [der Schafe] (...) ist ebenso großer Tonunfug wie das Meckern der Ziege oder das Grunzen des Schweins, das Quieken der Ferkel, das Pfeifen der Mäuse (...)“ (Brehm 1864, S. XXI) Fußnote: „In der Neuzeit hat man allerdings mehrfach von ‚singenden Mäusen‘ gesprochen; es bedarf aber unzweifelhaft noch anderweitiger Beobachtungen, um jenen Ausdruck zu rechtfertigen. Das ‚Singen‘ der Mäuse ist wahrscheinlich eben auch nur ein zwitscherndes Pfeifen.“ (Ebd.) Desungeachtet hat Franz Kafka, der Brehms Tierleben schätzte, in seiner letzten Erzählung, Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, eine Maus, eben die Titelheldin, mit diesem fabelhaften Vermögen auftreten, genauer, einen offenbar ebenfalls dem Geschlecht der Mäuse angehörigen Erzähler von ihr berichten lassen: „Wer sie [Josefine] nicht gehört hat, kennt nicht die Macht des Gesanges. Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt, was umso höher zu bewerten ist, als unser Geschlecht im ganzen Musik nicht liebt. Stiller Frieden ist uns die liebste Musik (...)“ Das Volk der Mäuse ist unmusikalisch und doch hingerissen. Allerdings stellt sich, stellt der Erzähler die Frage: „Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es ist die eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine Fertigkeit, sondern eine charakteristische Lebensäußerung. (...) Wenn es also wahr wäre, daß Josefine nicht singt, sondern nur pfeift, über die Grenzen des üblichen Pfeifens kaum hinauskommt – ja vielleicht reicht ihre Kraft für dieses Pfeifen nicht einmal ganz hin, während es ein gewöhnlicher Erdarbeiter ohne Mühe den ganzen Tag über neben seiner Arbeit zustandebringt – wenn das alles wahr wäre, dann wäre zwar Josefines angebliche Künstlerschaft widerlegt, aber es wäre dann erst recht das Rätsel ihrer großen Wirkung zu lösen.“ In den dürftigen Pausen zwischen den Kämpfen des Alltags träumt das Volk der Mäuse, und in diese Träume klingt „hie und da“ Josefines singendes Pfeifen, ihr pfeifender Gesang, und
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3. Kapitel: Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte
„jedenfalls ist es hier an seinem Platze, wie nirgends sonst, wie Musik kaum jemals den auf sie wartenden Augenblick findet. Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück, aber auch etwas vom tätigen heutigen Leben (...)“ Eines Tages ist Josefine verschwunden. Da wird ein Verlust offenbar, ein Verstummen, eine Erinnerung an Unsagbares, und der Erzähler fragt sich: „Hat nicht (...) das Volk in seiner Weisheit Josefines Gesang, eben deshalb, weil er unverlierbar war, so hoch gestellt?“
Déjà vu68. Was also tun mit unseren reinen Gattungsunterschieden – zwischen Täter und Opfer, Pfeifen und Singen, Philosophie und Literatur, kategorialem Wissen und Wissen der Literatur –, wenn doch in Wirklichkeit das eine durch das andere kontaminiert ist – verunreinigt, infiziert, angesteckt, gemildert, gemindert, womöglich aber auch bereichert? Wenn also eine reine Scheidung zwischen Philosophie und Literatur gar nicht postuliert werden kann, weil die eine der anderen notwendig bedarf, so sehr sie einander auch gefährden? Ob indes in Derridas Philosophieren „Musik“ ertönt, „etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindendem Glück“, oder „nur ein zwitscherndes Pfeifen“, das ist auch eine Sache des Gehörs.
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Warum es sich lohnt, Derrida zu lesen – sogar, um Organisationen besser zu verstehen
8 Warum es sich lohnt, Derrida zu lesen – sogar, um Organisationen besser zu verstehen Bis hierher war mein Argument: Das Gros der landläufigen Derrida-Kritik trifft dessen Denken nicht. Von den Etiketten, die seinem Werk angeklebt werden, sollte man sich nicht abschrecken lassen. Das bleibt im Kern defensiv. Es lässt die Frage offen: Welche positiven Gründe gibt es, und gar für Sozialwissenschaftler, Derrida zu lesen? Welche Früchte verheißt eine solche Lektüre? Ich könnte, erstens, antworten: Seine Platon-, Rousseau-, Lévinas-, Blanchot-, LéviStrauss-Lektüren, um nur einige zu nennen, auch seine Weise, Marx mit Shakespeare zu lesen, gehören zu den intensivsten, bewegendsten, tiefsten Leseerlebnissen, die ich seit vielen Jahren hatte, auch wenn Derrida eine Neigung zu Eröffnungen hat, die ich nicht selten als manieristisch empfunden habe. Das wird, da es hier bloße Versicherung bleiben muss, denjenigen nur ein Achselzucken entlocken, die ich schon bisher nicht überzeugt habe. Ich setze daher anders an und Dass Kafaks Literatur durch einen Zug zum Déjà vu ausgezeichnet ist, war eine Beobachtung Theodor Adornos (1977, 259 f). Marianne Schuller, deren Lesart der zitierten Erzählung dieser Abschnitt alles verdankt, stellt ihre KafkaLektüre ausdrücklich in den Kontext, mit dem ich es hier zu tun habe: Es stelle „das Wissen der Literatur eine Beunruhigung und Subversion des kategorialen Wissens dar.“ (Schuller 2001, 232) Wenn das stimmen könnte, was spricht dann gegen eine interpretative Musikalität der Philosophie?
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8 Warum es sich lohnt, Derrida zu lesen – sogar, um Organisationen besser zu verstehen
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bediene mich der Habermasschen Skizze der „Verwandtschaft im Denkgestus“ zwischen Adorno und Derrida: „Adorno und Derrida sind in gleicher Weise sensibilisiert gegen abschlußhafte, totalisierende, sich alles einverleibende Modelle (...) Beide benutzen das Fragment als Form der Darstellung, stellen jedes System unter Verdacht. Beide entschlüsseln einfallsreich den Normalfall von seinen Grenzen her; sie treffen sich in einem negativen Extremismus, entdecken das Wesentliche im Marginalen, Nebensächlichen, das Recht auf Seiten des Subversiven und Verstoßenen, die Wahrheit an der Peripherie und im Uneigentlichen. Einem Mißtrauen gegen alles Unmittelbare und Substantielle entspricht das intransigente Aufspüren von Vermittlungen, von verborgenen Präsuppositionen und Abhängigkeiten. Der Kritik an Ursprüngen, Originalen, Erstheiten entspricht ein gewisser Fanatismus, in allem das bloß Produzierte, Nachgemachte, Sekundäre nachzuweisen. Was sich als materialistisches Motiv durch Adornos Werk hindurchzieht, die Entlarvung idealistischer Setzungen, die Umkehrung falscher Konstitutionszusammenhänge, die These vom Vorrang des Objekts – auch dazu findet sich eine Parallele in Derridas Logik der Supplementarität. Die revoltierende Arbeit der Dekonstruktion zielt ja auf die Zerstörung eingeschliffener grundbegrifflicher Hierarchien, auf den Umsturz der Fundierungszusammenhänge und konzeptuellen Herrschaftsverhältnisse, so z. B. zwischen Rede und Schrift, zwischen Intelligiblen und Sinnlichen, Natur und Kultur, Innerem und Äußerem, Geist und Materie, Mann und Frau.“ (Habermas 1985, 220 f)69 Meine zweite Antwort auf die Frage dieses Abschnitts lautet: Deshalb soll man Derrida lesen, besonders, wenn man statt „Zerstörung“ und „Umsturz“, wie es angemessener wäre, „Unterminierung“ und „Strudel“ sagt. Wenn an der Peripherie der Kritischen Theorie solchem Denken „Friede seiner Asche“ gewünscht wird, dann kann man nur hoffen, dass darin nicht die innere Wahrheit des Zentrums zum Vor-Schein kommt – und dass von diesem Zentrum andere Signale kommen, auch zu Untergrenzen in Stilfragen, die nicht zur Disposition stehen. Mit meiner dritten Antwort komme ich daher zurück auf die Figuren vom Grund, Abgrund und Strudel, die, wie ich oben behauptet habe, in Habermas‘ Denken eine so wichtige Rolle spielen. Dass sich „der Grund von Rationalität als ein Abgrund des Irrationalen“ (Habermas 1989, 160) enthüllen könnte, folgte man Derrida: das ist seine Befürchtung, von der ich gesagt habe, sie käme „zu früh“. Um in dieser Metaphorik zu bleiben: Habermas‘ Lebenswerk ist dem Versuch gewidmet, jenen Grund zu bauen, und zwar (weil er weiß, dass 69 Leider fährt Habermas (ebd.) fort: „Eines dieser Begriffspaare bilden Logik und Rhetorik. Derrida hat ein besonderes Interesse daran, den schon vor Aristoteles kanonisierten Vorrang der Logik vor der Rhetorik auf den Kopf zu stellen.“ (Hervorh. G. O.) Das ist nicht nur falsch, sondern es suggeriert, zusammen mit der – gemessen an den Standards Habermasscher Diktion – erstaunlich scharfen Rede von Derridas angeblichem „Extremismus“ und „Fanatismus“, dass wir mit Derridas Befähigung zu logischer Argumentation nicht zu rechnen brauchen. Auf Derridas detaillierte Einreden gegen den gesamten Beitrag und diese letztere Passage (Derrida 1988, 156-158; deutsch 2001, 256-259) hat Habermas meines Wissens nie geantwortet – weder in späteren Auflagen von „Der philosophische Diskurs der Moderne“ noch in dem 1989 erschienenen Band „Nachmetaphysisches Denken“.
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3. Kapitel: Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte
er ihn nicht massiv bauen kann, nicht mittels eines Begriffs substantieller Vernunft) im Wege eines Konzepts prozeduraler, eben: kommunikativer Vernunft. Mir will es nun so scheinen, als ob die Habermassche Denkanstrengung davon gezeichnet ist, die Einsicht entweder zu verarbeiten oder aber abzuwehren, dass dieser prozedurale Vernunftbegriff selbst unweigerlich immer wieder in jenen Strudel hineingezogen wird, und dies wegen eben jener Vertracktheit im Verhältnis zwischen Grund und Begründetem, zwischen Prozedur und Anwendung, zwischen, wie ich gleich sagen werde, Regel und Anwendung, die ein zentrales Motiv der Derridaschen Denkfiguren der Différance und des Supplément ist: weil nämlich die Anwendung konstitutiv für die Regeln, das zu Begründende konstitutiv für den Grund ist. Dieser Zirkularität – Habermas‘ Strudel – entgehen daher, wie mir scheinen will, auch die Regeln eines herrschaftsfreien Diskurses nicht. Wie sehr sich Habermas dieser gesamten Problematik bewusst ist, zeigen seine darauf gerichteten Anstrengungen in, und im Umkreis der Arbeit an, „Faktizität und Geltung“. Spätestens seit „Zur Logik der Sozialwissenschaften“ und dann dem Positivismusstreit ist Habermas sich bewusst, dass Gadamers hermeneutischer Zirkel (Gadamer 1990, 270 ff, 296 ff) allergrößte Bewandtnis weit über den Kreis von Problemen hinaus hat, die einem unter dem Titel „Hermeneutik“ zunächst vor Augen stehen. Es ist zum Beispiel ein „Zirkel, der bei der Anwendung von wissenschaftlichen Gesetzeshypothesen genauso wenig zu vermeiden ist wie bei der Anwendung rechtlicher Gesetzesnormen auf ermittelte Vorgänge. (...) Man kann generelle Regeln nicht anwenden, wenn nicht zuvor über Tatsachen, die sich darunter subsumieren lassen, befunden ist; andererseits können diese Tatsachen nicht vor einer Anwendung jener Regeln als relevante Fälle festgestellt werden.“ (Habermas 1969a, 179) Dieses Relevanzproblem ist nur eines der Probleme, die sich stellen, wenn wir die Allgemeinheit von Regeln und die Situiertheit ihrer Anwendung denken wollen. Und: „Der bei der Applikation von Regeln unvermeidliche Zirkel“ (ebd., 179 f) macht uns, so möchte ich von hier aus fortfahren, nicht nur in Prozessen hermeneutischer Textauslegung, wissenschaftlicher Forschung und der Gesetzgebung und Rechtsprechung zu schaffen, sondern auch
auf allen Gebieten der Entscheidungstheorie, weil jener Zirkel das Modell unterminiert, nach dem wir uns jede (halbwegs rationale) Entscheidung vorstellen: nämlich Regeln – Entscheidungskriterien – folgend, an denen die Vorzugswürdigkeit von Alternativen bemessen wird, von denen wir aber nun sehen, dass deren Sinn erst im Zuge ihrer Anwendung vollends konstituiert wird; daher auf dem Felde der Ökonomie70, weil, was als effiziente Lösung eines Problems zu gelten hat, ebenfalls an Kriterien zu bemessen ist, deren Bedeutung erst in eben jener
70 Für die ökonomische Theorie scheint mir im Übrigen Derridas Analyse der Gabe (1993), prima facie nur für Kulturanthropologen von Interesse, von großer Bewandtnis, weil sie einer Figur sozialer Praxis auf der Spur ist, mit der Ökonomen sich ganz schwer tun, die aber, entgegen erstem Anschein, auch für moderne Ökonomien erhebliche Bedeutung hat: der Figur eines Gebens vor allem Tausch, eines Gebens ohne Blick auf eine Gegengabe. Unten, im 1.
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Anwendung fixiert wird, welche doch durch das Effizienzkriterium determiniert oder orientiert werden sollte; und es ist keineswegs ein Zufall, folgt vielmehr einer dekonstruktiven Logik, dass die Neue Institutionelle Ökonomie, seit sie dessen innegeworden ist, eingesteht, „daß wir inzwischen kein allgemeines und logisch einwandfreies Effizienzkriterium mehr haben“ (Richter, Furubotn 1996, 505, am Ende des weltweit anerkannten Lehrbuchs zur Neuen Institutionenökonomik); auf dem Gebiet der Organisationstheorie, weil Organisationen als reflexiv strukturierte Systeme sozialen Handelns respektive Entscheidens aufgefasst werden, deren formales Regelwerk ebenfalls notwendigerweise eine gewisse, mit Alfred Schütz zu sprechen, Leere aufweist, die erst in situ ge- und erfüllt werden kann (zu alledem Ortmann 1995a; 2003; ferner unten, das 6. Kapitel); in der Politologie, insofern es dort um politische Entscheidungen und um die „Kunst des Möglichen“ geht – was möglich ist, entscheidet sich bekanntlich erst in situ71 –, und weil es vermittels Politik zu Gesetzen und Regulationen kommt, die sich ihrerseits in jenen Zirkel verstricken; auf dem Gebiet der Technikforschung, weil Technik angewendet werden muss und sich in dieser Anwendung, also im Gebrauch, um es mit Michel de Certeau (1988) zu sagen, eine andere, sekundäre, unsichtbare, stumme Produktion ereignet – die Produktion von Anwendungs-, Gebrauchs-, Umgangsweisen, die den Sinn und die Gestalt von Technik miterzeugt/verändert/befestigt (Ortmann 1999; vgl. ferner unten, das Kapitel „Eine stille Produktion“), und auf dem Felde der Sozial- und Gesellschaftstheorie überhaupt, weil alles soziale Handeln sinnhaftes Handeln ist, also in situ gedeutet sein will, und weil es Regeln folgt, deren Konstitution derselben schwindelerregenden, zirkulären Logik gehorcht, von der hier überall die Rede ist. Das Werk Jacques Derridas ist, natürlich nicht von Haus aus, wohl aber in dem Potential seiner Denkfiguren, von großem sozialwissenschaftlichem Interesse.
Das ganze Leben ist ein Strudel der Geschichte, und übrigens befinden wir uns mit unserer Debatte mittendrin, weil wir darin mittels Standards – Regeln – rationaler Argumentation, wissenschaftlicher Seriosität, Validität etc. streiten, die aber erst in der Anwendung problem- und situationsgerecht interpretiert und vollends bestimmt werden können, und die, schlimmer noch, ihrerseits zur Diskussion stehen, also erst Resultat eines Disputs sein können, dessen Voraussetzung sie doch sein müssten. Ein weiterer, besonders wichtiger Fall dieses Strudels, aber nicht der, dem ich mich hier in erster Linie widmen kann, scheint mir Habermas‘ diskursethisches Begründungsproblem
Abschnitt des 15. Kapitels, wird diese Figur am heute so viel beachteten Phänomen des Vertrauens erläutert, dem inzwischen allseits große Relevanz für das Funktionieren von Organisationen, Unternehmungen, Unternehmungsnetzwerken und ganzen Volkswirtschaften attestiert wird. Näheres zum Gabendiskurs bei Ortmann (2004) und Göbel u. a. (2007). 71 „Wir wollen aus der Atomenergie heraus, so rasch wie möglich,“ sagte einmal Rudolf Scharping, weiland Kanzlerkandidat der SPD, „was ja zwei Aspekte beinhaltet: ‚rasch‘ und ‚möglich‘.“ (Die Zeit Nr. 12 vom 18.3.1994, S. 5)
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zu sein – wiederum kein circulus vitiosus, aber ebenfalls ein Fall von Regeln72, deren Sinn erst in der und durch die Anwendung vollends konstituiert und dabei beständig verschoben/ verändert wird. Dass Habermas in dieser extrem komplizierten Lage sein Heil in einer prozeduralen Vernunft sucht, ist meines Erachtens einer der ganz wenigen möglichen Auswege, wenn es überhaupt einen gibt. Eine „vollständig prozeduralisierte Vernunft“ insistiert auf dem Verfahren der Begründung und begnügt sich damit, und das Verfahren stiftet kommunikative Freiheit. „Im Taumel dieser Freiheit gibt es keine Fixpunkte mehr außer dem des demokratischen Verfahrens selber“ (Habermas 1994, 228 f). Es liegt dann aber die Frage auf der Hand, welches Gewicht es hat, dass wir mit diesem Rekurs auf Prozeduren, die ja nichts anderes sind als Regeln73, nur auf höherer Ebene jene unvermeidliche Zirkularität erneut zu durchlaufen haben – die enorm gesteigerten Bemühungen um die Anwendungsproblematik (vgl. auch Günther 1988) bis zu „Faktizität und Geltung“ lassen sich in diesem Lichte verstehen. Wenn aber Habermas‘ gewaltiges Projekt nicht oder nicht ganz zum Ziel führt, brauchen wir Alternativen oder aber Denkfiguren, die sich komplementär zu den Lücken seines Ansatzes verhalten, und es müssten Komplemente oder Supplemente sein, die jene prima facie erschreckende Zirkularität ertragen und verarbeiten können: die Tatsache, dass alles, was geschieht, im Strudel der Ereignisse geschieht. Ich, mit einem durch mein organisationstheoretisches Interesse gegebenen Horizont, interessiere mich also nicht nur und nicht in erster Linie für Habermas‘ Begründungsproblem. Ich sehe vor allem vier Denkrichtungen, die zu Hoffnung Anlass geben: die Phänomenologie auf der Linie von Husserl und Schütz, die Hermeneutik auf den Spuren Gadamers, die neuesten Entwicklungen in der Theorie der Selbstorganisation und der Komplexität und schließlich das Denken Derridas mit seinen bedeutenden Figuren der Différance und des Supplément74. Mittels dieser Denkfiguren radikalisiert Derrida die Einsicht in die nicht bloß abgeleitete, vielmehr in gewisser Weise (mit-)konstitutive Rolle des Lesens gegenüber dem Schreiben, des Rezipierens gegenüber dem Kreieren eines Textes, also des Verstehens von Sinn gegenüber der Sinnsetzung, also auch der, um bei diesem Beispiel zu bleiben, scheinbar sekundären (verständigen, Verständnis erfordernden) Anwendung einer Regel im Verhältnis zu ihrer Setzung. Dass diese Rolle keineswegs bloß derivativ ist, das eben hatte bereits Gadamer – und mit ihm Habermas – gesehen, zunächst am Fall des Verstehens von Texten:
72 Jedenfalls bezeichnet auch Habermas (1983) seinen diskursethischen Universalisierungsgrundsatz als „Argumentationsregel“ (so auch Wellmer 1986, 54), und auch Tugendhat (1997, 167) sieht, „daß die Bedingungen der idealen Sprechsituation (...) die Dignität von Regeln haben.“. 73 Vgl. die Bestimmung Giddens‘ (1984, 21): „rules are procedures of action“. 74 Ich könnte hier fünftens die Giddenssche Strukturationstheorie nennen, die jene Zirkularität mittels der Figur der Rekursivität von Struktur abarbeitet. Einerseits findet sich aber bei Giddens wenig, was über diese allerdings wichtige Figur hinausgeht, andererseits hat Giddens seinen Begriff von Struktur, wie ich gleich zeigen möchte, mit beträchtlichen Anleihen bei Derrida entwickelt, und zwar gerade da, wo dieser Begriff sozialtheoretisch innovativ ist und weitergeführt hat.
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„Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor. Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten.“ (Gadamer 1990, 301) Ich merke en passant an, dass „Produktion“ im Falle von Kannitverstan-Strategien eben auch „Destruktion“ heißen kann. Das scheinbar nur Produzierte wird zum Produzierenden, das scheinbar nur Sekundäre wird zeitweise primär, das scheinbar nur Abgeleitete konstitutiv, das scheinbar nur Supplementäre originär. Das bringt die Logik der Supplementarität zum Ausdruck, die Derrida überall dort aufzuspüren trachtet, wo reine Ursprünge, reine Prinzipien postuliert werden. Man versteht vielleicht, dass ich, von Haus aus Ökonom und daher mit dem Prinzip der Knappheit, dem der Bedürfnisbefriedigung und dem Effizienzprinzip und daher mit den Mühen konfrontiert, diese „Prinzipien“ als institutionelle Hervorbringungen zu erweisen, ein starkes Interesse an dieser Figur habe75. „Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus; Fülle, die eine andere Fülle bereichert (...) Aber das Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von; wenn es auffüllt, dann so, wie man eine Leere füllt.“ (Derrida 1983, 250) Es sei zur Erläuterung gesagt, dass Derrida diese Figur unter anderem an einer RousseauLektüre ausgearbeitet hat, in deren Verlauf er Begriffsoppositionen und -hierarchien wie Natur/Kultur, tierisch/menschlich und Sprechen/Schreiben „dekonstruiert“ hat, nämlich gezeigt hat, wie Rousseau jeweils dem ersten Term die Priorität und den Vorzug gibt und das jeweils letztere als Ersatz des „verlorenen Ursprungs“, als abgeleitet, sekundär und minderwertig darstellt und dann doch als konstitutiv in Anspruch nimmt. Rousseau „verdammt die Schrift als Zerstörung der Präsenz und Verseuchung der Rede“ (Derrida 1983, 245) – und wird Schriftsteller. Er sehnt sich nach der Natur, aber die denunzierte Kultur muss in Gestalt der Erziehung die defiziente Natur ergänzen/ersetzen – ohne indes dass hier die Suche nach Verständnis mit dem Verweis auf performative Selbstwidersprüche abgebrochen würde. An dem Beispiel, das Habermas Zeit seines Lebens und in „Faktizität und Geltung“ so besonders nachdrücklich interessiert hat, dem Verhältnis von Gesetz und Rechtsprechung, hat Derrida dies mit aller Radikalität ausgesprochen: Die um Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit bemühte Entscheidung eines Richters „muß (...) einer Regel unterstehen und ohne die Regel auskommen. Sie muß das Gesetz erhalten und es zugleich so weit zerstören oder aufheben, daß sie es in jedem Fall wieder neu erfinden und rechtfertigen muß (...)“ (Derrida 1991, 47)
75 Vgl. Arthur (1994, 1995a,b) mit einem Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Ökonomik, der mit den resultierenden, unausweichlichen Erwartungs- und Verhaltensunsicherheiten rechnet und sie bearbeitet und nicht mehr an die Möglichkeit der Ableitung optimaler Entscheidungen gebunden ist.
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3. Kapitel: Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte
Sie muss, wie die Juristen sagen, eine „constructive interpretation“ vornehmen und ein „fresh judgement“ sein. Ich möchte daher viertens sagen: Wegen solcher Sätze lohnt es sich, Derrida zu lesen – wegen solcher Sätze und daran anschließender Einsichten in ganz generell höchst bedeutsame Probleme des Entscheidens, eines solchen Entscheidens, das genau dann nötig ist, wenn es unmöglich ist: Eintragungen ins Stammbuch der Entscheidungstheorie, an denen letztere noch lange zu arbeiten haben wird. Wir müssen entscheiden, wir können unsere Entscheidungen auch begründen, aber wir können die „Kluft der Kontingenz“ nicht mittels perfekter Begründungsbrücken schließen. Eben das ist es, was uns eine Entscheidung im emphatischen Sinne überhaupt erst abverlangt – also das, was die Entscheidungstheorie gerade nicht beisteuert. Über das Verhältnis Habermas-Derrida lässt sich nach meinem Eindruck dabei Abschließendes noch gar nicht sagen. Wo das Denken Habermas von einer haltbaren Architektur mit tragfähigen Gründen, Gewölben und Bögen fasziniert ist, da interessiert sich Derrida für das Untergründige und die Spandrillen – die Gewölbezwickel, die Bogenlinien, die Hohlkehlen und die übrigen „nicht gemeinten“ Flächen und Räume in-und-doch-jenseits der Konstruktion; für die Abgründe, Aporien, Unentscheidbarkeiten, die Wirbel und Strudel der großen Arbeit an der Rationalität, aber nicht, um diese Komplikationen zu postulieren oder gar zu feiern, sondern, um sie ernst genug zu nehmen. Habermas arbeitet an Begründung, Derrida an ihren Rissen und Brüchen76. Dann bliebe immer noch offen, ob das Denken beider als Oppositionen oder als Alternativen oder als komplementäre Veranstaltungen zu bestimmen ist, und ich möchte diese Frage hier auch offenlassen77. So oder so nämlich müsste Derridas Denken hierzulande interessieren und könnte die Auseinandersetzung das Denken beider schärfen. Ein Beispiel ist die Aporie, dass die Idee der Gerechtigkeit – als regulative Idee im Sinne Kants (oder Habermas‘) oder auch im Sinne eines messianischen Versprechens (gegen das Derrida 1991, 53, also gleichermaßen Vorbehalte anmeldet, im Gegensatz zu den von Lilla oder Lau verbreiteten On Dits) – mitsamt der ihr inhärenten Unbegrenztheit auf eine Dringlichkeit prallt, die den Horizont des Wissens versperrt: „die Gerechtigkeit wartet nicht“ (Derrida 1991, 53), sie ist immer jetzt geboten – und immer nur überstürzt und versehrt zu haben, und aussichtslos ist der Versuch, den Grad ihrer Versehrtheit an der Elle einer vollkommenen Gerechtigkeit zu ermessen. Gerechtigkeit innerhalb des Rechts ist ein Fall par excellence von Différance und Dekonstruktion. Von der Logik des Supplément und der Figur der Différance nun können wir, um zu meinem besonderen Interesse zu kommen, in der Organisationsforschung einen ausgesprochen fruchtbaren Gebrauch machen78, weil wir es dort mit der Konstellation zu tun haben, dass Organisationen nur funktionieren, wenn ihre Regeln eingehalten werden, dass sie dazu aber interpretiert und angewandt werden müssen, und dass in dieser Anwendung ihre
Für letzteren ist es, zum Beispiel, „schwerer, illegitimer, die (be)gründende Gewalt zu kritisieren, da sie nicht vor die Institutionen eines schon bestehenden Rechts geladen werden kann“ (Derrida 1991, 87). 77 In dem von Harry Kunnemann und Hent de Vries (1993) herausgegebenen Sammelband über „Encounters between Critical Theory and Contemporary French Thought“ werden dazu verschiedene Vorschläge gemacht: Komplementarität, Schnittpunkt im Unendlichen, Juxtaposition und „stretching Habermas“. 78 Das beginnt erst, mit immerhin schon ersten Resultaten; vgl. zum Beispiel Arrington, Francis (1989), Cooper (1989), Chia (1994; 1996), Ortmann (1995a), Vaassen (1996), Hatch (1997), Ortmann (2003; 2004). 76
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Modifikation, Umgehung, Uminterpretation, Ergänzung, Ersetzung, ja, ihre Pervertierung jederzeit möglich bleiben und je nach Situation auch realisiert werden muss, wenn die Organisation funktionsfähig bleiben soll – und dies in Grenzen, die aber a priori unbestimmt und unbestimmbar sind. Regeln und Effizienzkriterien können wir nur an-wenden in einem Zugriff, der sie je schon wieder modifiziert und verschiebt (Ortmann 2003). Die Geschichte der Organisationen und der Organisationstheorien ließe sich als Geschichte der Unterminierung und Supplementierung des Effizienzprinzips schreiben – mangels vollkommener Information arbeitet man mit vereinfachten inneren Modellen der Umwelt, mit rule following (statt Optimierung), mit Nachahmung, mit Hypokrisie, mit cost cutting, und, heutzutage in immer schnellerer Folge, mit wechselnden, den Fokus beständig verschiebenden und verändernden Managementmoden – Computer Integrated Manufacturing, Lean Production, Business Reengineering, Knowledge Management, um nur einige zu nennen. Und es wächst die Klarheit über die Unweigerlichkeit von Regelverletzungen in Organisationen, von Niklas Luhmann schon 1964, wenn auch noch eher als Kuriosum am Rande, aber bereits mit großer Umsicht, als „brauchbare Illegalität“ analysiert (Luhmann 1964/1995, 304 ff). In den Worten Erhard Friedbergs, eines der weltweit scharfsinnigsten Organisationstheoretiker: „Die Regulierung, die durch die Formalstruktur erreicht wird, ist (...) nie vollständig. Sie ist ständig überrollt von Praktiken, die die in ihr enthaltenen Vorschriften nicht einhalten. Durch diese Praktiken versuchen die Beteiligten je nach ihrer Wahrnehmung der Zwänge wie der Ressourcen der Situation, die Prägnanz des formalen Rahmens anzuknabbern und dessen Gültigkeit79 zu verschieben oder zu begrenzen, ja sogar die theoretischen Abläufe vollkommen auf den Kopf zu stellen (...)“ (Friedberg 1995, 145) Es ist dieses Verschieben, Verzeitlichen und Anderssein (das Friedberg hier für das Verhältnis formaler Regeln und organisationaler Praxis postuliert, das sich aber auf das Verhältnis aller gesellschaftlicher Konventionen, Normen und Werte zur gesellschaftlichen Praxis beziehen lässt), für das Derrida den Titel différance ersonnen hat. Wie Jean-Pierre Dupuy (1991, 94) in einem Beitrag mit dem Titel „Zur Selbst-Dekonstruktion von Konventionen“ gezeigt hat, bedeutet dies, dass für jedwede soziale Ordnung gilt, „daß Ordnung die Krise, die sie bedroht, einschließt“ – ihre mögliche Umkehrung, Negation, Verletzung oder Zerstörung. („Einschließen“ in dem doppelten Sinne von: die Verletzung der Ordnung „in sich selbst enthalten“ und „unter Kontrolle halten“.) Damit stellt sich, am Falle von Organisationen, am Falle von Gesellschaften, in ganzer Schärfe jenes Problem, das auch Habermas umtreibt: die Frage, wie dann ihre Integration gedacht werden kann. Ich kann hier nur noch erwähnen, dass Dupuy Lösungen andeutet, die um das Problem jener grundlegenden Unentscheidbarkeit und doppelter Kontingenz kreisen, die entsteht, „wenn ein jeder einen jeden nachahmt“ (Dupuy 1991, 99). Das nenne ich: Von Derrida aus, mit ihm, ab einem bestimmten Punkt vielleicht auch: gegen ihn, weiterdenken. Natürlich ist das nur eine Leseart, nur eine Umgangsweise mit Derrida. Unter Rekurs auf die jüngere Theorie iterativer Spiele (Kreps u. a. 1982, Kreps, Wilson 1982) und 79
Habermas würde sagen: dessen faktische Geltung.
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auf eine ähnliche Denkfigur in Keynes‘ General Theory of Employment (1937) lässt sich zeigen, dass in krisenhaften Situationen – wenn auf Konventionen beruhender Konsens nicht für stabile Ordnung sorgt – Trajektorien mit allerdings nur prekärer Stabilität entstehen können: „Dank Keynes verstehen wir, wie eine konventionelle Ordnung funktioniert, die das Prinzip ihrer eigenen Auflösung einschließt. Bei Keynes80 ist dies kein Paradoxon mehr, da ein Mechanismus in der Lage ist, dies hervorzubringen.“ (Dupuy 1991, 99) An anderer Stelle (Dupuy, Varela 1991) wird die Idee der Nachahmung unter Rekurs auf René Girards Hypothese der Mimesis des Begehrens als des ursprunglosen Ursprungs von Gesellschaft und Gewalt in dieser Weise durchdacht – mit der These, dass Girard (z. B. 1992a) eine Art von Theorie darbietet, welche die Beize dekonstruktiver Logik aushalten und verarbeiten kann. Habermas ist an dieser Stelle auf die Frage der normativen Bedingungen von Verständigung und deren Begründung konzentriert. Das bleibt allemal wichtig, und Habermas‘ Weg der Begründung ist gewiss viel systematischer durchgeführt im Vergleich zu Derridas, der ja, im kritischen Rekurs auf Lévinas, über die Beziehung zum Anderen führt. Aber ich interessiere mich für die Frage der Integration jenseits solcher Aspekte, und ich glaube, dass es da noch vieles zu verstehen gibt, das wir bisher nicht verstanden haben. Das betrifft eben besonders die Frage der Genese (und sodann auch der faktischen Geltung) von Regeln, also auch: Normen – ein Desiderat der Soziologie, das man wohl kaum als zweitrangig wird bezeichnen können; das mit Rationalismen à la Coleman oder, in evolutionstheoretischer Wendung, von Hayek wohl kaum schon als zur Zufriedenheit gefüllt gelten kann; und zu dessen Bearbeitung wir uns ganz gewiss dem zuwenden müssen, was dem instruktiven Sammelband von Varela und Dupuy (1992) seinen Titel gegeben hat: „Understanding Origins“. Von Dupuy können wir lernen, dass wir in der Frage der Integration von Organisationen81 und Gesellschaften uns nicht zu sehr auf Normen und Werte konzentrieren sollten, die ja einerseits immer der Selbst-Dekonstruktion ausgesetzt sind, die aber andererseits durch funktionale Äquivalente ergänzt/ersetzt werden können, für die wir uns ebenfalls interessieren sollten – für sie und für ihr Verhältnis zu einem normativ eingespielten Kon80 Gemeint ist Keynes‘ Theorie der Finanzspekulationen, für die Keynes das folgende Spiel als Metapher gefunden hat: Jeder Spieler soll eine Reihe von Objekten nach Präferenzen für diese Objekte sortieren, aber nicht nach den eigenen, vorab feststehenden, sondern nach den als Durchschnitt der jeweiligen Vorlieben aller Spieler erwarteten Präferenzen. Dieser Durchschnitt ergibt sich natürlich erst als Resultat der Entscheidung aller Mitspieler und steht nicht vorab fest. Das führt mitten in die Zirkularität doppelter Kontingenz – in eine grundlegende Unentscheidbarkeit. Keynes zeigt nun, wie es in dieser Situation – jeder muss sich in die Lage des anderen versetzen und wissen, dass die anderen genau dies auch tun – eine Entscheidung geben kann, als Ergebnis konventioneller Einschätzungen. Finanzspekulationen, aber, viel allgemeiner: alle sozialen Interaktionen unter doppelter Kontingenz können in Trajektorien – Flugbahnen – von gewisser, allerdings prekärer Stabilität einmünden (Keynes 1937). Fast zeitgleich zum Problem wechselseitiger Erwartungsbildung: Morgenstern (1935/1968); für eine komplexitätstheoretische Simulation der Dynamik von Aktienmärkten: Palmer u. a. (1994). „To summerize all this: if we look at a serious branch of economics, the theory of capital markets, we see (...) indeterminacy. Agents need to form expectations of an outcome that is a function of these expectations. With reasonable heterogeneity of interpretation of ‚information‘, there is no deductive closure. The formation of expectation is indeterminate.“ (Arthur 1994, 5) Man bedenke das Verallgemeinerungspotential dieser Figur, nicht nur innerhalb der Ökonomie, nämlich über Kapitalmärkte hinaus, sondern auch für soziales Handeln überhaupt, das doppelte Kontingenz in hohem Maße über Erwartungen abarbeitet – Erwartungen von Ergebnissen, die ihrerseits eine Funktion eben jener Erwartungen sind. Der Ausgang wird durch die Verkettung differentieller Erwartungen bestimmt. 81 Vgl. zur Übertragung der Idee Dupuys auf Organisationen und Organisationstheorie Ortmann (2003).
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sens. (In Habermas‘ Terminologie: Die „Bürde der sozialen Integration“ muss nicht und kann nicht allein und auch nicht überwiegend von den „Verständigungsleistungen von Aktoren“ getragen werden, so unverzichtbar diese bleiben; Habermas 1994, 43.) Nachahmung ist ein solches Äquivalent – und, wie ich glaube, ein stark unterschätztes. Es ist deshalb so wichtig, weil die Orientierung an eingespielten Normen ihrerseits eben jener Derrida-Dupuyschen Selbst-Dekonstruktion unterliegt, was ja bedeutet: Wie eigentlich Normen angewandt und dabei verlässlich eingehalten werden können, wenn dazu ihre situationsgemäße Abwandlung und Verletzung immer möglich sein und immer wieder Wirklichkeit werden muss, dies aber in Grenzen, die sich a priori nicht bestimmen lassen, das ist ganz und gar unklar. Hier, glaube ich, spielt Nachahmung ihre stille, verschwiegene Rolle. „In einem Kontext radikaler Ungewissheit ist es für die Agierenden vernünftig, das zu tun, was die anderen tun.“ (Dupuy 1991, 99) Nun, vielleicht nicht immer vernünftig, wohl aber: naheliegend. Ich füge nur hinzu: In jeder Situation herrscht Ungewissheit. Dupuys Idee muss daher von ihrer Engführung auf den Fall der Krise befreit werden. Auch in den andauernd auftretenden Fragen, was Regelverletzung in situ heißt, welche Abweichungen noch als akzeptabel gelten, wann Regelverletzungen toleriert und wann sie sogar gefordert82 sind, orientieren wir uns in mimetischer Einstellung an den anderen. Die Theorie iterativer Spiele und die Komplexitätstheorie83, mit ihren zentralen Konzepten der Selbstorganisation, des Chaos und der „Ordnung am Rande des Chaos“, also mit ihrer Neufassung des Verhältnisses von Ordnung und Krise, haben inzwischen ein gedankliches Instrumentarium bereitgestellt, mittels dessen sich die dann auftretenden Fragen bearbeiten lassen. Meine These ist: Darin ist die Komplexitätstheorie dem Denken Derridas erstaunlich nahe, das ebenfalls große Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von Unentscheidbarkeit, Entscheidung, Chaos und Konventionen zeigt, dafür, dass Entscheidungen, die doch Regeln folgen müssen (und nie ganz können), die Funktion und den Effekt haben, „den Abgrund zu verbergen oder den Mangel an Begründung zu stoppen, um so einem Chaotisch-Werden in dem, was man Konventionen nennt, stabilisierend entgegenzuwirken“. (Derrida 1994a, 410) Genau hier – angesichts dessen, was Derrida (1994a, 412) „Ordnung auf der NichtGrundlage eines Chaos (Abgrund und offener Mund)“ nennt – hilft die Komplexitätstheorie weiter84. Sie tut das auf eine Weise, die der Verdinglichung der sozialen Systeme namens ‚Organisationen‘ durch Temporalisierung entgegenarbeitet, und die zugleich zu verstehen hilft, wie es angesichts jener Unentscheidbarkeiten gleichwohl möglich ist, vom Fleck zu kommen. Es bilden sich, um es in einem Satz zusammenzufassen, über small events – zufällige Ereignisse – angestoßene und über doppelt-kontingentes Handeln, unintendierte Folgen, systemische Imperative, Rückeinspeisung und Selbstverstärkung stabilisierte, selbsttragenFür ein Fallbeispiel aus Organisationen: Bensman, Gerver (1963). Vgl. Kauffman (1991; 1993; 1995); Lewin (1993); Waldrop (1993); Holland (1995a; 1995b); für die ökonomische Theorie: Anderson u. a. (1988); Arthur u. a. (1997); für einen Überblick einschließlich einer strengen Erörterung der Übertragbarkeit auf die Sozialwissenschaften Kappelhoff (2000). 84 Dieses Ergänzungsverhältnis erklärt auch die Merkwürdigkeit, dass für mich zu den ganz wenigen lesenswerten Arbeiten über Marx seit langen Jahren eine dekonstruktive (Derrida 1996) und eine, in meiner Terminologie, komplexitätstheoretische Re-Lektüre zählen, prima facie sehr verschiedene Lesarten, die einander aber ergänzen können; zu letzterer vgl. Peter Weise (1998), der als bewahrenswert besonders die Idee der Selbstorganisation kapitalistischen Wirtschaftens nennt. 82 83
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de pfadabhängige Trajektorien der Normenbefolgung und -verletzung und also der (Re-) Konstitution von Normen – welche Ironie des Schicksals, dass mir das Anschauungsmaterial für diese „path dependency“ von der Debatte selbst beschert wird, in der die Standards argumentativer Auseinandersetzung auf akkurat diesem Wege zu verfallen drohen. Dass Theorie selbst in diese Prozesse hineingerät, können wir meines Erachtens nicht ablehnen oder abwehren, sondern müssen es reflektieren – und geraten dann in jene „Gödel-Strudel“ (Hofstadter 1985, 760 ff) der Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexivität, die Douglas Hofstadter (s. a. 1991) so faszinieren.85 Das alles setzt, nota bene, Habermas‘ Projekt der Begründung der Gültigkeit – im diskursethischen Sinne – von Normen nicht von der Tagesordnung, wirft aber eine riesige Anzahl von Fragen auf. Es ist nicht eine Luhmannsche Abstinenz von allen normativen Fragen, der ich hier das Wort rede86, schon gar nicht von Fragen der Rolle von Normen im Gegenstandsbereich, in der sozialen Welt. Aber wir müssen über Alternativen und, im günstigeren Fall, über Ergänzungen zum Habermasschen Projekt nachdenken – darüber, was Gültigkeit von Normen „am Rande des Chaos“ noch heißen kann. Derridas Denken bietet die erforderliche Radikalität und eine Fülle überraschender, scharfsinniger Denkfiguren, um von hier aus weiterzudenken. „Wer mir Dekonstruktion ans Herz legt und auf Differenz besteht,“ hat Hans-Georg Gadamer (1993, 372) seine Erörterung Derridas abgeschlossen, sichtlich beeindruckt, aber nicht überzeugt, „steht am Anfang eines Gesprächs, nicht an seinem Ziele.“ Das ist ein Wort. Es wäre der Anfang eines Gesprächs, von dem die Abgesänge tönen und schon immer getönt haben: „vergebliche Liebesmüh“. Dagegen wende ich mich. Derridas Gedankenreichtum zu verschleudern oder am Wegesrand liegenzulassen, das sollten wir uns nicht leisten – schon gar nicht, weil ein small event namens Sokal‘s hoax einen selbsttragenden, selbstverstärkenden Prozess ermutigt hat, an dessen vorläufigem Ende die sonst so kritische Gemeinde sich in der Beurkundung eines Todes so verdächtig einig ist.
85 In der Welt dieser Reflexion auf Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexivität (dazu auch Giddens 1979, 75 f) erwarten uns viele fruchtbare Konzepte: seltsame Attraktoren (Hofstadter 1991, besonders 383 ff, 404 ff; vgl. auch Luhmann 1993, 354 f), selbstreplikative Strukturen (Hofstadter 1991, 53 ff), Reflexionen über die Reflexivität im Rechtswesen (Hofstadter 1985, 737 ff; 1991, 75 ff); bootstrapping (Hofstadter 1985, 315 ff), Rekursivität (Hofstadter 1985, 137 ff; 1991, 435 ff, 453 ff), Reflexionen über Entscheidung (Hofstadter 1991, 90 ff) und Unentscheidbarkeit (Hofstadter 1985, 470 ff; 1991, 519 ff) und vieles andere, das wir in unserem Zusammenhang gebrauchen können. 86 Vgl. für meine Haltung vorläufig: Ortmann (1995a, 226-252), ferner (2003); zum Verhältnis von Dekonstruktion und Ethik im übrigen Gondek (1993) und die dort genannte Literatur; für eine verständnisvolle, kritische und verständliche Erörterung der Gerechtigkeitskonzeption Derridas am Beispiel des ersten Mauerschützenurteils des Bundesverfassungsgerichts vgl. Reinhardt (1998).
4. „Postmodernes“ Denken und neoliberale Politik Habermas in organisationstheoretischer Lesart 4. Kapitel: „Postmodernes“ Denken und neoliberale Politik
In einem Beitrag über „Globalization Critics vs. Free Trade Theory“ erweisen sich Andreas Georg Scherer und William McKinley (2007) darin als getreue Schüler Habermas’, dass sie dem „postmodernen“ Denken – sie nennen die Namen Lyotard, Derrida und Rorty, siehe aber oben, Fußnote 43 – eine Affinität zu den Freihandelstheoretikern attestieren, die bekanntlich die Öffnung der Märkte und – in ihrem harten Kern – die Befreiung von sozialen und ökologischen Standards als Heilmittel für die Dritte Welt empfehlen. Kaum verhüllt enthält dieses Attest den Vorwurf, neoliberaler Politik Schützenhilfe zu leisten – für Habermas die größte Sorge, der größte anzunehmende Sündenfall der Philosophie und der Sozialwissenschaften, soweit es um politische Implikationen geht. Der philosophie- oder theorieimmanente Sündenfall, der dafür verantwortlich gemacht wird, heißt: Relativismus. Dazu habe ich im 3. Kapitel bereits einiges gesagt, komme darauf aber noch einmal zurück. Was nun die Nähe zum Neoliberalismus betrifft, so ist es von Interesse, auch dieses Argument näher in Augenschein zu nehmen. Das tue ich mit Blick zuerst auf Scherer und McKinley, dann auf Habermas selbst. Nur ungern unterziehe ich einen Beitrag einer öffentlichen Kritik in gedruckter Form, der (bisher) nur als Arbeitspapier vorliegt, also noch den Status der Vorläufigkeit beanspruchen darf. Allerdings ist das Papier nicht nur auf dem Workshop der Kommission ‚Organisation’ des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (München, März 2007), sondern auch, zwei Jahre zuvor, auf der jährlichen Konferenz der höchst renommierten Academy of Management (Honolulu, August 2005) öffentlich präsentiert worden. Von McKinley liegt ferner ein publizierter Beitrag vor, der in Sachen Postmoderne-Kritik auf der gleichen Linie liegt. (McKinley 2003) Habermas hat eine Nähe zwischen Postmodernismus und Neoliberalismus in Die postnationale Konstellation (1998) selbst behauptet und damit die Vorlage und die Autoritätsinstanz beschert, auf die man sich berufen kann. Deswegen und weil diese Kritik sich eines Beifalls sicher fühlen darf, der sich aus dem im 2. und 3. Kapitel beschriebenen und erklärten Affekt speist, scheint mir die folgende Erwiderung als legitim und dringlich. Einige der folgenden Thesen zu Scherer und McKinley habe ich auf der Tagung der Kommission ‚Organisation’ in München 2007 vorgetragen.
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Freihandel und „Postmoderne“
1 Freihandel und „Postmoderne“ 1. Scherers und McKinleys Beitrag operiert an drei Fronten: an der zu den free trade theorists, an der zu den so genannten postmodernen Denkern und an der – man könnte sagen: institutionen- und organisationssoziologischen – Forschungsfront in Sachen Globalisierung und Entwicklung multinationaler Unternehmen in Richtung auf einen (ideologischen und praktischen) Sieg sei es der Globalisierungskritiker, sei es der free trade theorists.
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4. Kapitel: „Postmodernes“ Denken und neoliberale Politik
2. Zu letzterer Frage steuern die Autoren – gestützt auf die neo-institutionalistische Soziologie (u. a. Meyer/Rowan 1977, DiMaggio/Powell u. a. 1983) – die Idee bei, die Rolle der Ideologien und ideologischer Konflikte einzubeziehen. Das ist aus meiner Sicht eine sinnvolle, aus Sicht der in Anspruch genommenen Soziologie eine geradezu selbstverständliche Forderung. Daß es sinnvoll wäre, hier mit einem Sieg der einen oder aber anderen Seite zu rechnen, darf allerdings bezweifelt werden. Darauf gehe ich nicht näher ein. 3. Die Gebote immanenter Kritik – „Die wahrhafte Widerlegung muss in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst anzugreifen und da recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht“ (Hegel 1969, 250) – lassen die Autoren schon gegenüber den free trade theorists außer Acht, an ihrer zweiten Front. Die Widerlegung der free-trade-Argumentation – notwendig, aber schwieriger als man denken könnte, und: für alles Weitere folgenreich – führen sie nicht durch, deuten sie nicht einmal an, sondern setzen sie voraus und munitionieren diese ihre Position vorzugsweise mit suggestiven Zitaten à la The Economist: „The proper business of business is business. No apology required.“ (S. 15) Der Moral bedarf es nicht. Mandeville lässt grüßen. Aber der Economist ist wohl kaum der Umkreis der argumentativen Stärke des Gegners. Die free trade theorists tragen aber Argumente vor. Scherer und McKinley erwähnen sie auch, gehen aber nicht argumentativ darauf ein. Das schiene mir allenfalls gerechtfertigt als Konzentration auf die Ideologen und Ideologien unter Absehung von deren argumentativer Substanz. Ich glaube nicht, dass Wissenschaft und Ideologie so voneinander geschieden werden können. Auch wer von Ideologien handelt, muss von deren Substanz handeln, weil das Ideologische an ihnen ja erst in ihrem Überschuß über diese argumentative Substanz besteht. Der zwanglose Zwang des schütteren Arguments reicht nicht. Er reicht auch nicht an der dritten Front. 4. Als dritte Front haben Scherer und McKinley die so genannten Postmodernen aufgebaut. Sie – die oben Genannten – werden durchweg in die Nähe der Economist-Position gerückt, und das nenne ich „außerhalb ihrer selbst angegriffen“. Scherer und McKinley „behalten da recht, wo die nicht sind.“ Tatsächlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, der Angriff müsse so merkwürdig und heftig ausfallen, nicht, weil die Angegriffenen so weit entfernt, sondern weil sie den insistenten Kritikern so nahe sind; als müssten letztere die Derrida, Lyotard et al. in einen Bruderzwist verwickeln, in dem sie am Anderen etwas bekämpfen, dem sie sich gefährlich nahe fühlen: das Gespenst des Relativismus. (Habermas’ Einsicht in die Kontextrelativität der Lesart von Texten habe ich ja in 2.3 zitiert.) Als müssten sie dieses Gespenst so heftig bekämpfen, um sich auf diese Weise in sichere Distanz dazu zu bringen. Im Einzelnen: 5. Die Kritisierten sind nicht einmal in der Nähe der ihnen ohne jeden Beleg unterstellten Position zu Globalisierung und Freihandel – weder Lyotard noch Derrida noch (der nicht hier, aber bei McKinley 2003, 204 mit angeführte) Foucault, der ein gewaltiges Spätwerk wider den Neoliberalismus hinterlassen hat. Derrida, der nicht mit einem einzigen Zitat, mit auch nur einer Aussage zu Wort kommt, hat ein vollkommen unmissverständliches 10-Punkte-Programm gegen Deregulierung, gegen den verbesserungsbedürftigen Zustand des internationalen Rechts etc. formuliert (1996, 132 ff). Lyotard hat sich, auch und gerade mit
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Blick auf das Problem der Dritten Welt, entschieden gegen Neo-Liberalismus und Neo-Konservatismus – „verlogen und plump“ (1986a, 40) – ausgesprochen. Er hat auch die von Scherer und McKinley (2007, 18) als Beleg für seine suspekte Posititon zitierte Passage, der zufolge die Normativität der Gesetze heutzutage durch performance-Kriterien abgelöst würde, selbstverständlich nicht als Postulat, sondern als kritische Zustandsbeschreibung verfasst. Scherer und McKinley insinuieren das Gegenteil. Und es ist noch schlimmer. Scherer und McKinley schreiben (S. 18): „Lyotard (1984: 46 - 47) has effectively summarized this orientation in the following passage: ‚ ... in postindustrial societies the normativity of laws is replaced by the performativity of procedures. ’Context control’, in other words, performance improvement won at the expense of the partner or partners constituting that context (be they ‘nature’ or men) can pass for a kind of legitimation.’“ (Auslassung von Scherer und McKinley) So wird Lyotard diese ersichtlich zynismusnahe Position zugeschrieben. Aber hat er das gesagt? Nein. Gesagt hat er, ich zitiere die deutsche Ausgabe (Lyotard 1986, 137): „So glaubt Luhmann“ (Hervorh. G. O.), und dieser Anfang fehlt bedauerlicherweise, befremdlicherweise in Scherers und McKinleys Zitierweise, „in den postindustriellen Gesellschaften die Ersetzung der Gesetze durch die Performativität der Verfahren festzustellen.“ (In der von Scherer und McKinley zitierten englischen Version: „This lead Luhmann to hypothesize that in postindustrial societies the normativity of laws is replaced by the performativity of procedures.“ (Lyotard 1984, 46; Hervorh. G. O.) Nicht Lyotard, wie Scherer und McKinley insinuieren, hat es gesagt, sondern Luhmann, und Lyotard berichtet davon – in ersichtlich kritischer Absicht: „Das wäre“, so lautet sein Kommentar, „eine Legitimierung durch das Faktum.“ Und: „So nimmt die Legitimierung durch die Macht Gestalt an.“ (Ebd., 138) 6. Um ihrer, soweit es die in Anspruch genommenen Autoren betrifft, abwegigen These – „the affinity between free trade theory and postmodernism potentially increases the credibility of free trade theory“ (S. 15) – wenigstens rhetorisch einen Anschein von Plausibilität zu verschaffen, wählen sie hauptsächlich ein einfaches Mittel. Wenn sie auf die free trade theory zu sprechen kommen, heften sie ihr regelmäßig das Etikett „postmodernized“ an und behaupten ab und zu, ihre Vertreter „dekonstruierten“ dieses oder jenes (zum Beispiel die Menschenrechte, S. 1, den UN Global Compact, S. 15) – womit die Nähe zu Derrida belegt wäre? Nun lässt sich ein Philosoph, der weiter von Mandeville entfernt ist als Derrida, schwerlich denken. Mit anderen Worten: Weiter als Scherer und McKinley kann man mit einer Kritik seinen Gegenstand kaum verfehlen. Derrida kritisiert denn auch nicht die Menschenrechte, wie von Scherer und McKinley suggeriert wird, sondern moniert die „Hypokrisie, die in ihrer formellen oder juridischen Rhetorik der Menschenrechte immer himmelschreiender wird.“ (Derrida 1996, 132) Er kritisiert darüber hinaus jene eurozentristische Selbstgerechtigkeit, die anderen Kulturen, anderen Gesellschaften ohne Ansehen historischer und situativer Umstände die eigene Auffassung positiv fixierter universeller Rechte
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und Pflichten aufzuherrschen sich berechtigt sieht. Muss man an hypokritische Corporateconduct-Selbstverpflichtungen oder an George W. Bush erinnern, um zu fragen, ob Scherer und McKinley diese Kritik nicht teilen? 7. Lyotards These vom Ende der Meta-Erzählungen ist ein besonderer Dorn im Auge der Autoren, weil sie, immer ihrer fixen Idee folgend, die „Postmodernen“ der Todsünde wider die Menschrechte zu zeihen, ihrerseits ein „metanarrative of universal human rights“ (Scherer/McKinley 2007, 12) postulieren, das zu kritisieren jener Sünde gleichkomme. Dass Lyotard (1989, 147 f) „Respekt vor den Menschrechten“ unmissverständlich mit der Pflicht gleichgesetzt hat einzugreifen, wenn die elementaren Freiheitsrechte gefährdet sind, und dass er es absolut verurteilt, diese Rechte nicht zu respektieren (ebd., 141), irritiert unsere Kritiker nicht. An der These vom Ende der grands écrits kann man natürlich Zweifel haben. Ich selbst halte sie für stark übertrieben – allerdings nur in der entstellten Version, die davon kolportiert zu werden pflegt. Wieder lohnt ein Blick auf das, was Lyotard selbst sagt. Zunächst muß man sehen, dass er „die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen“ wiederum nur referiert, nicht etwa postuliert. Und er referiert sie als „Resultat des Fortschritts der Wissenschaften“, die „von Beginn an in Konflik mit den Erzählungen“ gestanden hätten (Lyotard 1986, 13 f). Das entspricht doch wohl dem herrschenden common sense? Zweitens aber meint er mit dem Begriff der Metaerzählung eine Erzählung, „die eine Geschichtsphilosophie impliziert“ und auf dem Wege einer „Legitimierung des Wissens“ zu einer Legitimation auch von Institutionen, am Ende: zur Legitimation von Macht durch Effizienz führt (ebd., 14 f), und dem gilt allerdings seine Kritik. Mit anderen Worten: Lyotards (viel behutsamere) These vom „Veralten des metanarrativen Dispositivs der Legitimation“ (ebd., 14) enthält gerade einen kritischen Stachel wider affirmatorische, ideologische Gehalte solcher Meta-Narrative, deren bis heute wirkmächtigste übrigens Mandeville mit der Bienenfabel geliefert und deren moderne Version Donald McCloskey (1990, 1) so erzählt hat: „Once upon a time we were poor, then capitalism flourished, and now as a result we are rich.“ Gegen solche Meta-Erzählungen schreibt Lyotard an – der Vermutung folgend, alle großen Erzählungen dieses Kalibers enthielten einen ideologischen Überschuss, der einem Missbrauch Vorschub leiste. Er ist auch in diesem Punkt nicht da, wo Scherer und McKinley ihn angreifen87. 8. Das alles ist stark an Habermas orientiert. Habermas’ und Scherer/McKinleys zentraler Vorwurf ist: Relativismus. Aber: 8a. Die Einsicht in Relativität ist nicht Relativismus. 8b. In Sachen universeller ethischer Prinzipien vorsichtig oder skeptisch zu sein, ist keine Sünde. 8c. Es gilt nicht: „Habermas’ Universalismus oder Neoliberalismus, tertium non datur.“ Dazu nun mehr. 9. Wer philosophisch aus Erlangen kommt, der sollte Habermas nicht so umstandslos als Maß der Dinge präsentieren. War ihm nicht gestern noch aus dem Lager des Erlanger
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S. dazu auch die abgewogene Einführung Walter Reese-Schäfers (1989) in das Werk Lyotards.
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Konstruktivismus ein naturalistischer Fehlschluß angekreidet worden? Wie traurig auch, mit anzusehen, dass mit Andreas Scherer ausgerechnet einer der beiden Herausgeber eines in Sachen ‚Relativismus’ höchst differenzierten Sammelbandes, Zwischen Universalismus und Relativismus (Steinmann, Scherer 1998), seinerseits den Relativismus-Vorwurf wie eine Keule handhabt, wenn es gegen die Lyotard, Derrida et al. geht: eben jenen Relativismus-Vorwurf, den sich Steinmann und Scherer selbst aus dem Lager der Diskursethiker für ihre vermittelnde Position sogleich eingehandelt haben („relativistische Kulturalisten“, „kriterienlos“, „dialogvergessen“, „strengenommen keine sinnvollen Äußerungen“; Böhler 1998, 132, 135, 141) – für eine Position, die stark von Kambartels Wittgenstein-Rezeption und einer resultierenden Umarbeitung der Ethik Erlanger Provenienz beeinflußt ist (Kambartel 1989; 1998a; 1998b). Die zitierte Tonart hebt sich unangenehm von der zwar ebenfalls kritischen, aber doch jederzeit respektvollen Behandlung ab, die Karl-Otto Apel (1998, 459 ff , 609 ff) Wittgenstein selbst und auch dem post-wittgensteinianischen Philosophieren eines Peter Winch angedeihen läßt. Es ist nun, als ob Scherer der Versuchung nicht widerstehen konnte zu zeigen, dass er in der Hierarchie der Relativismus-Verdächtigen nicht ganz unten steht – der Versuchung, mit dem Finger auf andere zu zeigen, von denen man sich auf diese Weise angenehm abheben kann. Statt in dieser Manier diskursethische Selbstgerechtigkeiten à la Böhler – man kennt sie auch von Karl-Otto Apel88 – zu reproduzieren und weiterzureichen, hätte man ja auch standhalten und etwa zurückfragen können, ob die zitierten, in autoritativstem Ton vorgetragenen Verdikte nicht ein Fall eben jener performativen Selbstwidersprüche sind, die Böhler (1998, 135 f) anderen, hier: Steinmann und Scherer, so ungebrochen vorwerfen zu können glaubt. Immer wieder lehrreich ist es ja zu sehen, wie schnell diesen Diskursethikern der diskursethische Geduldsfaden reißt und der Ton, den sie anschlagen, rauer und autoritärer wird – wie schnell ein herrschaftlicher Ton die herrschaftsfreie Musik machen soll, aber zum Performativ des Abkanzelns gerät. „Leicht“, habe ich in Regel und Ausnahme (Ortmann 2003, 288) dazu geschrieben, „wäre das Bild einer Kaskade abgestufter, differentieller, jeweils nach unten oder oben verschobener Bezichtigungen zu entwerfen, mit Apel und seinen Mitstreitern auf einsamen universalistischen Höhen und Derrida auf angeblich kontextualistischem Tiefstand. Von oben nach unten lautet die pejorative Einordnung dann: Relativismus, von unten nach oben: Rigorismus. Kambartel, mittendrin, fühlt sich von Relativismusvorwürfen nachgerade denunziert, zögert aber seinerseits nicht, von ‚postmodernen Renegaten der Aufklärung’ (1998b, 215) zu sprechen.“ Wie beängstigend ferner der Gedanke, es handele sich hier vielleicht gar nicht um eine Hierarchie, sondern um einen Kreis, in dem wir alle aufeinander mit dem Finger zeigen, etwa, weil Apels transzendentalpragmatischer Universalismus mit der Figur des herrschaftsfreien Diskurses womöglich nur eine Leerstelle bezeichnet, die ihrerseits auf „relativistische“ (Er-)Füllung jederzeit angewiesen bleibt. 10. Derridas Ethik ist nicht nur nicht relativistisch, sondern – in ihrem Rekurs auf Lévinas und auf einen unausweichlichen, absoluten „Anspruch des Anderen“ – mir persönlich eher zu absolut und rigide, jedenfalls vorbehaltlich differenzierender Erläuterungen.
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Dazu Ortmann (1995, 229 f).
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Nicht jeder, der gegen eine Prinzipienethik Bedenken hat, ist – schon deswegen – ein Relativist. Steinmann/Scherer selbst sind ja in dem erwähnten Sammelband um eine Ethik bemüht, die ohne Prinzipien als Fundament auskommt, auf den Spuren eines wittgensteinianisch modifizierten Erlanger Konstruktivismus. Weitere Alternativen in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband: Harald Wohlrapps (1998) Suche nach einem transkulturellen Argumentationsbegriff sowie Geert-Lueke Luekens (1998) pragmatistische Begründung einer „Relativität ohne Relativismus“; ferner zu nennen: Jonathan Dancys Ethics without Principles (2004); ganz anders: Bernhard Waldenfels’ responsive Phänomenologie und Ethik (1994); oder, noch anders: Ernesto Laclaus Konzept einer (notwendigen) Universalität, die – siehe unten – nicht a priori als Prinzip gegeben ist, sondern eher wie ein unabschließbarer Horizont differentieller Identitäten und partikularer Kontexte (Laclau 2002). Sie alle verdienen: Respekt. Den sollten sie, die einander in ihrer Skepsis gegenüber ethischen Prinzipien so nahe sind, sich zumindest untereinander zollen, anstatt sich in ihren Abgrenzungsbestrebungen der Argumente jener zu bedienen, die allen diesen Versuchen nur mit dem bekannten diskursethischen Dünkel begegnen können. 11. Eine Ethik ohne Prinzipien – geht das? In den „Aufzeichnungen und Entwürfen“ zur Dialektik der Aufklärung (1971, 253), in einem Text mit dem Titel „Widersprüche“, haben Horkheimer und Adorno dies notiert: „Eine Moral als System, mit Grund- und Folgesätzen, eiserner Schlüssigkeit, sicherer Anwendbarkeit auf jedes moralische Dilemma – das ist es, was man von den Philosophen verlangt. Sie haben es in der Regel erfüllt ... Du hältst die herrschende Macht für unrecht, willst du etwa, dass gar keine Macht, sondern Chaos herrscht? Du kritisierst die Uniformierung des Lebens und den Fortschritt? Sollen wir abends Wachskerzen anzünden ...?... Unerträglich ist der Versuch, dem Entweder-Oder sich zu entwinden, das Misstrauen gegen das abstrakte Prinzip, Unbeirrbarkeit ohne Doktrin.“ (Hervorh. G. O.) Könnte es sein, dass manch jüngerer Jünger der jüngeren Frankfurter Schule noch etwas lernen kann von der älteren?
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Universalismus, Relativismus, Neoliberalismus
2 Universalismus, Relativismus, Neoliberalismus Der Referenztext, von dem Scherer und McKinley die Lizenz herleiten, postmodernes Denken in den Geruch der Neoliberalismus-Nähe zu bringen, stammt, einmal mehr, von Jürgen Habermas. In Die postnationale Konstellation verlängert Habermas seine Kritik aus dem Jahre 1985 ins Politische. „In der linearen Erzählweise (sic) der postmodernen Theorien“ werde ein Ende der Politik postuliert, „auf das ja auch der Neoliberalismus, der soviel wie möglich den Steuerungsfunktionen des Marktes überlassen möchte, seine Hoffnungen setzt.“ (1998, 133 f; Hervorh. G.O.) Daß die von Habermas (wie von Scherer/McKinley) in Anspruch genommenen „postmodernen“ Denker mit Blick auf entfesselte Marktkräfte eher Befürchtungen als Hoffnungen hegen; dass, wie in Kapitel 2 erwähnt, Derrida (1996, 96 ff) wie kaum
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ein anderer gegen Fukuyamas Thesen vom Ende der Geschichte und der Politik angeschrieben hat; dass die Neoliberalismus-Kritiken der Derrida, Foucault oder Lyotard a) bekannt und scharf und b) nicht schon deswegen ignorierbar sind, weil sie nicht auf Habermas’ diskursethischer Linie liegen – all das wird übergangen, um das On Dit einer Nähe zum Neoliberalismus mit um so größerer performativer Wirksamkeit in die Welt zu setzen. „Aus verschiedenen Gründen kommen Postmodernismus und Neoliberalismus in der Vision überein, dass sich die Lebenswelten von Individuen und kleinen Gruppen wie Monaden über weltweit ausgespannte und funktional koordinierte Netzwerke verstreuen...“ (Habermas 1998, 134; nur die letzte Hervorh. i. Orig.). Nein, in dieser Vision kommen sie keineswegs überein – wenn denn „Vision“, wie Habermas mit dieser Wortwahl unauffällig suggeriert, die Konnotation eines Erwünschten, gar einer politischen Vision mitführt, wie es ja alltäglicher Sprachgebrauch ist. In einer Diagnose allerdings, die „Individualisierung“ lautet, sind sich, soweit ich sehe, viele Sozialwissenschaftler einig, auch solche, die hier keine Monaden am Werk sehen oder gar zu sehen wünschen. Ich hoffe doch, dieser Auffassung darf man sein, ohne sich schon damit Habermas’ Neoliberalismus-Verdikt zuzuziehen. Seit wann wäre es auch erlaubt, eine Beschreibung/Analyse/ Diagnose in diesem Stil mit einer „Vision“ gleichzusetzen und Andersdenkenden eine solche ohne Beleg, ohne jeden Anhalt in deren Texten, zu unterstellen?89 Später, wenn Habermas auf die philosophischen Begründungen eingeht, wird er, bemerkenswert genug, vorsichtiger. Auf viererlei Weisen zeigt er sich bemüht, Blößen zu vermeiden: 1. 2.
Die Rede ist nun nicht mehr von den, sondern nur noch von verschiedenen oder manchen postmodernen Theorien und Theoretikern (Habermas 1998, 216, 220). Es werden Meister von Schülern unterschieden – die Meister sind dann „vielleicht“ (sic) von der Kritik ausgenommen. Das liest sich so: „So undifferenziert sehen es vielleicht nicht die Meister, aber die Schüler, die die postmoderne Kritik der Vernunft direkt und vorbehaltlos gegen die Aufklärung und ihre Dialektik in Stellung bringen.“ (Habermas 1998, 217; Hervorh. G.O.) Wer tut das? Wer ist als Meister exkulpiert, wer verfällt als Schüler dieser Kritik? Keine Angaben. Im übrigen: Hatte der auch von Habermas in Anspruch genommene Hegel nicht gefordert, sich mit Kritik in den Umkreis
89 Habermas zitiert für eine jener Thesen, der vom Ende der Politik, allerdings einen Autor, nämlich Jean-Marie Guéhenno, der Das Ende der Demokratie (1994), eine theoretisch abstinente politische Plauderei über Gott und die Welt, aber in Sorge geschrieben hat, wider die Macht der großen Unternehmen und institutionellen Anleger, „um von der Idee der Freiheit das zu retten, was man retten kann und muß“ (ebd., 14), und der sich dabei nirgends auch nur andeutungsweise auf Schüler oder Meister der „postmodernen“ Philosophie bezieht. Habermas aber macht seine Vorwürfe den postmodernen Theorien und ihrer angeblich „linearen“ Erzählweise – den Postmodernen, zu denen er später, wenn es um die philosophische Substanz geht, die üblichen Verdächtigen zählt. Erwähnt werden, sofern überhaupt Roß und Reiter genannt werden: MacIntyre, Rorty, Lyotard, Foucault (Habermas 1998, 222 f, 224), jedoch in gerade noch gewahrtem Abstand zu den stärkeren Neoliberalismus-Vorwürfen, einem Abstand, der aber dementiert wird durch pauschale Einbeziehung der postmodernen Theorien und überhaupt des Postmodernismus. Zu dieser Art der Pauschalierung gleich mehr.
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der Stärke des Gegners zu stellen? Also eher nicht in den Umkreis „undifferenzierter Schüler“? Derrida kommt in diesen Passagen nicht vor90. Es gibt sogar, wie schon in der Kritik aus 1985 (s. oben, 3.8), eine positive Würdigung. „An dem heilsamen Einfluß des Postmodernismus auf die gegenwärtigen Debatten habe ich keinen Zweifel. Die Kritik an einer Vernunft, die dem ganzen der Geschichte eine Teleologie unterschiebt, ist ebenso überzeugend wie die Kritik an der lächerlichen Prätention, aller gesellschaftlichen Entfremdung ein Ende zu bereiten. Die Betonung von Fragmentierung, Riß und Marginalisierung, von Andersheit, Differenz und NichtIdentischem sowie der Blick für die Besonderheiten des Lokalen und des Einzelnen erneuern Motive der älteren Kritischen Theorie...“ Und das, ist man geneigt zu fragen, soll neoliberales Opium für’s Volk sein?
Das große Aber, das Habermas dieser Laudatio anfügt, lautet: „Postmoderne Theorien“ – man beachte: nicht mehr die postmodernen Theorien! – „begeben sich der Kriterien, anhand deren wir die universalistischen Errungenschaften von den kolonialisierenden Zügen der Moderne unterscheiden können.“ (Habermas 1998, 206) Da allerdings liegt der Hase im Pfeffer. Wohl gemerkt: Habermas’ Besorgnis, dass die Preisgabe „universalistischer Errungenschaften“ in einen unhaltbaren Relativismus und Kontextualismus treiben könnte, ist nicht Gegenstand meiner Habermas-Kritik. Diese Sorge muß jeder haben, der sich mit dem Universalismus-Problem ernsthaft auseinander setzt. Dass der Relativismus keine Denkmöglichkeit darstellt, dass er sich vielmehr selbst zerstört, ist allerdings oft und zu Recht gesagt worden, auch, zum Beispiel, von Derrida (s. oben, Fußnote 65) und von Laclau (2002, 52 ff). Es ist weit davon entfernt, eine privilegierte Einsicht der Diskursethik zu sein. Das wiederum heißt nicht, dass es mit unseren „universalistischen Errungenschaften“ nicht ernstliche Probleme gäbe. Das sieht, versteht sich, auch Habermas: „Für die rekontextualisierende Vernunftkritik bildet die Tugend, die Vernunft von ihren falschen Abstraktionen zu befreien, zugleich den blinden Fleck. Postmoderne Ansätze nehmen jeden universalistischen Anspruch per se als ein weiteres Anzeichen für den Imperialismus einer verschleierten Partikularität...“ (Habermas 1998, 219) Habermas räumt ein, dass einschlägige Analysen und Bedenken durchaus triftig sein können: „Diese Analysestrategie bewährt sich (übrigens schon seit Marx) bei der Entlarvung eurozentristischer Überlieferungen und Praktiken... Der Argwohn gegenüber Mechanismen der Ausschließung, die ja in die verborgenen Voraussetzungen von universalistischen Diskursen tatsächlich oft eingebaut sind, ist gut begründet – as far it goes. Manchen (sic) postNur an einer einzigen Stelle wird Derrida in Die postnationale Konstellation überhaupt, und zwar halbwegs positiv, als Autor kritischer, aber womöglich negativistischer Zeitdiagnosen erwähnt (Habermas 1998, 74). Was immer „Negativismus“ hier heißen kann: nach einer Affinität zu neoliberalen Visionen klingt das nicht – zu Recht nicht. Falls, wie es den Anschein hat, in den unter 1.) bis 3.) genannten Vorsichtsmaßnahmen zum Ausdruck kommen soll, dass Habermas seine Derrida-Kritik aus dem Jahre 1985 in wichtigen Teilen nicht mehr aufrechterhält, sei dazu bemerkt: Nachdem diese seine Kritik so apodiktisch ausgefallen ist wie im Kapitel 3 gezeigt, und nachdem sie die im Kapitel 2 beschriebene, langjährige verhängnisvolle Wirkungsgeschichte gehabt hat, wäre wohl mehr zu erwarten gewesen als eine unauffällige Umstellung der Kritik von „die“ auf „manche Postmoderne“ und von Meistern auf Schüler.
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modernen Theorien fehlt aber eine hinreichende Empfindlichkeit für die spezifische Verfassung jener in der Moderne entstandenen und für die Moderne kennzeichnenden Diskurse. Aus der richtigen Prämisse, dass es keine Vernunft im Nullkontext gibt, ziehen sie den falschen Schluß, dass sich die Maßstäbe der Vernunft selbst mit jedem neuen Kontext ändern.“ (Habermas 1998, 219 f) So kann man miteinander reden. Neoliberalismus-Insinuationen lassen sich damit allerdings nicht in Einklang bringen, wie auch der von Habermas hier erwähnte Name Marx indiziert, der ja eher selten mit neoliberalen Positionen in Verbindung gebracht wird. Bleibt nur, darauf hinzuweisen, dass Habermas’ Insistenz auf unveränderliche – oder nicht mit jedem neuen Kontext sich ändernde? – Maßstäbe der Vernunft nicht die einzig mögliche – und vielleicht auch nicht die stärkste – Antwort auf die Fragen ist, die sich hier stellen (und, noch einmal, dass nicht jeder ein Relativist ist, der sich Habermas’ diskursethischem Universalismus nicht anschließen mag). Ich selbst ziehe es vor, nicht von unveränderlichen Maßstäben der Vernunft auszugehen, sondern mit Derrida eine unvermeidliche Différance dessen anzunehmen, was „Vernunft“ heißen kann – eine Verschiebung und Veränderung, die unweigerlich mit der Anwendung dieser Maßstäbe unter situativen, kontextuellen Umständen einhergeht. Ihre Anwendung ist nämlich nach Art eines Supplément an der Konstitution der Maßstäbe beteiligt. Eine solche Différance zu behaupten, heißt indes nicht, einem Relativismus das Wort zu reden, und dagegen hat sich Derrida auch mit Recht gewehrt. Dass Vernunft einer Différance unterliegt, heißt ja nicht, dass sie null und nichtig wäre, und auch nicht, dass sie im kontextuellen Gegenwind schwankte wie Schilfrohr. Der für Habermas abwegige Schluss aber, „dass sich die Maßstäbe der Vernunft selbst mit jedem neuen Kontext ändern“, ist falsch nicht in strenger philosophischer Reflexion des Verhältnisses von Identität und Differenz, sondern nur in der demagogischen Lesart, als implizierte das eine Beliebigkeit der Maßstäbe. Wer jedoch zwischen Vernunftstandards und ihrer kontextspezifischen Anwendung ein Verhältnis rekursiver, supplementärer Konstitution behauptet, der bestreitet nicht nur nicht, der postuliert vielmehr eine konstitutive Rolle der Standards in diesem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis. Die supplementäre, aber als solche eben auch (mit)konstitutive Rolle der Kontexte und der situativen, situationsadäquaten Anwendung von Maßstäben der Vernunft bedeutet nämlich, wie Ernesto Laclau (2002, 85 ff) gezeigt hat, nicht die Entbehrlichkeit, sondern im Gegenteil die Notwendigkeit einer Universalität, die allerdings nicht a priori als positiv angebbares Prinzip gegeben ist, sondern sich als Horizont unabgeschlossener differenzieller Identitäten und partikularer Kontext ergibt. Das ist in Sachen Universalität die Umstellung von der Denkfigur des Grundes auf die eines Horizonts, der eine Offenheit, ja, eine Leere lässt, die es in praxi zu füllen gilt. Die Füllung dieser Leere ist indes nicht beliebig, wie es die Sorge vor einem Relativismus noch stets nahe legt. Sie ist restringiert durch eine Vielfalt bestimmter und unbestimmter Negationen, lauter Neins zu inakzeptablen Praktiken (einschließlich inakzeptabler Unterlassungen), Neins, die, wie ich ergänze, genealogisch, und in
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4. Kapitel: „Postmodernes“ Denken und neoliberale Politik
jedem Augenblick neu, von einem „Anspruch des Anderen“ (Lévinas) herrühren91 – durch ihn evoziert werden. Wohl könnten Diskursethiker erwidern: „Und wie anders als unter den Bedingungen eines herrschaftsfreien Diskurses ließe sich dieser Anspruch idealiter begründen und als begründet zur Geltung bringen?“ Daran sieht man, wie nahe sich die Positionen sind oder kommen könnten, gehorchte die Debatte nicht der Logik von Bruderzwisten. Mich selbst überzeugt die Figur des herrschaftsfreien Diskurses als unveränderlicher Maßstab allerdings nicht. Mir scheint, sie ist eine Denkunmöglichkeit und womöglich eine Leerstelle, die sich nicht als solche zu erkennen gibt – eine Denkunmöglichkeit und -notwendigkeit zugleich, also eine Paradoxie. (Nicht dem – bewunderungswürdigen – Versuch, die Figur als notwendig zu erweisen, gilt mein Unmut, sondern dem Umgang mit solchen alternativen Versuchen, die hier eine solche Paradoxie sehen.) Die Füllung jener von Laclau in Anspruch genommenen Leere andererseits ist nicht beliebig, aber ohne Telos; nicht ohne Richtungssinn, der aber nicht a priori positiv fixierbar ist – jede solcher Fixierungen impliziert Einseitigkeiten, Partikularität und, politisch gesprochen, Hegemonie –, sondern sich als vereinheitlichender Effekt der Praxis ergibt – ein Effekt, der nicht nur die faktische Geltung, sondern auch die Legitimität92 ergreift. Es kommt mir hier nicht darauf an, diese Position im Einzelnen zu erläutern (s. dazu Laclau a. a. O.; Ortmann 2003, 285 ff; ferner Ortmann, Rasche 2008), sondern nur darauf anzudeuten, dass es von einiger Hybris zeugt, jede Alternative zu einem diskursethischen Universalismus sogleich des Relativismus und der Missachtung der Menschenrechte zu zeihen. Von Andreas Scherer, dem, zusammen mit Steinmann, genau dies von Seiten der Diskursethiker widerfahren ist, hätte man eine besondere Behutsamkeit im Umgang mit diesem Totschlag-Argument erwarten können. Statt dessen hat er es, wie gesehen, noch verlängert in Richtung auf Neoliberalismus-Insinuationen Habermas’scher Provenienz. Nennen wir doch die Invektiven, derer sich die Diskursethiker gegen Steinmann und Scherer in deren eigenen Sammelband bedienen, beim Namen, nennen wir sie: aggressiv – „Blüten“, „abstruse“ resp. „gewundene“ Behauptungen, „Verbindlichkeitsfrage verabschiedet“, „moral- und legitimationszerstörend“ (Gronke 1998, 391 f; Böhler 1998, 141). Wie soll man
Die von Apel (1998, 803) geäußerte Skepsis, betreffend die Orientierung der Ethik Lévinas’ „an der nicht schon durch Institutionen vermittelten Interaktion mit dem Anderen“, scheint mir nicht ganz unberechtigt. Wie indes Robert Bernasconi (1998) und auch Iris Därmann (2005, 565 ff, bes. 593 ff) dargetan haben, bringt Lévinas mit der Figur des Dritten durchaus Normen, Regeln und Institutionen ins Spiel, die allerdings dem Anspruch des Anderen beständig ausgesetzt sind; s. bes. Lévinas (1992). 92 Dies Letztere füge ich hinzu, um denen, die an dieser Stelle wie üblich mit Belehrungen über den Unterschied von Genesis und Geltung sowie von faktischer Geltung und begründeter (unhintergehbarer) Gültigkeit aufwarten (z. B. Gronke 1998 gegen Steinmann/Scherer), wenigstens anzudeuten: Da, wo sie nur Defizite in der Reflexion dieser Unterscheidungen auszumachen vermögen, könnte es sich ja – wie wäre das? – um Differenzen in der Bestimmung des Verhältnisses von Genesis und Geltung handeln. Dass wir beide unterscheiden müssen, heißt ja vielleicht nicht, dass wir eine von Genesis strikt unabhängige Geltung anzunehmen hätten. So haben zum Beispiel Steinmann und Scherer (1998, 408) argumentiert, „dass sich die Geltungsfrage nicht loslösen lässt von Bemühungen, den Prozeß der Bedeutungskonstitution von Worten (wie etwa „Argumentieren“, G. O.) lebenspraktisch zu verankern.“ Waldenfels andererseits geht es genealogisch um eine Ethik, die „eine nichtethische Herkunft hat, da sie mit dem Anderen beginnt“ (1994, 557). Vgl. ferner die differenzierten Bestimmungen zu berechtigten und unberechtigten resp. faktisch erhobenen und begründeten Ansprüchen bei Waldenfels (1994, 557 ff) – und zu einem „Staunen über das Wirken eines Anspruchs, für den es keine zureichenden Gründe gibt.“ (Ebd., 563) 91
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dann Scherers Übernahme des diskursethischen Universalismus zum allfälligen Gebrauch wider die „Postmodernen“ nennen, wenn nicht: Identifikation mit dem Agressor93?
93 „Abwehrmechanismus, der von Anna Freud herausgearbeitet und beschrieben wurde: Das Subjekt, das sich einer äußeren Gefahr gegenüber sieht (die sich typischerweise als Kritik durch eine Autorität darstellt), identifiziert sich mit seinem Agressor, indem es sich entweder für die Aggression als solche verantwortlich macht, oder die Person des Angreifers physisch oder moralisch imitiert ...“ Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse (1972, 224).
5. Deconstructing Tony Strukturation und Dekonstruktion Deconstructing Tony „(...) hey, ich rieche Schwefel, riecht ihr auch Schwefel?“ Woody Allen: Deconstructing Harry „Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren; sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das übrige und lästern auf das Ganze.“ Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II, (1988, 137)
Nein, natürlich möchte ich nicht sagen, so ein Leser sei Anthony Giddens. Aber ... * Giddens hat sich zwei Mal etwas ausführlicher zu Poststrukturalismus, Derrida und Différance geäußert: 1979 in dem Band über „Central Problems in Social Theory“ und 1987 in einem Beitrag zu einem von ihm selbst und J. H. Turner herausgegebenen Sammelband über „Social Theory Today“. Im ersteren dieser beiden Beiträge gilt sogar sein besonderes Augenmerk ersichtlich Jacques Derrida. Dass letzterer dabei beide Male ohne viel Federlesens in den Kontext von Sozialtheorie eingerückt wird, wird sich im Laufe meiner Analyse als zweischneidige Angelegenheit herausstellen: Vielversprechend, und ein weiterer Beleg für Giddens‘ beträchtliche Fähigkeit zur Wahrnehmung, Abarbeitung und Einverleibung einer erstaunlichen Fülle zunächst disparat erscheinender theoretischer und philosophischer Denkrichtungen, erscheint mir einerseits die Idee, Différance und Dekonstruktion für sozialwissenschaftliche Fragen fruchtbar zu machen. Das möchte ich im 1. Abschnitt, unter Rekurs auf die erste der beiden genannten Arbeiten, im einzelnen begründen. Im 2. Abschnitt rekonstruiere ich die bedeutende Rolle der Denkfigur der Différance in Giddens‘ opus magnum, „The Constitution of Society“ (1984). Andererseits verführt Giddens‘ Art der DerridaLektüre, seine – zunächst durchaus legitime – Rezeption unter dem Blickwinkel der Inkorporation ins eigene Denkgebäude, den Rezipienten dazu, eine Kritik zu formulieren, die Derridas Werk umstandslos an der Elle ihres Beitrages zu genuin sozialtheoretischen Fragestellungen misst. Das wird in dem Beitrag aus dem Jahre 1987 besonders deutlich – und besonders problematisch. Darauf gehe ich im 3. Abschnitt näher ein. Insgesamt ergibt sich ein zwiespältiger Eindruck vom Umgang Giddens‘ mit Derrida: 1979 postuliert er eine Sozialtheorie, näherhin: eine Strukturationstheorie, die auf einer „threefold connotation of différance“ basiert sein solle (Giddens 1979, 45 f), 1984 führt er diese Absicht durch, ohne indes
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dabei Derrida noch zu erwähnen, und 1987 stellt er Derrida eine Todesurkunde aus, die nicht an Deutlichkeit, wohl aber an guten Gründen – im Sinne theoretischer Argumente, aber auch des Respekts, den wir jenen zollen könnten, auf deren Schultern wir stehen – zu wünschen übrig lässt. Diese Todesanzeige nimmt sich um so seltsamer aus, als sie in ihren wesentlichen Argumenten keinen Deut über die Kritiken und Modifikationen hinausgeht, die Giddens schon 1979 artikuliert hatte – in jener grosso modo positiven Stellungnahme. Das alles wiederum hat ihn nicht daran gehindert, 1991, in „The Consequences of Modernity“ (1990, 5 f) einer Dekonstruktion des Evolutionismus das Wort zu reden und 1993, in der Einführung zur Neuauflage der „New Rules of Sociological Method“, angesichts der Frage des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft und des Gewichts sozialer Systeme in einer angemessenen Sozialtheorie, auch: angesichts des Einwandes der Überbetonung der Rolle des Individuums in seinem eigenen Werk, zu erwidern: „To challenge the dualism of the individual and society is to insist that each should be deconstructed.“ (Giddens 1993, 5; Hervorh. i. Orig.) Dieser, der dekonstruierende, Giddens erläutert: „Deconstructing ‚society‘ (...) means recognizing the basic significance of diversity, context and history.“ (Ebd., 8) D‘accord, aber das nötigt uns, Giddens‘ Denkbewegung ihrerseits ein wenig zu dekonstruieren. Diesen Doppelsinn des „deconstructing Giddens“ möchte ich nicht allzu ernsthaft mitführen, aber es sieht ja sehr danach aus, als handle es sich um eine Derrida-Lesern irgendwie vertraute Bewegung: Wie Rousseau die Schrift anklagte und in Anspruch nahm, so verfährt Giddens mit der Dekonstruktion. Derrida hat einmal (1983, 53), um diese Bewegung zu charakterisieren, von der „Spannung zwischen Geste und Absicht“ gesprochen. Giddens Absicht, jedenfalls seit 1987, ist der Abgesang, seine Geste nicht nur 1984, sondern auch noch 1991 und 1993, und zu Recht, die Inanspruchnahme der Dekonstruktion. Das möchte ich nicht als performativen Selbstwiderspruch abtun, sondern mir scheint, dass sich darin Giddens‘ wacher Sinn für die Gründe und Abgründe des sozialen Lebens hartnäckig zu Wort meldet – entgegen einer Absicht, die, wie ich zeigen möchte, an ausschlaggebenden Stellen von Missverständnissen irritiert worden ist. Allerdings haben wir es mit einer Widersprüchlichkeit auf rein konstativer Ebene zu tun, weil und soweit Giddens die Dekonstruktion nicht nur performativ in Anspruch nimmt, sondern auch konstativ für fruchtbar erklärt: 1979 und, immer noch, 1993.
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„... this threefold connotation of différance“
1 „... this threefold connotation of différance“ In einem 40-seitigen Abschnitt über „Structuralism and the Theory of the Subject“ innerhalb seines Buches über „Central Problems in Social Theory“ widmet sich Giddens ausführlich Saussure, Lévi-Strauss und dann vor allem Derrida. Schon diese Diskussion zeigt alle Züge des – legitimen – Interesses, Derridas Denken für die Zwecke der eigenen Sozialtheorie fruchtbar und passend zu machen oder eben Aspekte zu benennen, die sich einem solchen Vorhaben sperren, ohne dies letztere gleich zum Anlass zu nehmen, dieses Denken zu verdammen. Ich beginne mit den von Giddens als fruchtbar bezeichneten Gesichtspunkten, die auch den ganz überwiegenden Tenor des gesamten Beitrags ausmachen:
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5. Kapitel: Deconstructing Tony
„In emphasizing the ‚structuring of structure‘94, as a continual process of production, Derrida breaks in a radical way both with Saussure’s distinction between langue and parole and between synchrony and diachrony. (...) Difference, as articulated in a process of either speaking or reading, presumes a ‚spatial‘ dimension which is also simultaneously a ‚temporal‘ one, involved in the linearity of syntagmatic relations. (...) ‚Différance‘ indicates that difference involves an integration of the ‚spatial‘ and the ‚temporal‘ that I mentioned previously: to differ is to defer.“ (Giddens 1979, 30 f) Man beachte, dass Giddens also bereits in „L‘Écriture et la Différence“, wie auch bei Piaget und Gurvitch (s. zum Beispiel Giddens 1979, 70), seine labelstiftende Idee der Strukturation vorgefunden hat. Dass der (Post-)Strukturalismus „points to the significance of spacing through difference in the constitution of both language and society“ (Giddens 1979, 45; Hervorh. i. Orig.), hebt Giddens daher resümmierend als eine von sieben Hinsichten hervor, unter denen diese Denkrichtung besonders bedeutend für die zeitgenössische Sozialtheorie sei. Die übrigen sechs verheißungsvollen Aspekte seien: die Inkorporation von Temporalität und von Geschichte in die Analyse, die Bestimmung der Gesellschaft als virtuelles System mit rekursiven Verhältnissen, die Überwindung des Subjekt-Objekt-Dualismus, die Dezentrierung des Subjekts und die Analyse der Produktion kultureller Objekte. Mit Blick speziell auf Derrida heißt es: „Derrida’s conception of différance is of great interest to social theory. But Derridean différance is associated too closely with the spacing of writing; the conception of spacing that can be discerned in Wittgenstein is superior to this in referring to the involvement of language with social practices. Social practices occur not just as transformations of a virtual order of differences (Wittgenstein’s rules), and differences in time (repetition), but also in physical space. I shall argue (...) that the theory of the structuration of social systems should be based upon this threefold connotation of différance.“ (Giddens 1979, 45 f; Hervorh. i. Orig.) Bevor wir uns der damit angedeuteten Kritik und Ausarbeitung zuwenden, halten wir zunächst fest, dass Giddens hier offen und ausdrücklich die Denkfigur Différance zu einer Basis der Strukturationstheorie erklärt. Wir werden gleich sehen, dass er mit dieser Erklärung in „The constitution of society“ durchaus Ernst gemacht hat. Dass es der von Giddens angedeuteten Ausarbeitung bedarf, weil nämlich Derrida nicht selbst sozialtheoretische Interessen verfolgt und daher eigene Arbeiten mit dieser Ausrichtung nicht vorgelegt hat, ist gewiss richtig. Falsch indessen wäre es anzunehmen, wie Giddens es manchmal nahelegt, dass sich mittels Différance und Dekonstruktion nicht über zeitliche und räumliche und soziale Entwicklungen nachdenken ließe, Entwicklungen, die sich als differentiell in dem Sinne kennzeichnen lassen, dass die Anwendung von Regeln und Ressourcen, zumal von Ressourcen der Computertechnik und der neuen Medien, ihre 94
Giddens zitiert hier Derrida (1967, 411; deutsch 1976, 424).
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eigene Verzeitlichung/Verschiebung/Veränderung in dieser und durch diese Anwendung implizieren. Im Gegenteil: Es geht „auch um die differantielle Entwicklung der techne, der Techno-Wissenschaft oder der Tele-Technologie. Sie zwingt uns mehr denn je dazu, die Virtualisierung des Raums und der Zeit zu denken, die Möglichkeit virtueller Ereignisse, deren Bewegung und Geschwindigkeit uns von jetzt an verbieten (mehr und anders als je zuvor, denn dies ist nicht absolut und durch und durch neu), die Präsenz ihrer Repräsentation gegenüberzustellen, die ‚reale Zeit‘ (‚temps réel‘) der ‚aufgeschobenen Zeit‘ (‚temps différé‘), die Wirklichkeit ihrem Simulakrum“ (Derrida 1996, 265). Derrida bezieht sich dabei auf die Arbeiten Paul Virilios, widersteht aber, wie man sieht, der Versuchung, mit jener neuen Technik ein neues Zeitalter anbrechen zu lassen. Darauf kommt es hier weniger an als auf die Einsicht, dass er die Eignung der Figur der Différance für sozialwissenschaftliche Fragestellungen selbst gesehen und andeutungsweise demonstriert hat – alles Übrige, so füge ich hinzu, bleibt den Sozialtheoretikern überlassen. Die Différance durchdringt nicht nur Texte, sondern alles Soziale. Sie durchdringt übrigens auch den Gebrauch von Ressourcen, wie man eben am Beispiel der neuen Medien und der Computertechnik sah, und wie allgemein Michel de Certeau (1988) gezeigt hat95 – durch den Nachweis einer scheinbar sekundären, supplementären Produktion im Konsum von Produkten, einer anderen, stummen, tagtäglichen Produktion, der nämlich von Gebrauchsweisen, die aber ihrerseits die Bedeutung und schließlich auch die Gestalt von Produkten und Produktionsmitteln erheblich verändern können: Différance. (Man denke nur an die keineswegs sekundäre Produktion von Weisen des Gebrauchs des Computers seitens der Benutzer des Internet – und an die vielen neuen Produkte und Produktionsmittel, die so hervorgebracht worden sind.) Wenn Giddens daher postuliert: „Time-space enters into the structuring of signification not through the ‚flat‘ dimension of writing – even conceptualized as proto-writing – but through the contextuality of social practices themselves“ (Giddens 1987, 209), dann rennt er bei Derrida offene Türen ein, Türen allerdings, durch die der Philosoph Derrida selbst nur die ersten Schritte gegangen ist. Neben der damit diskutierten Ergänzungsbedürftigkeit der Denkfigur der Différance, aber in enger Verschränkung damit, moniert Giddens (1979, 35-37) an Derridas Sicht der Dinge: eine Kluft zwischen Bedeutung und Referenz, das soll heißen: zwischen Zeichen einerseits und Referenten (Objekt) andererseits, und einen „Rückzug in den Code“. Auf all diese Kritiken gehe ich im dritten Abschnitt näher ein, weil sie weitgehend unverändert in der 1987er Arbeit wieder auftauchen, dann aber zum Todesurteil über Derridas Denken führen. Das tun sie 1979 nicht nur nicht, sondern werden zum Anlass für behutsame Um95
Vgl. dazu unten, das Kapitel „Eine stille Produkton“.
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5. Kapitel: Deconstructing Tony
bauten und Erweiterungen genommen, nachdem die wichtigsten Ideen, die der Différance und der Strukturation, inkorporiert wurden. Letzteres war 1979 – und ist heute – keine Selbstverständlichkeit. Derridas Denken für die Sozialtheorie fruchtbar gemacht zu haben, darin war Giddens seiner Zeit voraus, und er hat es mit wachem Blick für die Stärken dieses Denkens getan. Das möchte ich im folgenden Abschnitt an seinem Hauptwerk weiter verdeutlichen. Das ist viel, zumal wenn man an die verbreitete Abwehr dieses Denkens (nicht nur) hierzulande denkt. Es ist heute noch viel – man ist geneigt zu sagen: einzigartig, jedenfalls unter den Entwürfen großer Sozialtheorie, die ansonsten von Derrida kaum96 Notiz genommen haben. Tatsächlich gehört die Organisationstheorie zu den ganz wenigen Disziplinen, in denen mit Différance und Dekonstruktion Ernst gemacht wird – über bloße Jargonproduktion hinaus.
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Die anwesende und abwesende Struktur
2 Die anwesende und abwesende Struktur Es ist nicht an irgendeiner Stelle in seinem opus magnum – sondern dort, wo es heißt: „Let me now move to the core of structuration theory“ –, dass Giddens, nach Abweisung funktionalistischer, dualistischer Fassungen des Verhältnisses von Handlung und Struktur, die folgende Bestimmung gibt: „As conceptualized in structuralist and post-structuralist thought, (...) the notion of structure is more interesting. Here it is characteristically thought of not as a patterning of presences but as intersection of presence and absence; underlying codes have to be inferred from surface manifestations.“ (Giddens 1984, 16; Hervorh. G. O.) Was meint hier „Schnittpunkt von Gegenwärtigem und Abwesendem“, wie es in der deutschen Übersetzung (Giddens 1988, 68) heißt? Das erläutert Giddens an anderer Stelle, und zwar am Beispiel des Verhältnisses von Sprache und Sprechen, das er als Beispiel für das Verhältnis von Struktur und Handeln herausgreift. Gemeint ist, „that the linguistic totality (language, G. O.) does not ‚exist‘ in the contexts of the use of language. The totality is not ‚present‘ in the instantiations which are its traces.“ (Giddens 1987, 200 f) Das hat eine ganz handfeste, sozialtheoretisch wichtige Implikation, die nämlich, dass zur Aktualisierung der Struktur in den Praktiken handelnder Akteure, anders ausgedrückt, zur Anwendung von Regeln und Ressourcen in diesen und durch diese Praktiken, auch die Selektion, der selektive Rekurs auf eine Teilmenge dieser Regeln und Ressourcen gehört, und
96 Eine gewisse Ausnahme bildet Luhmann (vgl. zum Beispiel 1993, 371 f, 546 f; 1997, 555, 873, Fn. 13, auch: 1143 ff; ferner 1995); zum Verhältnis Luhmann-Derrida instruktiv: Stäheli (2000); ferner Teubner (z. B. 1998; 2001), Binczek (2000).
2 Die anwesende und abwesende Struktur
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es macht unter anderem die Kompetenz der Akteure aus, dass sie diese Selektion, die ja nur situations- und kontextabhängig angemessen getroffen werden kann, einigermaßen situationsgerecht vorzunehmen verstehen. „Mit vollem Mund spricht man nicht“ – aber wenn‘s brennt, zur Not eben doch. Das bedeutet, „structure exists, as time-space presence, only in its instantiations in such practices and as memory traces orienting the conduct of knowledeable human agents.“ (Giddens 1984, 17) Sie existieren als Gedächtnisspuren und, wie man ergänzen sollte, als Erwartungen – allerdings bleibt diese Redeweise flüchtig und metaphorisch, weil genaugenommen Strukturen nicht als Erinnerungsspuren existieren, sondern solche Spuren hinterlassen, deren temporalisierte Form wir Gedächtnis nennen können. (Erinnerungen an Regeln und Ressourcen sind nicht dasselbe wie die Regeln und Ressourcen selbst, wie man auch daran sieht, dass einschlägige Erinnerungen manchmal trügen.) Die Rede vom „Gedächtnis“ ist für Giddens (1984, 49) „a way of describing the knowledgeability of human agents“. Das Gedächtnis ist für ihn nicht die Erinnerung vergangener Dinge, auch nicht vergangener Erfahrungen, deren Spuren irgendwie im Organismus aufbewahrt bleiben. Sondern Gedächtnis ist einfach die temporale Konstitution des Bewusstseins, soll heißen: Handelnd sind wir uns vieler Dinge bewusst, sind wir ihrer inne. Auch das, was wir jetzt eben wahrnehmen, ist im nächsten Augenblick schon wieder vergangen, wird aber als gegenwärtig erlebt und behandelt. So könnte man geneigt sein zu sagen: Alles Wissen, auch Wissen um Gegenwärtiges, ist, genau genommen, Gedächtnis, und alles Bewusstwerden daher „Kramen im Gedächtnis“, Innewerden, Erinnern. Aber nur jenes Innewerden, das sich auf „Vergangenes“ bezieht, und das heißt jetzt: auf etwas, das wir selbst im Augenblick des Innewerdens für vergangen halten, nennen wir „Erinnern“. Erinnern ist daher und in diesem Sinne „the means of recapitulating past experiences in such a way as to focus them upon the continuity of action.“ (Giddens 1984, 49) Es ist ein „Innewerden mit Zeitindex“, und diesen Zeitindex liefert das Gedächtnis, das nämlich alles uns Bewusste zeitlich sortiert – temporal konstituiert. Giddens‘ Gedächtnisspuren sind daher nicht Spuren des Vergangenen, sondern Wissensspuren mit zeitlichen Indizes, mit Indizes wie: „eben“, „kürzlich“, „vor einer Weile“, „neulich“ und so weiter bis: „lang, lang ist‘s her“. Im Falle von Regeln (und Ressourcen) steigern sich diese Indizes zu einem „wieder und wieder“ und sodann zu dem Index „immer wieder“, der, nun in die Zukunft gerichtet, als operativ wirksame Fiktion, als Erwartung, unser Handeln orientiert, etwa in Gestalt der Schützschen Idealisierung des „Ich kann immer wieder“, oder, mit Blick auf die anderen, als Erwartungserwartung. Auch mit der Denkfigur der Spur hat Giddens Anleihen nicht nur bei Freud, sondern auch bei Derrida (1976, 302 ff; 1983, 49 ff, 130 ff; 1999, 31 ff; vgl. Giddens 1979, 31) gemacht und hätte dabei seinen Begriff von Struktur als „intersection of presence and absence“ (Giddens 1984, 16) beträchtlich schärfen und vertiefen können. Denn Spuren sind etwas Anwesendes, das auf Abwesendes verweist, etwas, das von der vergangenen Anwesenheit dieses jetzt Abwesenden zeugt oder zu zeugen scheint – ganz sicher können wir uns da nie sein, weil es ja im Augenblick abwesend ist, vergangen. In Organisationen beziehen wir uns
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5. Kapitel: Deconstructing Tony
ständig auf solche Spuren, nicht nur inform von Gedächtnisspuren, sondern auch inform der tausenderlei Anzeichen regelmäßiger Praktiken, des regelmäßigen Gebrauchs von Ressourcen, Normen und Deutungsschemata, aber auch inform von Protokollen, Schriftverkehr, Blueprints, Spuren von Entwürfen, also: Spuren von Spuren, und sogar Spuren von Spuren von Spuren, nämlich Anzeichen des absichtlichen Verwischens oder des unabsichtlichen Erlöschens von Spuren. Die normative Kraft des Faktischen etwa speist sich in hohem Maße daraus, dass wir das gegenwärtige Faktische als Spur (oder Spur der Spur) einer vergangenen, jetzt abwesenden Vernünftigkeit oder Gerechtigkeit lesen und davon daher auch dann nicht ablassen, wenn diese Vernunft oder Gerechtigkeit gegenwärtig nicht (mehr) auszumachen ist. Diese Absage an eine Metaphysik der Präsenz (hier: der Präsenz von Struktur) hat Giddens direkt von Derrida übernommen (vgl. dazu Giddens 1987, 202), der sie in einer dekonstruktiven Saussure-Analyse durchgeführt hat, indem er der Saussureschen Differenz zwischen Sprache und Sprechen und dessen Bestimmung von Sprache als eines virtuellen Systems außerhalb von Zeit und Raum die Zeitdimension hinzugefügt hat: Differieren heißt auch Aussetzen, Verschieben, Aufschieben (Derrida 1983). Auf diese Weise, also ganz entlang der Derridaschen Différance, kann Giddens die funktionalistische Bestimmung von Struktur als „patterning of social relations in timespace“ und die „poststrukturalistische“ Bestimmung als „virtual order of ‚modes of structuring‘“ (Giddens 1984, 17) als zwei Seiten dieser An-/Abwesenheit auffassen. Ersteres beträfe die „syntagmatische“ Dimension, also die sozialen Relationen in ihrer raum-zeitlichen Ausdehnung – wieder liefert die Sprache mit ihrer Syntax das Vorbild –, letzteres die „paradigmatische“ Dimension, also die Beziehungen außerhalb von Zeit und Raum, im Falle der Sprache etwa die grundsätzliche Beziehung zwischen Plural und Singular, im Falle sozialer Strukturen generell etwa den Fundus an Möglichkeiten, sich mit „den anderen“ ins Benehmen zu setzen, wie sie die (raum-zeitlich nicht fixierten) sozialen Regeln und Ressourcen des menschlichen Umgangs zur Verfügung stellen (Duschek 2001). Das hindert uns nicht, fährt Giddens von hier aus fort, strukturelle Eigenschaften in Raum-Zeit-Hierarchien zu denken und anzuordnen, mit Institutionen als raum-zeitlich am weitesten ausgreifenden sozialen Praktiken, die aber, wie wir nun, mit Derrida, schärfer sehen können, einer beständigen Veränderung-und-Verschiebung in diesen und durch diese Praktiken ausgesetzt sind – dem, was Derrida „différance“ nennt. Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass erst diese Aspekte der Strukturation, nicht schon der schiere Gedanke der wechselseitigen Bedingtheit von Handeln und Struktur, das genuin Innovative der Giddensschen Sozialtheorie ausmachen. Strukturation im Sinne der Doppelbedeutung von Strukturieren und Strukturiertheit und im Sinne einer in die Zeit sich erstreckenden Rekursivität zwischen Handeln, das Strukturen hervorbringt, und Strukturen, die das Handeln ermöglichen und restringieren – diesen Gedanken, so bedeutsam er ist, finden wir in der Sozialtheorie, ich bin geneigt zu sagen: schon immer vor, bei Marx, bei Durkheim, bei Parsons, bei Piaget, um nur einige zu nennen. Neu ist die Inkorporation der Denkfiguren der Différance und des Supplément, mit der Giddens energisch begonnen und die er dann halbherzig abgebrochen hat. Halbherzig war dieser Auf- und Abbruch auch noch in anderer Hinsicht. Mit der Abwesenheit von Struktur hat es noch eine andere als die raum-zeitliche Bewandtnis, auf die
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Giddens so konzentriert ist, und das ist jene, die man, in Umkehrung der Giddensschen Derrida-Paraphrase, formulieren könnte: „to defer is to differ“. Das soll heißen: Eine zeitliche Verschiebung der, sagen wir, Anwendung einer Regel impliziert eine sachliche Veränderung. Keine Regel entgeht dieser Veränderung-in-der-Wiederholung bei der Anwendung, obwohl doch die immergleiche Wiederholung, eben: die Regelmäßigkeit sozialer Praktiken den Kern der Funktionen von Regeln auszumachen scheint. Anwenden heißt immer auch Wenden: sich der Situation, dem Kontext zu- (und insofern von der Regel, von der „immergleichen“ Praxis der Vergangenheit ab-) wenden und, daher, die Regel wenden, (um-)interpretieren, anpassen, modifizieren, ergänzen, ersetzen, pervertieren. Das und die daraus resultierenden Verwicklungen habe ich anderswo behandelt (Ortmann 2003). Giddens sieht es zwar deutlicher als viele andere, treibt diese Einsicht aber nicht so weit, wie er könnte. Die Abwesenheit von Struktur – ich habe sie hier nur am Beispiel von Regeln erläutert, sie ließe sich aber, wie erwähnt, ebenso am Fall der Ressourcen erweisen, die als solche erst im und durch das Handeln konsituiert werden, das sich ihrer als Mittel bedient – bezieht sich nicht nur darauf, dass sie nicht als Totalität im je besonderen sozialen Handeln existieren. Sondern sie bezieht sich auch und ganz besonders darauf, dass mit der – durch Erinnerung und Erwartung vermittelten – Aktualisierung der Struktur als virtueller Ordnung, mit der zeitlichen Differenz zu der bisher etablierten Regelmäßigkeit, unweigerlich eine, wenn auch in den allermeisten Fällen kaum merkliche, Veränderung einhergeht, weil Anwenden einer Regel (oder Ressource) merkwürdigerweise immer einen Hauch von Kreation der Regel respektive Ressource hat: Kreation zumindest der Art und Weise ihrer Anwendung in situ. Abwesend ist nicht nur Sprache oder Struktur als Totatlität, und nicht nur im Sinne einer Losgelöstheit von Raum und Zeit, sondern auch jede einzelne Regel – im Sinne eines verallgemeinerbaren Verfahrens der Praxis –, weil Regeln in jedem besonderen Handeln nur in der Gestalt spezifischer Modalitäten – Deutungsmuster und Normen – zur Geltung gebracht werden: immer wieder anders. Dieses Immer-wieder-gleich und Immer-wieder-anders scheint Giddens‘ Aufmerksamkeit nur mit Blick auf moderaten gesellschaftlichen Wandel zu erregen. Darin, dass Regeln entstehen und befolgt oder angewandt werden, scheint er eine Gefahr für die gesellschaftliche Integration nicht auszumachen. Für die Sprengkraft dieser Differenz, dieses Aspekts von Différance, hat er kein waches Auge. Das ist um so auffälliger, als er nicht etwa, wie ihm gelegentlich vorgeworfen wird, blind für sozialen Wandel ist. Selbst der notwendig produktive Aspekt jedweder Reproduktion, und zumal der Reproduktion von Strukturen, entgeht seinem Blick nicht: „Jede Handlung,“ sagt er vielmehr, „die zur Reproduktion einer Struktur beiträgt, ist auch eine Handlung der Produktion, ein neues Unternehmen, und kann so einen Wandel initiieren, indem sie diese Struktur gleichzeitig mit ihrer Reproduktion verändert – so wie sich die Bedeutung von Wörtern in und durch ihren Gebrauch verändert.“ (Giddens 1984b, 156) Klarer kann man es nicht sagen, allenfalls radikaler, und das tut Derrida: Jede Reproduktion, jede Repetition, jede Iteration ist Veränderung – Iteration ist niemals rein. (Was uns nicht, weder im Alltag noch in der Wissenschaft, daran hindert, Wandel von Stabilität zu unterscheiden. Man sieht aber, dass Stabilität nun als Repetition mit irrelevanter, als irrelevant geltender Veränderung erscheint, welches immer die Relevanzkriterien sind, an denen dies bemessen wird. Stabilität ist irrelevanter Wandel.)
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5. Kapitel: Deconstructing Tony
„Ein jeweils neues Unternehmen“ – voilà, c‘est la différance, ist man geneigt zu rufen. Wieder treffen wir Giddens bei der Geste der Dekonstruktion ohne die Absicht. Hätte er die Absicht, er würde von hier aus weiterdenken in Richtung auf jene Fragen, die sich nun aufdrängen: Wie ist der Zusammenhalt von Gesellschaft oder, wie hier, von Organisationen denkbar, wenn wir im Innersten der gesellschaftlichen Ordnung, in ihren Regeln und in der Regelmäßigkeit sozialer Praktiken, den Keim ihrer Verletzung entdecken. Giddens hätte dann mehr Respekt vor dem berühmten „Hobbesian problem of order“ aufgebracht, das Talcott Parsons umgetrieben hat. Und er hätte sich daher nicht nur für eine – allerdings wohlüberlegte – Definition von Regeln interessiert, sondern vor allem für das Geheimnis ihrer Genesis und Geltung, die zu reflektieren die Figur der Rekursivität ja einen sehr guten Zugang ermöglicht, die aber als prekär in dem Maße gelten müssen, als es nun um Genesis und Geltung angesichts der unterminierenden Kraft der Différance geht. Giddens‘ Kritik an dieser Problemstellung Parsons‘ (Giddens 1976; 1984, 116 ff) finde ich nicht sehr stark. Sie lautet im Kern, dass Parsons „eine begrenzte und fehlerhafte Theorie darüber anbietet, der zufolge es eine Interessenkollision nur insofern geben kann, als eine gesellschaftliche Ordnung nicht in der Lage ist, die Zwecksetzungen der verschiedenen Mitglieder eines Kollektivs an Wertestandards anzupassen, die in einem innerlich symmetrischen Konsensus vereinheitlicht sind. ‚Interessenkonflikte‘ werden in dieser Vorstellung nie mehr als ein Zusammenprall der Absichten der einzelnen Handelnden mit den ‚Interessen‘ eines Kollektivs sein. In einer solchen Sichtweise kann Macht nie als eine Problemkomponente divergierender Gruppeninteressen, die soziales Handeln einschließt, betrachtet werden (...)“ (Giddens 1984b, 117) Parsons fehle also Aufmerksamkeit für „den Zusammenstoß zwischen Gruppen innerhalb der Gesellschaft“ (ebd.). Der Integrationskraft von Macht(-asymmetrien) sei dabei unter Gebühr Rechnung getragen. Das indes macht Hobbes‘ Problem der Ordnung wohl kaum weniger dringlich – im Gegenteil. Der Tatbestand ferner, „daß die normativen Elemente des sozialen Systems kontingente Ansprüche sind, die durch die erfolgreiche Mobilisierung von Sanktionen in den Kontexten wirklicher Begegnungen aufrechterhalten und zur Geltung gebracht werden müssen“ (Giddens 1988, 83), wird von Parsons einerseits nicht verdeckt, wie es Giddens (ebd.) behauptet, stellt aber andererseits mit noch größerer Schärfe das „problem of order“. Ich stimme Giddens‘ Kritik an Parsons dort zu, wo letzterer den gemeinsam geteilten Werten zuviel der Integrationslast aufbürdet – mehr als sie tragen können, wie auch meine Analyse der Notwendigkeit der Verletzung von Normen und Werten nahelegt. Dann aber haben wir erst recht ein Ordnungs- und Integrationsproblem – praktisch und theoretisch. Mein Hauptpunkt hier ist aber, dass dieses Ordnungsproblem eine Fülle weiterer Facetten hat, die in dieser Parsons-Giddens-Reiberei um Interessen, Werte und Normen nicht recht in den Blick geraten, und ich nenne hier die beiden, die mir besonders beunruhigend erscheinen: Wie können Wertkonsens und Normenbefolgung überhaupt gesellschaftlich wirksam werden, wenn die Verletzung von Werten und Normen nicht nur unvermeidliches Übel, sondern im Interesse der Integration und Funktionsfähigkeit von Gesellschaften und Organisationen immer möglich sein muss und unter Umständen gera-
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dezu geboten ist? Und: Wenn wir von hier aus weiter über Integration nachdenken – brauchen wir dann nicht eine Erklärung, die ganz anders als über Wertkonsens verläuft, nämlich über unvollkommene Information, Zonen tolerierter Differenz zu bestehenden Regeln, unintendierte Handlungsfolgen, über Trajektorien, gesellschaftliche straight jackets, Verriegelungen, Blockaden, selbsttragende Entwicklungen und also Selbstorganisation, in der Werte und Normen immer noch ihre, allerdings zurückgestufte, Rolle spielen? Das lässt sich durchaus mit Giddens weiter bedenken, in dessen Theorie unintendierte Handlungsfolgen und „Mechanismen der Reproduktion institutionalisierter Praktiken“ einschließlich „Serien unbeabsichtigter Folgen“ und nicht-reflexiver Rückkopplungsprozesse starke Beachtung erfahren (zu alledem Ortmann 2003). In Sachen Derrida aber hat Giddens dem Abgesang den Vorzug gegeben. Darauf will ich nun noch eingehen – auf die Arbeit aus dem Jahr 1987.
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3 „... dead traditions of thought“ „Structuralism, and post-structuralism also, are dead traditions of thought.“ (Giddens 1987, 195) Mit diesem Paukenschlag eröffnet Giddens seine neuerliche Auseinandersetzung mit dem (Post-)Strukturalismus in dem Sammelband „Social Theory Today“ aus dem Jahre 1987. Nicht, ob Giddens sich hier nicht ein wenig übernimmt, soll hier mein Thema sein, und auch nicht, wessen Ideen und wessen Ruhm länger leben werden: die von Saussure, Lévi-Strauss, Barthes, Foucault, Derrida – oder Giddens. Sondern ich möchte zusehen, ob er neue Gesichtspunkte gewonnen und ins Feld zu führen hat, seit damals, 1979 und 1984, als er die Idee der Différance für sein eigenes Hauptwerk fruchtbar machte – schon damals, wie angedeutet, mit einer Reihe von Monita und Desiderata. Die Antwort, um es vorwegzunehmen, lautet: Nein. Der Beitrag aus dem Jahre 1987 liest sich wie eine etwas elaborierte Version des einschlägigen Kapitels aus „Central Problems in Social Theory“ aus 1979, wie man schon an der einleitenden Zusammenfassung der späteren Arbeit sehen kann. Dort bezeichnet Giddens die folgenden Charakteristika als dauerhafte und definitive gemeinsame Merkmale des Strukturalismus und des Poststrukturalismus – bei allen Unterschieden der einzelnen Autoren: „the thesis that linguistics, or more accurately, certain aspects of particular versions of linguistics, are of key importance to philosophy and social theory as a whole; an emphasis upon the relational nature of totalities, connected with the thesis of the arbitrary character of the sign, together with a stress upon the primacy of signifiers over what is signified; the decentring of the subject; a peculiar concern with the nature of writing, and therefore with textual materials; and an interest in the character of temporality as somehow constitutively involved with the nature of objects and events.“ (Giddens 1987, 196)
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5. Kapitel: Deconstructing Tony
Immer noch räumt Giddens ein: „There is not a single one of these themes wich does not bear upon issues of importance for social theory.“ Das ändert indes nichts an dem tödlichen Eröffnungsstatement, denn der nächste Satz lautet: „Equally, however, there is not one in respect of which the views of any of the writers listed above (Lévi-Strauss, Barthes, Foucault, Lacan, Althusser, Derrida, G. O.) could be said to be acceptable.“ (Giddens 1987, 196) Vier der genannten Problemkomplexe – Linguistik, relationale Natur von Totalitäten, Dezentrierung des Subjekts, Schreiben und Text – liefern Giddens die Themen für die vier großen Abschnitte seiner 1987er Kritik (gefolgt von einem fünften über kulturelle Produktion). Erinnern wir uns zunächst daran, dass alle diese vier Komplexe schon 1979 Thema waren, allerdings mit ganz überwiegend positiver Beurteilung der Fruchtbarkeit ihrer Behandlung durch Derrida und andere. Bei genauerem Hinsehen stellt man zweitens fest, dass immer noch, und ganz besonders im Fall Derridas, Giddens‘ Text von überwiegend zustimmenden Referaten der respektiven Position geprägt ist, in eigentümlichem Kontrast zu dem überaus scharfen EingangsStatement. Der erste Abschnitt („Problems of Linguistics“) handelt von Saussure, Chomsky, LéviStrauss, Barthes, Wittgenstein und Garfinkel; der dritte Abschnitt („The Decentring of the Subject“) von Heidegger, Saussure, Lévi-Strauss, Foucault, Barthes, Lacan und Gadamer. Nur im zweiten („The Relational Nature of Totalities“), vierten („Writing and the Text“) und fünften Abschnitt geht Giddens auf Derrida ein, und dies, wie gesagt, zunächst weitgehend zustimmend, zum Teil in Formulierungen, die stark an den 1979er Text erinnern, zum Teil mit dem Versuch, Derrida und Wittgenstein aneinanderzurücken, zum Teil mit dem Bemühen, sich mittels Wittgenstein von Derrida abzusetzen – beides kennen wir schon aus 1979, und Giddens Gründe dafür müssen wir uns jetzt näher ansehen. Ich glaube, in dieser Lage Giddens gerecht zu werden, wenn ich seine Kritik zu zwei zentralen Einwänden zusammenziehe, die eng miteinander zusammenhängen: 1.
2.
Die Strukturalisten, Poststrukturalisten und eben auch Derrida trügen der Rolle kompetenter, aktiver, kreativer Akteure nicht oder nicht genügend Rechnung. In diesen Zusammenhang gehört die Kritik an der Entthronung des Autors (Giddens 1987, 206 f) und die – zunächst an Saussure und andere Linguisten adressierte – Insistenz auf einem Modell des linguistischen Akteurs (ebd., 197), natürlich vor dem Hintergrund des sozialtheoretischen Desiderats eines sozialen Akteurs: „Structuralism and poststructuralism have in my view been unable to generate satisfactory accounts of human agency“ (Giddens 1987, 211). Die Strukturalisten, Poststrukturalisten und auch Derrida vernachlässigten „the intersection of language and the constitution of social practices“ (Giddens 1987, 199; Hervorh. G. O.) In diesen Zusammenhang gehören die Vorwürfe des Rückzuges in den Code (Giddens 1987, 204) respektive, im Falle Derridas, in den Text (ebd., 208, 219, 219), der Isolation der Sprache vom Kontext des Sprachgebrauchs (ebd., 199), der Reduktion des lin-
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guistischen Kompetenzbegriffs auf eine Art grammatikalischer Kompetenz97 und der Vernachlässigung der Referenz der Bedeutung auf Objekte in der wirklichen Welt, wiederum zunächst an Saussure adressiert (ebd., 203). Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört der Rekurs auf Wittgenstein, der für Giddens den günstigeren Anschluss an seine sozialtheoretischen Interessen erlaubt: „Wittgenstein seeks to understand the relational character of signification in the context of social practices.“ (Ebd., 204 f) Halten wir, ein letztes Mal, fest, dass Giddens all dies, und nahezu deckungsgleich, schon 1979 so gesehen und formuliert hat, um uns nun dieser Substanz seiner Kritik zuzuwenden. Ad 1: Zunächst ist es wichtig zu sehen, was Giddens nicht kritisiert: einen Determinismus, etwa im Sinne einer Determination des Sprechens durch die Sprache. Das wäre, zumal im Falle Derridas, auch wenig angebracht angesichts der Betonung der Mehrdeutigkeit von Texten und daher der Indeterminiertheit des Verstehens, und wir können zwanglos verallgemeinern: des Handelns durch soziale Strukturen. Die Dezentrierung des Subjekts andererseits, im Unterschied zu seinem Verschwinden, hat sich Giddens ganz weitgehend zueigen gemacht. Eher schon schließt sich Giddens, wenn auch nicht an zentraler Stelle, dem landläufigen Vorwurf des „textual relativism“ an (Giddens 1987, 219). Darauf gehe ich hier nicht näher ein, weil ich ihn im 4. Kapitel dieses Bandes, anlässlich meiner Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Einwand Habermas‘, ausführlich zurückgewiesen habe. Für Derrida ist es nicht die Sprache, die spricht, jedenfalls nicht im Sinne einer Determination des Sprechens durch den Code. Dem läuft der Sinn der Denkfigur der Différance in jeder Hinsicht zuwider. Allerdings gibt es für Derrida (1986, 70), einer berühmt gewordenen Formulierung zufolge, „kein Subjekt, das Agent, Autor oder Herr der différance wäre“: kein Agent, kein Herr, aber, so ist dieser Satz zwanglos zu lesen, ein Subjekt, das nicht Herr der Lage ist, das nicht im Zentrum steht und selbst kein Zentrum hat und das aber nolens volens das Spiel der Différance spielt. Es bleibt die Frage nach einem angemessenen Modell des Akteurs. Hier muss man sehen, was vor allem anderen der Gegenstand der Kritik Giddens‘ ist: „the structuralist and poststructuralist distinction between consciousness and the unconscius.“ (Giddens 1987, 207) Giddens‘ Alternativvorschlag, sich an dieser Stelle mit der Unterscheidung von diskursivem und praktischem Bewusstsein zu begnügen, zeugt nach meinem Eindruck eher von Missverständnissen in der Freud-Rezeption. Selbst ein so sympathetischer Kommentator wie der Herausgeber der deutschen Übersetzung des Giddensschen Hauptwerks bemerkt in seiner Einleitung zu diesem Buch: „die Rekonstruktion des ‚Unterbewußtsein‘ ist in Giddens‘ Ansatz sicher nur begonnen. Die Behauptung, Freuds Persönlichkeitsinstanzen (Ich, Es, ÜberIch) wären mit der Begriffstrias S. 57 unten (diskursives Bewusstsein, praktisches Bewusstsein, unbewusste Motive/Wahrnehmung, G. O.) rekonstruiert, erscheint problematisch.“ (Joas 1988, 20) In der Tat. Andererseits scheint mir Giddens einem verbreiteten Irrtum aufzusitzen, den Hans-Dieter Gondek (1998a, 193 f) in einem Nachwort zur deutschen Edition einiger Arbeiten Derridas zur Psychoanalyse korrigiert: „(...) die Psychoanalyse sieht sich
97 „Linguistic competence involves not only the syntactical mastery of sentences, but mastery of the circumstances in which particular types of sentence are appropriate.“ (Giddens 1987, 200)
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5. Kapitel: Deconstructing Tony
auch durch die Hypothese des Unbewußten nicht dazu veranlaßt, nunmehr die Möglichkeit eines ethischen, seiner selbst verantwortlichen Subjekts zu bestreiten. (...) Der Philosoph muß also dessen gewahr sein, daß nicht nur eine aktuelle Theorie der Subjektivität nicht (länger) an der Psychoanalyse vorbeigehen kann, sondern daß die Hypothese des Unbewußten und der Verdrängung auch ihn angeht.“ Mit der Schlichtheit des Giddensschen Modells wird sich das sicher nicht bewältigen lassen. Andererseits ist Derrida (zwar ein Kenner Freuds, Melanie Kleins und Lacans, aber) kein Sozialtheoretiker und will es auch nicht sein. Ihn an der Elle sozialtheoretischer Dringlichkeiten zu messen, wie Giddens es recht leichthändig tut, wird ihm als Kritik daher kaum gerecht. Vielleicht aber könnte man sagen, Derridas Philosophie wäre selbst zu supplementieren durch die Idee eines Autors/Lesers/Akteurs, den es tatsächlich braucht, um die „Kraft der Différance“ zur Geltung zu bringen: eines schreibenden, rezipierenden, interpretierenden, entscheidenden, handelnden Akteurs, der sich mit den Problemen herumzuschlagen hat, die zum Beispiel daraus resultieren, dass er auf Regeln und Entscheidungskriterien rekurriert, die sich in diesem und durch eben diesen Zugriff schon wieder verschieben/verändern. Wie Entscheider und Akteure das bewerkstelligen, wie sie mit anderen Worten entscheiden, obwohl das „eigentlich“ unmöglich ist, ist ja eine weiterführende Frage für jede Entscheidungs- und Sozialtheorie. Es mögen tatsächlich Reste des strukturalistischen Erbes sein, die Derridas Aufmerksamkeit von solchen Fragen ferngehalten haben. De Certeaus subversive Konsumenten aber (s. u., Kapitel 11), Giddens‘ kompetente Akteure oder Hans Joas‘ kreativ Handelnde, aber auch die Grenzgänger in den Zonen des Schweigens (Ortmann 2003), können diese Lücke auf eine Weise füllen, die weder philosophisch noch sozialtheoretisch belanglos ist. Das indes weiter zu bedenken, ist in erster Linie Aufgabe all jener, die heute die Denkfiguren Derridas und den Denkstil der Dekonstruktion für die Sozialtheorie fruchtbar machen wollen, und übrigens auch jener, die das nicht möchten. Der Weg dahin ist nach meinem Eindruck noch weit98 – für uns alle. Giddens‘ Kritik an Derrida ist ein Fall der Projektion der Desiderata der Soziologie auf die Philosophie. Ad 2: Zum Vorwurf des Rückzugs in den Text und der Isolation der Sprache vom Kontext des Sprachgebrauchs fällt die Antwort differenzierter aus. Der sehr frühe Derrida hat selbst nach Meinung sympathetischer Leser solcher Kritik Vorschub geleistet. Für das spätere Werk entfällt diese Berechtigung mehr und mehr, es sei denn in dem geradezu trivialen Sinne, dass Derrida mit seinem gesamten Werk, in der Philosophie nicht ganz unüblich, den Weg der Auseinandersetzung mit den bedeutenden Texten der Philosophiegeschichte und der Literatur nimmt. Die Lage wird dadurch verwickelter, dass Derrida einen vom Alltagssprachgebrauch stark abweichenden, extrem weiten Textbegriff hat: Es „setzt dieser neue Begriff des Textes voraus, daß man in keinem Moment etwas außerhalb des Bereiches der differentiellen Verweisungen fixieren kann, das ein Wirkliches, eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit wäre, etwas, das nicht es selbst wäre,
98 Für erste Schritte im Gelände zwischen Sozialtheorie und Psychologie, die mir, übrigens in Anschluss an Parsons, sinnvoll erscheinen, vgl. Ortmann (1995b; 1995c).
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markiert durch die textuelle différance, durch den Text als différance mit einem ‚a‘. Ich habe geglaubt, daß es notwendig wäre, diese Erweiterung, diese strategische Verallgemeinerung des Textes durchzuführen, um der Dekonstruktion ihre Möglichkeit zu geben. Der Text beschränkt sich folglich nicht auf das Geschriebene, auf das, was man Schrift nennt im Gegensatz zur Rede. Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text in diesem neuen Sinne.“ (Derrida 1987, 107 f) Man könnte es sich also leicht machen und erwidern: Damit wird der Vorwurf des Rückzugs in den Text gegenstandslos, weil dann alles soziale Handeln als Text oder doch wie ein Text entziffer- und deutbar würde – so, wie es Paul Ricœur (1978) systematisch begründet hat. An dieser letzteren Bestimmung indes ist etwas Wahres nur, solange wir sie nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, sondern im Auge behalten, dass sie sich nur auf einen Aspekt sozialen Handelns bezieht. Den allerdings haben wir alle immer schon gemeint und implizit auch genannt, wenn wir von Kontext gesprochen haben. Die Rede vom Kontext des Handelns, ein ganz wichtiges Thema Giddens‘ und Derridas (aber zuvor längst bei Bateson 1981), erklärt das Handeln oder, genauer, Handlungssituationen und Handlungssysteme, ja schon zum Text. Organisationstheoretiker werden an die Kontextfaktoren des situativen Ansatzes denken. Soziales Handeln ist indes gewiss nicht nur (Produktion von) Text99 – so übrigens, wie es nicht nur Kommunikation ist. Aber es ist sozial nur, soweit es auch und vor allem Kommunikation und also Text(produktion) ist – insofern es sinnvolles, bedeutungsvolles Handeln ist, das interpretiert sein will und seiner Interpretation alle Schwierigkeiten in den Weg legt, mit denen wir es bei der Interpretation von Texten im landläufigen Sinne zu tun haben, vor allem die unabstellbare Mehrdeutigkeit in Abhängigkeit von je wechselnden Situationen und Kontexten. Das führt uns mitten hinein in Giddens‘ Wunsch, den er bei Wittgenstein100 und Garfinkel besser bedient sieht als bei Derrida, das Verständnis von Sprache und sozialem Leben stärker miteinander verschränkt zu sehen. Gegen Chomsky insistiert Giddens auf diesem Zusammenhang: „Knowing a language certainly means knowing syntactical rules but, equally importantly, to know a language is to acquire a range of methodological devices involved both with the production of utterances themselves and with the constitution and reconstitution of social life in the daily contexts of social activity“ (Giddens 1987, 200). 99 Letzteres indes ist selbst in einer so frühen und einschlägig verdächtigen Arbeit wie „Fines homines“ (1968; deutsch 1999a) nicht die These. Dort spricht Derrida im Gegenteil vom, um nur ein Beispiel anzuführen, „gewalttätigen Bezug des Ganzen des Okzidents auf sein Anderes (...), ob es sich nun um einen ‚sprachlichen‘ Bezug (...) handeln mag oder um einen ethnologischen, ökonomischen, politischen, militärischen und so weiter. Was übrigens nicht besagen soll, die militärische oder ökonomische Gewalt sei nicht strukturell mit der ‚sprachlichen‘ Gewalt solidarisch. Doch die ‚Logik‘ eines jeden Bezugs auf ein Außen ist höchst komplex und überraschend.“ (Derrida 1999a, 155) Am Anfang übrigens rückt Derrida das Colloquium, auf dem er „Fines homines“ vorgetragen hat und das 1968 in New York stattfand, und seinen Vortrag ausdrücklich in den historischen und politischen Kontext des Vietnam-Krieges und der Ermordung Martin Luther Kings. 100 Wittgenstein indes so, wie Giddens es tut, in Gegensatz zu Derrida zu bringen, scheint mir kaum gerechtfertigt. Fruchtbarer wäre es, Affinitäten und Anschlussmöglichkeiten zwischen beiden herauszuarbeiten; vgl. dazu Staten (1985).
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5. Kapitel: Deconstructing Tony
Eine Sprache verstehen heißt daher: eine Lebensform kennen – und eine Lebensform kennen heißt: „to be able to deploy certain methodical strategies geared to indexical qualitites of the contexts in which social practices are carried out.“ (Giddens 1987, 200) Mir geht es hier nun vor allem darum, deutlich zu machen, dass auch dieser Hinweis bei einem Autor, dem ansonsten sein radikaler Kontextualismus vorgeworfen wird, offene Türen einrennt. Über die „Dissemination“ von Bedeutung angesichts nicht stillstellbarer Vielfalt der Kontexte hat sich Derrida nun wirklich durch sein gesamtes Werk hindurch und in aller Radikalität geäußert. Immer stärker rückte dabei auch in den Blick, was Giddens unter dem Titel „Referenz“ anmahnt: der Bezug aller Texte, aller Kommunikation auf Referenten, auf Objekte in der Welt. Giddens konstatiert „weaknesses in respect of the basic issue (...) how to relate the text back to an exterior world. (...) structuralist and post-structuralist traditions (have) failed to generate satisfactory accounts of reference that would make sense of scientific achievements“ (Giddens 1987, 210) Ihm fehlt der Konnex zum praktischen Bezug auf die äußere Welt im sozialen Handeln. Dieser Bezug indes erfährt Derridas Aufmerksamkeit im Zuge des gesteigerten Interesses Derridas für die Performativität von Sprechakten in den „jüngeren“ Arbeiten, die aber nun auch schon ein Vierteljahrhundert zurückreichen. „Man muß aber auch sehen, daß erst die langwierige Konfrontation mit den Sprechakttheoretikern Austin und Searle Derrida die Mittel an die Hand gegeben hat, das, was jemand sagt, mit dem, was er tut, ins Verhältnis zu setzen.“ (Gondek 1998a, 220) Von dieser Auseinandersetzung, die Anfang der siebziger Jahre begann und von der der erste wichtige Text (über Austin), „Signature Event Context“, 1977 erstmals in englischer Übersetzung vorlag (Derrida 1977), hätte Giddens Kenntnis nehmen können. Wahr bleibt indes auch, dass Derridas Interesse kein soziologisches ist. Eine Theorie des kommunikativen Handelns oder eine Strukturationstheorie von ihm zu verlangen, kann daher Giddens‘ Ernst kaum sein. Wieder ende ich mit dem Fazit: Das bleibt die Aufgabe der Soziologen. Giddens selbst hat es ja begonnen, übrigens auch mit Blick auf das Problem der Kontextualität des Handelns und der Indexikalität des Kontextes, das ihm zu Recht so wichtig ist: „In speaking of the contextuality of action, I mean to rework the differantiation between presence and absence. Human social life may be understood in terms of relations between individuals ‚moving‘ in time-space, linking both action and context, and differing contexts, with one another.“ (Giddens 1987, 215) „Indexicality of context“ aber (ebd.) ist nur ein anderer Name für die Kontextabhängigkeit und -freiheit des Schreibens, Sprechens und Handelns – ein überragend wichtiges Denkmotiv auch für Derrida. Giddens‘ Versuch, daran anzuschließen, hätte jedenfalls nicht aus dem Grunde enden müssen, den er in diesem Zusammenhang (1987, 214) nennt, allerdings mit Blick auf die Strukturalisten: dass die Kontextualität des Handelns darin fehlt oder heruntergespielt wird. Dass zu einem so gravierenden Missverständnis manche spektakulären Formulierungen Derridas beigetragen haben, sei ausdrücklich erwähnt. „There is nothing outside the text“? Das hat Derrida später so erläutert: „Eine der Definitionen dessen, was man Dekonstruktion nennt, wäre das Miteinbeziehen dieses unbegrenzten Kontextes, die möglichst wache und umfassende Beachtung
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des Kontextes und somit eine unablässige Bewegung der Rekontextualisierung. Der Satz, der für manche gleichsam zum Slogan der Dekonstruktion geworden ist und im allgemeinen völlig falsch verstanden wurde (‚es gibt kein außerhalb des Textes‘ [‚il n’y a pas de hors texte‘], heißt nichts anderes als: Es gibt kein außerhalb des Kontextes (...)“ (Derrida 2001, 211). Die Einsicht in die Unabschließbarkeit von Kontexten, in den „unendlichen Regreß der Kontexte“, weit davon entfernt, eine Grille „postfranzösischen“ Denkens zu sein, hat vielmehr einen so anglo-amerikanischen Denker wie Gregory Bateson schon vor einem halben Jahrhundert umgetrieben (Bateson 1983; dazu Ortmann 2003). Wie gut hätte Giddens auch darin an Derrida anschließen können. Immerhin: Er hat zur Nutzung des Denkens Derridas für die Sozialtheorie einen verheißungsvollen Anfang gemacht. Er ist diesen Weg nicht weitergegangen. Es steht uns frei, darin über Giddens hinauszugehen. Einen Anfang dazu habe ich mit „Formen der Produktion“ (1995), dann mit einem Beitrag über „Organisation und Dekonstruktion“ (1997) gemacht, der den folgenden Teil eröffnet. Einige Überschneidungen zu anderen Kapiteln dieses Buches habe ich dafür in Kauf genommen.
II Organisation
6. Organisation und Dekonstruktion∗ 6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
„Postmoderne“ und „Dekonstruktion“ bezeichnen Denkströmungen, die in Deutschland – und übrigens auch in England, den USA und selbst in Frankreich – auf große Reserve, wenn nicht gar Ressentiments stoßen. Dafür gibt es, wie gesehen, gute und schlechte Gründe – gute, insofern die diversen „post this, neo that“-Labels der vergangenen Jahre in der Tat von einer gewissen Beliebigkeit zeugen. Ich möchte nicht solche Kritiken wiederholen oder erneuern, sondern argumentieren, dass sich im Werk Jacques Derridas Denkfiguren – Différance und Supplément – finden, die das genaue Gegenteil von Unverbindlichkeit und Beliebigkeit implizieren und von denen wir in der Organisationstheorie einen durchaus fruchtbaren Gebrauch machen können. Mehr noch – es lässt sich zeigen, dass gewichtige Strömungen der Organisationsforschung der mit diesen Figuren bezeichneten Denkbewegung längst sich nähern oder folgen, wenn auch meist ohne sich dabei auf Derrida zu beziehen. Anhand wichtiger und geläufiger Konzepte aus der Organisationstheorie – Entscheidung, Effizienz, Rationalität, Regeln, Struktur – möchte ich plausibel machen, warum mir besonders fünf, sechs Bestimmungen so attraktiv und wichtig erscheinen, dass wir sie nicht denen überlassen sollten, die darin nichts als „the french disease“ – Derridada und Lacancan – sehen können:
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die Unhintergehbarkeit und Unabschließbarkeit der Interpretation sozialen, also auch organisationalen Handelns und Entscheidens – ihre Mehrdeutigkeit (nicht: Beliebigkeit) angesichts nicht stillstellbarer Perspektiven- und Kontextveränderungen; die Logik des Supplément (Ergänzung/Ersetzung) und die Dekonstruktion der Idee reiner Ursprünge oder Prinzipien; die Idee des eingeschlossenen Ausgeschlossenen sozialer Systeme, also auch: organisierter sozialer Systeme; die Verlagerung der Akzente von der Identität (zum Beispiel einer Organisation) auf Differenzen und die Unterminierung des Gegensatzes zwischen Identität und Differenz in der Figur der Différance; die Absage an die Idee finaler Lösungen und ein Konzept stillschweigend tolerierter Differenzen, das sich aus alledem zwanglos entwickeln lässt und für die Organisationstheorie fruchtbar gemacht werden kann.
Ein Hammer, ein Nagel und ein Pudding
1 Ein Hammer, ein Nagel und ein Pudding „Die eirõneia ist ein (Be-)Fragen durch Vortäuschung von Unwissenheit.“ Jacques Derrida (1994a, 403) Nicht Krone, Thron und Stab, nicht Sporen, Helm und Schild, nicht Fahnen und Standarten, Ketten, Stäbe oder Szepter sind die Insignien der Kommission „Organisation“ des Verban-
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Zuerst erschienen in: Schreyögg, G. (Hrsg.): Organisation und Postmoderne. Grundfragen – Analysen – Perspektiven, Wiesbaden 1999, 157-196; geringfügig modifiziert.
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
des der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft, sondern, nun ja: Hammer, Nagel und Pudding. Jeder, jede Kommissionsvorsitzende empfängt zur Amtseinführung, in einer nicht anders als feierlich zu nennenden Zeremonie, diese Zeichen der Macht, der Würde und der Amtsgewalt, und jedes Mal, wenn das geschieht, ist es ein Akt der, neudeutsch gesprochen, Selbstreferenz, nämlich der Selbstironie und des Selbstzweifels, und es ist dies der Augenblick, da uns alle ein wissendes, ein verschwörerisches Lächeln eint, und dieses Lächeln besagt: „Das eben ist unser Geschäft: verdammte Puddinge an die Wand zu nageln. Da wird ein bisschen Abwehr wohl noch erlaubt sein – und ganz so ernst ist es ja auch nicht gemeint.“ Ja: Abwehr, denn das, die Abwehr des beunruhigenden Neuen, ist, wie wir eben alle wissen, neben und vermittels der Insistenz auf Präzision, eine Funktion der Rede vom Pudding, den man nicht an die Wand nageln kann, die seit unvordenklichen Zeiten die Tagungen der Kommission als running gag begleitet: Technologie? Organisationskultur? Humanisierung der Arbeit? „Ein Pudding, den man nicht an die Wand nageln kann.“ Zweifel aber an dieser Art Selbstschutz, dafür stehen jene Symbole, sind uns willkommen. Honi soit qui mal y pense. Eine Kommission von Schelmen aber, deren Insignien nicht Stärke, Stabilität und Sturheit symbolisieren, sondern Selbstzweifel, Ironie und Augenzwinkern, verdient es (um auf jeden von uns Schelmen anderthalbe zu setzen), postmodern genannt zu werden. In selbstdekonstruktiver Bewegung unterminieren wir des Abends, in jener Zeremonie, die Versuche der Selbstvergewisserung und Befestigung der Selbstgewissheit, denen wir uns tagsüber hingeben, und genießen die Steigerung der Reflexivität der Moderne, die darin liegt, dass wir noch jenes harmlosen Dogmatismus innewerden, mit dem wir neue Begriffe, neue Konzepte, neue Ansätze allzu gern als so einen Pudding abtun. Nicht auszuschließen allerdings, dass in diesem Genuss bei manch einem auch ein Behagen an der besonders wirkungsvollen Affirmation mitschwingt, die eine begrenzte Inklusion des ausgeschlossenen Zweifels allemal bewerkstelligt. Und daran ließe sich lernen, warum es Dekonstruktion heißt: eben weil die Bewegung des Unterminierens nicht etwa Nichts hinterlässt, sondern durchaus ein Etwas, und das muss nicht etwas Neues, es kann auch das affirmierte, das befestigte Alte sein – in den alten Paradigmen lässt es sich um so sicherer leben, je mehr Zweifel in sie eingebaut sind: eingebaut und begrenzt. Diese Figur des eingeschlossenen Ausgeschlossenen wird uns noch wiederbegegnen. Halten wir zunächst fest, und dies nun ganz ernstlich: Noch als ich mein Studium aufnahm, 1964, wären Hammer, Nagel und Pudding als ironische Insignien einer Hochschullehrerkommission undenkbar gewesen. Damals waren es Talare, Amtsketten und, als saloppe Version, schwarze Anzüge. Eine Kommission, die den Grund, auf dem sie gründet, nicht nur braucht, sondern auch, und sei es manchmal, entbehren kann, ihn nicht nur baut, sondern auch untergräbt, folgt noch darin Derrida, dass sie nicht nur ihn abwehrt – „Pudding, den man (...)“ –, sondern diese Abwehr auch ironisiert. Und darin zeigt sie: ihre Lebendigkeit. Die Postmoderne also? „Ein Pudding...“ Jedoch: Erstens ist es eine gute Übung, sich zu fragen, wann derart die Unschärfe von Begriffen moniert wird, und wann nicht, und die Antwort lautet meist: Missbilligung wird
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laut, wenn die Begriffe neu, nicht schon, wenn sie unscharf sind. Etablierte Begriffe pflegen oft genug besonders unscharf, schillernd und mehrdeutig zu sein, und um so mehr, je zentraler ihre Stellung im Theoriegebäude ist. Man denke nur an Begriffe wie Handlung, Entscheidung, Situation, Struktur, Strategie, Regel, Kontext, Information, Führung, Transaktion, Organisation... Tatsächlich liegt eine weitere nicht unbeträchtliche, eine dritte Ironie genau darin, dass ausgerechnet Jacques Derrida, wie wir noch sehen werden, ganz und gar ernstlich, manchmal nahezu obsessiv, eben darauf insistiert, dass die Bedeutung von Wörtern und dass der Sinn von Handlungen und Entscheidungen nicht – und zwar prinzipiell nicht – „an die Wand genagelt“, nicht ein für alle Mal festgestellt, und das heißt ja: ermittelt und fixiert, sondern nur in ihrer beständigen Veränderung in einem unabschließbaren Spiel der Differenzen ausgelotet werden kann. Zweitens haftet erst recht allem Neuen mit Notwendigkeit eine gewisse Unübersichtlichkeit, neuen Begriffen daher eine Unfertigkeit und Vorläufigkeit an, und man sollte sie daher nicht unter dem Anspruch auf Fix und Fertiges im Keime ersticken. Drittens gibt es manchmal Zwickmühlen-Versionen der Kritik: Entweder „Es ist neu? Soll etwa alles Bisherige falsch gewesen sein?“ Oder: „Es ist nicht neu? So what?“ Demgegenüber möchte ich daran erinnern, dass es, auch in der Theoriegeschichte, eine creatio ex nihilo nicht gibt und nicht geben kann, und dass es daher nicht verwunderlich ist, wenn in der Geschichte der Organisationstheorie zahlreiche Vor-Läufer und Vor-Denker dessen anzutreffen sind, was Derrida, gewiss radikaler, mit Dekonstruktion und Différance vorschwebt: jene, die uns mit bis dato nicht bedachten Differenzen überrascht haben, der Differenz etwa zwischen formeller und informeller Organisation; zwischen vollkommener und begrenzter Rationalität; zwischen Effizienz- und Legitimationserfordernissen; zwischen Handlungs- und Entscheidungsrationalität; zwischen „talk, decision, and action“; zwischen Regel und Regelanwendung, um nur einige zu nennen. Vielleicht rührt die erwähnte Selbstreflexivität und Selbstironie in Sachen „Abwehr des Neuen“ auch daher, dass Organisationsforscher und -forscherinnen es in ihrem Objektbereich so häufig mit organisationaler Trägheit zu tun haben, die auf solcher Abwehr beruht. „Congealing oil“ war William Starbucks Metapher für die einschlägigen, rekursiv stabilisierten Ideologien, erfunden „to justify acting ideologies out“ (Starbuck 1982). Und siehe da: Jene Festigkeit, die wir vielleicht eben noch unserem Pudding gewünscht hatten, ist unversehens in eine Starrheit übergegangen, die an Starrsinn grenzt. So, the only way to proof the pudding ...
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Anything goes?
Anything goes? Unter den Ingredienzien, die den Pudding namens Postmoderne, dem on dit zufolge, so hoffnungslos zerlaufen lassen, gibt es kein prominenteres als die Botschaft der Beliebigkeit. „Anything goes“ jedoch war schon nicht das Postulat Paul Feyerabends. Der hat nicht postuliert, dass in der wissenschaftlichen Begründung alles erlaubt sein soll, sondern konstatiert, dass im Entdeckungs- und Entstehungszusammenhang alles möglich (gewesen) ist; dass dort, wie wir seit Thomas Kuhn wissen, Paradoxien, Inkonsistenzen, das Festhalten an Ideen trotz offensichtlicher Unvereinbarkeit mit „den“ Daten, Intuition, die ästhetische Orientierung an der Eleganz und Einfachheit von Lösungen, also alles, was die präskriptive Wissenschafts-
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
theorie und Methodologie in den Orkus der Wissenschaftsgeschichte verbannt wissen möchte, in der Geschichte der Wissenschaft tatsächlich eine wichtige, unvermeidbare und oft genug fruchtbare und inspirierende Rolle gespielt hat und notwendigerweise spielt101. Feyerabend war für mich der gegenüber Popper sehr viel strengere Denker, und ähnliche Verhältnisse herrschen zwischen den Foucault, Lyotard und Derrida einerseits und jenen andererseits, die ihnen so schnell, und das heißt meistens, ohne sie gelesen zu haben, die Botschaft der Beliebigkeit unterschmuggeln. „Beliebigkeit“ ist ein Abwehrbegriff – mit ihm halten wir uns Bedrohliches vom Halse. Er ist ein paradigmatisches Beispiel für Starbucks „congealing oil: inventing ideologies to justify acting ideologies out“; Denkverbotsschild: ab hier nicht weiterlesen. Eine – und die zumal in Deutschland schwerwiegendste – Spielart des Beliebigkeitsvorwurfs an die Adresse Derridas lautet: Bedeutungsrelativismus. Sie ist in Deutschland so schwerwiegend, weil sich selbst Jürgen Habermas (1985, 232) ihrer bedient hat – in einem Text über Derrida, der, wie gezeigt102, einige Merkwürdigkeiten aufweist. Ich kann mich hier nicht auf philosophie-immanente Details zum Relativismus-Vorwurf einlassen und verweise dafür auf die penible und präzise Widerlegung durch Hans-Dieter Gondek (1987; s. o., Kapitel 3.5 und 4.2). Statt dessen empfehle ich Zweifelnden einfach die Lektüre der geradezu obsessiv strengen, genauen, verbindlichen, kritischen, leuchtenden Rousseau-, Lévi-Strauss- oder Marx-Lesarten Derridas, die in der Philosophiegeschichte ihresgleichen suchen und die, wenn ich so sagen darf, solchen sekundären Debatten performativ ein Ende setzen. Was Derrida, schärfer gewiss als manch anderer, in Sachen ‚Bedeutung‘ ins Auge fasst, ist ihre durch keinerlei finalen Gestus abschließbare „Dissemination“ in das nicht eingrenzbare Feld ihrer Auslegungs- und Anschlussmöglichkeiten. Das enthebt uns, und ganz gewiss ihn, nicht der Pflicht zu Verbindlichkeit, Präzision und Begründung je konkreter Interpretationen, und schon gar nicht ist eine Entbindung aus dieser Pflicht, was Derrida je postuliert hätte.103 Was aber wir Ökonomen und Organisationsforscher mit solchen Fragen zu schaffen haben, sieht man vielleicht am schnellsten an einem Beitrag von Sadowski und Pull (1997) über betriebliche Sozialpolitik, in dem sie frühere, ökonomische Sichtweisen auf diesen Gegenstand (Sadowski 1984, Pull 1996) durch eine neue, eine politische Perspektive ergänzen und dies so erläutern: „Wir beabsichtigen mit diesem Perspektivenwechsel nicht, die früheren oder anderen Ansätze zu widerlegen, sondern wir möchten über die Einsichten zu unserer konkreten Frage hinaus zeigen, daß elementare betriebswirtschaftliche Phänomene alles andere als eindeutig und selbstverständlich sind.“ (Sadowski, Pull 1997, 150)
101 Feyerabend (1975); vgl. auch Feyerabends explizite Klarstellungen (1978, 39 f, und 1987, 283 f) und Donald McCloskeys souveräne Erörterungen (1994, 94 ff, 181 ff und passim) jener wohlfeilen Feyerabend-Kritik. 102 Vgl. die Kapitel 2 und 3. 103 Im Gegenteil: Im Kontext des Interpretierens müsse man „Regeln der Kompetenz und des Konsenses, guten Glauben, Hellsichtigkeit, Strenge, Kritik und Pädagogik geltend machen können“ (Derrida 2001, 226).
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Natürlich würden sich Sadowski und Pull, wie auch Egon Franck (s. u.), schön bedanken für die zweifelhafte Ehre, sich hier entlang einer Linie eingereiht zu finden, die zu Derrida führt. Aber mit ihnen sind wir bei Interpretationsbedürftigkeit und Mehrdeutigkeit angelangt. Die beiden stützen sich dabei auf den großen Neoklassiker und Neoklassik-Kritiker Donald McCloskey: „Von McCloskey (1990, 1994) stammen viele Arbeiten, die anhand der neoklassischen Wirtschaftstheorie und auf sie bauender ökonometrischer Empirie klarmachen, wie selten unterschiedliche Hypothesen dem offiziellen Programm gemäß durch statistische Tests, wie häufig sie dagegen nach ihrer Stichhaltigkeit in Abhängigkeit von bestimmten Vorentscheidungen beurteilt werden, pointiert und konsequent metaphorisch gesprochen also nach ihrem Erzählwert in unterschiedlichen ‚Stories‘.“ (Sadowski, Pull 1997, 150) Und darin liegt nicht etwa ein behebbarer Mangel, in Kauf genommen durch PseudoWissenschaftler, die süffigen Geschichten den Vorzug vor exakten Statistiken geben, sondern, wie wir „eigentlich“ ja alle wissen, jede Statistik bedarf der Interpretation. Metaphern, story telling, Interpretation:
„Der positivistische Vorschlag, solche Fragen und Aussagen auszurotten, die keine Anweisung zu ihrer Verifikation enthalten, schließt die Stillegung von Praxis ein, die auf solchen Prämissen beruht, und wird dadurch illusionär“ (Blumenberg 1981, 126; zitiert bei Sadowski, Pull 1997, 150). Ökonomie ist – sie kann nicht anders – eine interpretative Wissenschaft, weil sie es mit der Bedeutung des Wirtschaftslebens zu tun hat. Und McCloskeys „Rhetorik der Ökonomie“ (1985), das hat er unzählige Male klargestellt, ist keineswegs ein Freibrief für Beliebigkeit, sondern beruht auf einer Tetrade aus Fakten und Logik und Metaphern und Geschichten, und das heißt: Die Geschichten müssen sehr wohl kritisierbar, das heißt, auf ihr Zusammenstimmen mit den Fakten und der Logik überprüfbar sein: Strenge statt Beliebigkeit (zu alledem s. Kapitel 20). McCloskeys Fakten, Egon Francks „Entscheidungen, wie sie wirklich sind“ (siehe unten, Abschnitt 4), sie alle sind uns nur über (alltags-) theoriegeleitete Prozesse des Wahrnehmens und Interpretierens gegeben, nicht „an sich“. Ich nutze die Gelegenheit, um auch an diesem Punkt eher die Kontinuität als die Diskontinuität dieser Einsicht, diesmal mit der abendländischen Philosophietradition, zu betonen. Seit den Vorsokratikern und erst recht seit Platons Höhlengleichnis unterscheiden sich die Antworten, nicht die durch dieses Problem aufgegebenen ontologischen Fragen. Und weder Nietzsche noch Heidegger noch Derrida haben sich dem aussichtslosen Projekt des Solipsismus und der Leugnung einer äußeren
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
Realität hingegeben, das sich ja sofort in nichts als Widersprüche verstricken muss104, deren naheliegendster natürlich mit der Frage aufgedeckt wird: Ist jene Leugnung wahr? Dass wir im Lichte der Einsichten aus solchen Debatten unsere Wahrheitsansprüche, auch an die Wissenschaft, niedriger hängen und uns mit hypothetischen, vorläufigen, notwendig perspektivischen und schwachen Wahrheiten, mit Viabilität von Theorien vielleicht im Sinne des Konstruktivismus oder Pragmatismus zufriedengeben müssen, das pfeifen die Spatzen von den Dächern der Epistemologie. Zu solcher Viabilität zählt, nota bene, „das kognitive oder begriffliche Äquilibrium des denkenden Subjekts“, und, „da das denkende Subjekt seine Erlebniswelt mit anderen denkenden Subjekten bevölkert, (...) notgedrungen eine soziale Komponente“ (von Glasersfeld 1991, 166). Interpretation und Kommunikation sind auf doppelte Weise unhintergehbar: weil sie konstitutiv für den Forschungsgegenstand, für den Prozess des Organisierens, und weil sie konstitutiv für den Forschungsprozess sind. Deshalb, wegen dieser interpretativen, narrativen Dimension, hat Betriebswirtschaftslehre, hat Organisationsforschung es mit „frameworking“ zu tun (Osterloh, Grand 1994), deshalb ist Organisieren „die allmähliche Verfertigung der Organisation beim Reden“ (Kieser 1998) und „Narrativität (...) das zentrale Organisationsprinzip von gelebter Wirklichkeit und menschlichem Denken und Handeln“ (Vaassen 1996, 231). Und deshalb gibt es eine „verblüffend rasche Rezeption theoretisch avancierter Positionen“ der Postmoderne-Diskussion (Walter-Busch 1996, 267). Darauf möchte ich einen kurzen Blick werfen, vor allem, soweit sie Derrida und die Dekonstruktion betrifft.
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Organisation und Dekonstruktion – state of the art
state of the art Nicht Derrida, sondern Foucault ist der erste Autor aus diesem Umkreis, der das Interesse von Organisationsforschern erregt hat, und es war naheliegend, dass die Aufmerksamkeit sich besonders auf das Werk „Überwachen und Strafen“ konzentriert hat105. Das Interesse ist hier oft ein recht substantielles, das nämlich an der Frage nach Parallelen, Familienähnlichkeiten oder gar einer tieferen Identität von Organisation und Benthamschem Panoptikum. Inzwischen jedoch mehren sich die Stimmen, die eine umfassendere Reflexion auf die Fragen, die in der Postmoderne-Diskussion erörtert werden, auch für die Organisationstheorie für geboten und fruchtbar halten, und zwar weit über eine Foucault-Rezeption hinaus106. Schon erscheinen die ersten Sammelbände, Dissertationen und Monographien107.
104 Wie in Fußnote 41 erwähnt: Heidegger hat vielmehr diese ganze Frage als falsch gestellt zurückgewiesen. Und Derrida hat explizit genug einer Position das Wort geredet, die „die Welt, die Realität, die Geschichte umfaßt und nicht ausschließt.“ (Derrida 2001, 212) 105 Vgl. zum Beispiel Blume (1981), Ortmann (1984), Burrell (1988), Knights, Willmott (1989) Knights (1990), Kieser (1998), Cooper (1992), Neuberger (1997), Burrell (1997); inzwischen s. aber Lemke (1997), Türk, Lemke, Bruch (2002), Weiskopf (2003). 106 Etwa: Cooper, Burrell (1988), Gergen (1992), Parker (1992). 107 Hassard (1993), Hassard, Parker (1993); Pelzer (1995); Chia (1996); Heinl (1996); Vaassen (1996); Burrell (1997); Weik (1998); besonders anregend für Organisationstheoretiker Walter-Busch (1996), weil er eine Linie skizziert, besser gesagt: ein Treppauf, Treppab à la Escher, das von Max Weber bis Karl E. Weick hinauf-/hinabläuft und postmodernis-
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Welche Desiderata, welche Besorgnisse treiben diejenigen um, die sich zu Wort melden? Ich nenne nur:
Die Unhintergehbarkeit von Sprache und Interpretation, die Kritik an abbildtheoretischen, „repräsentationistischen“ Auffassungen von Sprache und Wahrheit („Was bedeutet jene Korrelation zwischen Kontext und Organisationsstruktur?“); die Unabschließbarkeit von Interpretation angesichts nicht exorzierbarer Mehrdeutigkeit („Sind betriebliche Sozialleistungen paternalistisch oder ökonomisch oder politisch motiviert/erklärbar?“); die Kritik der Idee reiner Prinzipien, reiner Ursprünge (Wirtschaftlichkeitsprinzip, Prinzip des methodologischen Individualismus, Organisationsprinzipien, das Prinzip „structure follows strategy“ etc.; siehe Abschnitt 5); als Kehrseite dieser Medaille: die Kritik an der Idee finaler Lösungen („one best way“); infolgedessen: die Insistenz auf der Temporalität und Prozessualität, auf dem Werden und der Iteration, die sich bei Chia (1996) gar zu einer „ontology of becoming“ verdichtet (verkrustet?); dieser Punkt, berühmt geworden schon durch Karl Weicks Kritik an der Verdinglichung von Organisation und sein Plädoyer für den „Prozeß des Organisierens“ als Fokus unserer Aufmerksamkeit, ist besonders gut anschlussfähig an heutige Debatten um Prozessorganisation, Pfadabhängigkeiten, Trajektorien, Wandel und Evolution.
Man sieht hoffentlich: Jeder dieser Gesichtspunkte ließe sich leicht aus einer immanenten Kritik einschlägiger organisationstheoretischer Positionen entwickeln, und jede dieser Kritiken ist längst, mehr oder minder elaboriert, innerhalb der Organisationstheorie vorgetragen worden. Es handelt sich „nur noch“ darum, diese Anschlussstellen wahrzunehmen, zusammenzuschauen und aus dieser Zusammenschau Konsequenzen zu ziehen. Darum haben sich längst auch Autorinnen und Autoren bemüht, die dabei besonders an die Denkfigur der Dekonstruktion anschließen, die von Jacques Derrida entwickelt worden ist108. Viele der von ihnen vorgelegten Arbeiten intendieren eine systematische Sichtung eines möglichen Beitrags Derridas zur Organisationsforschung, oft unter Betonung epistemologischer Grundsatzfragen. Darüber kann man sich dort zuverlässig informieren. Mir ist hier mehr an Beispielen substantieller Analysen gelegen, weil es daran (noch?) mangelt, sich aber erst an solchen (und nicht an programmatischen/epistemologischen) Analysen erweisen kann, ob der Rekurs auf die Figur der Dekonstruktion die Organisationsforschung inhaltlich weiterbringen kann. Denn, wie schon Nietzsche (1960, 446) bemerkte: „Wir wissen, dass die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergibt, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres ‚leeren Raumes‘, ein Zuwachs unserer ‚Öde‘.“
tische und konstruktivistische Ansätze als Zeichen eines gewissen Reifestadiums der Verwissenschaftlichung des Faches interpretiert – einer paradoxen Escher-Reife allerdings, wie man hinzufügen sollte. 108 Vgl. etwa Cooper (1989); Dupuy (1990); Dupuy, Varela (1991); Parker (1992); Gergen (1992); Linstead, Grafton-Small (1992); Hassard (1993); Kilduff (1993); Linstead (1993); Ortmann (1995a); Chia (1994, 1996); Vaassen (1996); Kilduff, Mehra (1997); Weik (1998); Ortmann (2003).
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
Als zwei solche inhaltlich weitertreibenden Analysen nenne ich: Robert Chias Dekonstruktion von Entscheidungsprozessen und Jean-Pierre Dupuys und Francisco Varelas Dekonstruktion des Ursprungsdenkens und der Einheit sozialer Systeme, also auch: organisierter sozialer Systeme, bewerkstelligt, in Dupuys Worten, durch analytischen Nachvollzug der „Selbst-Dekonstruktion von Konventionen“. Beide sind besonders erhellend für die Organisationsforschung, beide Male sind die Anschlussstellen an die immanente Denkbewegung der Organisationsforschung recht deutlich, und beide möchte ich – in den folgenden Abschnitten 4, 5 und 6 – ein wenig forcieren.
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Entscheidungsprozesse – eine dekonstruktive Analyse
4 Entscheidungsprozesse – eine dekonstruktive Analyse Robert Chia (1994; geringfügig modifiziert in 1996, 193 ff) hat sich an eine Dekonstruktion von Entscheidungsprozessen gemacht, ausgehend von einem kritischen Nachvollzug der einschlägigen Entwicklung der Organisationstheorie entlang der Linie Taylor-BarnardSimon-Lindblom-Mintzberg/Waters-Pettigrew-March, mit folgenden Ergebnissen, die ich jeweils mit Verweisen auf Einsichten betriebswirtschaftlicher und soziologischer Organisations- und Entscheidungsforschung weiter zu stützen versuche: 1. „Entscheidung“ ist besser als ein Erklärungsprinzip in dem Sinne zu interpretieren, in dem Bateson (1983, 73 ff) das in dem berühmten Metalog mit seiner Tochter schon für Konzepte wie „Instinkt“ oder „Schwerkraft“ klargestellt hat: es erklärt alles – und daher nichts. Es fungiert als post-hoc-Rationalisierung, die Ursache-Wirkungs-Beziehungen abstrahiert und reifiziert. Wir tun so, als ob die Masse Schwerkraft, als ob Tiere Instinkte hätten – und als ob die Menschen maximizing oder satisficing betreiben. An letzterer Formulierung sieht man, dass dieses Verständnis in der ökonomischen Theorie längst verbreitet und ausgesprochen worden ist. Der locus classicus für die Interpretation des homo oeconomicus als fruchtbare Theoriefiktion ist natürlich Milton Friedman (1953). Dass aber auch Simons satisficing nicht „Entscheidung, wie sie wirklich ist“ beschreibt, sondern „nur“ als Erklärungsprinzip fungiert, im Sinne eines „Als ob“, zeigt in einer detaillierten, kenntnis- und geistreichen Analyse, in einem Beitrag mit dem befremdlichen Titel „Körperliche Entscheidungen und ihre Konsequenzen für die Entscheidungstheorie“, von dem die Fachwelt, gelinde gesagt, etwas zu wenig Notiz genommen hat, Egon Franck (1992). Tenor: Wir wissen wenig darüber, wie menschliches Entscheidungsverhalten wirklich stattfindet, und jedenfalls Routineentscheidungen können kaum so fallen, wie sich das die üblichen InformationsverarbeitungsAnsätze vorstellen (sondern sind wahrscheinlich sehr viel stärker körperlich „einroutinisiert“, als wir uns träumen lassen). 2. Die Reifizierung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen impliziert, Chia zufolge, eine Verzerrung der Chronologie der Entscheidung im Sinne eines Ereignisses-vor-der-Handlung, damit sie als Ursache der Handlung erscheint. Auch die Dekonstruktion dieser UrSache ist in der organisationstheoretischen und betriebswirtschaftlichen Entscheidungsfor-
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schung gut vorbereitet, in weiten Teilen längst ausgearbeitet – man denke an die Forschungen von Witte, Hauschildt und ihren Schülern109 oder an die Analysen der Starbuck (1982), Narayanan/Fahey (1982), Mintzberg/Waters (1990), March (1988) oder Brunsson (1985, 1989), die sämtlich zeigen (und manchmal dazu neigen, den Gesichtspunkt überzustrapazieren,) dass in gewisser Hinsicht die Handlung als „Ursache“ für die Entscheidung aufgefasst werden kann: weil die Handlung Legitimations- und Rationalisierungsbedarf und weil sie Motivations- und Commitment-Bedarf erzeugt, den die Entscheidung, und sei es retrograd, deckt. Man fühlt sich an das Kleistsche Diktum erinnert: „Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat.“ Aber, wie schon Sepp Herberger wusste: nach dem Spiel ist vor dem Spiel, und wir bedürfen daher einer Argumentation, die das Entweder-Oder dieses Vorher-Nachher in die Zeit auflöst, nämlich in ein zirkuläres, rekursives Verhältnis von Denken und Handeln, bei dem das eine zum „Input“ des je anderen wird, und das ganz gut mit Anthony Giddens‘ „reflexive monitoring of action“ (Giddens 1984) zusammenpasst110. In den Worten Chias (1994, 788 f): „actionality of decision, and the decisionality of action.“ 3. Ein drittes wichtiges Ergebnis Chias lautet: Entscheidungen sind historisch situiert und kontextgebunden, aber Geschichte ist vieldeutig, und Kontexte sind unbegrenzt. Das verstrickt die Entscheidungstheorie, wie man sieht, tief in die im Abschnitt 2 diskutierten Fragen der Interpretation und ihrer prinzipiellen Unabschließbarkeit. Auch damit werden Organisationsforschung und betriebswirtschaftliche Entscheidungsforschung nicht etwa von heute auf morgen konfrontiert. Die Unbegrenztheit von Kontexten und die Unabschließbarkeit von Interpretationen bescherten vielmehr der kontingenztheoretischen Organisationsforschung jene Aporien, denen sie mit noch so viel Empirie, durch die Entdeckung/Erfindung noch so vieler situativer Faktoren111, wie man nun schlagartig sieht, niemals hätte entkommen können. Auch der Kontextualismus eines Pettigrew (1990) gerät bis dicht an diese Problematik heran (Chia 1994, 789 ff). Dass Geschichte „clearly and notoriously ambiguous“ ist, Entscheidungen aber unvermeidlich Zukunftserwartungen auf Vergangenheitserfahrungen basieren, haben wir spätestens von James March (1988, 13) gelernt, ebenso, dass Entscheidung ganz gut beschreibbar ist als eine „highly contextualized, sacred activity, surrounded by myth and ritual, and as much concerned with the interpretative order as with the specifics of particular choices“ (March 1988, 14). Am plastischsten aber lässt sich dies aus der schon erwähnten, detailverpflichteten Rekonstruktion einschlägiger Ergebnisse der jüngeren Forschung zur künstlichen Intelligenz nachvollziehen, die Egon Franck unter Rekurs auf Shoham/McDermott (1988), Dennet (1987) und Janlert (1987) vorgelegt hat. Es geht dabei um das sogenannte „frame“-Problem:
109 Zusammenfassend: Witte (1994), der nicht zögert, vom Mythos der Entscheidung als heroischer Tat einer Persönlichkeit zu sprechen. 110 Zu alledem meinen Beitrag „Das Kleist-Theorem“, Ortmann (1997, 46 ff), wo, mit Rekurs auf Kleist, Bateson, Hirschman und Weick, die Figur der allmählichen Verfertigung des Denkens im Handeln entwickelt wird. 111 „Der Begriff der Situation ist ein offenes Konzept, das wir in Abhängigkeit von unserer Fragestellung und unserem jeweiligen Wissen mit konkretem Inhalt füllen.“ (Kieser, Kubicek 1992, 205).
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
„Es scheint so, als sei der Referenzrahmen unserer Handlungen so unbeschreibbar groß, daß Rahmenaxiome allen Raum und die Inferenz von Nichtveränderungen alle Zeit in Anspruch nehmen müßten. Wenn ich z. B. in Situation S1 die Aktion Streiche (Haus, Rot) vornehme, dann ist die Farbe des Hauses in Situation S2 rot. Die Aktion Ordne (Möbel, Um), die ich in S2 vornehme, führt zur Situation S3. Welche Farbe hat das Haus in S3? Natürlich rot, denn Möbel umordnen verändert die Hausfarbe nicht. Rein logisch besteht diese Möglichkeit aber. Deswegen muß das formale System in mir mit einem ‚frame axiom‘ ausgestattet sein, das besagt, daß Möbelumordnen die Hausfarbe unverändert läßt. Wo aber liegen die Grenzen meines Referenzrahmens für die Aktion Möbelrücken? Vom formal logischen Standpunkt aus betrachtet könnte die Aktion Möbelrücken alles was ich über die Welt weiß (jedes einzelne Element meines Faktenwissens) verändern. Sollte mein Geist den Situationenkalkül anwenden, dann bräuchte ich in der oben genannten Situation eine Unzahl von ‚frame axioms‘, z. B. daß Möbelrücken den Fußboden in der Küche nicht sauber macht, die Messer im Geschirrschrank nicht verflüssigt und den Bundeskanzler nicht absetzt. Somit nicht genug, meine ‚frame axioms‘ müßten auch noch unendlich lang sein. In menschlichen Problemwelten finden Aktionen vieler Akteure gleichzeitig statt, ihre Wirkungen überschneiden sich. Darüber hinaus können auch externe Ereignisse Veränderungen auslösen. Wenn jemand das Haus streicht, während ich die Möbel umordne, dann ist das ‚frame axiom‘ ‚Möbelrücken läßt Hausfarbe unverändert‘ offenbar falsch. Wir müssen es modifizieren zu ‚Möbelrücken läßt Hausfarbe unverändert, es sei denn jemand streicht gleichzeitig das Haus‘. Was ist aber wenn dieser Jemand durch ein äußeres Ereignis, z. B. einen Blitzschlag, einen starken Wind oder einen knickenden Baum nach einem Fünftel der Arbeit von der Leiter fällt und aufhören muß? Das ‚frame axiom‘ muß weiter modifiziert werden zu: ‚Möbelrücken läßt Hausfarbe unverändert, es sei denn jemand streicht gleichzeitig das Haus und dieser Jemand wird vor Beenden von soundsoviel Prozent des Streichens nicht durch einen Sturz arbeitsunfähig‘. Was aber, wenn er das Haus mit abwaschbarer Farbe streicht, die sich beim ersten Regen (weiteres äußeres Ereignis) löst? Offensichtlich läßt sich zu jeder Ausnahme eine weitere Ausnahme finden, ad infinitum.“ (Franck 1992, 636 f unter Nutzung eines Beispiels von Shoham, McDermott 1988) Ausnahmen von Ausnahmen von Ausnahmen ... : Was sich hier schon abzeichnet, ist der infinite Regress, in den sich der Versuch verstricken müsste, auch nur eine derart schlichte Handlungskette abschließenden Regeln zu unterwerfen (dazu unten, Abschnitt 6). Es ist genau dieses „ad infinitum“, auf das die Rede von den „boundless contexts“ gemünzt ist, und wenn Franck daraus nur die Unmöglichkeit herleitet, dass alltägliche Routineentscheidungen – angesichts dieser Überfülle von Möglichkeiten – ernstlich nach den Vorstellungen des Informationsverarbeitungsansatzes modelliert werden können, dann sieht man vielmehr leicht, dass jede, und erst recht die innovative, strategische, unternehmerische Entscheidung mitten in diese Problematik hineinläuft, (auch wenn für solche Entscheidungen Informationsverarbeitung gewiss notwendig ist – notwendig, aber eben niemals hinreichend.) Bemerkenswert genug, dass die KI-Forschung Lösungen abtastet, die aus der Phänomenologie
4 Entscheidungsprozesse – eine dekonstruktive Analyse
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eines Alfred Schütz (1974) wohlbekannt sein könnten: eine alltagspraktische „ceteris paribusRegel“, mittels derer wir, in einer „sleeping dog strategy“, alles, was durch die Handlung nicht betroffen ist, unverändert in die neue Situation übernehmen, sowie Konzepte wie „frames“ (Minsky 1981) und „scripts“ (Schank 1975; Schank, Abelson 1977) für typisierte Situationen. Es handelt sich dabei sämtlich um Stoppregeln für jenes „ad infinitum“, Weisen, mit Luhmann zu sprechen, der Reduktion von Komplexität. Noch bemerkenswerter, dass sich Franck für seine Schlussfolgerung – Routineentscheidungen beruhen wohl kaum auf geistigen Informationsverarbeitungsprozessen, sondern auf körperlich „implementiertem“ Wissen – auf Autoren wie Heidegger, Wittgenstein und Merleau-Ponty, vor allem aber auf Michael Polanyis Konzept impliziten Wissens bezieht. Unversehens sind wir mitten in die Welt der Phänomenologie geraten, der auch Derrida so viel verdankt, und Entscheidung ist dabei als Ur-grund des Handelns – dekonstruiert, weil auf einmal das Handeln, ja, sogar das körperliche Handeln (auch) zum „Grund“ des Entscheidens geworden ist: zum „Grund“ impliziten Wissens, zum „Grund“ dessen, was uns „in Fleisch und Blut übergegangen“ ist, zum „Grund“ von frames und scripts, zum „Grund“ von geradezu Schützschen Idealisierungen à la „ceteris paribus“. (Die Rationalität aber solchen Entscheidens zu retten, fällt Franck dann schwer; was er anbietet, ist: die Hoffnung auf Evolution, von der sich auch so mancher Kontingenztheoretiker schon die Rettung versprochen hat.) Franck hätte natürlich auch bei Schütz selbst landen können – bei den beiden großen Idealisierungen des „und so weiter“ und des „ich kann immer wieder“, auf deren Grundlage wir denken und handeln und das Dasein und Sosein der Erfahrungswelt als „fraglos gegeben“ hinnehmen: „Die erstere führt zu der Annahme, daß, was sich bisher in unserer Erfahrung als gültig erwiesen hat, auch weiterhin gültig bleiben werde; die letztere führt zu der Erwartung, daß ich, was ich bisher in dieser Welt und auf sie wirkend vollbringen konnte, in Hinkunft wieder und immer wieder vollbringen können werde“ (Schütz 1971, 153). Man sieht wohl die kaum überschätzbare Relevanz des Organisierens für die Etablierung und Stabilisierung dieser Schützschen Idealisierungen – Organisieren ist in gewisser Weise die formelle Etablierung und Stabilisierung dieses „und so weiter“, dieses „immer wieder“. Und man sieht den konkret benennbaren Forschungsbedarf: Wie kann ein solches „und so weiter“, ein solches „immer wieder“ ins Werk gesetzt, gar formal etabliert werden ohne Deckung durch die Realität – eben als wirksame Idealisierung? (Die normative Entscheidungslogik und Betriebswirtschaftslehre verfolgt sozusagen das gegenläufige Programm: Wie können wir eine solche Deckung maximieren oder, für unsere Modelle, fingieren, etwa inform bekannter Wahrscheinlichkeiten und der Maximierung des erwarteten Nutzens?) Alle Organisation ist die Organisation von Wiederholung, und das ist der vielleicht wichtigste Grund dafür, dass die Organisationstheorie von Derrida lernen könnte. Denn Derrida hat sich wie kaum ein anderer durch das beunruhigen lassen, was er „das Paradoxon der Iterabilität“ genannt hat: „Diese bewirkt, daß der Ursprung sich ursprünglich wiederholen und entstellen muß, um seinen Geltungsanspruch erheben und sich erhalten zu können.“ (Derrida 1991, 92; Hervorh. G. O.) Was Derrida hier mit Blick auf – ursprüngliche? – Gesetzgebung und – bloß abgeleitete? – Gesetzerhaltung als Problem auf die Agenda setzt, ist das Geschäft auch jedweder Organisation – ihr Geschäft und ihre tiefe Paradoxie: „Jeder Fall ist anders, jede Entscheidung ist verschieden und bedarf einer vollkommen einzigarti-
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
gen Deutung, für die keine bestehende, eingetragene, kodierte Regel vollkommen einstehen kann und darf“ (ebd., 48) – trotzdem und eben deshalb muss entschieden und muss angemessen entschieden werden. Das Paradoxon aller Organisation ist, dass sie ihren eigentlichen Fluchtpunkt, die Wiederholung, respektive Wiederholbarkeit – er trägt, je nach Theoriejargon, wechselnde Namen: Rechenhaftigkeit, Berechenbarkeit, Sicherheit, Erwartbarkeit, Anschlussfähigkeit, Koordinationsfähigkeit, Routine, Regelmäßigkeit – verfehlen muss, solange sie sich einzig auf sich selbst stützt. An der Erfahrung dieser Paradoxie, und der Grenzen ihrer Auflösbarkeit, kann die Organisationstheorie nur wachsen: „Wiederhole das Einzigartige!“ In search of excellence. 4. Entscheidung ist kein passiver Vorgang der Abbildung (und des bloßen Vollzuges) der Entscheidungssituationen, sondern ein aktiver, „ontologischer“ Akt (Chia) des Setzens einer Scheidung, eines Schnittes in die Welt, also ein Beitrag zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, die daher nicht einfach als Datum oder Datenkranz in die Entscheidung eingeht, die dann darüber entscheidet. In der Entscheidung vollzieht sich, zu einem Teil, der sinnhafte Aufbau jener sozialen Welt (Schütz), in der und aus der heraus zu entscheiden ist, einschließlich übrigens, wie die betriebswirtschaftliche Entscheidungsforschung weiß, der Zielsuche (Witte 1994, 23) resp. des Wandels von Präferenzen (Franck 1992, 644) – was, zusammengenommen, bedeutet, dass es bei Entscheidungen nicht um die Wahl optimaler Alternativen angesichts gegebener Ziele und Weltzustände geht, sondern, in Chias Worten, um 5. „a fundamental ontological act of making an ‚incision‘ in the flow of our lived experiences punctuating the latter for the purpose of ordering and responding to such experiences (...) decision making (is) comprizing interlocking chains of micro-incisional acts in the becoming process of configuring reality.“ (Chia 1994, 795) Manchmal mag es gerechtfertigt sein, bestimmte Ziele, bestimmte Interpretationen von Weltzuständen als gegeben hinzunehmen und nur noch nach dem besten „course of action“ zu fragen. Meistens aber ist das nicht möglich, und schon gar nicht klug, und so zeitigt eine derartige Analyse am Ende sogar überraschende praktische Früchte: die Warnung zumindest, in der Praxis des Entscheidens jener Lehrbuch-Weisheit zu gehorchen, und den Rat, es lieber mit der allmählichen Verfertigung des Planens und Entscheidens im Handeln zu halten. Was das im einzelnen heißt, darüber lässt sich, soviel sollte deutlich geworden sein, zwar mehr112, aber zum Glück nicht alles sagen. Um es jedoch an einem aktuellen Beispiel zu erläutern: Am Anfang des viel strapazierten Outsourcing pflegt oft genug das Ziel der Stückkostenreduktion für Teile zu stehen. Solche begrenzten Ziele ändern sich im dadurch ausgelösten Prozess schnell, zum Beispiel, weil die Kosteneinsparungen enttäuschend ausfallen, sich dafür aber neue Gelegenheiten, daher neue Ziele, neue Probleme und neueLösungen-für-neue-Probleme ergeben, zum Beispiel: die Entdeckung des Know-how von Zulieferern als neue Gelegenheit, die Nutzung dieses Know-how als neues Ziel, die qualifikatorische, finanzielle etc. Entwicklung von Zulieferern als neuer Lösungsweg, mit konse112
Siehe dazu Ortmann (1997).
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kutiv sich ergebenden neuen Problemen, etwa der Qualifikation des eigenen Personals für „Netzwerkkompetenzen“ und so weiter, ich bin geneigt zu sagen: ad infinitum. Sinnlos, solche pfad- oder prozessabhängigen Schritte und Schrittfolgen ex ante fix und fertig in Masterpläne zu gießen. Sehr sinnvoll indes, die Verriegelungseffekte solcher Pfadabhängigkeiten – sunk costs, lock ins, straight jackets – frühzeitig zu bedenken und Reversibilitäten vorzusehen. 6. Ich füge den Gesichtspunkt hinzu, den Niklas Luhmann in „Organisation und Entscheidung“ (2000) – die „Paradoxie des Entscheidens“ genannt hat, dass nämlich Unentscheidbarkeiten Voraussetzung für die Möglichkeit des Entscheidens sind. In der bündigen Formulierung Heinz von Foersters (1992, 14): „Only those questions that are in principle undecidable, we can decide.“ In den Worten Derridas (1994a, 410): „Zusammen mit dem Begriff Entscheidung erwiese sich der allgemeine Begriff Verantwortung so der Kohärenz, der Folgerichtigkeit und sogar der Identität mit sich beraubt, gelähmt von dem, was man genauso gut eine Aporie wie eine Antinomie nennen könnte.“ Das sind mächtige Schläge ins Kontor betriebswirtschaftlicher Entscheidungslogik, da sie ja schlagartig klarmachen, dass die letztere nicht mit Entscheidungen befasst ist, die diesem Namen verdienen (sondern mit Rechenaufgaben). Aber es destruiert nicht, sondern dekonstruiert den Begriff des Entscheidens, denn: „Nichtsdestotrotz hat er, wie man so sagt, ‚funktioniert‘, im Gegenteil – und er operiert um so besser, als er dazu da ist, den Abgrund zu verbergen oder den Mangel an Begründung zu stopfen, um so einem chaotisch-Werden in dem, was man Konvention nennt, stabilisierend entgegenzuwirken.“ (Derrida 1994a, 410) Entscheidung ist nötig, wenn sie unmöglich ist – unmöglich in Begriffen jener Begründung, der sich die Betriebswirtschaftslehre verschrieben hat. Nicht „Wie entscheiden wir angesichts oder mittels perfekter Begründungsbrücken, die uns über die ‚Kluft der Kontingenz‘ tragen?“ (dazu Ortmann u. a. 1990, 373-377), sondern „Wie entscheiden wir angesichts fehlender Begründungen?“ lautet dann die interessante Frage, und die oben zitierten Überlegungen Francks und die Einsichten der Phänomenologie scheinen Wege in vielversprechende Richtungen zu weisen.
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Die Logik des Supplément
5 Die Logik des Supplément Dass der Zustand der Welt – die Entscheidungssituation – uns nicht einfach gegeben, sondern durch Interpretationen und durch eben jene Entscheidung erst konstituiert wird, die auf diesen Zustand scheinbar nur reagieren und die scheinbar aus ihm abgeleitet werden – in „primary ontological acts of carving out a plausible reality“ (Chia 1994, 796) – , diese
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
Dekonstruktion herkömmlicher Modelle der Entscheidungslogik, lässt sich auch so schreiben (Abb. 1): Abbildung 1:
Entscheidungssituation und Entscheidung
Die Entscheidungssituation, die zunächst als Ausgangspunkt, als das Primäre erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als konstituiert durch das scheinbar Sekundäre, die Entscheidung. Ähnliche Verhältnisse herrschen zwischen der Entscheidung und dem, wie gesehen, nur scheinbar folgenden, aus der Entscheidung abgeleiteten Handeln, und auf diese Weise wird auch diese Opposition unterminiert und dekonstruiert (Abb. 2): Abbildung 2:
Entscheiden und Handeln
Diese Denkfigur, die etablierte und geronnene Ursache-Wirkungs- oder Ableitungszusammenhänge untergräbt (ohne sie indes einfach zu negieren oder zu destruieren), und zwar,
5 Die Logik des Supplément
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indem sie die Ur-Sache als durch das Verursachte verursacht erweist, nenne ich, den Derridaschen Terminus aufnehmend, Logik des Supplément113. Ich rekurriere zur Erläuterung114 auf eine Arbeit von Jean-Pierre Dupuy und Francisco Varela (1991) über „Kreative Zirkelschlüsse“, in der sie einen, wie ich finde, außerordentlich kreativen Gebrauch von dieser Figur „Zum Verständnis der Ursprünge“ (so der Untertitel) gemacht haben (übrigens, wie man schon sah und gleich noch genauer sehen wird, ohne den Anspruch auf Ursprung, Ordnung, Autonomie und Bedeutung etwa ganz „von Derridascher Beize“ aufgelöst zu sehen; für eine Kritik an Derridas Dekonstruktion, die diese aber nicht einfach verwirft, vgl. Dupuy 1990 und 1991). „Jedesmal wenn in einem theoretischen Text ein Terminus auftaucht, der einen Logos, einen Begriff als sich selbst genügend zitiert, setzt ein circulus vitiosus ein, der von innen heraus den Anspruch auf Autonomie untergräbt. Dies geschieht, weil ein anderer Terminus, der angeblich sekundär und untergeordnet ist und der nichts weiter sein sollte als eine Ableitung oder Kategorie des ersten Begriffs (beispielsweise: Kultur, Literatur, Form und so fort), als unerläßlich für die Aufstellung des letzteren erscheint. Der Ursprung erscheint als vollständig und rein, würde aber ohne die Ergänzung, die dennoch aus ihm folgt, jegliche Konsistenz verlieren.“ (Dupuy, Varela 1991, 249 f) Mir geht es, wie Dupuy und Varela, um den Versuch, eine Art von Theorie zu entwerfen, die Derridas Kritik der Ursprünge verkraften kann, in dem sie selbst deren Dekonstruktion der Ursprünge sich zu eigen macht, und zwar sowohl, wie eben vorgeführt und gleich noch an einer Fülle weiterer Beispiel demonstriert, innerhalb ihres Gegenstandsbereiches als auch im Verhältnis von eben dieser Theorie zu der von ihr thematisierten Praxis, in die Organisationstheorie ja, wie verändert und verschoben auch immer, unvermeidlich immer wieder eintritt. Varela und Dupuy bringen die allgemeine Logik einer solchen Ergänzung/Ersetzung in die in Abb. 3 gegebene schematische Darstellung.
113 In den Worten Derridas (1983, 250): „Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus; Fülle, die eine andere Fülle bereichert (...) Aber das Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von-wenn es auffüllt, dann so, wie man eine Leere füllt.“ Derrida (1983, 244 ff) hat diese Figur, wie erwähnt, aus einer luziden Rousseau-Lektüre entwickelt, in der er zeigt, wie Rousseau angesichts einer ganzen Reihe von Oppositionen oder Dualismen – Natur/Kultur, tierisch/menschlich, sprechen/schreiben – jeweils dem ersten Term die Priorität und den Vorzug gibt und das jeweils letztere als „verlorenen Ursprung“, als abgeleitet, sekundär und minderwertig darstellt und dann doch als konstitutiv in Anspruch nimmt. Rousseau „verdammt die Schrift als Zerstörung des Präsenz und Verseuchung der Rede“ (Derrida 1983, 245) und wird – Schriftsteller. Er sehnt sich nach der Natur, aber die denunzierte Kultur muss in Gestalt der Erziehung die defiziente Natur ergänzen/ersetzen etc. „Ordinarily, we think of the term supplément as something which is superfluous and which is added to what is in itself already full and self-sufficient. However, Derrida‘s deconstruction of Rousseau‘s texts shows that the supplément (in its broader sense) is in fact what allows the privileged term to be conceived and constituted in the first place. The ideal of an ‚original‘ which is self-defining and privileged and which therefore precedes other terms turns out to be a myth, albeit one which serves the useful role of assuaging our need for certainty.“ (Chia 1994, 784) Eindeutige Ziele, exogene Bedürfnisse etc. fungieren, wie wir gleich sehen werden, in der Ökonomie als solche Sicherheit stiftenden Ur-Sachen. 114 Die folgenden Passagen sind gekürzte Übernahmen aus Ortmann (1995a, 105-109).
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
Abbildung 3:
Logik der Ergänzung/Ersetzung (Quelle: Dupuy, Varela 1991, 250)
An einer Menge von Fällen demonstrieren Dupuy und Varela die Gültigkeit dieser Denkfigur für ihr Anliegen – understanding origins115: an molekular- und zellbiologischen Fragen der Ontogenese; an der Frage nach dem Ursprung sozialer Ordnung; an der Genesis des Geldes; am Ursprung des kognitiven (Bedeutungs-)Gehaltes der Welt, der nicht in – via Wahrnehmung abzubildenden – Eigenschaften der Welt gesucht werden kann, sondern wiederum in einem kreativen Zirkel zwischen jenen Eigenschaften und durchaus verschiedenen „ways of worldmaking“ (Goodman 1978); an der Evolutionsbiologie. Da letztere für ein ökonomistisches Verständnis von Organisationen, besonders von Unternehmungen, eine so wirkmächtige Vorlage in Gestalt des Darwinismus geliefert hat, lohnt es sich, die entsprechende schematische Darstellung (Abb. 4) und ihre Erläuterung an dieser Stelle zu zitieren. „Laut traditionellem Wissen ist die Umwelt, in der Organismen sich entwickeln und in der man sie antrifft, gegeben, festgelegt und einzigartig. Wir begegnen hier wiederum der Vorstellung, daß Organismen sozusagen mit einem Fallschirm in eine vorgegebene Umwelt abgeworfen werden. Diese Sichtweise wird etwas differenzierter, wenn wir
115 So der Titel des von ihnen (1992) herausgegebenen Sammelbandes mit einer Reihe scharfsinniger Arbeiten zu den angedeuteten Fragen des Ursprungs – ein buchstäblich erschöpfendes Thema seit der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments und dem Mythos vom Paradies. Zu ersterer und den Ursprungsmythen anderer Völker, ferner generell zur Frage des Ursprungs von Ordnung vgl. Bateson (1983, 15 ff und passim); zu letzterer und ihrer Behandlung durch Kant und Hegel: Strutz (1979). Es erinnert die Denkfigur Varelas und Dupuys an Hegels Figur des Rückgangs in den Grund: Auch darin „verliert der Anfang das, was er in dieser Bestimmtheit, ein Unmittelbares und Abstraktes überhaupt zu sein, Einseitiges hat; er wird ein Vermitteltes und die Linie der wissenschaftlichen Fortbewegung macht sich damit zu einem Kreise.“ (Hegel 1969a, 71). Zur Lösung des Problems des Anfangs bei Spencer Brown und Luhmann vgl. ferner das – leider in etwas süffisantem Ton gehaltene – Buch von Schulte (1993, bes. 115 ff und 129 ff). Instruktiv im Hinblick auf Dupuys und Varelas Denkfigur ist schließlich Maturanas und Varelas (1990, 47 ff) Darstellung des Ursprungs einer Zelle, wonach die zelluläre Dynamik (Stoffwechsel) und Rand (Membran) der Zelle einander jeweils konstitutive Bedingungen sind.
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Veränderungen in der Umwelt zulassen – etwas, das schon Darwin vom Empirischen her bekannt war. Eine solche sich verändernde Umwelt liefert die Selektionsdrücke, die das Rückgrat der neodarwinistischen Evolutionstheorie bilden. Wenn wir jedoch eine neue Betrachtungsweise der Evolution anstreben, müssen wir einen Schritt weitergehen: Wir definieren Selektionsdrücke neu, und zwar als umfassende Zwänge, denen Genüge getan werden muß. Der wesentliche Punkt dabei ist, daß wir den Begriff einer unabhängigen, vorgegebenen Umwelt nicht beibehalten (...) Statt dessen betonen wir, daß der Begriff als solcher, was eine Umwelt ist, nicht davon getrennt werden kann, was Organismen sind und was sie tun.“ (Dupuy, Varela 1991, 265) Abbildung 4:
Logik der Ergänzung/Ersetzung in der Evolution des Lebendigen
(Quelle: Dupuy, Varela 1991, 265)
Die Parallelen zu evolutionistischen Organisationstheorien116 drängen sich förmlich auf. Und ganz so, wie für Dupuy und Varela Umwelt und Fitness von Lebewesen der Logik der Ergänzung – der Spezifizierung und Kodetermination – unterworfen sind, so konzipiere ich die Umwelt von Organisationen und deren „Fitness“ (hier etwa, in ökonomischer Perspektive: „Effizienz“): Umwelt und Wirtschaftlichkeitsprinzip bestimmen durchaus die Merkmale und das Verhalten von Unternehmungen, werden aber durch eben diese Merkmale und Verhaltensweisen ihrerseits konstitutiv spezifiziert. Sie sind ein Prinzip und doch kein reiner Ursprung (vgl. Abb. 5). Diese Logik der Ergänzung/Ersetzung wird durch die Rationalitätsprämissen der neoklassischen Ökonomie und der orthodoxen Betriebswirtschaftslehre, die ja nichts anderes bedeuten als die Fiktion eines reinen Ursprungs, lediglich ignoriert, die Rekursivität der Beziehung – die Merkmale und das Verhalten sind „Output“ des Wirtschaftslichkeitsprinzips, werden aber zu seinem bestimmenden „Input“ – einfach still gestellt.
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Zur Kritik vgl. Becker, Küpper, Ortmann (1988, 98 ff).
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
Abbildung 5:
Logik des Supplément in der Entwicklung von Organisationen
Dies alles heißt aber: Was Produktivität, Wirtschaftlichkeit, Effizienz eigentlich bedeutet, ist, weit davon entfernt, als reiner Ursprung der Entwicklung und daher absoluter Ausgangspunkt der Erklärung herhalten zu können, vielmehr Objekt rekursiver Hervorbringung eben jener Unternehmungen, deren Gestalt und Verhalten es prägt (dazu ausführlich: Küpper, Felsch 2000). Das Wirtschaftlichkeitsprinzip ist insofern eine leere, das heißt: eine erst noch zu füllende, zu ergänzende Formel. Ihre Spezifikation erfolgt durch die interpretativen, normativen, politischen und ökonomischen Schließungen organisationaler Praxis. Neil Fligstein (1990, 295 ff) hat diesen Gesichtspunkt in einem Kapitel mit dem Titel „The Social Construction of Efficiency“ für eine Umkehrung der üblichen Geschichte vom Markt und seinen Effizienzgeboten fruchtbar gemacht: „Instead of markets calling forth efficient forms of social organization, political and social interactions produced the structuring of sociologically efficient markets. (...) In other words, the forms of social organization produced the market, not reverse. The central mistake made in traditional accounts of the history of the large corporation is that by reading history backwards economic historians have known how things turned out and thereby were able to impute what kind of social institutions must have been called forth by efficient markets.“ (Fligstein 1990, 300) Für Fligstein (ebd., 303), der mit seinem „not reverse“ der Rekursivität der Verhältnisse immer noch nicht ganz gerecht wird, kann es daher keinen „absolute standard of efficiency“ geben. „In my opinion managers must construct views about what constitutes efficient action that are historically determined“ (ebd.). Und wie anders denn als dekonstruktive Denkbewegung soll man es charakterisieren, wenn Richter und Furubotn in ihrem richtungsweisenden Lehrbuch zur Neuen Institutionenökonomik ihre Überlegungen zur Effizienzproblematik mit dem Satz beschließen: „Ökonomen sprechen oft von ‚Effizienz‘, aber eine Folge unseres Vordringens in das Gebiet der Neuen Institutionenökonomik ist die, daß
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wir inzwischen kein allgemeines und logisch einwandfreies Effizienzkriterium mehr haben“ (Richter, Furubotn 1996, 505)? Mit alledem ist daher mehr gemeint als harmlose Wechselseitigkeit von der Art, in der ein Tischtennisspieler durch seinen Schlag Wirkungen bei seinem Gegner erzielt und umgekehrt. Da bleibt es bei einem beruhigenden Nacheinander, während wir es mit einer durchaus beunruhigenden Gleichzeitigkeit wechselseitiger und konstitutiver Voraussetzungen zu tun haben – ich entscheide angesichts einer Situation, die ich jedoch in der und durch die Entscheidung erst vollends definiere und zugleich verändere; ich befolge eine Regel, die ich in und durch Befolgung vollends interpretiere und zugleich verändere et cetera. Da kommt alles auf die Einsicht an, dass Menschen die darin liegende Paradoxie nicht ohne einen Schuss Willkür, nicht ohne Dezisionismus, nicht ohne Ignoranz und die Hirschmansche „ignorance of ignorance“, nicht ohne den Kleistischen Mut auflösen können, „den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen.“ Denn am Anfang „ist“ der Zirkel des Anfangs, den wir nur auflösen können durch das Setzen einer derridaesken „Différance“, einer Verschiebung und eines Andersseins, die immer einen Wechsel auf die Zukunft implizieren, auf ein „Noch Nicht“, das wir uns als ein „Immer Wieder“ zurechtlegen, ohne jedoch dafür – und zumal am Anfang! – hinreichende Deckung aus Vergangenheit und Gegenwart zu bekommen. Ich gebe nun, recht kursorisch, eine ganze Reihe von Beispielen für Oppositionen oder Dualismen, die im Kontext der Organisationsforschung sich einiger Prominenz erfreuen, und deute jeweils knapp an, wie Derridas Idee der Dekonstruktion und Supplementarität für eine nicht bloß epistemologische oder programmatische, sondern substantielle Arbeit an den respektiven inhaltlichen Fragen fruchtbar gemacht werden kann (und oft genug, wie ich andeuten werde, bereits fruchtbar gemacht worden sind, ohne dass sich die einschlägige Diskussion dabei auf Derrida und seine Terminologie bezogen hätte). In Abb. 6 sind die Verhältnisse für das kontingenztheoretische Kontext-StrukturVerhältnis, in Abb. 7 sind sie für das industrieökonomische structure-conduct-performanceSchema angedeutet. Abbildung 6:
Situativer Ansatz, ergänzt um Supplémentarität/Rekursivität
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
Abbildung 7:
structure-conduct-performance-Schema der Industrieökonomie, ergänzt um Supplémentarität/Rekursivität
Die einschlägigen Kritiken am inhärenten Determinismus dieser Ansätze und an der Einseitigkeit der ins Auge gefassten Einflussrichtung sind hinlänglich bekannt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Klar ist, was hier gemeint ist: Nicht nur bestimmt (als das jeweils Primäre, als Ur-Sache)
der Kontext die Organisationsstruktur, die Organisationsstruktur das Verhalten der Organisationsmitglieder, die Marktstruktur das Organisationsverhalten, das Organisationsverhalten die Leistung der Organisation,
sondern es gelten auch, supplementär und dann doch konstitutiv, die umgekehrten Beziehungen, so dass ich (Ortmann 1995a) von rekursiven Konstitutionsverhältnissen spreche, einen Begriff wählend, der Derridas Idee der Différance vielleicht schon entschärft und verharmlost, nämlich in ein beruhigendes Nacheinander des Differenten überführt. Die folgenden Kästen enthalten weitere Beispiele.
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
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6 Das eingeschlossene Ausgeschlossene der Organisation
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Auf die zuletzt angedeuteten verwickelten Verhältnisse zwischen Regel und Regelanwendung, für Organisationen gewiss ein ebenso wichtiges wie prekäres Problem, müssen wir nun näher zu sprechen kommen.
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Das eingeschlossene Ausgeschlossene der Organisation
6 Das eingeschlossene Ausgeschlossene der Organisation Was ist der Sinn organisatorischer Regeln? Die Fülle der Möglichkeiten, also Komplexität zu reduzieren und auf diese Weise Erwartbarkeit, Anschlussfähigkeit und also Handlungsfähigkeit und Koordination zu stiften, wo wir sonst im Meer der Kontingenz und gar doppelten Kontingenz unterzugehen drohen. Regeln schließen Möglichkeiten aus. Der Punkt ist nun, dass sie nicht als (Handlung-) Prinzipien wirksam werden und werden können, die von den Akteuren nur noch stur und starr, sozusagen 1:1, in Anschlag zu bringen wären. Sondern sie werden praktisch, sie „kommen zur Anwendung“ nur via Interpretation und situativer, situationsgerechter (Er-) Füllung, Ergänzung, Modifikation, Ersetzung und manchmal geradezu Pervertierung durch willige oder auch eigenwillige, ziemlich kompetente Akteure. Wieder stehen wir vor dem Phänomen der Interpretation, und wieder erweist es sich als unhintergehbar. Regeln müssen so beschaffen sein, dass sie all dies zulassen, also: einschließen. Sie müssen die (Möglichkeit ihrer) Verletzung in einem gewissen Rahmen einschießen. Sie müssen die begrenzte Inklusion des Exkludierten vorsehen117. Das Spektrum der scheinbar nur sekundären, der supplementären Anwendung einer Regel reicht von der (Er-)Füllung über die Ergänzung bis zur Pervertierung und Ersetzung, und die Einsicht, auf die es ankommt, ist, dass selbst der Pervertierung und Ersetzung die Funktionalität a priori nicht sicher abgesprochen werden kann. Derrida (1991, 47) hat daraus – sein Beispiel sind rechtliche Regeln und daran orientierte Entscheidungen eines um Gerechtigkeit bemühten Richters – die radikale Konsequenz gezogen, dass auch diese Anwendung der Regel genau genommen ein Akt der „Gründung oder Stiftung“ eben dieser Regel ist: „dies geschieht durch eine Deutung, (...) so, als würde am Ende das Gesetz zuvor nicht existieren, als würde der Richter es in jedem Fall selbst erfinden.“ Im juristischen Diskurs spricht man daher auch von einem „fresh judgement“. „Kurz: damit eine Entscheidung getroffen werden kann, muß sie in dem Augenblick, da sie getroffen wird, (...) einer Regel unterstehen und ohne Regel auskommen. Sie muß das Gesetz erhalten und es zugleich so weit zerstören oder aufheben, dass sie es in jedem Fall wieder erfinden und rechtfertigen muß.“ (Ebd.) Eine unausweichliche Différance unterminiert daher die Gerechtigkeit der Entscheidung, weil sie die Regel, der sie untersteht, zugleich neu stiftet und daher verändert. Die scheinbar sekundäre, abgeleitete Anwendung der Regel entpuppt sich eben dadurch als konstitutiv, dass die Regel – als verall117 Das hat, nicht den Begriff der Regel, sondern den der Konvention benutzend, Jean-Pierre Dupuy (1991) in einem außergewöhnlich instruktiven Beitrag mit dem Titel „Zur Selbst-Dekonstruktion von Konventionen“ vorgeführt; in Ortmann (2003) versuche ich zu zeigen, wie fruchtbar diese Denkfigur für die Organisationsforschung gemacht werden kann – und schon gemacht worden ist, besonders im Werk von Michel Crozier und Erhard Friedberg (Crozier, Fiedberg 1979; Friedberg 1995).
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gemeinerbares Verfahren der Praxis (Giddens 1984, 21) – erst in dieser anwendenden Praxis vollends definiert, spezifiziert und gegebenenfalls modifiziert wird. Sie wird in ihrer Bedeutung erst in praxi fest„geschrieben“. Das gilt erst recht für formale, förmlich verfasste Regeln. „Die Regulierung, die durch die Formalstruktur erreicht wird, ist außerdem nie vollständig. Sie ist ständig überrollt von Praktiken, die die in ihr enthaltenen Vorschriften nicht einhalten. Durch diese Praktiken versuchen die Beteiligten je nach ihrer Wahrnehmung der Zwänge wie der Ressourcen der Situation, die Prägnanz des formalen Rahmens nach und nach anzuknabbern und dessen Gültigkeit zu verschieben oder zu begrenzen, ja sogar die theoretischen Abläufe auf den Kopf zu stellen (...)“ (Friedberg 1995, 145; Hervorh. G. O.). Erhard Friedberg hat dieses Verschieben, Verzeitlichen und Anderssein, das er hier für das Verhältnis formaler Regeln und organisationaler Praxis postuliert, ohne jeden Bezug auf Derrida entwickelt. Es ist aber der Sache nach genau das, wofür Derrida den Titel différance ersonnen hat, dieses Kunstwort, in dem er den Doppelsinn des französischen Verbs différer (aufschieben/verzeitlichen und anderssein/nicht identisch sein) bewahren will: „die différance ist eine aufgeschobene-verzögerte-abweichende-aufschiebende-sich unterscheidende Kraft oder Gewalt“ (Derrida 1991, 15; vgl. auch Derrida 1999b). Die situationsgerechte (Um-) Interpretation von Regeln erst stiftet die Möglichkeit zur erforderlichen Flexibilität. Auch diese Einsicht ist der Organisationsforschung seit langem geläufig. Dass Dienst nach Vorschrift eine Streikform ist, wurde unzählige Male zitiert. Dass kluge Vorgesetzte Regelverletzungen im Interesse der Funktionsfähigkeit dulden, um in einer Art mikropolitischem Tausch dafür allfällige Gegenleistungen einzuhandeln, ist gut analysiert. Regeln funktionieren nicht einfach über ihre Einhaltung, sondern über ihre Einhaltung und Verletzung. Auch diesmal also geht es nicht um eine absolute Neuigkeit, sondern um einen gut erforschten Sachverhalt und allerdings darum, einige Konsequenzen daraus zu ziehen. Die erste Konsequenz, die wir zu ziehen haben, lautet: Dieser Komplikation, dass der Einschluss des in Organisationen Ausgeschlossenen in Grenzen möglich sein und ständig wirklich werden muss, lässt sich nicht durch zusätzliche Regeln beikommen. Denn solche zusätzlichen Regeln – etwa solche, die Korridore für Ausnahmen definieren – wären ja ihrerseits interpretations-, situierungs-, kontextualisierungs-, mit einem Wort: erst noch anwendungsbedürftig, etc. ad infinitum. Die zweite Konsequenz lautet: Dann ist alles, was in Organisationen geschieht, nur sozusagen zur Hälfte durch Regeln zu bestimmen – immer bleibt das Geschehen zur anderen Hälfte auf die konstitutiven Interpretationsleistungen und Anwendungsakte der regelunterworfenen Akteure angewiesen, und, schlimmer noch, der Rand bleibt unscharf. „Am Rand“ liegen „Zonen tolerierter Differenz“ (Ortmann 2003) zum Regelwerk. Die dritte Konsequenz lautet: Dass Organisationen zusammenhalten und nicht auseinanderfliegen, können wir also nicht allein ihren Regelwerken, noch nicht einmal ihren Regelwerken und deren Einhaltung zurechnen. Wir müssen es vielmehr ihren Regelwerken,
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deren Einhaltung und deren Verletzung zurechnen. Solange wir aber zum Verhältnis von Einhaltung und Verletzung nichts sagen können, weil dieses Verhältnis eben nicht selbst noch geregelt werden kann, scheinen wir zum Zusammenhalt, zur Integration von Organisationen überhaupt nichts mehr sagen zu können. Das wäre einigermaßen desaströs für eine Organisationsforschung, die auf ein Konzept für die unverzichtbare Integration und Koordination angesichts von Arbeitsteilung und Differenzierung, gar angesichts von Interessenvielfalt und eines allfälligen „Kampfes der Rationalitäten“ (Crozier, Friedberg 1979) unabdingbar angewiesen ist. Führt die Selbst-Dekonstruktion organisatorischer Regeln und deren analytischer Nachvollzug in einer durch Derrida instruierten Theorie zur Resignation von der Frage der Integrierbarkeit von Organisationen? Das glaube ich nicht. Allerdings handeln wir uns Fragen ein, wo wir eben noch über Antworten zu verfügen glaubten. Wir gewinnen verschärfte Einsicht in die Unwahrscheinlichkeit von Integration; in ihre Erklärungsbedürftigkeit. Wir lernen zu staunen. Sehen wir näher zu.
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Zonen tolerierter Differenz
7 Zonen tolerierter Differenz Wenn es in jeder Organisation geben muss, was ich „Zonen tolerierter Differenz“ nenne, also Abweichungen vom Regelwerk, die aber als sinnvoll, funktional, „im Rahmen bleibend“ o. ä. akzeptiert und toleriert werden, dann fragt sich, erneut und radikaler als bisher: Was begrenzt diese Zonen? Warum, wenn das gar notwendigerweise Grauzonen sind und bleiben müssen, gewinnen nicht die zentrifugalen Kräfte einer Organisation ständig die Oberhand, wenn „unter der Hand“ (Ortmann 1995b) erlaubt, ja gefordert ist, was verboten ist? Natürlich lautet ein erster Teil der Antwort: Letzteres, die Erosion von Regelwerken und die Desintegration von Organisationen, geschieht ja auch ständig, nur, dass wir Organisationsforscher selten davon Notiz nehmen: erstens, weil solche Organisationen von derart destruktiven Kräften nicht selten zum Verschwinden gebracht werden; zweitens, weil das Phänomen in Organisationen selbst nicht zur Sprache gebracht, sondern unter dem Teppich gehalten zu werden pflegt; drittens, weil es nicht selten einen Hautgout hat, etwa, wenn die Regelabweichung in Korruption, in Umgehung von Steuergesetzen, in der Vernachlässigung von Standards der Kreditwürdigkeit, in der Missachtung gesetzlicher Regeln der Parteienfinanzierung, in der Manipulation von Auftragsvergaben besteht, um nur einige in den vergangenen Jahren zu Prominenz gelangte Beispiele zu nennen, (wenn, mit anderen Worten, Differenzen nicht nur zu organisationalen, sondern auch zu gesellschaftsweit gültigen, rechtlichen Regeln, und sei es zeitweise, toleriert werden.) Der zweite und wichtigere Teil der Antwort aber lautet: In jenen Zonen tolerierter Differenz bewegen sich die Akteure nicht nach Belieben. „Die anderen“ beobachten sie und agieren und reagieren ihrerseits, jedenfalls häufig, und wenn eine Regel schon nicht ihre Einhaltung evoziert, dann oft genug doch die Not der Legitimation ihrer Verletzung. Dies wissend und antizipierend, halten die Akteure ihre Abweichung von sich aus in Grenzen, die zwar nicht formal definiert und etabliert sind, sich aber als emergentes Resultat aus dem
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6. Kapitel: Organisation und Dekonstruktion
jeweils doppelt-kontingenten – regeleinhaltenden oder aber regelverletzenden – Verhalten der Akteure einstellt, besser gesagt: einspielt. In Begriffen der mikropolitischen resp. strategischen Organisationsanalysen ließe sich das so erläutern, dass die Akteure in Organisationen, aufgefasst als Teilnehmer an organisationalen Spielen, ein Interesse an der Fortsetzung dieser Spiele und daher am Fortbestand der Organisation als Kampf- und Spielarena zu haben pflegen. Dass dieses Interesse im empirischen Einzelfall überwiegt, ist natürlich nie ganz sicher. Es wird aber beträchtlich verstärkt durch die im Rahmen der Neuen Institutionenökonomie gut erforschten Disziplinierungsmechanismen, die dort allerdings besonders mit Blick auf das Nicht-EigentümerManagement untersucht werden:
„interne Disziplinierung durch die Anreizwirkung der Honorierung der Spitzenmanager(...), Arbeitsmarktdisziplinierung, d. h. Disziplinierung der Manager über den Wert ihres Humanvermögens am Markt für Manager, Produktmarktdisziplinierung (...) und, Kapitalmarktdisziplinierung“ (Richter, Furubotn 1996, 384).
Dies alles, besonders natürlich die Wirkung der beiden ersteren Mechanismen, lässt sich mutatis mutandis auch auf die Arbeiter beziehen, so dass auch auf die Frage: „Warum arbeiten die Arbeiter?“ (Berger 1995) sich eine Reihe institutionenökonomischer Antworten beibringen lassen. Wenn man indes ernst macht mit Derridas Denkfigur der Supplementarität, dann zeigt sich, dass weder der Kontrakt noch ein wie immer definiertes Nutzenmaximierungsprinzip noch der Markt noch „die“ Organisationsstruktur als ein Erstes, ein Prinzipium in Betracht kommt, aus dem sich das Handeln der Akteure ohne Rest ableiten ließe, nicht zuletzt deshalb, weil all diese Ur-Sachen ihrerseits durch eben dieses Handeln „verursacht“ sind, aber auch, weil jene Disziplinierungsmechanismen Kontingenzen erheblicher Bandbreite offenlassen. Bis hierher ist das noch Allgemeingut einer Organisationsforschung, die eingesehen hat, dass nicht nur ökonomische Anreize und organisatorische Regeln im engeren Sinne, sondern auch Werte und Normen das Handeln von Organisationsmitgliedern steuern. Es fragt sich dann aber, wie in Situationen je doppelter Kontingenz – Ego macht sein (regelkonformes oder -abweichendes) Handeln von dem des Alter abhängig, dieser aber das seine von dem des Ego – sich in Sachen Regeleinhaltung resp. -verletzung Wert-„Bahnen“ stabilisieren sollen, sofern diese nicht exogen vorausgesetzt werden können, mit anderen Worten: soweit sie organisational induziert sind. Eine Antwort118 müsste meines Erachtens mit einigen wichtigen Ergebnissen der Theorie iterativer Spiele operieren, mittels derer sich zeigen lässt, dass sich kontraintuitiverweise unter der Annahme mimetischen Verhaltens trotz doppelter Kontingenz – Ego ahmt das regeleinhaltende resp. -verletzende Verhalten des Alter nach, dieser aber dasjenige des Ego – mehr oder minder stabile Trajektorien ableiten lassen, denen das Verhalten der Akteure folgt, ohne indes dass diese „Flugbahn“ durch Intention, 118
Für eine ausführliche Darstellung siehe Ortmann (2003).
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Ziele oder Werte bestimmt würden, die ex ante definiert wären. Diese ergeben sich vielmehr erst als Resultat des mimetischen Prozesses, den sie also nur scheinbar steuern119. Familienähnlichkeiten mit dieser Theorie weisen eine ganze Reihe weiterer Ansätze auf, denen sämtlich die Frage gemeinsam ist, wie sich Interaktionsbeziehungen denken lassen, wenn und insoweit sie nicht extern etabliert und stabilisiert werden, sondern sich von innen heraus – im Sinne von Selbstorganisation – entfalten müssen: zum Beispiel die Theorie sich selbst durchsetzender oder impliziter Verträge (Telser 1980; Klein, Leffler 1981), mit dem hier ganz einschlägigen Sonderfall impliziter Arbeitsverträge (Okun 1980, Berger 1995); Akerlofs (1982) Idee, Arbeitsverträge als Gabentausch zu interpretieren; Axelrods (1997) Theorie der „Kooperation ohne Freundschaft oder Voraussicht“; Colemans Theorie der Konstitution von Vertrauen (Coleman 1991, 115 ff; Frank 1992)120; Kappelhoffs Theorie der Selbstorganisation von Tauschsystemen, ausgehend von Parsons und Luhmann und unter Rekurs auf Prigogines „Ordnung durch Schwankungen“ (Prigogine 1979) und das von Eigen und Winkler (1983) analysierte Wechselspiel von Zufall und Notwendigkeit, das via sich selbst verstärkender Mechanismen in eine stabile Bahn führt (Kappelhoff 1993). Man beachte, dass alle diese Theorien es mit der einen oder anderen Variante des in Fußnote 119 am Beispiel der Abschreckung vorgeführten Paradoxien zu tun haben: Wie kann Reputation, Vertrauen, „schwache Solidarität“ (Lindenberg 1988) oder eine sonstwie konstituierte Erwartung zur „Grundlage“ eines Verhaltens werden, das diese Grundlage doch „allererst“ erzeugen müsste? Und alle relevanten Antworten sind von einer Machart, die sich der von Derrida unter den Titeln „Différance“ und „Supplément“ geführten Kritik der Idee reiner Ursprünge nicht oder nicht so leicht aussetzt. Solche Trajektorien allerdings sind stets prekär, ihre Stabilität ist immer gefährdet. Gravierender noch: In ihrer Genesis liegt keinerlei Garantie für ihre Funktionalität in Begriffen der Organisation als ganzer. Auch auf solchen Bahnen kann die Organisation aus dem Ruder laufen. Dagegen sehe ich, theoretisch gesprochen, nur zwei Korrekturmechanismen: Evolution und/oder Macht. Evolutionäre Auslese könnte „Wert- und Norm-Flugbahnen“ aussortieren, die sich als allzu dysfunktional erweisen. Dagegen sprechen die bekannten Einwände wider derart fortschrittsgläubige Evolutionstheorien, aber es ließen sich immerhin Prozesstheorien denken, die damit rechnen, dass, wie oben angedeutet, unter dem Druck von Produkt- und Arbeitsmärkten, abweichendes Verhalten in Grenzen bleibt, so dass das formale Regelwerk einer Organisation zwar nicht unmittelbar, aber mittelbar wirksam wird: indem es so etwas wie Oszillationsmittelpunkte oder Attraktoren definiert, an denen mimetisches Verhalten sich orientiert.
119 Vgl. Kreps, Wilson (1982), Kreps et al. (1982), die es mit folgendem Paradox der Abschreckung zu tun haben: „Wenn Verhalten die einzige Grundlage für Reputation ist und wenn in Wirklichkeit die Großmacht, da die Abschreckung funktioniert, nie aktiv werden muß, (um Drohungen wahrzumachen, G. O.) worauf gründet sich dann die Reputation (nämlich die Glaubwürdigkeit ihrer Drohung, G. O.)? Die Erlangung einer Reputation erscheint als sich selbst widerlegender Prozeß.“ (Dupuy 1991, 96) Dupuy (ebd., 96 ff) erörtert Lösungsmöglichkeiten, die über Kreps et al. hinausgehen, unter Rekurs auf Keynes. 120 Zu alledem: Richter, Furubotn (1996, 171 ff, 186 ff, 242 ff und passim).
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Im übrigen bleibt: ad hoc ausgeübte Macht. Wenn schon nicht ex ante fixierbar ist, welche Regelverletzung als akzeptabel gilt, so ist es doch ex post entscheidbar – durch diejenigen, die dazu die Definitions- und Sanktionsmacht haben und sich bei dieser Entscheidung nicht an Billigkeitsgesichtspunkten halten müssen, sondern sich an Effizienz-, Funktionalitäts- oder auch Machtgesichtspunkte halten (und dabei natürlich auch Öl ins Feuer der Differenz gießen) können. Darin dürfte ein Rest von Willkür liegen. Auch für die Ausübung von Willkür indes gibt es Grenzen, die sich aus der inhärenten Logik von Machtprozessen als Austauschprozessen – als Tausch von Handlungsmöglichkeiten – ergeben, also wiederum nicht aus organisatorischen Regeln. In gewisser Weise sind diese Zonen tolerierter Differenz ein Gegenstück zu Barnards „area of acceptance“ und Simons „zone of indifference“. So, wie die Barnard-Simonschen administrative men innerhalb gewisser Grenzen indifferent gegen die Zumutungen der Organisation sind, so ist die Organisation in gewissen Grenzen indifferent gegenüber individuellen Zumutungen in puncto Regelverletzung, (und manchmal nicht nur indifferent, sondern sogar aufgeschlossen bis fordernd.) Organisationen stabilisieren ihre Integrität und Identität durch die Zulassung und Bewerkstelligung von Differenz. So zeichnet sich das Bild einer Organisation ab, die nicht auf ihrem Regelwerk basiert wie ein Haus auf seinem Fundament, sondern dieses „Fundament“ in der Befolgung und Verletzung dieses Regelwerks täglichen neu kreiert. In dieser selbsttragenden Konstruktion spielt Macht eine wahrhaft entscheidende Rolle – die Macht, Differenzen zu tolerieren.
7. Buridans Esel verhungert nicht Notiz zur Paradoxie des Entscheidens 7. Kapitel: Buridans Esel verhungert nicht „Only those questions that are in principle undecidable, we can decide.“ Heinz von Foerster (1992, 14)
Jacques Derrida (1991), Heinz von Foerster (1992), Niklas Luhmann (2000), sie alle erblicken in jüngerer Zeit in der Entscheidung ein paradoxales Problem. Sie bieten damit nichts anderes als eine Variante des Platonischen Suchparadox – und eine dramatische Vertiefung und Verschärfung gegenüber der Entscheidungsproblematik, wie sie üblicherweise behandelt wird, nämlich als Problem unsicherer Information. Entscheidung in einem emphatischen Sinne ist nötig, wenn sie unmöglich ist; wenn und soweit sie nicht begründet werden kann; wenn sie, mit anderen Worten, mehr als eine Ableitung, eine Rechenaufgabe ist – das allerdings ist ein heftiger Schlag ins Kontor betriebswirtschaftlicher Entscheidungslogik, die Entscheidung nur insoweit thematisiert; die also mit Entscheidungen, die für Derrida, von Foerster und Luhmann diesen Namen verdienen, überhaupt nicht befasst ist. Entscheidung, so hatten wir (Ortmann u. a. 1990, 375 ff) es einmal formuliert, ist ein Sprung über die Kluft der Kontingenz. Es gibt keine perfekten Begründungsbrücken, irgendwann heißt es: hic Rhodos, hic salta. Der Schnitt der De-zision schneidet die Kette der Begründungen und Zweifel irgendwo ab. Dann sind wir mit unserer Weisheit nicht am Ende, sondern am Anfang: bei Fragen der Topik und der phrónesis eines Aristoteles, der Urteilskraft eines Kant, des sensus communis eines Hans-Georg Gadamer, bei phänomenologischen Analysen des Entscheidens, wie sie von Alfred Schütz (1974) vorgelegt und heute von Egon Franck (1992) nahegelegt werden; bei einer Dialogik des Entscheidens im Sinne Gröschners (1982); bei kognitivistischer Entscheidungsforschung von und im Gefolge von Herbert A. Simon. Darauf brauche ich nicht mehr näher einzugehen121, sondern will hier nur die Frage anschließen: Handelt es sich um eine operative Paradoxie im strikten Sinne? Als operative Paradoxie bezeichne ich den Umstand, dass die Bedingungen der Möglichkeit einer Operation die Bedingungen ihrer Unmöglichkeit implizieren. Auf Kommando frei, spontan oder „Du selbst“ zu sein: das sind paradoxe Veranstaltungen. Paradox ist die gigantische Operation des Massentourismus, weil und insofern er seine eigene Basis, eine einigermaßen unbeschädigte Natur, zerstört. Aber Entscheidung? 121
Vgl. die Bemerkungen oben, im Kapitel „Organisation und Dekonstruktion“, Abschnitt 4; ferner Ortmann (2003).
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7. Kapitel: Buridans Esel verhungert nicht
Es leuchtet vielleicht ein, dass ausrechenbare „Entscheidungen“ in gewissem Sinne, wie von Foerster sagen würde, „schon getroffen“ sind und eben deswegen nicht als echte Entscheidungen gelten können. Im täglichen Leben aber „treffen“ wir oft und leicht Entscheidungen, ohne zu rechnen, und ohne Paradoxien durchzumachen. Buridans Esel zum Beispiel, der bekanntlich zwei vollkommen gleiche Heubündel in genau gleicher Reichweite dargeboten bekommt, verhungert nicht, sondern entscheidet sich einfach für eines, irgendeines, der beiden Bündel. Die Entscheidung ist nötig, damit er nicht verhungert, aber sie ist keineswegs unmöglich. Sie ist auch nicht, wie Heinz von Foerster zu bedenken gibt, vorher „eigentlich“ schon getroffen, so dass sie nur noch ausgerechnet oder abgeleitet werden müsste. Man sollte übrigens nicht glauben, dass eine Entscheidung unbedingt oder auch nur typischerweise eine Selektion im negativen Sinne des Aussortierens aller minder geeigneten Alternativen impliziert. Bleiben wir in der Metaphorik des Buridanschen Esels und wechseln nur von dessen Heubündeln zu Ulric Neissers Äpfeln, dann können wir sagen: „Um einen Apfel vom Baum zu pflücken, muß man nicht alle anderen herausfiltern; man pflückt sie einfach nicht. Eine Theorie des Apfelpflückens hätte vieles zu erklären (Wie entscheidet man, welchen man will, führt die Hand zu ihm, fasst ihn?), aber sie müsste keinen Mechanismus bezeichnen, der nicht gewollte Äpfel vom Mund fern hält.“ (Neisser 1979, 72 f) Es handelt sich dann nicht darum, das Verschmähen der vielen verschmähten Äpfel zu begründen, sondern um die positive, aktive Aufmerksamkeit für den einen – vielleicht: zufriedenstellenden oder sogar schönen – Apfel, die der Theoretiker zwar erklären, der Handelnde aber wohl kaum je begründen können muss – keine Paradoxie weit und breit (vgl. auch die Erörterung bei Giddens 1988, 98 f). Nein, zur Paradoxie wird das Entscheiden erst, (und von Entscheidung im emphatischen Sinne spreche ich erst,) wenn wohlbegründete Entscheidungen gefragt sind. Ich sehe vor allem zwei Richtungen, aus denen das Verlangen danach kommen und unabweisbar werden kann: aus moralischem und aus sachlichem Rechtfertigungsdruck. Entscheidungen wollen dann wohlbegründet sein, wenn Probleme, im Jargon der Entscheidungstheorie, schlecht strukturiert und aus moralischen und/oder sachlichen Gründen dringend lösungsbedürftig sind. Dann brauchen wir gute Gründe, und dann können wir sagen: Entscheiden ist ein paradoxales Unterfangen, weil es gute Gründe verlangt, aber genau dann gefragt ist, wenn und soweit es solcher Gründe ermangelt. Daraus folgt, dass es, genau genommen, nicht heißen darf: Paradoxie des Entscheidens (denn in Buridans Lage kann ich mich sehr wohl und sehr leicht „einfach entscheiden“, ohne aber die Wahl der einen Rübe begründen zu können), sondern: Paradoxie des Begründens von Entscheidungen. Die Paradoxie des Entscheidens ist, bei näherem Hinsehen, eine Paradoxie des Begründens – des Begründens von Entscheidungen in Situationen, in denen gute, tragfähige Gründe fehlen, aber verlangt sind. Erst dann können wir sie zwanglos mit dem Phänomen in Deckung bringen, dass im alltäglichen Leben, in und außerhalb von Organisationen, Entscheidungen ständig – und oft genug mühelos – fallen oder gefällt werden: weil starke Begründungen nämlich oft entwe-
7. Kapitel: Buridans Esel verhungert nicht
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der überflüssig oder fingierbar sind oder scheinen. Überflüssig sind sie in Buridans Fall, weil die Alternativen ersichtlich (hinlänglich) gleichwertig sind und, orthodox ökonomisch gesprochen, der Wert des Überlebens den möglichen Zusatznutzen der besseren Entscheidung, der ja gegen Null tendiert, ersichtlich bei Weitem übersteigt. (Die Grenzkosten der Suche nach Unterschieden zwischen beiden Mohrrüben tendieren ersichtlich gegen Unendlich, ihr Grenznutzen gegen Null.) Fingierbar sind Begründungen auf vielfältige Weise – Unternehmensberatungen und Management-Gurus verdienen zum guten Teil ihr Geld mit der Lieferung von Fiktionen der Begründung. Wann aber nennen wir Gründe „gut“ und Entscheidungen „wohlbegründet“? Ist es nicht so, und wissen wir nicht alle darum, dass es perfekte Gründe und Begründungen in den uns interessierenden Fällen gar nicht geben kann und wir mit „gut“ jeweils nur „gut genug“ meinen? So dass auch von einer Paradoxie des Begründens nicht die Rede sein kann, weil Rechtfertigungsdruck stets nur auf hinreichende, Simon würde sagen: befriedigende, nicht auf vollkommene Gründe und Begründungen abstellt? Und dass also Begründungen, nämlich: unvollkommene, aber hinlänglich überzeugende Begründungen, durchaus möglich sind? Damit, so glaube ich, dürfen wir uns für die meisten Alltagssituationen beruhigen, obwohl es das Problem nur auf die Folgefrage verschiebt, die empirischer Forschung Wert wäre: Wann nennen wir im Alltag eine Begründung „gut genug“? Wenn wir das Problem indes zugespitzt stellen, also größeren und größeren, schließlich größten Problem- und daher Rechtfertigungsdruck unterstellen, der bessere und bessere, schließlich: beste, also: perfekte Begründungen verlangt, dann sieht man, dass im Innersten von Entscheidungsproblemen eine Paradoxie des Begründens wohnt, über die wir uns im Alltag lediglich hinwegsetzen, ja, dass dieses „Darüberhinwegsetzen“, diese Verleugnung eines Mangels an guten Gründen, geradezu zur Bedingung der Möglichkeit schnellen Entscheidens und entschlossenen Handelns wird. Wir können uns entscheiden, weil wir fest genug daran glauben, uns entscheiden zu können; weil wir erfolgreich den Mangel an guten Gründen für unsere Entscheidungen verleugnen; weil wir diesen Mangel irrtümlich verkennen und ihn dadurch mitsamt diesem Irrtum heilen. Wir sagen: „leicht zu entscheiden“, und haben (bekommen) recht, weil wir diesem Irrtum aufsitzen. Die Bedingung der Möglichkeit des Entscheidens ist Weisheit, nämlich: das Innewerden, oder das Gegenteil von Weisheit, nämlich: das Verleugnen des Mangels an guten Gründen.
8. „Für Unbefugte verboten“ Über nahezu, aber nicht vollkommen tautologische Regeln∗ 8. Kapitel: „Für Unbefugte verboten“ „Es ist verboten, Personen in Aufzügen zu befördern, bei denen das Mitfahren von Personen verboten ist.“ Verordnung über die Einrichtung und den Betrieb von Aufzügen
„Unnötigen Lärm vermeiden!“ Warum sind Formulierungen von Regeln solcher Art, entgegen erstem Anschein, nicht sinnlos? Obwohl ihr Gehalt mangels Tautologievermeidung doch gegen Null zu streben scheint? Weil jede Regel es an sich hat, mehr oder minder unbestimmt zu bleiben und ihre nähere Bestimmung der Regelanwendungskompetenz ihres Anwenders zu überlassen. Anders könnte eine Regel jene generalisierte Anwendbarkeit nicht erlangen, die erst eine Regel aus ihr macht – ein verallgemeinerbares Verfahren der Praxis. Die eingangs zitierten Formeln treiben das nur auf die Spitze – aber sie übertreiben es nicht, jedenfalls nicht sehr. Denn kompetente Akteure wissen in den meisten Fällen Befugte von Unbefugten respektive unnötigen von unvermeidbarem Lärm selbst zu unterscheiden, und ganz trivial ist der dargebotene Inhalt auch nicht: Vieles ist ohne eigens gewährte Befugnis erlaubt, und auf dem Times Square, im Fußballstadion, auf dem Kinderspielplatz könnte ein Schild wie das mit dem unnötigen Lärm kaum stehen (wohl aber am La Guardia Place in New York, wie uns Lily Brett in ihrer Kolumne in „Die Zeit“ vom 20.5.1999, auf S. 25 des Ressorts „Leben“ mitteilt, mit allen Anzeichen des an dieser Stelle üblichen Amüsements). Welcher Lärm indes das Prädikat „unnötig“ verdient, das können und sollten kompetente Akteure erst in situ entscheiden. „Unbefugten ist das Betreten verboten.“ Es mögen deutsche Baustellen sein, an deren Zäunen Schilder mit solcher Aufschrift hängen, aber sie enthalten eine instruktive Tautologie. „Der richtige Mann an den richtigen Platz“? Doch nicht ganz leer, diese Maxime, wenn man an das Peter-Prinzip denkt. („In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen“; Peter, Hull 1972, 19.) „Vermeidbares Leid vermeiden“: Das ist, Albrecht Wellmer (vgl. 1986, 220 f) zufolge, die – irgendwie enttäuschende – Quintessenz der gewaltigen Reflexionsanstrengung der Diskursethik der kritischen Theorie, eine Quintessenz, die es mit den zitierten Regeln gemeinsam hat, dass ihr Instruktionsgehalt gegen Null geht, aber eben das winzige, aus-
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Zuerst erscheinen in: Zeitschrift Führung + Organisation 68 (1999), 296; geringfügig modifiziert.
8. Kapitel: „Für Unbefugte verboten“
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schlaggebende bisschen größer als Null ist – und dass sie die verbleibende Instruktionslücke, mithin den weitaus größeren Teil der Ethik, den Anwendungsdiskursen und -praktiken überlässt, die daher, supplementär und doch konstitutiv, ganz im Sinne Derridas, solche – nein: alle – Normen und Regeln erst vollends konstituieren: Die gegenüber der Regel doch eigentlich abgeleitete, supplementäre Praxis erst besorgt die (Vollendung der) Bestimmung dieser Regel, die für die Regelmäßigkeit, Verlässlichkeit, Erwartbarkeit, ethische Verantwortbarkeit eben jener Praxis doch sorgen soll. Übrigens folgt aus der Formel „Vermeidbares Leid vermeiden“, dass ein riesiger und, wie mir scheint, wachsender Anteil ethischer Diskurse Fragen der Vermeidbarkeit, also: nicht-normativen Fragen zu widmen ist, oft nahezu unlösbar komplexen Fragen. (War das Leid der Kosovo-Albaner vermeidbar? Welches Ausmaß an Umweltzerstörung ist vermeidbar?) Regelanwendungskompetenz – das heißt dann allerdings, genau besehen, die Kompetenz, die Konstruktion der Regel in der An-Wendung zu vollenden, also: die Regel darin (mit) zu erzeugen. In „Für Unbefugte verboten“ steckt daher die Weisheit der Dekonstruktion, das Wissen um die konstitutive Rolle des Supplément – des Supplément jedweder Regel. Wir werden über Aristoteles‘ phrónesis oder über Gadamers sensus communis neu nachdenken müssen. Gewiss ist es kaum ein Zufall, dass eines der schönsten Exemplare meiner kleinen Sammlung nahezu, aber nicht vollkommen tautologischer Regeln aus Berlin stammt, dem politischen, administrativen und geistigen Zentrums Preußens. Dort pflegte noch zu meiner Studentenzeit in den Fahrstühlen ein Schild mit der Aufschrift angebracht zu sein: „Es ist verboten, Personen in Aufzügen zu befördern, bei denen das Mitfahren von Personen verboten ist.“ Derlei hat uns als junge Studenten ähnlich amüsiert wie Lily Brett das Schild am La Guardia Place. Nahezu dreißig Jahre lang habe ich geglaubt, es handele sich bei dem Fahrstuhl-Schild um die etwas verunglückte Formulierung eines Berliner Schildermalers, der eine Art verzweifelten Bemühens um vorauseilenden Gehorsam gegenüber einer womöglich bloß vermeintlichen preußischen Regelungswut an den Tag gelegt hat. Wie weit das gefehlt war, darüber belehrte mich erst dieser Tage Reiner Iblher: Die Formulierung sei ihm bekannt als die wortwörtliche Wiedergabe einer Formulierung aus der Verordnung über die Einrichtung und den Betrieb von Aufzügen, gegeben in der Versammlung des Senats, Hamburg, den 4. November 1927. Selbstverständlich enthalten diese Betriebsvorschriften auch den Passus: „Es ist verboten, Aufzüge ohne Befugnis zu bedienen.“ Hamburg nun, fragen Sie einmal Hanseaten, ist nicht Preußen. Das ist auch New York nicht, und das La Guardia-Schild verweist daher auf eine gewisse Ubiquität des Phänomens. Heute, gereifter und bescheidener, lächle ich nicht mehr so leichtfertig über die Leere der Regeln, weil genau darin die Bedingung ihres Funktionierens steckt. Gestern übrigens habe ich eine so genannte Traditionsfahrt auf der Alster gemacht, mit dem ältesten noch in Betrieb befindlichen Dampfer Deutschlands, 1876 auf der ReiherstiegWerft erbaut, getrieben tatsächlich von einer Dampfmaschine. Über den Sitzplätzen, mit vier Schrauben sorgsam befestigt, verkündet ein Schild: „Ungeschützte Hutnadeln verboten“. Sagen Sie nichts.
9. Rollentheorie: Eine dekonstruktive Denkbewegung 9. Kapitel: Rollentheorie: Eine dekonstruktive Denkbewegung „Roles (...) exist only in the behavior of men“. Shibutani (1961, 47)
Der Gedanke der Notwendigkeit und stillschweigenden Duldung von Regelverletzungen, den ich im 6. Kapitel skizziert habe, wirft die Frage nach der Integration, nach dem Zusammenhalt, nach der Systemeinheit von Organisationen und Gesellschaften neu auf. Wenn weder Hobbesianische Kontrakte noch Durkheim-Parsonianische Normen und Werte hinreichen, um jene Integration zu erklären, weil nämlich beide das Problem ihrer Anwendung oder Erfüllung – compliance – überspringen, dann wird ja noch unwahrscheinlicher und fragwürdiger, dass und wie soziale Systeme zusammenhalten. Die Frage habe ich zugespitzt mit den Denkmitteln der Dekonstruktion von Regel und Anwendung und mit der Figur einer Différance, die in aller Anwendung von Regeln sich Geltung verschafft. Meine Antwort operiert mit der Figur der Selbstorganisation. Die Ordnung, nach der Hobbes und Parsons gefragt haben, ist Ordnung am Rande des Chaos. Die Denkbewegung, die mir erforderlich scheint, möchte ich in diesem Kapitel an der Rollentheorie durchführen. Sie war es ja, die uns lange Zeit die Antwort auf die Frage nach dem Kitt geliefert hat, der Organisationen und Gesellschaft zusammenhält. Den Weg von solcher Selbstsicherheit zu den Irritationen, die sich da inzwischen eingestellt haben, illustriere ich mit Niklas Luhmanns erstem und seinem letzten Buch über Organisation. In „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ ist die Mitgliedschaftsrolle noch ein Eckpfeiler der Theoriearchitektur. Es gibt ein eigenes, frühes und weichenstellendes Kapitel darüber, und die dazugehörigen Konzepte wie Rollenkonflikte, informale Rollen und „brauchbare Illegalität“ durchziehen das ganze Buch. In „Organisation und Entscheidung“ hält Luhmann zwar noch daran fest, dass wir hinter die mit dem Begriff erreichte Unterscheidung von psychischen und sozialen Systemen nicht zurückfallen sollten. Im Übrigen aber legt er den Akzent auf seine Mängel: „Einmal läßt sich keineswegs alles soziale Handeln spezifischen, als Einheit erwarteten sozialen Rollen zuordnen. Zum anderen werden individuelle Motivationen und soziale Stabilität dadurch so stark integriert, dass alle Eigendynamik des individuellen Bewußtseins nach Konformität und Abweichung klassifiziert werden muß.“ (Luhmann 2000, 82) Dass dieses letztere Schema zu einfach ist, dafür habe auch ich mit der Figur notwendiger Regelverletzung und dem Rekurs auf die Anwendung von Normen votiert. Auch Rollenerwartungen wollen erfüllt sein, und diese Füllung einer Leere kann sich nur in situ ereignen. Dort aber lauert „dieses gefährliche Supplément“ ...
9. Kapitel: Rollentheorie: Eine dekonstruktive Denkbewegung
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Hier geht es mir darum, mein Argument durchzuführen; die Arbeit der Dekonstruktion zu tun, und zwar an einer tragenden Säule traditioneller Theorie; aber auch darzutun, dass sie in dieser Theorie längst am Werk war, dass ihre besten Vertreter bei der Reflexion der Theorie und ihrer notwendigen Verwicklungen einer Denkbewegung gefolgt sind, die ich nun, im Nachhinein, dekonstruktiv nennen kann. Bei Parsons stiften gesellschaftsweit institutionalisierte Normen und eine einigermaßen gewährleistete Balance dieser Normen mit individuellen Bedürfnisdispositionen jene Integration und Stabilität sozialer Systeme, die in meiner Lesart so prekär und erklärungsbedürftig werden. Rollen, als Mengen der Erwartungen an Interaktionspartner, orientieren und motivieren und integrieren, und wenn die Balance gelingt, sind sie für Parsons gleichsam das tragende Element für die Lösung des Hobbesschen Problems der Ordnung. Bei George Herbert Mead hatte viel weniger dieses letztere Problem im Vordergrund gestanden als die Rollenübernahme als Voraussetzung für die Entwicklung der Persönlichkeit und, untrennbar damit verbunden, für die menschliche Kommunikation. „Taking the role of the other“, die Antizipation der Verhaltenserwartungen und des Verhaltens des Anderen, geleitet durch eine im gemeinsamen Handeln konstituierte Bedeutungsgleichheit: das ist für Mead das Grundmuster von Sozialität122. Wieder sind wir mit der Frage wechselseitiger Verhaltenserwartungen, doppelter Kontingenz und der Schwierigkeit konfrontiert, diesen Zirkel aufzulösen, und bekanntlich war für Mead das kindliche Spiel der Ort, an dem I, Me, der Andere und der „generalized other“ sich ausbilden. Ich möchte mich hier vor allem auf die handlungsorientierende und komplexitätsreduzierende Funktion von Rollen konzentrieren. Um diese Funktion zu erfüllen, müssen die in einer Rolle gebündelten Verhaltenserwartungen generalisiert sein. Deswegen heißen sie Normen. Von-Fall-zu-Fall-Orientierungen nach dem Muster „heute so, morgen so“ kommen nicht in Betracht. Mit anderen Worten: Es kann keine Rollenanforderungen für jede mögliche Situation geben, sondern die Besonderheiten der Situation müssen durch die Verhaltenserwartungen einer Rolle gerade transzendiert werden. Andernfalls fielen rollenorientiertes und situativ opportunes Verhalten in eins. Ich interpretiere nun die Denkbewegung, die in der Entwicklung der Rollentheorie durchlaufen worden ist, als Abarbeitung an diesem Problem, das Verhältnis der Allgemeinheit von Normen und der Besonderheit von Situationen zu denken. Und ich möchte zeigen, dass in dieser Denkbewegung die Ansprüche an die Allgemeinheit von Normen – an ihre situationsübergreifende Geltung – immer wieder von der Anforderung eines angemessenen Situationsbezugs irritiert, unterminiert und nicht selten dementiert worden sind. Die situative Angemessenheit erwies sich als gefährliches Supplément der generellen Geltung, und gerade die reflektiertesten, avanciertesten Versionen der Rollentheorie haben hellhörig auf jene Différance reagiert, die sich im praktischen Rekurs auf Rollenanforderungen respektive Verhaltenserwartungen in situ jedesmal Geltung verschafft: durch situativ gebotene, nahegelegte, mögliche, nötige Verschiebung und Veränderung dieser Normen. 122 „Rollenübernahme als solche ist“, wie Joas (1991, 148) bemerkt, „nicht identisch mit affektiver Empathie, noch gar mit emotionaler Sympathie und ist nicht mit dem mimetischen ‚playing-at-a-role‘ zu verwechseln“. Mimesis in dem Sinne aber, wie ich ihn im Kapitel „Norm, Interesse, Mimesis“ in Ortmann (2003) skizziert habe, ist beim role taking gewiss im Spiel, allerdings nur als ein Moment des Geschehens wechselseitiger Verhaltenserwartungen.
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Situativ, das heißt ja: die besondere biographische Situation, Kompetenz und Sichtweise des Akteurs und die besonderen Umstände des Handlungskontextes im Zeitpunkt der Handlung betreffend. Auch die Unterminierung der Ansprüche von Rollenerwartungen auf allgemeine Geltung hat in der Rollentheorie diese zwei Seiten: Nach der Seite des Akteurs und der Entwicklung seiner Persönlichkeit wird die unabdingbare Notwendigkeit der Rollendistanz, (Goffman 1961), nicht nur des role taking, sondern auch des role making (Turner 1955/56; 1962) entdeckt und inzwischen allgemein akzeptiert. Nach der Seite der äußeren Handlungsbedingungen wird immer deutlicher, dass zwischen der üblichen Formel von Rollen als Bündel normativer Verhaltenserwartungen, wohlgemerkt: generalisierter Verhaltenserwartungen, und Meads Bestimmung der Rollenübernahme im Sinne situationsspezifischer Antizipation der Verhaltenserwartungen und des Verhaltens des Anderen eine Lücke klafft. (Jeder weiß inzwischen, dass perfekte Konformisten nicht gefragt sind und dass größtmögliche Rigidität der Rollen und Rollengefüge ein soziales System nicht stabilisiert, sondern im Gegenteil besonders gefährdet.) „Wie aber können diese beiden Bestimmungen in einer konsistenten Weise verbunden werden? Ein erster Schritt der Annäherung ist mit der Einführung des Begriffs der Situation und damit der Interpretationsbedürftigkeit von Normen geschehen. Rollen wären dann situationsspezifische normative Erwartungen an Positionsinhaber. Doch das Problem steckt nun im Begriff der Position.“ (Joas 1991, 146) In der Tat wird das Problem nur verschoben, „wenn der strikte, in Strukturen verwurzelte Positionsbegriff aufgeweicht und auf alle Interaktionssituationen hin generalisiert wird.“ (Ebd.) Wenn man aber Rollen ohne Bezug zu Positionen definiert, landen wir bei der folgenden Bestimmung: „Rolle ist also die normative Erwartung eines situationsspezifisch sinnvollen Verhaltens.“ (Joas 1991, 147) Das sieht auf den ersten Blick sehr nach einem hölzernen Eisen aus. Normative Rollenerwartungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie generalisiert sind, und das heißt: gerade nicht situativ spezifiziert. Rollen sind an Positionen, nicht an Situationen geknüpft. Ihr ganzer Sinn ist es, die Besonderheiten einzelner Situationen zu transzendieren. Wenn wir aber die Passage so lesen, wie sie daher nur gemeint sein kann, nämlich die Generalisiertheit der Verhaltenserwartung anerkennend, dann ist sie in großer Gefahr, den Rollenbegriff zur Leerformel zu degradieren. Denn situationsspezifisch sinnvolles Verhalten, inhaltlich gefüllt, kann eben nur Situation für Situation angegeben und erwartet werden, und so landen wir entweder bei unendlich vielen situativen Erwartungen oder bei der generellen, aber leeren Erwartung, „das“ situationsspezifisch Sinnvolle zu tun. Andererseits kann rollengerechtes Handeln doch nur in situ stattfinden und muss situativ angemessen sein. Das ist
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Joas‘ Motiv. Seine begriffliche Lösung indes bleibt verbal. Sie überspringt alle Konflikte zwischen Rollen- und Situationsadäquanz. Lässt sich das Problem in der Form einer Hierarchie von Werten und Normen mit zunehmenden Spezifikationsniveaus abarbeiten? Dieser Gedanke liegt ja jetzt nahe. Vom Postulat der Nächstenliebe kommen wir einer wirklich handlungsorientierenden Norm erst stufenweise näher, indem wir es mit Blick auf die Frage „Leben oder Tod“ zu dem Postulat „Du sollst nicht töten“ spezifizieren, aber darunter lassen sich immer noch sehr verschiedene normative Erwartungen subsumieren. Sie reichen von striktem Pazifismus über die Anerkennung des Gewaltmonopols des Staates (und vielleicht eines Rechts, die Todesstrafe zu verhängen) bis zur Akzeptanz kriegerischer Handlungen, sei es nur zur Landesverteidigung, sei es auch zur Verteidigung von Menschenrechten. Vielleicht treffen wir auf handlungsorientierende Normen erst, wenn wir uns noch eine Stufe tiefer begeben, auf die Ebene von Strafgesetzen, Soldatengesetzen oder auch bestimmten normativen Erwartungen in spezifizierten, aber immer noch typisierten Situationen – Notwehr, Verteidigung der Ehre im Falle des Ehebruchs, Verminderung der Zurechnungsfähigkeit durch Alkohol wären Beispiele. Und Hans Joas würde sagen: Tatsächlich handlungsorientierend sind auch diese Normen noch nicht, sondern sind es erst, wenn wir, die Handelnden selbst, sie situativ spezifiziert haben. Dekonstruktion, wie ich sie verstehe, kann in dieser Lage nicht in dem wohlfeilen Verweis darauf bestehen, dass mit der Anerkennung von Notwehr oder Landesverteidigung die oberste Norm der Nächstenliebe oder das Tötungsverbot dementiert sei. Das hieße ihren Charakter als kontrafaktisches Ideal sowie die Notwendigkeit einer gewissen Leere jeder Norm und die Notwendigkeit ihrer Füllung und Spezifikation leugnen (und würde zu einer verheerenden, unhaltbaren Geringschätzung solcher eher leeren, aber eben keineswegs gänzlich leeren Normen führen). Dekonstruktion heißt aber, darauf zu insistieren, dass sich im Zuge der notwendigen Füllung und Ergänzung, zuletzt im durch sie orientierten Handeln, eine Verschiebung und Veränderung ereignet, die bis zu ihrer Ersetzung reichen kann und können muss. Hans Joas spricht an genau dieser Stelle von kreativer Spezifikation, die immer riskant bleibt. Diese Formulierung erinnert an das „fresh judgement“ und die „constructive interpretation“, die nach Ansicht von Juristen in jedem noch so gesetzestreuen Richterspruch gefordert und enthalten seien123. Joas (1991, 147) zitiert in diesem Zusammenhang Shibutani mit folgender Klarstellung: „Some social psychologists have spoken of behavior as beeing ‚determined‘ by roles, as if the latter existed independently of human conduct and forced men into some mold. Roles, however, exist only in the behavior of men, and the patterns become discernible only in their regulized interaction. Roles are models of conduct which constitute the desired contribution of those participating in group activity. But even in stable societies men are not automatons, blindly acting out conventional roles. The very fact that deviation is possible indicates that such models do not ‚cause‘ behavior.“ (Shibutani 1961, 47; Hervorh. G. O.) 123
Vgl. dazu Ortmann (2003); zum Richterrecht s. Teubner (1992).
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9. Kapitel: Rollentheorie: Eine dekonstruktive Denkbewegung
Das ist gewiss richtig, und es ist im Einklang mit einer strukturationstheoretischen Sicht der Dinge. Aber wir müssen es schärfer zuspitzen: Abweichung ist nicht nur möglich, sondern nötig, in folgendem strikten Sinne: (1.) die Möglichkeit von Abweichungen ist notwendig, mit einem Ausdruck Derridas (dazu: Lagemann, Gloy 1998, 20, 24): notwendige Möglichkeit. (2.) Die Realisierung dieser Möglichkeiten unter bestimmten, aber nicht vorab bestimmbaren Umständen und innerhalb bestimmter, aber nicht vorab bestimmbarer Grenzen ist notwendig. Gesellschaften und Organisationen sind nicht stabil, obwohl, sondern weil sie Abweichungen zulassen – weil und wenn sie sie zulassen und begrenzen. Das alles läuft auch für Joas auf die Merkwürdigkeit hinaus, dass die Akteure jene Handlungsorientierungen, die, wie der Name sagt, ihr Handeln doch orientieren sollen, in diesem und durch dieses Handeln erst (vollends) kreieren. Das könnte dazu verführen, den Begriff der Anwendung einer Norm – wie jeder Regel – ganz preiszugeben, weil handlungsleitend am Ende nur diese selbstkonstituierten Orientierungen wirken, die ich nicht „anwenden“, sondern nur noch praktizieren müsse. So richtig letzteres ist, bleibt es doch bei der situationsübergreifenden, wie immer prekären, Geltung einer Norm, die es auf Situationen zu beziehen gilt. Dafür ist Anwendung ein gutes Wort, weil es die Hinwendung zur Situation und die Abwendung von der schieren Allgemeinheit der Norm und schließlich die Wendung im Sinne einer Verschiebung/Veränderung der Norm sprachlich zum Ausdruck bringt. Joas (1991, 151) betont die Dringlichkeit, „klar zwischen der Rollenübernahmefähigkeit und der Motivation zu ihrer Anwendung zu unterscheiden“, das heißt: Wir können Rollenerwartungen gedanklich übernehmen – ob und wie wir diese Normen oder praktisch anwenden, ob wir in die uns zugemuteten Rollen tatsächlich schlüpfen und wie wir sie in situ interpretieren, ist noch eine zweite Frage. Die Rollentheorie hat zum Verständnis dieser Komplikationen noch eine Reihe weiterer Konzepte bereitgestellt: Ambiguitätstoleranz, die auf die Mehrdeutigkeit von Rollenanforderungen verweist, ist ein Konzept, das besonders gut die von Derrida so unermüdlich betonte Dissemination der Bedeutungen in Abhängigkeit von einer prinzipiell unendlichen Vielzahl von Kontexten sozialtheoretisch zu reflektieren erlaubt. Intra- und Interrollenkonflikte verweisen auf die Unmöglichkeit konsistent-normenkonformen Handelns. Die von Habermas (1973) postulierten Kompetenzen der Frustrationstoleranz, der kontrollierten Selbstdarstellung und der flexiblen Überich-Formation indizieren die Notwendigkeit eines flexiblen Umgangs mit Rollenerwartungen. Turners role making betont den aktiven, Joas würde sagen: den kreativen Part der Akteure im Spiel wechselseitiger Erwartungen. In die gleiche Richtung zielt Turner später (1978/79) mit dem Konzept eines „role-person-merger“. Die Individualisierungsdebatte schließlich rechnet gar mit einer gesellschaftsweiten Abnahme rollenkonformer Typen von Verhalten. Das alles führt zu wachsender Raffinesse des Rollenkonzepts, und wenn es im gleichen Maße allerdings die Frage dringlicher macht, wie denn angesichts all dieser Komplikationen und gedanklichen Unterwanderungen das herkömmliche Konzept gesellschaftlicher Ordnung und Integration noch zu denken sei, dann trifft man heutzutage auf die gelassene Antwort: Sie sei ohnehin nicht in dem alten Parsonianischen Rahmen zu fassen, der einem eingespielten Werte- und Normenkonsens die Hauptlast der Erklärung aufbürdet. Dem kann man wohl zustimmen. Nun glaube ich allerdings erstens, dass die einschlägige Parsons-Rezeption oft Karikaturen zeichnet in dem verständlichen Interesse, sich von dieser
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Bürde zu befreien. Parsons war gewiss nicht der Denker eines „cultural dope“ und auch nicht seines Pendants, eines von allem Handeln losgelösten Norm- und Wertesystems124. Zweitens und daraus fast schon resultierend möchte ich argumentieren, dass wir daher die gesellschaftliche Relevanz von Normen und Werten zwar vielleicht niedriger veranschlagen, aber nicht mit dem Bade der Parsons-Kritik ausschütten sollten. Die Antwort auf die aufgeworfenen Schwierigkeiten mit der Rollentheorie kann nicht im Herunterspielen der Wichtigkeit gesellschaftlicher Regeln und Normen liegen, sondern nur in einer Aufnahme dieser Komplikationen in die Theorie, und das heißt: Wir müssen die integrative Funktion von Rollenkonformität auf eine Weise bedenken, die zugleich mit der Notwendigkeit dauernder Rollenabweichung rechnet und sie in die Theorie einschließt. Wir müssen zeigen, wie Gesellschaft das von ihren Rollenerwartungen ausgeschlossene Verhalten inkludiert und wie sie gerade dadurch, durch Inklusion des Exkludierten, an Stabilität gewinnen kann. Die Rollenkonformität bedarf des Supplément der Rollendistanz, das role taking erheischt das des role making, die handelnd konstituierte Bedeutungsgleichheit das der Rollenambiguität, die Generalisierung der Verhaltenserwartungen das des Situationsbezugs125, die notwendige Leere genereller Normen das der (Er-)Füllung, Ergänzung, Verletzung und Ersetzung in Akten „kreativer Spezifikation“ (Joas). Verletzung und Ersetzung? Enthalten solche Formulierungen, in denen erst diejenige Radikalisierung zum Ausdruck gebracht wird, die hier von der Dekonstruktion beigesteuert wird, nicht eine unberechtigte Dramatisierung gegenüber Joas‘ kreativer Spezifikation? Die Differenz zu Joas, auf die es mir hier ankommt, ist minimal. Immerhin bewegen sich auch Joas‘ Überlegungen auf den Bahnen eines (kreativen) Zirkels von Handlungsorientierungen, die für das Handeln gebraucht werden, und Handeln, das diese Orientierungen erst selbst hervorbringt. Ob die Rede von der Verletzung und Ersetzung von Normen als minimalem Moment eines jeden Rekurses, einer jeden Anwendung ihr Recht hat, entscheidet sich wohl an der Frage, ob dahinter nicht eine unhaltbare Vorstellung steckt, die nämlich einer perfekten, absolut unverfälschten Anwendung von Normen, an der gemessen erst jede tatsächliche Anwendung als Abirrung erscheinen müsste. Eine solche Vorstellung nun wäre nicht einfach deswegen unhaltbar, weil Menschen nun einmal nicht perfekt sind – das ließe sich vielleicht noch als Streben nach einer wenn auch unerreichbaren, so doch angebbaren Perfektion auffassen. Der entscheidende Einwand lautet vielmehr, dass ein solcher Zustand der Perfektion, der unverfälschten Anwendung, nicht definierbar ist, weil faktisch geltende Normen überhaupt nicht anders als via Interpretation und Kreation „angewandt“ werden können. In der Formulierung von Shibutani: „Roles exist only in the behavior of men.“ Wir 124 Es gibt viele Passagen in Parsons Werk, die zeigen, dass er vielmehr klar die rekursiven Konstitutionsverhältnisse zwischen „Wertehimmel“ und irdischem Handeln gesehen und in seine Theorie eingebaut hat; vgl. für diese Argumentation Ortmann (1995c, 232 f). 125 Auch für Joas (1992, 235) steht „der konstitutive und nicht nur kontingente Situationsbezug des menschlichen Handelns“ außer Frage. „Um handeln zu können, muß der Handelnde ein Urteil über den Charakter der Situation fällen. Jede Handlungsgewohnheit und jede Handlungsregel enthält Annahmen über den Typus von Situationen, in denen es angemessen ist, nach dieser Gewohnheit oder Regel zu verfahren.“ Auch diese Typen – unschwer sieht man die Nähe zum Husserl/Schützschen Typus und zum Kantischen Schema – unterliegen, wie ich im Kapitel „Norm, Interesse, Mimesis“ in Ortmann (2003) zeige, der Kraft der Différance, nämlich einer beständigen Ergänzung/Füllung/Verschiebung/Ersetzung im Zuge ihrer Anwendung.
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können zu einer perfekten Normanwendung, zu einer vollkommenen Konformität nicht kommen, indem wir vom Rekurs auf Normen im Handeln gleichsam die verunreinigende Interpretation und kreative Spezifikation subtrahieren. Derrida würde sagen: Es gibt für keine Rolle einen Ur-Text. Wie aber sollen wir dann überhaupt noch sinnvoll von Verletzung in der alltäglichen Normenanwendung sprechen können? Andererseits tun wir das, sprechen wir im Alltag und spricht auch die hier zitierte Rollentheorie ganz zwanglos von Distanz und Abweichung. Distanz und Abweichung wovon aber? Meine Antwort lautet: Im Falle nicht-normativer Regeln sind es Abweichungen vom bisher verallgemeinerten Verfahren der Praxis, im Falle normativer Regeln, soweit also der normative Gehalt einer Regel gefragt ist, Abweichungen vom bisher etablierten kontrafaktischen Ideal, das jede Norm im Kern enthält und das gerade ihre Normativität ausmacht. Abweichungen von Letzterer seien, so könnte der nächste Einwand lauten, wegen der notwendigen Leere, Vagheit und Mehrdeutigkeit von Normen überhaupt nicht sinnvoll angebbar, nicht einmal definierbar. Bei Normanwendung gehe es eben im Kern gar nicht um Abweichung, sondern um Spezifikation. Wieder lautet meine Antwort: Wir alle sprechen aber früher oder später von Abweichung und müssen es – die einen später, die anderen früher. Und meine These ist, dass wir eben alltagspraktische Vorstellungen – Erinnerungen und sodann Erwartungen einschließlich jener Idealisierungen – entwickeln, an denen wir ein Verhalten als konform oder abweichend beurteilen je nachdem, ob es sich so, wie wir es wahrnehmen, mit diesen unseren Vorstellungen einigermaßen deckt. Das tun wir meistens nicht durch Vergleich mit klaren, vollständig allgemeinbegrifflichen Vorstellungen, sondern begnügen uns mit dem Abgleich anhand von Schemata oder Typen126, betreffend übliches oder gebotenes Verhalten und sodann mit alltagspraktischen Relevanzkriterien für die Frage: Ist die Abweichung der Rede wert oder nicht? Entgegen dem ersten Anschein benötigen auch diejenigen, die an der Figur der kreativen Spezifikation als hinreichender Denkfigur festhalten wollen, dafür ihrerseits den Rekurs auf eine irgendwie feststehende, zumindest zeitweise stabilisierte Regel oder Norm, wenn sie überhaupt noch Spezifikation von Abweichung wollen unterscheiden können. An dieser Stelle erst scheiden sich die Geister: Letztere können das nur, wenn sie sich diese alltagspraktischen Kriterien als Theoretiker irgendwie zu eigen machen oder durch eigene ersetzen, wenn sie irgendwann sagen: hier ist die Grenze, jenseits derer die Abweichung beginnt. Wenn man aber die Konventionalität auch noch dieser Grenzziehung eingesehen hat, sieht man: Abweichung gibt es immer, in jedem Falle, nämlich Abweichung vom bisher Eingespielten, nur dass sie im Alltag meist nicht wahrgenommen wird, nicht wahrnehmbar ist oder als unerheblich vernachlässigt werden kann und wird. Es ist in diesem Sinne, dass ich, Derrida paraphrasierend, sage: Jeder noch so konformistische Rekurs auf Normen impliziert streng genommen deren Verletzung, Verletzung meist nicht im Sinne eines Zuwiderhandelns, sondern im Sinne eines, und sei es minimalen, Zerstörens/Aufhebens und Neu-In-Kraft-Setzens, das schon dadurch erforderlich wird, dass jeder Rekurs auf Normen zu einem anderen Augenblick und unter besonderen Umständen
126 Vgl. wiederum das Kapitel „Norm, Interesse, Mimesis“ in Ortmann (2003), wo auch erläutert wird, dass oft nicht bewusstes rule following das Verhalten steuert, sondern eingefleischte Dispositionen oder Habitus dies leisten.
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statthat. Dies Verletzung zu nennen, ist natürlich eine radikale Formulierung, an der manche Leserin, mancher Leser weiterhin Anstoß nehmen wird. Wir haben es hier mit akkurat der gleichen Figur zu tun, die Schütz mit Blick nicht auf Normen, sondern auf Deutungsschemata vor Augen hatte, als er fragte, wie wir den Anderen verstehen können, der uns zunächst vielleicht nur als typischer Postbeamter, Gendarm oder Kartenspieler entgegentritt. „Die idealtypischen Deutungsschemata sind gewissermaßen Leerformen, die das Ich an das umweltliche Du heranbringt und die durch die jeweilige Konkretisierungs- und Aktualisierungsstufe der Wirbeziehung zugleich erfüllt, aber auch ihres typischen Wesens beraubt werden.“ (Schütz 1974, 259) Dieses Berauben ist zunächst nur gemeint, wenn hier von Verletzung die Rede ist, also die Verletzung-und-Erfüllung, die Verletzung-durchErfüllung des typischen Wesens einer Norm. (Eben hatten wir es mit einer generalisierten Verhaltenserwartung zu tun, nun plötzlich mit einer besonderen Situation.) Es sei noch einmal betont: Im Alltag nehmen wir davon nicht einfach aus Fahrlässigkeit keine Notiz, sondern es ist Bedingung der Möglichkeit des Alltagshandelns, dass wir davon keine Notiz nehmen, weil sonst Deutungsschemata und Normen all ihre unentbehrliche orientierende und komplexitätsreduzierende Kraft verlieren würden. Nicht nur der gemeine Konformist muss, wir alle müssen jenen minimalen Augenblick des Außer-Kraft-Setzens einer Norm normalerweise übergehen, die logische Sekunde, da wir uns zu fragen hätten: Ist die Norm noch gültig? Passt sie angesichts der situativen Umstände? Erfordern die situativen Umstände nicht die Veränderung der Norm? Soll ich ihr folgen? Wie soll ich ihr folgen? Der Übergang aber von dieser, der konformistischen Aufhebung-und-Neuschöpfung zu Abweichung – zu einer Abweichung, die wir im Alltag als solche erleben – ist erstens fließend, zweitens nur noch zum Teil seinerseits an normativen Regeln zu messen, kann daher drittens in gleitender Bewegung in Zonen tolerierter Differenz führen, wird viertens vielfach mittels Willkür und Macht oktroyiert und fünftens in beträchtlichem Maße mithilfe von Mimesis ohne solchen Oktroi vollzogen. Es ist eine Verletzung, von der nicht oft genug hinzugefügt werden kann: Ob wir sie im Alltag als solche erleben und bezeichnen, ist damit durchaus nicht gesagt. Und selbstverständlich ist die alltagspraktische Grenzbestimmung nicht schon deshalb mangelhaft, weil sie gleichsam mit groberen Rastern operiert und dort Beständigkeit – beständige Geltung – sieht, wo die strenge Reflexion „nur“ als unerheblich geltenden Wandel sieht. Im Alltag müssen wir Grenzen setzen. Nicht daran nagt die Dekonstruktion. Wohl aber schärft sie unser Bewusstsein von der Hervorbringung von Normen einschließlich flankierender Kriterien für Abweichung respektive Konformität. All dies geschieht nirgendwo sonst als in den rekursiven Schleifen sozialer Praxis, die von normativen Handlungsorientierungen zum Handeln und vom Handeln zu den Handlungsorientierungen führen. Jede Handlung, so ließe sich dies alles auch zusammenfassen, verändert die gesellschaftlichen Rollen und Rollengefüge, wenn auch meistens nur minimal und unmerklich. Tatsächlich lässt sich auch das Werk Meads so lesen. Das tut etwa Murray Edelman mit folgender Interpretation, und es ist für meinen Zusammenhang besonders interessant, dass er dabei mit der Durchsetzung von Gesetzen befasst ist, die „zum größten Teil nach ‚Spielregeln‘ verläuft, die implizit Übertretungen zulassen und explizit Strafen festsetzen“ (1990, 40):
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„Da der Terminus ‚gegenseitige Rollenübernahme‘ (mutual role-taking) für unsere Analyse administrativer Rechtsdurchsetzung fundamental ist, verdient er nähere Beachtung. Er rührt von George Herbert Mead her, der die Bedeutung des ‚die-Rolle-desanderen-Übernehmens‘ für das soziale Handeln und für die Bildung des Selbst betont hat. Nur indem man ständig seine eigenen Handlungen aus dem Blickwinkel des ‚signifikanten anderen‘ zu betrachten sucht, handelt man überhaupt. Rollenübernahme ist Handeln und als spezifische Verhaltensform beobachtbar. Wie Mead glänzend demonstriert, werden gerade durch Rollenübernahme signifikante Symbole geschaffen. Wenn der normativ denkende politische Philosoph fragt, ob denn nicht die Bevorzugung einer Rolle gegenüber einer anderen von einer Werthierarchie abhängt, so ist ihm mit Mead und den vielen auf ihm basierenden empirischen Studien zu antworten, daß gerade die Rollenübernahme erst jene Symbole schafft, nach denen wir Werte ordnen. Anders ausgedrückt: die Rangordnung der Werte ist die Rationalisierung unseres Verhaltens: dessen Auswirkung, nicht dessen Ursache.“ (Edelman 1990, 40 f; letzte Hervorh. G. O.) Dass die Rangordnung der Werte hier als Effekt bestimmt wird, muss und kann man mit komplexitätstheoretischen Mitteln erhärten und präzisieren. Natürlich haben wir zu ergänzen: So wenig wir die Werte als ein Erstes ansetzen können, so wenig können wir „Verhalten plus Rationalisierung“ als ein Erstes bestimmen, und klar sollte auch sein, dass Wertordnungen, einmal etabliert, sehr wohl als „Ursache“ unseres Verhaltens – in dem nun näher präzisierten Sinne, also nicht als Ursprung, und natürlich nicht als determinierende Ursache – wirksam wird. Dann aber – angesichts dieser beständigen Verschiebung und Veränderung, angesichts dieser beständig wirksamen Kraft der Différance – erhält die Frage nach gesellschaftlicher Integration und Stabilität ein anderes, ein neues Gewicht. Was eben noch wie der unverrückbare Festlandsockel der sozialen Welt aussah (und von uns Sockelbewohnern im Alltag weiterhin so wahrgenommen wird), erweist sich bei genauerem Hinsehen als Gemengelage mit andauernden, wenn auch meist minimalen tektonischen Verschiebungen. Das hindert uns nicht (und kann uns im Alltag nicht hindern), sie weiterhin wie Sockel zu betreten und zu begehen, obwohl es strenggenommen doch nur Schollen sind. Natürlich macht diese Analyse die soziale Welt nicht unsicherer als sie vorher war. Aber sie schärft den Blick für die Frage: Wie kommt es zu jener Stabilität (= Unerheblichkeit der Verschiebungen), mit der wir im Alltag so zuverlässig rechnen können? Diese Frage lässt sich nicht von der Agenda nehmen durch den Hinweis, das Hobbessche Problem sozialer Ordnung beziehe sich auf irrige, zumindest aber überholte Vorstellungen über das Ausmaß überhaupt möglicher und nötiger sozialer Integration innerhalb eines Staates. So richtig dieser Hinweis ist (der an „die Stelle einer nie stabilisierbaren Interessenbalance rationaler Akteure oder die nie erreichbare weiträumige normative Integration“ eine differenzierte „Vorstellung von Netzwerken der Handlungsverflechtung“ setzt, „die in unterschiedlichem Maße Raum und Zeit überbrücken“; Joas 1992, 343), so sehr müssten wir ja erstens mit Blindheit geschlagen sein, nicht zu sehen, dass ganze Gesellschaften von Korruption, mafiosen Verhältnissen, politischen Auseinandersetzungen, ethnischen Konflikten, fundamentalistischen Bewegungen oder auch nur casino-kapitalistischen Börsenmanövern
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in ihrer Ordnung und in ihrem Zusammenhalt gefährdet sein können. Es darf also der berechtigte Einwand, Normen dürften nicht über Gebühr in Anspruch genommen werden für die Erklärung gesellschaftlicher Integration, seinerseits nicht überstrapaziert werden. Gewiss gibt es bei weitem mehr kulturelle Vielfalt, als so manche Hobbes-Parsonianische Überzeichnung ahnen lässt, und gewiss wäre eine perfekt integrierte Gesellschaft auch eher ein Alp denn ein Traum. Zu behaupten aber, dass Normen für das gesellschaftliche Zusammenleben eine vernachlässigbare Rolle spielten, so weit wird wohl kaum jemand gehen. Wir können uns des Problems so nicht entledigen. Das festzuhalten, impliziert keinerlei generelle Präferenz zugunsten von Ordnung oder gar einer bestimmten Ordnung. Zweitens setzt die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften in Teilsysteme die Frage ihrer Integration in neuer Form auf die Agenda, weil diese Teilsysteme, Recht, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft et cetera, mit selektiven Blindheiten füreinander und für die Reproduktion der Gesellschaft als ganzer geschlagen sind (vgl. für viele: Habermas 1994, 415 ff; Teubner 1998; Berger 1999, 302 f). Drittens bleiben die Irritationen, die ich mit der Insistenz auf dem notwendigen Einschluss ausgeschlossener Regelverletzungen auslösen möchte, wirksam auch und erst recht mit Blick auf solche Netzwerke, auf ausdifferenzierte Teilsysteme und auf Organisationen, die ja seit jeher als eine Paradebühne für Rollenspiele gelten. Die Integration von Organisationen ohne Rekurs auf Regeln, also auch: auf Normen denken zu wollen, verfehlte von vornherein ihren Sinn. Viertens aber etabliert die Entwicklung der Rollentheorie und die zeitgenössische Reserve gegenüber Parsons‘ Idee ganz überwiegend normativer Integration genau die Frage, auf die ich hinarbeite: Wie halten Gesellschaften, wie halten Organisationen einigermaßen zusammen, gerade wenn sie losere Netzwerke sind oder werden; wenn sie von Differenzierung geprägt sind; wenn es oft gar nicht um normativen Konsens, sondern „nur“ um die wechselseitige Unterstellung von Konsens geht, wie Luhmann schon 1970 (28 ff) zu bedenken gegeben hat; und wenn Normen allein für die Erklärung dieses Zusammenhalts keine tragfähige Basis liefern127? Und fünftens schließlich bedarf es vielleicht nur einer geringfügigen Verschiebung der Problemstellung, der nämlich vom Problem der Integration zu dem der Konsonanz (Suhr 1975, 361), um von allzu hierarchischen Denkfiguren weg- und bei Figuren rekursiver Konstitution anzukommen: Konsonanz zwischen Normen und der sozialen Praxis der Vielen. Parsons‘ „Antwort“ auf Hobbes – „gemeinsame Wertüberzeugungen“ – löst dessen Problem gar nicht, das ja lautete: Wie können die Menschen miteinander auskommen, wenn es zu einem Konsens wegen unvereinbarer Wertüberzeugungen gerade nicht kommen kann? „Gemeinsame Wertüberzeugungen“ als „Antwort“ – so etwas nennt man „begging the question“ (Hahn 1989, 355). Verständigung unter Verzicht auf Konsens in Wertfragen, wie Alois Hahn (ebd.) stattdessen vorschlägt, rehabilitiert ein wenig die Hobbessche Lösung. Hobbes meinte ja eine Verständigung, die ein Gewaltmonopol einsetzt und sodann eben dadurch abgesichert wird. Dann aber tritt vollends deutlich vor Augen, wie prekär diese 127 Vgl. zu alledem Peters (1993). Peters‘ Arbeit zeigt allerdings für die beiden mir wichtigsten Aspekte, die Zonen tolerierter Differenz und eine komplexitätstheoretische Bearbeitung der Integrationsfrage, kaum Interesse. Das Zwielicht zwischen legitimem und illegitimem Handeln nimmt er nicht wahr, und illegitimes Handeln bringt er sogleich mit sozialer Desintegration zusammen (Peters 1993, 137 ff). Seine Behandlung der Selbstorganisation (zum Beispiel 1993, 30 ff, 295 ff, 305 ff) scheint mir deren Relevanz zu unterschätzen.
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Lösung jederzeit ist. Verständigung heißt ja in dieser Sicht niemals Konsens und kann es auch nicht heißen, sondern immer nur vorläufige Verstehensunterstellung, immer mit der Möglichkeit der Korrektur dieser Unterstellung, also der Erwartungsenttäuschung. Spätestens bei der Anwendung erzielter Einigkeiten scheiden sich im Zweifel wieder die Geister. Hahns „Verständigung als Strategie“ impliziert Modifikationen, Missverständnisse, Aufdeckung von Missverständnissen, beiderseitige Änderungen von Auffassungen et cetera – mit anderen Worten: die Kraft der Différance. Hahns Argumentation operiert mit der prinzipiellen Unmöglichkeit, durch Kommunikation zum Konsens zu kommen, ja, mit der Gefährlichkeit dieser Idee. Unter anderem rekurriert er dazu, wie ich, auf Probleme der Anwendung, die, wie man nun sieht, die Idee des Konsensus im emphatischen Sinne ruinieren. Denn „ (...) selbst wenn es prinzipiell möglich wäre, in Wertfragen zu verallgemeinerungsfähigen Übereinstimmungen zu gelangen – dann bliebe ja immer noch die Justierung solcher Überzeugungen in bezug auf gegebene Situationen. Denn was hülfe es schießlich dem Menschen, wenn er den Konsens in abstracto gewönne und im Prinzip, wenn im konkreten Fall unlösbarer Streit in Hinsicht auf die Anwendung bestünde? Daß hier ein Problem besteht, (...) liegt unter anderem an der Differenz von situativer Einzigartigkeit und begrifflicher Generalität. Die Fälle sind eben nicht als solche schon ‚im Prinzip‘ in der Theorie vorgesehen, so daß die Subsumption ein bloßer Sortiervorgang wäre, den auch ein mittelmäßiger Computer mechanisch leisten könnte. Subsumption als realer Vorgang der situativen Passung von Regel und Fall ist kreativ.“ (Hahn 1989, 353; Hervor. G. O.) Das haben wir oben, im 6. Abschnitt des 6. Kapitels, schon gesehen und dort als supplementäre Konstitution der Regel durch ihre Anwendung bezeichnet. Durchaus sieht Hahn dabei, dass ein gewisser Konsens „auf dem Boden von Verständigungen und dem durch sie bereiteten Frieden“ unter Umständen entstehen kann, wenn die Verständigung, paradox genug, von Konsens als Ideal ablässt. „Man könnte von einem Münchhausen-Effekt solcher Verständigung sprechen.“ (Hahn 1989, 355). Das nenne ich mit der modernen Komplexitätstheorie „bootstrapping“. Am Schopfe der Fiktion von Konsens ziehen wir uns aus dem Sumpf der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. Dass Hahn „aktuelle Balancen (...) mit den ‚eigenvalues‘ der Theorie von Foerster“ vergleicht (1989, 347), nehme ich als weiteres Argument für die These der Selbstorganisation, auf die die ganze Frage und auf die mein Gedankengang zutreibt. Auch dass im „Übergang von traditionalen zu modernen Gesellschaften (...) das Organisationsprinzip der ‚Normintegration‘ gegen das der ‚Autonomisierung‘ ausgetauscht“ wird (Berger 1999, 303), stützt und ergänzt diesen Gedanken. Denn „Modernisierung läßt sich als ein Freisetzungsprozess beschreiben, in dessen Verlauf die über Weltbilder abgesicherte normative Einheit der Gesellschaft in ‚Eigengesetzlichkeiten‘ unterstellte Funktionssysteme auseinanderbricht.“ (Ebd.) Diese Funktionssysteme mitsamt ihrer Eigendynamik erzeugen als Effekt jene Externalitäten und Selektivitäten, die spezifischen Sehvermögen und Blindheiten auch in Wertfragen, und die beständigen Verschiebungen, Aussetzungen und Veränderungen von Normen und Werten, die wir alsbald beklagen, jedenfalls zum Anlass für Kritik nehmen können
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– unter Rekurs auf je andere Normen, die im Rahmen funktional differenzierter Teilsysteme gerade nicht mehr in den Blick geraten. Der Abschied der Normintegration bedeutet nicht den Abschied von Normen. Er bedeutet „nur“ den Abschied von der Idee eines „Baldachins“ (Soeffner 2000) oder festgefügten Fundaments der Gesellschaft und ihrer Organisationen.
10. Verträge, Standards, Private Governance Regimes Die Différance der Globalisierung und die Globalisierung der Différance Private Governance Regimes „Die Frage heißt: Und nach der Dekonstruktion?“ Teubner (1998, 234)
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Soft Law Corporate Governance, Private Governance Regimes, Compliance 128
Soft Law Juristen versichern uns, dass, verkürzt gesprochen, in Zukunft dies geschehen könnte: Ein Manager wird zu Schadensersatz und außerdem zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er sich zu seiner Verteidigung in einer Zivil- und sodann einer Strafsache anlässlich eines betrieblichen Störfalls nicht darauf berufen kann, die Vorgaben der ISO 9000er Normungsreihe umgesetzt zu haben. Diese Normen regeln nicht etwa, wie es oft heißt, ein System des Qualitätsmanagements, sondern nur ein System der Darlegung eines Qualitätsmanagementsystems. Kunden sollen sich anhand dieser Dokumentation respektive eines erteilten Zertifikats ein Bild von der Qualitätssicherung ihrer Lieferanten machen können. Indes: Papier ist geduldig, und viele solcher ISO-9000er-Dokumentationen handeln von Potemkinschen Dörfern der Qualitätssicherung: Katzengold. Wie kann es sein, dass eine so umstrittene Normenfamilie wie diese ein ausschlaggebendes Gewicht in unserem fiktiven Gerichtsprozess erhält? Dafür gibt es, soweit es ums Zivilrecht geht, einen unscheinbaren Ausgangspunkt, den § 831, I des Bürgerlichen Gesetzbuches, der die Haftung für Verrichtungsgehilfen regelt: „Wer einen anderen zu einer Verrichtung bestellt, ist zum Ersatze des Schadens verpflichtet, den der andere in Ausführung der Verrichtung einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Geschäftsherr bei der Auswahl der bestellten Person und, sofern er Vorrichtungen oder Gerätschaften zu beschaffen oder die Ausführung der Verrichtung zu leiten hat, bei der Beschaffung oder der Leitung die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet oder wenn der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde.“
128 So manchen Hinweis zu diesem Abschnitt verdanke ich Elmar Gerum und Gerald Spindler, Präzisierungen und Formulierungen zum Organisationsverschulden meinem Sohn Paul Krell.
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Aus dieser allerdings, wie sich bald zeigte, noch unzulänglichen Wurzel ist von der Rechtsprechung – Rechtsfortbildung, erster Schritt – zur Überbrückung von Haftungslücken die Figur des Organisationsverschuldens entwickelt und auf die Unternehmenshaftung angewandt worden, besonders auf die Produkthaftung der Unternehmung. Die Krux der Norm ist die im 2. Satz angelegte Exkulpationsmöglichkeit. Unter Rekurs auf diesen Satz hat der BGH entschieden, dass es Großbetrieben nicht möglich sein kann, alle Mitarbeiter mit der entsprechenden Sorgfalt auszuwählen. Es sei vielmehr ausreichend, einen höheren Angestellten für Personalfragen sorgfältig auszuwählen129. Dies mag dogmatisch überzeugend sein; es liegt freilich auf der Hand, dass es so in der Praxis zu einer unangemessenen Bevorteilung von Großbetrieben kommt130. Dieser Problematik begegnet der BGH nunmehr dadurch, dass er den § 831 BGB131 in Bezug auf Großbetriebe durch eine großzügige Annahme eines erfolgreichen dezentralisierten Entlastungsbeweises nahezu vollständig aushöhlt, um die so entstehende Lücke sodann postwendend zu schließen, indem er im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB, der zentralen Anspruchsgrundlage des zivilen Deliktrechts, die Figur des so genannten Organisationsverschuldens kreiert. Danach haftet auch bei richtiger Auswahl von Arbeitnehmern das Unternehmen, wenn der Betrieb insgesamt oder einzelne Glieder des Fertigungsablaufs nicht fehlerfrei organisiert sind bzw. überwacht werden132. Der Bundesgerichtshof hat dies, ein weiterer Schritt, dahingehend konkretisiert, dass der Fertigungsablauf so ausgestaltet und überwacht werden müsse, dass Ursachen für Produktfehler weitgehend ausgeschlossen werden können (BGHZ 105, 346 (352) – Fischfutter –). Daran anschließend spezifizierten die Juristen und der Bundesgerichtshof diese Pflicht noch einmal. Nun wird die Einrichtung einer ordnungsgemäßen Fertigungsendkontrolle beziehungsweise einer Qualitätskontrolle verlangt (zu alledem: Kieser u. a. 2002). In der Praxis kommen Fälle, in denen sich ein Unternehmen der Haftung wegen Organisationsfehlern entziehen kann, daher kaum mehr vor133. 129 Der BGH spricht dabei in schauderhafter Wortwahl von einem dezentralisierten Entlastungsbeweis (so bereits BGHZ 4, 1 (2)), in Übereinstimmung mit der Rechtssprechung des Reichsgerichts (RGZ 78, 107 (108)). Gemeint ist die Möglichkeit der Entlastung durch Verweis auf die dezentralisierte Auswahl der „Verrichtungsgehilfen“. 130 Spindler in Bamberger, Roth (2003, § 831 BGB, Rn. 33). Deshalb ist der dezentralisierte Entlastungsbeweis in der Literatur auch vielfach auf Kritik gestoßen, vg. nur Schiemann in Erman (2000, § 831 BGB, Rn. 21); Helm (1966); von Caemmerer (1960, 119). 131 Der ohnehin nicht so recht auf Großbetriebe passt. Mag auch BGHZ 4, 1 (4) darauf hinweisen, bei der Schaffung des BGB seien schon Großbetriebe vorhanden gewesen, in denen es unmöglich war, jede einzelne Hilfsperson zu überwachen, so waren diese damals gleichwohl die Ausnahme und nicht, wie heute, die Regel. 132 Vgl. nur BGH Neue Juristische Wochenschrift 1968, 247 (248); BGH Neue Juristische Wochenschrift 1973, 1602 (1603); BGHZ 105, 349 (352). In diesem Zusammenhang hat sich auch der BGH kritisch gegenüber dem dezentralisierten Entlastungsbeweis geäußert, die Frage indes unter Verweis darauf offengelassen, dass der Großbetrieb „jedenfalls“ wegen der Verletzung seiner Organisationspflichtigen hafte (Neue Juristische Wochenschrift 1968, 247 (248)). Vgl. ferner Kieser u.a. (2002, 395). Insoweit ist wiederum der Stand von Wissenschaft und Technik zu berücksichtigen (Sprau in Palandt 2005, § 823 BGB, Rn. 169); ausführlich hierzu Jürgens (1995). Aus dogmatischer Sicht wird dabei die Haftung für deliktisches Handeln Dritter ausgehebelt durch Anknüpfung an ein Eigenverschulden bei der Unternehmensorganisation als Verkehrssicherungspflicht (Hassold 1982, 585; Krötz, Wagner 2005, Rn. 305). 133 Der dezentralisierte Entlastungsbeweis sei insoweit „überholt“ (so Schiemann in Erman 2000, § 831 BGB, Rn. 21), von ihm bleibe „kaum etwas übrig“ (Wagner in: Münchener Kommentar 2004, § 831 BGB, Rn. 39), im werde „die Spitze genommen“ (Kötz, Wagner 2005, Rn. 305). Zurückhaltender Spindler (2002, 692). De facto nähert sich die Rechtsprechung damit insbesondere im anglo-amerikanischen Recht leitenden Parömien wie „respondeat superior“ oder „qui facit per alium facit per se“ an.
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Halten wir kurz inne und machen uns klar: Anno 1896, als das BGB in Kraft trat, hat wahrscheinlich niemand an so etwas wie Organisationsverschulden gedacht, von Fertigungsendkontrolle oder Qualitätskontrolle zu schweigen. Die Richter wenden den § 831, I BGB134, dann aber vor allem den § 823, I BGB an und verändern laufend deren Tragweite, so, dass sie weiterhin „in die Zeit passen“. Das geht gar nicht anders. Recht unterliegt einer beständigen Différance. Szenenwechsel: Seit den siebziger Jahren wird unter Ingenieuren, die für Qualitätssicherung zuständig sind, die internationale Vereinheitlichung einschlägiger Normen anvisiert. 1987 entspricht die International Standards Organization (ISO) einem Antrag des Deutschen Instituts für Normung (DIN) und verabschiedet eine internationale Normung der Darlegung von Qualitätsmanagementsystemen: ISO 9001, 9002, 9003. Obwohl diese Normen ursprünglich gar nicht als Basis für eine Zertifizierung gedacht waren, und obwohl es von Anfang an und bis heute starke Zweifel an der Nützlichkeit solcher Normierung gegeben hat und gibt, rollt alsbald eine Zertifizierungswelle. 1996 wird bereits von weltweit über 95.000 zertifizierten Organisationen berichtet, die ein System gemäß der ISO 9000er Normenreihe eingeführt haben. (Walgenbach 2000, dem ich all diese Informationen entnehme, schätzt die Zahl für Deutschland im Jahre 1996 auf 14.500 bis 18.000; s. S. 3). Zurück zum Richterrecht in Sachen Produkthaftung: Schon gibt es „Forderungen zur Schaffung eines umfassenden Qualitätsmanagementsystems nach den Vorgaben der ISO 9000er Normungsreihe“ (Kieser u. a. 2002, 396) von namhaften Juristen. Es gilt nicht als abwegig, dass die Rechtsprechung bei Fehlen eines solchen Systems die Beweislast bei Störfällen oder bei der Gefährdungshaftung umkehren oder gar aus dem Fehlen eines ISOSystems direkt auf Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht schließen wird, und dass dies nicht nur im Zivil-, sondern auch im Strafrecht so kommen wird, mit dem Ergebnis, dass Unternehmen und Manager verantwortlich gemacht werden, weil sie ein solches System nicht eingeführt hatten – eine Abstinenz, für die es aber der Sache nach viele vernünftige Gründe gibt (Walgenbach 2000; Kieser u. a. 2002). Vom Verrichtungsgehilfen aus dem Jahre 1896 sind wir – auf dem Wege der Füllung/ Supplementierung eines altehrwürdigen Gesetzes – zur Verpflichtung auf ein einigermaßen fragwürdiges System der Dokumentation betrieblicher Maßnahmen der Qualitätssicherung gekommen. Dass Derridas Supplément die Ergänzung und/oder Ersetzung meint, und dass er dieses Supplément ein gefährliches nennt, erweist sich als treffend daran, dass hier die Dokumentation der Qualitätssicherung als Ersatz für die Qualitätssicherung selbst genommen wird, mit dem Ergebnis, wie Kieser u. a. (2002, 404) resümieren, „eine(r) trügerische(n) Sicherheit“. Die Ergänzung der Haftungsidee der §§ 831, I respektive 823, I BGB ist unvermerkt in ihre Ersetzung, buchstäblich: in ein Surrogat umgeschlagen135. und andere einschlägige Vorschriften, bes. §§ 30 ff und 278 BGB. Man muss allerdings sehen, dass auch von der Normung der Darlegung erhebliche normierende Wirkungen auch für das darzulegende Managementsystem selbst ausgehen, zumal die Darlegung und ihre Übereinstimmung mit dem praktizierten System einer Organisation zertifiziert wird. Fragwürdig und gefährlich aber sind die ISO-Normen auch deshalb, weil die Anwender bei ihrer Umsetzung „kreativ“ und mit viel Phantasie vorgehen, soll heißen: sie zwar formal erfüllen – er-füllen –, inhaltlich dabei aber „bemerkenswerte Kapriolen“ schlagen. „Die mit den Normen verfolgten Intentionen wurden teilweise ins Absurde verkehrt.“ (Kieser u. a. 2002, 413) Auch diese Verkehrung ist von Derridas Figur des Supplément gemeint. Dem Auge bietet sich nun eine Kette der Supplemente – Füllungen/Erfül134 135
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Weitreichend ist der Prozess solcher Supplementierung auch deshalb, weil die Kette der Supplemente so lang ist und ihr Glieder aus allen möglichen Richtungen hinzugefügt werden können. Im Falle der Qualitätssicherung erwähnen Kieser u. a. (2002, 396 f) neben der ISO 9000er Normenreihe noch: die sogenannte „Neue Konzeption“ zur Produktsicherheit der EG-Kommission; die Öko-Audit-Verordnung; die Seveso-II-Richtlinie, „die – weitgehend von der rechtswissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Diskussion unbemerkt – zwingend (!) ein Sicherheitsmanagementsystem für Betreiber von bestimmten besonders gefährlichen chemischen Anlagen verlangt“ (ebd.); die Normenreihe nach ISO 14000 ff; die Verlautbarungen der Bundesaufsichtsbehörden für das Kreditwesen und für die Versicherungswirtschaft; schließlich die in § 91 II Aktiengesetz neuerdings verlangte Einrichtung eines Überwachungssystems zur frühzeitigen Erkennung von Risiken für das Unternehmen. Supplementierung, das mag dann auch heißen, dass im Gestrüpp dieser Regelungen und ihrer teils unintendierten Konsequenzen die Freiheit, sie zu umgehen und zu unterlaufen, anwächst. Betrachten wir nun die Sache von der anderen Seite: nicht von den Gesetzen, Verordnungen und der Rechtsprechung her, sondern aus dem Blickwinkel jener zunächst nicht mit staatlicher Autorität ausgestatteten Normensysteme, deren Geltung dann doch, wie im Falle der Normenreihe ISO 9000 ff, unter Umständen staatlich erzwungen werden kann – via Rechtsprechung, „herrschende Meinung“ und schließlich Richterrecht. Ich möchte dem Gesichtspunkt Aufmerksamkeit verschaffen, dass auch von dort aus gesehen die Dinge scheinbar harmlos beginnen und sich dann so zuspitzen können, wie das am Anfang weder intendiert noch absehbar war, und dass die supplementierende Kraft der Différance – hier: die Füllung/Erfüllung/Verschiebung/Aussetzung/Veränderung/Verletzung eines Normensystems – alles andere als eine harmlose Grille „postfranzösisch“ infizierten Denkens ist. Ich wähle dazu ein noch etwas anderes Beispiel, nämlich jene Normensysteme, die in der betriebswirtschaftlichen Diskussion um die „corporate governance“ (die normative Grundordnung für das oberste Führungs- und Kontrollsystem einer Unternehmung, besonders für seine Steuerung durch Vorstand und Aufsichtsrat respektive, in den USA, durch Board, CEO und Topmanagement) als „Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmungsführung“ (GoF) oder als „Code of Conduct“ seit einigen Jahren eine beträchtliche Aufmerksamkeit erfahren (vgl. von Werder 1996; 1997). Axel von Werder hat den Berliner Initiativkreis German Code of Corporate Governance (GCCG) initiiert. Solche Codes of Conduct pflegen allgemeine Grundsätze zu enthalten, etwa den der ökonomischen Zweckmäßigkeit und der sozialen und ethischen Zuträglichkeit der Maßnahmen der Unternehmungsleitung. Sie regeln außerdem, welche Aufgaben dem oberen Management zufallen, etwa: Richtungs- und Strukturentscheidungen einschließlich der Entscheidungen über die Planungs- und Kontrollsysteme, ferner besonders wichtige Einzelentscheidungen. Hinzu kommen können Realisations- und Überwachungshandlungen, soweit
lungen, Ergänzungen/Ersetzungen – dar, an deren Ende eine soziale Praxis steht, die ihrerseits konstitutiven Anteil an der inhaltlichen Bestimmung ihres Anfangs hat: der §§ 831, I und 823, I BGB. Das ist generell unvermeidlich, kann aber jederzeit höchst problematisch werden. Juristen zumal müsste die implizierte Nachträglichkeit der inhaltlichen Bestimmung einer Norm Sorgen bereiten, tut es aber kaum, weil sie eben unvermeidlich ist.
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sie um ihrer symbolischen Wirkung willen von der Unternehmungsspitze ausgeführt werden sollten. Solche Grundsätze lösen bei nüchternen Beobachtern ein mildes Lächeln aus. Derlei sei Fassadenbauerei im Dienste der Legitimationssicherung. Erinnert wird an das berühmte Davoser Manifest, bei dem es ebenfalls vor allem um die Errichtung von Rationalitäts- und Moralitätsfassaden gegangen sei (vgl. zum Beispiel Steinmann 1973). Tatsächlich zeigt eine genauere Analyse, dass dieses Manifest eine mehr oder minder rhetorische Antwort auf die Forderungen nach betrieblicher Mitbestimmung zu geben versucht hatte, Forderungen, die seinerzeit breite, weltweite Unterstützung hatten, übrigens selbst in den USA. Die Funktion des Manifests, solchen Forderungen im Zuge eines Manövers vage bleibenden Entgegenkommens via Selbstverpflichtung den Wind aus den Segeln zu nehmen und „härteren“ Gesetzen vorzubeugen, kann man anerkennen, ohne dafür verschwörungstheoretische Erklärungen in Anspruch zu nehmen. Die aktuelle Diskussion um Codes of Corporate Governance löst daher ein Déjà vu aus. Immer wenn Ansprüche im Sinne einer „social responsibility“ an die Verfassung der kapitalistischen Unternehmung gestellt werden, wenn, mit anderen Worten, Stakeholder ihre Belange in der Unternehmungsverfassung berücksichtigt sehen wollen, erleben wir solche Manöver der Selbstverpflichtung, deren Verbindlichkeit ernsthafter Prüfung oft nicht standhält (Gerum 1989). Das verführt gerade kritische Geister leicht dazu, derlei als Talmi, als bloßes Katzengold der Legitimation und im übrigen als Ansammlung von Leerformeln und Trivialitäten abzutun, Nils Brunsson (1989) würde sagen: als Organisation von Scheinheiligkeit. Diese Mischung aus kritischer Analyse und Sorglosigkeit übersieht die Möglichkeiten und Risiken einer Supplementierung solcher zunächst einigermaßen leeren Grundsätze, Kodizes und Formeln via Rechtsprechung, schließlich womöglich via Richterrecht, und auf dem Wege einer dadurch am Ende doch gesteuerten Praxis. Der Fall ist von sehr viel allgemeinerer Bewandtnis, als man auf den ersten Blick sieht. Wenn Richter zu beurteilen haben, ob (1) die Fahrlässigkeit eines Elektrikers einen Brand verursacht hat; (2) Arbeitsbedingungen die Gesundheit von Arbeitern gefährden; (3) die Rechnungslegung eines Unternehmens den Tatbestand des Betruges erfüllt; (4) eine Unternehmensleitung Gefährdungen durch Produkte oder Produktionsprozesse fahrlässig ignoriert hat oder (5) vermeidbare Risiken für das Unternehmen fahrlässig eingegangen ist; (6) Ärzte oder andere Fachleute Kunstfehler begangen haben: immer dann müssen sie sich, um über die Angemessenheit der aufgewendeten Sorgfalt zu befinden, auf einen im Laufe der Zeit sich verändernden, zu jedem bestimmten Zeitpunkt allerdings „gegebenen“ „state of the art“ beziehen, auf einen Stand des Wissens oder der Technik, den zu missachten erst den Tatbestand der Fahrlässigkeit erfüllt. In den Worten und der Terminologie Gunther Teubners: Es handelt sich um den Wiedereintritt sozialer Sachverhalte und Konfliktgesichtspunkte in das Recht, das sich auf seine operative Geschlossenheit allein niemals zu stützen vermag – um einen „re-entry, der auf eigentümliche Weise Außerrechtliches ins Recht integriert (...).“ Man könnte sagen: Das Recht behilft sich mit standardisierten Fiktionen der Welterschließung. „Die Codierung Recht/Unrecht konstituiert in ihrem Gebrauch die Grenze zwischen Recht/Unrecht und ist damit für die operative Schließung verantwortlich. (...) Der reentry eröffnet rechtlichen Argumenten zwei Optionen: Entweder beziehen sie sich auf
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interne Rechtsoperationen, oder sie beziehen sich auf externe soziale Ereignisse. Und hier (...) kann die autonomisierte rechtliche Argumentation selbst auf ‚Außerrechtliches‘ dadurch zurückgreifen, daß sie zwischen Geltung und Faktizität, zwischen internen Rechtsakten und externen Sozialereignissen, zwischen Rechtsbegriffen und sozialen Interessen, zwischen internen Realitätskonstruktionen und denen sozialer Prozesse unterscheidet. Wobei zu betonen ist, daß dies alles immer rechtliche Unterscheidungen sind. (...) Ergebnis des re-entry ist die Schaffung eines imaginären Raumes innerhalb des Rechts, der sich in seiner Selbstbeobachtung für real hält und für real halten muß. Das Recht kann nicht anders als Fiktionen über die Außenwelt zu schaffen, die es aber gleichzeitig als harte Realitäten behandeln muß.“ (Teubner, Zumbansen 2000, 192 f) „Die im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ des § 831, I BGB ändert sich mit der Zeit, und dem muss das Gesetz Rechnung tragen und tut es mittels dieses notwendig unbestimmten Rechtsbegriffs, dessen Bestimmung offengehalten werden muss für die wechselnden Zeitläufte. Um nun die jeweils nötige Bestimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt, für einen bestimmten Fall, vornehmen zu können, bedienen sich Richter (nicht notwendigerweise, aber offenbar immer öfter) solcher Grundsätze, wie sie hier in Rede stehen – die Juristen sprechen auch von „soft law“. In den oben angeführten Fällen beziehen sie sich etwa (1) auf DIN-Normen, betreffend das Verlegen elektrischer Leitungen, (2) auf sogenannte gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse (dazu Gerum 1981), (3) auf die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, (4) auf die ISO-Normenreihe, (5) in Zukunft womöglich auf einen Code of Corporate Governance und auf damit operierende Gutachten, Expertisen, gelehrte Meinungen, (6) schließlich auf einen Stand ärztlicher oder sonstwie professioneller Kunst als, mit Teubner zu sprechen, „Fiktionen über die Außenwelt, die sie aber gleichzeitig als harte Realitäten behandeln“. Die Frage muss dann sein: Wo kommen solche Grundsätze her, und was legitimiert eigentlich ihre Geltung? Bevor ich darauf eingehe, sei, um meine Warnung vor der Unterschätzung der Codes of Conduct zu Ende zu führen, festgehalten: Via Rechtsprechung und Richterrecht können zunächst harmlos erscheinende Codes of Conduct (a) eine konkretisierende, zuspitzende, modifizierende, ergänzende, ersetzende, ja: pervertierende inhaltliche Zuspitzung und (b) eine Härte im Sinne staatlicher Autorisierung erfahren, von der man sich am Anfang nichts hatte träumen lassen. Aus „soft law“ kann sehr schnell, und dann: sehr schwer reversibel, hartes Recht werden, in einem Prozess der Supplementierungen, dessen Komplexität und Länge die Frage nach den Schöpfern, den Autoren solchen Rechts und nach ihren Intentionen geradezu als naiv erscheinen lässt. Strategische Absichten spielen in solchen Prozessen gleichwohl ihre Rolle. Jene Grundsätze fallen nicht vom Himmel. Es handelt sich bei ihnen, ökonomisch gesehen, um Standards, von denen viele profitieren, aber nicht alle gleichermaßen. Sie bescheren den einen Vor-, den anderen Nachteile. Daher pflegen sie umkämpft zu sein136. Der Parteien in solchen Kämpfen sind viele. Unternehmungsberater pflegen zu den interessierten Parteien zu gehö-
Vgl. für dieses Argument Ortmann (1995a, 158 f, 253 ff), mit Blick auf technische Standards der Produktion; zu Standards und Standardisierung auch unten, den Abschnitt 3.
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ren. Berufsgenossenschaften, deren Entscheidungsgremien paritätisch aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Vertretungen zusammengesetzt sind, entwickeln Lärmgrenzwerte und Unfallverhütungsvorschriften. Was „mittelbare Diskriminierung“ heißt – zum Beispiel mittelbare Entgeltdiskriminierung von Frauen durch ungleiche Entlohnung für gleichwertige, wenn auch unterschiedliche Arbeit –, ist maßgeblich durch den Europäischen Gerichtshof mitdefiniert worden. Die Bemühungen um einen deutschen Code of Corporate Governance sind im Zusammenhang mit einem neuen Anlauf zur Reform des Aktiengesetzes zu sehen. Die Bundesregierung ist ein wichtiger Spieler in diesem Spiel, mit einem dezidierten Interesse, nämlich die Attraktivität des Standorts Deutschland für die internationalen Kapitalmärkte zu erhöhen. Sie war daher eine treibende Kraft hinter den Bemühungen um den „Deutschen Corporate Governance Kodex“ von 2002. Sie folgte der Linie: Der Staat beschränkt sich auf das Setzen von Rahmenbedingungen, innerhalb derer Selbstverpflichtungen greifen können und sollen137. Eine solche staatliche Beschränkung in Sachen Regulation kann durchaus sinnvoll sein und überantwortet die Strukturierung der Handlungsfelder der Unternehmen einem Mix aus Gesetzgebung, Verhandlung und Selbstregulation. Das ist geeignet, den großen internationalen Anlegern Sorgen vor einem überregulierten Deutschland zu nehmen. Man soll nur nicht übersehen, dass es selbstgegebene Grundsätze wie den Code of Conduct in seinem Stellenwert deutlich aufwerten und die Tendenz von Gerichten massiv fördern wird, sich darauf als ein „soft law“ zu beziehen – und es auf diesem Wege dann doch zu recht hartem Recht zu machen. Obwohl dieser Weg grundsätzlich als sinnvoll anerkannt werden kann, hängt nun natürlich alles (a) vom Inhalt eines zu verabschiedenden Kodex und (b) von der Art und Weise des supplementierenden Rekurses der Rechtsprechung auf einen solchen Kodex ab. In beiden Hinsichten gibt es sowohl in Sachen ISO 9000/14000 als auch in Sachen Codes of Corporate Governance erhebliche fachwissenschaftliche Bedenken (dazu Furusten 2000; Kieser u. a. 2002). Befürchtet wird eine Ausuferung der Standardisierung ordentlicher Unternehmungsführung, und dies in Richtung auf eher überholte Managementkonzepte. Dies alles wirft ferner die Frage nach der Legitimation jener Grundsätze und derjenigen Zirkel, Arbeitskreise, Konversationskreise (Hutter 1989), Gremien und Organisationen auf, die sie formulieren, verabschieden und ihnen erste Geltung verschaffen. Unternehmungen sind nicht eben hilflos, wenn es gilt, dabei mitzumischen (Ortmann, Zimmer 1998). James Coleman (z. B. 1974) weist seit langen Jahren auf das zunehmende Gewicht und die wachsende Macht großer Organisationen, und zumal Unternehmungen, in der modernen Gesellschaft hin – um so mehr will die Legitimationsfrage bedacht sein. Ganz kann der Staat 137 Das neue Transparenz- und Publizitätsgesetz vom 19.7.2002 hat zum Beispiel eine Änderung des § 111 (4) des Aktiengesetzes entlang dieser Linie vorgenommen. Dort hieß es bisher: „Maßnahmen der Geschäftsführung können dem Aufsichtsrat nicht übertragen werden. Die Satzung oder der Aufsichtsrat kann jedoch bestimmen, daß bestimmte Arten von Geschäften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen. (...)“ (Hervorh. G. O.) Vorgeschrieben ist jetzt, den Aufsichtsrat dazu zu verpflichten, einen Katalog zustimmungspflichtiger Geschäfte zu erstellen, den er aber selbst formulieren kann: „(...) der Aufsichtsrat hat zu bestimmen, dass bestimmte Arten von Geschäften nur mit seiner Zustimmung vorgenommen werden dürfen.“ (Hervorh. G. O.). Ein weiteres Argument für regulatorische Selbstbescheidung lautet: Ohnehin würden, wie im Rahmen ökonomischer Theorien der Regulation – rent-seeking theory; capture theory – hinlänglich dargetan worden sei, Unternehmen und Unternehmensverbände einen unabweisbar starken Einfluss auf Regulation und Regulationsbehörden gewinnen können; kritisch dazu Ortmann, Zimmer (1998).
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solche Materien daher wohl kaum der Selbstorganisation überlassen. Richter, die einschlägige Gesetze anwenden, müssen sich dabei auf einen irgendwie objektivierbaren Fachverstand beziehen und pflegen das zu tun, in dem sie sich, wie gezeigt, auf „die Mehrheit der Fachwelt“, auf anerkannte Grundsätze führender Fachvertreter und Experten, auf akzeptierte Verhandlungsergebnisse in zuständigen Verhandlungsrunden und auf Grundsätze beziehen, wie sie von Vereinigungen und Verbänden wie REFA, der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft, dem Deutschen Institut für Normung (DIN), dem International Standards Organization (ISO), Technischen Überwachungsvereinen, Berufsgenossenschaften, seit längerem auch von Kommissionen und Gerichten der Europäischen Union, der OECD und anderer internationaler Einrichtungen formuliert werden. Bald wird wohl auch der Deutsche Corporate Governance Kodex auf diesem Wege mit judikativen Weihen versehen sein, zumal der neugefasste § 161 des Aktiengesetzes börsenorientierte Unternehmen verpflichtet, Abweichungen von diesem Kodex ihren Aktionären gegenüber jährlich zu begründen. Gesprochenes Recht entsteht aus einem einigermaßen unübersichtlichen Gewirr aus Supplementierungen von Gesetzen durch Rechtsreformen, Zusätze, Verordnungen, Grundsätze, herrschende Meinungen, Prozessordnungen, Expertisen, Rechtsprechung, Richterrecht – von direktem politischen Druck zu schweigen, den es natürlich auch gibt.138 Dass Supplementierung dabei jederzeit einen Bias in Richtung auf jene herrschende Meinung erzeugen kann, die einer etwas zu platten, aber nicht ganz verfehlten Redeweise zu Folge die Meinung der Herrschenden ist, nehme ich hier nur als Beispiel für die Bewandtnis der Figuren des Supplément und der Différance. Eine legitimatorisch vertretbare und prozedural übersichtliche Lösung solcher Probleme könnte darin bestehen, dass der Gesetzgeber zuständige Kommissionen dafür einsetzt und in ihrer Zusammensetzung bestimmt139. Das würde dem Gesetzgeber und der Judikative fachliche Zurückhaltung ermöglichen und zugleich verhindern, dass sich die Betroffenen – oft: die betroffenen Unternehmungen und ihre Verbände – ihre Regeln nach gusto selbst geben. „Soft law“ kann zu hartem Recht werden: Das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte besteht in der Einsicht, dass – ohne dass der Sinn dieses Begriffs dadurch destruiert würde – alles Gesetzesrecht soft law insofern ist, als es der Härtung durch Rechtsprechung und Rechtsbefolgung bedarf: der Härtung durch Gebrauch, und dass es dabei, wie das Hufeisen unter der Hand des Schmiedes, umgebogen werden kann. Corporate Governance-Grundsätze können in Richtung auf Unternehmungs- oder Stakeholder- oder reine Anteilseigner-Interessen zugespitzt/umgebogen werden140. Sie können mittels sogenannter Scorecards evaluiert werden. Die Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management (DVFA) etwa hat eine solche Zählkarte entwickelt, mittels derer Punkte für rund 50 Items „guter Governance“ vergeben werden und derer sich – nächstes Glied in der Kette der Supplementierungen – Kapitalmarktbeobachter, Analysten, Unternehmungsberater und spezialisierte Service-Agenturen für ihre Ratings bedienen. Das All das ist Gegenstand der Critical Legal Studies, deren Vertreter daher den Denkfiguren Derridas seit langem Aufmerksamkeit widmen. 139 Zu dieser sogenannten Kommissionlösung s. Gerum (1981, 144 ff). 140 S. hierzu und zum Folgenden etwa Küsters (2001). 138
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wiederum löst, weiteres Glied, seitens der betroffenen Unternehmen die Intensivierung ihrer, so heißt es nun, Investor Relations-Arbeit und die Orientierung am Ziel einer möglichst guten Scorecard-Punktzahl aus: inhaltliche Füllung und Ergänzung oder vielmehr Ersetzung der Unternehmungsziele? Das jüngste Glied in dieser Kette ist der Compliance Officer im Unternehmen. Man stelle sich vor: Dies alles werde via Rechtsprechung zum staatlich autorisierten Anforderungsbestand! Man bedenke die Analysen Meyers und Rowans (1997) und Brunssons (1989; s. Kapitel 4) und den absehbaren Aufwand an scheinhafter Erfüllung solcher Anforderungen. „Compliance“ heißt „Erfüllung“. Der Compliance Officer ist Offizier für Regeltreue im Unternehmen. Er ist Offizier im Dienste der DifféranceAbwehr. Gott gebe ihm Kantische Urteilskraft. Und Macht. Und die Begrenzung dieser Macht. Stellen wir all dies abschließend in einen noch allgemeineren Rahmen, den, wiederum, Gunther Teubner (1998) geliefert hat – in den Rahmen des Rechts in der Fragmentierung von Private Governance Regimes. Teubners Thema und für ihn die „größte Herausforderung für das Privatrecht heute (...) ist die extreme Fragmentierung verschiedener privater Regulierungssysteme, die in der globalen Arena existieren. Lex mercatoria, lex laboris, ja lex sportiva internationalis und andere Typen von gesellschaftlichen Normensystemen sind globales Recht ohne Staat. Sie sind das Produkt einer Anzahl von hochspezialisierten private governance regimes, von autonomen gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnungen, die in relativer Distanz zum nationalstaatlichen Recht und zum Völkerrecht existieren. Dieses Recht entsteht vor dem Hintergrund eines massiven Rückzugs staatlich-politischer Regulierung auf nationaler und globaler Ebene. Dabei handelt es sich nicht nur um das Resultat der Privatisierungsstrategien neoliberaler Parteien und Regierungen, die von sozialdemokratischen Regierungen leicht wieder rückgängig gemacht werden könnten, sondern um säkulare Verschiebungen zwischen dem politischen und dem wirtschaftlichen System“ (Teubner 1998, 241). Jene Arbeitskreise, Gremien und Organisationen, die an der außerrechtlichen Normierung der sozialen Wirklichkeit mitwirken; Luhmanns „Kontaktsysteme“, die er noch in „Legitimation durch Verfahren“ recht kritisch beurteilt und gewaltig unterschätzt hat (Luhmann 1997a, 75 ff); Hutters Konversationskreise; personale, Unternehmungs- und PolitikNetzwerke; Interessen-, Berufs- und Fachverbände einschließlich Wissenschafts- und Hochschullehrerverbände, das eine Mal so, das nächste Mal anders gebündelt, sind es, die zu solchen private governance regimes avancieren können, zu privaten Regulierungssystemen, die „den Take-over öffentlicher Aufgaben im großen Maßstab organisieren“ (Teubner 1998, 242). Es sind, in einer an Derrida orientierten Terminologie, die Teubner durchaus nahe ist141, Regimes der Supplementierung – Auf-/Erfüllung/Ergänzung/Ersetzung – des Rechts, Agenturen seiner beständigen Différance. Dass diese Supplementierung, diese Différance 141 „Die Theorie des Privatrechts sollte mit einer Frage dort beginnen, wo andere Theorien mit einem Ergebnis enden. Die Frage heißt: Und nach der Dekonstruktion?“ So eröffnet Teubner (1998, 234) seinen Beitrag und nennt eine Seite weiter Jacques Derrida den „womöglich größten Experten der Rekonstruktion des Privatrechts“.
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bei aller Unübersichtlichkeit der Verhältnisse nicht ungerichtet von Statten geht oder gehen muss, davon zeugen Teubners dringende Warnungen in diesem Zusammenhang. „Ein zeitgenössisches Privatrecht muß eine seiner Hauptaufgaben im Schutz der vielen Autonomien sehen, nicht nur gegen den repressiven Staat, sondern gerade auch gegen die expansiven Tendenzen der Technologie, der Wissenschaft, der Publikationsmedien und des Marktes. Die Sphären individueller Freiheit und Würde, die Selbstverwirklichung des Individuums, die Diskurse der Forschung, Kunst, Erziehung, Medienkommunikation, die Sphäre der Politik selber müssen gegen die Monopolisierung der Übersetzung (i.e.: der Auf-/Erfüllung, Ergänzung/Ersetzung, Verschiebung/Veränderung, G. O.) durch die expansiven wirtschaftlichen und technischen Diskurse geschützt werden.“ (Teubner 1998, 259 f) So ergänzt Teubner sein oben referiertes Plädoyer für die Einsicht in die Selbstorganisation des Rechts: „Gesucht sind extern auferlegte rechtlich-politische Restriktionen gegen die selbstzerstörerischen Tendenzen expansiver Sozialsysteme“. (Teubner 1998, 262) Gefragt sei institutionelle Phantasie (ebd., 261), und zwar um so mehr, als die „subtile Verführung durch wirtschaftliche Anreize (...) nicht durch das Recht konterkariert werden“ kann (ebd.). „Extern auferlegte Restriktionen“ – da wird sich Teubner die grimmige Genugtuung eines Jürgen Habermas einhandeln, der seit jeher davor gewarnt hat, dass „die gesellschaftlichen Funktionssysteme verfassungsrechtlich aus ihrer instrumentellen Rolle entlassen werden und zum ‚Selbstzweck‘ avancieren.“ (Habermas 1994, 425) Habermas hat dabei Teubners und Willkes Idee vor Augen, die Grundrechte nicht länger für die Sphäre des Individuums zu reservieren, sondern in Richtung auf die Autonomie der Funktionssysteme auszudehnen (s. auch Willke 1992). Demgegenüber lautet sein Einwand: „Die rechtsstaatliche Verfaßtheit des politischen Systems wird nur gewahrt, wenn Behörden gegenüber korporierten Verhandlungspartnern die asymmetrische Stellung behaupten, die aus ihrer Verpflichtung resultiert, den im Gesetzesauftrag sedimentierten Willen der aktuell unbeteiligten Bürger zu vertreten. Auch in Abstimmungsprozessen darf das Band der Delegation von Entscheidungskompetenz nicht reißen.“ (Habermas 1994, 425) In spitzen Bemerkungen nennt Habermas Willkes Vorschlag den Versuch, „dem – um seine monarchische Spitze verkürzten – Hegelschen Ständestaat eine systemtheoretische Bedeutung zu geben“ (Habermas 1994, 416) – mit den Funktionssystemen oder den private governance regimes als den Ständen der Moderne. Das hat seine Berechtigung, wie man gerade an den von Teubner beschworenen Gefahren sehen kann. Habermas allerdings hält sich seinerseits an das „Band der Delegation von Entscheidungskompetenzen“, das nicht reißen dürfe, wie an Kaisers Bart. Wir haben es mit einer Scheinalternative insofern zu tun, als wir mit wechselseitigen Konstitutions- und Delegationsverhältnissen rechnen können und zunehmend rechnen müssen: weil die Rolle des Staates zunehmend in Frage steht und, was ihm
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überlassen bleiben muss, ihm zunehmend – ein später Hauch von Hobbes – im Wege der Delegation überlassen wird, ganz wie er es seinerseits immer öfter delegiert – etwa an private governance regimes. Die handeln sich dafür, so ist abzusehen, eine „neue Politisierung“ ein, in Teubners Worten als poisened pill, als Pharmakon, wie Derrida (1995, 106 ff) es versteht, als Heilmittel, dessen Wirkung auch ins Gegenteil umschlagen kann. Die rekursiven Verschachtelungsverhältnisse jedenfalls und die Supplément-Beziehungen werden aufgemischt, und am Ende mag sich geändert haben, was (uns) Staat noch zu bedeuten hat142. „Compliance“ avanciert im Zuge einer solchen Entwicklung zu einem Schlüsselkonzept (Hutter 1997) erstens wegen der Zunahme an rechtlichen und außerrechtlichen Regelwerken, zweitens, weil die Komplexität und Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften und die Aporien ihrer Steuerung die Not und die Notwendigkeit der Regeltreue zugleich steigern. Reiss postuliert als Konsequenz das Wachstum komplexer Organisationen und organisierter Vertrauenssysteme. „In modern societies the prototypical law breaking is a violation of organizational trust“ (Reiss 1984, 33). Wo Reiss von Vertrauenssystem spricht, ziehe ich es vor, von Systemen der Verlässlichkeit oder Relianzsystemen zu sprechen, mit Vertrauen als einem allerdings sehr wichtigen Sonderfall des Sich-Verlassens-Auf (s. u., Kapitel 14). Mehr und mehr hängen moderne Gesellschaften davon ab, dass Gesetze befolgt, Regeln und Standards eingehalten, Normen, Verträge, Aufgaben und andere gesellschaftliche Erwartungen erfüllt werden. Sie werden zu „compliance-based systems“. „Compliance“ leitet sich her von complire. Wieder haben wir es nicht einfach mit Befolgen, sondern mit der Figur des Füllens und Erfüllens zu tun. Dass die Verlässlichkeit, zu der Regeln verhelfen sollen, immer prekär bleibt, rührt daher, dass diese (Er-) Füllung jederzeit in Verschiebung, Veränderung und Ersetzung umschlagen kann und es oft genug muss. Soziologisch gesprochen: Compliance ist ein niemals endender sozialer und politischer Prozess der Überzeugung, der Verhandlung, der Auseinandersetzung um die Bedeutung, Berechtigung und Geltung von Regeln, mit Resultaten, in den Worten DiMentos (1986, 34), „evolving from interaction among several groups, (...) occurring over time and as an outcome that is difficult to control by any single policy lever“.
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Contracting worlds Auch Verträge pflegen Regeln zu formulieren, deren Geltung allerdings auf die Vertragsparteien beschränkt ist: Rechte, Pflichten, vielleicht auch Regeln für die Prüfung ordentlicher Erfüllung, Schlichtungsregeln. Dass auch Verträge ausgelegt und erfüllt sein wollen; dass es dabei Differenzen zwischen den Vertragsparteien geben wird; dass diese Differenzen in einem Tauziehen beigelegt oder unter den Tisch gekehrt zu werden pflegen; und dass erst in diesen Auseinandersetzungen um die Vertragserfüllung vollends bestimmt wird, 142 Extern bleibt das Agieren des Staates auch innerhalb solcher rekursiver Schleifen, aber nur im Verhältnis zu anderen Akteuren, Organisationen und gesellschaftlichen Teilsystemen. Intern bleibt es als Moment jenes rekursiven Konstitutionsprozesses. Das allerdings heißt: Es stehen Legitimationsfragen auf der Tagesordnung. Darin handelt es sich nicht um eine Scheindebatte, und darin behält Habermas Recht. Wie diese Fragen beantwortet werden können und müssen, steht auf einem anderen Blatt Papier.
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„was im Vertrags steht“, das habe ich (in Ortmann 2003) am Beispiel von Arbeitsverträgen näher erläutert, die, als „incomplete contracts“, eine so prominente Rolle in der modernen Institutionenökonomik spielen (Hart 1995). Dass jeder einzelne Kontrakt der Bewegung der Différance unterworfen ist, ist dort das Thema. Hier geht es mir um eine andere differantielle Bewegung, die nämlich (nicht des einzelnen Vertrages, sondern) der Verträge als Institution des Privatrechts generell und der Rolle dieses Privatrechts in modernen ausdifferenzierten Gesellschaften. (Ähnlich frage ich auch sonst in diesem Kapitel nicht nur nach der Différance einzelner Gesetze, Normen und Standards, sondern auch nach jenen Verschiebungen, Entfremdungen und Veränderungen, die generell durch zunehmende Verrechtlichung, Normierung und Standardisierung ausgelöst werden.) Ich muss mich mit ganz groben Zügen begnügen. Max Weber konnte in „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1972, 401) resümmieren: Es „stellt der Aufstieg der Bedeutung des privatrechtlichen Kontrakts im allgemeinen die juristische Seite der Marktgemeinschaft [dar]“, er ist also „Produkt der intensiven Steigerung der Marktvergesellschaftung und der Geldverwendung“. Der Kontrakt stiftet Erwartungen und Erwartungssicherheit indes vor allem „als Quelle zwangsrechtlich garantierter Ansprüche“ (ebd., 399). Im Hintergrund sorgt der Staat, eine „staatliche Zwangsanstalt“ (ebd., 397), für Vertragsfreiheit und für hinreichende Erwartungssicherheit aus Verträgen. An diese einigermaßen dichotome Ausgangslage ließen sich sodann die bekannten Debatten um individualistische versus kollektivistische Prinzipien respektive neo-liberale versus interventionistische Rechtspolitik mit all ihren Facetten – aktuell: Deregulierung, Privatisierung, Selbstbeschränkung des Staates und gar der Parteien – anschließen. Dass diese Debatten heutzutage ganz überwiegend unter ökonomischen Gesichtspunkten geführt werden, darin drückt sich einerseits das historische Geschehen der „intensiven Steigerung der Marktvergesellschaftung und der Geldverwendung“ aus, soll heißen: Die Reduktion des Kontraktes auf die rechtliche Formulierung einer ökonomischen Transaktion143 ist ihrerseits schon Resultat einer differantiellen Bewegung. Teubner (1998) erlaubt uns einen Blick auf ein ganz anderes, fast untergegangenes Verständnis des Rechtsvertrages, des buon governo, „wonach der Vertrag in den Kontext von Weisheit, Gerechtigkeit, Konsens, Macht und politischen Tugenden eingebettet ist. Dies ist weder die frühe Version eines rein politisch verstandenen Gesellschaftsvertrages noch die einer rein ökonomisch verstandenen Transaktion. Politische und ökonomische Elemente der Vertragsinstitution liegen buchstäblich ungeschieden beieinander.“ (Teubner 1998, 237)
143 In der neuen Institutionenökonomie etwa wird die Unternehmung als ein Nexus von Verträgen aufgefasst – als „ein strahlenförmiges Vertragsnetz zur Beschränkung (...) nutzenmaximierenden Verhaltens“ eigensüchtiger, notfalls arglistiger, zu Drückebergerei und Trittbrettfahrerei neigender Akteure (Wieland 1997, 37 und ff). Das reicht von der dafür klassischen Arbeit von Jensen und Meckling (1976) über die Principal-Agent- und die Transaktionskostentheorie bis Oliver Hart mit seiner Theorie notwendig unvollständiger Kontrakte: „The basic idea is that firms arise in situations where people cannot write good contracts and where the allocation of power or control is therefore important” (Hart 1995, 1) Die unvermeidliche Unvollkommenheit von Verträgen avanciert bei Hart zu dem Entstehungs- und Existenzgrund von Unternehmungen.
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Andererseits bahnt sich in jener ökonomistischen Konzentration und sodann Reduktion auch schon die Unterminierung und schließlich Dekonstruktion all jener Oppositionen an, auf denen sie aufruht: privat versus öffentlich, individualistisch versus kollektivistisch, liberal versus interventionistisch, ökonomisch versus politisch. Die ökonomische Perspektive gerät unter den Dauerverdacht, privaten wirtschaftlichen Interessen politisch Vorschub zu leisten. Umgekehrt sind es mehr und mehr private, auf Kontrakten gegründete Governanceregimes, die unsere öffentlichen Angelegenheiten regulieren. Teubner fügt noch die Globalisierung als geradezu schockartige Erschütterung jener wohlgefügten Ordnung der Gegensätze hinzu: Es erschüttern „die brutalen Schockwellen der Globalisierung und Privatisierung die Fundamente des modernen policy-orientierten Privatrechts. Nicht nur das interventionistische, sondern auch das neoliberale Projekt des Privatrechts fallen der Globalisierungskatastrophe zum Opfer.“ (Teubner 1998, 234) Auch Klaus Günther (2001), der mit einer Dekonstruktion sensu Derrida gewiss nichts im Sinn hat, macht einen im Zuge der Globalisierung beobachtbaren Bedeutungsschwund nationaler Gesetzgebung und eine über das übliche Maß hinausgehende Veränderungsdynamik des Rechts aus, mit einer deutlichen Stärkung der Rolle des Aushandelns von Recht, divergenter Modi seiner Inanspruchnahme und des Sich-Berufens auf Recht, seiner Umgehung und nachträglichen Änderung, schließlich seiner Amalgamierung mit anderen Normensystemen – in Begriffen der Dekonstruktion hieße das: seiner beständigen Supplementierung. Wo Max Weber gleichsam die Unterhöhlung des Sozialen durch das Ökonomische vor Augen stellte, da macht sich Teubner anheischig, die unweigerliche und inzwischen dramatische Supplementierung einer strikt ökonomischen durch eine politische und soziale Perspektive zu begründen – als Ausdruck nicht einfach einer anderen, „umsichtigeren“ Sicht der Dinge, sondern als Reflex der Veränderung des Rechts in der Fragmentierung von private governance regimes. „Die neue historische Lage, die eine Rekonstruktion des Privatrechts zugleich plausibel und notwendig erscheinen läßt, ist die konfliktgeladene Fragmentierung der Weltgesellschaft. Extremen Ausdruck hat dies in François Lyotards Begriff des différend gefunden: Die Weltgesellschaft ist fragmentiert in verschiedene hermetisch geschlossene Diskurse, in untereinander inkompatible Systeme, in verschiedene einander feindliche Sprachspiele, die sich gegenseitig Gewalt antun. Diese Polykontexturalität – im Gegensatz zu naiven Konvergenzvorstellungen – wird, wenn auch weniger spektakulär, in anderen Theoriekontexten, etwa im new institutionalism und in der Systemtheorie, als das entscheidende Charakteristikum der Weltgesellschaft formuliert. Die Herausforderung liegt darin, daß sich das Privatrecht entsprechend dieser Polykontexturalität rekonstruieren muß. Hier liegt natürlich der entscheidende Unterschied zur einheitlichen Sozialwelt des buon governo. Nicht die eine reiche Welt des einen Vertrages, sondern viele hochspezialisierte Vertragswelten – contracting worlds! Die globale Gesellschaft besteht aus einer Vielzahl von contracting worlds, die dem Doppelsinn des Ausdrucks gerecht werden. Soziale Systeme kontrahieren, ziehen sich zusammen, schrumpfen, spezialisieren alles andere. Zugleich werden sie untereinander nicht durch hierarchi-
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sche Beziehungen, sondern durch heterarchische Vertragsbeziehungen koordiniert.“ (Teubner 1998, 242 f) Dem versucht Teubner theoretisch gerecht zu werden durch eine auf Derrida rekurrierende Bestimmung des Vertrages als Beziehung der Intertextualität, „wonach der Vertrag nicht länger als eine bloße ökonomische Transaktion zwischen zwei Akteuren, sondern als Raum der Kompatibilität zwischen verschiedenen diskursiven Projekten – zwischen verschiedenen Vertragswelten – erscheint.“ (Teubner 1998, 235) Halten wir en passant fest, dass Teubner damit die von Lyotard geborgte Rede von einer strikten Inkompatibilität der Diskurse oder Welten oder Systeme gerade so weit abschwächt144, dass wir nicht zu ohnmächtigem Schweigen verurteilt sind. Sonst wäre auch kaum verständlich, was Intertextualität oder diskursivität hier heißen könnte, die Teubner mit den Merkmalen des relational contract im Sinne Ian McNeils (1980) erläutert: „umfassende soziale Einbettung des Vertrages, die normerzeugende Funktion langfristiger Interaktion und Kooperation, die an Werten orientierte Haltung der Akteure, den Prozesscharakter des Vertrages als einer komplexen sozialen Beziehung.“ (Teubner 1998, 245) Nicht jedenfalls denkt er an soziale Einbettung im Sinne eines in Kooperation und Solidarität terminierenden sozialen Netzes, sondern eines Geflechts durchaus kühler impersonaler Beziehungen zwischen kollidierenden Diskursen, Systemen, Textualitäten. Das kommt mir entgegen, der ich die Denkfigur einer Gemeinschaft, die zu ihrer Integration durch eine solche Normen- und Werteorientierung des Handelns kommt, in keinem Falle für vollends durchführbar halte. Teubner aber, und, wie ich meine, wir alle, geraten damit in eine schwierige Lage. Wenn der Rekurs auf Normen und Werte und gar auf kommunitaristische Lösungen als verlässliche Stifter des Zusammenhalts ebenso ausscheidet wie der auf interventionistische Projekte des Rechts und der Politik, und wenn auch die neoliberale Remedur der theoretischen Kritik wie auch der Praxis der Globalisierung verfällt, was bleibt dann zu denken und zu tun? Das neoliberale Horn dieses Trilemmas erweist sich, gerade in Teubners Sicht, als besonders spitz, weil die Reduktion des Privatrechts auf Kosten-Nutzen-Kalküle schwere Verzerrungen, Gefährdungen und Verführungen mit sich bringt, betreffend die Freiheit der Forschung, Wissenschaft und Kunst, die Publikationsmedien, die Erziehung, die Sphäre der Politik, die Sphären individueller Freiheit und Würde. Man denke an Kunstsponsoring, private Forschungsförderung, privat finanzierte Erziehung oder an den Sport, soweit er in den Sog der Ökonomie gerät. Teubners allgemeine Antwort lautet: Die Selbstreferenz des Rechts plus „Dauerbeschuß gesellschaftlicher Irritationen“ (Teubner, Zumbansen 2000, 197) erzwinge eine Koevolution rechtlicher und sozialer Institutionen, an der indes institutionalisierte Produktionsregimes – Verknüpfungen zwischen autonomen sozialen Systemen besonders des Rechts, der
144 Daran tut er, wie ich meine, gut. In die Nähe einer allzu strikten Inkompatibilitätsthese gerät man nicht nur mit Lyotard, sondern auch mit Luhmann und dessen allzu säuberlichen Distinktion gesellschaftlicher Teilsysteme entlang spezifischer Codes; zu einer konstruktiven Kritik und Korrektur der Luhmannschen Systemarchitektur s. Martens (1992; 1995; 1997). Teubners Rekurs auf diskursive Projekte à la Lyotard wirft auch die Frage nach seinem Diskursbegriff und dessen Verhältnis zu Luhmanns Begriff der Kommunikation auf.
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10. Kapitel: Verträge, Standards, Private Governance Regimes
Wirtschaft, der Politik und der Wissenschaft – einen entscheidenden Anteil hätten. Nun schließt sich der Kreis: „Im Produktionsregime wird das Netzwerk juristischer Operationen externen Irritationen ausgesetzt (...). Die Maschinerie der außerrechtlichen Rechtsproduktion, die der inneren Logik ausdifferenzierter Sozialbereiche gehorchen, finden sich in formalen Organisationen, informellen Netzwerken und Standardisierungsverfahren (...). Der Rechtsanwendungsprozeß kann diese externen Normprodukte nicht ignorieren oder einfach abstoßen. Er kann sie nur ‚durchprozessieren‘, indem er sie einem Gerichtstest unterwirft. In diesem Verrechtlichungsvorgang wird ihnen rechtliche Gültigkeit verliehen (...)“ (Teubner, Zumbansen 2000, 199; Hervorh. G. O.). Das wird in den beiden anderen Abschnitten dieses Kapitels exemplarisch gezeigt. Wieder sind wir mit dem Prozess einer Rechtsanwendung konfrontiert, der normative Strukturen selbst hervorbringt, auf die er sodann rekurriert. Unintendierte Folge jenes re-entry sozialer Konfliktlagen und Irritationen in das Recht ist eine Kluft zwischen diesen und jenen, zwischen Konfliktresolution aufgrund normativer Erwartungen einerseits und Regelsetzung innerhalb der Produktionsregimes andererseits, eine Distanz zur je konkreten Fallsituation, die von Teubner und Zumbansen (2000) unter dem Titel „Rechtsentfremdungen“ geführt werden. „Man gewinnt den Eindruck, als sei heute die Kluft zwischen dem, was auf der einen Seite zur konkreten Konfliktlösung erforderlich erscheint und was auf der anderen Seite an Rechtsnormen in der Koevolution mit anderen Institutionen innerhalb eines Produktionsregimes entsteht, enorm. Was hat es mit den konkreten Bedürfnissen der sich um ihr Geld streitenden Parteien zu tun, daß der Ausgang ihres Prozesses von der jüngsten parteipolitischen Initiative zur Wettbewerbspolitik abhängt? Warum sollte einem Verkehrsunfallopfer damit geholfen sein, daß die Frage seiner Entschädigung im Deliktsrecht mit Hilfe ökonomischer Theorie zur Allokationseffizienz gelöst wird? Die Konfliktlösung ist nicht Ergebnis der Adäquanz, sondern der Diskrepanz zwischen Regeln politischer, ökonomischer oder technischer Rationalität einerseits und den Interessenlagen des Individualkonflikts andererseits. Zwar ist es gerade die Inkongruenz der Perspektive – Prozeßführung versus Produktionsregime –, die die Lösung eines unentscheidbaren Falles möglich macht. Das heißt aber nur, daß die Parteien ihr Urteil bekommen. Die Urteilsgründe können sie vergessen.“ (Teubner, Zumbansen 2000, 199) Solche „Konfliktenteignung“ (ebd.) beschert den Produktionsregimes Erwartungssicherheit – das ist aus ihrer Perspektive Sinn der Sache –, sorgt aber auch dafür, „daß die ursprüngliche Bedeutung normativer Strukturen in Verträgen, Standards und Regelbildungen, wettbewerblichen Marktprozessen, intra-organisatorischen Regeln und politischen Gesetzen einschneidend transformiert wird.“ (Teubner, Zumbansen 2000, 200)
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Das Recht supplementiert – transformiert/ergänzt/ersetzt – die „ursprüngliche“ Bedeutung normativer Strukturen, aber letztere bahnen sich via Irritation und re-entry immer wieder neu ihren Weg in das Recht, das ihrer als Supplément bedarf, und unterwegs – im Zuge ihres erneuten Einbaus in die Eigenlogik des Rechts – ereignet sich ihre neuerliche Bedeutungstransformation: unaufhörliche Différance. Die Zugewinne an institutionell gestifteter und stabilisierter Erwartungssicherheit und daher Effizienz aber werden womöglich aufgezehrt von den Kosten dieser Transformation. „Ein solcher Verlust der ursprünglichen ‚institutionellen‘ Orientierung von Rechtsregeln ist, wenn sie in Gerichtsprozesse geraten, allen Typen von Produktionsregimes gemeinsam. Nicht nur die Vertragspraxis und die Gesetzgebung teilen dieses Schicksal, sondern auch Standardisierungs- und Normalisierungsprozesse, Marktregulierungen und Verwaltungsentscheidungen wie auch intraorganisatorische Regelsetzungen sind dieser inversen Entfremdung ausgesetzt. Es lassen sich vier Aspekte dieser Transformationsdynamik kennzeichnen. Erstens Zielverschiebung. Die Frage: Wer gewinnt, wer verliert den Prozeß? ersetzt die Ursprungsorientierung der Norm, die etwa darin bestand, Effizienz zu steigern, technische Abläufe zu erleichtern, Verhalten zu regulieren oder soziale Institutionen zu stabilisieren. Zweitens Zeithorizont: Während die institutionelle Perspektive darauf gerichtet ist, zukunftsorientierte Erwartungen im Produktionsregime zu stabilisieren, ist der Blick des Rechtsstreits in erster Linie auf die Vergangenheit gerichtet. In dem Maße, in dem vergangene Ereignisse im Gerichtssaal rekonstruiert werde, werden komplexe normative Strukturen auf die einzige Funktion reduziert: Welche Erwartung war im vorliegenden Fall die einzige ‚richtige‘? Drittens Sprachwechsel: Während soziale Normen in der Sprache ihres institutionellen Kontexts formuliert sind, findet im Gerichtssaal unweigerlich ihre Übersetzung in die Rechtssprache statt. Die Frage lautet dann nur noch: Welche rechtlich geschützten Positionen gewähren sie den streitenden Parteien? Viertens Wirklichkeitskonstruktion: Während die Realitäten sozialer Normen vom cognitive mapping ihrer jeweiligen sozialen Institutionen bestimmt sind, zwingt der Rechtsstreit die Realitätskonstruktionen in die ZweiParteien-Perspektive des gerichtlichen Verfahrens.“ (Teubner, Zumbansen 2000, 201 f; Hervorh. G. O.) Warum die Kette der Supplemente Ergänzungen und gefährliche Ersetzungen enthält, mag man sich am Beispiel der Regulation noch einmal vor Augen führen – die Différance via Anwendung: „Den Intentionen der regulatorischen Politik ergeht es nicht besser. ‚Mon code est perdu!‘ – Napoleon brach bekanntlich in Tränen aus, als er herausfinden mußte, daß sein berühmter code civil, der die neue freiheitliche Gesellschaft hervorbringen sollte, in die Hände sophistischer Anwälte und Richter und deren obskurer Hermeneutik geraten war. Aber dies ist generell das Schicksal regulatorischer Politik im Gerichtsprozeß. Die politische Festlegung regulatorischer Ziele, die planvolle Auswahl der jeweiligen Policyinstrumente und ihre auf Sozialbereiche abgestimmten Implementierungsstrategien werden im Zusammenspiel von Mandanten, Anwälten und Richtern für Prozeßfüh-
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rungszwecke instrumentalisiert. So werden politische Programme ersetzt durch Strategien, mit denen man einen Rechsstreit gewinnt. Zwangsläufig ändert sich, wenn Policyinstrumente zu Konfliktlösungsregeln transformiert werden, der Gehalt von Rechtsnormen.“ (Teubner, Zumbansen 2000, 201; zweite Hervorh. G. O.) Wenn wir es dabei mit einer „doppelten Rechtsentfremdung“ (ebd., 202) zu tun haben: der Entfremdung vom Individualkonflikt und von den Regelungsinteressen der Produktionsregimes mit ihren ökonomischen, politischen, technischen, wissenschaftlichen und anderen Kriterien, und wenn dabei sogar Erwartungssicherheit und Effizienz auf der Strecke bleiben, wie erklärt sich dann „die merkwürdige Tatsache, daß sich Gerichtsprozesse und Produktionsregimes weiterhin wechselseitig anziehen“ (Teubner, Zumbansen 2000, 202), dass die Dynamik der Verrechtlichung ungebrochen ist, und dass sie nun sogar das internationale Vertragswesen, die internationale Schiedsgerichtsbarkeit und selbst die World Trade Organization ergreift, die durch Ausbildung gerichtsähnlicher Strukturen allmählich transformiert wird? Wie erklärt sich (1.) die Gerichtetheit, (2.) die besondere Richtung und (3.) die ungebrochene Kraft dieser Différance der Globalisierung und Globalisierung der Différance? Für Teubner und Zumbansen (2000, 202 f) liefern „zwei konkurrierende Interpretationen“ mögliche Antworten. (1.) Konfliktlösung aufgrund normativer Erwartungen und Regelproduktion innerhalb der Produktionsregimes „sind rekursive selbstreferentielle Prozesse, die je für sich allein gerade wegen ihrer Schließung in zirkulären Prozessen keine ausreichend stabilen Eigenwerte finden können, so daß sie unablässig auf der Suche nach äußeren Stabilisatoren sind“ und sozusagen aneinander fündig werden. (2.) Beider „Obstruktionssymbiose“ ist Resultat einer pfadabhängigen evolutionären Dynamik mit einer Verriegelung – einem Lock In145 – des Rechts und der Produktionsregimes in wechselseitiger Abhängigkeit: Die Produktionsregimes haben das Recht gerufen, das Recht, zumal die Rechtsanwendung, hat die Produktionsregimes gerufen, und beide werden ihren respektiven Zauberlehrling fortan nicht mehr los. Ich habe an anderer Stelle (Ortmann 2003) argumentiert, dass beide Interpretationen als Nuancen oder Facetten einer allgemeinen Theorie dynamischer, komplexer, adaptiver Systeme aufgefasst werden können, mit Eigenwerten, durchbrochenen Gleichgewichten, seltsamen Attraktoren, Lock Ins oder straight jackets als Metaphern und Modellen prekärer, das eine Mal positiv, das andere Mal negativ konnotierter Stabilität und mit dem Konzept der Trajektorie als Denkfigur einer nicht intendierten Gerichtetheit sozialer Prozesse. Hier sei nur noch angemerkt, dass Teubner und Zumbansen nach alledem weit von Luhmanns Enthaltsamkeit in Sachen normativer Beurteilung und sogar praktischer Vorschläge entfernt sind. Teubner hatte, wie erwähnt, schon 1998 (234) einer neuen institutionellen Phantasie das Wort geredet und dabei Klartext gesprochen: „Gesucht sind extern auferlegte rechtlich-politische Restriktionen gegen die selbstzerstörerischen Tendenzen expansiver Sozialsysteme.“ (262) Klar sehen auch Teubner und Zumbansen (2000, 204): Die von ihnen skizzierte „Koevolution garantiert nicht die soziale Adäquanz (und noch nicht einmal die ökonomische Effizienz, G. O.) der Rechtsdogmatik gegenüber sozialen Institutio145
Vgl. zur allgemeinen Figur des Lock In Ortmann (1995a, 151 ff, 255 ff und passim).
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nen, sondern verhindert sie.“ Ihre Frage gilt den „Chancen eines erneuten re-entry“ sozialer Belange in das Recht, zu Wege gebracht mit Hilfe runder Tische, einschlägiger Non-ProfitOrganisationen und anderer Einrichtungen nicht-staatlicher Governance, und ihre Antwort kreist um neue Realfiktionen des Rechts, die vielleicht die alten Fiktionen der zurechnungsfähigen natürlichen und sodann der juristischen Person ergänzen – ersetzen? – könnten: Konfigurationen ökonomischer Aktanten mit sorgfältig umrissenem Rechtsstatus, der es erlaubte, kollektive Verantwortung zu adressieren. Diese Kur besteht natürlich irgendwie aus „Mehr vom Selben“. Das indes verliert an Schrecken, wenn man erst eingesehen hat, dass die Arbeit der Différance und die Arbeit an der Différance niemals enden kann, und dass wir uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen müssen146.
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3 Standardisierung und Selbstorganisation Seit ungefähr zwei Jahrzehnten beobachten wir zwei zunächst wohl voneinander unabhängige, nun aber konvergierende, sich verschränkende Entwicklungen in der Frage einer wirksamen Regulation und Steuerung auf vielen Feldern sozialer Praxis: erstens eine selbstverstärkende Entwicklung in Richtung auf Standardisierung, Normierung, Controlling, Evaluation, Auditing und all das, was Michael Power (1997) „rituals of verification“ genannt hat; zweitens die Ablösung hierarchischer Modelle solcher Regulation und Steuerung durch Modelle der Selbstorganisation und Selbstevaluation. Die Verschränkung liegt in der Überantwortung der Normierung und Standardisierung an private governance regimes im Sinne Teubners, also in einer teils emergenten, teils deliberaten, nämlich: neoliberalen, Beschränkung der Rolle des Staates in diesem Steuerungsprozess. An die Stelle staatlich gesetzter treten immer öfter „selbstgesetzte“ Normen und Standards. Das ist eine zweischneidige Angelegenheit in dreierlei Hinsicht. (1.) Der Staat überlässt mehr Steuerungsaufgaben „uns“, aber es kommt zu mehr Normierung des Lebens als zuvor. (2.) Er überlässt es „uns“, Camus hatte wohl in erster Linie eine künstlerische Revolte gegen die Erfahrung der Vergeblichkeit im Sinn. Der schöpferische Mensch antwortet auf diese Erfahrung mit dem beharrlichen Versuch, seine eigene Wirklichkeit zu erschaffen. Doch das müssen wir alle versuchen, und zumal bei der Erschaffung unserer Institutionen. Auch Teubner und Zumbansen (2000, 194) ziehen eine „Parallele zwischen Kunst und Recht, da beide eine zweite Realität erzeugen“ – das letztere in Gestalt der unumgehbaren Fiktionen des Rechts, die ja alles andere als Täuschungen sind. 147 Dieser Abschnitt ist stärker, als ich es hier deutlich machen kann, einem Vortrag von Michael Power über „Standardizing and Management Control Practices“ verpflichtet, den er auf einem Workshop über „Management Out of Neworks“ an der Universität Witten/Herdecke am 5.4.2001 gehalten hat; s. Power (2002). Ein soziologisch orientiertes Standardwerk (sic!) zur Standardisieung ist Brunsson, Jacobsson et al. (2000). Für die ökonomische Diskussion um Standards vgl. den Überblick von David und Greenstein (1990); wichtige Beiträge, zum Beispiel der von Farrell, Saloner (1987), finden sich in einem von Gabel (1987) herausgegebenen Sammelband; vgl. ferner als gut lesbaren Überblick Franck, Jungwirth (2001). Besonders wichtig sind sogenannte Netzwerkeffekte von Standards: Telefone, Computer oder eben Standards stiften um so mehr Nutzen, je mehr andere diese Güter ebenfalls in Gebrauch nehmen. Es locken respektive drohen dann „Lock-In-Effekte“, wenn eine kritische Schwelle überschritten oder eine bestimmte technische Basis einmal installiert ist: Dann ist es schwer, von einer noch so ineffizienten Technologie oder einem noch so ineffizienten Standard wieder herunterzukommen; vgl. dazu Ortmann (1995a, 151 ff, 270 ff). Ein großer Teil dieser Literatur fasst die Entwicklung und Etablierung von Standards als Dynamik im Sinne einer Theorie dynamischer Systeme auf, mit selbsttragenden und womöglich selbstverstärkenden Prozessen, Pfadabhängigkeiten und mehr oder minder stabilen Trajektorien. 146
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das heißt, den zu steuernden Akteuren, aber genau besehen doch eher jenen private governance regimes, die uns diese „Selbst“steuerung meist ab- und aus der Hand nehmen. (3.) Diese Entwicklung hat ein demokratisches Potential, aber es lauern auch Gefahren einer Disziplinierung à la Foucault, und je nach Sicht und je nach empirischem Verlauf mag das eine oder das andere überwiegen. Standardisierung impliziert Gleichbehandlung, Transparenz und so etwas wie prozedurale Fairness. In den emphatischen Worten von Kula (1986, 287): „gone are the countless, daily opportunities for the strong to injure the weak, for the smart to cheat the simple, for the rich to take advantage of the poor“. Aber natürlich kann Standardisierung auch genutzt werden, um andere zu unterdrücken und auszubeuten. Ökonomisch gesprochen haben Standards meist den Charakter öffentlicher Güter (David, Greenstein 1990, 29 ff). Sie können intendiert hervorgebracht werden oder sich unintendiert herausbilden – im letzten Falle spricht man von de facto-Standardisierung. In beiden Fällen profitieren alle oder doch viele davon, dass, zum Beispiel, Schreibmaschinen eine einheitliche Tastatur, Eisenbahnen eine einheitliche Spurweite, Computer ein einheitliches Betriebssystem oder Stecker und Steckdosen standardisierte Maße haben. Die Nutzen von Standards sind in diesem Sinne „öffentlich“. Aus ökonomischer Sicht ergeben sich besonders drei Fragen: Wer trägt die oft beträchtlichen Kosten der Etablierung von Standards? Welcher – und wessen! – Standard setzt sich durch: der „beste“ oder vielleicht derjenige, der mit der meisten (Markt-) Macht gefördert wird? Und: Lassen sich die, wie die Ökonomen sagen, „positiven externen Effekte“ von Standards, ihre Nutzen für andere, nicht „internalisieren“, etwa, indem der Erfinder oder Entwickler eines Standards ihn patentrechtlich schützen und sich seine Nutzung durch andere bezahlen lässt? So ist Bill Gates reich geworden. Aus solchen Gründen pflegen Standards hoch umkämpft zu sein. Oft kommt es mangels Einigung respektive Durchsetzung auch dort nicht zu Standards, wo es für alle wünschenswert wäre – Standards für die Farbpatronen von PC-Druckern sind zur Zeit ein einfaches und für uns alle kostspieliges Beispiel. Und oft setzen sich nur drittbeste Lösungen durch und überleben, weil man von einmal etablierten Standards wegen der Lock-InEffekte nur schwer wieder abkommt: Wenn ein Standard einmal etabliert ist, müssen ihn viele als gegeben hinnehmen und sehen, wie sie damit zurechtkommen: Das gehört zu der disziplinierenden Seite von Standards. Wenn zum Beispiel einmal ein wissenschaftliches Paradigma, ein Ansatz, ein Theorem, ein Konzept, eine Methode zum Standard in einer Wissenschaft geworden ist, müssen sich aufstrebende Nachwuchswissenschaftler sehr genau überlegen, ob sie davon abweichen können und sollen (Franck, Jungwirth 2001). Und kaum jemand kommt an Windows vorbei. Bisher war die Rede vor allem von Produktstandards. Wenn der Staat Gesetze „gibt“, produziert er ebenfalls Standards – er normiert unser Verhalten. Er kann auch Anforderungen an Produkte normieren – aus Sicherheitsgründen, zum Zwecke des Verbraucherschutzes, aus ökologischen Erwägungen zum Beispiel. Und er kann Produktionsprozesse normieren – wieder mit der Einhaltung von Sicherheitskriterien als prominentem Beispiel. Was wir heute erleben, ist eine wechselseitige Verstärkung rechtlicher und nicht-rechtlicher Standardisierung. Gesetzgebung und besonders Rechtsprechung erheischen Normierungen in der Gesellschaft, auf die sie regel- und gleichmäßig rekurrieren können; und Normierungen in der Gesellschaft drängen ins Recht, verlangen nach staatlicher Autorität, und werden dort gerne aufgegriffen. Teubner und Zumbansen (2000, 198 f) sprechen mit Blick auf Standardi-
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sierungsverfahren geradezu von „Maschinerien außerrechtlicher Rechtsproduktion, die der inneren Logik ausdifferenzierter Sozialbereiche gehorchen“. Wir haben Beispiele gesehen: ISO 9000 ff, Codes of Corporate Governance. Das alles ist meistens nicht sehr spektakulär, und oft nichts als vernünftig. Technische und moralische Vorteile sind evident. Schnittstellenprobleme und Systemübergänge werden erleichtert, Verlässlichkeit, Qualität und Schutz gesichert, Transparenz und Fairness gewährleistet. Natürlich macht sich auch in der Anwendung einzelner Standards das Problem der Interpretation, Verschiebung und Veränderung geltend (Brunsson 2000, 129 ff, 145 f). Die ISO-9000er Reihe liefert ein Beispiel. Mir geht es hier aber um die gleitende Bewegung, das allmähliche, zunächst unmerkliche Driften, das wir in Prozessen der Standardisierung generell erleben – um die Bewegung der Différance auf der Ebene der gesellschaftlichen Ausbreitung von Standards. Machen wir uns zunächst klar, dass es bei Standardisierung stets um ein „Immer wieder“ geht. Immer wieder soll ein Meter genau ein Meter sein, und nicht „eine Elle“ oder „ein Fuß“ das eine Mal mehr, das andere Mal weniger messen. Standards dienen als Normen der Kalibrierung, der Eichung. Gewichte, Entfernungen, Größen, Zeiten sollen gleichmäßig gemessen, Taten gleich behandelt, Accounting-, Qualitätssicherungs- und ManagementSysteme nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden. Es geht um Gleichheit und Wiederholung. Es geht daher um einen spezifischen Umgang mit Differenz, Singularität und Bewegung. Standardisierung ist Fest-Stellung – Feststellung einer Identität, Fest-Stellung in einem Meer von Veränderungen. Eine Standardlösung ist eine Standardlösung ist eine Standardlösung. Das Leben allerdings ist Bewegung, und ein Strom je einzigartiger Ereignisse, Situationen, Handlungen einzigartiger Handelnder. Standardisierung legt Balken in die Flut der Möglichkeiten. Das verändert die Wirklichkeit. Standardisierung ist die Bewegung einer Différance zur Stillstellung von Différance. Das möchte ich nicht sogleich im Namen einer hypostasierten Lebendigkeit denunzieren. Wir alle bedürfen fester Haltepunkte. Schnell verstummen unsere emphatischen Plädoyers für Bewegung, Diversität und Singularität, wenn jedes gottverdammte Handy eine andere Tastatur hat oder die Telefonnummer der Auskunft sich dauernd ändert. Aber Standardisierung ändert die Dinge, und wir müssen zusehen, wohin das führt. 1. Schon dass die Dinge in die Form der Messbarkeit, also in eine metrische Ordnung gebracht werden, ändert die Welt, ist Ausdruck und weitere Triebkraft der Naturbeherrschung, übrigens auch imperialer politischer Herrschaft (Kula 1986). 2. Eine zweite Verschiebung und Veränderung ereignet sich mit der Bedeutung von Standards, die von Maßeinheiten, betreffend das Sein, zu Regulierungsmodellen führen, die vom Sollen handeln. Eben noch ging es um Vergleich. Nun geht es um Gleichheit als Imperativ und um vorbildliche Praxis. Dies beides voraussetzend betrachte ich nun nur noch Verschiebungen/Veränderungen, die sich erstens im Prozess der Formulierung und Etablierung (3.-12.), und diejenigen, die sich zweitens in Prozessen der Anwendung etablierter Standards (13.-16.) ereignen. Von sämtlichen Verschiebungen und Veränderungen (1.-16.) nehmen wir, so ist mein Eindruck, zu-
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nächst so wenig Notiz wie jener vielzitierte Frosch von dem allmählichen Temparaturanstieg in dem Topf mit Wasser, der ihn daher bis zum tödlichen Siedepunkt nicht veranlasst herauszuspringen (Bateson 1987, 122). Das Rutschen selbst auf Exponentialkurven (Bateson 1983, 160 f, 554 ff) – und gerade Michael Power zufolge kann Standardisierung, infolge selbstverstärkender Effekte, sehr wohl einer solchen Kurve folgen – bemerken wir nicht leicht, weil unsere Maßstäbe – unsere Empfindlichkeit oder Wahrnehmungsfähigkeit für Grade der Standardisiertheit – sich ihrerseits verschieben/verändern, und womöglich ihrerseits exponentiell. Das geschieht durch Prozesse der Gewöhnung, der Akklimatisierung, (auch dazu Bateson 1983, 451 ff, 643 ff) oder einer Art kulturinterner Akkulturation, die, genau besehen, eben Prozesse der Neu-Justierung unserer Maßstäbe einschließen – verursacht durch eben jene Standardisierungsprozesse und die mit ihnen einhergehenden Verschiebungen/Veränderungen, die es wahrzunehmen und zu beurteilen gälte. 3. Dass schon die Destillierung modellhafter, vorbildlicher Praktiken und ihre Formulierung Verschiebungen/Veränderungen mit sich bringt, nämlich: Verallgemeinerungen, Dekontextualisierungen, Entleerungen, Formalisierungen, Transformationen in technische, juristische u. a. Kategorien, Anpassung an die Funktionslogik von Standards wie Operationalisierbarkeit, Sichtbarkeit, Kontrollierbarkeit, Verifizierbarkeit, haben wir mit Teubner am Fall des Rechts schon gesehen – „Rechtsentfremdungen“ hieß es dort. Im Recht „wird der Ursprungskonflikt entfremdet, enteignet, disloziert, disseminiert, ja verzerrt und verfälscht.“ (Teubner 2000, 190) Das gilt allemal auch für Standards wie einen Code of Corporate Governance, aber auch für technische Standards. (Man denke an Air Condition und standardisiertes Raumklima.) 4. Tenor der Arbeiten Michael Powers ist ein „shift“ – wörtlich: eine Verschiebung/Veränderung – weg von Versuchen, qualitative Standards für die Substanz von Leistungen zu setzen, hin zur Standardisierung der Leistungsprozesse statt des Outputs – Ersetzung, Ersatz auf einer ersten Ebene –, sodann zur Standardisierung des Managements der Leistungsprozesse – Ersetzung, Ersatz zweiter Ebene – oder gar, wie im Falle von ISO 9000 ff der Dokumentation des Managements – Ersetzung/Ersatz dritter Ebene. Diese Ebenenverschiebung und Prozeduralisierung geht jeweils mit der unter (3.) beschriebenen Entfremdung, Zunahme an Formalisierung, Entleerung einher. Die Idee ist: Wenn schon die jeweilige Leistung nicht allgemein beurteilt und also standardisiert werden kann, so doch die Prozedur der Leistungserstellung; wenn nicht sie, dann doch ihr Management; wenn nicht dieses, so wenigstens die Dokumentation des Management-Systems: Différance von Ebenenwechsel zu Ebenenwechsel, Ersatz und Ersatz des Ersatzes und Ersatz des Ersatzes des Ersatzes, Schachteln in Schachteln in Schachteln, Kette der Supplementierungen. 5. Im Zuge – und in Folge! – der Standardisierung erodiert das lokale Erfahrungswissen von Praktikern. 6. Standards hecken Standards, und bald beginnen die Klagen über einen Wust und eine Flut an Standardisierungen, deren normierende Kraft durch Überfülle tatsächlich unterminiert wird.
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7. Ab einem gewissen Zeitpunkt der Institutionalisierung haben wir es mit Märkten konkurrierender Zentren der Standardisierung zu tun, etwa Standardisierungsorganisationen, die eigene Überlebens- und womöglich Wohlstandsinteressen verfolgen. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf die Anzahl und die Richtung von Standardisierungsprozessen. 8. Schon in die Etablierung von Standards schleichen sich oft Legitimationsinteressen à la Meyer/Rowan ein. Standards und die Errichtung von Standardisierungs-, Evaluations-, Normierungs-, Prüfungs-, Überwachungsagenturen sind oft die regulatorische Antwort auf skandalisierte Pannen, Unfälle, Missbräuche. Eine Verschiebung von Sicherungsinteressen auf Interessen an der Simulation und Repräsentation von Sicherung bahnt sich an (s. auch Brunsson, Jacobsson 2000). 9. Alsbald bedarf die Standardisierung selbst der Legitimation, und die Antwort auf dieses Erfordernis ist wiederum: Standardisierung, nämlich Standardisierung der Standardisierung. Durch den Nachweis, dass der in Frage stehende Standardisierungsprozess seinerseits formalisierten Standards genügt, lässt sich seine Legitimation „erweisen“, wenn schon nicht durch den Nachweis, dass er substantielle Erfolge erzielt (auch dazu Brunsson, Jacobsson 2000). 10. Power gibt ein Beispiel dafür, dass Standardisierungen immer auch inhaltliche Festlegungen, und das heißt: Verschiebungen – ein „reordering“ – in Richtung auf die Linie des Standards, mit sich bringen: das Beispiel der britischen Entwürfe eines Code for Corporate Governance, in denen „good governance“ unter ganz starkem Akzent auf „risk management“ bestimmt wird – verständlich im Gefolge einschlägiger Skandale und Konkurse, aber eben doch einseitig und insofern nicht wirklich verallgemeinerbar. 11. Natürlich erodiert mit Standardisierung Vielfalt. Das ist das eine Mal hilfreich, das andere Mal kontraproduktiv. Manchmal ist es kurzfristig (zu) aufwendig, wäre aber à la longue für alle Beteiligten wünschenswert. Und manchmal ist es kurzfristig produktiv und langfristig destruktiv. 12. Standardisierungsprojekte unterliegen der Kraft der Différance auch deshalb, weil sie einem „bombardment of interests“ bis in die Phase der Implementation ausgesetzt sind. Sie sind immer in Bewegung, unterliegen Reformversuchen, Widerstand, Gegenversuchen, und erleiden schon in dieser Phase Verschiebungen und Veränderungen, die von den ursprünglichen Intentionen das eine Mal mehr, das andere Mal wenig übriglassen. 13. Das gilt nun erst recht von der Anwendung einmal etablierter Standards. Wittgensteins Lehre, dass keine Regel ihre eigene Anwendung zu steuern vermag, greift auch im Falle von Standards. Compliance, die Erfüllung der Standards, ist daher immer prekär, kreativer Interpretation, dem Irrtum, dem Betrug und anderen Verzerrungen unterworfen.
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14. Scheinhafte Erfüllung im Dienste der Legitimationssicherung, dieses Mal auf Seiten des Standard-Anwenders, wiederum im Sinne Meyers und Rowans, ist eine wahrscheinliche Folge. 15. Die Imperative technischer und sozialer Standards, so sehr sie doch Mittel zur Verbesserung der Qualität von Produkten, Produktionsprozessen und Praktiken sein sollen, zeigen eine deutliche Neigung, in der Anwendung zu Selbstzwecken zu werden. Wenn Leistungen von Wissenschaftlern an Hochschulen durch Punktsysteme normiert werden, kreieren Mitarbeiter alsbald die Denkfigur der „schnellen Punkte“: Ein Aufsatz bringt schnelle Punkte, ein Buch nicht. Also schreibe ich Aufsätze, keine Bücher. Ganze Fakultäten orientieren sich um. Ziel wird es, bei der nächsten Evaluation auf eine hohe Punktzahl zu kommen (Kieser 1998a; Ortmann 2000). Scorecards zur Bewertung der Qualität des Managements werden ähnliche Effekte haben. 16. Immer aber bleibt die Paradoxie jedweder Standardisierung: dass sie eine allgemeine Regelung lokaler Praktiken intendiert. Mit dieser Paradoxie umzugehen, erfordert, die normierende Rolle der Standardisierung zu wahren und doch den lokalen Praktikern, den Anwendern, eine konstitutive Rolle bei der Entwicklung von Standards zu gewähren. Auch das hat statt im Zuge von Selbstorganisation. Man beachte, dass sich diesem Erfordernis niemand entziehen kann, auch nicht eine noch so autoritativ agierende Standardisierungsinstanz. Selbstorganisation ist nicht deckungsgleich mit Partizipation oder laisser faire, sondern bezieht sich auf die selbsttragende oder selbstverstärkende Dynamik von Prozessen der Standardisierung und der Anwendung von Standards. Wohl aber mögen sich Standardisierungsversuche darin unterscheiden, welches Maß an „lokaler Konstitution“ sie vorsehen und zulassen. Dann mag zweierlei zugleich geschehen: dass Standards via Anwendung interpretiert, ergänzt, erfüllt (und dabei vielleicht modifiziert) und dass sie von mehr und mehr Anwendern genutzt werden. Beides macht, dass Standardisierung eine schleichende Gefahr in sich birgt, die Gefahr, nicht zurückzukönnen.
11. Eine stille Produktion Über Ressourcen und ihre Veränderung im Gebrauch 11. Kapitel: Eine stille Produktion „The services yielded by resources are a function of the way in which they are used.“ Edith Penrose (1959/1995, 25)
Bisher war von Regeln die Rede, von Rollen, Normen, Gesetzen, Verträgen, Standards und von der stabilisierenden und unterminierenden Wirkung ihrer Selbst-Dekonstruktion. Nun wird soziales Handeln aber nicht nur durch Regeln, sondern auch durch Ressourcen restringiert und ermöglicht, Grund genug, die Ressourcen, wie Anthony Giddens es tut, in den Begriff sozialer Struktur mit aufzunehmen. „Würde man behaupten, soziale Praktiken seien allein aus Regeln erklärbar, wäre ein kulturalistisch-normativistischer Bias die Folge, wie man ihn im Strukturfunktionalismus, Strukturalismus und den interpretativen Ansätzen antreffen konnte“, und wie er, so möchte ich ergänzen, erst recht mit Jaques Derrida assoziiert wird. „Giddens‘ Strukturbegriff umfaßt daher eine zweite Dimension, deren Wirkung zur Handlungsproduktion ebenso notwendig ist wie die Regeln: Ressourcen, in denen Macht und somit die Fähigkeit, Gegenstände oder andere Akteure so zu kontrollieren, daß die sozialen Praktiken auch in die Tat umgesetzt werden können, inkorporiert sind. Damit sich gewissermaßen virtuelle Kompetenz zum Handeln, wie sie durch Regeln bereitgestellt wird, auch in der realen Perfomanz der Praxis umsetzen läßt, sind Ressourcen als Handlungsmittel notwendig.“ (Reckwitz 1997, 99) Das wäre, so ist fortzufahren, ein Gedanke, dessen sich auch dekonstruktives Denken gewachsen zeigen müsste. Tatsächlich wird es sich als ergiebig erweisen, die Opposition von Ressourcen und ihrer Anwendung zu dekonstruieren. Es ist Giddens immer wieder einmal vorgeworfen worden, sich allzu sehr auf Regelstrukturen als Kern seines Strukturbegriffs zu konzentrieren und mit dem Postulat, Regeln existierten nur im Handeln, Struktur und Handeln ineins fallen zu lassen und die beharrende, einengende Kraft von Strukturen zu niedrig zu veranschlagen. Ich teile diese Kritik nicht, denn diese Kraft und die Zählebigkeit von Strukturen hat viel mit der Stabilität von Erinnerungen, Erfahrungen, Erwartungen und Erwartungserwartungen zu tun. Deutungsmuster und Normen lassen sich schon individuell schwer ändern, erst recht aber, weil sie uns ganz überwiegend nicht individuell, sondern gemeinschaftlich gegeben sind und die jeweils anderen bei der Änderei nicht mitmachen, weil, mit anderen Worten, Regeln soziale
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11. Kapitel: Eine stille Produktion
Tatsachen sind, die nicht im je einzelnen Handeln sofort zur Disposition stehen. Auch wenn Regeln – verallgemeinerbare Verfahren der Praxis – nur im Handeln existieren, wie Giddens richtig gesagt hat, so entfalten sie doch via Erinnerung, Routinisierung, Erwartung und Erwartungserwartung eine gewaltige strukturierende Wirkung, die noch enorm verstärkt wird, weil sie individuell, via Internalisierung, und sozial, via Sozialisierung, auferlegt sind, (weil wir sie einander auferlegen,) und das heißt ja, dass wir meist nicht schamlos, nicht schuldlos, nicht kampflos, nicht straflos, nicht kostenlos von ihnen abweichen können. Richtig ist aber doch, so scheint es, dass wir eine noch schärfere Einsicht in das Beharrungsvermögen von Strukturen gewinnen, wenn wir uns Ressourcen mit ihrer offenkundigen Dauerhaftigkeit hinzudenken: Straßen, Schienen, Gebäude, Maschinen, Fließbänder, Werkzeuge, aber auch unsere Expertise, unser Wissen, unsere Kompetenzen, unsere Handfertigkeit, allgemein: unsere Vermögen – dies alles ändert sich nicht alle Tage, und auch das stellt unser Handeln auf Dauer. Allerdings legt das den Einwand nahe, damit seien Natur und Materie als etwas Gesellschaftliches genommen, ein hölzernes Eisen. Sehen wir zu. Die vorgeschlagene Begriffsbildung erweist sich jedenfalls aus einer ganzen Reihe von Gründen als vorteilhaft. Ich nenne nur einige: (1.) Auf allgemeinster Ebene hat sie den Vorzug, den erwähnten kulturalistischen Bias der Gesellschaftstheorie zu vermeiden und eine praxistheoretische Grundierung zu erlauben (dazu auch Reckwitz 2002): die Referenz auf eine soziale Praxis, die als solche nicht schon endet, wo Kommunikation aufhört, sondern eine Differenz in der Welt auch außerhalb von Sinnwelten macht. (Schon ein Fußballspiel besteht nicht nur aus Kommunikation, und das Spiel namens Kapitalismus auch nicht.) (2.) Auf ökonomische und politische – in Giddens‘ Terminologie: allokative und autoritative – Ressourcen rekurriert alles wirtschaftliche und politische Handeln, das ohne einen Begriff sozialer, nämlich wirtschaftlicher und politischer (Macht-) Ressourcen kaum angemessen thematisiert werden kann. (3.) Der gesamte Ökologie-Diskurs lebt von seinem Rekurs auf die natürlichen Ressourcen, die aber in soziale Praxis eingehen und als zweite Natur aus ihr hervorgehen (dazu Ortmann 1997). (4.) Große Debatten um die Begründung von Gleichheits- und Gerechtigkeitsansprüchen und um Legitimität und Legitimation des Kapitalismus kreisen um die Frage der Verteilung von Ressourcen, weil jene Ansprüche offenbar damit zu tun haben, ob „einem jeden die Mittel zur Verwirklichung seiner individuellen Projekte zur Verfügung“ stehen (Michel 2000, 181). Besonders um das Werk Philippe Van Parijs‘ (1991; 1995) mit seiner ausgeklügelten Forderung nach einem detailliert und differenziert zu bestimmenden Grundeinkommen für alle hat sich eine Diskussion entzündet, in der es um einen gleichen Anteil an „unverdienten Ressourcen“ geht, zum Beispiel Erbschaften, knappe und gute Arbeitplätze, aber auch „interne“ Ressourcen wie Gesundheit oder Fähigkeiten und Talente, deren Ungleichverteilung gerechterweise vielleicht zu kompensieren sei148. All das hat gewiss mit Natur und Materie zu tun, geht aber wohl kaum darin auf. Ressourcenverteilungen und Ressourcennutzungen bedürfen der Legitimation. Das gilt, heutzutage mehr denn je, sogar für die Erzeugung von Ressourcen – man denke nur an die
148 Für einen konzisen Überblick vgl. Krebs (2000) und die Diskussionsbeiträge in den Heften 2 und 3 von: Analyse & Kritik 22 (2000).
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Atomkraft oder die Gentechnologie. (5.) Auch organisationale Strukturen lassen sich mit Anthony Giddens als Sets von Regeln und Ressourcen bestimmen. Dass Organisationen vieler Ressourcen bedürfen, die sie im Dienste ihrer Zwecke transformieren, ist ja nicht nur für Unternehmungen eine richtige Beschreibung. Der Resource-Dependence-Ansatz der Organisationsforschung hat dem Rechnung getragen. Die – im Idealfall: einzigartigen – Ressourcen von Unternehmungen sind in den letzten Jahren sogar ins Zentrum der Aufmerksamkeit neuerer Ansätze des strategischen Managements geraten, die es daher erlauben, Fragen der Organisation und des strategischen Managements zusammenzuführen. Auf Edith Penrose (1959/1995), Philip Selznick (1957) und Albert O. Hirschman149 (1978; Hirschman, Lindblom 1962) lassen sich die Bemühungen zurückführen, unternehmungsspezifische Ressourcen, „strategic assets“, „corporate capabilities“ und „core competencies“ als Quellen strategischer Wettbewerbsvorteile zu identifizieren und zu analysieren: resource-based view. Und schon Penrose insistierte auf der bedeutsamen Unterscheidung von Ressourcen und den „services“, die durch sie geleistet werden. Davon handelt auch dieser Beitrag: von der Differenz zwischen Ressourcen und ihrer Anwendung, den „ways of making use of resources“. Zeigen lässt sich, dass diese Anwendung den Charakter und den Wert von Ressourcen (mit) konstituiert. Das hat Konsequenzen für den „resource-based view“, den „knowledgebased view“ und die Theorie der Kernkompetenzen.
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Wildern. Die Produktion von Gebrauchsweisen
1 Wildern. Die Produktion von Gebrauchsweisen Den Gedanken indes, dass Ressourcen Momente sozialer Strukturen sind, müssen wir behutsam einführen. Einerseits können wir nicht darauf verzichten, die „materiellen“ und „immateriellen“ Ressourcen – die Anführungszeichen werden noch zu erläutern sein – zu den strukturellen Bedingungen sozialen Handelns und, soweit sie Hervorbringungen sozialen Handelns sind, zu den sozialen Strukturen zu zählen. (Die letztere Einschränkung impliziert: Erde, Wasser, Feuer, Luft, Sonne, Mond und Sterne gehören dazu nur, insoweit sie durch soziales Handeln als Ressourcen erschlossen oder erzeugt werden, andernfalls wir sie zwar als „natürliche Ressourcen“ ins Auge fassen können, nicht aber als soziale Ressourcen nutzen.) Andererseits kann nicht schon die schiere Materialität „materieller“ Ressourcen, die Geistesqualität immaterieller Ressourcen gemeint sein, wenn wir ihnen eine Ressourceneigenschaft zusprechen, sondern ihre praktische Bedeutung und mögliche Funktion als Handlungsmittel – nicht das Ding, um es an diesem Beispiel mit Wilhelm Schapp (1976) auf den
149 Hirschman zu dieser Ahnenreihe zu zählen, ist, soweit ich sehe, nicht üblich. Ich tue es, weil er in „Exit, voice, and loyalty“ und schon in früheren Arbeiten die große Bedeutung der Ressourcen und der Weisen ihrer Nutzung deutlicher als die meisten gesehen, betont und analysiert hat – mit besonderer Aufmerksamkeit für „organizational slack“: „At any one point of time, an economy’s resources are not to be considered as rigidly fixed in amount (...) The crucial, but plausible, assumption here is that there is some ‚slack‘ in the economy; and that additional investment, hours of work, productivity, and decision making can be squeezed out of it by pressure mechanismus.“ (Hirschman, Lindblom 1962, 211 f) Darin ist schon der Gedanke enthalten, den ich hier etwas weiter ausarbeiten möchte, dass Ressourcenpotentiale durch die Art ihres Gebrauchs verändert, hier: vergrößert werden können.
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11. Kapitel: Eine stille Produktion
Punkt zu bringen, sondern das Wozuding150, das uns nämlich vor einem Horizont, in einem Sinnzusammenhang entgegentritt und dessen Stoff nicht Materie oder Stoff im üblichen Sinne ist, nichts Selbständiges, sondern nur in einem Kreis auftretend, den seine Bestimmungen mit den praktischen Tätigkeiten bilden. „So mag im Schleppen, Ziehen, Wuchten sich ein Kreis vollenden, dem die Schwere entspricht, im Biegen, Brechen, Hämmern mag ein Kreis sich schließen, dem bei dem Stoff die Starrheit entspricht.“ (Schapp 1976, 20) Mit diesem Wozuding aber – ich bleibe bei den Dingen als dem wichtigsten und prima facie handfestesten Beispiel – hat es eine Bewandtnis, die der Leere von Regeln, welche erst in praxi, in situ gefüllt werden kann, genau entspricht: Solange sie „nur“ Ressourcen und noch nicht tatsächlich eingesetzte Handlungsmittel sind, ist ihr „Wozu“ noch irgendwie leer, nicht endgültig und eindeutig bestimmt, sondern von einer notwendigen Allgemeinheit, die, wie im Falle der Regeln, stark variieren kann, deren Offenheit aber erst im Handeln geschlossen wird. Ihnen allen kann genau die Eigenschaft der Elemente eines Bastelkastens zukommen, wie Lévi-Strauss (1973, 30 f) sie in seiner berühmten Skizze des bricoleurs beschrieben hat151: „Solche Elemente sind also nur zur Hälfte zweckbestimmt; (...) Sie sind Werkzeuge, aber verwendbar für beliebige Arbeiten innerhalb eines Typus (...) Alle diese heterogenen Gegenstände, die seinen Schatz bilden, befragt er (der Bastler, G. O.), um herauszubekommen, was jeder von ihnen ‚bedeuten‘ könnte.“ Ressourcen, so sieht man, haben (nicht nur, wie eben gesehen, mit Legitimation, sondern auch) mit Bedeutung zu tun (so auch Orr 1996; Hörning 2001). Der von Lévi-Strauss angeführte Typus kann umfangreich oder eng umrissen sein, so wie eine Regel sehr allgemein und vage oder eng und detailliert sein kann. Unschwer erkennt man in Schapps kreisförmigem Zusammenhang von stofflicher Bestimmung der Wozudinge und menschlicher Tätigkeit jene Konstitutionslogik wieder, die man mit Giddens als rekursive Zirkularität bestimmen kann. Wenn wir von hier aus in dekonstruktiver Weise weiterdenken, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt zu dem Gedanken, dass wir Ressourcen – wie Regeln! – nicht einfach als fix und fertige anwenden, sondern ihre Ressourceneigenschaft und damit die Ressourcen als Ressourcen erst in der und durch die Anwendung vollends hervorbringen. Wir rücken sie in Schapps kreisförmigen Zusammenhang ein, das heißt auch: in besondere Situationen und Kontexte, in denen sie, mit Giddens zu sprechen, erst zu Modalitäten unseres Handelns werden, und erst dadurch produzieren und reproduzieren, zeugen und bezeugen wir ihren Ressourcencharakter und erschließen uns handelnd die Welt. Und, merkwürdig genug, wir benötigen dasselbe Denkzeug, dieselben Denkfiguren, um über Ressourcen nach-
150 Vgl. auch Schütz (1974, 282), allerdings nur mit Bezug auf „Geräte“: „Ein Gerät ist ein Ding um-zu, es dient einem Zweck und um dieses Um-zu willen wurde es erzeugt.“ (Dazu mehr unten, im 5. Abschnitt dieses Kapitels.) „Natürliche Ressourcen“ wurden zwar nicht erzeugt, werden aber ebenfalls in – wenn auch offenere – Zweckzusammenhänge eingerückt und gewinnen erst so neue, soziale Eigenschaften hinzu. 151 Zum Konzept der bricolage mit Blick auf Reorganisation vgl. Ortmann u. a. (1990, 372 ff und passim); Julian Orr (1996, 3, 11 f, 120 ff, 157 f) bezieht es auf die Interaktion zwischen Mensch und Maschine im Rahmen von Reparaturund Wartungsarbeiten.
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zudenken, wie wir sie bei den Regeln gebraucht haben: Leere und Fülle, Allgemeines und Besonderes, Typus und Schema, Anwendung und Wendung, Potential und Aktualisierung, Situation und Kontext, Différance und Supplément. Das bedeutet, dass wir im Gebrauch einer Ressource als Handlungs- oder Produktionsmittel eine weitere, eine mitlaufende Produktion in Gang setzen, die Produktion nämlich einer Gebrauchsweise, die alt oder neu sein mag, bekannt oder unbekannt, unsere ganz ureigene idiosynkratische oder eine verallgemeinerbare. Diese scheinbar sekundäre, andere, stumme Produktion ist das beherrschende Thema in Michel de Certeaus Buch „Kunst des Handelns“. Ressourcen determinieren, trivial genug, das Handeln so wenig wie Regeln, sondern restringieren und ermöglichen es. Dann aber ist ihre Anwendung so wenig sekundär, bloß abgeleitet, wie die Anwendung der Regel, sondern sie sind von ihr als einem Supplément auf konstitutive Weise abhängig: von jener praktischen Anwendung, die dem Mittelcharakter des Mittels angeblich nichts weiter soll hinzufügen können. Es folgt weiter, dass dieser Mittelcharakter einer beständigen Verschiebung und Veränderung in der und durch die Anwendung unterliegt, und so kann es geschehen, dass, was vor 1989 eine Mauer war, am 9.11. 1989 Fahrradweg und Tanzboden und nach 1989 Souvenir-Steinbruch und Museumsstück wurde; dass aus einem Rheumamittel – Aspirin – eine Kopfschmerztablette und später ein Mittel zur Herzinfarkt-Therapie wurde; aus einem Baumstamm ein Rad; aus einem von Hand gepflückten Strauch, einem von Hand gemähten Weizenfeld ein maschinell geerntetes Stück „Natur“ wird. Und man sieht, dass die Gebrauchsweise auf die Mittel zurückwirkt – der Strauch passt zur Maschine, der Apfelbaum zu effizienter Ernte, der Weizen steht nurmehr kniehoch auf dem Feld, der Frühling droht zum stummen Frühling zu werden. „Diese ‚Fabrikation‘, der hier nachgegangen werden soll, ist eine Produktion, eine Poiesis, – die allerdings unsichtbar ist, da sie sich in den von den Systemen der (televisuellen, urbanen, kommerziellen etc.) ‚Produktion‘ definierten und besetzten Bereichen verbirgt. Unsichtbar, da die totalitärer werdende Verbreitung dieser Systeme den ‚Konsumenten‘ keinen Platz mehr läßt, um deutlich zu machen, was sie mit den Produkten machen. Das Gegenstück zur rationalisierten, expansiven, aber auch zentralisierten, lautstarken und spektakulären Produktion ist eine andere Produktion, die als ‚Konsum‘ bezeichnet wird: diese ist listenreich und verstreut, aber sie breitet sich überall aus, lautlos und fast unsichtbar, denn sie äußert sich nicht durch eigene Produkte, sondern in der Umgangsweise mit den Produkten, die von einer herrschenden ökonomischen Ordnung aufgezwungen werden.“ (De Certeau 1988, 13) Man kann aus dieser Klärung eine wichtige Lehre ziehen, betreffend den innigen Zusammenhang von Regeln und Ressourcen: Ressourcen sind angewiesen auf Regeln ihres Gebrauchs, und wie alle Regeln konstituieren diese sich in praxi, hier also: im Gebrauch der Ressource – und werden dabei von den „unterwandernden“, „wildernden“, wie immer fragmentarischen, experimentellen oder routinierten Alltagspraktiken modifiziert. (Und umgekehrt: Regeln sind angewiesen auf Ressourcen. Regeln und Ressourcen sind einander wechselseitig Supplément – rekursive Konstitution.)
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„Man kann davon ausgehen, daß diese vielgestaltigen und fragmentarischen Aktivitäten bestimmten Regeln gehorchen – Aktivitäten, die von der Gelegenheit und vom Detail abhängig sind, die in den Apparaten, deren Gebrauchsanweisungen sie sind, stecken und sich verstecken und die somit keine Ideologie oder eigene Institutionen haben –. Anders gesagt, es muß eine Logik dieser Praktiken geben. Damit stößt man erneut auf das uralte Problem der Kunst oder der ‚Fertigkeit‘ (manière de faire). Von den Griechen über Kant bis zu Durkheim gibt es eine lange Tradition, die sich darum bemüht, die komplexen (und keineswegs einfachen oder ‚armseligen‘) Formalitäten zu definieren, in denen diese Aktivitäten auftreten.“ (De Certeau 1988, 17) Das aber läuft auf nichts anderes hinaus als auf Regeln im Sinne Giddens‘ – nämlich verallgemeinerbare Verfahren der Praxis – plus Anwendungskompetenz, eben eine Kunst des Handelns: „Lektürepraktiken, Umgangsweisen mit dem städtischen Raum, Umgang mit Alltagsritualen, Wiederverwendungen“ (ebd.), die zum Teil verallgemeinerbar sind und, wenn sie innerhalb eines sozialen Systems zusammen mit Ressourcen verallgemeinert werden, zu dessen Struktur gerinnen. Wichtig aber, gerade angesichts der eingangs referierten Kritik am vermeintlichen Ineinsfallen von Struktur und Handlung bei Giddens, ist hier vor allem der Gesichtspunkt der Differenz – tatsächlich sind wir berechtigt zu sagen: der Différance – zwischen Regel und tatsächlicher Praxis, zwischen Ressource und ihrer tatsächlichen (Be-) Nutzung. De Certeau zeigt eine gewissen Neigung, angesichts dieser Differenz seine Sympathien zu verteilen, und zwar zugunsten des Supplément152, zugunsten, genauer gesagt, der Anwender, der Konsumenten. Das rührt daher, dass er die gesellschaftlichen Regelwerke und die Güter des Gebrauchs irgendwie als kolonialistische Hervorbringungen auffasst. Habermas‘ Kolonialisierung der Lebenswelt kommt einem in den Sinn. Tatsächlich zieht bereits eines seiner Eingangsbeispiele eine explizite Parallele zu kolonisierten Völkern – und zu deren behutsam subversiven Taktiken: „Vor langer Zeit hat man zum Beispiel den zweideutigen Vorgang untersucht, der den ‚Erfolg‘ der spanischen Kolonisatoren bei den indianischen Völkern unterlaufen hatte: unterwürfig und sogar bereitwillig machten diese Indianer aus den rituellen Handlungen, Vorstellungen oder Gesetzen, die ihnen aufgezwungen worden waren, oft etwas ganz anderes als der Eroberer bei ihnen erreicht zu haben glaubte; sie unterwanderten sie nicht, indem sie sie ablehnten oder veränderten, sondern durch die Art und Weise, wie sie sie zu Zwecken und mit Bezugspunkten gebrauchten, die dem System, welchem sie nicht entfliehen konnten, fremd waren. Innerhalb des Kolonialsystems, das sie äußerlich ‚assimilierte‘, blieben sie Fremde; ihr Gebrauch der herrschenden Ordnung war ein Spiel mit deren Macht, welche sie nicht abweisen konnten; sie entflohen dieser 152 De Certeau bezieht sich nur gelegentlich explizit auf Derrida, spricht aber an einer bezeichnenden Stelle, bei der Erörterung des Verhältnisses von Handeln und Struktur im Sinne Bourdieus, ausdrücklich von einem „supplementären Bereich“, den man – und auch Bourdieu – benötige, um zu erfassen, dass „irgendetwas (...) die Praktiken den Strukturen annähert und dennoch ihr Auseinanderklaffen erklärt“ (de Certeau 1988, 124) – bei Bourdieu ist das der Wissenserwerb, bei de Certeau die Kunst des Handelns.
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Ordnung, ohne sie zu verlassen. Die Kraft ihrer Differenz lag in der Art und Weise des ‚Konsums‘. Nicht ganz so ausgeprägt, gibt es auch in unseren Gesellschaften eine ähnliche Zweideutigkeit bei dem Gebrauch, den bestimmte Volksschichten von den Kulturen machen, die ‚Eliten‘ als Sprachproduzenten verbreiten und aufzwingen.“ (De Certeau 1988, 13 f) Hie die herrschende Ordnung einschließlich offiziöser Vorstellungen von dieser Ordnung, da, in deutlicher Differenz, die „sekundäre Produktion, die in den Anwendungsweisen verborgen ist“ (ebd., 14) und die de Certeau mit Vokabeln wie „Wildern“ (ebd., 12, 27), „Poiesis“ (13), „populäre Praktiken“ (16), „untergründige Formen“ (16), „zersplitterte, taktische und bestehende Kreativität“ (16), „Netz einer Antidisziplin“ (16), „Kunstfertigkeit“ (17) belegt. Die Lautlosigkeit, Verschwiegenheit, Stummheit dieser sekundären Produktion ist Ausdruck dieser Herrschaftsverhältnisse, innerhalb derer keiner der beiden Seiten daran gelegen sein kann, die Dinge zur Sprache zu bringen: die Kolonisatoren nicht, weil sie Revolten zu vermeiden haben, die Kolonisierten nicht, weil sie den Hauch der Subversivität nicht aufs Spiel zu setzen wollen, mittels derer sie ihre Reservate schützen. Im Lichte der Certeauschen Analyse erscheint die stumme Produktion alltäglicher Gebrauchsweisen als Resultante eines machtpolitischen Kompromisses oder Tauschs: Unterwerfung gegen sekundäre Subversivität, und man kann sich fragen, ob die begrenzte Subversion begrenzt bleibt. Das ist eine offene, eine empirische Frage. Ein Beispiel von verdichtender Qualität ist der ordnungswidrige Gebrauch, den die Mühseligen und Beladenen von jenem städtischen Raum machen, den die amtliche Planung vorgesehen und ihnen zugedacht hat, vom Märkischen Viertel und der Neuen Vahr bis zu Kreuzberg, St. Pauli oder der Bronx, ein Gebrauch, der diesen Wohnraum erst bewohnbar macht, so lebenswert manchmal, dass er „in“ wird und eine innerstädtische Migrationsbewegung auslöst, der die Armen wiederum zum Opfer fallen, die dann wieder woanders versuchen müssen, „die Kraft ihrer Differenz“ zur Geltung zu bringen, an einem Ort, der durch ihr Auftauchen in Gefahr gerät, „out“ zu werden153. So wird de Certeaus Buch zu einem kleinen Denkmal, das er den verkannten Produzenten setzt, den Dichtern ihrer eigenen Angelegenheit, den stillschweigenden Erfindern eigener Wege durch den Dschungel der funktionalistischen Rationalität (de Certeau 1988, 21). Es kann die Erinnerung daran wahren helfen, dass weder Gesetz- noch Befehlsgeber noch die Planer, Designer, Erfinder, Produktentwickler, Strategen und „Produzenten“ unserer Städte und Straßen, unserer Produkte und Konsumgewohnheiten das letzte Wort haben, sondern: wir selbst, wir alle. Certeaus Verteilung der Gewichte und der Sympathien allerdings enthält bei aller partieller Berechtigung zwei verschwiegene Verallgemeinerungen, die wir nicht mitmachen sollten – und die wir auch dann nicht mitzumachen brauchen, wenn wir de Certeaus Motiv treu bleiben wollen. Die erste dieser Verallgemeinerungen lautet: Die Opposition Produktion-Gebrauch (Produzenten-Konsumenten) sei rein durchzuführen und decke sich mit der 153
Zum Konzept der Stadt und zu urbanen Praktiken vgl. de Certeau (1988, 179 ff).
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Opposition Kolonisatoren-Kolonisierte. Das trifft natürlich nicht zu. Auch in der Produktion machen die Produzenten vielmehr ihrerseits Gebrauch, nämlich von Produktionsmitteln, und erzeugen dabei bekanntlich Produktions-Weisen, die seit Frederick Winslow Taylor das Stigma der Herrschaftlichkeit tragen. Erntegerecht gezüchtete Sträucher, Obstbäume, Getreidesorten dienten mir ja oben schon als Beispiel dafür, und das Thema „Chemie in der Landwirtschaft“ wäre ein weiteres, das die Rückwirkung dieser Produktionsweisen (Gebrauchsweisen von Produktionsmitteln) auf die Produkte demonstriert. Die zweite Verallgemeinerung lautet: Die sekundäre, stille Produktion im Konsum und durch den Konsum, die Produktion von Gebrauchsweisen der Konsumenten, habe eo ipso eine positive moralische und kreative Qualität, und das unterschätzt meines Erachtens die destruktive Macht der Unwirtlichkeit unserer Städte und Produktionsstätten. Sich darin einrichten, heißt auch Drogenkonsum, Gewalt, Kriminalität, heißt vielleicht stundenlanges Fernsehen oder ungesunde Ernährung, und auch das sind Weisen des Gebrauchs der Güter, Weisen, die von den Konsumenten gewählt oder jedenfalls praktiziert werden. Übrigens lässt sich auch am Beispiel der Kette Betriebssystem/Anwendungssoftware/ Nutzung der Anwendungssoftware leicht sehen, dass die Bewegung hin zur Anwendung notwendiges Moment jedweden, keineswegs nur eines subversiven Umgangs mit Ressourcen ist. Tatsächlich sind auf diesem Wege weitere Ausdifferenzierungen von Kettengliedern denkbar, die der praktischen Anwendung im besonderen Falle näher oder ferner sind, zum Beispiel die Ausdifferenzierung der Anwendungs- in Standardsoftware und Eigenentwicklungen, oder die Implementationsexpertise spezialisierter Software-Häuser und Beratungsunternehmen. Wir müssen de Certeaus Idee daher von ihren sympathischen, aber ein wenig idyllischen Sympathien befreien und die Dinge kühler analysieren. Dann bleibt immer noch und erst recht ein reicher Gewinn in Gestalt der Einsicht in die konstitutive, nicht bloß abgeleitete und sekundäre Rolle seiner stillen Produktion (ob diese nun zum Guten führt oder gerade nicht). Diese Idee führt de Certeau am Fall des Schreibens und Lesens – Lesen als „stille Produktion“ (26), als Wildern in Texten (27) – durch; am Fall des Gebrauchs der Sprache im Sprechen; am Funktionieren von Macht und Disziplin im Sinne Foucaults, dem er eine Überbewertung der Disziplinarmacht anlastet, weil er gegenläufige Mikropraktiken vernachlässige (de Certeau 1988, 15 f); an Alltagspraktiken wie Sich Unterhalten, Wohnen, Kochen, Unterwegssein, und immer läuft die Einsicht mit, dass es sich bei all diesen Praktiken, bei allem sozialen Handeln um „Signifikationspraktiken“ (ebd., 21) handelt. Das ist der Kern der Angelegenheit. Ressourcen, Wozudinge treten in Sinnzusammenhängen auf, ohne Sinn sind sie sinnlos, aber was ihr Sinn ist, ihr Zweck, ihre Funktion, ihr Ausdruckspotential, ihr Charakter als Lustobjekt, als Quelle der Angst, als Instrument der Befreiung oder als Fessel, als derridaeskes Pharmakon (Derrida 1995) – Medizin oder Gift –, das alles entscheiden die Menschen erst in diesen Praktiken-einschließlich-Signifikation: in ihren Weisen der Welterschließung. Ressourcen sind mehrdeutig wie Regeln, und beide sind mehrdeutig wie Texte. Thomas Schelling (1986) hat den Geist als Organ der Konsumtion beschrieben: „(...) we (...) consume by thinking.“ (193) Das Bemerkenswerte an seiner Beschreibung ist, dass er nicht umhin kann, den Geist zugleich als Produzenten, den Prozess der Konsumtion als Prozess der Produktion, nämlich der Produktion von Befriedigung zu beschreiben: Der
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Geist gilt ihm als „information processing and reasoning machine“ und als „pleasure machine or consuming organ, the generator of direct consumer satisfaction.“ (Ebd.) „Lassie“, „Psycho“, „The Wizard of Oz“ – als Konsumenten dieser Filme produzieren wir Weisen des Gebrauchs und des Genießens und sind in gewissem Sinne die Endproduzenten der Objekte unserer Begierden. Und tatsächlich lehrt leidvolle Erfahrung, dass kein Autor, keine Regisseurin, kein Erfinder, keine Produzentin den Erfolg eines Buches, eines Films, einer Erfindung, eines Produkts vorab sicherstellen kann, und zwar auch deshalb, weil sie diese „sekundäre“ Produktion nicht sicher steuern können. Auch in der etablierten ökonomischen Theorie wird diese Produktion manchmal gesehen, zum Beispiel von Stigler und Becker (1977, 84): „the ultimate objects of choice are commodities produced by each household with market goods, own time, knowledge, and perhaps other inputs“ (Hervorh. G. O.). Das allerdings verstrickt die Theorie, wie Vanberg (1993, 97) zeigt, in das Problem, dass jenes Wissen und die „anderen Inputs“ höchst subjektiv, variabel und situationsabhängig sind und sich daher für allgemeine Handlungserklärungen à la rational choice nicht eignen.
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Technik und Anwendungskontexte. Rekursionen
2 Technik und Anwendungskontexte. Rekursionen Dafür, dass Produkte, und zwar Konsumgüter wie Produktionsmittel, Anwendungs- oder Gebrauchsweisen unterworfen werden, die ihren „ursprünglichen“ Sinn – aber was könnte hier „ursprünglich“ heißen?154 – ergänzen, modifizieren, ersetzen, und zwar in Abhängigkeit von situativen, kontextuellen Umständen – dafür, dass dies nicht eine spitzfindige Idee paradoxieverliebter Sonderlinge des Wissenschaftsbetriebes ist, sehe ich kein schlagenderes Beispiel als die moderne Technikforschung. Sie hat es in den letzten beiden Jahrzehnten zu der Einsicht gebracht, dass Prozesse der Technikgenese nicht angemessen erforscht und verstanden werden können, wenn man die zuvor unterschätzte und vernachlässigte Phase außer Acht lässt, in der eine technische Innovation in Anwendungskontexte eingerückt – die Technikforscher sagen: rekontextualisiert und geschlossen – wird, nachdem Forschung und Entwicklung zunächst gerade von einer gewissen Kontextfreiheit – Dekontextualisierung – leben, der Freiheit vom Druck unmittelbarer Anwendbarkeit. Dass im Zuge dieser Rekontextualisierung rekursive Schleifen zurück zur Forschung, Entwicklung und Erfindung ausgelöst werden, und dass beim Durchlaufen dieser Schleifen die „ursprüngliche“ Gestalt der Innovation noch einmal, und vielleicht: wieder und wieder, verändert wird, woraufhin wiederum Gebrauchsweisen sich sei es verfestigen, sei es verändern, sei es neu etablieren, das eben gehört zum inzwischen gesicherten Erkenntnisbestand der Technikforschung (s. etwa Dierkes, Hoffmann 1992). Gibbons (2000) spricht, mit Blick auf solche Anwendungskontexte, von „context-sensitive science“ und postuliert einen neuen Modus – „Modus 2“ – der Wissensproduktion heute, da
154 Man könnte an die erste Idee des Erfinders denken. Nicht alles aber wird erfunden, nicht alles, was erfunden wird, von einer originären Nutzungsidee von Anfang an geleitet, und nicht jede frühe Nutzungsidee bleibt später relevant. Und was, wenn am Anfang die „Lösung“ gestanden hat und erst danach passende Probleme erfunden worden sind?
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diese Anwendungszusammenhänge von vornherein in Innovationsprozesse einbegriffen werden, etwa in der Form von Innovationsnetzwerken (Gibbons et al. 1994; Bender 2001). Anwendungskontexte, das heißt: Die Anwendung stellt ein Produkt, eine Innovation in ein Verhältnis zu den Umständen ihrer Nutzung wie der Sprechakt die Sprache zu den Umständen des Sprachgebrauchs. Weder das elektrische Licht noch der Kinematograph noch das Telefon hatten während ihrer Geburtsstunden den Sinn und die technische Gestalt, die sie schließlich erhielten, als sie in Anwendungskontexte eingerückt wurden. Die Filmkamera begann als Apparatur aus zwölf parallel aufgestellten Kameras, mit denen der englische Fotograf Edward James Muybridge 1877 die Bewegungen eines trabenden Pferdes festhielt. Als 1882 der französische Physiologe Etienne-Jules Marey zwölf Phasen des Vogelflugs aufnahm, ging es um den Versuch, nach dem Prinzip des Vogelflugs einen Flugapparat zu bauen. An einen Durchbruch zu so etwas Ähnlichem wie Kino war indes erst zu denken, nachdem ab 1895 die Gebrüder Skladanowksy in Berlin, Lumière in Paris und Jenkins in den USA Projektoren entwickelt hatten, die den Film auf Wände projizieren konnten. Daran erkennt man, dass zu den Anwendungskontexten auch komplementäre Techniken zählen können – ein wichtiger Fall in der Technikgenese. Das alles sehen wir leichter an Techniken, die heute entwickelt werden und deren Bedeutung und technische Auslegung wir noch gar nicht absehen und daher noch nicht für selbstverständlich halten können – an gentechnischen, mikro- und nanotechnischen und computertechnischen Innovationen etwa. Der Sinn und die technische Ausgestaltung der Fernbedienung ließ sich nicht recht absehen, bevor die Anwender ihre Kreativität entfaltet und es zum Gerät eines Sports gemacht hatten, den es zuvor gar nicht gab: des Zappens. Das hatte Rückwirkungen nicht nur auf das Gerät selbst, sondern auf die Gestaltung der Fernsehapparate, des Fernsehens, der Programme, einzelner Filme – der sonntägliche „Tatort“ muss die erste Leiche innerhalb der ersten drei Minuten bringen, sonst sind die Zuschauer weg – und Berichte: Reden darf man im Fernsehen über alles, aber nicht über 1‘30. Die Fernbedienung machte es erforderlich, Filme während des laufenden Abspanns durch Trailer zu unterbrechen, die auf die nächste Sendung hinweisen, die Produktion solcher Trailer differenzierte zu einem eigenen Gewerbe aus, mit Unternehmen, deren High Tech-Ausrüstung sich mit der der Nasa messen kann. Vom Fernseher griffen Fernbedienungen auf das Radio, die Videoanlage und das Auto über, und wir wissen nicht, wo die Grenzen der Kreativität der Nutzer liegen werden. Das Internet ist eine Kreation, bei der es schwerfällt, den ursprünglichen Sinn noch zu enträtseln und Produzenten und Konsumenten überhaupt auseinanderzuhalten. Die Computer- und Softwareindustrie erzeugt Produkte, bei denen die Mitwirkung der Konsumenten an der Vollendung der Produktentwicklung – vulgo: Fehlerbeseitigung – von vornherein einkalkuliert ist, und diese Philosophie greift von hier auf mehr und mehr Branchen über. Am Bankautomaten beteiligt sich der Kunde an der Erzeugung von Dienstleistungen der Bank, bei der Entwicklung von Werkzeugmaschinen, Großanlagen und anderen Investitionsgütern sind Anwendergesichtspunkte schon seit jeher in die Entwicklung eingeflossen. Und wieder müssen wir uns ein neues Modewort merken: prosumer. Es lohnt sich, über die zunehmende Verwendung des Wortes „Anwendungen“ im Zusammenhang mit der Entwicklung von Produkten nachzudenken. Welche Anwendungen erwarten die Unternehmen, die für UMTS-Lizenzen Milliardensummen geboten haben?
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Werden die „User“ tatsächlich diese oder ganz andere Anwendungen favorisieren? Händeringend suchen PC-Hersteller nach neuen Anwendungen für ihre immer mächtigeren Geräte mit ihren immer schnelleren Prozessoren. Welche Anwendungen werden die pharmazeutischen, die bio- und die nanotechnischen Entwicklungen erschließen? All das bleibt zum Teil der Certeauschen sekundären Produktion überlassen, die planend und steuernd nicht wirklich zu antizipieren ist. Ich interpretiere es als weitere Steigerung der Reflexivität der Moderne (Giddens), dass dieser Anteil der Konsumenten und Nutzer an der Vollendung von Produktentwicklung und Produktion mehr und mehr einkalkuliert wird. Diese reflektierte Art der Supplementierung lässt sich als praktische Selbst-Dekonstruktion linearer Entwicklungs- und Planungsansätze auffassen, deren Unzulänglichkeit gleichsam uno actu erkannt und behoben wird – behoben allerdings nur im Sinne einer Ergänzung oder Ersetzung, mit neuen Folgeproblemen wie zum Beispiel zunehmender Mängel und „Lücken“ entwickelter Produkte oder neuer Riskanz angesichts der Unsteuerbarkeit der „stillen Produktion“ von Gebrauchsweisen. Produkte werden nicht einfach gebraucht, sondern im und durch den Gebrauch verändert, manchmal geplant, manchmal ungeplant, manchmal über rekursive Schleifen im Laufe der Zeit, manchmal einfach durch kreativen Umgang mit einem zunächst unveränderten Gerät. Der Gebrauch erschließt und erzeugt Ressourceneigenschaften, die nur zuvor verschlossen waren, aber das kann er nur in Handlungs- oder Funktionskreisen, die sich im Handeln schließen und andere Möglichkeiten ausschließen.
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Produktion und Konsumtion
3 Produktion und Konsumtion Die folgende „flach auf der Hand liegende Vorstellung“ war für den Marx der „Grundrisse“155 „allerdings ein Zusammenhang, aber ein flacher“ (Marx o. J., 10 f): „Die Produktion bringt die den Bedürfnissen entsprechenden Gegenstände hervor; die Distribution verteilt sie nach gesellschaftlichen Gesetzen; der Austausch verteilt wieder das schon Verteilte nach dem einzelnen Bedürfnis; endlich in der Konsumtion tritt das Produkt aus dieser gesellschaftlichen Bewegung heraus, wird direkt Gegenstand und Diener des einzelnen Bedürfnisses und befriedigt es im Genuß. Produktion erscheint so als der Ausgangspunkt, Konsumtion als der Endpunkt, Distribution und Austausch als die Mitte (...)“ (Ebd., 10). Demgegenüber macht Marx den Gesichtspunkt geltend, dass die Produktion auch Konsum (nämlich Konsum von Produktionsmitteln) und der Konsum auch Produktion ist, und dies letztere nun in mehrfacher Hinsicht: Der Konsum produziert „in einer oder der anderen Art“ (ebd., 12)
155 „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ – der „Rohentwurf“, den Marx nie veröffentlicht und den das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED als Herausgeber erst 1983 in die „Marx Engels Werke“ (MEW) mit aufgenommen hat. Ich zitiere nach der EVA-Ausgabe (Marx o. J.).
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den Menschen und seine Arbeitskraft; das Produkt, das nämlich „den letzten finish in der Konsumtion“ erhält156; die Produktion, und dies in doppeltem Sinne, „1) indem erst in der Konsumtion das Produkt wirkliches Produkt wird. Z. B. ein Kleid wird erst wirklich Kleid durch den Akt des Tragens; ein Haus, das nicht bewohnt wird, ist in fact kein wirkliches Hause; also als Produkt, im Unterschied von bloßem Naturgegenstand, bewährt sich, wird das Produkt erst in der Konsumtion. Die Konsumtion gibt, indem sie das Produkt auflöst, ihm erst den finishing stroke; denn Produkt ist die Produktion nicht als versachlichte Tätigkeit, sondern nur als Gegenstand für das tätige Subjekt; 2) indem die Konsumtion das Bedürfnis neuer Produktion schafft.“ (Marx o. J., 13; erste Hervorh. G. O.)
Das sind Bestimmungen von einer Umsicht und einem Scharfblick, die immer noch den laufenden Wissenschaftsbetrieb blamieren. Die letztere Bestimmung bedeutet auch: Der Konsum erzeugt jene spezifischeren Bedürfnislagen, die über bloße Naturbedürfnisse – Hunger, Durst et cetera – hinausgehen und sodann die Ressourceneigenschaften entsprechend zu spezifizieren erlauben. Man beachte, dass hier mehr als ein Hauch an Rekursivität zu spüren ist: Bedürfnisse treiben Produktionen und dann Konsum, der Konsum aber treibt Bedürfnisse hervor157). „Dem entspricht von Seiten der Produktion, daß sie 1) der Konsumtion das Material, den Gegenstand liefert. Eine Konsumption ohne Gegenstand ist keine Konsumtion; also schafft nach dieser Seite, produziert die Produktion die Konsumtion. 2) Aber es ist nicht nur der Gegenstand, den die Produktion der Konsumtion schafft. Sie gibt auch der Konsumtion ihre Bestimmtheit, ihren Charakter, ihren finish. Ebenso wie die Konsumtion dem Produkt seinen finish als Produkt gab, gibt die Produktion den finish der Konsumtion. Einmal (i. Orig. gesperrt, G. O.) ist der Gegenstand kein Gegenstand überhaupt, sondern ein bestimmter Gegenstand, der in einer bestimmten, durch die Produktion selbst wieder [zu] vermittelnden Art konsumiert werden muß. Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabeln und Messer gegeßnes Fleisch befriedigt, ist ein andrer Hunger als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt. Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv. Die Produktion schafft also den Konsumenten. 3) Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis. Wenn die Konsumtion aus ihrer ersten Naturroheit und Unmittelbarkeit heraustritt – und das Verweilen in derselben wäre selbst noch das Resultat einer in der Naturroheit steckenden Produktion –, so ist sie selbst als Trieb vermittelt durch den Gegenstand. Das Bedürfnis, das sie nach ihm fühlt, ist durch die Wahrnehmung des156 „Eine Eisenbahn, auf der nicht gefahren wird, die also nicht abgenutzt, nicht konsumiert wird, ist nur eine Eisenbahn dynamei, nicht der Wirklichkeit nach.“ (Marx o. J., 12) Und ‚dynamei‘ wäre zu übersetzen mit: der Kraft oder der Möglichkeit nach – potentiell. 157 Vgl. dazu Ortmann (1995a, 83 f, 98 ff).
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selben geschaffen. Der Kunstgegenstand – ebenso jedes andre Produkt – schafft ein kunstsinniges und schönheitsgenußfähiges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand. Die Produktion produziert die Konsumtion daher, 1) indem sie ihr das Material schafft; 2) indem sie die Weise der Konsumtion bestimmt; 3) indem sie die erst von ihr als Gegenstand gesetzten Produkte als Bedürfnis im Konsumenten erzeugt.“ (Marx o. J., 13 f; Hervorh. G. O.) In Sachen „Subjekt“ klingt da Manches an, das später Foucualt ausgearbeitet hat. Den Punkt 2) nun muss man dem Gedanken de Certeaus als Ergänzung hinzufügen: Die Produktion erzeugt Weisen der Konsumtion. Jedoch darf man, wie wir mit de Certeau gesehen haben, diese Marxsche Idee ihrerseits nicht überziehen. Gewiss geben die Produkte, gibt daher die Produktion dem Konsum ein gewisses finish – eine Schließung! –, aber, wie wir nun sagen können, sozusagen nicht die letzte. Das tun sozusagen erst die Kosumenten selbst im Konsum. Zwischen das rohe Fleisch und Messer-und-Gabel schiebt sich noch deren Gebrauchsweise, die weder durch das Fleisch noch durch Messer und Gabel vollständig determiniert ist. Kochen und Essmanieren bleiben Felder der de Certeauschen „Kunst des Handelns“. Dass der Konsum Gebrauchsweisen produziert, dieses Gegenstück zur Produktionsweise158, hat Marx mit großem Scharfblick gesehen, dass auch diese Gebrauchsweisen noch angewandt werden müssen und darin ein subversives oder jedenfalls differantielles Potential steckt, hat er bei aller Subtilität seiner Analyse am Ende doch nur aus den Augenwinkeln gesehen.
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Trajektorien des Gebrauchs
4 Trajektorien des Gebrauchs Wenn ich in Regel und Ausnahme159 frage, wie wir die Integration von Organisationen und ganzen Gesellschaften noch denken können, wenn normativ eingespielter Konsens oder der vielzitierte Parsonianische Wertehimmel als Antwort ausscheidet oder jedenfalls nicht ausreicht, weil Normen und Werte in ihrer und durch ihre Anwendung verletzt und einer beständigen Différance unterworfen werden müssen, dann suche ich dort die Antwort im Konzept einer sich beständig verändernden und verschiebenden und gleichwohl und eben dadurch eine gewisse, allerdings prekäre Stabilität wahrenden Trajektorie, die sich als unintendiertes Resultat des Handelns der vielen regeleinhaltenden und -verletzenden Akteure ergibt. Das Frappante an der Arbeit Michel de Certeaus ist für mich, dass sie eine ganz ähnliche Denkfigur für das Verhältnis des Produzierten und der modifizierenden, ergänzenden und ersetzenden Weisen seines Gebrauchs enthält.
158 Vgl. Wittemann (1996), der von Konsumformen gesprochen und vorgeschlagen hat, dieses Konzept für eine Erweiterung des Problemhorizonts der Industriesoziologie zu nutzen – leider bisher ohne große Resonanz. 159 Ortmann (2003). Vgl. auch oben, den Schluss des Kapitels „Organisation und Dekonstruktion“.
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„Als verkannte Produzenten, Dichter ihrer eigenen Angelegenheiten und Erfinder ihrer eigenen Wege durch den Dschungel der funktionalistischen Rationalität produzieren die Konsumenten etwas, das die Gestalt jener ‚Irr-Linien‘ hat, von denen Deligny spricht. Sie folgen ‚unbestimmten Bahnen‘, die scheinbar sinnlos sind, da sie in keinem Zusammenhang mit dem bebauten, beschriebenen und vorfabrizierten Raum stehen, in dem sie sich bewegen. Dabei handelt es sich um Sätze, die an einem Ort, der von Techniken, die Systeme erzeugen, organisiert wird, nicht vorhersehbar sind. Auch wenn ihr Vokabular aus vorgegebenen Sprachen besteht (der Sprache des Fernsehens, der Zeitung, des Supermarktes oder der städtischen Organisationsformen) und auch wenn sie sich im Rahmen der vorgeschriebenen Syntaxen bewegen (Zeitmodi des Stundenablaufes, paradigmatische Organisationen von Orten etc.), bleiben diese ‚Quergänge‘ heterogen gegenüber den Systemen, in die sie eindringen und in denen sie trickreich differente Interessen und Wünsche entwerfen. Sie zirkulieren, kommen und gehen, fließen über und münden in einem vorgeformten Relief: schäumende Wogen eines Meeres, die zwischen die Felsen und in die Labyrinthe einer bestehenden Ordnung eindringen. Von diesen Strömungen, die im Prinzip von den institutionellen Rastern reguliert werden, welche sie in Wirklichkeit nach und nach abtragen und verschieben, wissen die Statistiken nahezu nichts. Es handelt sich dabei eigentlich nicht um eine Flüssigkeit, die in den Lücken fließt, sondern um andersartige Bewegungen, die die Elemente des Terrains benutzen.“ (De Certeau 1988, 85; erste Hervorh. G. O.) Nur auf den ersten Blick bieten diese Alltagspraktiken das chaotische Bild nichts-als-zufälliger Bewegungen: „als ob sie – da sie nicht mehr von einer sie umgebenden Gemeinschaft fixiert werden – aus der Bahn gerieten, herumirrten und die Konsumenten mit den Immigranten in einem System auf eine Stufe stellten, das zu groß ist, als daß es das ihre sein könnte, und das zu engmaschig ist, als daß sie ihm entkommen könnten. Aber sie führen eine brownsche Bewegung in dieses System ein.“ (De Certeau 1988, 24) Sie schlagen selbst eine Bahn ein, nämlich „eine zeitliche Bewegung in einem Raum (...), das heißt die Einheit einer diachronischen Aufeinanderfolge von durchlaufenden Punkten und nicht die Figur, die diese Punkte an einem angenommenen synchronischen oder achronischen Ort bilden.“ (De Certeau 1988, 86) Certeau zeigt große Aufmerksamkeit für die hier gebotene „Temporalisierung“ (ebd., 19) ohne indes über jenes theorietechnische Instrumentarium zu gebieten, das die jüngere Komplexitätstheorie inzwischen zur Verfügung stellt160. Er nähert sich dem aber soweit als möglich an, wenn er an genau dieser Stelle die Frage der strategischen Abhängigkeit vom 160
Vgl. das Kapitel „Dekonstruktion und Selbstorganisation“ in Ortmann (2003).
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strategischen Handeln anderer aufwirft – „etwas Eigenes in einer Welt umreißen, die von den unsichtbaren Mächten der anderen verhext ist“ (ebd., 88) – und in diesem Zusammenhang (ebd., 368) die Neumann-Morgensternsche Spieltheorie zitiert: „Es gibt nur Strategien, die die Strategien des Anderen einbeziehen“. Auch wenn er von hier aus nicht zu einem konzisen Begriff der Trajektorie vordringt, (sondern sich in einer hier eher hinderlichen Unterscheidung der Strategien von Taktiken verliert, hinderlich, weil sie verdeckt, dass beiden, den Strategien und den Taktiken, die in der Luft liegenden Aporien doppelter Kontingenz zu schaffen machen,) steht das Problem dank der wichtigen Unterscheidung von Produkten und ihrem (womöglich „subversiven“) Gebrauch nun klar vor Augen: Wie können sich Gebrauchs- oder Anwendungsweisen etablieren, also als übliche, herrschende, gemeinhin gepflegte durchsetzen, wenn das von den Ressourcen so wenig determiniert werden kann wie normenkonformes Handeln durch Normen, regelgerechtes Handeln durch Regeln? Das scheint nur deshalb nicht frag- und merkwürdig, und daher nicht erklärungsbedürftig, weil es im Alltag immer schon geschehen ist und deshalb vom alltagspraktischen Verständnis für selbstverständlich genommen werden kann. Eine Antwort muss daher auch die selbstverständliche Sicherheit in Rechnung stellen und erklären können, mit der wir uns im Alltag der weitaus meisten Produkte fast immer auf konventionelle Art bedienen, und sie kann es, wiederum, mit Hilfe der Konzepte eingespielter, in Trajektorien einmündender Bewegung, in der Mimesis eine wichtige Rolle spielt. Mimetisch lernen wir den Umgang mit den uns umgebenden Produkten.
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Erzeugung und Erzeugnis
5 Erzeugung und Erzeugnis Nur en passant notieren kann ich hier, dass die zirkuläre Logik der Rekursivität und Supplementarität, die ich als die gebotenen Denkfiguren vorschlage, eine genaue Entsprechung in der Bestimmung des Verhältnisses von Mittel und Zweck haben, auf die ich anlässlich einer Erörterung der Formen und Zwecke der Produktion aufmerksam gemacht habe (Ortmann 1995a, 112 ff, 115 ff). Ich möchte diese Logik nun mithilfe der Schützschen Unterscheidung von Erzeugung und Erzeugnis näher beleuchten, um das Verständnis zu schärfen, warum Regeln und Ressourcen in dieser Hinsicht so analog „funktionieren“. Dazu knüpfe ich an die Schützsche Einsicht an, dass wir um so mehr auf Typisierungen und Deutungsschemata angewiesen sind, je weiter ein Handlungsablauf oder eine Person sich aus unserer – durch Ko-Präsenz ausgezeichneten – Umwelt entfernt und dabei in die Anonymität entschwindet. Schütz unterscheidet geradezu Idealtypen mit immer höheren Graden der Anonymität – soziale Kollektiva wie Staat, Presse und Wirtschaft sind in dieser Terminologie Idealtypen mit bereits hohem Anonymitätsgrad, und die deutsche Sprache erst recht. Dass und inwiefern Sprache „ohne Subjekt“ ist, diese vermeintlich so aufregende Einsicht lässt sich bei Schütz in trockenen Worten nachlesen, verallgemeinert für jedes Kulturobjekt:
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„Dem objektiven Sinnzusammenhang der idealen Gegenständlichkeit eines Kulturgebildes entspricht kein subjektiver Sinnzusammenhang eines alter ego in der Mitwelt. Wohl aber weist es als objektiver Sinnzusammenhang, als Erzeugnis, auf einen in hohem Maß inhaltsleeren und in hohem Maß anonymen Idealtypus seines Erzeugers zurück.“ (Schütz 1974, 281) Sprache verweist auf Sprecher, nicht jedoch auf ein Subjekt, einen „Sprachgeist“. Und eben dies, also die Unmöglichkeit, auf einen subjektiv gemeinten Sinn zu rekurrieren, gilt, wie für jedes Kulturobjekt, auch für jedwedes Artefakt, also auch für jedes Gerät, also auch für jedwede soziale Ressource im oben präzisierten Sinn. „ (...) jedwedes Artefakt, also auch jedes Gerät (...) weist aber nicht nur auf den Erzeuger zurück, sondern auch auf den idealtypisch zu erfassenden Benützer, welche beiden personalen Idealtypen jedoch ganz und gar anonym bleiben. Jedermann, der sich des Gerätes in angemessener Weise bedient, ist imstande, mit ihm typische Wirkungen zu erzielen. Ein Gerät ist ein Ding um-zu, es dient einem Zweck, und um dieses Um-zu willen wurde es erzeugt. Geräte sind also Resultate vorvergangener menschlicher Handlungen und Mittel zur Verwirklichung von in der Zukunft liegenden Handlungszielen. Aber von diesem objektiven Sinnzusammenhang, von der Mittel-Ziel-Relation her, in welche das Gerät eingestellt wird, wenn von seinem ‚Sinn‘ gesprochen wird, ohne daß dabei fremdes menschliches Bewußtsein überhaupt in den Blick gefaßt würde, kann die Wendung zum Typus des Benützers oder Erzeugers vollzogen werden. Es ist meines Erachtens eine unzulässige Redeweise, von dem Sinn eines Gerätes in der gleichen Bedeutung zu sprechen, in der vom Sinn eines Handelns gesprochen wird“ (Schütz 1974, 281 f). Soll heißen: Dem objektiven Sinnzusammenhang, in den das Gerät gestellt ist, entspricht kein subjektiv gemeinter Sinn. Der oben, in Fußnote 154, verworfene Versuch, auf den vom Erfinder gemeinten Sinn zu rekurrieren, erweist sich als hilflose Geste vor dem Sinn eines Rades, eines Tisches, eines Computers. Dieser Sinn ist vielmehr – und was wäre daran so schwer einzusehen? – einer Dissemination der Bedeutungen ausgesetzt, die genau so unabschließbar ist, wie das Derrida von der Bedeutung eines jeden Textes behauptet hat. Und der Erfinder eines neuen Werkzeugs ist für dessen Sinn genau so unverzichtbar-und-unmaßgeblich wie der Autor eines Textes für dessen Sinn. Wohl aber sehen wir nun den Bezug von Artefakten, Produkten, Geräten, UmzuDingen, allgemeiner: von Ressourcen einerseits zu Regeln andererseits. Ressourcen sind potentielle Handlungsmittel mit typischen Wirkungen. Dieser ihr objektiver Sinnzusammenhang ist Resultante „vorvergangener menschlicher Handlungen“ und wird durch ihre Anwendung reproduziert und dabei modifiziert, ergänzt und ersetzt. Im Gefolge der Modifikation dieses Sinnzusammenhanges kann es geschehen und geschieht es andauernd, dass das Gerät, die Ressource selbst, nicht nur ihr Sinn und Zweck, verändert wird. Wir sehen nun, dass Certeaus „Wildern“ (in Texten, in Städten, in der Güterwelt) nichts anderes darstellt als Abirrungen und Abweichungen vom offiziell vorgesehenen und/oder vom konventionell eingespielten Typus des Benützers und vom objektiven Sinnzusammenhang der typischen
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Mittel-Ziel-Relation. Daher gilt, dass für Schütz das „Artefakt (...) sozusagen am Endpunkt der Anonymisierungsreihe (steht), in deren Typisierungen sich die soziale Mitwelt aufbaut.“ (Schütz 1974, 282) Die fortschreitende Anonymisierung aber geht „Hand in Hand“ mit „abnehmender Inhaltsfülle“ (ebd.). Ressourcen sind Ressourcen für typische Zwecke, aber diese Idealtypen sind Leerformen, die in der Anwendung gefüllt sein wollen. Dieses Füllen aber enthält alle Tücken derridaesker Supplementarität: Es kann ein An- und Auffüllen, ein Ergänzen sein, aber jederzeit zum Ersetzen werden – genaugenommen ist es immer schon beides. Certeaus Subversion der Produktwelt ist ein Sonderfall der Dekonstruktion.
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Der Zement der Gesellschaft. Ressourcen und Regeln; Regeln und Regelmäßigkeiten
6 Der Zement der Gesellschaft. Ressourcen und Regeln; Regeln und Regelmäßigkeiten Müssen wir dann nicht sagen: Soziale Strukturen sind, in letzter Instanz, nichts als Regelstrukturen, wenn doch Ressourcen bei näherem Hinsehen durch regelmäßige – typische – Gebrauchsweisen geradezu definiert sind?161 Diese Begriffsstrategie kann man natürlich wählen – Niklas Luhmann hat es getan162, und es lohnt sich, die Preise in Augenschein zu nehmen, die er dafür gezahlt hat. Das streife ich im folgenden Kapitel. Vorher möchte ich einen Versuch machen, kategorial dagegen zu argumentieren. Mein Argument lautet zunächst: Dass die Anwendung von Regeln nicht ohne Ressourcen und die Anwendung von Ressourcen nicht ohne Regeln zu denken ist, heißt nicht, dass Beides ineins fällt. Einerseits ist gar nicht einzusehen, warum den Ressourcen der Status des Sozialen aberkannt werden sollte, wenn sie doch, wie hier, ausdrücklich in ihrer Sinnhaftigkeit und Verwendbarkeit in sozialen Zusammenhängen gemeint und definiert sind. Wasser und Sand mögen ja reine Natur sein, erhalten aber neue Eigenschaften, wenn sie in menschliche, soziale, praktische Sinn- und Verwendungszusammenhänge eingerückt werden. Zement ist ohne diesen Sinnzusammenhang nichts als mehr oder minder feste Materie. Als Ressource ist er ein potentielles Mittel, Mauern, Gebäude und Straßen zu bauen. Als Ressource ist er nicht etwas schier Materielles, sondern potentielles Moment sozialer Praxis namens Bauen, allerdings ein „Moment“ von beträchtlicher, nämlich materiell bedingter und sodann ökonomisch verfestigter Beharrlichkeit. Um die etwas plumpe, aber handfeste Metapher zu paraphrasieren, die es zum Titel eines bekannten Buches über Normen – „The cement of society“ (Elster 1989) – gebracht hat: Zement zählt zum Zement der Gesellschaft.
161 Es wird auch umgekehrt erwogen: In ihren Strukturen, Regeln und Routinen steckten wichtige Ressourcen einer Organisation. So pflegt man in der evolutionistischen Ökonomie (Nelson, Winter 1982) und in Teilen des resourcebased-view die Dinge zu sehen. Dagegen ist einzuwenden: Regeln und Routinen sind Handlungsweisen, nicht Handlungsmittel. Wohl aber gibt es mit Blick auf Regeln und Routinen Bestände, die wir als Ressource auffassen müssen: Regelwissen, Anwendungskompetenz, Regelmäßigkeit, Wohlstrukturiertheit, Routiniertheit – Organisationskapital sensu Sadowski (2002), wie man vielleicht sagen könnte. Man sieht aber wieder, wie dicht beide, Regeln und Ressourcen, beieinander liegen. 162 Vgl. dazu die instruktive Erörterung bei Reckwitz (1997, 64 ff).
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Der Unterschied zwischen beiden andererseits besteht darin, dass Regeln nur im Handeln existieren (und, allerdings in einem nur metaphorischen Sinne von „Existieren“, in den Erinnerungen und Erwartungen der Handelnden). Ressourcen dagegen haben eine vom Handeln abgelöste Existenz als Materie oder als so genannte immaterielle oder intangible Ressourcen. Die prominentesten Beispiele für letztere sind Wissen und Können, deren Immaterialität sich allerdings vielleicht nur unserer alltäglichen Wahrnehmungsfähigkeit als solche darstellt, ganz wie die Materialität der Materie, die sich ja unter dem wissenschaftlichen Blick immer wieder aufzulösen scheint. Irgendwie wird Wissen und Können schließlich „gespeichert“, als Potential aktualisierbar vorgehalten, etwa in Form routinisierter, eingespielter, oft: körperlich und/oder psychisch eingeschliffener Engramme und Schemata, die, wie auch immer verteilt, in neuronalen Netzen einen materiellen Niederschlag finden. Überhaupt werden die Vermögen der Menschen in rekursiven Schleifen sozialer Praxis eingeschliffen und weitergegeben (Lernen, Nachahmung, Wiederholung) und so auf Dauer gestellt. Ihre Beständigkeit ist insoweit (immer wieder neu hervorzubringendes) Resultat beständig wiederkehrender sozialer Praxis. Das sieht man am deutlichsten – und schmerzlichsten –, wenn solche Vermögen verloren gehen, weil sie nicht in solcher Praxis erneuert und weitergegeben werden, wie zum Beispiel im Falle der Handwerkskunst oder der weithin verschwundenen Fähigkeit, in Städten Plätze zu bauen, die ihre Bewohner (die „Anwender“) einladen, sie mit Leben zu erfüllen. Man beachte, dass die Beständigkeit von Ressourcen insofern von Regeln und regelmäßiger Praxis abhängt. Regelwissen und anwendungskompetenz löst sich gleichwohl von dieser Praxis ab und existiert als Kompetenz individueller und korporativer Akteure. Ressourcen – sei es ein Sack Zement, sei es erworbenes Wissen – existieren also abgelöst vom Handeln, wiewohl sie erst im Handeln zu Handlungsmitteln – Giddens‘ Fazilitäten – werden und im Übrigen durch Handeln (mit) hervorgebracht werden. Regeln restringieren und ermöglichen kraft ihrer „Eingespieltheit“ und ihrer Normativität, ihres SollensCharakters, ihrer Auferlegtheit (die aber eine gesellschaftliche Tatsache ist und handfeste Sanktionen bei Regelverletzungen nach sich zu ziehen pflegt), Ressourcen nur kraft ihres Seins und der Beständigkeit menschlicher Vermögen. Wissen als Ressource kann sich auf beides erstrecken, restringiert und ermöglicht aber seinerseits nur kraft seines Seins: Ich habe es oder eben nicht; es ist realitätsmächtig oder auch nicht. Regeln stiften Erwartbarkeit, die mit Regelbefolgung und in diesem Sinne mit „Folgsamkeit“ der Akteure rechnet. Ressourcen stiften Erwartbarkeit, die mit Naturgesetzen oder der Beschaffenheit unserer Fähigkeiten rechnet. Regeln beziehen sich insofern auf unser Sollen und Wollen, Ressourcen auf unser Können und Wissen. (Auch Regelwissen ist natürlich eine Ressource. Es bezieht sich auf Regeln – auf Imperative –, die gelten oder nicht gelten.) Ressourcen weisen daher eine Hartnäckigkeit und Restriktionskraft auf, die von der Zählebigkeit und beschränkenden Kraft der Regeln verschieden ist. Letztere sind Resultat jener Folgsamkeit (die angesichts einer, und sei es noch so residualen, Freiheit der Akteure immer ein wenig zur Disposition steht). Erstere sind das Resultat einer zeitlichen Konstanz und Widerständigkeit dessen, was ist (die nicht zur Disposition stehen, sondern allenfalls über eine Veränderung des Seienden modifiziert werden können). Natürlich ist uns dieses Seiende nur via Wahrnehmung und Interpretation zugänglich, und das mag uns weniger – oder mehr! – Freiheit suggerieren als wir handelnd zu Wege bringen können. Wo Autobah-
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nen sind, da wächst kein Gras mehr, und in einem Hochofen kann man keine Brötchen backen. Ackerkrume, Korallenriffe, ökologische Gleichgewichte, die Jahrtausende, vielleicht Jahrmillionen gebraucht haben, um sich herauszubilden, sind, einmal zerstört, wahrscheinlich unwiederbringlich verloren. Dies alles sind soziale Hervorbringungen (oder Destruktionen), Autobahnen, Hochöfen, Äcker und Meere daher insofern Momente sozialer Strukturen, und das schließt ein, dass die Korallen gefährdet, die Meere leergefischt, die Süßwasserreservoirs bald erschöpft und große Teile der Erde zur Wüste geworden sind. Ressourcen und ihre räumliche, zeitliche und soziale Verteilung implizieren soziale Festlegungen, die unsere Handlungsmöglichkeiten heute definieren, teils erweitern, teils verengen. Das hat zur Folge, dass bestimmte Weisen, anders zu handeln, entweder unmöglich werden oder teuer – die Ökonomen sprechen von sunk costs. Es impliziert mehr Festlegung, als es de Certeaus schöne Wendung von den Menschen als Dichtern ihrer eigenen Angelegenheiten durchscheinen lässt, wenn auch weniger, als eine Ideologie technischer Sachzwänge glauben machen möchte. Der Name „Ressourcen“ markiert, trivial genug, unsere Abhängigkeit von der Natur, der Name „soziale Ressourcen“ unsere Abhängigkeit von der zweiten, das heißt: zugerichteten, besonders: technisch zugerichteten Natur, von „gesellschaftlichen Naturverhältnissen“. Dies letztere gerade ist mir willkommen: dass ich zur sozialen Struktur, zur Organisationsstruktur und zu den strukturellen Verfestigungen auch solche zählen kann, die daraus resultieren, dass wir teure Fließbänder, Pressen, Werkzeugmaschinen oder Computersysteme nun einmal angeschafft haben und jetzt nicht mehr so tun können, als hätten wir das nicht getan; dass wir Deutschland mit einem Straßen- und Schienennetz überzogen haben; dass die Bundesregierung in den fünfziger Jahren gegen die Trennung des Schienenverkehrs in Güter- und Personenverkehr und gegen getrennte Schienennetze optiert hat, was heute zu bedauern, aber kaum noch zu korrigieren ist; dass damals die Entscheidung fiel und realisiert wurde, Atomkraftwerke zu bauen; dass wir – um nicht nur von materiellen Ressourcen sprechen – in Deutschland ein anderes Ausbildungssystem und -niveau als anderswo oder in einer Organisation mehr Expertise verfügbar haben als in einer anderen. Das alles restringiert und ermöglicht dauerhaft unser Handeln, es ist Resultat und Bedingung sozialen Handelns, es stiftet Ordnung, Koordination, Erwartbarkeit, Anschlussfähigkeit, es gehört, mit anderen Worten, zur Strukturation des Handelns im Doppelsinn von „Strukturieren“ und „Strukturiertheit“. Und die Existenz, das Fehlen, die Verfügbarkeit, die Knappheit und die Verteilung von Ressourcen in einer Organisation, in einer Gesellschaft, sind oft von großer Beharrlichkeit – nicht unbedingt, aber oft von größerer als Regeln sie stiften könnten. Natürlich rührt meine Theorieoption (Ressourcen zu den sozialen Strukturen zu zählen) daher, dass man sich als Ökonom schwertut, Ressourcenallokation, Effizienz, bei der es ja um In- und Output von Ressourcen geht, die Transformation von Produktionsfaktoren in Produkte („Produktion“), die Verwertung und den Konsum dieser Produkte und Dienstleistungen, Einkommens- und Vermögensverteilungen und schließlich die Ressourcen „Information“ oder „Wissen“ nicht der Struktur einer Organisation oder Gesellschaft zuzuschlagen. Aber auch Machtstrukturen, die Distribution sozialer Positionen, so etwas wie Statusinkonsistenz, Phänomene also, für die sich eher Soziologen und Politologen interessieren, sind Medium und Resultat strukturierenden Handelns.
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Diese theoriestrategische Option erlaubt es, wie man in anderer Wendung ferner sagen kann, eine Alternative hinter sich zu lassen, die in den Sozialwissenschaften fortgeschleppt wird und dort entweder Missverständnisse oder Abschottungen verursacht, die mir weder tunlich noch erforderlich zu sein scheinen: die Alternative, Struktur entweder als Komplex von Regeln oder als Komplex von Regelmäßigkeiten aufzufassen. Denn regelmäßige Ressourcenverteilungen zählen zu den nicht eben unwichtigen Regelmäßigkeiten der sozialen Welt. Andreas Reckwitz (1997) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Giddens‘ Strukturationstheorie nicht nur den Dualismus von Handlung und Struktur unterläuft, sondern auch den von Regeln und Regelmäßigkeiten. Für Reckwitz ist der entscheidende Unterschied: Regeln sind „Sinnträger“ (Reckwitz 1997, 33), Regelmäßigkeiten nicht. Erstere müssten daher in der Einstellung einer doppelten Hermeneutik studiert, das heißt, aus der Teilnehmerperspektive rekonstruiert werden, für letztere genügt eine einfache Hermeneutik und eine Konstruktion aus der Beobachterperspektive. Das indes scheint mir noch weiter klärungsbedürftig, sofern dabei die Idee im Spiel ist, Ressourcen(-verteilungen), als eine Dimension von Regelmäßigkeiten, seien keine Sinnträger. Denn es ließe sich argumentieren, und ich selbst habe oben mit Schütz so argumentiert, dass Ressourcen nur als Verkörperungen objektiver Sinnzusammenhänge den Titel „Ressourcen“ verdienen, dass sie allerdings als Ressourcen nicht in einen subjektiven Sinnzusammenhang gestellt sind163. Letzteres aber trifft auch auf die sozialen Regeln als Strukturmomente, als Potentiale zu: Es gibt keinen Weltgeist, als dessen Emanation das soziale Regelwerk in die soziale Welt gekommen wäre, und subjektiv gemeinter Sinn kommt erst in der Anwendung von Regeln, im Handeln, ins Spiel. Das wiederum tut er auch bei der Anwendung von Ressourcen. Nicht die Eigenschaft als Sinnträger unterscheidet die Regeln von den Ressourcen, sondern die je besondere Art des Sinns, den beide tragen: die Regeln als Verfahrensweisen („Wie handeln?“), die Ressourcen als Kraft- und Machtpotentiale („Womit handeln?“). Dass auch Ressourcen „Sinnträger“ sind; dass ihr Sinn in ihrem potentiellen Gebrauch, in ihrem Gebrauchs-, im Kapitalismus schließlich auch in ihrem Tauschwert liegt; dass es ihren Gebrauchswert als reinen, ursprünglichen, dem nicht die Austauschbarkeit als Möglichkeit schon eingeschrieben wäre, gar nicht geben kann; und dass die Ressourcen dazu unter den Idealisierungen identischer Wiederholung oder Wiederholbarkeit – der Wiederholbarkeit des Gebrauchs ein und desselben Gebrauchswerts – ins Auge gefasst werden 163 Fremdverstehen heißt für Schütz genaugenommen: „Der Deutende interpretiert in Selbstauslegung seine Erlebnisse vom fremden bewegten Leib oder von Artefakten, die auf Erzeugung durch das alter ego zurückweisen. Er vollzieht das echte Fremdverstehen also an Objektivationen, in denen sich die fremden Bewußtseinserlebnisse kundgeben, mögen diese Objektivationen, konstituierte Handlungsgegenständlichkeiten (vollzogene Bewegungen, Gesten oder Handelnsresultate) oder Artefakte (Zeichen im engeren Sinne oder produzierte Gegenstände der Außenwelt, Geräte, Denkmale usw.) sein.“ (Schütz 1974, 186) „Vom subjektiven Sinn eines Erzeugnisses sprechen wir dann, wenn wir den Sinnzusammenhang im Blick haben, in welchem die Erlebnisse des Erzeugenden, von denen das Erzeugnis zeugt, für diesen stehen oder standen“ (Schütz 1974, 187; i. Orig. kursiv). Also: Fremdverstehen muss sich an Objektivationen halten, an Erzeugnisse (einschließlich vollzogener Handlungen), diese werden aber als Zeugnisse des subjektiven Sinns genommen. „Objektiven Sinn können wir hingegen nur einem Erzeugnis als solchem prädizieren, also dem fertig konstituierten Sinnzusammenhang des Erzeugten selbst, dessen Erzeugung in polythetisch aufbauenden Akten im fremden Bewußtsein von uns unbeachtet bleibt.“ (Schütz 1974, 187; i. Orig. kursiv) Objektiv aber heißt der objektive Sinn, weil es um „allgemeine Bedeutung“ geht. Kein anderer mit seinem subjektiven Sinn kommt in den Blick, sondern ein impersonaler Man (jemand, irgendwer). Wie „man“ es versteht: das macht den objektiven Sinn aus.
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müssen, das hat Jacques Derrida in einer subtilen Lesart der Marxschen Gebrauchswertanalyse herausgearbeitet: „Besagter Gebrauchswert besagten ordinären sinnlichen Dings, die schlichte hyle, das Holz des hölzernen Tisches, von dem Marx annimmt, daß er noch nicht zu ‚tanzen‘ begonnen hat – seine Form selbst, die seine hyle formt, muß ihn zumindest der Iterabilität, der Substitution, dem Tausch und dem Wert versprochen und, wie gering auch immer, eine Idealisierung angerissen haben, die es erlaubt, ihn durch mögliche Wiederholungen hindurch als denselben zu identifizieren usw. So wenig, wie es einen reinen Gebrauch gibt, gibt es einen Gebrauchswert, den die Möglichkeit des Tauschs und des Handels (wie auch immer man sie nennen will, den Sinn selbst, den Wert, die Kultur, den Geist [!], die Bedeutung, die Welt, das Verhältnis zum anderen und zuvor schon die schlichte Form und die Spur des anderen) nicht im voraus schon in ein Außer Gebrauch eingeschrieben hat – eine überbordende Bedeutung, die sich nicht auf das Nutzlose reduzieren läßt. Eine Kultur hat vor der Kultur begonnen“ (Derrida 1996, 251 f). Analog zu der damit umrissenen Unterscheidung zwischen Regeln und Ressourcen schlage ich vor, die Differenz zwischen Regeln und Regelmäßigkeiten als Unterschied zwischen Verfahren und Resultaten sozialer Praxis, zwischen Erzeugen und Erzeugnis aufzufassen. Regeln sind Verfahren der Praxis, Regelmäßigkeiten sind Resultate (und sodann: Bedingungen) regelmäßiger Praxis. Auch Regeln sind allerdings, gerade für Strukturationstheoretiker, Resultate der Praxis, aber in einem anderen Sinne als die Regelmäßigkeiten, nämlich nur insofern sie, vermittels Erinnerung oder auch impliziten Wissens, in die jeweils nächsten rekursiven Schleifen sozialer Praxis wieder als Verfahrensweisen eingebracht werden. Regelmäßigkeiten betreffen alle gleichmäßig wiederkehrenden Eigenschaften der sozialen Welt: also auch die sozialen Eigenschaften der Akteure, der Handlungsmittel, -objekte und -produkte, der Systemzusammenhänge der Interaktionen, der sozialen Systeme. In schematischer Darstellung: Handeln (re-)produziert – Regeln (verallgemeinerbare Verfahrensweisen des Handelns) und – Regelmäßigkeiten (gleichmäßig wiederkehrende Eigenschaften der sozialen Welt, Resultat regelmäßiger Praktiken). Regelmäßigkeiten, noch einmal, kommen der sozialen Welt als „Erzeugnis“ zu oder nicht zu. Arbeitslosigkeit etwa, Einkommensverteilungen, soziale Hierarchien oder verstopfte Straßen sind solche Regelmäßigkeiten, die aus regelmäßigen Praktiken resultieren. Die „zugrundeliegenden“ Regeln dagegen existieren nur im Handeln. Wie nun zu den verallgemeinerbaren Verfahren der Praxis, wie gesehen, immer auch regelmäßige, typische Weisen des Gebrauchs von Ressourcen zählen, so zählt zu den Resultaten, und das ist ja meistens sogar der subjektiv gemeinte, wenn auch nicht unbedingt erfolgreich realisierte Sinn der Sache, eine Transformation der Ressourcen. Regeln aber überdauern das Handeln, das Ereignis, nur als virtuelle Ordnung, und nur, sofern sie, vermittelt über Habitus oder über Erinnerung, praktisches Bewusstsein und Erwartung, wiederholt in die rekursiven Schleifen sozialer Praxis eingebracht werden. Ressourcen hingegen
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überdauern das Ereignis als tangibler oder intangibler Mittelbestand: als Werkzeug im Werkzeugkasten, als fruchtbarer Boden, als Gebäude, Maschine, Wissen, Fertigkeit, als soziales oder kulturelles Kapital. Regeln sind Weisen des Handelns, also des Prozessierens. Ressourcen sind Arten von Beständen, inclusive unserer „stocks of knowledge“ (Schütz). (Und ein Fluss – sei es ein buchstäblicher oder ein Wissensfluss – wird zur Ressource nur, weil er als Fluss Bestand hat.) Dass „Strukturation“ den Doppelsinn von Erzeugen und Erzeugnis bewahrt, erlaubt es dann, Regelmäßigkeiten als Strukturiertheit zu erfassen. Dass daher Ressourcenverteilungen nicht aus dem Blick geraten, unterscheidet diese Theoriestrategie von allen, die als Struktur nur Regeln ins Auge fassen: vom Strukturalismus eines Lévi-Strauss, vom Strukturfunktionalismus eines Parsons, von den interpretativen Ansätzen, auch von Luhmanns Systemtheorie. Das gestattet es, soziale Ungleichheit, Einkommens- und Vermögensverteilungen, die Verteilung von Bildungs- und Erwerbschancen und politische Machtasymmetrien als Momente sozialer Strukturen zu behandeln, mit anderen Worten: das, was strukturiertes Handeln als regelmäßige, symmetrische oder asymmetrische Ressourcenverteilung hervorgebracht hat, als soziale Restriktion und Ermöglichung in Rechnung zu stellen164. Dass Ressourcen subversiv gebraucht, dass sie im Gebrauch verändert werden können, heißt nicht, dass sie uns keine Schranken auferlegen. Es heißt nur: Da ist ein Spielraum.
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Ressourcen, Organisation und strategisches Management
7 Ressourcen, Organisation und strategisches Management Ressourcen, wenig verwunderlich, spielen in manchen organisationstheoretischen Ansätzen eine wichtige Rolle. (Verwunderlicher ist schon, dass es so wenige sind.) Ich sortiere die drei wichtigsten unter ihnen in aufsteigender Reihenfolge nach dem Grad an Aufmerksamkeit, die sie dem je spezifischen Gebrauch organisationaler Ressourcen zollen. Der Resource-Dependence-Ansatz (Pfeffer, Salancik 1978) argumentiert, dass das Geschehen in Organisationen weitgehend von außen beeinflusst wird – von denjenigen individuellen oder korporativen Akteuren, welche die kritischen Ressourcen kontrollieren, von denen eine Organisation abhängt. Innerhalb der Organisation setze sich dies als Macht derer fort, die diesen Ressourcenfluss ihrerseits beeinflussen können. Dass es in diesem Zusammenhang auch auf die Art und Weise des Gebrauchs der Ressourcen ankäme, dafür zeigt dieser Ansatz kaum Aufmerksamkeit. Der Institutionenökonomik geht es um den Austausch von Rechten der Verfügung über Ressourcen und um das pooling von Sach- und Humanressourcen. Die Art der Verfügung über Ressourcen ist durchaus Gegenstand ihres Interesses, wenn auch nur entlang einer institutionenökonomisch eingeschränkten Fragestellung: Wie kann die Effizienz des Ressourcengebrauchs durch Ausgestaltung von property rights und durch geeignete institutionelle Arrangements und Prinzipal-Agenten-Verhältnisse optimiert, und das heißt für diesen Ansatz vor allem: vor Opportunismus der Akteure geschützt werden? Im Mittelpunkt ste-
164 Es ist besonders Johannes Bergers Verdienst, darauf hingewiesen zu haben, dass solche handfesten Dimensionen des Sozialen in Luhmanns Theoriearchitektur keinen rechten Platz haben (vgl. Berger 1987).
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hen Rechte, Kontrakte, Anreiz- und Informationssysteme, und erst allmählich wächst in diesem Lager die Einsicht, dass in den vielfältigen Weisen der Nutzung von Rechten, der Erfüllung von Verträgen und der Nutzung der Ressourcen noch viele Überraschungen lauern, die bisher durch die groben Raster der Theorie schlüpfen (s. aber jetzt Sadowski 2002). Die Spezifität von Ressourcen etwa ist gewiss ein relevanter Aspekt, aber nicht einfach im Sinne eines Kontextfaktors, dem durch geeignete make-or-buy-Entscheidungen Rechnung zu tragen wäre, sondern auch und vor allem im Sinne eines Zieles und Erfolges organisationaler Strategien beim Bemühen um Abhebung von der Konkurrenz, um besondere Kompetenzen und nicht-imitierbare Ressourcen. Dieser letztere Gesichtspunkt führt in die Denkwelt des resource-based view des strategischen Managements, in deren Mittelpunkt gerade solche möglichst einzigartigen Ressourcen – organizational capabilities, core competencies, strategic assets – und die Wettbewerbsvorteile stehen, die sie stiften. Genau deshalb erregt dieser Ansatz zu Recht so großes Interesse, weil er mitten in die Fragen nach dem Auf- und Ausbau, der Stabilisierung und dem Transfer menschlicher und organisationaler Vermögen (und nach dem Schutz vor deren Imitation) führt. Schon die geistige Mutter dieses Ansatzes, Edith Penrose, hat in ihrem wahrhaft richtungweisenden Buch „The Theory of the Growth of the Firm“ scharf gesehen und ausdrücklich betont, dass es auf die Ressourcen „an sich“ weniger ankommt als auf die Weise ihres Gebrauchs: „Strictly speaking, it is never resources themselves that are the ‚inputs‘ in the production process, but only the services that the resources can render. The services yielded by resources are a function of the way in which they are used“ (Penrose 1959/1995, 25; letzte Hervorh. G. O.). Klar hat Penrose gesehen, dass Ressourcen ein Potential darstellen, genauer: ein Bündel an Potentialen, das zunächst unabhängig von seinem Gebrauch definiert werden kann, während „service“ in ihrem Sinne eine Funktion, eine Aktivität impliziert, eben die des Gebrauchs. Erst darin könne die Quelle der Einzigartigkeit von Firmen ausgemacht werden: „The services yielded by resources are a function of the way in which they are used – exactly the same resource when used for different purposes or in different ways and in combination with types or amounts of other resources provides a different service or set of services. The important distinction between resources and services is not their relative durability; rather it lies in the fact that resources consist of a bundle of potential services and can, for the most part, be defined independently of their use, while services cannot be so defined, the very word ‚service‘ implying a function, an activity. As we shall see, it is largely in this distinction that we find the source of the uniqueness of each individual firm.“ (Penrose 1959/1995, 25) Wieder liegt es nahe, die Weisen solchen – zunächst individuellen, idiosynkratischen – Gebrauchs, so sie sich auf Dauer stellen und verallgemeinern lassen, mit dem Regelbegriff zu erfassen, denn Regeln sind ja, mit Giddens, verallgemeinerbare Verfahren der Praxis, also auch: verallgemeinerbare Verfahren des Gebrauchs von Ressourcen. Rekursivitäts- und Supplementaritätsbeziehungen verlaufen von den Ressourcen zu ihrer nur scheinbar se-
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kundären Anwendung und von regelmäßigen Anwendungsweisen auf bedeutsame, konstitutive Art zurück zu den Ressourcen, die durch ihre Nutzungsweisen – ihre Potentiale – geradezu, wie Penrose es tut, definiert werden können. Wissen, und eine auf Wissen bezogene „absorptive capacity“ (Cohen, Levinthal 1990), erweisen sich dabei als besondere Ressourcen insofern, als sie durch Gebrauch nicht vermindert, sondern vermehrt werden. Diese Eigenschaft der Selbstverstärkung macht Prozesse des Wissensaufbaus für einschlägige Ansätze so attraktiv: Wo Tauben sitzen, fliegen Tauben zu165. Ressourcen sind Potentiale, deren Nutzung in Grenzen offenbleibt, bis sie aktualisiert werden. Und die Weisen dieser Aktualisierung heißen bei Giddens: Modalitäten166. Dem resource-based view, dem knowledge-based view (Osterloh, Frey, Frost 1999) und der verwandten Theorie der Kernkompetenzen macht dann aber die folgende Problematik zu schaffen: Da es ihnen gerade um die Einzigartigkeit von Wettbewerbsvorteilen zu tun ist, erweist sich die Verallgemeinerbarkeit von Gebrauchsweisen als möglicher Nachteil und drohende Gefahr, weil und insofern sie tendenziell mit Übertragbarkeit, Imitierbarkeit und/oder Substituierbarkeit einhergeht. So gilt das besondere Interesse den so genannten nicht-tangiblen Ressourcen, Kompetenzen, Wissensvorsprüngen – auch dieser Begriff geht schon auf Penrose (1959/1995, 24) zurück. Und es geht in der Theorie der Kernkompetenzen (Hamel, Prahalad 1995) nicht nur um den Aufbau, sondern auch um die „Dehnung“ von Ressourcen, um „Ressourcen-Leverage“ (Hebelwirkung) und um die „Entfaltung“ von Ressourcen, mit anderen Worten: um die Kunst ihrer optimalen Anwendung. Das konnte man schon seit Hirschman (1978; Hirschman, Lindblom 1962) wissen, dass die Qualität und die Quantität einer Ressource als Ressource, als Potential, direkt von den Gebrauchsweisen abhängen, mittels derer man sie sich zunutze macht. Slack in Organisationen kann reduziert werden. Dabei geht es zumeist auch noch um Regelwissen, aber eben verallgemeinerbares. Interessanter ist da schon Regelwissen, das implizit ist und bleibt. Besonders interessant aber wäre eine Art Anwendungskompetenz, die sich nicht oder noch nicht verallgemeinern lässt, weil sie in der Kompetenz der situativen Besonderung terminiert, die aber jedenfalls in dem Sinne verallgemeinerbar sein soll, dass die fokale Organisation doch immer wieder auf sie zurückgreifen kann. Die doppelte Paradoxie, die darin liegt, dass diese Kompetenz innerhalb der Organisation, aber nicht darüber hinaus verallgemeinerbar sein soll, und dass sie eine allgemeine Fähigkeit zur Besonderung, das heißt, zur situationsspezifischen, situationsangemessenen Anwendung von Regeln und Ressourcen sein soll, ist die Crux und zugleich der Nährboden ressourcenorientierten strategischen Managements und der einschlägigen Theorien. Es ist die Crux, weil ihre Sehnsucht einer Unmöglichkeit gilt – mit Giddens gesprochen: der Unmöglichkeit, die Ressourcen als Modalitäten167, die Modalitäten als Ressourcen verallgemeinern und fixieren zu wollen, mit de Certeau gesprochen: Res165 Was hier gefragt ist, nennt Karl Hörning (2001) praktisches Wissen – in einem schönen und klugen Buch, das ich hier nicht mehr gebührend berücksichtigen kann. Auch Hörning bezieht sich, neben anderen, auf Giddens und de Certeau, betont Kontextualität und Anwendungsproblematik und ist sensibel für „Spielräume des Manövrierens, der Reinterpretation, des Widerständigen“ (24) bei der Anwendung von Regeln und Ressourcen. 166 Zu Potentialen und den kontingenten Weisen ihrer Aktualisierung vgl. auch Agamben (1998, 7-75). Vor allem hat man zu bedenken, dass Potentiale aufhören, Potentiale zu sein, sobald sie aktualisiert, das heißt, auf eine bestimmte Weise genutzt werden. 167 Zum Giddensschen Modalitätenbegriff in diesem Zusammenhang vgl. besonders: Duschek (2001).
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sourcen (= Potentiale) und die Weisen ihres Gebrauchs (ihrer Aktualisierung) zugleich verallgemeinern und doch als besondere flexibel halten zu wollen. Es ist ihr Nährboden, weil die Theorie jene differantielle Bewegung reproduzieren (und, zumindest zeitweise, Wettbewerbsvorteile im Wissenschaftsbetrieb daraus schlagen) kann, welche die Praxis in ihrer Jagd nach Differenz – „Why are firms different?“ – immer schon vollführt. Sie besteht im Rekurs auf Regeln und Ressourcen und der beständigen Differenzierung, Neuerung in ihrer Anwendung168, und die Theorie, die diese Bewegung nachvollzieht, mündet in dem vergeblichen, aber jederzeit attraktiven Versuch, eine Meta-Kompetenz der Anwendung, nämlich eine Anwendungs-plus-Abweichungskompetenz, eine allgemeine Situierungskompetenz zu fixieren, was natürlich nur in schönen Verheißungen und wolkigen Formulierungen gelingt, die den sich anbahnenden infiniten Regress verhüllen. Der resource-based view ist stark dort, wo er den offenen, den Potentialcharakter von Ressourcen selbst betont und zu ihrer kreativen Nutzung anregt. Er verstrickt sich in Paradoxien, wenn er, im Stile der ManagementGuru-Literatur, Einzigartigkeit als allgemeines Rezept offeriert. Was hier mit Blick auf den resource-based view und seine diversen Versuche gesagt ist, eine Regel-und-Ressourcen-Anwendungs-und-Abweichungskompetenz, das heißt, eine Kompetenz zu fixieren, die allgemein und situativ zugleich sein soll, das lässt sich, noch allgemeiner, für die gesamte Denkbewegung der Forschung zum strategischen Management formulieren. Immer gilt diese Bewegung der Fixierung des Bewegten, der Verallgemeinerung des Situativen, und wenn es das eine Mal das Computer Integrated Manufacturing ist, das als allgemeine Antwort, als Stein der Weisen festgehalten wird, so das andere Mal lean production, dann business process reengineering, dann knowledge management et cetera ad infinitum. Das eine Mal geht es um Positionen auf Märkten und Normstrategien (also: Regeln der Strategiefindung), das andere Mal um einzigartige Ressourcen, und jedes Mal entdecken wir nach einer Weile: Keine Normstrategie kann errechnet und blind angewandt werden. Kein Approach gilt wirklich allgemein, sondern wir fixieren uns in Abhängigkeit von situativen Umständen, die uns aber im Augenblick nicht restlos klar sind, auf Marktpositionen, dann auf Regeln, dann auf interne Stärken und Schwächen, dann auf Geschäftsprozesse, dann auf Verschwendung, dann auf Ressourcen, dann auf Kultur, dann auf Wissen, immer aber auf Regeln und Ressourcen, deren Allgemeinheit wir haben wollen, ohne von ihrer situativen Angemessenheit zu lassen. Der Stein der Weisen gerät zum Fels des Sisyphos. Der Gebrauch von Ressourcen aber, und, im besten Falle, die darin liegende Einzigartigkeit, sind nur in actu zu haben, in einem Handeln, das den Charakter der Ressourcen wieder und wieder modifiziert, weil es sich und die Ressourcen einzigartigen Situationen anmisst – in Aktualisierungen von Potentialen. Verständlich, ja: unabweisbar und verdienstvoll, dass ressourcenorientierte Ansätze auf dort schlummernde Einzigartigkeiten Die der Figur nach gleiche Bewegung der Différance sieht man auch beim Wachstum einer Unternehmung, wenn es darum geht, die proportionalen Anteile der verschiedenen Ressourcen zu wahren, was aber wegen deren Unteilbarkeiten nie ohne Rest möglich ist. Penrose (1959/1995, 69, Fn. 1) zitiert aus einer anderen Studie einen „industrial engineer“ mit folgendem Stoßseufzer: „Every time we make something, we have something left over, and have to find something to do with that. And when we find something to do with it we usually find that leaves us with something else. It is an endless process.“ Genau das ist die endlose Bewegung der Verschiebung/Veränderung, die Derrida „différance“ genannt hat. Man könnte die zitierten Sätze auf jedwede betriebliche Rationalisierung, auf jedwede Jagd nach Wettbewerbsvorteilen anwenden, ja, man könnte sie als Weisheit für das Leben überhaupt nehmen.
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aufmerksam machen. Die Aktualisierung eines Potentials aber bedeutet das Ende seines Potentialcharakters. Sie bedeutet situative Zuspitzung und spezifische Nutzbarmachung des Potentials und, vorläufig, das Ende alternativer Nutzungsweisen, die eben noch möglich waren. Das hat eine entscheidende Implikation für alle ressourcenorientierten Ansätze des strategischen Managements: Ihre Aufmerksamkeit muss viel stärker als bisher den Prozessen der Entwicklung von Ressourcen gelten, die nicht als ein für alle Mal fixe Bestände genommen werden dürfen. In den Fokus gerückt gehören die Prozesse der Entdeckung, der Erfindung und der Überführung zunächst singulärer Gebrauchsweisen von Ressourcen in organisationale Routinen und der beständigen Modifizierung, Ergänzung und Ersetzung dieser Routinen in Abhängigkeit von (neuen) situativen Umständen – Pfadabhängigkeiten und selbstverstärkende Mechanismen wie „increasing returns“ inbegriffen169. Wenn es dann gelingt, eine spezifische Weise des Gebrauchs einer Ressource zu fixieren und auf Dauer zu stellen (und gar die Ressource, ein Gebäude, eine Maschine, einen Wissensbestand, auf diese Gebrauchsweise „zuzuschneiden“), dann impliziert das nicht nur die Gefahr der Imitation, sondern auch die der Rigidität – die einer eines Tages nicht länger willkommenen Schließung. Dass Kernkompetenzen immer auch die Gefahr von Kernrigiditäten (Leonard-Barton 1992; 1995, 29 ff) mit sich bringen, wird in der einschlägigen Literatur unter Titeln wie „asset specificity“, „straight jackets“, „path dependency“, „Kompetenzfalle“ und „lock in“ thematisiert. Auch Kernkompetenzen haben nicht das Zeug zum Stein der Weisen, weil ihre Selektivität und Rigidität, eben noch erstrebenswert, im nächsten Augenblick zum Verhängnis werden kann. Auch darin erweist sich die Hartnäckigkeit und Restriktionskraft von Ressourcen, seien es tangible, seien es intangible. (Auch Wissen und Können, gestern noch Garanten eines Erfolges, erweisen sich oft als rigide, eben weil sie doch bisher den Erfolg garantiert haben. Das ist, was die Rede von der Kompetenz- oder Erfolgsfalle meint; vgl. Levitt, March 1988.) Das alles wiederum besagt nicht, dass die Suche nach solchen Kompetenzen sinnlos ist. Es heißt nur, dass kein Ende solcher Suche in Aussicht ist. Das Ziel entfernt sich immer wieder: während der Jagd und durch die Jagd; weil die Jäger ermüden – Hirschmans „organizational slack"; weil die Beute ihnen von anderen weggeschnappt wird; vor allem aber, weil, was eben noch nach Beute aussah, jäh wertlos – entwertet durch „competence destroying technological advance“ (Tushman, Anderson 1986) – oder zum Köder einer Falle werden kann. Immer wieder zerbröselt der Stein der Weisen.
169 Für das Desiderat einer Dynamisierung der ressourcenorientierten Ansätze vgl. die stringente und detaillierte Argumentation Stephan Duscheks (2002).
12. Organisationen als Placebo-Responder* 12. Kapitel: Organisationen als Placebo-Responder Für Alfred Kieser, aus gutem Grund und gegebenem Anlaß
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Gute Besserung. Consulting als Placebo
Consulting Erwünschter organisatorischer Wandel lässt sich entweder als Lern- oder als Heilungsprozess begreifen. Im letzteren Falle macht man Gebrauch von einer medizinischen Metaphorik. Unerwünschte Verhältnisse stechen als Organisationspathologien ins Auge, Reformblockaden lösen den Ruf nach Organisationsberatern aus, die ihrer organisationalen Klientel Kuren verordnen wie Psychotherapeuten ihrer individuellen. Nun hat es sich herumgesprochen (und ist eine der durchaus zahlreichen Übereinstimmungen in der Sache, die sich seit Langem zwischen ganz disparaten organisationstheoretischen Ansätzen ausmachen lassen), dass Organisationsreformen ein ganz schwieriges Geschäft sind, ihr Gelingen unwahrscheinlich, ihre unintendierten Konsequenzen zahlreich und unabsehbar. Das lässt sich machttheoretisch mit dem Widerstand und den Partialinteressen derer begründen, die sich in den herrschenden Verhältnissen und Besitzständen eingerichtet haben. Es lässt sich allgemeiner noch sozialtheoretisch plausibel machen durch den Verweis auf unerkannte Handlungsbedingungen und unintendierte Handlungsfolgen, mit denen es alles, also auch organisationales Handeln allemal zu tun hat. Systemtheoretisch kann man mit der autopoietischen Geschlossenheit und dem systemischen Eigensinn von Organisationen argumentieren, die eine direkte Steuerung verbieten. Rational-Choice-Ansätze haben scharfe Einsichten in Blockade-Effekte individueller gegenüber kollektiver Rationalität erbracht. Die evolutionstheoretische Organisationsforschung hat zu bedenken gegeben, dass die Trägheit von Organisationen geradezu als unerwünschter Nebeneffekt der Bürokratisierung sensu Max Weber aufgefasst werden kann. Wirtschaftshistoriker und komplexitätstheoretisch arbeitende Ökonomen können auf Phänomene der Pfadabhängigkeit und technischer und ökonomischer Lock Ins, Institutionenökonomen auf den Opportunismus von Akteuren und auf die Transaktionsspezifität von Investitionen als Grund für organisationale Trägheit verweisen. Und die neo-institutionalistische Organisationssoziologie hat dargetan, wie Organisationen gesellschaftlichen Reformdruck zum Teil bloß zeremoniell und auf dem Wege von Scheinreformen abarbeiten – Reformen, die, mit Brunsson/Olsen (1993), nichts ändern, aber weiteren Reformbedarf evozieren und so für ihren eigenen Bedarf fortzeugend selbst sorgen. Evaluationen an Universitäten zum Beispiel wecken Reformbedarf, die Reform fällt nicht zur Zufriedenheit aus, das wirft die Frage auf, was die
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Zuerst erschienen in: Zeitschrift Führung + Organisation 76 (2007), S. 231-236; geringfügig modifiziert.
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Evaluation wert war, es erfolgt eine Evaluation der Evaluation, eine Evaluationsreform schließt sich an, längst macht die Idee institutionalisierter Evaluationsevaluation und einer permanenten Reform der Evaluation die Runde, und am Horizont lässt sich schon die nächste Revolution absehen, die, in zehn oder zwanzig Jahren, zur tabula rasa aller Evaluation aufrufen wird, vielleicht das Kind mit dem Bade ausschüttend und auf diese Weise Anlässe stiftend für die Reform dieser Revolution der Endlos-Reform. Es lassen sich diese verschiedenen Aspekte als Facetten einer beständigen SelbstDekonstruktion organisatorischer Strukturen auffassen. Regeln und Ressourcen, auch frisch reformierte, müssen einer Logik angemessener Anwendung unterworfen und daher von den Intentionen der Reformer, aber auch von bisher etablierten Anwendungsweisen mehr oder weniger stark abgelöst werden. Das muss nicht, kann aber jederzeit auf eine Unterminierung von Regelwerken, auf ihre Uminterpretation oder gar Erosion hinauslaufen. Und auch das Ressourcenpotential einer Organisation wird erst in der Anwendung aktualisiert und daher – vielleicht neu – bestimmt. Organisationsreformen sollen neue Strukturen etablieren, aber deren Applikation erfordert Folgsamkeit und Situationsangemessenheit, daher Konformität und Devianz, Wiederholung und Innovation, Identität und Differenz, Aktualisierung und Verschiebung/Veränderung der Regeln und Ressourcen. Von Anfang an unterliegen Reformen ihrerseits jener verschiebenden/verändernden Kraft, die sie gegenüber dem als unzulänglich ausgemachten Alten intendieren und ins Werk zu setzen versuchen, einer Kraft, die sich aber jenseits aller Reformintentionen Geltung verschafft. Diese Fährnisse waren bekanntlich Wasser auf die Mühlen der Berater. Ihr Geschäft boomte, und die beträchtliche Beständigkeit des Booms lässt sich zu einem guten Teil aus den von Brunsson analysierten Eigenschaften der Selbstfortzeugung organisatorischer Reformen erklären, besonders, wenn man in der Beratertätigkeit ein Muster der Problemverschiebung mit eingebauten Folgeproblemen erkennt. Dieses Muster ist eines der Paradoxieentfaltung. Seine Erklärung geht auf die Paradoxien begründeten Entscheidens zurück und fasst das Wechselspiel zwischen den diversen Beratungsmoden als paradoxieinduzierte Oszillation zwischen alternativen Problemdefinitionen und -lösungen auf. So nimmt es denn auch nicht Wunder, dass ein großer Teil der in der Literatur namhaft gemachten Gründe, Organisationsberater hinzuzuziehen, mit ihrer sachlichen Beratungs- und Problemlösungsfunktion gar nichts zu tun haben. Ich nenne als die drei wichtigsten Beispiele dafür (1.) Legitimationssicherung sensu Meyer/Rowan (1977) mittels akzeptierter Modernitäts-, Objektivitäts-, Seriositäts-, Rationalitätsnachweise, mit den Beratern als Legitimationslieferanten und vorsorglich eingebauten Sündenböcken, (2.) Munitionierung organisationsinterner Mikropolitik und der Durchsetzung von Reorganisationsvorhaben, (3.) Unsicherheitsabsorption und Komplexitätsreduktion durch sensemaking und Fiktionen des sensemaking, einschließlich eines umfangreichen und flexibel auswechselbaren Angebots an Rhetorik, Simplifizierung, Deutungsschemata, Unternehmungsphilosophien und „bewährten“ Methodenarsenalen (zu alledem Kieser 2002). Wenn so die Dinge liegen; wenn alle Reorganisation es mit Paradoxien und Steuerungshindernissen zu tun hat; wenn die homöopathischen Dosen oder die Gewaltkuren, die von Beratern verschrieben werden, auf derart starke Abwehr- und Abstoßungskräfte des Organisationskörpers stoßen: wieso haben sie dann überhaupt Heilungserfolge zu verzeichnen? Diese Frage ist ja um so berechtigter, als gesichertes Therapeutenwissen und eine ver-
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lässliche, gar wissenschaftlich fundierte Professionskunst der Organisationsberatung nicht, oder nur in allerersten Ansätzen, zur Verfügung steht. Auf diese Frage gibt die Literatur, das liegt in der unübersichtlichen Natur der Sache, viele, immer label-spezifische Antworten. Ich erwähne nur Partizipation, Zielvereinbarungen, Strategien der kleinen Schritte oder, umgekehrt, revolutionäre Radikalität als vermeintliche Gegengifte wider resistance to change. Ich selbst möchte einen anderen, einen Placebo-Effekt als einen – einen von vielen möglichen – Erfolgsfaktoren zu bedenken geben. Damit möchte ich den Fall seriöser, direkt wirksamer Beratung keineswegs bestreiten. Wir müssen uns hüten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Es gibt echte und Placebo-Effekte. Ich vermute allerdings, dass auch echte häufig von Placebo-Effekten begleitet und verstärkt werden. Insofern sind Placebo-Effekte von sehr viel allgemeinerer Relevanz als zunächst absehbar. Soweit sie am Werk sind, gilt: Reorganisationsvorhaben sind erfolgreich nicht, weil sie die richtige Rezeptur parat haben, sondern weil sie Selbstheilungskräfte auslösen, die mit der Rezeptur nichts zu tun haben. Man beachte, wie unendlich schwer es dann fallen muss, vom Erfolg nicht auf die Heilungskraft der Rezeptur zu schließen. Soweit die Diagnose „Placebo-Effekt“ zutrifft, wird ja der Wirkstoffmangel durch Selbstheilung geheilt, und das ist erstens schwer zu erkennen und zweitens keine willkommene Botschaft. Keiner der Beteiligten kann ein Interesse daran haben, sie zu hören, zu akzeptieren oder gar weiterzugeben, nicht die (in- oder externen) Ratgeber, die über ihre Unkenntnis tatsächlicher Wirkungsweisen nicht gerne reden, noch die Ratsuchenden, denen vielmehr an der Aufrechterhaltung der Fiktion der richtigen Rezeptur gelegen sein muss, weil sie ja den Therapeuten ausgewählt und die Anwendung der Kur zu verantworten haben, schließlich auch nicht die, denen sie verabfolgt wurde, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die wissen, dass sie nichts als – machtbewehrten! – Undank ernten würden, erkühnten sie sich zu öffentlicher Bloßlegung eines Placebo-Effekts. Zustande kommt der Effekt nach Art einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Ein Reorganisationsvorhaben wird angekündigt und begonnen, und allein das löst Aktivitäten seitens Beteiligter und Betroffener aus, teils Widerstand, teils aber auch Aktivitäten im Sinne der (Re-)Organisationsziele, und seien es Aktivitäten derer, die immer mit den Wölfen heulen und frühzeitig spüren, woher der Wind weht. Wenn unintendierte, aber förderliche Aktivitäten Erfolg haben und die Widerstandsaktivitäten übertreffen, haben wir positive Effekte, die mit der Rezeptur nichts zu tun haben und doch als Wirkung des Reorganisationsvorhabens eintreten, eben als Placebo-Effekt. Das Vorhaben hat vielleicht Erfolg, obwohl es – seine Rezeptur – scheitert. Das Scheitern aber bleibt unbemerkt, weil es vom Erfolg verdeckt wird. Man kann nun sehen, dass die Rede von der „self-fulfilling prophecy“ genau genommen einigermaßen irreführend ist. Zwar „erfüllt sich“ die nackte Erfolgsprognose. Nicht aber erfüllt sich die Prognose aus den von ihr selbst angeführten Gründen. Sie erfüllt sich vielmehr als performativer Effekt der Prognose. Das aber kann keine Prognose aussprechen, ohne eben diesen performativen Effekt aufs Spiel zu setzen. Kein Wirtschaftsminister kann seine optimistische Wirtschaftsprognose damit begründen, sie werde schon als self-fulfilling prophecy wirken. Kein Banker kann die Kreditwürdigkeit seines Unternehmens damit begründen, dass die Leute es für kreditwürdig halten werden, weil er es vorausgesagt hat. Kein Unternehmensberater kann sagen: „Unsere Remedur ist wirkungslos, aber ihre Ankündi-
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gung und ihr Start werden Selbstheilungskräfte auslösen, und darum geht’s.“ Ein Placebo wirkt nur, solange es nicht als Placebo durchschaut ist. Oder? Ein witziges, einigermaßen sophistisches Gegenbeispiel zitiert der an der University of Toronto lehrende Philosoph Ronald de Sousa (1997, 386): „Ich nehme Vitamin C, um Erkältungen abzuwehren. Was ich darüber gelesen habe, hat mich überzeugt, daß – ohne Linus Pauling nahe treten zu wollen – Vitamin C ein Placebo ist. Aber ich glaube an Placebos. Dieser Glaube ist rational, denn im Scientific American habe ich gelesen, daß Placebos erstaunlich wirksam sind.“ Das sieht natürlich auf den ersten Blick nach einer zwar geistreichen, aber müßigen Gedankenspielerei aus. De Sousa bietet aber, in Auseinandersetzung mit Jon Elster (1983), eine starke Begründung, dies als einen „Fall von erfolgreichem bootstrapping“ (ebd., 388) zu akzeptieren. Er ziehe sich in Sachen Vitamin C am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Ignoranz über Wirkungszusammenhänge und mobilisiere in sich selbst Zuversicht, und das sei schließlich vernünftig, weil und sofern wir niemals perfekte Gründe für unser Handeln aufbieten könnten, Zuversicht aber jedenfalls hilfreich sei. Derlei ist häufiger, als man zunächst denkt. Charismatische Führer verstehen es, sich selbst – und sodann ihre Gefolgsleute – mit einem Glauben, einer Überzeugung und sodann einer Überzeugungskraft auszustatten oder aufzupumpen, die schließlich zu einem Faktor der Motivation und gar Begeisterung wird, die eben jene Überzeugung am Ende „wahr“ zu machen erlauben. Und „wahr“ steht dabei nur deswegen in Anführungszeichen, weil nicht die in der Überzeugung enthaltenen, von ihr namhaft gemachten, sondern erst die durch die Überzeugung ausgelösten Kräfte – die Motivation, die Begeisterung – den gläubig verkündeten Zustand bewirken. Im 3. Abschnitt folgen Beispiele für Manager, die mit Reorganisationskonzepten umgehen wie Ronald de Sousa mit dem Vitamin C: sie benutzend, obwohl sie an die Wirkkraft ihrer Ingredienzien nicht glauben, aber wissen, „daß Placebos erstaunlich wirksam sind“.
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Placebo als Metapher
2 Placebo als Metapher „Heilung“ und „Placebo“, das sind, mit Blick auf Organisationen, zunächst nur Metaphern. Können wir über einen bloß metaphorischen Gebrauch solcher Denkfiguren hinauskommen? Selbst im medizinischen Kontext ist die Placeboreaktion ein viel geschmähtes, aber kaum verstandenes Phänomen. Ein Beispiel zu seiner Erklärung aus der Medizin ist: Patienten, denen Placebos verabfolgt wurden, setzten schmerzlindernde chemische Substanzen, so genannte Endorphine, frei. Das mag hier als ein Fall von Selbstheilungskräften genügen. Wie könnte eine mehr als nur metaphorische Übertragung dieser Denkfigur auf Organisationen aussehen? Wir müssten analoge selbstheilende Effekte in den Prozessen und Strukturen von Organisationen identifizieren können, ausgelöst durch Reorganisationsvorhaben. Wir müssten etwa sagen können: So, wie jene Placebo-Patienten Endorphine freisetzen, setzen Rationali-
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sierungsvorhaben bei betroffenen Beschäftigten Ressourcen frei, nicht qua Rezeptur, wohl aber qua Placebo-Effekt: Die Leute entwickeln neue Ideen, machen Verbesserungsvorschläge, zeigen mehr Einsatz, ändern bisher etablierte Strukturen und lösen bisher wirksame Blockaden – sie, die über das dafür erforderliche lokale Wissen verfügen. Und tatsächlich können wir das sagen und wissen es eigentlich alle, auch wenn es in der Stunde der Reform nicht als comme il faut gilt, es auszusprechen. Um eine unzulässige Übertragung der medizinischen Metapher auf organisatorische Verhältnisse zu vermeiden, bedarf es dieser Klarstellung: Medizinische Placebos lösen eine Wirkung auf Basis eine Wirkungsglaubens und dadurch ausgelöster, unbewusster Selbstheilungskräfte aus. Auf dieser Ebene unbewusster psychischer Prozesse bewege ich mich mit Blick auf Organisationen nicht (obwohl Reorganisationsvorhaben auch auf dieser Ebene erhebliche Wirkungen auslösen können). Nicht auf die Differenz bewusst/unbewusst stelle ich ab, sondern auf die Differenz formell/informell, oder: im zulässigen Organisationsdiskurs artikulierbare versus nicht artikulierbare, vielmehr implizit bleibende oder gar verschwiegene Interaktionsweisen. Medizinische Placebos wirken irgendwie – wie, wissen wir noch nicht sehr genau –, weil Patienten sie für echt halten und an ihre Wirkung glauben. Organisatorische Placebos wirken, wenn sie denn wirken, auf Basis einer organisationsoffiziellen Anerkennung ihrer Wirkkraft, eines organisationsoffiziellen Wirkungsglaubens, unterhalb dessen Zweifel, Skepsis und gar Zynismus lebendig und sehr bewusst zu bleiben pflegen, aber nicht artikuliert werden können. Beiden gemeinsam aber ist, dass ihre Wirkung in Bahnen verläuft und Kräfte freisetzt, die nicht intendiert waren und von denen sich jedenfalls naive Therapeuten nichts haben träumen lassen. Die Wirksamkeit des medizinischen Placebos ist eine Funktion der Überzeugung (de Sousa 1997, 37). Die Wirksamkeit des organisatorischen Placebos ist eine Funktion organisationsoffizieller Überzeugung.
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Beispiele
3 Beispiele Jeder erfahrene Manager weiß: Pauschale Programme der Personalreduktion, des cost cutting, der Gemeinkostenwertanalyse, des business reengineering u. ä. sind nicht unbedingt die „für uns“ probaten Mittel, werden aber als Nebeneffekt sinnvolle, auf lokales Wissen gestützte Bemühungen auslösen. Und wenn er klug ist, weiß er vielleicht, paradox genug: dieses by-product ist der Sinn der Sache, ist Hauptsache, jedoch nur so lange, wie es nicht dazu erklärt wird. Es kann Hauptsache nur bleiben, wenn es nebensächlich bleibt, mitlaufendes Resultat. (Jon Elster verdanken wir scharfsinnige Analysen solcher paradoxen „Zustände, die wesentlich Nebenprodukt sind.“) Das erste Mal, dass ein solcher Placebo-Effekt in Organisationen Prominenz erlangt hat, war die Zeit der Hawthorne-Experimente, Auslöser der human-relations-Bewegung. Sie begannen bekanntlich als Beleuchtungsexperimente und erbrachten, so zumindest die Legende, das überraschende, zunächst durchaus unintendierte Resultat höherer Produktivität nicht nur unter neuen, günstigeren, sondern auch unter alten, beibehaltenen Beleuchtungsbedingungen. Das Beispiel lehrt auch, dass es natürlich lohnt, sodann der Frage nach der Art und Wirkungsweise der ausgelösten Selbstheilungskräfte nachzugehen. Im HawthorneFall war die – umstritten gebliebene – Antwort: Motivation, ausgelöst durch informelle
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Kommunikation, Aufmerksamkeit, Anerkennung und Arbeitszufriedenheit. Die metaphorische Verknüpfung der Beleuchtungsexperiemente mit der behaupteten Erleuchtung der Wissenschaftler verlieh der story von der bahnbrechenden Entdeckung narrative Eingängigkeit. (Zur Kritik dieses Mythos s. Kieser 2006) Ich führe als ein weiteres, besonders markantes Beispiel die Implementation von Systemen der Dokumentation des Qualitätsmanagements gemäß der Normenreihe ISO 9000 ff an. Dass diesem Rezept zur Verbesserung des Qualitätsmanagement von Anfang an seitens vieler Praktiker und Theoretiker Wirkungslosigkeit und sogar Schädlichkeit attestiert und dass es auch in vielen Fällen zunächst nur zum Schein eingeführt worden ist, als Rationalitätsfassade und -fiktion, ist bekannt. Darüber übersieht man leicht, dass es sodann aber Wirkungen ausgelöst hat, die gar nicht „im Sinne des Erfinders“ waren, nicht intendiert, nicht antezipiert, aber hilfreich im Sinne der Verbesserung des Qualitätsmanagements oder gar ganz anderer Strukturen, Systeme und Prozesse einer Organisation (Walgenbach 2000). Die Implementation, vielleicht ganz in zynischem Geiste begonnen, mit allen Zügen der Scheinheiligkeit, hat schließlich ernste und erfolgreiche Verbesserungsaktivitäten ausgelöst – Selbstheilungskräfte. Michel Crozier und Erhard Friedberg (deutsch 1979) haben den Entscheidungsprozeß in der Kuba-Krise des Jahres 1962, den Versuch der Steuerung der Investitionsplanung eines amerikanischen Unternehmens und viele Fälle aus der französischen Kommunalverwaltung und von französischen Industriegruppen als Beispiele für Handlungssysteme analysiert, die völlig anders im Gleichgewicht gehalten wurden als von den (Re-)Organisatoren oder Regulatoren intendiert. Die respektive Intervention zeitigte nicht die intendierten Effekte, löste aber mehr oder minder kompetente, eigenständige Reaktionen seitens der Akteure aus, deren Verhalten gesteuert werden sollte. Schlagend auch das Beispiel Friedbergs (1995, 149 ff) eines neuen Systems der Budgetierung, das von den zuständigen Managers nicht akzeptiert wurde, weil es nicht zeigte, „wo wir wirklich standen“, das ihnen aber Anlass zur Entwicklung eines alternativen, nun aber aussagekräftigen Systems gab. Die ironischste Zuspitzung der zu Grunde liegenden Idee ist von Karl Weick (1995, 54 f) überliefert, der die Geschichte jener ungarischen Aufklärungseinheit erzählt hat, die in den Alpen rettungslos verloren schien, dann aber mit Hilfe einer Landkarte gerettet wurde, die, wie sich später herausstellte, nicht die Alpen, sondern – Pointe Nr. 1 – die Pyrenäen zeigte. Pointe Nr. 2 steuerte Bob Engel bei, Vizepräsident und Finanzvorstand von Morgan Guaranty, der die Story so kommentierte: „Nun, eine wirklich hübsche Geschichte wäre das gewesen, wenn der Führer da draußen mit seinem verlorenen Trupp gewusst hätte, dass es die falsche Karte war, und er es auch dann noch geschafft hätte, sie zurückzubringen.“ Eine Landkarte als Placebo – Hoffnung, Zuversicht und Mut auslösend; Kräfte freisetzend, die Rettung brachten. Man denke ferner daran, dass einsichtige Kommentare zu allen in der Managementliteratur zu findenden allgemeinen Empfehlungen oder gar Ableitungen strategischer Verhaltensweisen – Normstrategien à la Boston Consulting Group, strategisches Spielbrett à la McKinsey, strategische Grundkonzeptionen à la Porter u. ä. – lauten: sie dürften nicht als fertige Antworten, sondern nur zum Anlass genommen werden, die richtigen Fragen zu stellen – die richtigen Fragen nun mit Blick auf die Besonderheiten des eigenen Unternehmens. Das heißt nichts anderes als zu sagen: Nicht ihre Ingedienzien – die Normstrategien e
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tutti quanti – haben heilsame Wirkung, sondern der Umstand, dass sie solche Fragen – und im günstigen Falle richtige, lokale Antworten – auslösen. Henry Mintzbergs Begriff emergenter Strategien und seine Metapher der Safari durch den Strategiedschungel sind elegante Euphemismen auch für die Undurchsichtigkeit der Wirkungsweise strategischer Konzepte im Inneren von Unternehmen. („Emergente“ Strategien sind ja solche, die sich ohne oder wider die Intentionen der Strategen ergeben – einfach so. Aber wie?) Natürlich stellen raffiniertere, vielleicht: zu raffinierte Beratungskonzepte den Eigensinn von Organisationen inzwischen in Rechnung. Eine radikale Konsequenz zieht die systemische Organisationsberatung mit ihrer Weigerung, überhaupt noch substantiellen Rat zu geben. Die Klientel aber verlangt nach Medizin, und bitter soll sie schmecken. (Interessant wäre, ob bittere Placebos besser wirken. Forschung dazu scheint es bisher kaum zu geben170. Nahe liegt der Gedanke, daß bitterer Geschmack – hohe Kosten der Beratung, schmerzhafte Eingriffe der Reorganisation – die Überzeugung von ihrer Wirksamkeit nach Art des fragwürdigen Syllogismus stärken: Gute Medizin schmeckt bitter. Die Reorganisation schmeckt bitter, sprich: war teuer in ökonomischer, mikropolitischer und psychologischer Hinsicht. Also muß es gute Medizin sein. Dieser Syllogismus mag noch eine biblisch-masochistische Verstärkung erfahren: Wer Schmerzen leidet, kommt in den Himmel, und wer in den Himmel kommen will, muß Schmerzen leiden.) Nur noch auf Kräfte der Selbstorganisation und Selbstheilung zu setzen, die man allenfalls auslösen könne, das allerdings gerät in große Gefahr, sich in die Placebo-Paradoxie zu verstricken. Es gerät in große Gefahr der Selbsterübrigung der Organisationsberatung. Wenn auf der Schachtel steht „Enthält keinerlei Wirkstoff“, wird die Arznei reißenden Absatz kaum finden. Jedenfalls erfordert jede seriöse „Anregung zur Selbststeuerung“ subtile Kenntnisse von Anregungspotentialen und -effekten. Da wiederum lässt sich viel von Crozier und Friedberg lernen, die in Sachen „Intervention“ das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Der falschen Alternative „Determinierbarkeit versus Unsteuerbarkeit“ entwinden sie sich mittels des Konzepts organisatorischer Spiele, die durchaus zu beeinflussen, aber nicht zu determinieren sind. In einem solchen Rahmen können Placebo-Effekte mitgedacht werden – lokale Fähigkeiten und strategische Interessen und Intentionen der Spieler, die als Widerstand wirken oder Kräften der Selbstheilung zugute kommen können. In der Systemtheorie spricht man von Kontextsteuerung. Albert O. Hirschman (1967) hat uns gelehrt, dass wir Handelnde im Vorhinein, vor Beginn unserer Projekte, niemals wissen können, was uns erwartet, und dass wir uns aber im Stande der Unwissenheit über diese unsere Unwissenheit befinden – Hirschman sagt: zum Glück, denn erst unsere „ignorance“ plus „ignorance of ignorance“ beschere uns die zum Die einzige mir bekannte Ausnahme: Baker, Thorpe (1957), die zu meinem Leidwesen gefunden haben, dass süße Placebos besser wirken – besser sogar, und das ist nun wieder von höchstem Interesse für die organisationstheoretische Placeboforschung, als die Pille mit dem Wirkstoff. Zwei Gruppen von je 18 psychotischen Patienten, die zu Inkontinenz neigten, wurde Mepazin (ein Inkontinenzhemmer) bzw. ein Placebo gegeben. Resultat: Das Placebo half besser – vermutlich, weil es süß schmeckte. Dieses Ergebnis könnte Anlass geben zu raffinierten Reflexionen über die inhärente Paradoxalität beobachterfreien Beobachtens. (Zum Beispiel verbergen Patienten oft ihre Inkontinenz, während ein Experiment läuft.) Man könnte aber auch Inkontinenz als Metapher für Geschwätzigkeit nehmen („kommunikative Inkontinenz“). Dann muss man nur noch an „die allmähliche Verfertigung der Organisation beim Reden“ (Kieser 1998b) denken, und fertig ist der organisationstheoretische Bezug: in Gestalt der Frage, welcher echte Wirkstoff oder welches Placebo, bitter oder süß, eine Organisation von müßigem Gerede heilt.
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Handeln erforderliche Naivität, den Mut und die Unbekümmertheit, zur Tat zu schreiten, die wir niemals aufzubringen vermöchten, wüssten wir am Anfang schon um all das Ungemach, das unserer harrt. Es gehört aber zu Hirschmans Lehre, dass unsere anfängliche, uns nicht bewusste Ignoranz ausgeglichen werde durch eine nachfolgende, ebenfalls unerwartete Kreativität beim Umgang mit unerwarteten Schwierigkeiten. Es sind, im günstigen Falle, diese von Hirschman postulierten, unintendierten Kräfte, die von den Placebos der Reorganisation und der Organisationsberatung ausgelöst werden.
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Organisationen als Placebo-Responder
4 Organisationen als Placebo-Responder In der biologischen und medizinischen Forschung gilt die Aufmerksamkeit heutzutage besonders einer Frage, betreffend den Eintritt der Placebo-Reaktion: Ist die Reaktion spezifisch im Hinblick auf entweder die Krankheit oder das Präparat oder die Person oder alle drei? Gibt es (1.) bestimmte Krankheiten, oder aber (2.) bestimmte Präparate, oder aber (3.) bestimmte Personen, die einer Placebo-Reaktion günstig sind (Ramachandran, Blakeslee 2002, 468 ff)? Übertragen wir diese Frage auf Organisationen, so lautet sie: Gibt es (1.) bestimmte Organisationspathologien, oder (2.) bestimmte Reorganisations- und Managementkonzepte, oder (3.) bestimmte Organisationen oder Typen von Organisationen, die eine Placebo-Affinität aufweisen? Ich schließe keine der drei Möglichkeiten aus. Ohne Frage gibt es Pathologien und Reformblockaden in Organisationen, die mehr, und solche, die weniger empfänglich für Placebo-Effekte sind. Man denke an Arbeitszurückhaltung – shirking – als Beispiel für leichter, an durch sunk costs verursachte Blockaden als Beispiel für schwerer via Placebos behebbare Pathologien. Auch die Reorganisationsrezepte dürften in unterschiedlichem Maße Selbstheilungskräfte evozieren, in Abhängigkeit besonders von ihrem Drohpotential, von ihrer Akzeptanz, von ihrer rhetorischen Präsentation u. a. Besonders aber interessiert mich die Eigenschaft als Placebo-Responder (a) von Organisationen überhaupt, (b) von bestimmten (Typen von) Organisationen. Den allgemeinen Fall (a) habe ich schon kommentiert. Wo immer Organisationen an selbsterzeugten Blockaden leiden, an Engpässen, an Fettleibigkeit, an Ineffizienzen, an Kommunikationsbarrieren, an Betriebsblindheit u.ä., verfügen sie über Potentiale der Selbstheilung, deren Aktualisierung durch Placebos ausgelöst werden kann. Bestimmte (Typen von) Organisationen (Fall b), etwa solche mit einer besonders responsiven Organisationskultur, solche mit einigermaßen großen Autonomiespielräumen, solche mit hinreichend großem organizational slack, sind vielleicht besonders geeignete Kandidaten für Placebo-Responder – Merkposten für eine organisationstheoretische Placebo-Forschung. Ich bleibe in der Metaphorik der Medizin und des Heilens, wenn ich eine alte Weisheit hinzufüge: Leidensdruck kann hilfreich sein – auch für die Mobilisierung jener Selbstheilungskräfte, die von Reorganisations-Placebos ausgelöst werden. Organisationen sind gute Placebo-Responder.
13. Organisationen und die Fabrikation von Identität* 13. Kapitel: Organisationen und die Fabrikation von Identität fingo 1.a. (in Ton, Wachs u. dgl.) formen, gestalten, bilden; b. (vom Bildhauer oder Erzgießer) bilden, darstellen; c. berühren; d. (das Haar) ordnen, frisieren; e. (bildlich) bauen, schaffen, gestalten, machen; f. (durch Unterricht) bilden, ausbilden; 2. met. sich vorstellen, sich denken, annehmen; 3. occ. a. erdichten, erlügen, ersinnen; b. erheucheln, vorgeben.
Wer über Identität spricht, der ist gut beraten, Vorsicht walten zu lassen. Das werde ich tun, indem ich den Ball flach halte. Wo Adorno in der Negativen Dialektik (1966, 146), mit gutem Grund, Klage führt über „das unersättliche Identitätsprinzip“ und die darin angelegte „Gewalttat des Gleichmachens“, die „Unterdrückung des Widersprechenden“, da schlage ich lieber einen nicht ganz so hohen Ton an, und ich beginne gleich mit einem besonders trockenen (von Odo Marquard). Vorausschicken möchte ich, dass es mir im Folgenden darum geht zu zeigen, erstens, dass alle Konstitution von Identitäten auf einen gewissen Zuschuss an Fiktionalität angewiesen ist; zweitens, dass darin die Sache zwar nicht aufgeht, aber eine dramatische Steigerung der Schwierigkeiten mit der Authentizität von Identitätsdarstellungen und -behauptungen liegt; drittens, dass sich die Denkfigur der Identität weder dadurch noch durch forcierteste Betonung der Differenz und des Fließens erübrigt oder moralisch disqualifiziert; und viertens, dass korporative Akteure, dass Organisationen heute die überragend wichtigen Betreiber der Fest-Stellung von Identitäten sind, und dass sie dabei das ganze Bedeutungsspektrum des lateinischen fingere ausschöpfen, vom Bilden und Bauen bis zum Frisieren und Erheucheln.
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Etwas als etwas – die Identität von Dingen
1 Etwas als etwas – die Identität von Dingen 1. Identität, sagt unnachahmlich Odo Marquard (1979, 347), ist die „Antwort auf die Frage, was einer ist.“ Was einer ist! Ich verallgemeinere: was einer oder etwas ist. Letzteres führt schnell in Fragen der Konstitution von Gegenständen in der Wahrnehmung und von da zu einer phänomenologischen Einklammerung dieses „Ist“. Was immer etwas „ist“ – wir nehmen es als
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Für Christof Wehrsig, der um die Wunden weiß, die Organisationen schlagen (und schließen?).
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13. Kapitel: Organisationen und die Fabrikation von Identität
etwas, nehmen „etwas als etwas“ wahr und können gar nicht anders, weil alle Wahrnehmung bereits auslegend ist. „Etwas“ – das kann das Ding hier sein, der Mensch da, eine Gruppe, eine Organisation, eine Nation, ein Reich, Reich des Guten oder des Bösen. Deren Identität zu bestimmen, das sieht man am letzten Beispiel besonders gut, ist nicht nur Sache der Wahrnehmung, nicht nur eines Nehmens-als-etwas, sondern auch eines performativen Setzens-als-etwas, Sache der Durch-Setzung, also nicht zuletzt: eine Machtfrage – womöglich Sache beliebiger Setzung, Dezision, Manipulation? Das scheint die ontologische Frage erst recht obsolet zu machen. Was etwas ist, können wir nicht wissen, weil wir es nur auslegend, je schon interpretierend, wahrnehmen können. Wir können es nur „als etwas“ nehmen – als was, darüber kann es Streit geben, und der kann mit Macht entschieden werden. Die „Sache selbst“ ist immer schon ein Streitfall. 2. Wegen dieser Interpretationsgebundenheit aller Wahrnehmung lag es nicht so fern, die Welt unter den Metaphern des Buches, der Schrift oder des Textes anzuschauen und die Frage ihrer „Lesbarkeit“ zu stellen (Blumenberg 1983). Auch ein buchstäblicher Text, genauer: seine Bedeutung, ist ein Etwas, das wir nur als etwas nehmen können – nur via Interpretation. Das ist ja nun gewiss keine Neuigkeit, aber es lohnt sich doch, es sich in einer weiteren trockenen Formulierung Marquards (1981, 117) klarzumachen: „Hermeneutik ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht“. Was nicht drinsteht! „Ist“ die Bibel, das Buch der Bücher, ein historischer Text, zum Beispiel über den Anfang der Welt und das Leben Jesu, oder das Wort Gottes, Urkundensammlung der göttlichen Offenbarung, oder beides? Es steht nicht drin, und wenn, dann in vieldeutigen Hinweisen. Das alles, noch einmal, scheint die Frage nach der Identität – eines Dings, eines Menschen, eines sozialen Systems, eines Textes – als ontologische zu suspendieren. Dann wäre Identität nichts als das Resultat einer Zu-Schreibung. Identität wäre das, was wir dafür halten. Oder? 3. Auch die, die einen Text, hier: die Bibel, buchstäblich zu nehmen glauben und deswegen etwa die Evolutionstheorie – das wäre ja ein Widersprechendes, wie Adorno es im Sinn hatte – aus den Schulen verbannen wollen, nehmen ihn „als etwas“, nämlich als buchstäblich – und übersehen oder unterschlagen, dass eine buchstäbliche Lektüre ein hölzernes Eisen ist, sofern damit eine interpretationslose Lektüre gemeint ist. Der neue Papst, entnehme ich der Süddeutschen Zeitung Nr. 105 vom 9.5.2005, S. 1, „sei verpflichtet dafür zu sorgen, dass das Wort Gottes ‚nicht zerrüttet wird von ständigen Modewechseln’; er müsse allen Versuchen entgegentreten, es ‚anzupassen und zu verwässern’.“ Dass aber die Identität der Bedeutung des „Wortes Gottes“ nicht durchgehalten werden kann, ohne sie zu ändern, erhellt ja schon daraus, dass „Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens“ in Zeiten der Embryonenforschung und neuer Möglichkeiten, zwischen Leben und Tod zu unterscheiden und „Leben“ künstlich zu verlängern, eine neue, modifizierte Bedeutung erhalten muss. Man bedenke übrigens, dass es sich auch um andere, um Bibeln im übertragenen Sinne handeln kann, um marxistische, ökologische oder, um von meinem Fach zu sprechen, die Bibeln der neoklassischen Ökonomik. Nehmen wir, um deren Interpretationsabhängigkeit weiter zu erläutern, als Metapher für Vieldeutigkeit und einander überlagernde Bedeutungen die einander überlagernden Handschriften eines Palimpsest. Behutsames Abschaben, Differentialfarbenphotographie
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und Fluoreszenzverfahren können helfen, die ältere, die ursprüngliche Schrift lesbar zu machen. Damit hätten wir das metaphorische Pendant zur ursprünglichen Bedeutung – zu dem, was der Text „eigentlich sagt“. Aber das funktioniert nicht, denn: „Zu glauben, man könne durch Abschaben zu einer allerersten Schrift, zu einem durch die Interpretation freigelegten Text erster Hand und von da aus zum wahren, unter der Deckschicht lebendigen Sinn gelangen, ist eben nur ein Glaube. Ein Glaube, das Trugbild einer Lektüre, und bereits eine aktive Interpretation von ‚Palimpsest’, die (verleugnete) Interpretation der Selbstauslöschung der Interpretation.“ (Derrida 1980, XVI) Auch darin übrigens ist die Metaphorik des Palimpsest nicht etwa schief. Denn auch die buchstäblichen Schabe- oder Fluoreszenzverfahren stellen den ursprünglichen Schriftzug niemals in seinem ganzen jungfräulichen Erscheinungsbild – in seiner ursprünglichen Identität – wieder her. Aber halten wir uns an die übertragene Bedeutung der Metapher. Keine noch so gewissenhafte, noch so objektiv daherkommende Hermeneutik, das soll damit gesagt sein, kann eine reine, von Interpretation unverfälschte, ursprüngliche Bedeutung – eine Ur-Identität – eines Textes freilegen. Das also endet, wie es scheint, wieder bei der Unmöglichkeit, Identität festzustellen – in des Wortes doppelter Bedeutung: zu ermitteln und zu fixieren. Ich lasse immer noch offen, ob dies das letzte Wort sein kann, biete aber andere Beispiele als das des Textes auf, um die Schwierigkeiten mit der Identität, und nun: die zeitlichen Verwicklungen, näher zu beleuchten. 4. Eine dramatische Komplizierung der Idee der Identität und Hypostasierung der Differenz beginnt schon mit der landläufigen Heraklit-Lesart. „Man steigt nie zweimal in denselben Fluß“, so oder so ähnlich pflegt Heraklits berühmtes Diktum zitiert zu werden – von Plutarch171 und Aristoteles172 bis Kierkegaard173, Vickers und Weick (s. u.). Und die noch schärfere Version des Heraklit-Schülers Kratylos lautete: Dann könne man auch nicht ein Mal durch denselben Fluß gehen. Einen Fluß, soll das heißen, der seine Identität so lange durchhielte, wie man dazu brauche, könne es eben nicht geben. Und natürlich ist auch der Mensch selbst ein solcher Fluß, immer in Bewegung, immer in Veränderung. Der Zahn der Zeit nagt an der Substanz der Identität. Und es ist nicht nur der Muskelaufbau oder der körperliche Verfall, sondern auch der geistige, der uns andauernd verändert: „Man liest: Tabak, Alkohol, Butter, Gefrierfleisch usw. gefährde die Gesundheit, und man ist ... ein anderer“, hat Niklas Luhmann einmal (1984, 203) gesagt „ – ob man’s glaubt oder nicht!“ Dagegen war ja noch harmlos, was die Tante meines Freundes Emil zu sagen pflegte. Die
171 „Denn ‚zweimal in denselben Fluß zu steigen ist nicht möglich’ nach Herakleitos und ebensowenig, ein sterbliches Wesen zweimal in demselben Zustand anzutreffen“ (Plutarch, zit. n. 1952, 65 f). 172 „Heraklit [...], der behauptete, daß es unmöglich sei, zweimal in denselben Fluß zu steigen“ (Aristoteles, zit. n. 1993, IV. Buch, 1010a, S. 102). 173 „Der dunkle Heraklit [...] hat gesagt: Man kann nicht zweimal durch denselben Fluß gehen.“ (Kierkegaard 1992, 114 f). Das Bonmot, daß man dann auch nicht einmal durch denselben Fluß gehen könne, wird von Aristoteles dem Heraklit-Schüler Kratylos zugeschrieben – und von Kierkegaard (ebd.) als Leugnung der Bewegung kritisiert.
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13. Kapitel: Organisationen und die Fabrikation von Identität
war Anthroposophin und wusste daher: „Alle sieben Jahre ändert sich der Mensch.“ Alle sieben Jahre – das ginge ja noch, aber bei Heraklit, Kratylos und Luhmann geht die Identität eben noch ganz anders ab. Das ist nun schon das dritte oder vierte Mal, dass die Sache mit der Identität unfassbar zu werden droht. Es ist, als entzöge sich die Identität dem gedanklichen Zugriff wie die Seife in der Badewanne. Rettung naht vielleicht von Gregory Bateson (1983, 373), der Heraklit so paraphrasiert hat: „Kein Mann kann zweimal mit demselben Mädchen zum ersten Mal ins Bett gehen.“ Auch hier spielt das tempora mutantur seine verhängnisvolle Rolle – ein und dasselbe Erlebnis/Ereignis ist nicht wiederholbar –, aber es sind doch immerhin ein (mit sich selber identisch bleibender?) Mann und „dasselbe Mädchen“, die hier die Bühne respektive das Bett betreten. Batesons Botschaft könnte lauten: Das Ereignis ist ephemer, Identität jedoch nicht. Heraklit jedenfalls, das muss nun erwähnt werden, pflegt falsch zitiert zu werden. Er hat gesagt: „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht“ (DK 22 B 49a, zit. nach: 1995, 273; Hervorh. G. O.), und daran wird sich erheblich besser anknüpfen lassen. Sehen wir weiter zu. 5. Rettung naht vielleicht auch aus meinem Fachgebiet, der Organisationstheorie. Da geht es um die Frage der Identität von Unternehmen, und allgemeiner: von Organisationen. Ist die Firma Degussa, die das Zyklon B produziert hat, dieselbe, die den Graffitischutz für die Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europas hergestellt hat? „Organisationen“, sagt Karl Weick (1985, 64), „haben mit Strömen von Materialien, Leuten, Geld, Zeit, Lösungen, Problemen und Entscheidungen zu tun. Ströme können eine nützliche Metapher zur Darstellung des kontinuierlichen Fließens, das mit Organisationen verbunden ist, abgeben“. Das konfrontiert auch Weick (und überhaupt die Organisationstheoretiker) mit Heraklits Problem, und er sucht die Lösung in der Unterscheidung von Form und Inhalt. Er zitiert nämlich Geoffrey Vickers „Sociology of Management“ mit folgender Differenzierung: „Das Sprichwort (sic) sagt, daß wir nie zweimal in denselben Fluß steigen. Es ist ebenso wahr, daß wir niemals in dasselbe Unternehmen zur Arbeit gehen. Es ist auch ebenso falsch; denn die Wörter ‚Fluß’ und ‚Unternehmen’ bezeichnen nicht unwandelbare Substanzen, sondern fortbestehende Formen.“ (Vickers 1967, 68; zit. in der Übersetzung bei Weick 1985, 64) Hilft das im Fall Degussa? Ja und nein. Ja, denn wir können dann Degussas Identität an ihrer fortbestehenden Form, zum Beispiel ihrer Rechtsform respektive der Form der Rechtsnachfolgerin, festmachen. Nein, insofern die implizierte Auseinanderlegung von Form und Inhalt das letzte Wort wohl kaum sein kann, übrigens auch nicht in der moralischen Frage, ob Degussa am Bau des Denkmals beteiligt werden durfte oder sollte. Die causa lehrt im übrigen, dass in Sachen Identität die Dinge nicht so einfach liegen, dass die Guten gegen, die Bösen aber für die Fixierung von Identitäten einstünden. An der Identität von Degussa festzuhalten und die Beteiligung des Unternehmens am Bau des Denkmals daher für problematisch zu
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halten, ist keine „Gewalttat des Gleichmachens“ à la Adorno. Vielleicht aber ließe sich sagen: Degussa hat durch die Anerkennung jener Identität und seiner daraus resultierenden Verantwortung und durch seine so verstandene Beteiligung an dem Bau – seine Identität verändert (aber gewiss nicht nur und nicht in erster Linie seine Form). Wäre die Degussa „restlos“ identisch geblieben, hätte sie diese Verantwortung nicht übernehmen können. Als ganz andere aber hätte sie es erst recht nicht vermocht. Einen noch anderen Umgang mit der Angelegenheit haben viele andere deutsche Unternehmen gepflegt: eine Rumpelstilzchen-Strategie der Identitätsverleugnung, so lange es eben ging, etwa in Sachen ‚Zwangsarbeit’. Ob aber die Substanz oder Essenz eines Dinges oder aber seine Eigenschaften, ob Inhalt oder Form, seine Struktur oder Elemente seine Identität ausmachen, bleibt da noch unübersichtlich. Nicht ganz unwichtig übrigens auch, und nicht nur akzidentiell: sein Name. 6. Das Beispiel Degussa könnte aber verständlich machen, was Edmund Husserl mit „Identität als Widerstreitseinheit“ gemeint hat. Auch bei Husserl geht es da immer auch um die zeitliche Dimension von Identität – sei es die des Ich, das sich mitten in einem Erlebnisund Bewusstseinsstrom als identisches konstituieren und durchhalten muss, ohne es restlos zu können (Därmann 2005, 397, 401), sei es die von Generationen, Gemeinschaften oder Gesellschaften, die in sprachlicher und schriftlicher Mitteilung „das wichtigste Band einer identifizierenden Synthesis der Vergemeinschaftung“ inmitten des Stroms der Geschichte haben, obwohl dabei „auch die vergangene Menschheit und Lebenswelt ihre Fremdheit nicht verliert, sondern der intersubjektive ... Sinn von der einen Welt als ‚Widerstreitseinheit’ (Hua XIV, 413), als Deckung in der Andersheit gedacht werden muß.“ (Därmann 2005, 453; nur die erste Hervorh. i. Orig., G. O.) Dieser Gedanke, dass „der Unterschied den Konstitutionsgrund des jeweiligen Identitätsbegriffs [bildet]“ (Iser 1979, 725 f), wird uns noch wiederbegegnen. 7. Was nun die Identität von Dingen anlangt, so würde Husserl (1966, Hua XI, 3) sie als „Deckungseinheit“ der unendlichen Mannigfaltigkeiten möglicher Erscheinungen, der unendlich vielen Abschattungen möglicher Perspektiven, bestimmen, aber mit der Pointe: Es gibt da – es muss geben – einen „noematischen Kern“: Nehmen wir den von den Philosophen so überstrapazierten „Tisch da“. Seine Identität geht nicht in seinen Eigenschaften auf. Sondern „dieses Identische ist ein beständiges x, ist ein beständiges Substrat von wirklich erscheinenden Tisch-Momenten, aber auch von Hinweisen auf noch nicht erscheinende“ (ebd., 5), also ein dynamisches Verweisungssystem. Identität gerät unter dem phänomenologischen Blick Husserls selbst zu einem Prozessualen – zu einem Prozess der „Deckung in Andersheit“. So ungefähr könnte eine von Husserl inspirierte Antwort auf die Besorgnis Vickers’ lauten, die uns doch wieder vor das Problem des Heraklit zu stellen scheint: „Die vertrauten Sprachformen verbergen das Ausmaß, in dem die Gegenstände unserer Aufmerksamkeit nicht Dinge, sondern zeitlich ausgedehnte Beziehungen sind“. (Vickers 1967, 68; zit. in der Übers. bei Weick 1985, 65) Karl Weick (1985, 67) hat daraus die nicht ganz neue174 Pointe gemacht, wir sollten „die Leute drängen, Substantive einzustampfen.“ Implizieren also
Vgl. zum Beispiel William James (1950, Bd. 1, 245 f) oder Bateson (1981, 431) unter Rekurs auf Anatol Holts „Die Substantive ausrotten!“
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Dingwörter eine Verdinglichung, der die „Dinge“ erst ihre Identität verdanken? Ist die Identität der Dinge nichts als sprachlich erzeugter Schein? Wer das behauptet, schüttet, das kann man sich mit Husserl an dem vielzitierten Tisch, aber auch an dem „Ding“ namens Degussa ganz gut klarmachen, das Kind mit dem Bade der Sprachkritik aus. 8. Wie aber könnte die von Husserl als „das wichtigste Band einer identifizierenden Synthesis“ in Anspruch genommene sprachliche und schriftliche Mitteilung diese ihre Funktion in Prozessen der Identifikation erfüllen, wenn sie nicht ihrerseits bereits mit der Identität der Bedeutung von Wörtern und sodann Texten als Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation rechnen könnte? Ich mache es kurz und antworte mit Derrida, der die Angelegenheit zu einer Frage der Iterabilität macht, zu einer Sache der Wiederholung-einschließlich-Veränderung, also zu einem Prozess: „Die Iterabilität setzt (bei aller Dissemination, G. O.) eine minimale Bleibe (als eine wie auch immer begrenzte Idealisierung) voraus, damit die Identität des Selben wiederholbar und identifizierbar sei in, durch und sogar im Hinblick auf die Veränderung. Denn die Struktur der Iteration ... impliziert in einem Identität und Differenz. Die ‚reinste’ Iteration – doch sie ist niemals rein – trägt in sich die Aufspreizung einer von ihr in der Iteration konstatierten Differenz.“ (Derrida 1977, 24 f; zit. in der Übersetzung von Gondek 1987, 93; erste Hervorh. G. O.; vgl. die deutsche Buchversion: Derrida 2001, 89.) Und umgekehrt: Die Struktur der – dynamischen! – Identität trägt in sich die Aufspreizung in Wiederholung und Veränderung. Degussa ist dieselbe geblieben, während und indem sie eine andere geworden ist. Und der Name ‚Degussa’, das Wort, bewahrt seine Bedeutung durch deren Veränderung. Wieder sind wir bei der Bestimmung von Wolfgang Iser, dass „der Unterschied den Konstitutionsgrund des jeweiligen Identitätsbegriffs bildet“. Ich füge hinzu: Was Wörter wie ‚Tisch’, ‚Organisation’ oder ‚Degussa’ bedeuten, spielt sich zeitweise als Eigenwert einschlägiger Signifikations-Praxis-Rekursionen ein. Bedeutungsverschiebungen und kulturelle Differenzen sind damit nicht negiert. Derrida würde sagen: ja, eben, und darin liegt eine Dissemination weg von eben noch etablierten Bedeutungsgehalten, ohne Rückkehr zu einem semantischen Herd. Aber auch dieses Kind sollten wir nicht mit dem Bade ausschütten. Diese Weg- und Vorwärtsbewegung, dieses Sich-Absetzen ist denkbar nur als ein Sich-Absetzen-von, nämlich von bisher stabilisierten Bedeutungsidentitäten, also als ein Aufbruch mit einem Blick zurück. Ich ergänze daher, vielleicht etwas befremdlich, Derrida mit diesem Credo Odo Marquards (1981, 78): „Den Spielraum determiniert das schon vorhandene als fait accompli“. Wir müssen alle in der Mitte anfangen. Um es zu einer Différance zu bringen, braucht es Anknüpfungspunkte. Alltagspraktisch lässt sich das durchaus als Rückkehr-zu auffassen, und innerhalb einer Lebensform (Wittgenstein) impliziert es denn auch regelmäßig, das heißt: mit Ausnahmen, die die Regel bestätigen oder gefährden, jedenfalls auf sie bezogen sind, die Rückkehr zu etablierten Bedeutungen, einschließlich (zunächst) kaum merklicher Veränderungen. Die – niemals reine, aber für den alltäglichen Hausgebrauch meist hinreichende – Identität von Bedeutungen ist das stets prekäre Resultat rekursiver Konstitution diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken.
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Menschliche Identität
2 Menschliche Identität 9. Für Hermann Lübbe (1979) und Odo Marquard avanciert menschliche Identität zum Schwundttelos, zur Mini-Essenz, soll heißen: zur Kompensation angesichts des Sterbens teleologischer Geschichtsphilosophie. Identität fungiert „als Ersatzbegriff für essentia und als Begriff des Ersatzpensums für Teleologie“ (Marquard 1979, 362). „Die aktuelle Konjunktur des Identitätsthemas signalisiert: wo die Menschen nicht mehr dadurch sie selber sind, daß sie ein Wesen haben und einen Endzweck, müssen sie stattdessen etwas tun: dort muß jeder irgendwie auf anderem Wege er selber sein als ‚der, der ...’, gehörend zu ‚denen, die ...’; und das Erfolgswort ‚Identität’ benennt dieses jetzt scheinbar radikal orientierungslos gewordene ... Ich-bin-der-der-ich-binPensum, das sofort übergeht in ein Wir-sind-die-wir-sind-Pensum’, weil die Menschen versuchen müssen, irgendwie ‚zugehörig’ und irgendwie ‚unverwechselbar’ zu sein: irgendwie.“ (Ebd.; Hervorh. G. O.) Wesensverlust und Telosschwund nötigen, und nun erst recht in Zeiten von Orientierungskrisen, ausgelöst oder forciert durch das Tempo sozialen Wandels, zu Aufbauprogrammen an der Identität – oder, das ist ja wohl eher die Botschaft Marquards: an Identitätsfassaden und -fiktionen. Diese Aufbauarbeit hört auch nicht auf, wenn sie sich dem Ende zuneigt. Gegen Ende – einer Amtszeit, eines Lebens – pflegen die Aufbauarbeiter im Blick zurück zu sagen oder, horribile dictu, zu singen: „I did it my way.“ Peter Zadek und Tom Stromberg haben gar ihre Produktionsfirma so genannt – „My way Productions“. Erst durch die Marquard-Lektüre ist es mir gelungen, einer Verstörung oder doch Irritation Herr zu werden, die eine mir bis dahin befremdlich gebliebene Häufung solcher Universitätspräsidenten ausgelöst hatte, die ihre Amtszeit mit der Sinatra-Zeile beenden und sie so noch nachträglich mit Unverwechselbarkeit auszustatten glauben – verwechselbarerweise175. Frankie-Boy, Harald Juhnke, früher oder später alternde Regisseure, Präsident S, Präsident Z – sie alle beschwören zuletzt die Individualität und Identität ihrer Lebens- und ihrer Amtsführung mit diesem tränentreibenden „I did it my way“ und nehmen Rechtfertigungszugewinne mit, als sei „my way“ gleichsam von Natur aus mit legitimatorischen Geschmacksverstärkern ausgestattet; als hätte nicht auch Helmut Kohl bei der Offenbarung seines Verfassungsbruchs oder Michel Friedman nach der Enthüllung seines ... – aber lassen wir das – singen können: „I did it my way.“ Das nun allerdings wirft die Frage auf, der wir nun nicht länger ausweichen können: Schein oder Sein?
175 „So ein Präsident,“ habe ich (Ortmann 1995d, 114 f) einmal geschrieben, „der muß wendig sein, verbindlich, ausgleichend; ein liebenswürdiges Lächeln ist hilfreich; die Fähigkeit zu Kompromissen sollte nicht durch allzu feste eigene Ansichten beeinträchtigt sein; ein guter Schuß Opportunismus schadet nicht (und sollte nicht allzu schnell moralisch verdammt werden), während eine allzu strenge Moral abträglich ist; Regen und Kritik abtropfen lassen zu können, ist unabdingbar, rhetorisches Talent (talk!) von Vorteil, (Aus-)Sitzfleisch dito; graue Schläfen flößen Vertrauen ein, das dezente Bärtchen demonstriert einen Hauch Originalität und Eigenständigkeit, der gepflegte Anzug Seriosität und Integrität“ – und also: Identität, die einzigartige Identität derer, die am Ende sagen: „I did it my way.“
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10. „Schein und Sein“ heißt ein Gedicht von Wilhelm Busch, und darin findet sich die Zeile: „du siehst die Weste, nicht das Herz“ – und dabei gab es zu Buschs Zeiten (1932-1908) noch gar keine Universitätspräsidenten. Odo Marquard, der von seiner „skeptische(n) EinMann-Expedition ins wilde Land der Identität“ (1979, 347) auch das Busch-Zitat mitgebracht hat, hatte seine Gründe, kurz bei Schopenhauer Station zu machen – bei dessen „Aphorismen zur Lebensweisheit“. Darin wird gesagt, „was den Unterschied im Lose der Sterblichen begründet“, nämlich: „1. Was einer ist ... 2. Was einer hat. ... 3. Was einer vorstellt: unter diesem Ausdruck wird bekanntlich verstanden, was er in der Vorstellung anderer ist“. Letzteres aber, „also unser Dasein in der Meinung anderer, wird infolge einer besonderen Schwäche unserer Natur durchgängig viel zu hoch angeschlagen“ (Schopenhauer 1980, 377, 420 f; letztere Hervorh. G. O.). Darin steckt, wie Marquard in einem wilden Schnelldurchgang von Platon und Aristoteles bis Heidegger eruiert, die Traditionsmeinung in Sachen Identität: „was einer ist, ist von dem, was einer vorstellt (darstellt), durch einen schlechthinnigen Abstand unterschieden. Wer diesen Abstand vergißt und sich durch das definiert, was er vorstellt, verliert sich selbst. Denn es gibt ein Wesensplus, einen Seinsmehrwert, einen Eigentlichkeitsüberschuß des Selbst gegenüber seiner Selbstdarstellung in der Meinung der Anderen: den ... Eigentlichkeitsabstand zwischen dem Selbst und dem, was es vorstellt.“ (Marquard 1979, 349) Aber längst sind ja die Stationen durchlaufen, in denen wir diese Traditionsmeinung hinter uns gelassen haben. Ich nenne nur: Mead, für den das „self“ nicht das Gegenteil dessen ist, was einer vorstellt, sondern – sein Resultat; und Goffman, der nicht dem verborgenen, sondern dem sich verbergenden Selbst sein Denkmal gesetzt hat: Wir alle spielen Theater, es ist uns geradezu wesentlich, impression management zu betreiben. Und nur der Schein trügt nicht. Aber selbstverständlich hat der einigermaßen versierte impression manager inzwischen seinen Goffman unter dem Arm und suggeriert vor allem dies: „Ich trieb niemals impression management – I did it my way.“ Read my lips. 11. Goffman nährt und befriedigt, auch wenn er es nicht wollte, unser aller Sehnsucht nach Enthüllung. Hinter der Maske, hinter der Fassade muss doch die wahre Identität, die wahre Person verborgen sein, das war ja die traditionelle Überzeugung, von der er noch in seiner Absetzbewegung zehrt, auch noch mit dem Hinweis, dass persona eben dies heißt: Maske. Darüber müssen wir hinaus – sonst reproduzieren wir nur das traditionelle Paradigma in neuer Version. Aus Gründen, die mit Bielefeld und Christof Wehrsig zu tun haben, wähle ich Niklas Luhmanns Systemtheorie als Vehikel für den nächsten, den nun fälligen Reflexionsschritt. Um gleich falschen Hoffnungen oder Befürchtungen vorzubeugen: Nicht, dass Luhmann, der das Denken der Differenz bekanntlich sehr zu forcieren bemüht war (und sich einiges darauf zugute gehalten hat), auf Identität als eine tragende Säule seiner Theoriearchitektur verzich-
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tet hätte, oder hätte verzichten können!176 Schon der berühmt-berüchtigte Satz „Es gibt soziale Systeme“ (Luhmann 1984, 16, 30, 599) wäre ja ohne massive Identitätsannahmen undenkbar: Es kann sie ja wohl nur „geben“, wenn sie sich – ihre Systemidentität – durchhalten, ist man geneigt zu sagen. Luhmann aber dreht diesen Zusammenhang funktionalistisch um. Er fragt, wie er immer fragt, nämlich nach dem Problem, das der Lösung harrt, hier: der Lösung durch Identitätsgebrauch. Und wo, in einer Formulierung Horkheimers und Adornos (1969, 12 f), die stereotype Auskunft der Aufklärung unterschiedlos die Antwort des Ödipus auf das Rätsel der Sphinx wiederholt: „Es ist der Mensch“, da antwortet die Sphinx Luhmann wie immer: „Es ist das System, das die Probleme hat, die hier der Lösung harren“. Gebraucht wird Identität, wenn und weil „Situationen Verhaltenswahlen eröffnen“, also „Kontingenz allen Anschlußverhaltens“; dann sichert Identität „Kontingenz trotz Wahl“ (Luhmann 1979, 322). Identität ist ferner „eine Technik des Abstandhaltens“, „Technik der Gefahrenabwendung“, „ermöglicht überhaupt erst die Konstitution einer Differenz von System und Umwelt“. Und: „Identitäten in der Umwelt dienen dem System ... als Abstoßpunkte und als Kontrollfaktoren für eigene Operationen.“ (Ebd., 317) Schließlich setzt die Selbstsubstitution oder -transformation von Systemen, setzt Systemwandel „eine den Substitutionsvorgang übergreifende und zusammenhaltende Identität voraus.“ (Ebd., 325) Das riecht nun allerdings nach Systemen, die von Identität Gebrauch machen, wie man von einem Korsett oder einer Prothese Gebrauch macht, mehr noch: die sich eine Identität zulegen und der Umwelt Identitäten zuschreiben, um ihre Systemprobleme zu lösen. Tatsächlich bahnt sich in dieser funktionalistischen Bestimmung der später radikaler, und manchmal allzu radikal gewordene Konstruktivismus Luhmanns an, zumal wenn er hinzufügt: Identitäten in der Umwelt „haben diese Funktion aber nicht als Naturfestes oder als widerständiger Realitätskern; sie erfüllen diese Funktion nur deshalb, weil sie im System für diese Funktion konstituiert werden.“ (Ebd., 317 f) Schon in diesem Beitrag aus dem Jahre 1979 (ebd., 321) ist die Rede von „Identitätskonstruktionen“. Konstruktionen? Oder Fiktionen? Da gibt es bei Luhmann durchaus ein Schwanken, und nicht selten ist auch er der Verführung erlegen, Enthüllungsprosa zu schreiben. An der eben zitierten Stelle (ebd., 318) macht er, wie auch sonst oft, einen halbherzigen Rückzieher: „All das bedeutet nicht, daß der Umwelt kein Realitätswert zukommt“, aber nur noch der eines „Zufalls relativ zum System“. An vielen Stellen aber hat Luhmann mit der Geburt psychischer und sozialer Systeme aus dem Geiste der Fiktion zumindest geliebäugelt, mit, wie wir sehen werden, gar nicht so üblen Gründen, aber eben mit der Neigung, als Enthüller des falschen Scheins aufzutreten. Mit guten Gründen meine ich ein Theoriemotiv, das er von Husserl adoptiert und soziologisch forciert hat (Ellrich 1992). Nicht im Rückgang auf unhintergehbare Voraussetzungen für Subjektivität im Subjekt, das den Anderen sodann im Wege der Analogiebildung zu einer vollen Person „macht“ und es so zu Intersubjektivität bringt, bewerkstelligt Luhmann den Dazu s. die lebhafte Diskussion zwischen Wagner, Zipprian (1992), Luhmann (1993a), Nassehi (1993), Wagner (1994), Luhmann (1994). Im Nachgang dazu hat Wil Martens (1995a) unter dem Titel „Der verhängnisvolle Unterschied“, gestützt auf phänomenologische Einsichten zur Konstitution und Kategorisierung der Gegenstände der Erfahrung, die Unmöglichkeiten reiner Differenzen herausgestellt. Die Setzung von Differenzen kommt ohne Identität nicht aus.
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theoretischen Anfang von Sozialität. Sondern er klammert auch diese Voraussetzungen in einer Art radikalisierter, soziologischer Epoché ein177, beginnt mit der Konstellation doppelter Kontingenz und entwickelt daraus die Notwendigkeit wechselseitiger Unterstellungen, nun aber nicht, wie bei Husserl, als Vorgänge im methodologisch einsam gemachten Subjekt, sondern als Resultat des Handlungs- respektive Kommunikationsdrucks, den diese Konstellation unweigerlich erzeugt. Berühmt geworden ist diese Formulierung: „Zwei black boxes bekommen es, aufgrund welcher Zufälle auch immer, miteinander zu tun. Jede bestimmt ihr Verhalten durch komplexe selbstreferentielle Operationen innerhalb ihrer Grenzen. ... Jede unterstellt das gleiche der anderen. Deshalb bleiben die black boxes bei aller Bemühung ... füreinander undurchsichtig.“ (Luhmann 1984, 156; Hervorh. G. O.) Sozialität resultiert aus solcher Unterstellerei178, und „alle Struktur [beruht in gewissem Sinne] auf Täuschung ... über die wahre Komplexität der Welt“ (Luhmann 1970a, 120; Hervorh. G. O.) Auch falsche Erwartungen bringen die Sache in Gang. Die „wahre“ Komplexität der Welt, das ist, versteht sich, die, von der der soziologische Beobachter Luhmann Kenntnis hat – objektive Kenntnis? „Das Reizvolle an der cartesianischen Reflexion“ Husserls ist für 177 Vgl. zum Beispiel diese Formulierung: Es „muß die Organisationstheorie mit Hilfe einer Art ‚phänomenologischen Reduktion’ formuliert werden und offen lassen, ob und in welchem Umfange die Entscheidungen, die beim Aufbau und Betrieb einer Organisation in Anspruch genommen werden, wirklich als Entscheidungen vollzogen werden.“ (Luhmann 1981, 354) 178 „Die schwarzen Kästen ... erzeugen durch ihr bloßes Unterstellen Realitätsgewissheit, weil dieses Unterstellen zu einem Unterstellen des Unterstellens beim alter Ego führt.“ (Luhmann 1984, 156 f; Hervorh. G. O.) Das bedeutet ja wohl: Ego greift zu Unterstellungen, „also“ wird alter Ego, der dem Ego ja ähnlich ist, wohl Analoges tun. Mit seiner Formulierung – „führt“! – hält sich Luhmann allerdings, wenn ich recht sehe, bedeckt in der entscheidenden Frage nach den Möglichkeitsbedingungen dieses „führt“. Vielleicht vermeidet er, vielleicht verbirgt er damit aber auch nur jene Analogiebildung durch Ego, auf die Husserl in den Cartesianischen Meditationen den Aufweis der Möglichkeit von Intersubjektivität zu stützen gehofft hatte – in einem Versuch, der aber in Aporien führt, wie besonders Schütz (1971a) gezeigt, aber auch Husserl selbst in seinen nachgelassenen Texten zur Intersubjektivität (Hua XIII-XV) gesehen hat. Die black boxes sind füreinander undurchsichtig. Dass Ego von der eigenen Unterstellerei auf die Unterstellerei des alter Ego schließen kann, wenn auch via Unterstellen des Unterstellens, ist dann nur im Wege eines Analogieschlusses möglich, der aber seinerseits als Schluss, als Denkakt auf einer – durch den mittleren und späten Husserl und durch Schütz gerade problematisierten – Ähnlichkeitswahrnehmung gründen muss, die selbst keine Schlussfolgerung sein kann. Diese „verbindende Ähnlichkeit“ als „Motivationsfundament für die ‚analogisierende’ Auffassung“ jedoch (Husserl 1992, 113) ist, verkürzt gesagt, deswegen problematisch, weil Innenleiblichkeit und Außenkörperlichkeit, „so unähnlich wie möglich“ sind (Schütz 1971a, 88). Es bedarf daher erst eines über Spiegelung und Fremdwahrnehmung vermittelten Bildes vom eigenen Körper – Körper, nicht Leib –, bevor eine solche Ähnlichkeitswahrnehmung möglich wird. Dann allerdings wird sie möglich, und Luhmanns schwarzen Kästen kann daher die Fähigkeit dazu zugebilligt werden. Allerdings ist ihr „Fundament“ dann Fremdheitserfahrung, und das heißt schon für Husserl: die Erfahrung einer irreduziblen Andersheit des Anderen (s. dazu Derrida 1972, 186 ff). Die verschwindet bei Luhmann am Ende doch, weil er sich nur für das Funktionieren der Kommunikation interessiert, für „die wenigen Hinsichten, auf die es in deren Verkehr ankommt“ (1984, 157). Im Übrigen bedeutet all dies, dass Luhmann stillschweigend voraussetzen muss, was er mit seinem „’subjektfrei’ konzipierten Begriff des Handelns“ (ebd., 167) hinter sich gelassen zu haben beansprucht: einen halbwegs vernünftig, halbwegs verständlich agierenden Akteur, dessen man sich durch noch so scharfsinnige Kritik des Subjektbegriffs nicht entledigen kann. Mit diesen Einschränkungen kann man seiner Figur einer mutualistischen Konstitution (ebd., 65 ff, 157, 188) wohl zustimmen – außer, dass Luhmann an der zitierten, entscheidenden Stelle von bloßem Unterstellen spricht und damit dem Eindruck beliebiger, durch keinerlei Anhalt in der Realität gedeckten Unterstellerei/Konstruiererei Vorschub leistet.
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Luhmann (1979, 341) „nicht die Selbstbegründung des Subjekts, sondern die Entdeckung, daß dies mit wahren und falschen Vorstellungen geschehen könne.“ (Hervorh. G. O.) Gegen eine solche „Konstitutionslogik von Unterstellungen“ (Ellrich 1992, 29) habe ich wenig einzuwenden179, außer, dass dabei gelegentlich die enthüllungstheoretischen Pferde mit Luhmann durchgehen und er dann Fiktion allzu schnell mit Täuschung gleichzusetzen tendiert. (Natürlich ist der Gedanke eines Illusions- und Täuschungszusammenhanges glamouröser. Er ist aber nicht wichtiger.) Dass es von der Unterstellung nur ein winziger Schritt zur Vor- und Darstellung ist – „jeder ist, was er ist, indem er wird, was er – gesellschaftlich anerkannt – vorstellt“ (Marquard 1979, 363) – und von da zur Vorspiegelung falscher Tatsachen, möchte ich keineswegs bestreiten, sondern vielmehr unterstreichen. Dann aber kommt alles darauf an, auch dieses Kind nicht mit dem Bade auszuschütten – es nicht zur Sache schierer, beliebiger Unterstellerei zu machen, und schon gar nicht zur Sache bloßer Fabrikation im Sinne von Täuschung und Fälschung. Das möchte ich jetzt an einem Beispiel weiter erläutern, dem Luhmann Zeit seines Lebens große Aufmerksamkeit gewidmet hat: am Beispiel jener merkwürdigen sozialen Systeme, die wir ‚Organisationen’ nennen.
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Die Identität von Organisationen
3 Die Identität von Organisationen 12. Organisationen bestimmt Luhmann als Systeme, die aus Entscheidungen bestehen. Identität, hatte ich eingangs mit Odo Marquard gesagt, ist die Antwort auf die Frage, was etwas ist. Was ist eine Entscheidung? Auch Luhmanns Antworten auf diese Frage operieren mit einer Konstitutionslogik der Unterstellungen: „Die soziale Realität des Entscheidens in Organisationen wird ... als eine bloße Annahme oder Unterstellung oder Suggestion der am System Beteiligten aufgefaßt.“ (Luhmann 1981, 354) Als bloße Unterstellung! Es folgt der schon bekannte vorsichtige Rückzieher: „Ein Mindestmaß an psychisch fundierter Realität muß natürlich vorliegen ...“ (ebd.) Und nun:
179 Ich übergehe hier, noch einmal, die Frage, ob Luhmann damit Husserls Probleme mit der Intersubjektivität wirklich hinter sich gelassen hat. Viel spricht dafür, dass er die Leistungen einer konstituierenden Subjektivität nicht erübrigt, sondern nur in (vor lauter Plausibilität ganz unauffälligen) Eigenschaften und Neigungen seiner black boxes – zum Beispiel: Angst (Luhmann 1984, 179) – und im übrigen in einer „Handlung“ untergebracht hat, die wie ein mit Kompetenz und Bewusstsein ausgestatteter Akteur präsentiert wird; für diesen oft erhobenen Einwand s. auch Ellrich (1992, 41).
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„Organisation ist nach diesem Begriff keineswegs eine bloße Fiktion ihrer selbst, wohl aber auf der Ebene ihrer Elemente eine erfolgreich durchgesetzte Unterstellung mit einer dafür ausreichenden Deckung durch Realverhalten.“ (Ebd.; Hervorh. G. O.) Mit anderen Worten: Die Identität einer Organisation und die ihrer Elemente gibt es nicht ohne jene Unterstellung, nicht ohne jene Fiktion, allerdings auch nicht ohne die zuletzt angefügte „Deckung durch Realverhalten“. Damit bin ich im wesentlichen einverstanden, nur, dass im Rahmen der Luhmannschen Theoriearchitektur etwas mysteriös bleibt, was ‚Realverhalten’ hier heißen soll und kann. Wie stehen Zurechnung, Unterstellung und Fiktion einerseits und dieses ‚Realverhalten’ andererseits miteinander in Verbindung? Das bleibt unklar auch in der folgenden Passage, die der Sache noch eine weitere Drehung gibt. Es geht da um den Zusammenhang von Entscheidung und Entscheider – gemeint ist der Mythos des großen Entscheiders: „Auch wenn der Zusammenhang von Entscheidung und Entscheider ein Zurechnungskonstrukt ist, heißt dies keineswegs, dass es nur eine Fiktion sei, die zusammenbricht, wenn man sie durchschaut. Eher könnte man ... von einem ‚Eigenwert’ der Organisation sprechen, der in der rekursiven Praxis des organisierten Entscheidens immer wieder bestätigt wird.“ (Luhmann 2000, 136; nur die erste Hervorh. i. Orig.) Das dürfen wir, wie ich glaube, in unserem Zusammenhang zu der Formel zuspitzen: Identität als Eigenwert – als prekärer Eigenwert einer rekursiven Praxis des Identifizierens, der allerdings jederzeit einer Différance ausgesetzt ist. Fraglich ist dann „nur“, was ‚Praxis’ hier heißen kann. Bei Luhmann sieht es gelegentlich, auch an den zitierten Stellen, beinahe so aus, als verhülle das bisschen (scheinhafte) Realverhalten nur notdürftig den (wahren) Schein; als zöge man das ominöse „Realverhalten“ wie eine dünne Decke über die wirklichen Verhältnisse, und die bestünden eben aus nichts als Unterstellung und Fiktion. „Deckung“ durch Realverhalten, das spielt unüberhörbar mit Anklängen an ungedeckte oder unzureichend gedeckte Schecks, die Luhmanns mystifizierte Entscheider und die allfälligen Zurechner und Untersteller auf die „rekursive Praxis des organisierten Entscheidens“ ziehen. Nicht, dass dies nicht andauernd vorkäme; darin aufgehen kann die Sache allerdings nicht, weil nicht ersichtlich ist, wie und wo einem bloßen Unterstellen jemals Grenzen gesetzt sein könnten. Diesem Problem wäre, soweit ich sehe, nur abzuhelfen mittels eines Praxisbegriffs, der in Luhmanns Theorie aber keinen rechten Platz haben kann, der nämlich einschließt, dass Praxis – und daher irgendwann auch die Praxis des Zurechnens, des Unterstellens, des Identifizierens – einer Widerstandserfahrung ausgesetzt ist, die von einem Ungewollten, Unerwarteten, „Fremd-Selbständigen“ (Dilthey 1974, 116) und übrigens auch vom Handeln anderer, auch von organisationsexternem Handeln ausgeht. Dafür haben wir, horribile dictu, den Namen ‚Realität’ reserviert: Realität, die nicht nur aus den respektiven Unterstellungen der anderen bestehen kann, und die der Gegen-Stand ist, an dem Praxis
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eine Differenz zu Wege bringen soll, die einen Unterschied macht. Damit ist eine Grenze benannt, mit der ein noch so radikaler Konstruktivismus rechnen muss180. 13. Immerhin: Fiktionen haben ihren Anteil an der Konstitution von Sozialität und von Identität, auch das will ich also nicht bestreiten, sondern meinerseits betonen. In „Als Ob“ habe ich ja die These auszuarbeiten versucht, dass Organisationen, statt auf massiven Fundamenten, vielmehr (auf Regeln und Ressourcen und) auf Fiktionen aufruhen und aufsteigen – oder auch zu Fall kommen. Anstatt nun aber der aus einer pseudo-nietzscheanischen Enttäuschung geborenen Neigung nachzugeben, alles zu Illusion und Täuschung zu erklären, ist es ratsam, sich klarzumachen, dass Fiktionen im Sozialen, weit davon entfernt, per se des Teufels zu sein, vielmehr der Stoff nicht nur unserer Träume, sondern auch jedweden ganz irdischen Weltbezugs sind. So zu tun-als-ob, auch: zu sprechen-als-ob, das hat viele Schattierungen, nicht nur die des Gegenteils von Echtheit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Es hat zum Beispiel als mögliche Bedeutung auch die des Fingierens der Realisierbarkeit, und da verlassen wir schnell die Sphäre eines Hautgout. Wir müssen sprechen und handeln, als ob, was gestern sich bewährt hat, sich auch heute und morgen wieder bewähren werde; als ob Kommunikation nicht unwahrscheinlich wäre; als ob Konsens herzustellen normalerweise problemlos gelänge. Zwischen fake und solch notwendiger, irgendwie an ihre Bewährung und Realisierung gebundener fiction haben wir daher zunächst zu unterscheiden, bevor wir dann allerdings zugeben müssen, dass die Unterscheidung beider höchst verwickelt und immer prekär ist und dass man von der einen zur anderen in gleitender Bewegung kommen kann. Das ist conditio humana.
... und, jedenfalls in der Version Ernst von Glasersfelds (vgl. nur 1982; 1991), auch rechnet, unter Rekurs auf Konzepte des Handelns und der Erfahrung, entlehnt etwa bei Vico oder Piaget. Auch von den Unterstellungen müsste ja im Übrigen gefragt werden, ob es sie gibt – ob „die am System Beteiligten“ damit tatsächlich operieren, von ihrer „erfolgreichen Durchsetzung“ ganz zu schweigen. Wie sonst könnten sie „in der rekursiven Praxis des organisierten Entscheidens immer wieder bestätigt“ werden? Einige Passagen des folgenden Punktes 13 sind entnommen aus Ortmann (2003) und (2004). Eine differenzierte Studie zu Organizational Identity and Self-Transformation aus der Sicht der Luhmannschen Systemtheorie hat David Seidl (2005) vorgelegt. Darin identifiziert (sic) er zunächst drei Konzepte organisationaler Identität in der einschlägigen Literatur: corporate identity (wie stellt die Organisation sich selbst als einheitlich und einzigartig dar?), substantive identity (was ist die Organisation, ihre Einheit und Einzigartigkeit?) und reflective identity (wie nimmt sich die Organisation selbst wahr – ihre Einheit und Einzigartigkeit?). Sodann präsentiert er sein eigenes Konzept autopoietisch hervorgebrachter organisationaler Identität als Selbstbeschreibung, mit der sich eine Organisation auf ihre eigene Einheit und Einzigartigkeit bezieht. Dazu steuert er eine ganze Reihe fruchtbarer Konzepte und Unterscheidungen Luhmannscher Provenienz bei, etwa: operative Geschlossenheit, Selbstreferentialität, Rekursivität, Selbstbeobachtung, Reputation/Image/Selbstbeschreibung, sachliche, zeitliche und soziale Dimension der Selbstbeschreibung/Identität. Die Bedenken, die ich oben mit Blick auf Luhmann selbst geäußert habe, erübrigen sich nicht durch Seidls anspruchsvollen Versuch. Um es in einem Wort, gewiß etwas grob, zu sagen: Die Identität einer Organisation konstituiert sich nicht allein in Selbst- (und Fremd-!)beobachtung und -beschreibung, sondern vor allem in einem Enactment, das über eine Beobachtung und Beschreibung hinaus praktisch werden muß. Nicht zuletzt gehört dazu die Konstitution einer Akteurseigenschaft – der Organisation als korporativer Akteur –, die erst recht im Handeln bewerkstelligt werden muß. Dazu unten mehr (Punkt 14). Kehrseite all dessen ist, daß im aktivistisch-konstruktivistischen Eifer des Gefechts bei (Spencer Brown und) Luhmann die passive, die pathische Seite allen Interagierens verlorenzugehen droht – die Seite der passiven Synthesis (Husserl), der Widerfahrnis, des Erleidens, des An-Spruchs des Anderen, dem man sich (widersetzen, aber nicht) entziehen kann. 180
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13. Kapitel: Organisationen und die Fabrikation von Identität
Die Sache ist nun aber die, dass besonders der Dezisionismus – und dafür ist Luhmann ein Beispiel, auch wenn er es stets weit von sich gewiesen hat (Ortmann 2006) – Fiktionalität gerne mit Verkleidung, Falschheit, Vortäuschung und Manipulation gleichsetzt. Auch die Identität einer Unternehmung aber – siehe Degussa – ist ohne eine konstitutive, ernstliche Fiktion nicht zu haben. Es entbehrt nach alledem nicht einer beträchtlichen Ironie, dass diese These ausgerechnet von einem treuen Luhmannianer bestritten worden ist – in einer Rezension von „Als Ob“, in der Dirk Baecker dies alles als Postulat eines Verlusts des Wirklichkeitsverlustes mißversteht, dem er sich mit hehren Worten entgegenstemmt: „Wo Ortmann Simulation und Scheinheiligkeit diagnostiziert, da ginge es mir um die Beobachtung einer harten Arbeit an der Wirklichkeit.“ (Baecker 2006, 200) Haltet den Dieb der Realität – er heißt Ortmann und nicht etwa Luhmann! Meine Replik ist im nächsten Kapitel abgedruckt. Tenor: Verlust der Wirklichkeit nein, konstitutive Rolle von Fiktionen – wirklichen Fiktionen – ja. Die Fiktion der Unternehmung als juristischer Person zum Beispiel etabliert Rechte und Pflichten der Firma, als ob diese eine Person wäre. Das geschieht nicht aus Jux und Tollerei, oder um bloßer Manipulation willen, sondern weil sich gezeigt hat, daß Unternehmungen so ähnlich wie Personen agieren und deswegen so behandelt, zum Beispiel haftbar gemacht werden sollten. Die Fiktion des Parlaments als des Gesetzgebers tut so, als ob es wie ein Weiser sprechen könnte, in der Annahme, nichts und niemand könnte zu weiseren Sprüchen kommen als diese Figur des sozialen Dritten. Für beides gibt es, mit anderen Worten, Gründe, wenn auch nie perfekte, sondern stets fallible Gründe, die aber ernst gemeint sein müssen, und die jenes Als Ob mit Realitäts-, hier: Ähnlichkeitsannahmen verknüpfen. Und beide Male handeln wir danach. Wir behandeln Unternehmung und Parlament dem entsprechend und können dabei widerstreitende Erfahrungen machen, die jene Institutionen dann auch Zweifeln aussetzen. (Zweifel an den notwendigen Fiktionen des Rechts werden heutzutage unter Titeln wie „Rechtsentfremdung“ laut.) Übrigens ist auch die Identität und Zurechnungsfähigkeit natürlicher Personen jederzeit auf Fiktionen dieser Art angewiesen – mit denen wir uns behelfen, solange dem nichts Ersichtliches entgegensteht. Damit geraten wir vom (Wahr-)Nehmen-als zu einem „Zählen-als“, einem „Gelten-als“ im Sinne Searles, und zum „Setzen-als“, bewerkstelligt durch performative Sprechakte: Die Sitzung ist eröffnet, wenn sie durch den gleichlautenden Satz – „Die Sitzung ist eröffnet!“ – eröffnet worden ist. Von John R. Searle haben wir gelernt, dass sich die Regeln des Sozialen – seien es rechtlich oder organisatorisch formalisierte oder informelle Regeln – in der Form eines performativen Sprechaktes formulieren lassen, der einem “Zählt-als” performativ Geltung verschafft. Searle (1997) hat überzeugend dargelegt, daß alle Regeln, sofern sie konstitutiven Charakter haben, also bestimmte Handlungsmöglichkeiten und -systeme überhaupt erst hervorbringen – man denke an die Spielregeln beim Schach oder die Verfassung eines demokratischen Staates – die allgemeine Form haben: X zählt als Y im Kontext K. Der Satz X zählt als Versprechen im Kontext K1. Die Versprechen X1 und X2 zählen als Vertragsvereinbarung im Kontext K2. Das Stück Papier X gilt als Geld im Kontext K3. Die Ar-
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beitsleistung X gilt als Vertragserfüllung im Kontext K4. Die Person X gilt als Bürger des Landes L im Kontext K5. Dieses „Zählen Als“ oder „Gelten Als“, kurz gesagt: die Geltung von Regeln, weit davon entfernt, bar jeder ontologischen Qualität zu sein, ist Resultierende von handfesten Zuweisungs- und Anerkennungs- oder zumindest Akzeptanzpraktiken der beteiligten Akteure, ohne die allerdings Geltung alsbald erodiert und zunichte wird. Sie basiert, in Searles Terminologie, auf iterierter kollektiver Zuweisung eines Funktionsstatus – des Status Y, also (1.) eines Versprechens, (2.) eines Vertrages, (3.) des Geldes, (4.) der Vertragserfüllung, (5.) eines Staatsbürgers in den Beispielen oben. Allerdings erzeugt es ein Schwindelgefühl, daß wir erstens aus einem Stück Holz einen mächtigen König im Schachspiel – oder aus einem Heinrich Lübke einen Bundespräsidenten – machen können, und daß zweitens dazu der Glaube oder die Akzeptanz der Beteiligten erforderlich ist, dieses Stück Holz, jene Person, sei – gelte als – König oder Bundespräsident. Es riecht nach Schwefel – nach Magie, Zaubertricks, Fälschung, Manipulation. Etwas ist, was es ist, weil wir glauben, daß es dieses Etwas ist. Das aber klingt nur deshalb mysteriös, weil das Wörtchen „ist“, über das sich Ontologen den Kopf zerbrechen, extrem mehrdeutig ist. Sobald wir es hier mit „gilt als“ und etwa „fungiert als“, noch genauer: mit „fungiert als Y, weil es als Y gilt“ übersetzen, verliert es erheblich an Rätselhaftigkeit und ontologischer Fadenscheinigkeit. Die Identität natürlicher und juristischer Personen, anders gesagt: individueller und korporativer Akteure mitsamt ihrer Zurechnungsfähigkeit, Zweckrationalität, Repräsentativität und gar Weisheit, und sogar die Identität unserer Institutionen181 verdankt sich (auch) solch fingierenden Vorwegnahmen, die allerdings – Luhmanns „Deckung durch Realverhalten“! – in praxi eingelöst, also praktiziert sein wollen, wenn die jeweilige Geltung nicht gefährdet werden soll. Die innige Verschränkung von Identität und Fiktion ist auch Gegenstand einer Überlegung von Wolfgang Iser, und da geht es besonders um die Funktion dieser beiden Konzepte. Beide reagieren nämlich auf die pragmatische Notwendigkeit, „Lücken der Systeme – seien diese philosophischer, gesellschaftlicher oder gar ökonomischer Natur – zu schließen. Der Identitätsbegriff verkörpert den Zuschußbetrag zu den Systemen, um deren Defizite zu bilanzieren. Deshalb zeigt er sich auch in seiner Geschichte immer als disponible Größe, die sich je nach den geforderten Bilanzierungsleistungen immer ein wenig anders ausnimmt. Das aber ist zugleich eine zentrale Funktion der Fiktion, die sich in der situationsbedingten Abdichtung beschädigter Geltung von Systemen bzw. in der Schließung klaffender Lücken erfüllt. Wie die Fiktion, so dient auch der Identitätsbegriff der Bewältigung von historisch-pragmatischen Situationsbedürfnissen.“ (Iser 1979, 727) Ausdrücklich stellt Iser dabei auf den Identitätsbegriff im Unterschied zur Identität selbst ab. Letztere ist für ihn nur in Evidenz erfahrbar. Mein Punkt ist aber, dass es Identität selbst
181 Dafür hat schon Arnold Gehlen einen scharfen Blick gehabt. Institutionen kommt Sollgeltung zu, und: „Die obligatorisch gewordene Fiktion ist eine Realität eigenen Rechtes“ (Gehlen 1956, 236); s. dazu Ortmann (2004, 22 ff).
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13. Kapitel: Organisationen und die Fabrikation von Identität
ohne Identitätsbegriff, ohne Identitätsvorstellungen nicht geben kann. Die Nähe des Begriffs der Identität zur Fiktion rührt in meiner Sicht daher, dass jedwede Identität, jedwede Identifikation, wie erläutert, auf eine fingierende Vorwegnahme (und retrospektive Befestigung) als Moment der Identitätsbildung angewiesen ist, als Moment, das allerdings der Ergänzung und „Vollendung“ durch eine entsprechende Praxis bedarf. Dies alles möchte ich abschließend wieder am Beispiel von Organisationen erläutern. Wie gewinnen sie ihre Identität? Wie tragen Identifikationsprozesse dazu bei? Und, seltener gefragt: Wie steht es mit der Identifikation der Organisationen, genitivus subiectivus? Mit Organisationen als „Subjekten“ – Betreibern – von Prozessen der Identitätsbildung? 14. Wie gewinnen Organisationen ihre Identität? Diese Frage spitze ich hier so zu: Wie gewinnen sie ihre Identität als zurechnungsfähige, verantwortliche, haftungsfähige korporative Akteure? Das Beispiel Degussa steht dafür, dass dies keine müßige akademische Frage ist, sondern auch Sache der geschichtlichen Erinnerung (Borst 1979) und der „Identitätspräsentationsfunktion der Historie“ (Lübbe 1979). Akteursstatus nun, so fasse ich die einschlägige sozialwissenschaftliche Diskussion zusammen, erlangen Organisationen durch zyklische Verknüpfung von Selbst- und Fremdbeschreibung einerseits und Selbst- und Fremdzurechnung des Handelns, Entscheidens und Kommunizierens ihrer Mitglieder andererseits im und durch das Handeln, Entscheiden und Kommunizieren – oder, kürzer, in einer Formulierung von Teubner (1987, 64): durch zyklische Verknüpfung von Identität und Handlung. Der Korporativakteur ist eine Realität, die sich einer Fiktion verdankt. „Er ist ‚real’, weil diese Fiktion Strukturwert gewinnt und soziale Handlungen dadurch orientiert, dass es diese kollektiv bindet.“ (Teubner 1987, 69) Was „Strukturwert“ heißt, lässt sich weiter ausbuchstabieren. Man kann an eine „Corporation’s Internal Decision Structure“ (CIDStruktur) denken, die es erlaubt, einer Organisation korporative Intentionalität zuzusprechen (Kettner 2001, 167). Max Weber hat von einem Verwaltungs- respektive Erzwingungsstab gesprochen. Heute sagt man ‚Governance-Struktur’. CID- oder Governance-Struktur: Damit ist das Regelwerk von Organisationen angesprochen, das also für deren Akteursidentität, einschließlich rechtlicher Aspekte, zum Beispiel solche der Haftung, konstitutiv ist. Die Rechtsfiguren der juristischen Person und des Organisationsverschuldens etwa hängen davon ab. Daher ist es wichtig, zu sehen, dass die Identität der organisatorischen Regeln – genau wie die rechtlicher Regeln – ihrerseits von Differenz lebt und einer beständigen Différance unterworfen ist. Organisationen funktionieren nicht auf Basis reiner Regelbefolgung, sondern auf Basis von rule following und Regelverletzung (Ortmann 2003). Organisatorische (und rechtliche) Regeln müssen angewandt werden, wieder und wieder, aber immer wieder ein bisschen anders – je nach (singulärer) Situation. Das mag eine Drift einzelner Regeln oder ganzer Regelwerke bewirken. Zum Beispiel gibt es ein de-facto-Direktorialprinzip in deutschen Aktiengesellschaften, obwohl das Führerprinzip des Aktiengesetzes von 1937 mit der großen Aktienrechtsreform von 1965 ausdrücklich abgeschafft worden ist (Oesterle 2003). Die Identität von Organisationen hängt in ihrem Inneren von ihrem Regelwerk ab, dessen Identität aber seinerseits immer „im Fluß“ ist. Und ihr Begriff hat die Funktion, genau wie Wolfgang Iser es gesagt hat, die Lücken des Systems zu schließen. 15. Wenn also die korporative Identität eine Realität ist, die sich einer Fiktion verdankt, liegt es nahe, die Identitätssicherung von der Seite der Fiktion anzugehen. Entsprechende Bemühungen von Organisationen, sie firmieren bekanntlich unter ‚Corporate Identity’,
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laufen Gefahr, über Fiktionen und Fassaden nicht hinauszukommen – Identitätstünche. Diese Kritik ist so geläufig, dass es mir inzwischen wichtiger scheint, darauf zu verweisen, dass auch Fassade und Gebäudestruktur, die Weste und das Herz der Körperschaft, Form und Inhalt, „Fiktion“ und „Realität“ in Verhältnissen rekursiver Konstitution zueinander stehen. Aus der von mir herausgestellten Fiktionsabhängigkeit der Identität (individueller und) korporativer Akteure folgt, dass Bemühungen um Corporate Identity nicht schon deshalb der Kritik verfallen, weil sie auf fiktive Vorwegnahmen setzen. Manchmal machen Kleider Leute, und nicht immer sind es des Kaisers neue Kleider. 16. Die Identität einer Organisation, das ist, versteht sich, eine soziale Angelegenheit. Bloßer Selbstdünkel genügt nicht. Anerkennung, Akzeptanz und entsprechendes Handeln anderer muss hinzukommen. Zu diesen anderen zählen auch die Organisationsmitglieder. Deren Anerkennung läuft über die Teilnahmeentscheidung – bei Mitarbeitern: über den Arbeitsvertrag –, muss aber tagtäglich erneuert werden. Diese Erneuerung hängt vom Gelingen der Legitimationssicherung der Organisation ab. Nicht so dringend ist, gerade in Luhmanns Sicht der Dinge, die Identifikation der Beschäftigten mit der Organisation und ihren Zielen. Die Motivationskraft, die aus solcher Identifikation stammt182, kann ebenso gut oder besser aus Entgelt bezogen werden. Die resultierende Indifferenz gegenüber der Identität und den Zielen der Organisation zählt Luhmann zu den evolutionären Errungenschaften der Moderne. Sie erleichtert den situations- und gelegenheitsabhängigen Identitäts- und Zielwechsel und beschert daher Mobilitätszugewinne. Ob dies das letzte Wort sein kann? Die Indifferenz von Mitarbeitern mag einen Mangel an Initiative und Engagement zur Folge haben, und heute treibt die Oszillation zwischen Indifferenz und Identifikation mal wieder in Richtung letzterer – unter Stichworten wie ‚Intrapreneurship’, „Wir, die Firma“ (Neuberger, Kompa 1987) und eben auch: corporate identity. Jene Indifferenz hieß einmal: Entfremdung. Möglich, dass wir diesen Begriff mitsamt zugehöriger Ideen – humanitas, societas civilis –, wie Luhmann (1996, 230) sagen würde, nur noch „wie Sauerkraut aus unseren Kellern holen“ können, „um es aufgewärmt zu genießen.“ Nicht jeder aber, der da noch Fragen hat, ist eine Witwe Bolte. Organisationszwecke bewirken die Neutralisierung der Wertaspekte im Mittelbereich. „Der Zweck soll die Mittel heiligen,“ sagt kühl Niklas Luhmann (1973, 46). „Das ist seine Funktion.“ Wohl wahr – aber doch wohl kaum das letzte Wort. Dass wir die Dinge nicht länger mittels des Gegensatzpaares ‚Entfremdung/Versöhnung’ erfassen können, heißt nicht, dass wir die Welt den Identitätsbehauptungsbemühungen und den In- und Exklusionserfordernissen der Organisationen überlassen müssten oder könnten – nicht ihren Bemühungen um Behauptung der eigenen Identität, nicht ihren Bemühungen, unsere Antwor-
182 Herbert Simon hat immer darauf hingewiesen, dass Identifikation mit der Organisation neben diesem motivationalen einen meist stark unterschätzten, aber mindestens ebenso wichtigen informationellen oder kognitiven Hintergrund hat: Organisationen sind für ihre Mitglieder in hohem Maße die Stelle, von der aus sie die Welt sehen, und sie bescheren ihren Mitgliedern Informationen, Fachkenntnis, das (partielle) Eingeweihtsein, die Themen und die Relevanzgesichtspunkte, mittels derer sie sich die Welt deutend erschließen. Auch deshalb und nicht nur in Folge motivationaler Identifikation mit der Gruppe u. ä., sind Polizisten für Recht und Ordnung, Beschäftigte in Kernkraftwerken für Kernkraft und Außenminister für Diplomatie.
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ten auf die Frage zu oktroyieren, was einer oder etwas ist, und nicht ihren Erfordernissen der sozialen Schließung und des Ausschlusses derer, die nicht gebraucht werden (wie Christof Wehrsig 1997a in einem Kommentar zu Klaus Türk dargetan hat). Dem aber widmen Organisationen große Anstrengungen, und sie können dafür Ressourcen einsetzen, deren Überlegenheit gegenüber den Ressourcen natürlicher Personen/individueller Akteure jeder Beschreibung spottet.
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Identitätsfabrikation in und durch Organisationen
4 Identitätsfabrikation in und durch Organisationen 17. Das bringt uns zurück zu meinem Anfang. Identität ist die Frage, was einer oder etwas ist. Das aber ist Sache (interpretierender) Wahrnehmung, der Beschreibung/Behauptung und der performativen Setzung, und das alles wiederum (auch) eine Machtfrage. Es geht ums (Wahr-) Nehmen-als, ums Beschreiben-/Behaupten-als und ums (performative) Setzen-als, und ich möchte zum Schluss die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Organisationen an allen drei Phasen/Momenten der Identitäts-Feststellung einen gewaltigen Anteil haben. Wir können etwas nur „als etwas“ nehmen, und als was, dafür werden organisationale Oktroys mehr und mehr maßgeblich. Organisationen legen fest, was einer oder etwas „ist“, und diese Festlegungen gehorchen den funktionalen Erfordernissen dieser sozialen Systeme. Denkt man sich noch hinzu, dass diese Phasen/Momente nicht voneinander unabhängig sind, sondern einander nach Art des Neisserschen Wahrnehmungszyklus bedingen, steuern und forcieren – die Wahrnehmung (re-)produziert Schemata, aber Schemata dirigieren die Wahrnehmung (Neisser 1979) –, dann kann man die Möglichkeiten von Organisationen ermessen, hier überall steuernd einzugreifen. Sie können es an jedem Punkt, in jeder Phase der rekursiven Praxis des Identifizierens: ansetzend an Prozessen der Wahrnehmung und der Kommunikation von Etwas-als-etwas, besonders aber am Enactment von Etwasals-etwas im Wege performativer Sprechakte (da denke man nur an den Anteil von Organisationen an der Etablierung organisationaler, aber auch organisationsübergreifender Regeln, Standards und Gesetze) und nicht zuletzt an deren „Vollendung“ in praxi, durch Schaffung vollendeter Tat-Sachen. Was „ist“ Kalbsleberwurst? Organisierte Interessen haben dafür gesorgt, dass Kalbsleber nicht drin sein muss, wo ‚Kalbsleberwurst’ draufsteht, sondern nur Kalb und Leber. Irgendwelche Kalbsreste tun es. Der Leber-Identität darf durch Schweineleber Genüge getan werden. Was „ist“ eine Universität? Was unterscheidet sie von einer Fachhochschule? Auch das wird gerade nach dem Muster „Kalbsleberwurst“ beantwortet. Was „sind“ die 30.000 Chemikalien, die unter der Ägide der EU-Kommission in den nächsten zehn Jahren registriert und auf ihr Gefährdungspotential untersucht werden sollen? Darum haben mächtige Organisationen gerungen – Regierungsorganisationen und NGOs, und mit besonderem Interesse der Verband der chemischen Industrie. Was „sind“ Mindestanforderungen an das Risikomanagement von Banken? Das wird vom Basel committee festgelegt (Stichwort: Basel II) und in Deutschland von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht überwacht.
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Was „sind“ Ozonlöcher – „sagenhafte Ozonlöcher“, wie Luhmann (1990, 654) sagt?183 Was „sind“ Massenvernichtungswaffen? Wer „ist“ Saddam Hussein? Wer oder was „ist“ die Heritage Foundation, jene euphemistisch Think Tank genannte Organisation, eine von vielen, deren Mission von ihrem Präsidenten, Edwin Feulner, als „Kriegsführung im Kampf der Ideen“ beschrieben wird, und die 14 ihrer 200 Mitarbeiter, Spezialisten für Öffentlichkeitsarbeit, dafür abstellt, die hauseigenen Experten für erzkonservative Topoi in den Medien unterzubringen (Süddeutsche Zeitung Nr. 181 vom 7./8.8. 1994, S. 9)? Was „ist“ es, das durch Schlagworte wie „Achse des Bösen“, „preemptive wars“, „mitfühlender Konservatismus“ oder „family values“ beschrieben/umschrieben/umgeschrieben wird, um die sich Redenschreiber, spin doctors, Lobbyisten oder, wie man in den USA auch sagt, „fixers“184 unter massivem Einsatz organisationaler Ressourcen verdient gemacht haben, getreu der Maxime: das Schema dirigiert die Wahrnehmung? Manchmal muss sogar über die Bedeutung des Wortes ‚Identität’ gestritten werden. Was „ist“ ein Plagiat? Wer „ist“ ein Urheber? Auch um die Definition von Patent-, Lizenz-, Marken-, Gebrauchsmuster- und Copy-Rechten liefern sich bekanntlich interessierte Organisationen heftige Kämpfe, bei denen Milliardensummen auf dem Spiel stehen185. Im General Agreement on Trade in Services (GATS; Allgemeines Handelsabkommen für Dienstleistungen) werden, mit weltweiter Geltungsmacht, Fragen beantwortet wie: Was sind „öffentliche“ Dienstleistungen? Solche, die „in Ausübung der hoheitlichen Gewalt“ erbracht werden (GATS, Art. I, 3, b). Die sind aus dem Geltungsbereich des Abkommens ausgenommen. Das könnte der Deregulierungs- und Privatisierungswut auf wichtigen Feldern Einhalt gebieten – im Bildungswesen, bei den Sozialsystemen, im Falle öffentlicher Verkehrsdienstleistungen etwa. Dramatisch eingeschränkt wird diese Ausnahme jedoch durch Artikel I, 3, c des GATS. Hoheitlich erbrachte Dienstleistungen sind nur dann ausgenommen, wenn sie von der Regierung „weder auf kommerzieller Grundlage noch im Wettbewerb mit einem oder mehreren Anbietern von Dienstleistungen“ bereitgestellt werden. Nur dann „zählen sie als“ hoheitliche Aufgaben. Das öffnet alle Schleusen. Susan George, deren kleiner Schrift (2002, 71) ich diesen Hinweis entnehme, zitiert zuvor (ebd., 15) den langjährigen WTO-Funktionär David Hartridge mit diesen Worten: „Ohne den enormen Druck des amerikanischen Finanzsektors, namentlich von Konzernen wie American Express und Citicorp, hätte es kein Abkommen über Dienstleistungen und daher vielleicht auch keine Uruguay-Runde und keine WTO gegeben.“186 Hervorh. G. O.; zur Kritik der Leugnung von Umwelttatsachen und, in diesem Zusammenhang, des Luhmannschen Begriffs der Irritation s. Koschorke (1999, 54 f). 184 Organisatoren, Manipulateure, Dealer; zum Sprachgebrauch s. Sean Wilentz, The Fixer as Statesman (1996). 185 Vgl. Hutter (1989) für den Fall des Arzneimittelpatentrechts. Hutter stellt autonom handelnde „Konversationskreise“ aus der Wirtschaft und dem Rechtssystem als wichtige Betreiber der Produktion von Recht heraus; vgl. dazu Teubners „private governance regimes“ (z. B. Teubner 1998). Diese Kreise respektive Regimes werden immer maßgeblicher für die Bestimmung von etwas-als-etwas. Wir (Ortmann/Zimmer 1998) sprechen von strategischer Institutionalisierung. 186 Uruguay-Runde: „startete 1986 und mündete 1994 in eine Schlussakte, den Vertrag von Marrakesch, der die offizielle Geburtsurkunde der WTO ist.“ (George 2002, 19) Die WTO (World Trade Organization) hatte 2001 140 Mitgliedsstaaten. WTO-Abkommen außer dem GATS: das GATT (Allgemeines Handels- und Zollabkommen), TRIPS (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights); das Landwirtschaftsabkommen u. v. a.. In allen wird auf die Frage 183
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13. Kapitel: Organisationen und die Fabrikation von Identität
Wahrnehmung, Interpretation, Weltbeschreibung, Kommunikation und die Performanz des Setzens-als, des Enactment, der Erzeugung von Geltung, einschließlich des agenda setting, der Ausübung von Definitionsmacht über Themen und Relevanzen, schließlich entsprechende praktische Eingriffe und Einschnitte in die Welt, all das geschieht heute organisiert, und die Form der Organisiertheit ist beileibe nicht neutral gegen ihre Inhalte. Organization matters. Organisationen gehorchen schließlich einer eigensinnigen Funktionslogik. Sie aber sind die modernen Fabrikationsstätten der Identität. Das ist um so heikler, um so fataler, als, wie selbst Luhmann (1996, 222 f) einräumt, Organisationen diejenigen sozialen Systeme sind, die heutzutage in großem Maßstab über Inklusion und Exklusion entscheiden. Und es ist um so heikler, als, wie Tania Lieckweg und Christof Wehrsig (2001) gezeigt haben, Organisationen und funktionale Teilsysteme, zumal das der Wirtschaft, einander forcieren, steigern und unentbehrlich machen. Fabrikation von Identität, das meint heute vor allem die organisierte Produktion von Identität und Geltung einschließlich der Organisation des Fingierens. Es resultiert eine Drift in Richtung auf „Corporate Identity“, in die jedwede Identität geraten kann: Organisationen legen fest, was einer oder etwas ist, und die es exekutieren, sagen entweder „Ich konnte nicht anders“ oder – „I did it my way“.
geantwortet, und zwar mit weithin kaum zur Kenntnis genommener, globaler Geltungsmacht geantwortet, was etwas oder einer „ist“.
14. Richtigstellung, betreffend die Realität Zu Dirk Baeckers Rezension des Buches „Als Ob“187 14. Kapitel: Richtigstellung, betreffend die Realität
Schwer ist es, sich eines feindlichen Rezensenten zu erwehren. Schwerer ist es, sich eines freundlichen Rezensenten zu erwehren. Am schwersten ist es offenbar, bei einem Buch mit dem Titel „Als Ob“ das freundlich vorgetragene Missverständnis zu vermeiden, es enthielte den „Befund einer Art Wirklichkeitsverlust“ und gar „Trauer über den Verlust der Wirklichkeit“, die Dirk Baecker (2006) herausgelesen hat. „Das ‚Als Ob’ des Buchtitels treibt mit Macht einen Keil zwischen unsere Welt und unsere Sprache, bis Erstere nur noch aus Letzterer besteht“, deutet Baecker. Das ist mit Macht formuliert. Einen Anhalt im Text findet es nicht. Allerdings müssen wir des Diktums Odo Marquards eingedenk bleiben: „Hermeneutik ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht.“ Daher diese Richtigstellung: 1. Es besteht und ich sehe keinerlei Gefahr, der Wirklichkeit verlustig zu gehen. 2. Ich bin nicht in Trauer, schon gar nicht über einen Verlust der Wirklichkeit. Dass „Ortmann im Rahmen einer Wahrheitstheorie denkt, die aus der Internalisierung sprachlicher Referenzen auf den Verlust der Wirklichkeit schließt“ (Baecker), steht nicht nur nicht drin in dem rezensierten Buch. Drin steht vielmehr, in einem Kapitel mit dem Titel „Wider die Hypostasierung der Sprache“ (sic): „Radikale Versionen (sc.: des linguistic turn), die sich dazu versteigen, gültige Akte der Mustererkennung“ – gemeint ist die Erkennung sprachunabhängiger Muster – „seien wegen der Selbstbezüglichkeit der Sprache gar nicht möglich, sind vernünftig nicht durchführbar“ (S. 52). Drin steht, dass, wenn man Nietzsches radikale Thesen über Wahrheit und Lüge liest, „die Frage [bleibt], und sie gibt für mich den Ausschlag, ob wir nach alledem mit einem Jenseits der Sprache, mit einer Möglichkeit, aus den Fängen ihrer Selbstreferentialität zu entkommen, gleichwohl rechnen können. Das scheint mir, wie ich erläutert habe, unumgänglich“ (S. 54). Drin steht, im dritten Satz des Buches, die Warnung, „der aus einer pseudo-nietzscheanischen Enttäuschung geborenen Neigung nachzugeben, alles zu Illusion und Täuschung zu erklären“ (S. 11). Drin steht, mit Blick auf Wittgenstein, wir müssten „sehen, wie beide, Worte und Praxis, einander rekursiv stabilisieren, ‚polieren’, sich einspielen, einschleifen, einander korrigieren, modifizieren, gefährden, verändern, ... immer ... einer praktischen Bewährung ausgesetzt, die von der Widerständigkeit der Praxis anderer und einer nicht von Sprache zugerichteten (wenn auch ihrerseits nur via Interpretation zugänglichen) Realität herrührt“ (S. 198).
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Zuerst erschienen in: Soziologische Revue 30 (2007), S. 188-190.
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14. Kapitel: Richtigstellung, betreffend die Realität
Das „(husserlsche) Element einer Aussage-über-etwas-anderes, wie selbstreferentiell auch immer die Aussage gestrickt ist, geht bei Ortmann verloren“, sagt Baecker. In Wirklichkeit beziehe ich mich gerade in Sachen „Etwas-als-etwas-Nehmen“ ausdrücklich und positiv auf Husserl und Waldenfels (S. 31 f und passim) – und auf Diltheys Widerstandserfahrung, „in der uns etwas ‚Fremd-Selbständiges gegenübertritt...’, das ‚nicht in uns selbst gelegen ist’“ (S. 198 f). Da gibt es Resonanz zum Begriff der Widerständigkeit der Welt im amerikanischen Pragmatismus. 3. Die Fiktionen, von denen das Buch handelt, sind wirkliche Fiktionen wirklicher Akteure – teils wirkliche Täuschungen, teils notwendige Fiktionen im Sinne des Ökonomen Donald McCloskey: „We humans must deal in fictions of our own making.“ Auch das steht in dem Buch, nämlich als sein erstes Motto. Und: „Das Als Ob des Lügners, des Bluffers, des Täuschers, des Manipulateurs hat seinen Platz in diesem Buch, aber nicht in seinem Zentrum. Dort steht das (sc. notwendige) Als Ob des Vorgriffs, des Nehmens-für, des Gebensals, des Geltens-als“ (S. 16), besonders aber das performative „Etwas-als-etwas-(in-Geltung-) Setzen“, über das zu gebieten Organisationen eine so große Macht haben. Man denke nur an ihre Definitionsmacht, ausgeübt etwa mittels Wirtschaftlichkeitsanalysen und des Accounting, die ja betriebswirtschaftliche Zurechnungsweisen als geltend etablieren, als ob sie objektive Wahrheiten repräsentierten. Wir alle und auch Organisationen zehren von diesem notwendigen Als Ob und sind darauf angewiesen: das ist die These des Buches. Das sieht Baecker anders – „für die Organisationstheorie“ sei „nichts gewonnen..., wenn man behauptet..., dass Organisationen in Fiktionen gründen. Das wäre viel zu riskant.“ Was ist, möchte man da fragen, mit der Rechtsfiktion der juristischen Person? Werden Organisationen nicht mittels dieser Konstruktion behandelt, als ob sie Personen wären (und auf diese Weise in den Status zurechnungsfähiger Akteure erhoben)? Was ist mit Niklas Luhmanns Entscheidungsfiktionen? Viel zu riskant? (Organisationen sind ja für Luhmann „soziale Systeme, die sich erlauben, menschliches Verhalten so zu behandeln, als ob es ein Entscheiden wäre“, eine Auffassung, die doch einen wahren Kern hat, obwohl man ihr, wie ich in dem Buch kritisch anmerke, nun wirklich eine Übertreibung organisationaler Fiktionalität attestieren kann.) Was ist mit Fiktionen à la „one best way“ und „best practice“? Wir alle und erst recht Organisationen sind darauf angewiesen, die Kluft der Kontingenz und Unsicherheit mittels der Fiktion tragfähiger Begründungsbrücken zu überwinden. Keine Fusion, keine Unternehmensübernahme ohne die Fiktion, den richtigen Unternehmenswert via due diligence hinlänglich sicher ermitteln zu können. Keine repräsentative Demokratie ohne die Fiktion der Repräsentativität des Parlaments. Kein Gerichtswesen ohne die Fiktion der Unparteilichkeit der Richter. Kein Wissenschaftsbetrieb ohne die Fiktion dem Wahrheitsideal verpflichteter Wissenschaftler. Diese operativ wirksamen Fiktionen sind keine Täuschungen sondern notwendige, fallible Vorgriffe auf eine Wirklichkeit (sic), die zu bewirken ihre Funktion ist. Dass Realität und Fiktion – übrigens einschließlich Imagination – konstitutiv aufeinander verwiesen sind, ist keine extravagante Behauptung, sondern eine in Philosophie und Literaturtheorie seit langem wohletablierte Einsicht – von Maurice Merleau-Ponty und Cornelius Castoriadis bis Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß. Die Soziologie ist von Alfred Schütz bis Hans Georg Soeffner auf der Höhe dieser Einsicht. „We humans must deal in fictions of our own making.“ Diese Fiktionen sind (Vor-) Würfe,
14. Kapitel: Richtigstellung, betreffend die Realität
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mittels derer wir das Reich der Gegenwart, der Sicherheit, der Wirklichkeit (nicht zu negieren, aber) zu transzendieren hoffen. Wer sie, wie ich es in dem Buch tue, zur conditio humana erklärt, bestreitet nicht, sondern beansprucht unweigerlich eine Wirklichkeit, zu der Fiktionen als ihr Anderes gehören. Das aber ist nicht zuletzt der Nährboden für Fiktionen nun im landläufigen Sinne der Täuschung – Bilanzmanipulationen, impression management, Scheinheiligkeit, bloß symbolische Politik etc. Sie können von jenen notwendigen Fiktionen nicht durch noch so strenge Reinheitsgebote sicher geschieden werden, und zwar um so weniger, je mehr die Beschleunigungsschübe der Ökonomie und der Technologie dazu nötigen, Schecks auf die Zukunft zu ziehen, deren Deckung sich erst im Nachhinein herausstellen kann (aber vielleicht durch diese Vor-Griffe bewirkt wird). Hier überall lägen Felder sinnvoller Diskussionen, nicht in Scheindebatten über den Verlust einer Wirklichkeit, von der wir uns vielmehr getrost, mit Woody Allen, darauf einigen können: Sie ist nach wie vor die einzige Gegend, in der man ein anständiges Steak kriegen kann.
III Evolution und Kooperation Vertrauen, Geld, Macht
15. Die Ehre der Prizzis, oder: Vertrauen ist nicht der Anfang von allem Über Vertrauen und Relianz 15. Kapitel: Die Ehre der Prizzis, oder: Vertrauen ist nicht der Anfang von allem „(...) dieser Bruch mit der berechenbaren Zuverlässigkeit, den Sicherheiten der Gewißheit, (...) dieser Bruch mit dem Wissen wird (...) von der Struktur des Vertrauens oder des Glaubens als Glaube selbst vorgeschrieben.“ Derrida (2000, 39)
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Relianz, Vertrauen und die Ehre der Prizzis
1 Relianz, Vertrauen und die Ehre der Prizzis Verdient das, was Sie einem Hochstapler entgegenbringen, der mit außerordentlich hohen Gewinnen lockt, mit einer exorbitanten Verzinsung einer Anlage, mit der Echtheit der erstaunlich günstigen Rolex-Uhr, mit der einmaligen Gelegenheit, den Namen ‚Vertrauen‘? „Offenkundig“, meint James Coleman (1991, 127) und legt damit Zeugnis von der Unfähigkeit seiner Theorie – seiner Definition von Vertrauen – ab, Vertrauen von Gier zu unterscheiden. Die zahllosen Zahnärzte, die auf solche Lockangebote hereinfallen, sind nicht vertrauensselig, sondern: gierig. Für Coleman ist 1. 2.
Vertrauen Resultat einer Entscheidung, nämlich der Entscheidung zu vertrauen, und diese Entscheidung Resultat einer rationalen Kalkulation: Wenn sich‘s rechnet, vertraue ich, sonst eben nicht. Die Kalkulation lautet: Ist das Produkt aus möglichem Gewinn und Gewinnwahrscheinlichkeit bei gerechtfertigtem Vertrauen größer als das Produkt aus möglichem Verlust und Verlustwahrscheinlichkeit bei enttäuschtem Vertrauen? Wenn ja, wird ein rationaler Akteur „Vertrauen vergeben“ (Coleman 1991, 126).
Daran finde ich so ziemlich alles falsch, was man nur falsch machen kann. Natürlich erklärt es zwanglos, warum die Leute auf Hochstapler hereinfallen: Zwar ist die Gewinnchance gering, aber dafür lockt eben unwiderstehlich die Höhe des möglichen Gewinns, die im Produkt aus beidem die Unwahrscheinlichkeit seiner Realisierung bei weitem überkompensiert, jedenfalls, wenn man es am begrenzten Verlustrisiko misst.
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15. Kapitel: Die Ehre der Prizzis, oder: Vertrauen ist nicht der Anfang von allem
Das indes verfehlt knapp, aber vollständig, den Sinn des Begriffs, wie er im Alltagsleben in Anschlag gebracht wird. Dort gilt Vertrauen 1.
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gerade nicht als Resultat einer Entscheidung, sondern als Angelegenheit, in der man zunächst nicht die Wahl hat, als ein Glaube nämlich an die Vertrauenswürdigkeit einer Person, Institution oder Organisation, der sich als emergentes und emotional besetztes Resultat der Erfahrung einstellt, in das zwar rationale Kalkulation einfließt, das sich aber gerade dadurch auszeichnet, nicht ohne Rest auf solche Kalkulation zurückführbar zu sein.
Man könnte geradezu sagen: Vertrauen ist gefragt, wo Colemans Kalkulation endet. Dann wäre Vertrauen eine Weise, über die Kluft der Kontingenz zu kommen, sofern sie das Soziale charakterisiert, nämlich als doppelte Kontingenz. (Natürlich gibt es auch viele, die Hochstaplern Vertrauen entgegenbringen. Mein Punkt ist, dass sie es nicht tun, wenn und soweit ihr Handeln allein von der Colemanschen Kalkulation bestimmt wird. Und natürlich entscheiden wir uns manchmal, auf die Verlässlichkeit des anderen zu setzen, also zu handeln, als ob er unser Vertrauen verdiente. Dieses „Als Ob“ aber ist gerade nicht mit Vertrauen zu verwechseln.) Das ist in der Soziologie gewiss keine Neuigkeit: „Vertrauen ist kein auswählbares Mittel zu bestimmten Zwecken und erst recht keine optimierungsfähige Zweck/MittelStruktur“, hat Niklas Luhmann schon 1968 den Forschungsstand resümiert. „Vertrauen ist auch keine Prognose, deren Richtigkeit am Eintreffen des vorausgesagten Geschehens gemessen und nach einigen Erfahrungen auf Wahrscheinlichkeitswerte gebracht werden könnte. Derartige im Rahmen von Kalkülmodellen des Entscheidens sinnvolle Techniken haben, wie das Vertrauen auch, die Funktion, Komplexität zu reduzieren. Sie sind funktionale Äquivalente des Vertrauens, nicht aber Vertrauensakte im eigentlichen Sinne. Sie können Vertrauen ersetzen (...) Vertrauen ist aber etwas anderes als die begründbare Annahme, richtig zu entscheiden, und deshalb greifen die Kalkülmodelle für richtiges Entscheiden an der Vertrauensfrage vorbei.“ (Luhmann 1968, 97 f) Die Probe auf‘s Exempel ist einfach: Begründen Sie Ihr „Vertrauen“ gegenüber Freunden oder Geschäftspartnern einmal, in einer Art Garfinkelschem Krisenexperiment, mit jener Kalkulation, also damit, dass sie eine positive Differenz zwischen Gewinn- und Verlusterwartungen erbracht habe: Sie werden nichts als Undank ernten, und – Misstrauen, das starke Neigung zeigen wird, sich rekursiv zu stabilisieren. (Hier könnte eingewandt werden: Vertrauen beruhe sehr wohl auf – eher implizit bleibendem, überschlägigem – Kalkül, dies dürfe nur nicht geäußert werden. Der Verpöntheit des Kalküls in Freundschaften werde nur äußerlich Rechnung getragen, klammheimlich aber kalkulierten wir alle auch in diesen Fällen. Dann frage ich: Was aber ist es, das wir alle uns von unseren Freunden ersehnen und erwarten? Und die Antwort lautet: Eben nicht bloße Kalkulation, sondern nicht-kalkuliertes Vertrauen in unsere eigene moralische Qualität der Vertrauenswürdigkeit; Anerkennung
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unserer Integrität. Dass Rational-choice-Theoretiker das nicht sehen können, weil es im unvermeidlichen blinden Fleck ihrer Theorie liegt, bedeutet nicht, dass es derlei nicht gibt.) Oder umgekehrt: Erklären Sie Ihrem Freund, der Ihnen stets vertraut hat und die Hand für Sie ins Feuer gelegt hat, „gerechtfertigt“ hätten Sie sein Vertrauen aus reiner Berechnung: Sein Vertrauen nicht zu enttäuschen, habe sich für Sie bisher jedesmal ausgezahlt (und wenn es das einmal nicht täte, wäre er „verraten und verkauft“). Vertrauen gibt man nicht und Vertrauen rechtfertigt man nicht aus Berechnung – nicht mit berechnendem Blick auf eine Gegengabe188. Wohlgemerkt: Dass eine rationale Beurteilung ein Moment des Geschehens der Vertrauensbildung ist, bestreite ich keineswegs. Ich denke dabei an so etwas wie Robert Brandoms deontische Kontoführung, mittels derer wir unsere Praxis und die der anderen beurteilen (Brandom 2000, 16, 219 ff und passim). Luhmanns Bestimmung ist nur noch die von ihm erst später nachvollzogene Einsicht hinzuzufügen, dass keine Entscheidung von Entscheidungsgründen vollkommen getragen sein kann und daher Kalkül und Vertrauen einander eher ergänzen als ersetzen dürften – als komplementäre Weisen der Reduktion von Komplexität, jede für sich ungenügend, konstitutiv verwiesen auf die je andere. (An anderer Stelle hat Luhmann auch das gesehen: dort nämlich, wo er – zu Recht – fordert, Vertrauen von Ereignisbeherrschung zu unterscheiden und „beide komplementär und nebeneinander“ anzusetzen; Luhmann 1968, 17). Sieben Eigenschaften vor allem scheint mir daher ein sinnvoll gebauter Vertrauensbegriff aufweisen zu müssen. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit zählen erstens zu Jon Elsters Zuständen, die wesentlich Nebenprodukt sind – die wir intendiert (und gar kalkuliert) gerade nicht erreichen können (Elster 1987). Man verscherzt sich seine Vertrauenswürdigkeit im Maße kalkulierter Bemühung darum. „Das grüne Band der Sympathie“ löst die Frage aus: „Warum haben die das nötig?“ (In diesem besonderen Falle – dem Fall des Werbeslogans der Dresdner Bank – löste es gar die Frage aus: „Das braune Band der Sympathie?“) Und auch das eigene Vertrauen lässt sich nicht durch Willensakt, durch Entscheidung, durch Berechnung herbeizaubern, wo es fehlt. Vertrauen einerseits und Kalkulation und Kontrolle andererseits müssen zweitens als elliptische Begriffe konstruiert werden, derart, dass es das eine nicht ohne das andere gibt, wohl aber eine Dominanz entweder des Glaubens oder der Kalkulation, und nur im ersteren Falle pflegen wir im Alltag von Vertrauen zu sprechen. Drittens: Wir geben oder schenken Vertrauen, wir tauschen es nicht, schon gar nicht in Zug-um-Zug-Tauschakten. Der Glaube an die Vertrauenswürdigkeit einer Person/Institution/Organisation basiert viertens, soweit er überhaupt auf Erfahrung gründet, zu großen Teilen auf implizitem Wissen, zu dessen Natur es gehört, nicht oder nicht leicht expliTatsächlich geben wir Vertrauen als eine Gabe sensu Mauss, aber einschließlich jener Aporien der Gabe, auf die Derrida aufmerksam gemacht hat: Gabe im emphatischen Sinne, im Gegensatz zum Tausch, erfordert, „daß der Gabenempfänger nicht zurückgibt, nicht begleicht, nicht tilgt,“ (Derrida 1993, 24) nicht einmal Anerkennung zurückgibt, ja, die Gabe Derrida zufolge auch nicht als Gabe wahrnimmt, weil damit schon ein symbolisches Äquivalent zurückerstattet werde. Eine Gabe aber, die als solche gar nicht wahrgenommen wird, ist keine Gabe. Vgl. dazu Ortmann (2003). Innerhalb der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre ist es besonders Margit Osterloh, die immer wieder diesen für Ökonomen kaum fassbaren Gedanken artikuliert hat: dass es Dinge gibt, die wir uns durch kalkuliertes Bemühen darum gerade verscherzen, und dass Vertrauen zu diesen Dingen zählt. Vgl. auch Richter, Furubotn (1996, 29); zur Interpretation von Arbeitsverträgen als Gabentausch schon Akerlof (1982).
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zierbar, daher auch nicht oder nicht leicht kalkulierbar zu sein. Fünftens ist Vertrauen der Glaube an Verlässlichkeit nicht einfach im Sinne einer technischen, sondern im Sinne einer normativen und moralischen Qualität. Personen, vielleicht auch Institutionen und Organisationen bringen wir eine andere, auch: emotionalere Art von Vertrauen entgegen als einer Brücke, an deren Tragfähigkeit wir glauben. (Und selbst im Falle nichtmetaphorischer Brücken gründet unser Zutrauen zuletzt vielleicht auf sozialem, also: auch normativem und moralischem Vertrauen, nämlich darauf, dass die Brückenbauer professionelle und moralische Standards beachten haben.) Wir müssen daher zwei Arten des Sich-Verlassens-auf unterscheiden: eine, in der Kalkül dominiert, das sich vielleicht auf herrschende Machtverhältnisse, jedenfalls auf den eigenen und den Nutzen des anderen und auf Erfahrung und Bewährung, Erwartbarkeit und Berechenbarkeit – auf Luhmanns Ereignisbeherrschung – stützt; und eine andere, in der gerade nicht Kalkül, sondern ein Glaube dominiert, und zwar ein Glaube an die moralische Qualität einer Person, Institution oder der Organisation. In interorganisationalen Netzwerken, um es an diesem zur Zeit prominenten Beispiel zu erläutern, dominiert oft ganz gewiss nicht Vertrauen (so aber, wie viele andere: Powell 1990), wohl aber ein – moralisch sehr viel abstinenteres – Sich-Verlassen auf Netzwerkpartner189. (Und wenn Vertrauen hinzukommt: um so besser, oder auch: um so gefährlicher.) Nicht Vertrauen, und schon gar nicht Solidarität, sondern eine moralisch indifferentere Berechenbarkeit und ein darauf gründendes SichVerlassen-auf scheint mir das Koordinationsmedium zu sein, das in solchen Netzwerken die Dominanz gegenüber Geld/Preisen (Markt) und Macht/Anweisung (Hierarchie) erlangt. Man kann sich aufeinander aufgrund praktisch erzeugter und bewährter, rekursiv stabilisierter, daher hinreichend sicher erwartbarer Kooperativität verlassen – ob diese Verlässlichkeit durch Macht und Zwang gestützt wird oder durch moralisch konnotierte Vertrauenswürdigkeit, ist dann eine zweite Frage. Für dieses „Sich-Verlassen-auf“, von dem Vertrauen nur ein Sonderfall ist, brauchen wir einen Namen. Ich schlage vor: Relianz, die zu Reliabilität (Verlässlichkeit) im selben Verhältnis steht wie Vertrauen zu Vertrauenswürdigkeit, aber eben den allgemeineren Fall betrifft: Relianz kann, muss aber nicht den Fall des Vertrauens meinen. Sie kann also das Sich-Verlassen-auf die Vertrauenswürdigkeit des anderen meinen. Aber sie umfasst auch das Sich-Verlassen-auf die Interessenlage des anderen, auf seine Schlauheit, auf meine Machtmittel, auf die schlichte Bewährtheit einer Organisation oder Institution, kurz: auf andere als moralische Qualitäten190. 189 Vgl. zum Beispiel Gaitanides (1998). Lorenz (1988, 208) sieht die Beziehung zwischen Managern in Zuliefer- und Abnehmerunternehmen „at an intermediate level between friends and strangers“. Selbst das ist noch zu idyllisch gedacht, insofern es suggeriert, sie sei ein Mittelding. Ignacio Lopez ist zu seiner Zeit bei VW von vielen Zulieferern gefürchtet und gehasst worden. Windeler (2001) ist einer der wenigen, die gesehen und als Problem sozialer Konstitution behandelt haben, dass Organisationsnetzwerke solche – vielleicht: kühle – Verlässlichkeit anders als via Markt oder Hierarchie herstellen. 190 Vgl. auch die zwei Konzepte von Vertrauen, mit denen Elster (1989, 274 f) operiert, und dessen erstes – „trust and trustworthiness amount to the ability to make credible promises“ – sich nach meinem Eindruck mit Relianz und Reliabilität deckt. (Elster spricht von credibility.) Elster sieht aber scharf, dass es ein zweites Konzept gibt, und darin sind Moral und Normen gefragt: „trust goes beyond mere credibility, to include a belief that the other party will act honourably even under unforeseen circumstances not covered by contract or promises.“ (275) Und „honest“ ist darin geradezu definiert als die moralische Qualität, ein Versprechen nicht nur zu halten, wenn das im eigenen Interesse
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Relianz, und daher auch Vertrauen (und daher alles Handeln, weil wir nämlich nicht anders können, als uns handelnd auf „etwas“ – tatsächlich auf Vieles – zu verlassen), überbrückt sechstens die zeitliche und sachliche Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft, indem sie eine gegenwärtige Tragfähigkeit unterstellen, die sich erst noch, und immer wieder neu, erweisen muss und die, merkwürdig genug, durch eben diese Relianz, dieses Vertrauen, dieses Handeln erst (mit) hervorgebracht wird – wenn überhaupt. Wenn der Mensch das Wesen ist, das selbst die Linien zieht, über die es stolpert, so ist er auch das Wesen, das selbst die Bretter legt und trägt, die seine Welt bedeuten. „Vertrauensbildung (...) versucht, Zukunft zu vergegenwärtigen“ (Luhmann 1968, 13) – und das bleibt riskant. Mit alledem ist also nicht gesagt, dass Vertrauen ganz ohne Kalkulation und Kontrolle auskommt. Nicht blinde Vertrauensseligkeit ist es ja, die wir meinen, wenn wir von Vertrauen reden. Wohl aber ist gesagt: darin, in Kalkulation und Kontrolle, geht die Sache gerade nicht auf. Vertrauen ist etwas anderes als eine Wette (so aber im Kern Coleman 1991, 125) und ein Investitionskalkül, und es ist dies andere, dem die Diskriminierungsfähigkeit sozialwissenschaftlicher Theorie sich gewachsen zeigen muss. Dazu gehört siebtens und vor allem anderen, dass Vertrauen eine durch und durch rekursiv gebaute Deutungsweise ist, und zwar gerade auch in normativer und moralischer Hinsicht. Vertrauen ist nämlich der Glaube an Vertrauenswürdigkeit nicht im Sinne allgemeiner normativer und moralischer Standards, sondern der besonderen Standards des Vertrauenden, mehr noch: Vertrauen ist der Glaube, der andere werde mein Vertrauen nicht enttäuschen und ausbeuten. „Trust might be part of a code of honour which also includes the desire not to be taken advantage of“ (Elster 1989, 275). Vertrauen kann daher auch das Vertrauen in den Respekt vor der Ehre der Prizzis sein, und Mafia-Romane und -Filme spielen daher gerne mit der Komik, die sich aus der Differenz zwischen mafioser und gesellschaftlich-durchschnittlicher Ehrpusseligkeit und Vertrauensseligkeit schlagen lässt. In „Die Ehre der Prizzis“ findet der Leerlauf wechselseitigen Misstrauens sein scheinbares Ende erst an der Liebe und Ehe zwischen Jack Nicholson und Kathleen Turner, nur, dass ganz am Ende dieser zirkulären Ent-setzung aller moralischen Maßstäbe auch dieser letzte, unanfechtbarste Standard: „ich kann doch nicht meine eigene Ehefrau und erste und einzige große Liebe meines Lebens ermorden“ noch gebrochen wurde, und zwar, um das Vertrauen zu rechtfertigen, dass die Familie in Jack Nicholson setzte – das Vertrauen, stets und unter allen Umständen die Ehre der Prizzis zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen. Eine hübsche Illustration der Zirkularität des inneren Baus von Vertrauen auch, dass Kathleen Turner, in klarsichtiger Erwartung all dessen, am Tage des Showdowns ihrerseits mit der Pistole aus dem Badezimmer ins Bett kommt, bereit und entschlossen, schneller zu sein – bei aller Liebe. Und war sie nicht vielleicht nur deshalb am Ende nicht treffsicher – sie traf nur das Kopfkissen – und Jack Nicholson mit dem Messer fast genauso schnell wie sie mit der Pistole, weil sie, doppelte Kontingenz, ihr Handeln vom Handeln des anderen, des Geliebten, abhängig machte, statt ihm ganz entschlossen zuvorzukommen, während er sein Handeln von den Erwartungen der Familie diktieren ließ und
liegt (280). Auch Richter und Furubotn (1996, 29 und 261) unterscheiden eine moralfreie Verlässlichkeit von Vertrauen in diesem engeren Sinne.
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daher schließlich unabhängig von ihrem Verhalten zum Gebrauch des Messers entschlossen war? Wechselseitigkeit jedenfalls hätte im Falle dieser beiden Liebenden um ein Haar bedeutet: gleichzeitig von der Hand des anderen sterben zu sollen – wenn es auch nur Kathleen Turner erwischte. Zeitlupe: Sein Griff zum Messer in fließender Bewegung, ihr Griff zur Pistole, der Wurf, der Schuß: Tanzfigur der Rekursivität. Die eigentümlich mafiose Verschränkung absoluter Bindung jeglichen Vertrauens an die Familie und vollkommener Absolution von jeglicher anderen normativen Bindung kommt hübsch heraus in dem entscheidenden Dialog, in dem die Familie dem tief zerrissenen Jack Nicholson die Liquidation der eigenen Frau ansinnt. Dass er akzeptiert, kleidet er in diese Worte: „Die Familie ist der einzige Boden, auf dem ich leben kann, ich weiß das.“ Schon diese Antwort ist von einiger Doppelbödigkeit, weil sein eigener Tod im Falle seiner Weigerung tatsächlich sogar gewiss gewesen wäre. Bemerkenswert aber vor allem der Kommentar seines Vaters, der, besorgt, ob Nicholson sich womöglich weigern würde, und nun erleichtert, dass er sich „richtig“ entschieden hat, mit seinem Standardsatz Trost spendet: „Es ist ein Geschäft – nur ein Geschäft, sonst nichts.“ Vertrauen bildet eine Brücke über die Kluft doppelter Kontingenz. Dass diese Brücke brüchig sein kann, lehrt das traurige Schicksal der Kathleen Turner, für die sich noch der winzige Rest an Sentimentalität – und gewiss verkörperte sie eine der kühleren Frauengestalten in der Geschichte des Kinos – als tödlicher Luxus erwies, in ihrer Branche. Die Frage ist aber, wie diese Brücke halten und tragen kann, wenn ihre Konstitution von einer derart luftigen Konstruktion gestützt wird wie der einer wechselseitigen Fiktion und Erwartung. Der Rekurs auf „Die Ehre der Prizzis“ ist dabei lehrreich, weil er Licht auf die Art und Weise wirft, in der ein Durkheim-Parsonianischer Rekurs auf eine gegenüber den handelnden Personen in gewisser Weise externe Normen- und Wertordnung den nötigen Halt stiften kann, an dem es hier so bitter mangelt, und wie das nicht funktionieren kann. Denn „die Ehre der Prizzis“, das heißt ja: es gibt eine solche Ordnung nicht – außer als Ehre der Prizzis. Alle Normen, alle Werte dürfen verletzt werden außer diesem einen, der aber nur Geltung erlangt und behält, weil alle, auch Jack Nicholson, sich daran halten; der geradezu zur Leerstelle wird, die fast nur durch situationsspezifische Interpretationen und Aktionen der Beteiligten gefüllt wird; und der deswegen so besonders prekär bleibt, so prekär, dass Turners und Nicholsons Schritte miteinander immer durch vermintes Gelände führen. Es gibt Vertrauen selbst innerhalb der Mafia, aber deren selbstkonstruierte, fingierte, illusionäre, grundlose Grundlage scheint stärker als unter gewöhnlichen Umständen durch, weil die Ehre dieser ehrenwerten Gesellschaft jederzeit durch die Dominanz von Zweckmotiven ruiniert werden kann, ja: soll, ja: weil gerade darin die Ehre besteht, jedweden Inhalt eines mafiosen Ehrbegriffs nach der Maßgabe situativ definierter Interessen zu suspendieren, altmodisch gesprochen: zu blamieren191. Die Ehre der Prizzis fällt mit der Macht und dem Wohl der Prizzis zusammen. Nicht
191 Vgl. auch die folgenden Bestimmungen: „(...) some codes appear to be mainly negative. The picture which emerges of mafiosi or wiseguys, for instance, is the following. Their code of honour does not allow them to make empty threats without retaliating. It does not require them to honour their own promises. In dealing with ordinary citizens this allows them to use either force or guile, whichever is the most appropriate. When dealing with other wiseguys they must be more careful. Opportunism (not honour) then dictates that promises be kept or, as an alternative, that the promisee be killed. Similarly, threats are never made among wiseguys; they simply take each other out without prior
1 Relianz, Vertrauen und die Ehre der Prizzis
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dadurch unterscheidet sich die Mafia von der übrigen Gesellschaft, dass sie keine Moral und kein Vertrauen kennt, sondern dadurch, dass sie Vertrauen und Kalkulation als Brennpunkte einer elliptischen Konstruktion zusammenzieht und in eins fallen lässt – ein paradoxales Unterfangen einer Moral der Amoralität, aus dessen Gelingen wir lernen können. Und die Lektion lautet: Gesellschaft funktioniert selbst dann, (und die Mafia zeigt erstaunliche Stabilität, die allerdings durch gewaltsame Instabilität beständig unterminiert und doch auf eben diese Weise reproduziert wird,) wenn die Stelle namens „Moral“ (Normen- und Wertordnungen) in einem strikten Sinne leer ist – leer, aber jederzeit situativ füllbar. Leer ist sie in der übrigen Gesellschaft gewiss nicht (außer in Extremsituationen). Aber vielleicht überschätzen wir die „moralische Füllung“ dieser Stelle, weil wir die Notwendigkeit einer solchen Füllung überschätzen – die Notwendigkeit inhaltlich gefüllter Normen- und Wertordnungen für die Funktionsfähigkeit von Gesellschaften? Vielleicht unterschätzen wir, anders gesagt, die Abhängigkeit solcher Ordnung, auch unter nicht-mafiosen Zuständen, von ihrer stets situativen, und in präzise derridaeskem Sinne nachträglichen inhaltlichen Füllung und Veränderung? Die Paradoxie, auf der, mit anderen Worten, nicht nur die Mafia, sonder jede Gesellschaft aufruht, und die im Falle der Mafia nur ihre lupenreine Gestalt zeigt? Ich will also nicht insinuieren, die Gesellschaft sei wie die Mafia, wenn das heißen soll: so moralisch verkommen, obwohl das die Botschaft aller intelligenteren Mafia-Filme ist. Sondern ich will darauf hinaus, so sei Gesellschaft, wenn das heißen soll: 1. 2.
angewiesen auf die rekursive Konstitution von Normen, Werten und Vertrauen, und funktionsfähig ohne anderweitig, extern, vorauszusetzende Normen, Werte und Vertrauensverhältnisse, sofern „extern“ dabei die Bedeutung von „unabhängig vom (sinnhaften) Handeln“ erhält.
Auf welchem moralischen Niveau sich die rekursive Konstitution abspielt, und welches Maß an innerer Stimmigkeit sie aufweist, das sind dann zweite und dritte Fragen, nicht zweit- oder drittwichtig, wohl aber zweite und dritte im konstitutionslogischen Sinne. Wir müssen daher zusehen, wie die Konstitution und Stabilisierung von Vertrauen ohne petitio principii gedacht werden kann, ohne dass also das vorausgesetzt wird, was sich konstitutionslogisch erst ergeben soll. Das versuche ich im 4. Abschnitt. Zuvor, in Abschnitt 2 und 3, müssen wir noch einen Blick auf Akteure werfen, die in Sachen Ver- und Misstrauen zu clever sind – zu clever, um zu vertrauen und die winkenden Gewinnchancen des Vertrauens zu realisieren.
warning. There is no honesty among thieves.“ (Elster 1989, 118) So sehr Elster damit am Ende Recht hat, wie der traurige Fall der Ehre der Prizzis zeigt, so sehr vernachlässigt sein Argument, dass auch Mafiosi, bevor dieser Endpunkt erreicht ist, einer größeren Stabilität ihrer Beziehungen bedürfen, als schierer Opportunismus stiften kann, und dass sie daher auf prekäre Balancen angewiesen sind, die durch wie auch immer fingierte, scheinhafte Rekurse auf herkömmliche Ingredienzien von Ehre hergestellt werden. Vgl. zu Mafia, Moral und Normen auch Gambetta (1988, 1993).
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Der zu clevere Agent
2 Der zu clevere Agent In Raymond Chandlers Roman „Die kleine Schwester“ kommt der Agent einer Schauspielerin vor, der sich, wenn auch zögernd, entschließt, Philip Marlowe zu engagieren, obwohl er nicht weiß, ob er ihm trauen kann, und der dabei sinniert: „Eines Tages (...) werde ich den Fehler machen, vor dem es einem Menschen in meiner Stellung am allermeisten graut. Dann werde ich mit jemandem ein Geschäft machen, auf den ich mich verlassen kann, und ich werde einfach zu clever sein, um ihm wirklich zu vertrauen.“ Dies zitiert James Coleman (1991, 127), um uns zu erklären, warum solche Fehler passieren. Seine Erklärung ist denkbar einfach und passt in den Rahmen, den seine Definition von Vertrauen gezogen hat: Für ihn „befindet sich der Agent in einer Situation, in der der mögliche Verlust im Verhältnis zum möglichen Gewinn niedrig ist und der kritische Wert von p viel niedriger (als z. B. unter Freunden, G. O.)192. In einem solchen Fall sind die Kosten eines Fehlers des ersten Typs, bei dem man Vertrauen gibt, obwohl man es besser nicht täte, recht gering. Ein Fehler des zweiten Typs, bei dem man Vertrauen nicht vergibt, obwohl man es besser täte, zieht hohe Kosten in Form von entgangenen Gewinnen nach sich. Nach den Worten des Agenten muß man es sich in seinem Beruf nicht nur leisten können, Chancen zu ergreifen – man darf es sich ebenso nicht leisten, Chancen nicht zu ergreifen.“ (Coleman 1991, 128 f) Das bedeutet, dass das Verhalten dieses Agenten – sein Name war übrigens Sherry Ballou – Colemans Billigung findet: Er war ja, gemäß seiner eigenen Definition, die Coleman teilt, diesmal noch nicht zu clever, sondern hat Marlowe vertraut. Hat er das? In Colemans Begriffen: zweifellos. Es ist geradezu komisch, mit welchem Bierernst Coleman damit Chandlers Pointe verfehlt, der in Sherry Ballou doch nicht die Tragik eines Mannes, der sich bei einer Kalkulation verrechnen könnte, sondern die Komik eines Mannes beschreibt, der alles zum Gegenstand von Kalkulation macht. Sherry Ballou ist eine Karikatur: „ein Mann ohne Jacke, mit offenem Hemd und einem Angorashawl; den Angorashawl hätte man im Dunkeln gefunden – so wie er schnurrte. Auf den Augen und der Stirn des Mannes lag ein weißes Tuch, und ein geschmeidiges Mädchen war gerade dabei, an einem Tisch daneben ein frisches Tuch über einer silbernen Schüssel mit Eiswasser auszuwringen.“ Sherry, ein Typ, den halbseiden zu nennen gewiss nicht zu scharf formuliert ist, an der einen Hand die Blondine, in 192 p = Gewinnwahrscheinlichkeit; die Wahrscheinlichkeit der Vertrauenswürdigkeit des anderen, hier: Philip Marlowes, die im Chandler-Fall zwar gering ist, ohne indes dieses Mal eine Entscheidung des Agenten gegen Vertrauen auszulösen. Wenn L den möglichen Verlust bezeichnet, den ich mir einhandele, weil mein Vertrauen enttäuscht und ausgebeutet wird, und G den möglichen Gewinn für den Fall, dass es nicht enttäuscht wird, folgt für Coleman:
Wenn
p L L L p p > → vertrauen; wenn = → unentschieden; wenn < → nicht vertrauen. 1− p G 1- p G 1- p G
3 Pascals Wette
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der anderen die dicke Zigarre, zählt stumpfe Gegenstände, Schmiergeld und Drohungen zu den erwägenswerten Medien der Kommunikation, und er entscheidet sich gelassen für die Erteilung des Auftrages an Philip Marlowe, weil der ihn einer kapitellangen, veritablen Erpressung aussetzt – „Sie wollen doch nicht unbedingt, dass die Polypen dieses Bild bekommen, oder?“ – und sein Engagement als Privatdetektiv so erzwingt. Am Ende dieses Erpressungsmanövers gibt Ballou nach, diktiert den Auftrag an Marlowe in einen Stenogrammblock und tut den oben zitierten Seufzer, der nach alledem ein Fall schierer, zynischer Selbstironie ist: Er vertraut Marlowe nicht, sondern er gibt einer Erpressung nach. Man muss schon ziemlich lange Universitätsprofessor gewesen sein, dass einem Ballous Ironie entgehen kann. Der vertraut nicht nur nicht, er ist so weit jenseits allen Vertrauens, dass ihn Marlowes Erpressung gar nicht erst empört. Und man muss schon ziemlich lange dem Faible für rationale Wahl verfallen sein, dass einem Chandlers Ironie entgehen kann, die ja als zu große Cleverness nicht karikiert, dass Ballou sich beim Kalkulieren verrechnet oder verrechnen könnte, sondern dass er, jeder Zoll Geschäftsmann, nichts als kalkuliert. Coleman aber interpretiert das Nachgeben gegenüber Erpressungsversuchen als Vertrauen, bloß weil es zweckmäßig ist. Der zu clevere Agent heißt: Coleman, weil er, in seiner Theorie, zu clever ist, um anderen wirklich zu vertrauen. So clever, dass er den Unterschied zwischen Vertrauen und Kalkulation nicht mehr sehen kann. Einen zu cleveren Agenten übrigens gab es schon einmal in der Geschichte.
3
Pascals Wette
3 Pascals Wette Wenn man Vertrauen als Glauben definiert – sei es als Glauben an die Vertrauenwürdigkeit, sei es als Glauben an die Verlässlichkeit des anderen –, sieht man sofort, dass Colemans Kalkulation nur eine moderne Variante der Pascalschen Wette ist. Blaise Pascal, wie mancher sich erinnern wird, entschied sich, an Gott zu glauben, nachdem er folgende Berechnung angestellt hatte: Die potentiellen Belohnungen für ein gläubiges Leben und Bestrafungen für ein ungläubiges Leben seien, wenn es Himmel und Hölle gebe, unendlich, die irdischen Belohnungen und Strafen jedoch, wie groß auch immer, nur endlich. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es Gott, Himmel und Hölle gebe, nur eins zu einer Million stünde, so würde sich doch der Glaube an Gott „rechnen“. Colemans Kalkulation ist nur die säkularisierte Version der Pascalschen Wette, eines seinerseits schon ziemlich säkularisierten Glaubens. Ich habe darüber nachgedacht, was der liebe Gott wohl mit Pascal gemacht hat. Und ich glaube, er hat ihn weder in die Hölle noch in den Himmel, sondern in ein Spezialkabinett geschickt, in dem er auf Coleman warten musste. Dort mussten – durften? – sie ein einziges Mal das Gefangenendilemma spielen.
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Abbildung 8:
Ein himmlisch-höllisches Gefangenendilemma
Der liebe Gott hat nämlich, glaube ich, zu ihnen gesagt: „Blaise, James, euer Dogma muss aus der Welt. Das ist aber nur möglich, wenn ihr beide Einsicht zeigt und abschwört. Dann will ich jeden von Euch mit dem Besuch eines wohlproportionierten Engels belohnen, einer Art Vorgeschmack des Himmels. Wenn aber nur einer Einsicht zeigt und der andere stur bleibt, dann bleibt das Dogma leider herrschende Meinung, und es gelten eure eigenen Regeln: Der Einsichtige ist der Dumme und kommt in die Hölle; die Hölle heißt bei euch ja sucker’s pay-off. Wer in diesen sauren Apfel beißen muss, mag sich damit trösten, dass es die Hölle der Querdenker ist. Der Sture kommt in den Himmel. Es ist der Himmel des Mainstreams. Bleibt ihr aber beide stur, so müsst ihr in der Vorhölle warten und so lange Amitai Etzionis späte Werke lesen, bis zwei kommen und euch erlösen, indem beide das Spiel kooperativ spielen.“ (Vgl. Abb. 8) „Wer zum Teufel ist Etzioni?“ hat Pascal gefragt. „Der hat Bücher über ‚The moral dimension‘ geschrieben, Vom Ich zum Wir und so,“ hat Coleman mürrisch gesagt, und weil er ein schneller Denker war und sich mit dem Gefangenendilemma und mit der Ewigkeit auskannte, hat er gleich gefragt: „Und was müssen wir danach lesen?“
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Vertrauen ist nicht der Anfang von allem
4 Vertrauen ist nicht der Anfang von allem „Am Anfang war (...)“ – wenn ein Satz so beginnt, sind wir gut beraten zu fragen: am Anfang wovon? „Am Anfang war das Wort Am“, sagt Timm Ulrichs. Am Anfang war das Wort? Am Anfang war die Tat? Am Anfang war der „unmarked space“? Fragen Sie: am Anfang wovon? Unser Religionslehrer erklärte uns einst, logos hieße „Weltbauprinzip“. Das zeugte von Vertrauen in Gott, aber principium heißt: Anfang. Und vielleicht steckt in dieser Tautologie mehr Weisheit als in allen Versuchen, die Frage im Sinne eines Entweder-Oder zur Entscheidung zu bringen: entweder Wort oder Tat; Henne oder Ei; Vertrauen oder Kal-
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kulation. Ich kann hier nicht nach dem Anfang im Sinne einer Onto- oder Phylogenese fragen, sondern nur im Sinne der Logik der Konstitution: Wie kann es zu Vertrauen kommen, wo vorher keines war? Daher muss mein Ausgangspunkt lauten: Am Anfang war weder Ver- noch Misstrauen, sondern Kontingenz und Unentscheidbarkeit. Und eben: doppelte Kontingenz. Diese letztere wird gemeinhin als Verschärfung, eben: Verdoppelung des Problems der Kontingenz aufgefasst. Das aber ist sie, sozusagen, nur am Anfang. Sobald der Anfang einmal gemacht ist, und sei es, mit Kleist zu sprechen, auf gutes Glück hin, kann sich als Hilfe erweisen, was anfangs so hinderlich schien: dass nicht nur ich mein Handeln von dem des anderen, sondern auch der andere das seine von meinem Handeln abhängig macht. Die Von-einander-Abhängigmacherei kann sich ja wunderbar entwickeln, wenn es nur erst einmal losgegangen ist. Und wenn sie lange genug gegangen ist, so dass Erwartbarkeit entstehen konnte, sind wir nicht mehr weit davon entfernt, uns auf den Eintritt des Erwarteten zu verlassen, und sodann diese Verlässlichkeit gut zu finden: erst vielleicht: schön, dann vielleicht: praktisch, und schließlich: gut. Und in diesem „gut“ mögen das Schöne und das Praktische und das Gute im Gegensatz zum Bösen eine durchaus ungeschiedene, durch Reflexion erst im Nachhinein analysierbare Existenz fristen. Dann gibt es Vertrauen193, aber, immer noch: Wie konnte das beginnen? Meine Antwort lautet: Relianz und sodann Vertrauen beginnt, nimmt seinen Anfang, wie es endet: ohne Berechtigung – ohne durch Berechtigung gedeckt zu sein. Die Berechtigung wird im Laufe der Zeit, im Laufe hinzukommender Erfahrung, wachsen (oder schwinden), aber sie wird nie perfekt werden, und sie kann daher am Anfang erst recht nicht perfekt sein. Es ist genau diese Eigenschaft von Vertrauen, ein Perfektionssurrogat zu sein, die ihm eine so wichtige Brückenfunktion im Reich des Sozialen verleiht, im Reich begrenzter Rationalität. Dann aber wird verblüffend unwichtig, wie alles begann. Der Schmetterlingsschlag der Chaos-Theorie, das Zucken einer Oberlippe aus Kleists berühmtem Text „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, ein zufälliges Tun oder Unterlassen, ein Kleistisch-Hirschmansches Setzen eines, irgendeines Anfangs, das alles kann ja genügen, um aus dem Zirkel des Anfangs herauszutreten. Dann war am Anfang: Ignoranz und Hirschmans „ignorance of ignorance“. Einer wirft vielleicht sein Herz über die Hürde und springt hinterher (Ortmann 1997). Vertrauen entsteht und stabilisiert sich als Effekt, und kontraintutiv ist daran nur, dass wir nicht wissen und auch gar nicht wissen müssen, was am Anfang war – jedenfalls nicht: Vertrauen. Dann aber kann sich Relianz und Vertrauen – oder auch Misstrauen! – epidemiologisch ausbreiten, so, wie es Kooperation, sogar Kooperation ohne Freundschaft und Vertrauen, schon bei Axelrod (1997) tut und wie es Computersimulationen des iterierten Gefangenendilemmas unter bestimmten, keineswegs realitätsfernen Annahmen – im wesentlichen: nicht allzu große Defektionsgewinne – für kooperatives (versus egoistisches) Verhalten demonstriert haben (vgl. Nowak, May 1992; Nowak, May, Sigmund 1995). 193 Zur „Notwendigkeit dauernder nachvertraglicher Sicherung von Vertrauen sowie deren rechtlicher Stabilisierung, auch und gerade bei unternehemensexterner Unsicherheit“ (Sadowski, Pull, Schneider 1999, 549) trägt inzwischen die neue Institutionenökonomik viel Erhellendes bei, wie im deutschsprachigen Raum besonders die Arbeiten Sadowskis und seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter vorführen.
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Diese Ausbreitung bedarf auch deswegen nur minimaler Relianz- oder gar Vertrauensvorschüsse und erfährt eine unter Umständen beträchtliche Dynamik, weil und sofern sie sich auf etwas stützen kann, das wir in der Ökonomie Leverage-Effekt nennen: Wie an den vor einigen Jahren zu Prominenz gelangen Hedge-Fonds schön zu studieren war, können Kapitalfonds einem selbsttragenden Aufbau derart zugeführt werden, dass die von den ersten Einlagen bezahlten Anlagen die Kreditbasis – „Vertrauens“basis – für eine zweite, erweiterte Runde von Einlagen stiften, die daraus bezahlten Anlagen zur Kreditbasis für eine dritte, wiederum erweiterte Runde werden, und sofort. Ad infinitum? Nein, wie man am Hedge-Fonds Long Term Capital Management (LTCM) 1998 sehen konnte, denn diese Art kreditheckenden Kredits ist von prekärer Stabilität – um so mehr, als sie im Kern auf Colemans Kalkulation und nicht auf Vertrauen im hier entwickelten Sinne gründet. Ähnlich aber mag in sozialen Beziehungen eine minimale Vertrauensbasis ausreichen, um weiteren Vertrauenskredit darauf zu gründen, gewagtere gemeinsame Unternehmen, joint ventures, zu beginnen, von vielleicht wiederum gutem Gelingen dazu ermuntert, auf einer derart noch einmal gefestigten und erweiterten Basis noch mehr zu wagen, und so fort. Es kommt hinzu: Manch einer hat das Talent, auf eine Weise Vertrauen zu „schenken“, die besonders ansteckend wirkt. Gute Manager, behaupte ich, produzieren das Vertrauen, das sie voraussetzen, durch ihre Art des Voraussetzens. Irgendwann schließlich wird all dies, werden die Probleme und die Wichtigkeit des Aufbaus von Vertrauen, vom Blitz ökonomischer Reflexion ereilt, die der Frage gilt, wie, wenn schon nicht Vertrauen, so doch Verlässlichkeit bewerkstelligt werden kann. Die Informationsökonomie stellt dafür probate Mittel in Aussicht, zum Beispiel
Signalling und screening, also die Produktion respektive Prüfung valider Signale, betreffend etwa die Qualität eines Produkts oder einer Dienstleistung (Gütesiegel, Zertifikate, Qualitätsprüfungen); Hands-tying, also die freiwillige, aber wirksame, das heißt irreversible Selbstbindung; Bonding, also Selbstbindung durch Geisel- oder Pfandgabe; vertragliche Garantien.
All das dient dem Reputationsaufbau und mag in seinem Gefolge sogar dem Aufbau von Vertrauen nachhelfen, wenn es auch seiner inneren Logik nach auf nichts als die Colemansche Kalkulation zielt. Die Logik der Informationsökonomie ist eine Logik des Misstrauens unter dem Gesichtspunkt seiner Erübrigung. Zunächst zielt sie nicht auf den Aufbau von Vertrauen, sondern darauf, dessen Missbrauch uninteressant, nämlich kostspielig zu machen. Das indes muss nicht, aber kann der Entwicklung von Vertrauensbeziehungen förderlich sein: indem es positive Erfahrungen zu machen erlaubt, die sich zur Extrapolation anbieten. Insofern können sich Intentionen durchaus wirksam auf den Aufbau von Vertrauen richten, das aber selbst insofern Nebenprodukt bleibt, als es nicht aus der Intention respektive Entscheidung resultiert, sondern sich als Nebeneffekt einer durch signalling etc. erzwungenen Verlässlichkeit einstellt. (Die Informationsökonomie pflegt diese Unterscheidung zwischen Vertrauenswürdigkeit und erzwungener Verlässlichkeit zu übergehen. Und tatsächlich sind die Grenzen ja auch fließend.) Dann aber lassen sich Organisationen und
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sogar ganze Gesellschaften denken, die Relianz, Kooperation und, als Effekt dessen, auch Vertrauen rekursiv stabilisieren. Im Falle von Organisationen und von kooperationsstiftenden organisatorischen Regelwerken sprechen wir dann vielleicht von „high trust organizations“ (Fox 1974; Ortmann 1995a, 291 ff). Für nationale Gesellschaften ließe sich etwa an die Solidaritäts- und womöglich Vertrauensbasis denken, die sich, und wiederum: als Effekt, aus entsprechenden institutionellen, auch: gesetzlichen Festlegungen ergeben kann194. Was haben wir mit alledem gewonnen? Wie ich hoffe: erstens eine Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Fall, dass man sich auf andere verlässt, und dem besonderen Fall, dass man sich auf andere verlässt, weil man ihnen vertraut, ihnen also die moralisch konnotierte Qualität der Vertrauenswürdigkeit zuspricht (und nicht nur verlässliche Interessenlagen); zweitens die Einsicht, dass man Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit leicht verfehlt, wenn man sie intendiert, so dass einschlägige organisatorische Regeln und, prominentes Beispiel, Anreizsysteme in beträchtlicher Gefahr sind, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit zu unterminieren, wo sie sie herstellen sollen; drittens den – vielleicht schwachen – Trost, dass intendierte Glaubwürdigkeitsveranstaltungen gleichwohl nicht a priori zum Scheitern verurteilt sind, weil und sofern sie ihre Absicht indirekt, als Effekt, als mitlaufendes Resultat von Verhaltensweisen und Erfahrungen erreichen können, die durch jene Regeln, Anreize und Veranstaltungen direkt evoziert werden; (vertrauensstiftende Maßnahmen pflegen diese lediglich indirekte Wirkungsweise zu entfalten;) und viertens die Überlegung, dass Vertrauen, wie ich es hier bestimmt habe, ein stärkeres – stärker verbindendes und stärker enttäuschbares – Band stiftet als schiere Kalkulation, und zwar gerade deshalb, weil es in Kalkulation nicht aufgeht, sondern einen moralischen Kern hat, der es in einem gewissen Maße außerhalb unserer Dispositionsmöglichkeit rückt. Vertrauen kann enttäuscht, aber es kann nicht errechnet und nicht durch wohlkalkulierte Maßnahmen herbeigezwungen werden. Das verleiht ihm eine Kostbarkeit und NichtImitierbarkeit, die am Ende in besondere ökonomische und/oder machtpolitische Vorteile umgemünzt werden können: in Vertrauenskapital. Organisationen, die mit diesem Pfund wuchern können, haben einen Feldvorteil gegenüber solchen, die Kooperation auf nichts als Kalkül zu basieren vermögen. (Einen Feldvorteil, nicht schon einen Wettbewerbsvorteil, weil es danach immer noch offen ist, ob dieser Vorteil sich nicht als zu teuer erkauft erweist, weil er Filz, Seilschaften und Koalitionsklüngel begünstigt.) Für all das braucht es eine nur schwache anthropologische Basis in puncto Vertrauen, Vertrauensbedürftigkeit und Mimesis, eine Basis, die wir, wie ich glaube, zwanglos voraussetzen dürfen und die jedenfalls bei weitem voraussetzungsärmer ist als das misanthropische Menschenbild herrschender Ökonomie. Am Anfang der Konstitutionslogik, von der hier die Rede ist, steht jedenfalls nicht Eigennutz, Opportunismus, Arglist, ebenso wenig wie Vertrauen. Wohl aber umfasst diese Logik all dies, nämlich als Effekt, als mögliches Resultat rekursiver Schleifen sozialer Praxis, das allerdings im Falle von Misstrauen immer wieder daran Nahrung finden kann und wird, dass die Ausbeutbarkeit von Vertrauen proportional zum Vertrauen selbst wächst. Im Maße der Stabilisierung kooperativer Verhältnis194 Für die Funktion des Arbeitsrechts zur Stabilisierung von Vertrauen im Betrieb vgl. die eben erwähnte Arbeit von Sadowski, Pull, Schneider (1999); für einschlägige Voraussetzungen und Effekte nationaler Sozialpolitiken und Solidarsysteme zum Beispiel Leibfried, Pierson (1998).
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se wächst der Anreiz zur Defektion, also die Wahrscheinlichkeit, dass Vertrauen tatsächlich ausgebeutet werden wird – zum Beispiel von Banken, die sagen: „Vertrauen ist der Anfang von allem.“
5
Zeugenschaft
5 Zeugenschaft Vergangenes ist uns nur „gegeben“, sofern es Spuren hinterlässt – in Texten, im Gedächtnis, an den Dingen und den Menschen, vor allem aber in der indirekten Form der Zeugenschaft. Indirekt, denn ein Zeugnis ist Spur einer Spur – einer Erinnerungsspur. Für das, was geschehen ist, sind wir auf Auskünfte von Zeugen angewiesen, deren Zeugnis wir mit Zweifel oder mit Vertrauen begegnen können – jedenfalls nicht mit objektiver Gewissheit. Für das Zeugnis gibt es keine Begründung, keine Rechtfertigung, nur die Beteuerung, die Versicherung, die aber nicht wirklich versichert. Der Zeuge kann nur schwören, buchstäblich oder im übertragenen Sinne. Als Grund für sein Zeugnis kann er nur sein Erlebnis und seine Erinnerung anführen. Das aber muss Behauptung bleiben. Gianluca Solla hat dieses „Stigma der Zeugenschaft“ unter anderem am Fall der Shoah erläutert – an dem Fall, dass „die Katastrophe die Auslöschung ihrer Spuren impliziert“ (Solla 2001, 99). Imre Kertész‘ Der Spurensucher handelt davon. Das nehme ich zum Anlass, auf die kaum beachtete Rolle der Zeugenschaft auch in nicht-totalitären Organisationen aufmerksam zu machen. Dass die Katastrophe die Auslöschung ihrer Spuren impliziert, kennen wir auch von dort, ob von Bankenskandalen, zweifelhaften Firmenzusammenbrüchen oder Perrows „normalen Katastrophen“. Überall sind wir auf Zeugenschaft angewiesen, auf Bekundungen von Zeugen, die dafür eigens vorgesehen sein mögen – Wirtschaftsprüfer, Controller, Revisoren, Inspektoren, Compliance Officers (s. o., 10.1), Gutachter – oder auch nicht, und müssen uns auf ihre Zeugnisse – Zertifikate, Gutachten, Expertisen, Protokolle, Auskünfte – verlassen (s. o., S. 52, 102). Vertrauen – oder jedenfalls uns verlassen – müssen wir auch auf das Zeugnis unserer Stellvertreter, Untergebenen, Vorgesetzten, Kolleginnen, Partner, sogar von Verkäufern – man denke nur an Vertrauensgüter. Daher „the great importance of such a virtue as truthfulness in ... economic life“ (Arrow 1975, 24). Delegation, Repräsentation, Dezentralisierung, Stellvertretung, jede Form von Arbeitsteilung und Kooperation ist auf Zeugenschaft verwiesen. Tatsächlich findet an ihr jedweder Kontrakualismus eine Grenze, weil die Wahrhaftigkeit der Zeugenschaft vertraglich nicht zu sichern ist. Im Alltag behelfen wir uns oft genug mit Fiktionen der Reliabilität – mit Indizes, Signalen, Zuschreibungen ohne letzte Deckung durch „die Realität“. Die Reputation des Zeugen erhält Gewicht. Wenn es aber „wirklich darauf ankommt“, ziehen wir vor, uns auf Personen unseres Vertrauens zu stützen. Das hat viel mit dem Stigma der Zeugenschaft zu tun. Wir müssen uns indes auf Zeugenschaft überall stützen, auch dort, wo sie nicht durch Vertrauenswürdigkeit vebürgt ist. Wir tun es mit gemischten Gefühlen. Denn das zu bezeugende Geschehen selbst, ephemeres Ereignis, ist ja im nächsten Augenblick schon passé, versunken in der Vergangenheit, und lässt uns doch nicht in Ruhe – „der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks.“ (Nietzsche o. J., 115)
16. „... die Natur, rot an Zähnen und Klauen“ Notiz über Evolution, Konkurrenz und Kooperation 16. Kapitel: „... die Natur, rot an Zähnen und Klauen“ „Kropotkin war nicht verrückt“. Gould (1994, 374)
Heute erfreuen sich Kooperation und Vertrauen wachsender Beliebtheit: high trust organizations (Fox 1974), Vertrauensorganisation (Bleicher 1982), „kooperative Produktion“ in industriellen Distrikten (Sabel, Kern, Herrigel 1991), kooperative und vertrauensvolle Interaktionen in Unternehmungsnetzwerken (Loose, Sydow 1994), die rekursive Stabilisierung von Kooperation (Ortmann 1995a, 291 ff), „diskursive Koordination“ (Braczyk 1997). Das zieht sich den Spott sozusagen von beiden Seiten zu: von links und von rechts. Tenor dieses Spotts ist natürlich: „Blauäugigkeit“. Die Geister der Hobbes, Adam Smith und Malthus geben eben keine Ruhe. Im Grunde unseres Herzens wohnt die Überzeugung: homo homini lupus. Kampf aller gegen alle. Die Natur, rot an Zähnen und Klauen. „Schöne heile Netzwerkwelt?“ fragt Michael Gaitanides (1998) nur mehr rhetorisch, und eine Kollegin, Insa Sjurts, schickt mir „mit freundlichen Grüßen“ ihren jüngsten Beitrag in der DBW: „Kontrolle ist gut, ist Vertrauen besser?“ (Sjurts 1998). Beide bringen gute Gründe wider die Blauäugigkeit bei (und beide haben mit Hobbes vielleicht gar nichts im Sinn). Die Natur? Erstens. Darwin hat den „Kampf ums Dasein“ zwar meistens mit Beispielen blutiger Konflikte illustriert, aber alles in allem doch so metaphorischen Gebrauch von dem Begriff gemacht, dass er Kooperation als Form des Kampfes unter den Tieren, des gemeinsamen Kampfes nämlich inmitten einer schwierigen, „feindlichen“ Umwelt, einschließt. Man beachte, dass wir insoweit also innerhalb des Darwinschen Paradigmas bleiben, weil Kooperation hier zum Anpassungsvorteil für das einzelne Lebewesen wird. Dass „die Natur“ uns Menschen die Vorlage für Konkurrenz als die Form des Kampfes ums Dasein liefert und entsprechende Ideologien also Darwins Segen und Autorität auf ihrer Seite hätten, ist schon deshalb falsch. Von Axelrod zumal wissen wir: Es ist die Vereitelung von Kommunikation und Kooperation, die seine Gefangenen ins Dilemma stürzt und beide – wiewohl rational entscheidenden – Akteure schlechter stellt, als sie mit Kommunikation und Kooperation dastehen könnten. In dieser Lage, im Gefangenendilemma, können kooperativere Spielstrategien überlegen und sogar dauerhaft überlegen – „robust“ – sein, und zwar im Kern, weil sie die beträchtlichen Kosten konkurrierender Strategien vermeiden, indem sie so etwas wie Vertrauen – oder jedenfalls Relianz (s. den Beitrag „Die Ehre der Prizzis“) – rekursiv ausbilden und stabilisieren, Vertrauen, dieses wichtige „Schmiermittel“ ökonomischer Austauschprozesse (Arrow 1980). (Wir konnten sogar sehen, dass dies selbst im Krieg – Kampf ums Dasein! –, unter den Bedingungen des Stellungskrieges und ohne Absprachen zwischen den gegneri-
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16. Kapitel: „... die Natur, rot an Zähnen und Klauen“
schen Parteien, partiell gelingt: Kooperation in Fragen wie Gefechtspausen, erzielt durch „konkludentes Handeln“, auf das man sich allmählich verlassen konnte und tatsächlich verließ.) Und heute ist eine aufgeklärte – soll heißen: gegen sozialdarwinistischen Ökonomismus wenn nicht gefeite, so doch sensibel gewordene – evolutorische Ökonomik im Begriff, die Bedingungen zu eruieren und namhaft zu machen, unter denen sich Kooperation evolutorisch stabilisiert.195 Zweitens. Es war Petr Kropotkin (1902), der mittels Rekurs auf die eigene Naturforschung seinem berühmten Postulat der „gegenseitigen Hilfe“ Geltung zu verschaffen suchte. Der Kampf ums Dasein nötigt zu gegenseitiger Hilfe. Nun ja, heißt es, dieser etwas versponnene – gemeint ist: verrückte – Anarchist; wie verzweifelt er doch versucht hat, aus der Natur herauszulesen, was seinen gesellschaftlichen Idealen – gemeint ist: Vorurteilen – sich fügt! Aber Kropotkin war weder versponnen noch verrückt, sondern, wie Stephen Jay Gould (1994, 379) bemerkte, ein Genie, und dass er den Akzent auf Kooperation statt auf Konkurrenz als der wichtigsten Form des Kampfes ums Dasein legte, hatte einer Analyse von Daniel P. Todes (1988) zufolge hauptsächlich darin seinen Grund, dass er in Russland lebte und in Sibirien forschte, in dünn besiedelten Gegenden, in denen das Hauptproblem nicht, wie in den Tropen, die Darwin vor Augen hatte, die Überfülle an Arten, sondern die widrigen Bedingungen einer rauhen, unbelebten, fast arktischen Umgebung war, gegen die sich jener Kampf richten musste. (Vgl. auch Ridley 1997). Das macht es zu einer empirischen Frage, ob Konkurrenz oder Kooperation zu Anpassungserfolgen werden – und zu einer Frage der Umgebung. Heute sagt man: zu einer Frage des Kontextes. Drittens. Nun möchte ich auch für Kropotkin gar nicht in Abrede stellen, was für die meisten von uns gilt, nämlich, „daß ein wahrhaft Gläubiger dazu neigt, seine gesellschaftlichen Vorlieben in die Natur hineinzuinterpretieren.“ (Gould 1994, 387) Die Sache ist nur die, dass wir dasselbe auch für Darwin gelten lassen müssen, der bekanntlich zum Schöpfer der Evolutionstheorie erst wurde, „als er nach England zurückgekehrt war und sich darum bemühte, dem Erlebten einen Sinn zu geben, und zwar im Licht seines eigenen Wissenshintergrundes, der von Adam Smith, William Wordsworth, Thomas Maltus und anderen geprägt war.“ (Gould 1994, 29) Das führt uns zu der für die Darwin-Liebhaber unter den Ökonomen doch peinlichen Einsicht, dass die Ökonomie sich auf die Biologie und die Autorität Darwins beruft, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass dieser zu der in Rede stehende Idee – das Gemeinwohl ergibt sich als Resultante eigennütziger Bestrebungen der je einzelnen – von eben dieser Ökonomie inspiriert worden ist. Die Ökonomie entlockt Darwin ein Geheimnis, dass sie selbst ihm eingeflüstert hat, das nun aber mit der Autorität eines Darwin und auf diesem Wege mit der Autorität eines Naturgesetzes ausgestattet ist. Viertens. Was zuerst war: Kropotkins respektive Darwins gesellschaftliche Vorlieben, die ihnen eine bestimmte Wahrnehmung der Natur nahegelegten, oder eine bestimmte Naturwahrnehmung, die eine Affinität zu bestimmten gesellschaftlichen Idealen bewirkte, 195
Vgl. zum Beispiel Güth, Kliemt (1993; 1994); Witt (1995); Weise (1995) und Wegner (1995).
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das verkommt zwar nicht zur Frage nach Henne und Ei, löst sich aber in die Idee rekursiver Konstitutions- und Bestärkungsverhältnisse auf. Wie schon Mary Douglas bemerkte: Gebraucht wird die Naturalisierung sozialer Klassifikationen als stabilisierendes Prinzip. „Es bedarf einer Analogie, dank deren die formale Struktur eines wichtigen Komplexes sozialer Beziehungen in der natürlichen Welt, in der übernatürlichen Welt, im Himmel oder sonstwo wiederzufinden ist, wobei es allein darauf ankommt, daß dieses ‚sonstwo‘ nicht als gesellschaftlich erzeugtes Konstrukt erkennbar ist.“ (Douglas 1991, 84) Dafür bieten die Ökonomen, die sich der Verbindungslinien von Smith und Malthus zu Darwin und seiner Evolutionstheorie nicht mehr bewusst sind, wahrlich ein Beispiel. Auch dass die Konstitutionsverhältnisse hier rekursiv gebaut sind, hat Douglas klar gesehen: „Wenn die Analogie von der Natur auf einen Komplex sozialer Beziehungen und von dort auf einen anderen Komplex und von dort wiederum auf die Natur übertragen wird, dann gräbt sich diese wiederholt auftretende formale Struktur ins Bewußtsein ein, und das Hin und Her dieser Übertragungen stattet sie mit einer Wahrheit aus, die für sich selbst spricht.“ (Douglas 1991, 84 f) Fünftens. Ohnehin aber eignet sich die Natur nicht als Ratgeberin in moralischen und politischen Fragen – das wäre mehr als ein naturalistischer Fehlschluss, wie es im einschlägigen Theoriejargon heißt, es wäre immer schon eine Selbstüberlistung nach dem eben beschriebenen Muster. „Zu moralischen Erkenntnissen gelangt man nicht auf Abkürzungen. Die Natur ist von sich aus nichts, das nach menschlichen Maßstäben Wohlbefinden oder Trost verschaffen kann (...) Die Antworten auf moralische Streitfragen liegen nicht da draußen, wo wir sie entdecken könnten. Sie wohnen wie das Reich Gottes in uns selbst – und sie sind der schwierigste und unzugänglichste Punkt für jede Entdeckung oder jeden Konsens.“ (Gould 1994, 390) Sechstens. Kooperation aber gibt es nicht nur als Form des Kampfes ums Dasein. Darin bliebe das egoistische Motiv unangetastet. Es gibt Altruismus, Gemeinschaftssinn und Vertrauen jenseits von Kalkulation, nicht, weil die Menschen so gut sind, sondern weil sie innerhalb von Institutionen ihre Identität gewinnen, die ihr Denken und ihr Wünschen konstituieren. Mit anderen Worten, „die Individuen teilen wirklich ihre Gedanken miteinander, sie stimmen tatsächlich zu einem Teil in ihren Präferenzen überein, und sie vermögen ihre wichtigen Entscheidungen nur im Bereich von Institutionen zu treffen, die sie selbst geschaffen haben.“ (Douglas 1991, 206) Gewiss, diese Idee soll man nicht überstrapazieren. Mary Douglas, die ihren Olson so gut kennt wie ihren Elster, ist nicht in Gefahr, das zu tun. Die Natur aber, rot an Zähnen und an Klauen, zum Vorbild für unseren Gesellschaftsentwurf zu machen, das führt denn
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doch in eine so angestrengte Theorie, dass sich die Frage nach ihren institutionellen und sozialpsychologischen Voraussetzungen geradezu aufdrängt. Entspannen wir uns.
17. Spandrillen der Organisation 17. Kapitel: Spandrillen der Organisation „Spandrels – the tapering triangular spaces formed by the intersection of two rounded arches at right angles (...) – are necessary architectural by-products of mounting a dome on rounded arches.“ Gould, Lewontin (1997, 581)
Form, Funktion und Verhalten eines Organismus sei das Resultat eines absichtslosen Optimierungsprozesses, nämlich der natürlichen Auslese, bewerkstelligt durch den Kampf zwischen einzelnen Organismen, die nichts als ihren eigenen Reproduktionserfolg anstreben und es, eben dadurch, doch zu mehr bringen, nämlich zu guten „Entwürfen“ von Organismen, zum Reproduktionserfolg der Art – ist es ein Wunder, dass Organisationstheoretiker der Verführung erlegen sind, sich auf den Flügeln dieser mächtigen Idee in die Lüfte zu schwingen, indem sie Organisationen an die Stelle von Organismen setzten? Wo sie sich doch auf diese Weise über zwei ihrer hässlichsten Probleme erheben zu können glaubten, das Problem der beschränkten Rationalität und das der beschränkten Tugend der handelnden Akteure? Jedoch, auch ein Pegasus der Wissenschaften bekommt den Achtersteven nicht recht hoch, wenn die Last zu schwer wird, die ihm aufgebürdet wird. Nicht die geringste unter den hier in Frage kommenden Lasten ist es, dass die natürliche Auslese, wenn sie funktionieren soll, der Mendelschen Vererbung bedarf, während kulturelle Veränderung, zum Beispiel die Entwicklung von Organisationen, den Wegen der Lamarckschen Vererbung folgen müsste – der Weitergabe erworbener Merkmale an die folgenden Generationen (Gould 1997, 87). (Mimetische Mechanismen wären ein nicht nur in der Organisationstheorie prominentes Vehikel.) Das möchte ich hier auf sich beruhen lassen und mich – getreu der Hegelschen Maxime immanenter Kritik: „Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen“ – for the sake of the argument von der Konzession leiten lassen, die Evolution von Organisationen gehorchte dem adaptionistischen Programm. Selbst dann – selbst unter dieser dem Adaptionismus denkbar wohlgesonnenen Annahme – hätten wir es mit einer Fülle von Phänomenen zu tun, die wir nicht der erfolgreichen Anpassung selbst zurechnen können, sondern als nicht-adaptive Nebenfolgen der Anpassung auffassen müssen, ohne – horribile dictu – a priori das eine vom anderen scheiden zu können. Ich will mit einer solchen Argumentation nicht zu verstehen geben, die „Bauweisen“ von Organisationen folgten am Ende doch den – lediglich modifizierten – Gesetzmäßigkeiten biologischer Evolution. Wohl aber rechne ich, wie Gould (1994, 73), damit, „daß Systemen mit ähnlicher Struktur, die offenkundig nach unterschiedlichen Regeln funktionieren, gleiche allgemeine Prinzipien zugrunde liegen“ – Prinzipien allerdings, die wir – das Derridasche
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Memento im Ohr, seine Warnung vor der Idee reiner Ursprünge – besser „allgemeinere Regeln von Struktur und Wandel“ nennen sollten, wie Gould es einen Satz weiter (ebd.) auch tut. Nicht die Regeln der natürlichen Selektion, wohl aber solche allgemeineren Regeln lassen sich vielleicht auf Organismen und Organisationen beziehen. Und eine solche allgemeinere Regel könnte Goulds Prinzip der Unvollkommenheit sein, das er Panda-Prinzip genannt hat – zu Ehren seines Lieblingsbeispiels, des falschen Daumens beim Pandabär. Der Panda war vor langer, langer Zeit Fleischfresser, und sein anatomisch echter Daumen wurde damals „unwiderruflich auf (...) eingeschränkte Beweglichkeit festgelegt“. Als er sich auf Ernährung durch Bambus umstellte – ein Fall Darwinscher Anpassung! –, hätte er den Daumen dringend gebraucht, konnte ihn aber nicht wieder umgestalten und musste sich mit einem Ersatz behelfen, einem vergrößerten Sesamknöchelchen des Handgelenks (Gould 1994, 67 ff). Auch den einmal entwicklungsgeschichtlich festgelegten, nämlich: eingeschränkten Daumen des Panda, hinderlich, wie er ist – wie er geworden ist –, bewahrt die Geschichte: das ist die Botschaft. Auch die entwicklungsgeschichtlich festgelegte Schreibmaschinentastatur QWERTY (David 1986), auch entwicklungsgeschichtlich festgelegte Weisen der Arbeitsteilung – etwa zwischen Mann und Frau oder zwischen ausführender und dispositiver Arbeit – bewahrt die Geschichte: das ist die Analogie für Organisationen. Mehr noch: Der Retention fiele auch anheim, was Gould Exaptationen und näherhin Spandrillen zu nennen pflegt. Als Spandrille definiert das Lexikon den Bogenwinkel zwischen einer Bogenlinie und der meist rechteckigen Umrahmung, etwa an einem Gebäude. Wenn die Evolution, dieser „blinde Uhrmacher“, einer Intention folgte, der Intention etwa: Maximierung des Reproduktionserfolges der Art, dann wären Spandrillen, was wir in den Sozialwissenschaften unintendierte Nebenfolgen nennen. Es müsste sie selbst dann geben, wenn die Natur im Prinzip nichts anderes täte, als den Reproduktionserfolg zu maximieren. „Alle Organismen entwickeln sich als komplexe und untereinander verknüpfte Ganzheiten, nicht als lockere Bündnisse getrennter Teile, von denen jeder für sich durch die natürliche Auslese optimiert würde. Jede adaptive Veränderung muß außerdem zusätzlich eine Reihe Spandrillen oder nicht-adaptive Nebenprodukte hervorbringen. Diese Spandrillen können später zu einer zweiten Nutzung ‚kooptiert‘ werden. Aber wir würden einen ungeheuren logischen Fehler begehen, wollten wir behaupten, daß diese zweite Nutzung die Existenz einer Spandrille erklären könne. Ich kann eines Tages erkennen, daß mein Lieblingsbumerang wundervoll in den gebogenen Raum meiner Eßzimmerspandrille paßt, aber Sie würden mich für ziemlich albern halten, wollte ich Ihnen auseinandersetzen, die Spandrille existiere, um den Bumerang aufzunehmen. Ähnlich bauen Schnecken ihre Häuser, indem sie eine Röhre um eine Achse der Spirale winden. Dieser geometrische Prozeß hinterläßt entlang der Achse einen leeren zylindrischen Raum, der umbilicus genannt wird. Einige Schneckenarten verwenden den umbilicus als Brutkammer, um Eier zu lagern. Aber der umbilicus entstand als nichtadaptive Spandrille, nicht als Anpassung für den Reproduktionserfolg. Die allermeisten Schnecken nutzen ihre umbilici weder zum Brüten, noch überhaupt für irgendetwas.“ (Gould 1997, 90)
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Wer nun wollte bestreiten, dass auch und erst recht Organisationen „sich als komplexe und untereinander verknüpfte Ganzheiten (entwickeln), nicht als lockere Bündnisse getrennter Teile, von denen jeder für sich durch die natürliche Auslese optimiert würde?“ Fließbänder machten spezifische Zwischenläger erforderlich, aber nur obsessive Apologeten würden behaupten, darin bestünde einer ihrer adaptiven Erfolgsfaktoren. Gleichwohl konnten diese Zwischenläger später, in einer sekundären Nutzung, als Puffer für den Fall von Streiks gebraucht werden. Die Existenz dieser Art Läger aber ist nicht aus ihrer Eignung für diese Reduktion der Streikanfälligkeit zu erklären. Sie wurden denn auch zügig minimiert, als es mit der just-in-time-Produktion die Möglichkeit dazu gab und die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wurde, und die Streikrisiken wurden auf andere Weise reduziert (in Deutschland durch Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes). Max Webers Ordnungsmenschen, Niklas Luhmanns Meister der parasitären Entscheidung, informelle Gruppen, viele Formen betrieblicher Sozialleistungen – sie alle sind in ihrer Genese besser als Spandrillen denn als Erfolgsfaktoren der Anpassung zu verstehen. Das hindert nicht, dass auch sie „später zu einer zweiten Nutzung ‚kooptiert‘ werden“, und das macht die Lage unübersichtlicher. Es leistet adaptionistischen Erklärungsmustern Vorschub, als könne „diese zweite Nutzung die Existenz einer Spandrille erklären“. Informelle Gruppen waren ein notwendiges Nebenprodukt formaler Organisation – dass sie ihrerseits zum Vehikel der Produktivitätssteigerung via Pflege der sozialen Bedürfnisse und Kontakte gemacht werden konnten, war eine sekundäre Entdeckung oder Erfindung der zwanziger Jahre. Die Unterscheidung zwischen adaptiven Effekten und nicht-adaptiven Nebenprodukten der Auslese ist auch für die Diskussion um betriebliche Sozialleistungen instruktiv. So sehr die von Sadowski und Pull (1997) nacheinander in Anschlag gebrachten Funktionen solcher Leistungen wirksam sein und ihre spätere Entwicklung erklären mögen, so wenig erklären sie vermutlich ihre Genese und frühe Existenz – weder Steuerersparnis noch Kuppelproduktion von Versicherungsleistungen noch die Minimierung der Transaktionskosten expliziter Verhandlung noch eine mikropolitische Ausgleichsfunktion dürften an ihrer Wiege eine besondere Rolle gespielt haben. Wieviel zwangloser wirkt die Erklärung, dass sie als Spandrillen der Organisation in die Welt gekommen sind, als nicht-adaptive Nebenprodukte. Genauer: als Versuch, Spandrillen der Unternehmung zu überdecken oder zu überbauen, Löcher oder Lücken ihrer Organisation, nämlich, zum Beispiel, den Mangel an LebensMitteln der Beschäftigten und Legitimationslücken der Beschäftiger, Löcher, die nicht die Funktions- und Reproduktionsfähigkeit der Unternehmung verbesserten, die zu stopfen aber diese Funktionsfähigkeit ihrerseits verbesserten und das Gewissen des Eigentümers beruhigten – was indes nicht hinderte, in jenen sekundären Nutzungen Kapital daraus zu schlagen. Qualifikations-, Autonomie- und Kreativitätslücken der Arbeitenden sind, auf ähnliche Weise, Spandrillen tayloristischer Arbeitsteilung, auf die der Blick zunächst aber nicht fiel, weil er auf die schönen Bogenlinien konzentriert war, die damals von den Zeitund Bewegungsstudien und den Gilbrethschen Chronozyklogrammen geliefert wurden. Goulds Gedanke einer zweiten Nutzung lässt sich übrigens stärken, wenn man ihn mit Arnold Gehlens Einsicht in die sekundäre Zweckbesetzung aller unserer Institutionen zusammendenkt. Zunächst zweckfreie Rituale der Mimesis an Götter und Natur werden auf den Wegen solch sekundärer Zweckbesetzung zu zweckorientierten Ritualen, zum Beispiel
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Regentänzen, und sodann zu zweckmäßigen Insitutionen, und kaum eine Insitution – Gehlens Beispiel (1956, 38) ist die Arbeitsteilung – bleibt im Dienste jener Motive oder Zwecke in der Welt, um derentwillen sie einst etabliert wurde. Der umbilicus inmitten des Schneckenhauses ergibt sich als Negativ des Gehäuses. Wenn wir diese Metaphorik ernstnähmen, dann hätten wir Spandrillen der Organisation als ihr Negativ zu bestimmen: Monotonie als Negativ der Arbeitsteilung, die Trägheit von Organisationen als Negativ ihrer Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit (Hannan, Freeman 1977, 1984), die Riskanz von High-Tech-Systemen à la Perrow (1987) als Negativ der Automatisierung mittels fester Kopplungen und komplexer Interaktionen, die Streikempfindlichkeit von just-in-time-Systemen als Negativ ihrer logistischen Vorzüge. Sie können als Hohlräume organisierten Entscheidens und Handelns gelten wie der umbilicus als Hohlraum des Schneckengehäuses. Das macht darauf aufmerksam, dass Ausleseprozesse, selbst wenn sie einer evolutionstheoretischen Orthodoxie gehorchten, Wirkungen zeitigen müssten, die nicht – nach dem Motto: „whatever is, is right“ – den Charakter von Anpassungserfolgen haben. Das schon wäre eine herbe Enttäuschung für ökonomistische Hoffnungen auf die Evolutionstheorie, inmitten ihrer ureigenen Stärke. Die solche Hoffnungen hegen, neigen vermutlich zu der Erwiderung, entweder würden Spandrillen im Zuge zukünftiger Evolution noch getilgt respektive angepasst oder sie seien bereits, zusammen mit den adaptiven Effekten, also gerade als Teil einer Ganzheit genommen, nichts als Einschreibungen der Anpassung, die es zu unübertrefflichen Ganzheiten gebracht habe. Ihnen sollte zu denken geben, dass wir es auch in der Natur mit zahlreichen Beispielen einer erstaunlichen Bewahrung und also Stabilität zu tun haben, die sich nur recht mühsam als Fälle optimierender Anpassung deuten lassen, mit großen Ähnlichkeiten etwa grundlegender Entwicklungspfade „bei Stämmen, die sich seit mindestens fünfhundert Millionen Jahren unabhängig voneinander entwickelt haben und die in ihrer grundlegenden Anatomie höchst unterschiedlich wirken (Insekten und Wirbeltiere zum Beispiel). Die berühmten homöotischen Gene der Fruchtfliege – verantwortlich für eigenartige Mutationen, die die Anordnung der Teile an der Hauptkörperachse stören und zum Beispiel Beine dort anbringen, wo Fühler oder Mundteile sein sollten – zeigen sich auch (und zwar bei vier unterschiedlichen Chromosomen in vierfacher Wiederholung) bei Wirbeltieren, wo sie effektiv auf die gleiche Weise funktionieren. Der wichtigste Entwicklungspfad für Augen wird durch das gleiche Gen bei Tintenfischen, Fliegen und Wirbeltieren bewahrt und vermittelt, obwohl sich die Endprodukte wesentlich unterscheiden (unser Auge mit einer Linse gegenüber den Facettenaugen der Insekten). Die gleichen Gene regulieren die Herausbildung von Ober- und Unterseiten bei Insekten und Wirbeltieren, wenn auch seitenverkehrt – so daß unser Rücken, bei dem die Wirbelsäule über den Eingeweiden verläuft, anatomisch dem Bauch eines Insekts entspricht, wo die Hauptnervenbahnen an der Unterseite verlaufen, und sich die Eingeweide oben befinden.“ (Gould 1997, 83) Dies alles soll Beweis für die Unübertrefflichkeit solcher Formen des Lebens sein? Das hört sich nach einigermaßen gewaltsamer Interpretation an, und
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„die meisten Biologen sehen diese Art Stabilität vor allem als Einschränkung für die Breite und Potentialität der Anpassung (...) Zumindest erhalten die von der Geschichte auferlegten Beschränkungen bei der Erklärung der evolutionären Bahnen über die Zeit eine ebenso große Bedeutung wie die unmittelbaren Vorteile der Anpassung.“ (Ebd., 83 f; Hervorh. G. O.) Und solche „von der Geschichte auferlegten Beschränkungen“ sollten in der vergleichsweise winzigen Zeit, die Organisationen für ihre Entwicklung bisher gewährt wurde, keine Rolle spielen? Wichtige Fälle sind unter Titeln wie Lock In (Ortmann 1995a, 151 ff), Pfadabhängigkeit und Trajektorien namhaft gemacht worden196. Organisationen ließen sich dann allenfalls (wenn man den Adaptionismus für einen Augenblick konzediert) als Netze positiver Ausleseeffekte begreifen – mit lauter Löchern namens Spandrillen. Das natürlich ist ein gefährlicher Gedanke. Denn, wie ich gerne, bei nicht gänzlich anderer Gelegenheit, zu zitieren pflege: „Ein Netz können Sie auf zwei Arten definieren, je nach ihrem Standpunkt. Normalerweise würden Sie sagen, dass es ein Gerät mit Maschen ist, das zum Fischfang dient. Sie können aber auch, ohne groben Verstoß gegen die Logik, das Bild umkehren und ein Netz so definieren (...): eine Ansammlung zusammengeschnürter Löcher.“ (Julian Barnes: Flauberts Papagei)
196 Und Stephen Gould selbst hat übrigens, in einer Publikation, die mir erst bekannt wurde, nachdem ich das Phänomen des Lock In an Paul Davids berühmten Beispiel der QWERTY-Tastatur von Schreibmaschinen erläutert hatte (Ortmann 1995a, 152 ff, 253 f), das QWERTY-Keyboard als illustrierende Analogie für seine Idee der von der Geschichte auferlegten Beschränkungen herangezogen (Gould 1994, 65 ff).
18. „... die mysteriöse Einheit der Operation“ – Für und wider Niklas Luhmann∗ 18. Kapitel: „... die mysteriöse Einheit der Operation“
Wie Niklas Luhmann ehren, wie seiner gedenken? Vielleicht, erstens, persönliche Reminiszenzen beisteuern und, zum Beispiel, daran erinnern, wie er 1974 einem ihm ganz unbekannten Doktoranden, der dringend Hilfestellung in Sachen „psychologischer Reduktionismus“ brauchte, ohne jedes Aufheben mit Hinweisen auf Helmut F. Spinner und auf eine diesem Jungspund damals gänzlich unbekannte Zeitschrift namens „Inquiry“ weiterhalf? Dass damals „Zweckbegriff und Systemrationalität“ mir und einigen wenigen anderen Fachkollegen, also Betriebswirten, wie von einem anderen Stern zu kommen schien, selbst in der Rezeption der betriebswirtschaftlichen Organisations- und Zielforschung jeder einschlägigen betriebswirtschaftlichen Arbeit turmhoch überlegen? Wie 1975 der Prüfer in meinem Rigorosum, jeder Zoll ein integrer und kluger (Links)Liberaler, und kein Betriebswirt, eigentümlich heftig wurde, (darin ganz Kind jener Zeit,) als man auf Luhmann zu sprechen kam: „Techno-Faschist“ (sic!)? Wie andererseits eine gute Dekade später der inzwischen verstorbene Wolfgang Staehle eine Tagung der Kommission ‚Organisation‘ des Hochschullehrerverbandes für Betriebswirtschaft zum Thema ‚Systemtheorie‘ plante und dazu Luhmann einladen wollte, davon aber schließlich absah, weil er einen Mangel an adäquaten Diskussionspartnern unter den Betriebswirten befürchtete? Wie ungefähr zu jener Zeit, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als man auch in den Niederlanden sich von Marx weg- und – ja, wohin? – auf Giddens, oder, zum Beispiel, Luhmann zubewegte, ein kluger Soziologe und, inzwischen, guter Freund in Deutschland nach einer Möglichkeit zur Promotion suchen musste, weil selbst in seinem Heimatland die professoralen Vertreter der deutschen Linken den Ton angaben und sich weigerten, eine an der Systemtheorie Luhmanns sich abarbeitende Dissertation zu betreuen? Wie noch 1990 führende Vertreter der Industriesoziologie „systemtheoretische Anleihen aus der Organisationssoziologie“ (Baethge, Oberbeck 1990, 171) für entbehrlich erklärten – Notizen aus der Provinz? So ganz unwichtig sind solche Plaudereien aus dem Nähkästchen des Zeitgeistes nicht. Der Anlass aber, Niklas Luhmanns Tod, verlangt nach anderem. Also, zweitens, erzählen, wie mir neulich, nach langer Zeit, wieder einmal „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ in die Hände geriet, und ich schon nach einigem Blättern leicht auf erstaunlich viele heutzutage zu großer Prominenz gelangte organisationstheoretische Ideen stieß, Ideen, mit denen John Meyer (mit Brian Rowan) und Nils Brunsson197, ∗
Zuerst erschienen in: Bardmann, Th. M.; Baecker, D. (Hrsg.): „Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?“ Erinnerungen an Niklas Luhmann, Konstanz 1999, 159-168; geringfügig modifiziert. 197 Zu Meyer/Rowans (1977) und Brunssons (1989) Idee ritualisierter und zeremonieller Erfüllung gesellschaftlicher Anforderung an Organisationen, etwa durch Institutionalisierung von als modern geltenden Techniken, oder durch pure Hypokrisie, vgl. die Formulierung: „Jedes soziale System muß sein Handeln an einer Vielzahl von Werten ausrichten. Es kann versuchen, wichtige Werte in ein eindeutiges Rangverhältnis zu bringen (...) Aber der Institutionali-
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ferner die „Entdecker“ interorganisationaler Netzwerke und Grenzgänger198 – Relais, „marginal secants“, „boundary spanners“ – berühmt geworden sind, die aber in Luhmanns Arbeit aus dem Jahre 1964 ausgearbeitet vorliegen? Auch der kometenhafte Aufstieg des Vertrauens als Kooperationsmedium in und zwischen Organisationen in den letzten Jahren hat der Sache nach nicht viel erbracht, was über Luhmann hinausgeht – die Fehler, die Colemann 1990 gemacht hat, hat Luhmann schon 1964 vermieden199. Von diesem späten Leseerlebnis immerhin hätte ich ihm gerne noch berichtet. Und es muss hier erwähnt werden, weil in all den Nachrufen fast immer das Wissen und jedenfalls der Hinweis fehlte, dass Luhmann als Verwaltungs- und Organisationssoziologe begonnen hat; dass er nach den beiden erwähnten Arbeiten in einer ganzen Fülle weiterer Beiträge, zum Beispiel zum „Lob der Routine“, zur Verwaltung, zur „Legitimation durch Verfahren“, zum Problem der Entscheidung, um nur einige zu nennen, das Thema ‚Organisation‘ immer sorgfältig im Auge behalten hat; dass er 1988 die Umstellung seiner Theoriearchitektur auf Autopoiesis für die Organisationsproblematik eigens durchgeführt hat (Luhmann 1988); und dass heute dazu ein fertig ausgearbeitetes Buchmanuskript mit dem Titel „Organisation und Entscheidung“ unveröffentlicht vorliegt, das den organisationstheoretischen Schlussstein seines Werkes setzt (siehe inzwischen Luhmann 2000). (In meiner persönlichen Rangliste der zwölf wichtigsten organisationstheoretischen Bücher des zuendegehenden Jahrhunderts taucht Luhmann mit „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ und mit „Zweckbegriff und Systemrationalität“ zweimal auf, neben Weber, Barnard, Simon, Cyert/March, Selznick, Thompson, Hirschman, Weick, Crozier/Friedberg und, nun ja, Williamson, und mit „Organisation und Entscheidung“ hat er das neue Jahrhundert sozusagen schon eröffnet.) Oder, drittens, seinen scharfen Blick für organisationale Realitäten rühmen – für parasitäre Entscheidungsstrukturen, für brauchbare Illegalität, für die Vordringlichkeit des Befristeten, für die besondere autopoietische Geschlossenheit so mancher Behörde, für den Stil wissender Überlegenheit auf ungezählten Meetings und Konferenzen, für die Nöte und die Listen der Organisationsberater? (Luhmann hat immer wieder einmal mit Unternehmungssierung solcher Vorzugsordnungen sind, selbst wenn man die rationalen Techniken moderner Ideologiebildung voll ausnutzt, enge Grenzen gesetzt. Und wenn die Wertordnung auf einem abstrakten Niveau verbalen Verhaltens anerkannt, ihr Lippendienst geleistet wird, so ist damit noch keineswegs über das Verhalten in jeder konkreten Konfliktsituation entschieden. Es ist in der modernen Sozialwissenschaft weithin anerkannt, daß jede Sozialordnung Wertwidersprüche ertragen muß und in hohem Maße ertragen kann, ohne dadurch in ihrem Bestand gefährdet zu sein. Sie werden verarbeitet in Form des ‚Widerspruchs der Institution zu sich selbst, der aber institutionalisiert wird‘.“ (Luhmann 1964/1995, 239f, der hier Schelsky 1957, 173 zitiert.) Derlei habe ich im 6. Kapitel unter dem Titel „SelbstDekonstruktion organisatorischer Regeln“ diskutiert. Ferner: „Sich widersprechende Erwartungen werden an das System gerichtet; es kann nicht allen Erwartungen folgen, wenn es nach eigenen Normen leben will. In dem Maße, als dieses Problem an Schärfe gewinnt, werden Handlungen notwendig, die nicht im Einklang mit den eigenen Normen stehen, aber der Anpassung des Systems an Umwelterwartungen dienen.“ (Luhmann 1964/1995, 305) 198 Autoren wie Crozier/Friedberg, J. S. Adams u. a.; für einen Überblick vgl. Ortmann, Sydow (1998) – und zu alledem Luhmann (1964/1995, 220-239) mit luziden Einsichten zu „Grenzstellen“ in Organisationen. 199 Die Liste ließe sich verlängern. Wer unter den Organisationstheoretikern hat schon 1964 so wichtige Arbeiten wie die von Anselm Strauss (1959), Howard Becker (1960) und Helen Gouldner zum Konzept des „commitment“, von Isabel Menzies (1960) zur Rolle von Angst oder von Tom Burns (1961) zur Bedeutung von Mikropolitik in Organisationen rezipiert (vgl. Luhmann 1964/1995, 37, 145, 150, 187, 337, 186)? Und wer hätte in Erinnerung, dass Luhmann schon in diesem Buch (1964/1995, 68 ff, bes. Fußnoten 11 bis 14) hellsichtige, skeptische Bemerkungen zur Überschätzung der Rolle von Konsens in sozialen Systemen gemacht hat?
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respektive Organisationsberatern Kontakt gehabt, zum Beispiel mit Praktikern systemischer Beratung in Wien und, schon Ende der sechziger Jahre und dann noch einmal Anfang 1997, mit den Beratern der Firma Metaplan, die sich im Zuge dreier Seminartage über Luhmanns Organisationstheorie informiert haben. Zwei dieser Tage hat Luhmann bestritten. Vgl. auch Luhmann 1989.) Auch das ist erwähnenswert, weil zu den verbreiteteren, zu den vermeidbareren Irrtümern, betreffend sein Werk, gehört, es sei irgendwie abgehobene, praxis-, empirie- und realitätsferne Begriffsartistik. Artistisch allerdings ist es oft genug, und mein Lieblingsbeispiel, mit Blick auf Organisationen, ist dieses Kunst-Stück (das nur jemand aufführen konnte, der weiß, wie es in Organisationen zugeht): „daß (in Organisationen, G. O.) wesentliche Strukturen im nachträglichen Behandeln früherer Entscheidungen bzw. in der Vorsorge für künftige Möglichkeiten der rückblickenden Behandlung der jetzt anstehenden Entscheidungen aufgebaut werden“ (Luhmann 1988, 167). Das ist, wie vieles in Luhmanns Organisationstheorie, von Karl Weick (und vielleicht ursprünglich von Alfred Schütz) inspiriert, Weick, für den ein großer Teil der Aktivitäten von Organisationen darin besteht, „im nachhinein plausible Geschichten zu rekonstruieren, um zu erklären, wo sie gerade stehen, selbst wenn keine derartige Geschichte sie genau an diese Stelle gebracht hat“ (Weick 1985, 14). Neben Weick waren Barnard und Simon die wichtigsten Quellen, aus denen er schöpfte, Barnard übrigens schon 1938 mit der Einsicht, deren Bedeutsamkeit Luhmann 1964, in „Funktionen und Folgen formaler Organisation“, scharf gesehen und von Barnard übernommen hat (Luhmann 1964/1995, 25, bes. Fußnote 201), und für die er sich später so heftige und unberechtigte Kritik eingehandelt hat: „Alle Personen, auch die Mitglieder (des Sozialsystems ‚Organisation‘, G. O.), sind (...) für das Sozialsystem Umwelt.“ Oder, viertens, auf das kritische Potential seines Werkes hinweisen, das darin allerdings unter vorsorglich mürrischen Bemerkungen, darum ginge es nicht, gut versteckt ist? Ich erwähne nur das Ökologie- und das Risikobuch, mit denen Luhmann, wer weiß, das ungewollte und ungeliebte – und, selbstredend, kritische – Erbe der Kritischen Theorie angetreten haben könnte, und seine einigermaßen sybillinischen Bemerkungen zur Marxschen Gesellschaftstheorie, etwa, „daß sie die Wirtschaft überschätzt – und eben deshalb, wie sich heute zeigt, unterschätzt“ (Luhmann 1991a, 94); dass „ein nicht marxistisch verstandener Marx als Ausgangspunkt“, als ein Ausgangspunkt, für eine theoriegeleitete Beschreibung der Moderne festgemacht werden könne (ebd., 92); dass von der Marxschen Theorie einige wichtige Einsichten – Reserve gegenüber der Idee eines in die Wirtschaftsordnung eingebauten Trends zu individueller und kollektiver Rationalität, Wirtschaftsordnung als soziale Konstruktion, Referenz auf Natur als Reifikation, selbstreferentielle, rekursive Geschlossenheit (im Sinne interner Referenzen auf externe Sachverhalte) – erhalten bleiben (ebd., 92 ff). Heute, da die einschlägigen Leidenschaften abgekühlt sind, wird man sagen dürfen: Zur Frage möglicher Affinitäten und Kongruenzen zwischen Marx und Luhmann sind noch interessante Dissertationen zu erwarten, etwa zur Nähe zwischen Luhmanns Idee autopoietischer Geschlossenheit der Wirtschaft und Marx‘ Überzeugung von der Gleichgültigkeit des (Tausch-)Wertes gegenüber dem Gebrauchswert, und der Rolle der Bedürfnisse in jener internen Referenz auf externe Sachverhalte. Man denke nur an die Formulierung: „Immer wenn, direkt oder indirekt, Geld involviert ist, ist Wirtschaft involviert, gleichgültig, durch wen die Zahlung erfolgt, und gleichgültig, um wessen Bedürfnisse es geht“ (Luhmann 1986, 101; Hervorh. G. O.). Die Differenz zu Marx bleibt natürlich: Diese Gleichgültigkeit gilt
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Luhmann (1991a, 91) als „funktionsnotwendiges ‚Absehen von‘“. Sie ist ihm ansonsten – gleichgültig. Heute würden wir uns mehr als Marx und Luhmann für die Frage interessieren, wie ein solches „Absehen von“ zustandekommt – als Bewusstseinsleistung und als soziales Geschehen der Sinnkonstitution, inclusive -selektion. Dazu gleich mehr. Schließlich, fünftens, der Souveränität Respekt zollen, mit der Luhmann die Diskussion um die sogenannte Postmoderne kommentiert – besser: um „Analysen (...), die derzeit unter dem unglücklichen Pseudonym der ‚Postmoderne‘ geführt werden“ (Luhmann 1991a, 100)? Dankbarkeit äußern, dass Luhmann in Fragen wie Beliebigkeit, Differenz, Ende der Metaerzählungen u. a. den Provinzialismus hinter sich lässt, der hierzulande die Diskussion um Autoren wie Lyotard oder Derrida trübt (Luhmann 1991a, 96, 100 ff; 1997, 1143 ff)? Ja, alles das ist Anlass genug, sich in Ehrfurcht zu verneigen, aber ich stelle mir vor: Wenn es nach ihm ginge, dann wären auch Einreden gefragt, Hinweise auf Lücken in seiner Theoriearchitektur, Ideen, wie weiterzufragen sei. Ehren wir ihn also, sechstens, dadurch, dass wir ihn auf diese Weise ernstnehmen. Da beschränke ich mich auf einen Gesichtspunkt, von dem aus wiederum das Thema ‚Organisation‘ in den Blick rückt, nämlich die Frage, wie sein Begriff von Organisationen – „Systeme, die aus Entscheidungen bestehen und die Entscheidungen, aus denen sie bestehen, durch Entscheidungen, aus denen sie bestehen selbst anfertigen“ (Luhmann 1988, 166) – mit der Idee funktional ausdifferenzierter gesellschaftlicher Teilsysteme zusammenstimmt. Damit meine ich noch gar nicht die Frage, ob und wie das Phänomen ‚Organisation‘ jene Ausdifferenzierung oder umgekehrt diese Ausdifferenzierung die zunehmende „Organisation der Welt“ (Türk 1995) befördert – oder auch: gehemmt – hat. Sondern mich interessiert, ob und wie sich rasiermessserscharfe, lupenreine Trennungen gesellschaftlicher Teilsysteme durchhalten lassen, die entlang distinkter Systemelemente, Codes und Steuerungsmedien verlaufen. Organisationen sind ein weites Feld, um da Zweifel zu säen. Bekannt ist, dass Luhmann in der Frage geschwankt hat, ob Unternehmungen, also: Wirtschaftsorganisationen, der „Wirtschaft der Gesellschaft“ zuzurechnen seien oder nicht, oder nicht ganz200. Bekannt ist auch, dass er den Transaktionsbegriff der Neuen Institutionenökonomie mit Interesse zur Kenntnis genommen hat – man geht wohl kaum zu weit, wenn man sagt: mit dem Interesse, ihn bei Eignung an die Stelle zu plazieren, die bis dahin der Zahlungsbegriff innehatte, nämlich an die des Elementbegriffs des Wirtschaftssystems. In einem großen Vortrag auf dem Frankfurter Soziologentag 1990 hat er ersichtlich mit diesem Gedanken gespielt (Luhmann 1991a), und in „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (1997, 755 f, besonders Fn. 307) immer noch Sympathie dafür erkennen lassen. Die verständliche Attraktion des Transaktionsbegriffs macht es aus, dass er sich auf „die Zahlungen und Sachleistungen verknüpfenden Operationen des Wirtschaftssystems“ (Luhmann 1991a, 95) bezieht. Dieser Attraktion erwehrt sich Luhmann (1997, 756) nur noch, indem er „Sachleistungen, Dienstleistungen, Bedürfnisbefriedigung“ auf die Seite der Fremdreferenz des Wirtschaftssystems schlägt.
200
Vgl. etwa Luhmann (1988, 94 und 308); dazu Martens (1995, 318 f).
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Auch darin verbirgt sich, wenn ich recht sehe, ein Schwanken, das durch die Einheit jener Operation ausgelöst wird. Damit jedoch nicht genug. Natürlich hat Luhmann immer gesehen: „Jede faktische Handlung (...) eines Systems ist (...) multifunktional“ (1964/1995, 76), oder, in der Sprache des späteren Luhmann: „Codes sind Sofern-Abstraktionen. Sie gelten nur, sofern die Kommunikation ihren Anwendungsbereich wählt (was sie nicht muß). Es kommt nicht in jeder Situation, nicht immer und überall, auf Wahrheit oder auf Recht oder auf Eigentum an.“ (Luhmann 1986, 79) Aber in vielen Situationen kommt es auf alles drei an, wenn auch mehr oder weniger, je, nachdem, aus welcher Perspektive – aus der Perspektive welchen sozialen Systems oder Akteurs – die Dinge behandelt oder beobachtet werden. „Wenn zum Beispiel eine Frau im Schlachterladen Wurst kauft, gehören Sinnelemente ihres Handelns in das soziale System der Familie, die sie versorgt, und in das soziale System des Ladens im weiteren Rahmen des Wirtschaftssystems der Gesellschaft (...)“ (Luhmann 1997a, 250; Hervorh. G. O.). Sinnelemente des Handelns, nicht: das Handeln, auch nicht: das wirtschaftliche Handeln! Zum Wirtschaftssystem aber gehören für Luhmann später doch wieder kompakte Handlungen, respektive inzwischen: Kommunikationen, nämlich die Zahlungen. Nicht das Schlachten. Wohl aber die ökonomische Regulierung dieses Vorganges: „Immer wenn, direkt oder indirekt, Geld involviert ist, ist Wirtschaft involviert, gleichgültig durch wen die Zahlung erfolgt und gleichgültig, um wessen Bedürfnisse es geht – also auch beim Einzug von Steuern oder bei Aufwendungen für öffentliche Güter, nicht jedoch bei dem Pumpvorgang, der Öl aus dem Boden holt, sondern nur bei der ökonomischen Regulierung dieses Vorganges mit Rücksicht auf einen in Geld ausdrückbaren Ertrag.“ (Luhmann 1986, 101) Nun werden aber nicht für jede dieser Funktionen distinkte Operationen, nämlich: Kommunikationen ausgeführt, zum einen das Für-die-Familie-Einkaufen und zum anderen die Zahlung respektive Transaktion; zum einen das Schlachten und zum anderen das ökonomisch-regulierte/auf-Ertrag-abstellende Schlachten; zum einen das Ölfördern und zum anderen das Ölfördern „mit Rücksicht auf einen in Geld ausdrückbaren Ertrag“. Schlimmer noch: Da „jede Kommunikation“ zum Rechtssystem gehört, „die sich an der Differenz von Recht und Unrecht im juristischen Sinne orientiert“ (Luhmann 1986, 126), und da dies in unserem Schlachterladen auch geschieht, mal eher implizit, mal sehr explizit – BSEverseuchtes Fleisch zu verkaufen, ist Unrecht –, müssen wir in den kleinen Laden auch noch das Rechtssystem hineinbekommen, und so fort. Bald herrscht Gedränge. Gern denke ich auch an den 10.000,-DM-Scheck, den das Mitglied von Brauchitsch (einer Organisation namens Flick-Gruppe) dem Mitglied Leisler Kiep (einer Organisation namens CDU) hat zukommen lassen, eine Operation, eine Zahlung, eine Transaktion, die aber dem Wirtschaftsund dem Rechts- und dem politischen System zuzurechnen ist, sofern sie als Investition, als Korruption und schließlich als Einflussnahme auf staatliche Amts- und Machtträger aufgefasst wird. „Codes sind Sofern-Abstraktionen“.
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Handlungen, Operationen, Zahlungen, Transaktionen, Entscheidungen, Kommunikationen haben es an sich, mehrdeutig zu sein. Damit möchte ich keineswegs den Sinn der Unterscheidung von Teilsystemen und zugeordneten Codes bestreiten. Ich frage mich aber: Was sind die Elemente dieser Systeme? Und meine Antwort lautet: Nicht die Handlungen, Operationen, Zahlungen, Transaktionen, Entscheidungen, Kommunikationen schlechthin, sondern nur, insofern sie diesen Sinn, jene Funktion erfüllen; insofern sie der Versorgung der Familie, dem Erzielen von Gelderträgen, dem Beharren auf rechtlicher Korrektheit, der politischen Einflussnahme dienen. Ich wäre versucht zu sagen: Elemente sozialer Systeme sind Sinnsetzungen, Sinnproduktionen oder -konstruktionen, wenn darin nicht zu leicht unterginge, dass wir Sinn meistens auf sehr praktische Weise „setzen“, zum Beispiel, wenn und indem wir Vieh schlachten oder Öl pumpen (also nicht nur, wenn und indem wir denken oder übers Schlachten kommunizieren). Sinn aber hat stets eine Verweisungsstruktur, wir haben es mit multiplen Sinnprovinzen zu tun, alles Handeln und Kommunizieren lässt sich, wie jeder Text, verschiedenen Lesarten und damit verschiedenen Anschlussmöglichkeiten öffnen – und das scheint mir zu bedeuten, dass es keine distinkten Wirtschafts-, Rechts- und politischen Handlungen oder Kommunikationen gibt und geben kann, es sei denn in dem Sinne, dass der wirtschaftliche, rechtliche oder politische Aspekt in diesem oder jenen Kontext dominiert, und vielleicht so deutlich und für so viele dominiert, dass wir nicht zögern, von wirtschaftlichem, rechtlichem oder politischem Handeln zu sprechen. Das alles ist so weit von Luhmann gewiss nicht entfernt und deutet doch Fragen über Fragen an201. Es lässt, anders als bei ihm, die dringend erforderliche Möglichkeit, die Zugehörigkeit einer Organisation, zum Beispiel eines Krankenhauses, und einer Handlung respektive Kommunikation, zum Beispiel eines Arztes, zum Gesundheits- oder aber Wirtschaftssystem im Sinne gradueller Übergänge zu thematisieren. Man gerät, wenn man Luhmann auf diese Weise nach-denkt, in eine hierzulande nicht sehr populäre Nähe zu Husserl (dazu Martens 1995) und, unter den zeitgenössischen Autoren, zu Derrida; Johannes Bergers Einrede wider Luhmanns „phänomenologische Wende“ (Berger 1987) erscheint dann in einem anderen Licht, ohne dass wir deshalb Bergers Anliegen, Aufmerksamkeit für so handfeste strukturelle Phänomene wie Einkommensverteilungen, Input-Output-Relationen, Investitions- und Konsumgüterproduktion oder Sparquote einer Volkswirtschaft, seine Berechtigung absprechen müssten: Dass sie resultieren, und dass sie so wichtig sind, ist Ergebnis von Handeln, das Sinnselektionen realisiert. Kapitalismus ist die Realisation, die Praktizierung eines spezifischen Sets von Sinnselektionen, und für die Analyse des dafür „funktionsnotwendigen ‚Absehens von‘“ ist Husserls Phänomenologie hilfreich, gerade weil es die von Berger angeführten praktischen, strukturellen Folgen hat. Transaktionen der Wirtschaft zuzuschlagen, heißt im Lichte dieser Überlegungen, sie schon im Lichte einer ökonomischen Perspektive zu sehen, aus der Warte des Wirtschafts201 Fragen, wie sie auch Knorr-Cetina (1992) aufgeworfen hat. Dazu Luhmanns nicht sehr stark ausgefallene Erwiderung (1993a, 142 ff), ferner Ortmann (1995a, 369 f, Fußnote 14). Luhmann selbst scheint mit seiner Erwiderung nicht sehr zufrieden gewesen zu sein, wie aus einem Brief an den Verf. aus dem Jahre 1995 hervorgeht, in dem er mit Bezug auf die erwähnte Fußnote 14 immerhin einräumt, auch von anderen auf Schwächen seiner Antwort hingewiesen worden zu sein.
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systems. Das tut selbstverständlich die Wirtschaftswissenschaft, nicht ohne sich bei dieser Sinnbereinigungsoperation in unangenehme Fragen zu verwickeln. Eine davon lautet, wo die Transaktion und die Transaktionskosten enden und wo die Produktion und die Produktionskosten beginnen. Diese Frage wäre auch für Luhmanns Liebäugeln mit dem Transaktionsbegriff von ausschlaggebender Bedeutung, weil er Neigung zeigt, entlang dieser Linie das Wirtschaftssystem kategorial von seiner technischen Umwelt (Schlachten, Ölpumpen) zu scheiden. Auch das, soviel will ich hier nur andeuten, kann meines Erachtens niemals zu distinkten Operationen, hier: Transaktionen, da: Produktionen, führen, sondern nur zu verschiedenen Aspekten von Handlungen oder Kommunikationen. (Man denke nur an den Meister, der seine Leute durch Mitarbeiten, durch „Vormachen“ u. Ä. on the job einweist/ qualifiziert/kontrolliert – Transaktion und Produktion in eins.) Luhmann hat sich dazu einmal202 so geäußert: „Ich versuche, das ist vielleicht in der Kürze des Vortrages nicht ganz deutlich geworden, den Transaktionsbegriff an die Stelle zu manövrieren, wo es darum geht, klarzumachen, wie Selbstreferenz und Fremdreferenz unter Voraussetzung eines binären Codes ständig operativ vermittelt werden müssen. Das heißt natürlich, daß die Transaktion nicht nur in Zahlungen besteht, denn das würde ja nur die selbstreferentielle Seite der Operation abdecken und nicht erklären, wieso Zahlungen überhaupt motiviert werden können. Zur Transaktion gehört deshalb auch die ‚andere Seite‘ der Form von innen und außen, nämlich eine Veränderung der Bedürfnisse, des Eigentums, der widerwilligen Leistungserbringung usw. Das Wort bezeichnet also ein komplexes Gefüge von Unterscheidungen (vorher/nachher, innen/außen, haben/nicht haben) und das Problem daran scheint mir die mysteriöse Einheit der Operation zu sein, die von Moment zu Moment diese Unterscheidungen zusammenfaßt und wieder freigibt.“ (Hervorh. G. O.) Die Rede von der „mysteriösen Einheit der Operation“ scheint mir ganz und gar angemessen, zumal Luhmann klarer als viele andere sieht, dass diese Einheit sich nur als Prozessieren von Differenzen zur Geltung bringen lässt203, nicht als realisierte, sondern als aufgeschobene, aufschiebende, in Differenz und Andersheit sich zerstreuende Einheit: vorher/nachher, innen/außen, haben/nicht haben, Zahlung/Familienversorgung, Transaktion/Produktion – für solche Oppositionen und ihre Dekonstruktion hat Derrida die Figur der Différance und die Idee der Dissemination von Bedeutungen vorgeschlagen. Wittgensteins Bemerkung ferner: „Gewisses am Sehen kommt uns rätselhaft vor, weil uns das ganze Sehen nicht rätselhaft genug vorkommt“ ließe sich ja, gewiss ganz in Luhmanns Sinne, so paraphrasieren: Gewisses am Handeln, am Kommunizieren kommt uns rätselhaft vor, weil uns das ganze Handeln, das ganze Kommunizieren nicht rätselhaft genug vorkommt. Von
202 Brief an den Verf. vom 23.10.1990, in dem es um die Rolle des Transaktionsbegriffs in seinem Vortrag auf dem Frankfurter Soziologentag 1990 ging, jenem Vortrag, der bei Luhmann (1991a) nachzulesen ist. Dieser Brief ist unten, im Kapitel 16, abgedruckt. 203 Das tut schon die Frau im Schlachterladen, wenn sie Wurst kauft und dabei darauf achtet, dass es die Lieblingswurst ihres Mannes ist, dass der Preis stimmt, dass sie freundlich zur Verkäuferin ist et cetera, und die all dies niemals zu einer vollendeten, wohl aber oft zu einer alltagspraktisch zufriedenstellenden Einheit zusammenbringt.
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dieser letzteren Naivität war Niklas Luhmann, der Denker der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, denkbar weit entfernt. Das, und nicht die allerdings nie dagewesene und nie wieder erreichbare Vollendung seiner Theoriearchitektur, scheint mir das Rühmenswerteste an seinem Werk: der Sinn für die Rätsel des Sozialen.
19. „... ein neues Amalgam von Geld und Macht“ Briefwechsel mit Niklas Luhmann∗ 19. Kapitel: „... ein neues Amalgam von Geld und Macht“
Sehr geehrter Herr Luhmann, 12.10.1990 ... Anlaß für dieses Schreiben ist aber ein Hinweis zu Ihrem Vortrag über die Moderne204. Ich hatte den Eindruck, daß Ihr Begriff der „Transaktion“, wie Sie ihn dort mit Bezug auf’s System ‚Wirtschaft‘ verwendet haben, jedenfalls nicht mit dem in der Transaktionskostentheorie geläufigen Begriff übereinstimmt. Bei Ihnen hörte es sich so an, als identifizierten Sie ihn mit Zahlungen. Bei Commons, Coase und Williamson ist aber das Ausgangsproblem gerade die Tatsache, daß im Inneren der Unternehmung die Aktionen oder Entscheidungen nicht (direkt) über Geld gesteuert werden. Der Transaktionskostenbegriff zielt dort daher gerade auf Aktivitäten wie Informationsbeschaffung für und den Abschluß und die Kontrolle der Einhaltung von (Arbeits-)verträge(n), also genau auf die Tatsache, daß die konkrete Ausfüllung des Arbeitsvertrages nicht mehr via Markt, sondern via Hierarchie gesteuert wird. Diese Aktivitäten verursachen (Transaktions-) Kosten, die im ökonomischen Kalkül (der Theorie, wohl kaum eines Praktikers!) den Kosten gegenüberstellt werden, die bei einer marktförmigen Organisation von Arbeit entstehen würden, also etwa: dem Abschluß täglich neuer Werkverträge o. ä. In den Tranksaktionskostenvorteilen der Firma gegenüber dem Markt wird dann die Begründung für die Herausbildung der Unternehmung gesehen. Daran ließen sich nun gewiß allerlei spannende Probleme in Richtung Selbstreferenz und Fremdreferenz anschließen. (Ich selbst frage mich, wie diese Erklärung der Genesis der Firma anders als funktionalistisch oder, sagen wir, darwinistisch soll durchgeführt werden können, wenn wir nicht Akteure identifizieren können, die die Transaktionskosten ins eigene Kalkül aufnehmen; wenn das Konzept also eines des Systems ‚Wissenschaft‘, aber nicht eines des Systems ‚Wirtschaft‘ oder ‚Organisation‘ ist.) Ich weiß nun weder, ob das alles für Sie eine überhaupt erforderliche Klärung bedeutet, noch, ob es Ihrer Theoriekonstruktion ernstlich zu schaffen machen muß. Gespannt bin ich allerdings insofern, als ich mich schon länger folgendes frage: Die Transaktionskostentheorie, so ökonomistisch sie immer verfahren mag, stellt sich ja jedenfalls endlich dem in der ökonomischen Neoklassik beharrlich übergangenen Problem von Innen und Außen der Unternehmung, und zwar gerade weil eben im Inneren die Dinge nicht marktförmig gesteuert werden. Sie führt dazu auch einen dann sofort erforderlichen Machtbegriff ein, wenn auch m. E. auf eine reichlich unproblematische Art und Weise (Macht als unproblematischer Exekutor ökonomischer Erfordernisse.) Ich frage mich nun, ob und wie Sie Ihre Konzeption der Steuerung durch Medien im Falle von Organisationen und insbesondere Wirtschaftsor∗
Ich danke Frau Veronika Luhmann-Schröder für die Abdruckgenehmigung. Auf dem 25. Deutschen Soziologentag vom 9.-12.10.1990 in Frankfurt, publiziert in Luhmann (1991a).
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ganisationen durchführen und durchhalten, wo die Steuerung jedenfalls nicht nur über Geld und nicht nur über Macht erfolgen kann. Wie dem auch sei: in erster Linie ging es mir um den oben gegebenen Hinweis. Entweder habe ich Sie – sehr leicht denkbar – im Vortrag mißverstanden, oder es handelt sich um einen jener Flüchtigkeitsfehler, von denen ich immer denke: Wie vermeiden Sie die bloß derart gründlich bei dieser Theorieproduktion? Kleine Bemerkung am Rande noch zu Ihrem Vortrag: Es hat mich seltsam berührt, wie nahe Ihre Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz des Systems ‚Wirtschaft‘ (Haben/Nichthaben, Zahlungen/Bedürfnisse) der Marx’schen Unterscheidung von Tausch- und Gebrauchswert kommt, vor allem übrigens der Marx’schen Idee der Gleichgültigkeit des (Tausch-)Werts gegen den Gebrauchswert. Mir ist schon klar, daß Sie diese Frage eher unter dem Aspekt der enormen Steigerung der Funktionsfähigkeit der Unternehmung bzw. Wirtschaft zu thematisieren pflegen. Auch wenn man die Marxsche Werttheorie als gescheitert ansehen muß, bleibt ja aber in jener Idee denn doch, und das auch in Ihrer theoretischen Fassung, ein erhebliches kritisches Potential, und ich bin gespannt, was Sie damit noch alles anstellen werden. ... Mit freundlichen Grüßen Günther Ortmann ***
Sehr geehrter Herr Ortmann,
23.10.1990
vielen Dank für Ihren Brief vom 12. Oktober und für Ihre Stellungnahme zu meinem Vortrag. Brieflich kann ich auf Ihre Bemerkungen natürlich nur in einer eigentlich unvertretbaren Kürze antworten. Zunächst: Ich habe bei wenigen Ausflügen in die entsprechende wirtschaftswissenschaftliche Literatur keinen mich befriedigenden Transaktionsbegriff gefunden. Das mag an der Faszination durch das Transaktionskostenproblem liegen, was aber natürlich eine verallgemeinerungsfähige Begriffsbildung nicht ersparen kann. Das (sic!) man damit zeigen kann, daß nicht alle wirtschaftlichen Vorgänge marktförmig und nicht alle wirtschaftlichen Vorgänge hierarchisch strukturiert sein können, ist sicher eine bedeutsame Verschiebung des alten Markt/Plan-Problems, ist für mich aber gleichwohl nur ein Sonderproblem. Ich versuche, das ist vielleicht in der Kürze des Vortrags nicht ganz deutlich geworden, den Transaktionsbegriff an die Stelle zu manövrieren, wo es darum geht, klarzumachen, wie Selbstreferenz und Fremdreferenz unter Voraussetzung eines binären Codes ständig operativ vermittelt werden müssen. Das heißt natürlich, daß die Transaktion nicht nur in Zahlungen besteht, denn das würde ja nur die selbstreferentielle Seite der Operation abdecken und nicht erklären, wieso Zahlungen überhaupt motiviert werden können. Zur Transaktion gehört deshalb auch die „andere Seite“ der Form von innen und außen, nämlich eine Veränderung der Bedürfnislage, des Eigentums, der widerwilligen Leistungserbringung usw. Das Wort bezeichnet also ein komplexes Gefüge von Unterscheidungen (vorher/nachher,
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innen/außen, haben/nicht haben) und das Problem daran scheint mir die mysteriöse Einheit der Operation zu sein, die von Moment zu Moment diese Unterscheidungen zusammenfaßt und wieder freigibt. Keine wirtschaftswissenschaftliche Begriffsbildung, das gebe ich zu, aber die Frage ist dann, ob man damit etwas sehen und beschreiben kann, was nützlich sein könnte, wenn man es darauf anlegt, daß (sic!) Wirtschaftssystem mit anderen Funktionssystemen zu vergleichen. Was Ihren zweiten Fragekomplex betrifft, so gehe ich davon aus, daß Geld und Macht zunächst gesellschaftsweit (und nicht organisationsspezifisch) funktionierende Medien sind, die im Zuge der funktionalen Differenzierung auf das Wirtschaftssystem bzw. das politische System zugeschnitten werden. Erst sekundär geht es dann um die Frage, wie diese Funktionsysteme über Organisationsbildungen implementiert und in gewisser Weise auch deformiert werden. Innerhalb der Organisationen wird dann ein neues Amalgam von Geld und Macht erzeugt in dem Sinne, daß Lohnzahlungen, die zunächst ja positive Sanktionen für nichtselbstverständliche Leistungen sind, durch Gewohnheit gefestigt und dann als Ausgangspunkt für Entzugsdrohungen, also negative Sanktionen, also Machtbildung benutzt werden können. Das alles ist natürlich sehr grob und müßte sicher durch die genauere Berücksichtigung von Karrierestrukturen usw. verfeinert werden. Wichtig ist mir aber vor allem, daß man zwischen Gesellschaftssystem und Organisationssystem scharf unterscheiden muß. Im Moment interessiert mich daran hauptsächlich die Frage, wie dieser Unterschied sich auf Einstellungen zu Risiken auswirkt. Ich belasse es bei diesem knappen, hoffentlich verständlichen Andeutungen und bin mit besten Grüßen Ihr Niklas Luhmann
20. Anything goes. Rien ne va plus. Organisationswelten als Sinnprovinzen Anything goes. Rien ne va plus. „Gods see the Truth; humans interpret.“ Arjo Klamer (in McCloskey 1994, 361)
1
Eindeutigkeit, Mehrdeutigkeit
1 Eindeutigkeit, Mehrdeutigkeit Wirtschaftswissenschaftler haben entschiedene Auffassungen von der Welt. Unbeirrt, fast möchte man sagen: unbeirrbar, beharren sie in ihrem Mainstream auf einer Sicht der Dinge, die ihnen vom großen „Als Ob“ der neoklassischen Ökonomik eröffnet wird (und die ihnen alle anderen Aspekte der Welt verschließt): Das beste Verständnis der Welt erschlössen wir uns durch die Theoriefiktion des homo oeconomicus, durch die kontrafaktische Unterstellung205, die Menschen handelten, als ob sie des Marginalkalküls mächtige Nutzenmaximierer seien. Der locus classicus für dieses „Als Ob“ ist, wie erwähnt, Milton Friedmans berühmter Aufsatz „The Methodology of Positive Economics“ aus dem Jahr 1953 – „the Torah of economic Method“ (McCloskey 1994, 4). Das hat als Grund, und es hat zum Effekt, eine entschiedene Präferenz für Eindeutigkeit. Mehrdeutigkeit muss jenen Ökonomen ein Greuel sein, weil sie die Idee der Optimierung und die Ableitung eindeutiger Modelllösungen, insbesondere Gleichgewichte, ruiniert. Aus solchen Gründen war es ein bemerkenswerter Vorgang, dass im Jahre 1997 in einer der drei renommiertesten betriebswirtschaftlichen Zeitschriften des deutschsprachigen Raums, Die Betriebswirtschaft (DBW), ein Aufsatz erschien, der dem Denken in unterschiedlichen Weltbildern, einem indirekten, perspektivischen und, horribile dictu, notwendig metaphorischen Wirklichkeitsbezug und also der Vieldeutigkeit der Welt nicht nur Raum ließ, sondern sogar das Wort redete (Sadowski, Pull 1997). Dieter Sadowski, Co-Autor des Beitrages, ist nun nicht irgendwer, sondern zählt zu den führenden und mit Abstand scharfsinnigsten Denkern innerhalb der Betriebswirtschaftslehre und entstammt, noch bemerkenswerter, als wichtigster Albach-Schüler dem streng ökonomisch orientierten Mainstream des Faches, das allerdings, soweit ich sehe, von jenem Beitrag kaum Notiz genommen hat. War diese Konzession der Vieldeutigkeit ein Lapsus? Natürlich nicht, und die Lektüre des Beitrags und die Kenntnis seiner Vorgeschichte enthüllt vielmehr, dass Sadowski und Pull einer schlüssigen Denkbewegung gefolgt sind. Worum ging es?
205 Davon sind wir alle als Forscher und Sozialtheoretiker weniger weit entfernt als meist gesehen wird. Wir alle müssen mit Rationalitätsfiktionen arbeiten, wenn wir uns interpretierend dem sozialen Geschehen zuwenden. Nicht darin, sondern nur in der Rigidität einschlägiger Theorieprämissen – und dann natürlich in den Konsequenzen für die Welterschließung – unterscheiden sich Neoklassiker und Neoklassik-Kritiker.
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20. Kapitel: Anything goes. Rien ne va plus.
Es ging den beiden um ein angemessenes Verständnis betrieblicher Sozialleistungen, ein Thema, das hier nur insofern interessieren muss, als es exemplarisch für meinen Zusammenhang ist: Auch betriebliche Sozialleistungen sind Träger mehrerer Bedeutungen. Jahre zuvor hatte Sadowski (1984) sie mit kühlem Blick als verkappten Entgeltbestandteil interpretiert, eine Form, mittels derer Unternehmungen Steuervorteile realisieren und ihren Beschäftigten kostengünstig – nämlich als Kuppelprodukt der Personalabteilungen – produzierte Sozialleistungen anbieten können. Diese pointiert (finanz-)wirtschafliche Interpretation hat erwartungsgemäß Entrüstung bei so manchen Fachvertretern hervorgerufen, die auf den Fürsorge-Charakter solcher Leistungen verwiesen (vgl. den DBW-Dialog 1985, 234 ff). Schon dieser Debatte fehlte es an der Einsicht, dass – sehen wir einmal ganz von einem Moment an möglicher Scheinheiligkeit des Fürsorge-Arguments ab – beide Interpretationsweisen einander keineswegs zwingend ausschließen. Mehrdeutigkeit hieße hier eben, dass Sozialleistungen der Fürsorge und der Steuerersparnis dienen können, und auch in der Motivation des Managements kann leicht beides zugleich eine Rolle spielen. Schnitt: 1996 hat Kerstin Pull eine andere, eher organisationsökonomische Deutung vorgelegt, nach der Arbeitgeber (Löhne und) Sozialleistungen in einem gewissen Maße gewährt, um Transaktionskosten expliziter Verhandlungen in einem gedachten, fiktiven Aushandlungsprozess zu vermeiden. 1997 nun, in dem oben erwähnten Beitrag, ergänzen Sadowski und Pull ihre beiden bis dato vorgelegten Interpretationen durch eine dritte, eine organisationspolitische: Betriebliche Sozialleistungen erleichtern bei einer Vielzahl von Verhandlungsgegenständen im Betrieb den Tausch und die Kompromissbildung, womöglich gar Vertrauen. Ihre Ambiguität ist geradezu gewollt und liegt im Interesse vieler ansonsten gegnerischer Beteiligter. Handel mit Sozialleistungen, Aushandlungen, Händel: das sind die finanzwirtschaftlichen, organisationsökonomischen und nun organisationspolitischen Metaphern und Perspektiven, die Sadowski ihrem Gegenstand abgewinnen und dem sozialpsychologischen Aspekt der Fürsorge entgegen- oder an die Seite stellen. Geld, Macht und Vertrauen fassen sie damit als mögliche Medien der Interaktion und Koordination ins Auge. Das konfrontiert sie unweigerlich mit der Notwendigkeit einer Reflexion auf die Diversität ihrer eigenen Erklärungsanläufe. Und es ist im Zuge dieser Reflexion, dass sie der Mehrdeutigkeit, Relativität, Perspektivität nicht nur ihrer Sicht der Dinge, sondern auch ihres Gegenstandes, der betrieblichen Sozialleistungen selbst, jenen Raum in ihrer Theorie geben, der ihm gebührt. Führt das nun aber nicht in Relativismus und Beliebigkeit? Auch um den Beitrag von 1997 hat Die Betriebswirtschaft einen Dialog veranstaltet. Ein Hintergrund dieses Dialogs war die Sorge vor einem „Anything goes“, von der ich in einem eigenen Diskussionsbeitrag zu zeigen versucht habe, dass sie Sadowski und Pull so wenig betrifft wie andere unter den vielen üblichen Verdächtigen. Diesen Beitrag gebe ich jetzt, im 2. Abschnitt, wieder. Anschließend, im 3. Abschnitt, gehe ich auf den einschlägigen Einwand ein, den Hartmut Kliemt in diesem Dialog erhoben hat: dass wir in einer und nicht in verschiedenen Welten leben.
2 Anything goes. Rien ne va plus.
2
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Anything goes. Rien ne va plus.206
Anything goes. Rien ne va plus. Dass irgend jemand die These vertritt: „anything goes in argument“, halte ich für ausgeschlossen. Er oder sie müsste ja sofort die Implikation sehen, dass dann auch und zugleich „rien ne va plus“ ginge. Und dann ginge wirklich gar nichts mehr in Diskursen. Niemand, soweit ich sehe, vertritt ernstlich einen solchen hanebüchenen Scharf-Sinn. Gemessen daran indes gibt es erstaunlich viele, denen derlei unterstellt und vorgehalten wird – nicht nur Paul Feyerabend, der so etwas natürlich nie postuliert hat. (Nicht „Against Reason“ heißt sein viel zitiertes, wenig gelesenes Buch von 1975, sondern „Against Method“; s. ferner Feyerabend 1978, 39 f; 1978, 283 f) Verstehen? „... a policy of deep breathing followed by free-association“. Fand jedenfalls das Anfangssemester Donald McCloskey Mitte der sechziger Jahre, darin ganz Kind eines positivistischen Zeitgeistes (s. McCloskey 1984, 6)207. Das ist von unwiderstehlichem Witz, aber die zuletzt lachen, heißen nun doch eher Max Weber und Alfred Schütz. Jener Old-BoyCharme indes hat immer wieder Nachahmer gefunden, und natürlich lacht es sich vom sicheren Hort des mainstream auch besonders herzlich. Feyerabend? „... replacing the philosophy of science by the philosophy of flower power“. Das hat nicht irgendwer gesagt, sondern Mark Blaug, und nicht irgendwo, sondern in seiner höchst renommierten „Methodology of Economics“ (1980, 449). Heute aber ist es eben jener in der Wolle gefärbte Neoklassiker Chicagoer Provenienz, Donald McCloskey, der uns lehrt: Ökonomie ist eine interpretative Wissenschaft, weil sie es mit der Bedeutung des Wirtschaftslebens zu tun hat. Ökonomen erzählen daher Geschichten, sie können gar nicht anders. Viele handeln von den Helden und den Siegen des universellen Effizienzprinzips. In manchen weht der Mantel der Geschichte: „once upon a time we were poor, then capitalism flourished, and now as a result we are rich.“ (McCloskey 1990, 1) Und Ökonomen verwenden Metaphern, bei ihnen „Modelle“ genannt208. Der Markt für Appartements in New York „ist wie“ eine Kurve an einer Tafel. Von da ist es nicht mehr weit zu der Konsequenz, und McCloskey zögert nicht, sie zu ziehen, dass es immer mehrere Möglichkeiten gibt, eine Geschichte zu erzählen. Unzählige Male hat McCloskey klargestellt, das sei keineswegs ein Freibrief für Beliebigkeit. Die „Rhetorik der Ökonomie“ (1985), wie er es nennt, sei stets eine Tetrade aus Fakten, Logik, Metaphern und Geschichten, soll heißen: die Geschichten müssen schon mit den Fakten und der Logik zusammenstimmen. „Anything goes“ scheidet, auch für den peniblen Empiriker und Wirtschaftshistoriker McCloskey, selbstverständlich aus. Das hat ihn nicht vor den einschlägigen Vorwürfen zu bewahren vermocht. Story telling hat keinen guten Ruf in der Branche. Den Relativismus jedoch, der ihm da unterstellt wird, hat McCloskey selbst (1994, 315) als Philosophie eines Southern California Valley Girl kritisiert.
Zuerst erschienen in: Die Betriebswirtschaft (57) 1997, 445-449. Die Formulierung, ein positivistischer Spott über nicht-induktionistische Prognoseverfahren, stammt von R. B. Braithwaite (1953, 272), der sie selbst nicht direkt auf Verstehen gemünzt hat. 208 „... mathematical models ... aim not at realism in detail, but rather at providing mathematical metaphors for broad classes of phenomena.“ (May 1973, V). 206 207
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20. Kapitel: Anything goes. Rien ne va plus.
Nein, nicht Max Weber und nicht Alfred Schütz, nicht Paul Feyerabend und nicht Donald McCloskey haben in Hinsicht auf’s Argumentieren „Anything goes“ postuliert. Und schon gar nicht Kerstin Pull und Dieter Sadowski in ihrem Beitrag „Betriebliche Sozialpolitik politisch gesehen“. Allerdings halten sie es mit McCloskey und mit Blumenbergs Formel, „daß wir in mehr als einer Welt leben“. Allerdings haben Pull und Sadowski selbst ein Beispiel für diese Formel geliefert, indem sie die Geschichte betrieblicher Sozialleistungen einmal so, ein andermal anders und ein drittes Mal noch anders erzählt haben: Es war einmal ein gewitzter Unternehmer, der wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Steuern sparen und Vorteile aus der Kuppelproduktion von Sozialleistungen nutzen ... (Sadowski 1984). Es war einmal ein kluger Unternehmer, der wollte die Transaktionskosten expliziter Verhandlungen minimieren ... (Pull 1996). Und natürlich hat die Kritik andere Geschichten geltend gemacht, etwa diese: Es war einmal ein fürsorglicher Unternehmer, der war besorgt um die sozialen Härten und Auswüchse eines ungezügelten Kapitalismus ... (Und wie leicht sieht man, dass diese Geschichten einander nicht ausschließen müssen! „Good works and taxes often seem to go hand in hand“, heißt es in „Yellow-Dog Contract“ von Ross Thomas, dem Meister des „skulk and dagger genre“.) Nun also erzählen Sadowski und Pull eine noch etwas andere, ich finde: komplettere Geschichte: Es waren einmal Unternehmensleitungen, Beschäftigte und Betriebsräte mit je eigenen Interessenlagen, und die Mehrdeutigkeit betrieblicher Sozialleistungen erleichterte organisationspolitische, mikropolitische Einigungen. Handel mit Sozialleistungen, implizite Verhandlungen, Händel – die Geschichten konkurrieren nicht, sondern bereichern einander, und die letzte ist die reichhaltigste, weil sie die beiden ersteren einschließt, also nicht etwa die Ökonomie ausblendet. Auch mit Blick auf die Produktion und auf interne Arbeitsmärkte hat Sadowski, zusammen mit Frick (1992, 37), „Politik als endogene Dimension“ anerkannt – den „Prozeß der Regulierung innerbetrieblicher Arbeits- und Sozialbeziehungen, der im wesentlichen durch betriebliche Strukturen, Interessen und Handlungspotentiale geprägt ist.“ Und wieder meint die Inklusion der Politik mitnichten die Exklusion der Ökonomie209. Auch diese Geschichte also transportiert keineswegs die Botschaft „Anything goes“. Große Sorgfalt verwenden Autor und Autorin vielmehr, neben ihrer story und neben Metaphern wie „Politikfeld“, „Händel“ statt „Handel“ und „Aushandlungsarena“, auf die beiden anderen Elemente der rhetorischen Tetrade: Logik und Fakten, sprich, zum Beispiel, Handlungslogik kooperativer Spiele und empirische Befunde aus Deutschland und den USA. Tatsächlich sehe ich in den Befunden des Instituts zur Erforschung sozialer Chancen, Köln, zur Weiterbildungsabstinenz vieler Beschäftigter (vgl. Bolder u. a. 1994 und 1995) eine weitere Stütze ihres Arguments, das ja mit Blick auf die betriebliche Weiterbildung auf ein geringes Interesse seitens der Beschäftigten und der Betriebsräte und auf lediglich geringfügige Interessendivergenzen abstellt. Diese Geschichte allerdings ließe sich kritisch weitererzählen: Es waren einmal Arbeiter, und erst recht Arbeiterinnen, die hatten gute Gründe, sich gegenüber betrieblicher Weiterbildung abstinent zu verhalten, Gründe, die in ihrer Belas-
209 Sadowski und Frick operieren dabei mit dem von Coleman geborgten Begriff des Sozial- oder Organisationskapitals. Zu einer (arbeits-)politischen Interpretation der betrieblichen Weiterbildung vgl. auch Hendrich (1994).
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tung, in der Qualität der Weiterbildung und in der Fragwürdigkeit ihrer Eignung zur Arbeitsplatzsicherung und Karriereentwicklung lagen ... Interessen und Interessenharmonien sind eben relativ zum Handlungskontext. (Auch diese Fortsetzungs-Geschichte hat sich selbstredend an empirischen Befunden messen zu lassen; s. dazu Bolder u. a. 1994 und 1995 zum Belastungs- und Sinnlosigkeitssyndrom.) Man würde dann vielleicht die Ergebnisse der jüngeren rational-choice-theoretischen Forschung zu myopischen Strategiewahlen auf Organisationen übertragen und über die Kurzsichtigkeit betrieblicher Weiterbildungsstrategien nachdenken können, die ja im Lichte des resource based view des strategischen Managements und des Konzepts von Kernkompetenzen besonders auffällig werden. Solche Geschichten bleiben überprüfbar, diskussionsfähig, beurteilbar. Unbesorgt bin ich also, dass Sadowski und Pull die Vieldeutigkeit betrieblicher Sozialleistungen über Gebühr in Anspruch nähmen und willkürlichen Interpretationen Vorschub leisteten. An einer Stelle scheinen sie mir das Ambiguitätsargument sogar eher unter Gebühr zu nutzen. Auf S. 157 ihres Beitrages ist die Rede von der Konkurrenz sozialpolitischer, effizienzlohntheoretischer und machtpolitischer Erklärungen. Mein Punkt ist, dass eine solche Konkurrenz vorliegen kann, aber nicht muss. Die sozialpolitische konkurriert mit der effizienzlohntheoretischen Erklärung nicht zwangsläufig, weil damit zwei ganz verschiedene Emergenzniveaus – hie sozialpolitische Motive handelnder Personen, da institutionell verankerte Systemimperative eines Wirtschaftssystems – gemeint sein können, die sich durchaus in weiten Bandbreiten miteinander vertragen können. Schon gar nicht schließen sich macht- und effizienzlohntheoretische Erklärungen unbedingt aus, weder wenn man mit Blick auf Effizienzlöhne Reflexivität, noch wenn man Nicht-Reflexivität annimmt. Macht- und Effizienzgesichtspunkte können zwar konkurrieren, wie ich selbst gelegentlich zu zeigen versucht habe, sie müssen es aber nicht und tun es beileibe nicht immer. Es waren nicht die geringsten Denker, die in diesem Zusammenhang von Überdetermination gesprochen haben – Talcott Parsons etwa, auch Karl Weick (1985, 56 f), um nur zwei zu nennen, und auch McCloskey (1990, 86 f) operiert mit diesem Begriff, wenn auch nur mit spitzen Fingern („one is put in mind of the much-abused term ‘over-determination’“). Wenn aber soziales Handeln in einem strikt durchführbaren Sinne überdeterminiert ist – so wie Gutenberg (1973, 9) es für individuelle Motive einerseits und das erwerbswirtschaftliche Prinzip andererseits postuliert hat –, dann gibt es insoweit keinen Grund, von konkurrierenden Deutungen zu sprechen, (wohl aber Grund, die unterschiedlichen Emergenzniveaus sorgsam auseinanderzuhalten und, angeleitet von Theorie, in ihrem Zusammenhang zu bedenken.) Diese Bemerkungen haben das Beispiel, an dem Sadowski und Pull die Relevanz verständigungsorientierter Rhetorik für ökonomische Sachverhalte und Prozesse demonstrieren, die betriebliche Sozialpolitik, nicht in den Mittelpunkt gestellt, sondern nur als Demonstrationsobjekt genommen. Dafür habe ich nur die eine Entschuldigung, dass ich dem Rekurs auf die interpretative, argumentative, kommunikative Dimension der Ökonomie eine Bedeutung zumesse, die dieses Beispiel bei weitem überragt: Erkenntnistheoretisch wird eine Brücke zum Pragmatismus der Peirce, James und Dewey geschlagen. Verbindungslinien zur interpretativen Organisationsforschung werden sichtbar. Diskussions- und Anschlussmöglichkeiten zwischen ökonomischem und soziologischem Neoinstitutionalismus in der Organisationstheorie drängen sich auf, weil sich den Transakti-
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ons-, Kontroll- und den Milgrom/Robertsschen Einflusskosten – Kosten der Mikropolitik? – weitere Kosten hinzufügen lassen, Kosten der Beschaffung und Sicherung der Legitimation à la Meyer und Rowan etwa, und weil nicht nur die Kosten, sondern auch die Notwendigkeit und die Nutzen der Inanspruchnahme von Institutionen in den Blick geraten. In der Frage einer Theorie der Unternehmung eröffnen sich Diskurschancen zwischen einem an „maximizing“ orientierten mainstream und starken Nebenströmungen, die an einer weicheren Fassung des Rationalitätsprinzips interessiert sind, wie etwa dem Simonschen „satisficing“. Denn die von Sadowski und Pull so sehr und so zu recht betonte Komplexität und Ambiguität der Kompensation von Arbeitsleistungen forciert ja die Frage nach dem Sinn von Maximierungskalkülen – seien es Kalküle der Nutzenmaximierung auf seiten der Beschäftigten, seien es Kalküle der Gewinnmaximierung auf seiten der Unternehmensleitungen. Die Bereicherung der ökonomischen Theorie durch die Wissenssoziologie eines Michael Polanyi, einer Mary Douglas und vieler anderer bietet sich dann an, um Ernst zu machen mit der Frage, wie Akteure unter wirklicher Unsicherheit und Ambiguität entscheiden und handeln. Die Forschungen von Simon bis March werden auf unerwartete Weise anschlussfähig. Sozialtheoretisch gesehen reichen die Verständigungshorizonte – die Verständigungshorizonte, nicht die Übereinstimmungen! – bis zu Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns und seiner Sprachethik (McCloskey 1994, 99 ff, 348) und zu Anthony Giddens’ Strukturationstheorie, in der ja eine via Interpretation und Kommunikation in Anspruch genommene und so (re-)produzierte Signifikationsordnung eine wichtige Dimension sozialer Strukturen bezeichnet. McCloskeys Insistenz auf einer Sprachethik und sein fulminantes Plädoyer für eine Rückbesinnung auf „some ethical thinking“ (1990, 149) im Rahmen der Ökonomie mag Schotten aufmachen, die auch innerhalb der Betriebswirtschaftslehre hier und da – nicht in Trier – ein bisschen geklemmt haben. Sadowski und Pull haben für Gesprächsstoff gesorgt. Unendlich viel wichtiger noch, sie haben Gesprächsmöglichkeiten eröffnet, Chancen zu verständigungsorientierter Rhetorik, wo bis gestern „nichts mehr ging“ zwischen Paradigmen, die ja eben noch als inkommensurabel galten. Rien ne va plus? Vielleicht beginnt ja ein neues Spiel.
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Eine Welt, viele Welten?
3 Eine Welt, viele Welten? Der Rekurs auf den – hierzulande allerdings weit unter Gebühr beachteten – Wirtschaftshistoriker McCloskey; die empirische Fundierung ihres Beitrages durch Befunde aus Deutschland und den USA, betreffend die betriebliche Altersversorgung und Aus- und Weiterbildung; die Tatsache, dass Sadowski mit dem Institut für Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen in der Europäischen Gemeinschaft (IAAEG) ein Forschungsinstitut leitet, das hochbeachtete empirische Forschung unter anderem zu Fragen der Personalökonomie, der industrial relations, der Aus- und Weiterbildung und zu ökonomischen Aspekten des Arbeitsrechts
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leistet; und auch die unmissverständlichen Äußerungen Sadowskis und Pulls, dass es ihnen um unterschiedliche Sinnwelten zu tun sei, um divergente Perspektiven, Weltbilder, Wirklichkeitsbezüge, Lesarten, um verschiedene Weisen des „Sehens als“ (Sadowski, Pull 1997, 151) im Unterschied zu einem womöglich verdinglichenden „Sehen, dass“ – dies alles hat Autor und Autorin nicht vor dem Einwand bewahrt: „Sobald wir uns von der theoretischen auf die praktische Ebene begeben, leben wir in einer und nicht in verschiedenen Welten.“ (Kliemt 1997, 440 f) Nun hatte ich oben, im 1. Abschnitt, schon argumentiert, dass die Mehrdeutigkeit betrieblicher Sozialleistungen – und es wäre hinzuzufügen: wie allen sozialen Handelns – sich gerade in praxi Geltung verschafft, nicht erst, wenn Beobachter aus der ambiguitätsbedachten Theorie hinzukommen. Wir müssen daher, wenn wir uns auf die soziale Wirklichkeit beziehen, eine doppelte Hermeneutik bewältigen, nämlich als Wissenschaftler das Deuten der deutenden Akteure deuten210. Die Formulierung Hartmut Kliemts aber, von dem jener Einwand stammt, zeigt an, dass er auf einer Irritation beruht, von der ich meine, dass sie sich nach den zitierten Klarstellungen Sadowskis und Pulls und angesichts ihrer umfassenden Forschungspraxis von selbst erledigt. Nicht müssen Sadowski und Pull gegen das zitierte Bedenken verteidigt, vielmehr muss verständlich gemacht werden, warum Kliemt meint, es ausräumen zu müssen. Ersichtlich bedürfen Sadowski und Pull nicht der Belehrung: „Wir stoßen uns alle in der einen gleichen Welt das Knie an dem einen gleichen Tisch, mögen wir uns ihm auch aus ganz verschiedener Perspektive genähert haben.“ (Kliemt 1997, 441) Sie selbst haben ja darauf Bezug – Wirklichkeits-Bezug! – genommen, dass sich Unternehmungen, um in dieser Metaphorik (sic!) zu bleiben, alle an der gleichen Steuergesetzgebung und an den gleichen oder ähnlichen Konflikten zwischen Management und Beschäftigten „stoßen“, allerdings mit dem Zusatz, dass je nach Perspektive andere Widerstände in den Blick geraten, handlungsrelevant und sodann auch theorierelevant werden können. In der Tat werden, wie Kliemt (ebd.) zu Recht einräumt, „auch Dieter Sadowski und Kerstin Pull ... diese banalen Tatsachen letztlich nicht bestreiten wollen.“ Ganz so banal allerdings ist es durchaus nicht, wenn auch seit Wilhelm von Humboldt wohletabliert, dass die Anerkennung von Relativität und Perspektivität unseres Erkennens nicht mit Relativismus zu verwechseln ist. Wer, wie Blumenberg, und, mit ihm, Sadowski und Pull, eingesehen hat, „dass wir in mehr als einer oder eben durch Rationalitätsannahmen deren Deutungen fingieren; dass das Hauptverdienst gerade klassischer selektionistischer Erklärungen, wie Kliemt (1997, 441) meint, „darin (besteht), auf alle Annahmen einer tatsächlichen Motivation im Sinne einer Rationalwahltheorie verzichten zu können“, trifft zwar zunächst zu und macht auch eine Stärke dieser Erklärungen aus, ist aber nicht ganz so eindeutig wie er glaubt, weil Selektion darin schlicht auf Auslese des Rationalen hinausläuft und genau deswegen so gut in die orthodoxe Ökonomik passt. Auf Als-Ob-Annahmen kann letztere, darin sind wir einig, jedenfalls nicht verzichten, und es ist nun allerdings bemerkenswert, dass die AlsOb-Annahme der Orthodoxie, die sich so psychologiefrei wähnt, dem erstaunlich nahe kommt, was im Jargon „folk psychology“ genannt wird, der Küchenpsychologie der Alltagstheorien, oder des ungesunden Menschenverstandes. Für dieses Argument s. Sturn (1997, 274) mit Rekurs auf Rosenberg (1994, 160); für eine Rosenberg-Kritik vgl. McCloskey (1994, 215 ff). Für McCloskey (z. B. 1994, 14, 342) ist Stiglers „people are following their pocketbooks“ ein Beispiel für diese Art Alltagspsychologie. Vgl. auch die boshafte Bemerkung Arjo Klamers an eine andere Adresse: „Samuelson’s master metaphor (sic!) is that people come to their adult lives equipped with utility functions (which they know) and constraints (which they realize), then solve an engineering problem.” (In: McCloskey 1994, 351) Mit anderen Worten: Samuelson entwirft eine Welt von Ingenieuren.
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Welt leben“, und mehr als hinreichend klargestellt hat, dass damit Sinnwelten gemeint sind – die Husserl-Schützschen Sinnprovinzen zeichnen sich am Horizont solchen Denkens ab, aber auch an symbolische Welten sensu Cassirer ließe sich denken –, der leugnet nicht die Existenz der (einen) äußeren Realität, sondern demonstriert Problembewusstsein für unseren notwendig „gebrochenen Weltbezug“ (Schulz 1994). Ein Hans Blumenberg zeigt damit nicht, dass er an Gespenster glaubt, die sich an Kliemts Tisch das Bein nicht stoßen würden, so wenig übrigens, wie „postmoderne“ Philosophen, die dem Naturwissenschaftler Alan Sokal ein Dorn im Auge sind, bezweifeln, dass sie es kaum überleben würden, sich aus dessen Bürofenster im 21. Stock zu stürzen211. Dass man derlei erläutern muss, ist seinerseits erklärungsbedürftig, zumal angesichts eines Kritikers, der so großes Problembewusstsein für die Relativität, nämlich „die Denkstilbezogenheit aller wissenschaftlichen Erkenntnis“ (Kliemt 1989, 9; gemeint sind kollektive Denkstile sensu Ludwik Fleck), aber auch für das eingangs erwähnte „Als Ob“ der Ökonomik zeigt wie Kliemt: „Ganz allgemein werden in der Ökonomik Praktiken und Verhaltensweisen, die typischerweise aufgrund ganz anderer als bewusst strategischer Überlegungen entstanden sind, so beschrieben, als ob sie aus lauter individuell rationalen Wahlakten hervorgegangen sind.“ (Kliemt 1997, 441; Hervorh. G. O.) Einer solchen Perspektive, nota bene, bestreite ich nicht ihr begrenztes Recht. Erst recht würden das Sadowski und Pull nicht tun. Kliemt (1997, 441) allerdings verknüpft das mit einer (ebenfalls treffenden) Kritik an „’falsifikationistischen’ Sonntagsreden“ in Ökonomielehrbüchern und an realwissenschaftlichen Erklärungs- und Voraussageansprüchen ihrer Modellierungsversuche. Dass er sich damit begnügt und so gar nichts über einen gleichwohl auf der Hand liegenden und notwendigen, allerdings indirekten Erklärungsanspruch sagt, ohne den solche Modellierungsversuche sich dann doch den Vorwurf des Modellplatonismus zuziehen müssten, sieht nun allerdings sehr danach aus, als bevorzuge er, um der Eindeutigkeit willen, in seinem Argument jene Modellwelt und stoße sich daran, dass Sadowski
211 Vgl. oben, Fußnote 41. Blumenberg hat den metaphorischen Gebrauch der Formel, dass wir in mehr als einer Welt leben, in dem von Sadowski und Pull zitierten Text in wünschenswerter Deutlichkeit erläutert: „Man kann das als eine absolute Metapher lesen für die Schwierigkeiten, die uns anwachsend begegnen, auf die alltägliche Realität unserer Erfahrung und Verständnisfähigkeit zu beziehen, was in den autonom gewordenen Regionen von Wissenschaft und Künsten, Technik, Wirtschaft und Politik, Bildungssystem und Glaubensinstitutionen ‚realisiert’ und dem lebensweltlich verfassten wie lebenszeitlich beschränkten Subjekt ‚angeboten’ wird, um es schlichtweg begreifen zu lassen, in welchem Maße es unabdingbar schon ‚dazu gehört’.“ (Blumenberg 1981, 3) Unübersehbar auch sein Rekurs auf Husserl und dessen Kritik an einer neuzeitlichen Maschinenwelt als Modell der Lebenswelt – Bezüge zu der von Kliemt (gegen Sadowski und Pull?) in Stellung gebrachten Modellwelt sind ja unübersehbar (Blumenberg 1981, 7 ff). Heute mag man sich Habermas‘ Trennung von System und Lebenswelt oder Luhmanns funktionale Differenzierung in gesellschaftliche Teilsysteme hinzudenken. Um deren, wenn schon nicht autopoietische Geschlossenheit, so doch Verschiedenheit und partielle Unvereinbarkeit und damit nicht-triviale Probleme der Theorie und der Praxis – siehe nur die des Rechts und der Rechtswissenschaft (Kapitel 10) – anzuerkennen, muss man nicht ihre Inkommensurabilität postulieren. Die Rede von der Perspektivität von Standpunkten setzt übrigens ein gemeinsames Koordinatensystem für diese Standpunkte voraus. Insofern hat es jede starke Inkommensurabilitäts-These mit einer inhärenten Paradoxie zu tun.
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und Pull sich auf sie nicht zurückziehen mögen. Das wäre ein einigermaßen ironisches und paradoxes Ergebnis, weil es nicht nur der (wiederum: berechtigten) Aufforderung gleich käme, diese Modellwelt nicht mit der „wirklichen Welt“ zu verwechseln, sondern auf diese Weise nolens volens bestätigte und bekräftigte, dass wir in sehr unterschiedlichen Sinnwelten leben, und, mehr noch, Kliemt nun offenbar gar an jedem Versuch Anstoß (sic!) nimmt, zwischen diesen Welten Bezüge herzustellen und gar zu wandern und unsere Perspektiven auf „die eine wirkliche Welt“ dadurch zu bereichern, dass man auch von ihr – von ihren vielen Facetten – Notiz nimmt. Womit wir am Ende doch den Fall haben, dass Kliemt sich an etwas „stößt“, woran sich Sadowski und Pull nicht stoßen: wenn schon an keinem Tisch, so doch an einer Auffassung, der Auffassung nämlich von der richtigen Art, den Job des Ökonomen zu machen; der Auffassung von ihrem Weltbezug. So weit wie Kliemt ist nicht einmal Milton Friedman gegangen, der im Unterschied zu dem, was Ersterer jendenfalls an dieser Stelle nahezulegen scheint, an einer Form des Wirklichkeitsbezugs neoklassischer Ökonomik festgehalten hat: Erfolgreiche Prognosen sind für ihn Beurteilungskriterium, allerdings einziges Beurteilungskriterium, ökonomischer Modelle. Diese Rigidität scheint Kliemt, der auch Voraussageansprüche abschlägig bescheidet, noch überbieten zu wollen. Das wirft die Frage auf, welche Art Wirklichkeitsbezug er selbst dann noch zu konzedieren bereit wäre – ganz ohne geht es ja auch für ihn nicht ab. Tatsächlich bekennt er sich dann doch zu Erklärungen, zu denen die Modellprämissen führen könnten, allerdings, und das scheint die einzige Differenz zu Sadowski und Pull zu bleiben, „nicht zu wahren, sondern allenfalls zu potentiellen Erklärungen“ (Kliemt 1997, 441). Das besage „nur, dass man im Rahmen des Rationalwahlansatzes eine ‚Geschichte’ erzählen könnte, die hinreichend zur Phänomenerklärung wäre.“ (Ebd.; siehe auch Kliemt 1996.) In der Tat. Eben das ist die Botschaft der McCloskey, Sadowski und Pull, die nur statt ‚eine Geschichte‘ ,mehr als eine Geschichte‘ sagen würden. Kliemts Unterscheidung zwischen potentiellen und wahren Erklärungen fügt dem nichts hinzu, es sei denn, er meinte damit, dass Modelle nicht direkt, sondern nur vermittelt zur Erklärung der Wirklichkeit herangezogen werden können – vermittelt durch ergänzende oder ersetzende, realitätsbezogene Prämissen. Das wiederum ist natürlich auch Sadowski und Pull klar, wie Kliemt nicht entgangen sein kann. Im übrigen jedoch sind Erklärungen immer nur mögliche Erklärungen, aber sie erheben auch immer einen – wie auch immer behutsamen, fallibilitätsbewussten – Wahrheitsanspruch. Immer konkurrieren sie mit anderen möglichen Erklärungen. Und für jede Erklärung gibt es andere Erklärungsmöglichkeiten, die mit ihr trotz Andersartigkeit nicht konkurrieren. Immer gibt es Vieldeutigkeit. Beides kann Kliemt nicht haben: Kritik an Sadowskis und Pulls Realitätsbezug (und an ihrem Bekenntnis zur Ambiguität) via Rückzug auf wirklichkeitsbezugsenthobene Modelle und wie auch immer verhaltene eigene Erklärungsansprüche. Vielleicht sollte man mit Blick auf die Modelle der Ökonomik von einem doppelt gebrochenen Weltbezug sprechen: Nicht nur ist ihr Weltbezug metaphorisch – die Nachfrage für Appartements in New York „ist wie“ eine Kurve; Angebot und Nachfrage sind „im Gleichgewicht“, wiegen aber nur in metaphorischem Sinne schwer –, sondern eben auch durch das erwähnte Als Ob gebrochen. Die Ökonomik sagt dann nicht: Der Markt „ist wie...“, sondern: Tun wir einmal, als ob der Markt so sei, wie (zum Beispiel) von Arrow und Debreu modelliert. Bei aller Brechung aber bleibt es bei einem Weltbezug.
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Was Kliemt denn auch unerwähnt lässt, ist, dass es in der Frage des Realitätsbezugs der Ökonomik entschiedenste und renommierteste Einwände gegen Friedman selbst im Lager der Neoklassik gegeben hat und dass Friedman mit seiner eigenen Methodologie aus dem Aufsatz von 1953 selbst nie wirklich Ernst gemacht212, sondern andauernd empirisch gearbeitet und, wie bekannt, sich politisch eingemischt hat. Kein Geringerer als Ronald Coase hat die Sache so formuliert: „Faced with a choice between a theory which predicts well but gives us little insight into how the system works and one which gives us this insight but predicts badly. I would choose the latter, and I am inclined to think that most economists would do the same.” (Coase 1994, 17) Kliemt, der Friedman nicht anführt, scheint, jedenfalls mit Blick auf die Modellwelt der Ökonomen, mit einer dritten Möglichkeit zu liebäugeln: weder noch. Seinen Einwand gegen Sadowskis und Pulls realwissenschaftliche Erklärungsansprüche aber (wenn es denn ein Einwand ist, und wenn es ein Einwand gegen Sadowski und Pull ist,) müsste er, was ihm, soweit ich sehe, ganz fern liegt, folgerichtig auch an Frank Knight, Friedman selbst, Robert Fogel, Theodore Schultz, James Buchanan, Gordon Tullock, Ronald Coase und viele andere adressieren, denen es nicht eingefallen wäre, diese Bewegung – es ist eine Bewegung weg von der sozialen Welt – mitzumachen: „from a social-institutional context to a physicalcomputational one“ (Buchanan 1979, 29)213. Es ist eine Bewegung in Richtung auf Husserls Maschinenwelt. Kliemt selbst hat sich ihr in seinen eigenen, scharfsinnigen Arbeiten niemals ausgeliefert. Er könnte die Einsicht in die Vieldeutigkeit der Welt und die resultierenden epistemologischen und praxeologischen Schwierigkeiten nur um den Preis abweisen, jeglichen Wirklichkeitsbezug zugunsten der Eindeutigkeit von Modellwelten aufzugeben. Das ist ein hoher, ein allzu hoher Preis, den auch er nicht zu zahlen bereit ist – zum Glück nicht.
212 So auch McCloskey (1994, passim) und Sturn (1997, bes. 259 ff), der eine besonnene Diskussion der Frage des Realitätsbezugs der Ökonomik bietet; zu letzterem s. auch Brennan, Buchanan (1995, 62 ff, insbes. 68 f). Mehrdeutigkeit von Regeln thematisieren allerdings auch diese Autoren nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Beseitigung (ebd., 145 f). 213 S. für dieses Argument McCloskey (1994, bes. 354-357). Buchanans Bemerkung bezieht sich kritisch auf den Mangel an prognostischer Kraft der Modelle vollkommener Konkurrenz als Modelle individueller Wahlhandlungen, übrigens auch aus diesem, schon von seinem Lehrer Frank Knight angeführten Grund: „in perfect competition, there is no competition.“ (Buchanan 1979, 29)
21. „Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“? 21. Kapitel: „Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“?
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Parsifal
1 Parsifal Der heilige Gral der Organisationstheorie des hinter uns liegenden Jahrhunderts trug einen profanen Namen: one best way. Die Aston-Forscher zum Beispiel, die eingesehen hatten, dass es nicht die optimale Form der Organisation geben könne, und daher nach einem raffinierteren, reflektierteren, nämlich: situativ relativierten one best way suchten, dem one best way für jeweils genau spezifizierte Situationen, brachen der berühmten Bemerkung William Starbucks zufolge auf, „um den heiligen Gral zu finden, und kehrten heim mit einer zerbrochenen Teetasse.“ (Starbuck 1981, 193; Übers. G. O.) Zwar hatte zuvor längst Herbert Simon mit seinem Konzept begrenzter Rationalität zur Einsicht in die Grenzen der conditio humana und zu Genügsamkeit in Sachen maximizing geraten. Das aber fand in der situativen Organisationsforschung nicht immer Gehör. Und heute, da in der Betriebswirtschaftslehre der Stern Williamsons aufgegangen ist, zeigt man sich trotz anders lautender Bekenntnisse erst recht wieder unbekümmert um Simons Lehre. Wie Reinhard Selten (1990, 651) trocken bemerkte: „In the transaction cost approach (Williamson [1975]) much emphasis is put on bounded rationality, but only verbally.“ Mich interessiert ein anderes Parsifal-Motiv, das, soweit ich sehe, zum ersten Mal Christof Wehrsig als Metapher für Organisationen zu bedenken gegeben hat, und zwar in seinem Kommentar zu Klaus Türks Bestimmung der „Organisation als Institution der kapitalistischen Gesellschaftsformation“ (Türk 1997). Man erinnert sich: Organisationen sind für Türk jenes Teufelszeug214, das „unweigerlich neue Ausgrenzungen und ökonomische bzw. politische Ausbeutungen (produziert)“ (Türk 1997, 172). Türk hatte seinem Beitrag ein Benjamin-Zitat als Motto vorangestellt, „(...) die Organisation [ist] das eigentliche Medium, in welchem die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen sich abspielt (...)“, dessen Fortsetzung „(...) das einzige übrigens auch, in dem sie könnte überwunden werden (...)“ (Benjamin 1980a, 220) Türk nur in einer Fußnote wiedergibt – und kritisch kommentiert. Hauchzart kritisch merkt Wehrsig (1997, 180) dazu an, damit habe Türk das Benjamin-Motto „halbiert“. 214 Klaus Türk wird mir die saloppe Formulierung verzeihen. Er hat seine Position gerade in einem der wichtigsten neuen Bücher über Organisation, nun unter Rekurs auf Foucault, präzisiert und historisch begründet; vgl. Türk, Lemke, Bruch (2002).
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„Die Erwägung Benjamins, daß Organisationen nicht nur Medien der Verdinglichung sind, könnte sich als triftig erweisen: ‚Der Speer nur schließt die Wunde, die er schlug‘ (...)“ (Wehrsig 1997, 180; Hervorh. G. O.) Das215 sagt Parsifal bei Richard Wagner, während er die Wunde des Amfortas mit eben jenem heiligen Speer berührt und auf diese Weise heilt, mit dem Klingsor sie dem Gralshüter Amfortas beigebracht hat. Was ist nicht alles als so ein Speer behandelt worden! Erkenntnis, Geld, Zins, Reflexion, Technik, Wissenschaft, Organisation, und jedes Mal lautete die Geschichte ihres In-die-WeltKommens: Anfangs konnten die Menschen noch nicht absehen, worauf sie sich da einließen, alsbald aber nicht mehr zurück. Prometheus, Ikarus, Emile, Zauberlehrling, Marionettentheater, Parsifal, Homo Faber, Godot – mit Adam und Eva beginnen die Mythen des Noch Nicht und Nicht Mehr. Ist also Organisation, mit ihren rasiermesserscharfen „Kommunikationsmedien“ Macht und Geld, so ein Speer, der die Wunde schließt, mehr noch: der allein – „Nur eine Waffe taugt“ – die Wunde schließen kann, die er der Menschheit schlug? Ist die Wunde – geschlagen in Akten der Erniedrigung, Entfremdung, Ausbeutung, der Ausblendung, der Externalisierung, der Ausgrenzung, des Ausschlusses, der Entlassung, des Mordes und des Massenmordes – die Bedingung der Möglichkeit ihrer Schließung, die positive Bedingung unserer Freiheit und moralischen Würde, wie die Wunde des Amfortas bei Wagner? Es wäre allerdings, wie Slavoj Žižek (1992) zu bedenken gibt, ein im strengen Sinne perverses Subjekt, das die Wunde sich zufügt oder auferlegt, um sie schließen zu können; „das willentlich das ‚Spiel mit der Wunde‘, das Verbrechen wagt, das dem Guten den Weg bahnen soll.“ (Žižek 1992, 63) Etwas ganz anderes ist es, dass wir hinter Organisation, sofern wir sie als reflexive Strukturation bestimmen, niemals zurückfallen können – niemals, weil Reflexion nicht rückgängig zu machen ist – und daher nur in anderer Reflexion216, in anderer Organisation, nicht in ihrer Abschaffung, unsere Zukunft suchen können. Das ist nicht das Parsifal-Motiv. Auch Schwerter, die zu Pflugscharen gemacht werden, schließen keine Wunden. Žižek (1992, 63) führt als weiteres Beispiel für die Heraufkunft des perversen Subjekts, dessen Zeuge wir schon bei Wagner werden, jene Gouvernante aus Patricia Highsmith‘ früher Short-Story „Heroine“ an, die so über die Maßen und so vergeblich nach Anerkennung ihrer Ergebenheit lechzt, dass sie schließlich das Haus der Familie anzündet, deren Kind sie betreut, um das Kind aus den Flammen retten zu können (und so die Anerkennung, die ihr noch nicht zuteil wurde, doch noch zu erzwingen – und natürlich eben dadurch zu verspielen.) Wenn diese Schleife die Perversion definiert, dann ist es wohl kaum ein Zufall, wie gut die schon erwähnte Geschichte aus einem der berühmtesten und wichtigsten Bücher der Organisationstheorie, „The Functions of the Executive“ von Chester Barnard aus dem Jahre 1938, dazu passt. Sie handelt von einer Telephonistin der New Jersey Bell Telephone Company, die eine nicht sehr attraktive Stelle in einem Außenbezirk nur annahm, um während
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Der Titel dieses Kapitels enthält die korrekte Formulierung. Deren Resultat mag vielleicht sein, dass das Heil nicht oder nicht nur in Reflexion und Organisation zu suchen ist.
1 Parsifal
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der Arbeit das Haus ihrer kranken Mutter beobachten zu können. Als das Haus eines Tages Feuer fing, blieb die Telephonistin an ihrem Platz und musste mitansehen, wie das Haus niederbrannte. Barnard rühmt ihr Verhalten als Sieg ihrer, wie er es nannte (und postulierte!), „Organisationspersönlichkeit“ über ihre individuelle Persönlichkeit – „außerordentlicher moralischer Mut“, „hohe Verantwortlichkeit“ – und teilt in einer Fußnote mit, dass die Mutter gerettet wurde. Der Tod der individuellen als Geburt der Organisationspersönlichkeit, das bleibt ein dominantes Motiv der Organisationspraxis – und Barnards Lobgesang fast einer Wagner-Oper würdig: „Frau, die Wunde, die dir einst, durch Versagung der Anerkennung, geschlagen ward, wird durch die Organisation geheilt“, durch eine etwas profane Anerkennung allerdings: Zu rühmen ist, in Barnards Worten, die Bereitschaft, „einer Verhaltensregel ihrer Organisation zu entsprechen – der moralischen Notwendigkeit zu ununterbrochener Dienstbereitschaft der Telefonvermittlung.“ Für diese Frau, für diese Organisation mag es zur Wahrheit geworden sein: Die Wunde fehlender Anerkennung schließt der Speer nur, der sie schlug: die Organisation, die ihr die Anerkennung so lange versagte, bis sie jene Dienstbereitschaft an den Tag legte. Nicht genug damit. Von Ferne ahnen wir, wie sich in der Berufsbiographie dieser Frau nur wiederholt, was ihr in der Kindheit angetan worden sein mag: die ganz frühe, traumatische Verwundung. Das könnte auch ihr Verharren am Arbeitsplatz, das doch mit Dienstbereitschaft nicht wirklich verständlich gemacht werden kann, in ein anderes Licht tauchen: Dass diese Tochter jene Anerkennung, die sie sich nun von der Organisation holt, einst von der Mutter erfahren hat, kann man sich ja nicht vorstellen. Gewiss hat es in der Geschichte der Organisation nicht an Manövern gefehlt, in denen jene Schleife der Perversion durchlaufen worden ist; in denen Menschen sich selbst oder anderen – Arbeitern, Untergebenen, Soldaten, Schülern, Patienten, Konkurrenten – Wunden geschlagen haben in der Überzeugung, das sei die Bedingung der Möglichkeit ihrer Schließung. Weder die Biographien der Menschen aber noch die Anerkennungsverhältnisse in Organisationen noch die Organisationstheoretiker, die jene Anerkennungsverhältnisse anerkennend vermerken, müssen so sein wie es Barnard uns darbietet. Nein, weder sind Organisationen Teufelszeug à la Türk noch Wunderwaffe à la Wagner. Wohl aber können wir dem nicht halbierten Benjamin zustimmen: Organisation ist Medium der Verdinglichung – mit Giddens können wir ergänzen: Resultat und Medium sozialen Handelns – und, je nach Gebrauch, den wir von ihr machen, mögliches Medium auch der Überwindung von Verdinglichung. Nicht gering ist die Gefahr, und nie endgültig auszuräumen, dass dies zu einer Kur nach dem Prinzip „Mehr vom selben“ missrät und mit mehr Organisation noch mehr Verdinglichung beschert. So aber muss Organisation nicht sein. In der Anwendung können wir sie umwenden, und wir müssten mit Blindheit geschlagen sein, nicht zu sehen, dass dies seit den Tagen Benjamins immer wieder geschehen ist. Organisationen können zu Schwertern oder zu Pflugscharen gemacht werden. Sie sind ambivalent217, ein Pharmakon sensu Derrida – Heilmittel oder Gift, „Ressource an Ambiguität“ (Derrida 1995, 108). Nicht, dass die Hoffnung groß wäre. Dem finalen Gestus aber, sie 217 Damit sage ich nicht: Organisation sei neutral, noch: Organisation sei reines Mittel, sondern: Was Organisation bedeutet, dafür ist unsere Weise, davon Gebrauch zu machen, (mit) konstitutiv. „Es gibt kein harmloses Heilmittel.“ (Derrida 1995, 111)
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21. Kapitel: „Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“?
aus Enttäuschung über das Ausbleiben ihrer Erfüllung für nichtig zu erklären, müssen wir widerstehen. Organisation ist eine Ressource, die wir im Gebrauch verändern können. Lässt sich das denken, ohne ins Seichte zu geraten? Ohne zu insinuieren, es stünde uns frei, den Sinn von Regeln, Ressourcen und Organisationen nach Belieben ab- und einzuschleifen? Organisationen nach Maßgabe unserer Intentionen, gar unseres guten Willens zu formen? Dass nur wir selbst solchen Sinn stiften können, war ja nur die Hälfte des Gedankens Camus’. Die andere Hälfte war: Das Unterfangen sei nur insofern nicht vergeblich, als Vergeblichkeit – Endlichkeit angesichts des niemals zu Ende zu Bringenden – conditio humana sei. Immer rollt der Fels des Sisyphos wieder herab. Wiederholung aber, im Mythos nichts als Strafe der Götter und geschlossener Kreis, schließt ihr eigenes Anderes in sich ein – Differenz, Möglichkeit des Neuen.
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Sisyphos. Ein Happy End
2 Sisyphos. Ein Happy End „Sisyphos – so wurde uns berichtet – müssen wir uns als einen glücklichen Menschen vorstellen. Ganz gewiß. Doch auch auf ihn lauert das Erbarmen. Sisyphos – und der Arbeitsdienst – sind sicher ewig; aber des Fels ist nicht unsterblich. Auf seinem holprigen Weg, nachdem er weiter und weiter gewälzt wurde, wetzt er sich ab, und Sisyphos erkennt plötzlich, wie er, zerstreut vor sich hin pfeifend, schon lange nur noch einen grauen Steinbrocken im Staub vor sich herkickt. Was macht er jetzt wohl damit? Sicher bückt er sich, hebt ihn auf, steckt ihn in die Tasche, nimmt ihn mit nach Hause – schließlich gehört er ja ihm. In seinen leeren Stunden – und jetzt erwarten ihn nur noch leere Stunden – holt er ihn bestimmt hin und wieder hervor. Sich anzustrengen, um ihn bergauf zu wälzen, dem Gipfel entgegen, wäre natürlich lächerlich: aber mit seinen vom Star erblindeten, greisen Augen betrachtet er ihn wieder und wieder, als erwäge er noch immer das Gewicht, den Griff. Er flicht seine zittrigen, gefühllosen Finger um ihn und wird ihn gewiß auch im Augenblick des allerletzten Anlaufs umklammert halten...“. Dieses Bild gibt am Ende eines Romans Imre Kertész (2001, 442 f). Der Roman handelt von einem Schicksallosen, der, als Fünfzehnjähriger nach Auschwitz-Birkenau, dann nach Buchenwald verschleppt und wider alle Wahrscheinlichkeit entkommen, später einen Roman darüber schreibt, Der Roman eines Schicksallosen, welcher aber abgelehnt wird. Eine Weile lang „zieht er sich in sein Fiasko zurück wie ein kranker Adler in sein Nest“ (ebd., 441). Dann aber „wird er erkennen, und diese Erkenntnis wird ihn sicher wie eine unerwartete Überraschung treffen – wichtiger als der Roman ist das, was er durch sein Schreiben erlebt hat: und das war eine Wahl und ein Kampf – die Art des Kampfes, die eben nur ihm zugedacht war. Eine gegen ihn selbst und sein Schicksal gerichtete Freiheit, die Überwindung der Verhältnisse, ein die Zwangsläufigkeit unterminierender Anschlag – was sonst ist schließlich ein Werk, jedes menschliche, wenn nicht dies?“ (Ebd.)
2 Sisyphos. Ein Happy End
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Der Roman über das Schicksal jener Ablehnung ist Resultat dieser Wahl und dieses Kampfes, Erfindung eines Autors, der seinem Helden die Bürde seiner Erfahrungen auflädt. Auch dort, wo die Möglichkeiten der Literatur enden, müssen wir uns gleichwohl mit Fiktionen behelfen, Fiktionen, denen wir die Bürde unserer Erfahrungen aufladen. Die Fiktionen des Organisierens zählen dazu. Wir vermögen sie nicht zu realisieren. Aber wir können die Entdeckung machen, dass der Fels nicht unsterblich ist – wie in Imre Kertész’ Roman Fiasko.
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Personenregister
Abelson, R. 125 Adams. J. 269 Adorno, Th. W. 11, 27, 31, 40 f, 44, 48, 56, 60 ff, 64, 68, 72, 74 f, 90, 219 f, 223, 227 Agamben, G. 21, 67, 208 Albach, H. 14, 279 Albert, H. 60 ff, 187, 217 Allen, W. 96, 241 Althusser, L. 45, 57, 106 Anderson, P. W. 83, 210 Apel, K.-O. 50, 68, 90, 94 Aristoteles 13, 75, 145, 149, 221, 226 Arrington, E. C. 80 Arrow, K. J. 258 f, 287 Arthur, W. B. 79, 82 f Assheuer, T. 47 ff, 57 Austin, J. L. 55, 110 Axelrod, R. 143, 255, 259 Bacon, F. 60 Baecker, D. 9, 232, 239 f, 268 Baethge, M. 268 Bakhtin, M. 64 Barnard, C. 12, 122, 144, 269 f, 290 f Barnes, J. 267 Barthes, R. 45, 57, 105 f Bateson, G. 16 f, 44, 62, 109, 111, 122 f, 130, 182, 222 f Becker, A. 39, 131, 193, 269 Beller, M. 44 Bender, G. 194 Benjamin, D. K. 28 Benjamin, W. 29, 59, 67, 289 ff Bensman, J. 83 Berger, J. 14, 16, 142 f, 159 f, 206, 273 Bergson, H. 15 Binczek, N. 100 Blanchot, M. 51, 74 Bleicher, K. 259 Blume, A. 120 Blumenberg, H. 18, 119 f, 282, 285 f Böhler, D. 89, 94 Bohr, N. 44
Bolder, A. 282 Bouchikhi, H. 39 Bowles, S. 14 Braczyk, H.-J. 259 Braithwaite, R. B. 281 Brandom, R. B. 247 Bredekamp, H. 67 Brennan, G. 288 Brett, L. 148 f Bricmont, J. 40, 42 f, 47, 65 Brown, S. 130, 231 Bruch, M. 13, 120, 289 Brunsson, N. 12, 16, 123, 166, 170, 179, 181, 183, 211 f, 268 Bryant, C. G. A. 39 Buchanan, J. M. 288 Buckingham, M. 16 Burger, R. 43, 47, 59 Burns, T. 13, 39, 269 Burrell, G. 120 Busch, W. 226 Camus, A. 23, 179, 292 Carnap, R. 44 f Cassirer, E. 286 Castoriadis, C. 241 Certeau, M. de 77, 99, 108, 189 ff, 197 f, 200, 203, 208 Chandler, A. 14, 252 f Chia, R. 80, 120 ff, 126 f, 129 Chomsky, N. 106, 109 Claessens, D. 31 f Coase, R. 13 f, 276, 288 Coffman, C. 16 Cohen, W. M. 208 Coleman, J. 37, 82, 143, 168, 245 ff, 249, 252 ff, 256, 282 Commons, J. R. 14, 276 Cooper, R. 80, 120 f Crozier, M. 13, 139, 141, 216 f, 269 Culler, J. 50 f, 59, 68 Cyert, R. M. 269
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Dahrendorf, R. 61 Dancy, J. 90 Därmann, I. 94, 223 Darwin, Ch. 56, 131, 259 ff David, P. A. 179 f, 264, 267 Debreu, G. 287 Deleuze, G. 46 Demsetz, H. 14 Dennet, D. C. 123 Derrida, J. passim Dewey, J. 283 Dierkes, M. 193 Dilthey, W. 230, 240 DiMaggio, P. J. 39, 86 DiMento, J. F. 172 Dohnanyi, K. von 22 Donne, J. 29 Dosse, F. 57 f Douglas, M. 42, 63, 65, 84, 261, 284 Dupuy, J.-P. 15, 35, 81 ff, 121 f, 129 ff, 139, 143 Durkheim, E. 13, 102, 150, 190, 250 Duschek, S. 36, 102, 208, 210 Dworkin, R. 66, 71 Edelman, M. 157 f Eigen, M. 143 Einstein, A. 44 Ellrich, L. 227, 229 Elster, J. 22, 29, 201, 214 f, 247 ff, 251, 261 Engel, R. 216 Erikson, E. H. 32 Etzioni, A. 254 Fahey, L. 123 Fariello, G. 29 Farrell, J. 179 Felsch, A. 39, 132 Feulner, E. 237 Feyerabend, P. 48, 117 f, 281 f Flam, H. 39 Fleck, L. 42, 63, 286 Fligstein, N. 132 Foerster, H. von 127, 145 f, 160 Fogel, R. 288 Ford, H. 12, 15 Foucault, M. 11, 41, 45, 47, 48 ff, 57, 61, 65, 86, 91, 105 f, 118, 120, 180, 192, 289 Fox, A. 257, 259 Francis, J. R. 80
Personenregister
Franck, E. 119, 122 ff, 145, 179, 180 Frank, R. H. 143 Freeman, J. H. 266 Freud, S. 15, 48, 62, 67, 101, 107 f Freud, A. 95 Frey, B. 208 Frick, B. 282 Friedberg, E. 13, 16, 38, 81, 139 ff, 216 f, 269 Friedman, M. 122, 225, 279, 287 f Frost, J. 208 Fukuyama, F. 30, 48, 67, 91 Furubotn, E. 77, 132, 142 f, 247, 249 Furusten, S. 168 Gabel, H. L. 179 Gabele, E. 135 Gadamer, H.-G. 76, 78 f, 84, 106, 145, 149 Gaitanides, M. 248, 259 Gambetta, D. 251 Garfinkel, H. 106, 109, 246 Gehlen, A. 19, 65, 233, 265 George, S. 237 Gergen, K. J. 120 f Gerum, E. 162, 166 f, 169 Gerver, K. 83 Giddens, A. passim Gilbreth, F. B. 21, 265 Gintis, H. 14 Girards, R. 15, 82 Glasersfeld, E. von 120, 231 Gloy, K. 154 Goffman, E. 152, 226 Gondek, H.-D. 34, 50, 57, 69, 84, 107, 110, 118, 224 Goodman, N. 130 Gould, S. J. 259 ff, 263 ff Gouldner, H. 269 Grafton-Small, R. 121 Grand, S. 120 Greenstein, S. 179 f Greiner, U. 29 Gronke, H. 94 f Gröschner, R. 145 Guattari, F. 46 Guéhenno, J. 91 Günther, K. 78, 174 Gurvitch, G. 98 Gutenberg, E. 11, 283 Güth, W. 260
Personenregister
Habermas, J. 9, 32, 34, 37, 40 ff, 47 ff, 54, 57, 59 ff, 60 ff, 64-71, 75-94, 107, 118, 154, 159, 171 f, 190, 284, 286 Hahn, A. 159 f Hamel, G. 208 Hannan, M. T. 266 Hart, O. 14, 66, 173 Hartridge, D. 237 Hassard, J. 120 f Hatch, M. J. 80 Haverkamp, A. 71 Hayek, F. A. von 14, 82 Hegel, G. F. W. 15, 31, 48, 60, 64, 66, 86, 91, 130, 171, 263 Heidegger, M. 15, 18, 31, 37, 43, 45, 59, 65, 67, 106, 119 f, 125, 226 Heinl, M. 120 Heisenberg, W. 44 Hendrich, W. 282 Heraklit 13, 221 ff Herkommer, H. 54 Herrigel, G. 259 Hirschman, A. O. 123, 133, 187, 208, 210, 217 f, 255, 269 Hobbes, T. 104, 150, 159, 172, 259 Hoffmann, U. 193 Hofstadter, D. R. 84 Hölderlin, F. 28 Holland, J. H. 83 Holt, A. 62, 223 Honneth, A. 15 Horkheimer, M. 27, 31, 56, 64, 90, 227 Hörning, K. H. 188, 208 Horstmann, U. 23 Huebner, M. 30 Hull, R. 148 Humboldt, W. von 18, 285 Hussein, S. 237 Husserl, E. 12, 15, 34, 36 f, 45, 48, 50, 68, 72, 78, 155, 223 f, 227 ff, 231, 240, 273, 286, 288 Hutter, B. 168, 170, 172, 237 Iblher, R. 149 Irigaray, L. 46 Iser, W. 223 f, 233 f, 240 Jacobsson, B. 179, 183 James, W. 223, 245, 283 Janlert, L. E. 123
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Jary, D. 39 Jauß, R. 47, 240 Jensen, M. C. 14, 173 Jepperson, R. L. 39 Joas, H. 49, 107 f, 151 ff, 158 Juhnke, H. 225 Jungwirth, C. 179 Kafka, F. 21, 73 f Kambartel, F. 89 Kant, I. 31, 43 ff, 56, 58, 80, 130, 145, 190 Kappelhoff, P. 83, 143 Kauffman, S. A. 83 Keller, E. F. 42 f Kern, H. 259 Kertész, I. 258, 292 f Kettner, M. 234 Keynes, J. M. 35, 82, 143 Kidder, T. 22, 30 Kierkegaard, S. 28, 221 Kieser, A. 11, 13, 20, 39, 120, 123, 163 ff, 168, 184, 211 f, 216 f Kilduff, M. 39, 121 Kimmerle, H. 34, 50 Klein, M. 108, 143 Kleist, H. von 27, 123, 255 Kliemt, H. 18, 260, 280, 285 ff Knight, F. 14, 288 Knights, D. 120 Knorr-Cetina, K. 273 Kohl, H. 225 Koschorke, A. 237 Krafft, A. 30 Kratylos 221 Krebs, A. 186 Kreps, D. M. 81, 143 Kropotkin, P. 259 f Kroszner, R. S. 14 Kubicek, H. 123 Kuhn, T. 44, 63, 117 Kula, W. 180 f Kunnemann, H. 80 Küpper, W. 39, 131 f Küsters, E. A. 169 Lacan, J. 15, 46, 57, 106 Laclau, E. 90, 92, 94 Laermann, K. 43 Lafont, C. 18 ff
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Personenregister
Lagemann, J. 154 Latour, B. 46 Lau, J. 47 f, 51 ff, 57, 65 ff, 80 Lau, M. 47, 50, 67 Lazonick, W. 136 Leffler, K. B. 143 Leibfried, S. 257 Lemke, T. 11, 13, 120, 289 Leonard-Barton, D. 210 Lévinas, E. 51, 74, 82, 89, 94 Levinthal, D. A. 208 Lévi-Strauss, C. 51, 74, 97, 105 f, 118, 188, 206 Levitt, B. 210 Lewin, R. 83 Lewontin, R. C. 263 Lichtenberg, G. C. 57 f Lilla, M. 47, 52-67, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 62, 65, 67, 70, 80 Lindblom, T. C. E. 122, 187, 208 Lindenberg, S. 143 Linstead, S. 121 Loose, A. 259 Lorenz, E. H. 248 Lübbe, H. 225, 234 Lübke, H. 233 Luckmann, T. 16 Lueken, G.-L. 90 Luhmann, N. 11 ff, 17, 20, 27 f, 32 f, 37 f, 48, 66, 81, 84, 87, 100, 125, 127, 130, 143, 145, 150, 159, 170, 175, 178, 201, 206, 221, 226-240, 246 ff, 265, 268-278, 286 Lützeler, P. M. 64 Lyotard, J. F. 41, 46 ff, 51, 59, 61, 85 ff, 91, 118, 174 f, 271
McCloskey, D. 12, 15, 17, 71 f, 88, 118 f, 240, 279, 281 ff, 287 f McDermott, D. 123 f McKenna, A. J. 35 McKinley, W. 85 ff, 90 McNeil, I. 175 Mead, G. H. 15, 151 f, 157 f, 226 Meckling, W. H. 14, 173 Mehra, A. 121 Meinecke, F. 51 Menzies, I. 269 Merleau-Ponty, M. 125, 240 Meyer, J. 12, 16, 39, 86, 170, 183, 212, 268, 284 Michel, H. 11, 57, 77, 99, 139, 186, 189, 197, 216 Miles, R. E. 135 Milgrom, P. 14, 284 Minsky, M. 125 Mintzberg, H. 122 f, 217 Mohr 47, 57, 65 Morgenstern, O. 82, 199 Müller, H.-P. 47 f, 50 ff, 57, 65, 67 Mumby, D. K. 39
MacIntyre, A. 91 Mahoney, J. T. 135 Malthus, T. R. 259, 261 Mandeville, 86 ff March, J. 12, 15 f, 122 f, 210, 269, 284 Marquard, O. 219 f, 224 ff, 229, 239 Martens, W. 175, 227, 271, 273 Marx, K. 14, 27 ff, 31, 48, 51 ff, 56, 61, 64, 68, 74, 83, 93, 102, 118, 195 ff, 205, 268, 270, 277 Maturana, H. R. 130 Mauss, M. 247 May, R. M. 255, 281 Mayo, E. 15 McCarthy, T. 29, 72
Oberbeck, H. 268 Okun, A. 143 Olsen, J. 12, 15, 211 Olson, M. 21 Orléans, A. 35 Orr, J. E. 188 Osterloh, M. 120, 208, 247
Nancy, J.-L. 18 Narayanan, V. K. 123 Narr, W.-D. 28 Nassehi, A. 227 Naumann-Beyer, W. 34, 50, 68 Neisser, U. 146, 236 Nelson, R. R. 201 Neuberger, O. 39, 120, 235 Neumann, J. von 199 Nietzsche, F. 43, 46, 62, 96, 119, 121, 239, 258 Nowak, M. A. 255
Palmer, R. 82 Pandian, J. R. 135 Parker, M. 120 f Parsons, T. 37, 48, 102, 104, 108, 143, 150 f, 154 f, 159, 206, 283 Pascal, B. 253 f
Personenregister
Pauli, W. 44 Peirce, C. S. 283 Pelzer, P. 120 Penrose, E. 185, 187, 207 ff Perrow, C. 258, 266 Peter, L. P. 148 Peters, B. 159 Pettigrew, A. 13, 122 f Pfeffer, J. 206 Piaget, J. 98, 102, 231 Pierson, P. 257 Pilot, H. 61 Platon 72, 74, 119, 226 Plutarch 221 Poe, E. A. 13 Polanyi, M. 125, 284 Politzer, H. 21 Popper, R. K. 44 f, 61, 67, 118 Porter, M. E. 216 Poulantzas, N. 57 Powell, W. W. 39, 86, 248 Power, M. 179, 182 f Prahalad, C. K. 208 Prigogine, J 143 Pull, K. 17 f, 118 f, 255, 257, 265, 279 f, 282 ff Putnam, H. 20 Puttermann, L. 14 Rasche, A. 94 Rawls, J. 66 Reckwitz, A. 185 f, 201, 204 Reich, R. B. 22 Reinhardt, J. 84 Reiss, A. 172 Reuter, N. 21 Richardson, G. B. 14 Richter, R. 77, 132, 139, 142 f, 164, 166 f, 169, 177, 240, 247, 249 Ricœur, P. 16, 109 Ridley, M. 260 Rorty, R. 49, 85, 91 Rosenberg, A. 285 Rousseau, J. J. 51, 72, 74, 79, 97, 118, 129 Rowan, B. 12, 16, 86, 170, 183, 212, 268, 284 Runze, D. H. 28 Sabel, Ch. 259 Sadowski, D. 17 f, 118 f, 201, 207, 255, 257, 265, 279 f, 282 ff
321
Salancik, G. R. 206 Saloner, G. 179 Saussure, F. de 36, 97 f, 102, 105 ff Schank, R. 125 Schapp, W. 187 f Scharping, R. 77 Schelling, T. 50, 192 Schelsky, H. 269 Scherer, A. 85 ff, 94 f Schienstock, G. 39 Schmitt, C. 65, 67 Schneider, M. 255, 257 Schopenhauer, A. 226 Schreyögg, G. 21, 115 Schuller, M. 74 Schultz, T. 288 Schulz, W. 18, 286 Schütz, A. 12, 15, 33 f, 36 f, 77 f, 125 f, 145, 157, 188, 199 ff, 204, 206, 228, 240, 270, 281 f Scott, R. 14, 39 Searle, J. R. 50, 55, 59, 110, 232 f Seidl, D. 231 Selten, R. 289 Selznick, P. 13, 187, 269 Serres, M. 46 Shakespeare, W. 31, 39, 74 Shibutani, T. 150, 153, 155 Shoham, Y. 123 f Sigmund, K. 255 Silverman, D. 16 Simon, H. A. 12, 122, 144 f, 147, 235, 269 f, 284, 289 Sjurts, I. 259 Smith, A. 14, 259 ff Snow, C. C. 135 Soeffner, H.-G. 161, 240 Sokal, A. 9, 18, 40 ff, 51, 59, 63, 65, 84, 286 Solla, G. 258 Sousa, R. de 214 f Spindler, G. 162 Spinner, H. F. 268 Staehle, W. 268 Stäheli, U. 100 Starbuck, W. 12, 117 f, 123, 289 Staten, H. 109 Stegmüller, W. 43 Steinmann, H. 89 f, 94 f, 166 Stigler, G. J. 193, 285 Stirner, M. 29, 64, 68
322
Stopford, J. M. 135 Strauss, A. 269 Stromberg, T. 225 Strutz, J. 130 Sturn, R. 285, 288 Suhr, D. 159 Sydow,J. 38 f, 259, 269 Taubes, J. 56 f Taylor, W. F. 11, 122, 192 Telser, L. G. 143 Teubner, G. 100, 153, 159, 162, 166 f, 170 ff, 182, 234, 237 Thévenot, L. 22 Thompson, J. D. 13, 269 Todes, D. P. 260 Tugendhat, E. 67 f, 72, 78 Tullock, G. 288 Türk, K. 13, 38 f, 120, 236, 271, 289, 291 Turner. J. H. 96, 152, 154, 249 f Tushman, M. L. 210 Uexküll, J. von 11, 20 Uexküll, T. von 12 Ulrichs, T. 254 Vaassen, B. 80, 120 f Valéry, P. 30 Van Parijs, P. 186 Vanberg, V. J. 193 Varela, F. 35, 82, 121 f, 129 ff Verweyst, M. 15 Vickers, G. 13, 221 ff Vico, G. B. 231 Virilio, P. 35, 46, 99 Vries, H. de 80 Wagner, B. 43, 163, 227 Waldenfels, B. 90, 94, 240 Waldrop, W. M. 83 Walgenbach, D. 39, 164, 216
Personenregister
Walter-Busch, E. 120 Waters, J. 123 Watzlawick, P. 20, 54, 62 Weber, M. 11, 120, 173 f, 211, 234, 265, 269, 281 f Wegner, G. 260 Wehler, H.-U. 50 Wehrsig, Ch. 219, 226, 236, 238, 289 f Weick, K. 12 f, 16, 20, 62, 120 ff, 216, 221 ff, 269 f, 283 Weise, P. 83, 260 Weiskopf, R. 120 Weizsäcker, V. von 19 f Wellmer, A. 69, 78, 148 Werder, A. von 165 Wernerfelt, B. 135 Wetering, J. van de 49, 70 Whittington, R. 39 Wieland, J. 173 Wiener, N. 11 Wilentz, S. 237 Williamson, O. E. 14, 269, 276, 289 Willke, H. 171 Willmott, H. C. 120 Wilson, R. 81, 143 Winch, P. 16, 89 Windeler, A. 39, 248 Winkler, R. 143 Winter, S. G. 201 Witt, U. 260 Witte, E. 123, 126 Wittemann, K. P. 197 Wittgenstein, L. 19, 35, 62, 72, 89, 98, 106 f, 109, 125, 183, 224, 239, 274 Wohlrapp, H. 90 Wordsworth, W. 260 Zadek, P. 225 Zimmer, M. 168, 237 Zipprian, H. 227 Žižek, S. 49, 290 Zumbansen, P. 167, 175 ff
Sachregister
Abgrund 18, 49, 62, 65, 67, 75, 83, 127 Abgrund des Irrationalen 49, 65, 75 absence 100 f, 110 absorptive capacity 208 Abstraktionen, (Sofern-) 272 Abwehrmechanismus 95 Abweichung 141, 150, 154, 156 f Abwesenheit 30 f, 36, 101 f, 108 access 21 Accounting 181, 240 Achse des Bösen 237 Ackerkrume 203 action generator 12 action rationality 12 actionality of decision 123 Adaptionismus 263, 267 administrative men 144 agenda setting 238 Agent 7, 14, 107, 173, 252 f Ähnlichkeit 61, 228 Ähnlichkeitswahrnehmung 228 Akklimatisierung 182 Akkulturation 182 Akteur 228 f, 245 Akteur, korporativer 202, 231, 233 Akteure, individuelle 236 Aktiengesetz 165 Aktienmärkte 82 Aktienrechtsreform 234 Aktualisierung 20, 100, 103, 189, 208 ff, 212, 218 Algorithmen 22 Alltagsrituale 190 Als Ob 7, 9, 23, 71, 231 f, 239 f, 246, 279, 286 f Altruismus 261 Ambiguität 12, 280, 284, 287, 291 Ambiguitätstoleranz 154 Ambivalenz 20 American Express 237 Andersheit 223 Anerkennung 15, 153, 215 f, 223, 235, 246 f, 285, 290 Anfang 46, 87, 130, 212, 216, 218, 220, 228, 236, 254 f
Angst 22, 28 ff, 32, 62, 65, 68, 71, 192, 229, 269 Angst vor dem Chaos 49 Anonymisierung 201 Anpassung 182, 263 ff, 269 Anreize 142, 171, 257 Anreizsystem 207 Anschlussfähigkeit 126, 139, 203 Anspruch des Anderen 89, 94, 231 Anwendbarkeit 90, 148, 193 Anwender 37, 164, 190, 194, 202 Anwendung 17, 34, 56, 70, 76 ff, 80, 93, 98, 100, 103, 139, 150, 154 f, 160, 162, 177, 181, 183 ff, 187 ff, 192, 194, 197, 200 f, 204, 208, 212 f, 291 Anwendungsdiskurse 149 Anwendungskompetenz 190, 201, 208 Anwendungskontext 193 f Anwendungs-plus-Abweichungskompetenz 209 Anwendungssoftware 192 Anwesendes 101 anything goes 48, 281 Aporie 42, 51 f, 56, 67 f, 80, 123, 127, 199, 228, 247 Aporien der Steuerung 172 Applikation 76, 212 Arbeitsförderungsgesetz 265 Arbeitskraft 196 Arbeitslosigkeit 205 Arbeitsmarkt 142 Arbeitsplatzsicherung 283 Arbeitsrecht 284 Arbeitsteilung 71, 141, 258, 264, 266 Arbeitsteilung, tayloristische 265 Arbeitsvertrag 235, 276 Arbeitsvertrag als Gabentausch 143 Arbeitsvertrag, impliziter 143 arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse, gesicherte 167 archi-écriture 50 area of acceptance 144 Arglist 257 Artefakt 200, 201 asset specificity 210 Ästhetisierung 62 Atomkraft 67, 187
324
Attraktoren 84, 143 Attraktoren, seltsame 16, 178 Auditing 179 Aufklärung 5, 27 f, 30, 32 f, 37, 49 f, 56, 64, 66, 89, 91, 227 Aufmerksamkeit 15, 56, 83, 103 f, 108, 110, 120 f, 146, 165, 169, 187, 198, 206, 210, 216, 218, 223, 229, 236, 265, 273 Aufschieben 102 Aufschub 16, 66 Aus- und Weiterbildung, betriebliche 284 Ausbeutung 290 Ausbildungssystem 203 Aushandlungsarena 282 Aushandlungsprozess 280 Auslese 143, 263 ff, 285 Ausnahme 56, 58, 89, 100, 124, 163, 197, 217, 237 Ausnahmen 37, 124, 140, 224 Ausschließung 20 f, 92 Ausschluss 21 Äußerung, konstative 72 Authentizität 28, 219 Autonomie 129, 171, 265 Autor 40, 46, 49 ff, 60, 79, 91 f, 107, 110, 120, 193, 200, 279, 282, 285 Basel II 236 Basis und Überbau 53 Bastelkasten 188 Bedeutung 12, 15 ff, 61, 70, 76, 99, 107, 117 ff, 172, 188, 194, 200, 204, 220 f, 224, 231, 237, 274 Bedeutungsallgemeinheit 69 Bedeutungsrelativismus 5, 16, 34, 42, 51, 68, 72, 118 Bedeutungsrelativismus, performativer 51 Bedeutungsvielfalt 62 Bedürfnis 195 f Bedürfnisbefriedigung 271 Bedürfnisdisposition 151 Begehren 11, 21 begging the question 159 Begründung 67, 78, 80, 82 f, 90, 117 f, 127, 147, 186, 214, 258, 276 Beharrlichkeit 201, 203 Beharrungsvermögen von Strukturen 186 Beleuchtungsexperimente 215 Beliebigkeit 52, 68, 93, 115, 117 ff, 271, 280 f Beobachterperspektive 204 Beobachtung zweiter Ordnung 66
Sachregister
Beratung 217 Beratungsunternehmen 192 Berechenbarkeit 126, 248, 266 Berufsgenossenschaften 168 f best practice 240 Beständigkeit 157, 202, 212 Betriebsblindheit 218 Betriebswirtschaftslehre 14, 17, 38, 58, 120, 125, 127, 131, 247, 279, 284, 289 Bewegung, brownsche 198 Bewusstsein 38, 44, 58, 64, 157, 229 Bewusstsein, diskursives 107 Bewusstsein, praktisches 107, 205 Bewusstwerden 101 Bezeichnungsfunktion 18 Bias, kulturalistischer 186 Bilanzmanipulationen 241 Bildungs- und Erwerbschancen, Verteilung von 206 black boxes 228 f Blockade 20, 211 Blockaden 105, 215, 218 Blueprint 102 body politics 38 bonding 22 bootstrapping 84, 160, 214 Boston Consulting Group 216 Botschaften, verschlüsselte 21 boundary spanners 269 bounded rationality 289 boundless contexts 124 bricolage 188 Buchführung, Grundsätze ordnungsgemäßer 167 Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht 236 Bundesgerichtshof 163 Bürokratisierung 211 business reengineering 215 Capabilities 135 capitalism 88 capture theory 22, 168 Cartesianischen Meditationen 228 Catch 22 53 ceremonial encapsulation 21 ceteris paribus-Regel 125 Chaos 49, 62, 65, 67, 83, 90, 150 Chaos-Theorie 255 Chronozyklogramm 265
Sachregister
CID-Struktur 234 circularity of social knowledge 33 Citicorp 237 Code 19, 106 f, 165, 167 f, 182 f Code of Conduct 168 Code, binärer 274 Codes of Corporate Governance 166, 168, 181 codieren 12 Codierung Recht/Unrecht 166 cognitive mapping 177 commitment 14, 123, 269 compliance 150 Compliance Officer 170 compliance-based systems 172 Computer Integrated Manufacturing 81, 209 Computer- und Softwareindustrie 194 Computertechnik 98 f congealing oil 117, 118 constructive interpretation 80, 153 Consulting 7, 211 Containment 32 context-sensitive science 193 contracting worlds 6, 172, 174 Controller 258 Controlling 179 core competencies 187, 207 core rigidities 22 corporate capabilities 187 Corporate Governance 6, 162, 167 ff, 182 f Corporate Governance Kodex 168 f corporate identity 9, 231, 234 f, 238 Corporate conduct 88 cost cutting 81, 215 creatio ex nihilo 117 credibility 87, 248 credible promises 248 Critical Legal Studies 169 Critical theory 28 cultural dope 155 Darstellung 50, 75, 129 f, 142, 205, 222, 229 Darwinismus 130 Davoser Manifest 166 de facto-Standardisierung 180 decisionality of action 123 déclenchment 20 Defektion 258 Defektionsgewinne 255 Definitionsmacht 238
325
Degussa 222 ff, 232, 234 Déjà vu 5, 27, 30, 41 f, 61, 74, 166 Dekonstruktion passim Dekonstruktion und Ethik 50 Dekonstruktivismus 54 Dekontextualisierung 193 Delegation 171, 258 Demokratie 70, 91, 240 Denkgemeinde 54 Denkstil 5, 42, 63, 65, 108 Denkstil, kollektiver 286 deontische Kontoführung 247 Deregulierung 86, 173 Derridada 42 f, 115 Design 128 Desintegration 141, 159 Destruktion 60, 79, 203 Determinismus 107, 134 Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management (DVFA) 169 Deutsches Institut für Normung (DIN) 164, 169 Deutung 34, 126, 139, 280 Deutungsmuster 103, 185 Deutungsschema 34 f Deutungsschemata 212 Deutungsweisen 21 Devianz 212 deviation 153 Dezentralisierung 258 Dezentrierung 98, 106 f Dezision 220 Dezisionismus 62, 67, 133, 232 dezisionistisch 64 Dialektik der Aufklärung 90 Dialogik des Entscheidens 145 Dienst nach Vorschrift 140 Différance passim différend 174 Differenz passim Differenz, tolerierte 105 Differenzen, kulturelle 224 Differenzierung, funktionale 159 Dimension, syntagmatische 36 DIN-Normen 167 Diskriminierung, mittelbare 168 Diskursbegriff 175 Diskurse, herrschaftsfreier 66, 94 Diskursethik 89, 92 ff, 148 Dispositionen 156
326
Dissemination 68 f, 110, 118, 154, 200, 224, 274 Disziplin 192 Disziplinarmacht 192 Disziplinierung 142, 180 Diversität 181, 280 Doppelgänger 29, 68 double bind 53 Driften 181 Drückebergerei 173 due diligence 240 Dynamik, zelluläre 130 Effekt, externer 180 Effekt, performativer 213 Effekt, selbstverstärkender 182 Effizienz 88, 115, 117, 131 f, 144, 177 f, 203, 206 Effizienzkriterium 77, 133 Effizienzlöhne 283 Effizienzprinzip 79, 81 Effizienzprinzip, universelles 281 Eichung 181 Eigendynamik 150, 160 Eigenlogik des Rechts 177 eigenvalues 160 Eigenwert 178, 224, 230 Eindeutigkeit 8, 279, 286, 288 Einflusskosten 284 Einkommens- und Vermögensverteilung 206 Einkommensverteilung 205, 273 einzigartige Ressourcen 209 Einzigartigkeit 160, 207 f, 209, 231 Embryonenforschung 220 enacted environment 12 enactment 231, 236, 238 Endlos-Reform 212 Endogenisierung 14 Engramm 202 Entdeckung 123, 126, 210, 216, 229, 261, 265, 293 Entfremdung 92, 177 f, 182, 235, 290 Entlohnung 168 Entscheiden 128, 146, 234, 240, 246 Entscheidung 15, 80, 82 ff, 115-133, 139, 144 ff, 165, 222, 228 f, 245 ff, 254, 261, 271, 273, 276 Entscheidung, körperliche 122 Entscheidung, parasitäre 265 Entscheidungen 165, 222, 228, 229, 261, 271, 273, 276 Entscheidungsfiktionen 240
Sachregister
Entscheidungsforschung, betriebswirtschaftliche 123, 126 Entscheidungsforschung, kognitivistische 145 Entscheidungskompetenz 171 Entscheidungskorridor 21 Entscheidungskriterien 70, 76, 108 Entscheidungslogik, betriebswirtschaftliche 127, 145 Entscheidungslogik, normative 125 Entscheidungsprozesse 6, 122 Entscheidungssituation 126 ff Entscheidungsstrukturen, parasitäre 269 Entscheidungstheorie 76, 80, 122 f, 146 Entscheidungsverhalten 122 Entwicklung 35, 38, 85, 99, 122, 126, 132, 151 f, 159, 172, 179, 184, 193 f, 210, 216, 256, 263, 265, 267 Entwicklungspfade 266 Entwurf 18 Epoché 56, 228 Erbe 28, 31, 34, 36, 270 Ereignis 124, 206, 222, 258 Ereignisbeherrschung 247 f Erfahrung 18, 34, 56, 60, 125 f, 179, 193, 227 f, 231, 246 ff, 255, 286 Erfahrungswissen, lokales 182 Erfinder 20, 180, 191, 193, 198, 200 Erfindung 123, 193, 210, 265, 293 Erfolgsfalle 210 Erfüllung 34, 36, 150, 157, 165, 170 ff, 183, 268, 292 Erfüllung von Verträgen 207 Erfüllung, scheinhafte 184 Ergänzung 36, 81, 115, 129, 139, 155, 170 f, 195, 197, 210, 234 Ergänzung/Ersetzung 131, 164 Erinnerung 41, 53, 61, 63, 74, 101, 103, 186, 191, 205 f, 234, 258, 269 Erkenntnis 27, 62, 66, 286, 290, 292 Erklärung 41, 45, 67, 98, 105, 132, 154, 159, 212, 214, 252, 265, 267, 276, 283, 287 Erklärung, rationalwahltheoretische 285 Erklärungsprinzip 122 Ermöglichung 20, 206 Erosion 141, 212 Ersetzung 81, 87, 115, 129, 130 f, 139, 153, 155, 164, 170 ff, 182, 195, 210 Erwartbarkeit 126, 139, 149, 202 f, 248, 255
Sachregister
Erwartungen 82, 101, 151 ff, 156, 172 f, 176 ff, 185, 202, 228, 249, 269 Erwartungsbildung 82 Erwartungserwartung 101, 186 Erwartungssicherheit 173, 176 ff Erzengel 71 Erzeugen und Erzeugnis 36, 205 f Eschatologie 70 Ethik 28, 35, 50, 84, 89 f, 94, 149 Ethik ohne Prinzipien 90 Etwas als etwas 220, 236, 240 EU-Kommission 236 Evaluation 179, 183, 212 Evolution 7, 121, 125, 131, 143, 243, 259, 263 f, 266 evolutionäre Bahn 267 Evolutionismus 97 Evolutionsbiologie 35, 130 Evolutionstheorie 35, 131, 220, 260 f, 266 Exaptationen 264 excellence 38, 69, 80, 126 exit, voice, and loyalty 187 Exklusion 21, 238, 282 Exorzismus 28, 30, 51 f Expertensysteme 33 Expertise 186, 203 Exponentialkurven 182 Externalisierung 290 Face-to-face-Interaktion 36 Fairness 47, 180 f fake 46, 231 Fallibilismus 20 Fälschung 233 Fassade 13, 226, 235 Fazilitäten 202 Fehlerbeseitigung 194 Fehlschluß, naturalistischer 89, 261 Fernbedienung 194 Fertigungsendkontrolle 163 f Festlandsockel 158 Feststellung 181, 236 Fiktion 71, 101, 131, 160, 213, 227, 229, 230, 232 ff, 240, 250 Fiktionalität 71, 219, 232, 240 Fiktionen 23, 71, 147, 166 f, 179, 212, 227, 231 f, 235, 240 f, 258, 293 Filz 257 Finalität 30 Finanzspekulationen, Theorie der 82
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fingere 219 Fingieren 231 finish move 30, 32 Fitness 131 Fließband 12, 15 Fließen, Fluss 66 Flugbahn 142 Folgen, unintendierte 83 Folgeprobleme 16, 195 folk psychology 285 Formalstruktur 81, 140 Formeln 148, 166 Formen der Produktion 23, 35, 39, 111 Forschung 17, 33, 36, 69, 76, 123, 147, 171, 175, 193, 209, 217 f, 283 f Fragment 75 frame 123 f frame axiom 124 frameworking 120 Frankfurter Schule 60, 63 f, 67, 90 Freihandel 85 f Fremdheitserfahrung 228 Fremdreferenz 271, 274, 276 f Fremd-Selbständigen 230 Fremdverstehen 204 Fremdwahrnehmung 228 fresh judgement 80, 139, 153 Freud-Rezeption 107 Freund/Feind 67 Frustrationstoleranz 154 Führer, charismatischer 214 Führung 117, 148, 211 Führungs- und Kontrollsystem 165 Fülle 28, 50, 79, 84, 96, 104, 129, 139, 189, 263, 269 Füllung 36, 89, 93, 139, 150, 153, 155, 164 f, 170, 172, 251 Füllung und Ergänzung 153 Fundament 57, 90, 144, 228 Fundamentaltransformation 22 Funktion 13, 28, 82 f, 116, 151, 155, 166, 175, 177, 187, 192, 207, 215, 224, 227, 233 ff, 240, 246, 257, 263, 273 Funktionskreis 195 Funktionsstatus 233 Funktionssysteme 160, 171 Gabe 76, 247 garbage can 12
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GATT (Allgemeines Handels- und Zollabkommen) 237 Gattungsunterschied 42, 53, 70 ff Gebrauchsweise 99, 189, 197, 210 Gebrauchswert 204 f, 270, 277 Gedächtnis 46, 101, 258 Gedächtnisspuren 101 f Gefährdungshaftung 164 Gefangenendilemma 253 f, 259 Gegenaufklärung 50, 56 Gegengabe 76, 247 Gehör 72, 289 Geisel 256 Geld 7 f, 147, 176, 222, 232 f, 243, 248, 270, 272, 276 ff, 280, 290 Gelegenheit 9, 50, 119, 126, 190, 245, 267 Gelten-als 232 f, 240 Geltung 21, 34, 66, 76, 78 f, 81 f, 94, 103 f, 108, 150 ff, 154, 157, 165, 167 f, 172, 191, 212, 232 f, 237 f, 240, 250, 260, 274, 285 Geltungsanspruch 125 Gemeinkostenwertanalyse 215 Gemeinschaftssinn 261 Gender Studies 51 Gene 266 General Agreement on Trade in Services 237 generalized other 151 Genesis 13, 35, 94, 104, 130, 143, 276 Gentechnologie 187 Gerät 188, 194 f, 200, 267 Gerechtigkeit 49, 52 f, 58, 66, 68, 70, 79 f, 102, 139, 173 Gerechtigkeitskonzeption 84 German Code of Corporate Governance (GCCG) 165 Geschäftsprozesse 209 Geschichte 92, 216, 223, 233, 282, 287 Geschichte, Ende der 30, 91 Geschichten 15, 22, 119, 270, 281 ff Geschichten, erzählte 71 Geschichtsphilosophie 88 Geschlossenheit, autopoietische 21, 211, 269 f Geschlossenheit, operative 231 Geschlossenheit, rekursive 270 Gesellschaft für Arbeitswissenschaft 169 Gesellschaftsentwurf 261 Gesellschaftstheorie 35, 77, 186, 270 Gesellschaftsvertrag 173 Gesetz 21, 79, 139, 167, 191 Gesetze 87, 236
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Gesetzesrecht 169 Gesetzgeber 232 Gesetzgebung 76, 125, 168, 174, 177, 180 Gestaltkreis 19 Geste 67, 97, 104, 109, 200 Gestus, finaler 67, 291 Gewalt 70, 80, 82, 109, 140, 174, 192, 237 Gewaltmonopol des Staates 153 Gewinnmaximierung 284 Gewissheit 258 Glaube 22, 70, 214, 221, 233, 245 ff, 253 Glaubwürdigkeitsveranstaltungen 257 Gleichbehandlung 180 Gleichgewicht als Metapher 287 Gleichgewicht, ökologisches 203 Gleichgewichte, durchbrochene 178 Gleichgültigkeit 270, 277 gleitende Bewegung 181 globale Gesellschaft 174 Globalisierung 6, 37, 85 f, 162, 174 f, 178 Globalisierungskatastrophe 174 Gödel-Strudel 84 good governance 183 governance regimes 6, 162, 170 Governance-Struktur 234 Gral, heiliger 289 grands écrits 88 Gratifikation 17, 21 Grenzen 13, 68, 73, 75, 81, 83, 124, 126, 140 f, 143 f, 154, 157, 194, 208, 228, 230, 256, 269, 289 Grenzstellen in Organisationen 269 Grund 14, 30, 35, 61, 65 ff, 75, 90, 116, 125, 130, 185, 211, 219, 258, 260, 279, 283, 288 Grundeinkommen 186 Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmungsführung (GoF) 165 Gutachter 258 Haben/Nichthaben 277 Habitus 156, 205 Haftung 162 f, 234 Haftung für Verrichtungsgehilfen 162 Handlung und Struktur 36, 100, 204 Handlungsbedingungen, unerkannte 211 Handlungsfolgen 105 Handlungsfolgen, unintendierte 211 Handlungskreis 19 Handlungsmittel 185, 187 f, 200 f, 205 Handlungsorientierung 154 f, 157
Sachregister
hands tying 22 Handwerkskunst 202 Haus des Seins 42, 65 Hawthorne-Experimente 215 Hedge-Fonds 256 Hegemonie 45, 94 Hermeneutik 18, 76, 78, 177, 204, 220 f, 239 Hermeneutik, doppelte 285 Herrschaft 38, 181 Herrschaftsordnung 37 Herrschaftsverhältnis 75, 191 herrschende Meinung 165, 169, 254 Hierarchie 16, 89, 148, 153, 205, 248, 276 high trust organization 257, 259 Highland Park 15 High-Tech-Systeme 266 Hilfe, gegenseitige 260 Hobbes‘ Problem der Ordnung 104 Höhlengleichnis 119 homo homini lupus 259 homo oeconomicus 71, 122, 279 Horizont 56, 78, 80, 90, 93, 188, 212, 286 human agency 106 Humanisierung der Arbeit 116 human-relations-Bewegung 215 Humanressourcen 206 hylè 29 Hypokrisie 81, 87, 268 Ich 107 Ideal, kontrafaktisches 153 Idealisierung 31, 69, 125, 156, 204 f, 224 Idealisierung des ‚ich kann immer wieder’ 101, 125 Idealisierung des ‚und so weiter’ 125 Idealtypus 200 Idee, regulative Identifikation 95, 224, 234 f Identifikation mit dem Agressor 95 identifizierendes Denken 72 Identität 7, 9, 69, 93, 115, 120, 127, 144, 181, 212, 219, 220 ff, 221-238, 261 Identität als Eigenwert 230 Identität als Selbstbeschreibung 231 Identität, organisationale 231 Identitäten 90, 93, 219, 222, 227 Identitätsbegriff 233 f Identitätsdarstellungen 219 Identitätsfabrikation 236
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Identitätsfassaden und -fiktionen 225 Identitätskonstruktionen 227 Identitätspräsentationsfunktion der Historie 234 Identitätsprinzip 219 Identitätssicherung 234 Identitätsverleugnung 223 Ideologie 86, 190, 203 ignorance of ignorance 133, 217, 255 Illegalität, brauchbare 81, 150, 269 Illusion 33, 121, 229, 231, 239 Imitation 207, 210 Immaterialität 202 impression management 226, 241 incomplete contracts 173 increasing returns 210 indexicality of context 110 indexikalisch 36 Indifferenz 235 Individualisierung 91 Individualismus, methodologischer 121 industrial engineer 209 Industriesoziologie 35, 38, 197, 268 inertia 21 Information, asymmetrische 14 Information, vollkommene 81 Informationsökonomie 14, 256 Informationsverarbeitungsansatz 124 Informationsverarbeitungsprozesse 125 informell 215 informelle Gruppe 265 Initiative 176, 235 Inklusion 21, 116, 139, 155, 238, 282 Inkommensurabilität 18, 286 Inkompatibilität der Diskurse 175 Innovation 193 f, 212 Innovationsnetzwerke 194 Input 123, 131 Input-Output-Relation 273 Insitution 266 Instinkt 122 Institutionalisierung 183 Institutionalisierungsprozesse 64 institutionalism, new 174 institutionelle Phantasie 171 Institutionen 14, 20, 35, 63, 65, 80, 88, 94, 102, 176 f, 179, 190, 232 f, 248, 261, 265, 284 Institutionen, Entlastungsfunktion von 65 Institutionenökonomik, neue 255
330
Integration 81 f, 103 f, 141, 150 f, 154, 158 f, 175, 197 Intelligenz, künstliche 123 Interaktion, komplexe 266 Interesse 40, 71, 75 ff, 85, 104, 110, 120, 140, 142, 151, 154 ff, 159, 168, 207 f, 213, 217, 236, 248, 271, 280, 282 Interessenbalance 158 Interessenkonflikt 104 Internalisierung 186, 239 International Standards Organization (ISO) 164 Internet 99, 194 Interpretation 15 f, 20, 36, 46, 54, 66, 68 ff, 109, 115, 119 ff, 139 f, 155, 157, 181, 183, 202, 220 f, 238 f, 247, 266, 280, 282, 284 interpretativer Ansatz 15, 185, 206 intersection of presence and absence 36 Intersubjektivität 227 ff Intra- und Interrollenkonflikt 154 intrapreneur 16 Intrapreneur 235 Investition 272 Investitionsgüter 194 Investor Relations-Arbeit 170 Ironie 28, 54, 84, 116 f, 232, 253 ISO 14000er Normreihe 165 ISO 9000er Normreihe 165 Iterabilität 69, 125, 205, 224 Iteration 69, 103, 121, 224 Joint ventures 256 jouissance 46 Juggernaut 31 just-in-time 38, 266 Kalibrierung 181 Kalkulation 245ff, 249, 251 ff, 255 ff, 261 Kalkulation, Colemans 246, 253 Kampf ums Dasein 259 f Kannitverstan 5, 59 ff, 79 Kapitalfonds 256 Kapitalismus 186, 204, 273, 282 Kapitalmärkte 82 Kapitalmärkte, internationale 168 Karriereentwicklung 283 Karrierestruktur 278 Katastrophe 28, 258 Katastrophe, normale 258 Kern, technischer 13, 16
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Kernkompetenzen 187, 210, 283 Kernkompetenzen, Theorie der 208 Kernkraftwerke 235 Kernrigiditäten 210 KI-Forschung 124 Kinematograph 194 Klassifikationen, Naturalisierung sozialer 261 Klassifikationsprozesse 63 Knappheit 203 know-how 126 Knowledge Management 81 knowledgeability of human agents 101 knowledge-based view 187, 208 Kodex 168 f Koevolution rechtlicher und sozialer Institutionen 175 Kommissionslösung 169 Kommunikation 34, 37, 68 f, 109 f, 120, 151, 160, 175, 186, 216, 224, 228, 231, 236, 238, 253, 259, 272 f, 284 Kommunikation, Unwahrscheinlichkeit der 11, 275 Kommunikationsbarrieren 218 Kompetenz 36, 55, 101, 107, 118, 149, 152, 185, 202, 208 ff, 229 Kompetenzbegriff, linguistischer 106 f Kompetenzfalle 210 Komplexität 28, 78, 139, 167, 172, 228, 246, 284 Komplexität, Reduktion von 125, 247 Komplexitätsreduktion 212 Komplexitätstheorie 83, 160, 198 Kompromissbildung 280 Konflikte, ethnische 158 Konfliktenteignung 176 Konfliktlösungsregeln 178 Konformismus 44 Konformität 212 Konkurrenz 7, 207, 259 f, 283 Konkurrenz, Modelle vollkommener 288 Können 23, 28, 73, 202, 210, 214 Konsens 68, 82 f, 159 f, 173, 197, 231, 261, 269 Konservatismus 21, 87, 237 Konsonanz 159 Konstitution des Bewusstseins, temporale 101 Konstitution, rekursive 224 Konstitutionslogik 188, 229, 257 Konstitutionszusammenhänge 75 Konstruktionen, soziale 62 Konstruktivismus 12, 67, 120, 227
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Konstruktivismus, Erlanger 88 f Konstruktivismus, radikaler 231 Konsum 99, 189, 192, 195 ff, 203 Konsumgut 193, 273 Konsumption 196 Kontaktsysteme 170 Kontext 16 f, 29, 44, 50, 68, 74, 83, 93, 96, 103, 106, 108 f, 117 f, 121, 133 f, 173, 189, 214, 232, 273 Kontextabhängigkeit 18, 69, 110 Kontext-Begriff 43 Kontext-Determinismus 17 Kontexte 16 ff, 49, 51, 55, 90, 93, 110 f, 123, 188 Kontexte, unendlicher Regreß von 16 Kontextfaktoren 109 Kontextfreiheit 193 Kontext-Markierung 17 Kontextualismus 18, 46, 66, 92, 110, 123 Kontextualität 34, 110, 208 Kontingenz 16, 28, 38, 81 f, 127, 139, 142, 145, 151, 199, 227, 246, 249, 255 Kontingenz, doppelte 228, 246, 250 Kontingenz, Kluft der 80, 240 Kontingenzerfahrung 38 Kontingenzforschung 17 Kontrakt 142, 173 Kontrakte, Theorie unvollständiger 173 Kontrolle 28, 32, 81, 247, 249, 259, 276 Konventionalismus 44 Konventionen 35, 44, 81 ff, 122 Konvergenzvorstellung 174 Konversationsanalysen 36 Konversationskreise 168, 170, 237 Kooperation 7, 175, 243, 255, 257 ff Kooperation ohne Freundschaft 143 Kooperation, rekursive Stabilisierung 259 Kooperationsmedium 269 kooperative Spiele 282 Koordination 139, 141, 203, 280 Koordination, diskursive 259 Koordinationsfähigkeit 126 Koordinationsmedium 248 Kopplung, feste 266 Ko-Präsenz 199 Körper 228 Korporativakteur 234 Korruption 141, 158, 272 Kosten-Nutzen-Kalküle 175 Kreditbasis 256 Krise 42, 81, 83, 216
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Krisenexperiment, Garfinkelsches 246 Kritik der reinen Vernunft 54, 58 Kritik, immanente 62, 86 kritische Schwelle 179 Kritische Theorie 92 Kritischer Rationalismus 61 kritisches Potential 277 Kultur 75, 79, 129, 205, 209 kulturelles Kapital 206 Kulturkritik 53 Kundenorientierung 21 Kunst 33, 71, 167, 171, 175, 179, 190, 197, 208, 220, 239, 270 Kunst des Handelns 189, 190 Kunst des Möglichen 77 Kunstfehler 166 Kunstfertigkeit 73, 191 Kuppelprodukt 280 Kuppelproduktion 265, 282 Lacancan 42 f, 115 laisser faire 184 Landwirtschaftsabkommen 237 Lärmgrenzwerte 168 Le Monde 45 lean production 15, 21, 39, 209 Lebensform 19, 110, 224 Lebenswelt 91, 223, 286 Lebenswelt, Kolonialisierung der 190 Leere 77, 79, 94, 129, 149 f, 153, 155 f, 188 f Leere und Fülle 36 Leerformen 34, 157, 201 Legitimation 12, 38, 88, 141, 166, 168, 183, 186, 188, 212, 284 Legitimation durch Verfahren 170, 269 Legitimationsbeschaffung 13 Legitimationsfragen 172 Legitimationssicherung 13, 166, 184, 212, 235 Legitimierung 87 Legitimität 36, 94, 186 Lehmschicht 22 Leib 228 Leib, a-physischer 31 Leid 148 Leidensdruck 218 Lektürepraktiken 190 Lernen 30, 202 Leverage-Effekt 256 liberal versus interventionistisch 173
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Libération 45 f Lingua Franca 46 linguistic turn 12, 17, 239 Linguistik 106 Lippendienst 269 Lobbyisten 237 Lock In 20 f, 178, 211, 267 Logik 71, 94, 119, 212, 281 f Logik der Ergänzung 35, 130 f Logos 130 Löhne 280 Lösung 32, 67, 76, 130, 151, 153, 159, 169, 176, 193, 222, 227 Lüge 46, 239 Macht 7 f, 39, 73, 87f, 90 f, 104, 116, 143 f, 157, 168, 170, 173, 180, 185 f, 190, 192, 206, 211, 220, 239 f, 243, 248, 250, 276, 278, 280, 283, 290 Macht der Medien 65 Machtasymmetrien 206 Machtbegriff 276 Machtmittel 36, 248 Machtstrukturen 203 Mafia 249 ff mafioses Verhältnis 158 Magie 233 make-or-buy-Entscheidungen 207 Managementkonzepte 168, 218 Managementmoden 81 Managementwissenschaft 38 Manipulation 141, 220, 232 f marginal secants 269 Marginalkalkül 279 Marketing 136 Markt 16, 39, 132, 142, 180, 248, 276 f, 281, 287 Marktmacht 136 Marktpositionen 209 Marktregulierung 177 Marktstruktur 134 Marktvergesellschaftung 173 Marxismus 28, 56, 195 Maschinenwelt 286, 288 Maske 226 mass customization 21 Massenproduktion 12, 15 Masterplan 127 Materialität 187, 202 Materie 75, 186, 188, 201 f maximizing 122, 284, 289
Sachregister
McKinsey 216 meaning 43, 68 Medien der Interaktion 280 Mehltau 22 Mehrdeutigkeit 5, 8, 12, 15 f, 18, 56, 107, 109, 115, 119, 121, 154, 156, 279 f, 282, 285, 288 memory traces 36, 101 Menschenrechte 50, 87, 94 Menschrechte 88 Messbarkeit 181 Messianismus 70 Meta-Erzählungen 88 Metaerzählungen, Ende der 271 Meta-Kompetenz 209 Metapher 7, 15 f, 20, 32, 42, 82, 117, 201, 214 f, 217, 220 ff, 286, 289 Metaphorik 75, 146, 211, 218, 221, 266, 285 Mikropolitik 39, 212, 269, 284 mikropolitische Organisationsanalyse 39 Mikropraktik 192 Mimesis 82, 151, 155 ff, 199, 257, 265 mimetisches Verhalten 143 Misstrauen 90, 246, 251, 255, 257 Mitgliedschaftsrolle 150 Mittel und Zweck 199 Mitwelt 200 f Mobilitätszugewinne 235 Modalitäten 36, 103, 188, 208 Modell 19, 76, 106 f, 286 Modellplatonismus 286 Modellwelt 286, 288 Moderne 5, 22, 27 ff, 39, 50, 75, 92 f, 116, 171, 195, 235, 270, 276 Modus 66, 193 Möglichkeit, notwendige 154 Möglichkeiten 18, 21, 28, 36 f, 102, 124, 139, 154, 166, 181, 195, 218, 220, 236, 270, 281, 293 Mon code est perdu! 177 Monotonie 266 Moral 28, 33, 53, 71, 86, 90, 225, 248, 251 Moralitätsfassaden 166 Motiv 29, 32, 61, 75 f, 153, 191, 261, 290 f Motivation 154, 214 f, 280, 285 Münchhausen-Effekt 160 Musikalität 74 Mutationen 266 Mythos 22 f, 28, 62, 123, 216, 230, 292 Mythos vom Paradies 130
Sachregister
Nachahmung 81 ff, 202 Nachträglichkeit 17, 165 Narrativität 120 Natur 7, 28, 31, 45, 70, 75, 79, 106, 129, 145, 186, 189, 201, 203, 213, 225 f, 233, 247, 259 ff, 264 ff, 270 Natur, zweite 186 naturalistischer Fehlschluss 89, 261 Naturverhältnisse, gesellschaftliche 203 Naturwissenschaften 35, 42 Nebenfolgen, nicht-adaptive 263 Nebenfolgen, untintendierte 264 Negation 81 Negative Dialektik 64 negative Sanktion 278 Neoinstitutionalismus 39, 283 Neoklassik 71, 119, 276, 279, 288 Neoliberalismus 6, 85, 88 f, 91, 93, 94 Netz 44, 191, 267 Netz, neuronales 202 Netzwerke 39, 91, 159, 269 Netzwerke, interorganisationale 248 Netzwerkkompetenzen 127 NGO’s 236 Nicht-Identisches 92 Nihilismus 72 Non-Profit-Organisation 14, 179 Norm- und Wertesystem 155 normative Kraft des Faktischen 102 Normativismus 62 Normativität 87, 156, 202 Normen 21, 36, 67, 81 ff, 94, 102 ff, 142, 149-164 ff, 172 f, 177, 179, 181, 185, 197, 199, 201, 248, 250 f, 269 Normen- und Werteorientierung 175 Normen- und Wertordnung 251 Normenanwendung 156 Normenkonsens 154 Normenreihe ISO 9000 ff 216 Normensystem 165, 170, 174 Normierung 164, 170, 173, 179 Normintegration 160 Normstrategie 209 Normstrategien 216 Normung 164 Nutzen, erwarteter 125 Nutzenmaximierung 284 Nutzung 38, 111, 124, 126, 180, 187, 190, 192, 194, 207 ff, 264 f
333
Nutzung, sekundäre 265 Nutzungsweisen 208, 210 Objektbeziehungen 32 Objektivismus 44 Obstruktionssymbiose 178 Ödipus 227 öffentliche Güter 272 Öko-Audit-Verordnung 165 Ökologie 32, 186, 270 Ökonomie 13 f, 21, 35, 37 f, 41, 76, 82, 119, 129, 175, 195, 201, 241, 256 f, 260, 281 ff Ökonomie des Sehens 21 Ökonomie, neoklassische 20, 131 Ökonomik 15, 79, 220, 285 ff Ökonomik, evolutorische 260 Ökonomik, neoklassische 71, 279, 287 ökonomische Perspektive 174 one best way 38, 121, 240, 289 ontologische Frage 220 ontologische Sicherheit 32 ontologischer Akt (der Realitätskonstruktion) 126 ff ontology of becoming 121 Operationalisierbarkeit 182 Opportunismus 46, 206, 211, 225, 251, 257 Optimierung 81, 279 Ordnung 23, 36, 42, 49, 63, 65, 81 ff, 103 f., 129 f, 143, 150 f, 154, 158, 174, 181, 189 ff, 198, 203, 235, 250 Ordnung am Rande des Chaos 42, 83 Ordnung, virtuelle 205 Organisation der Scheinheiligkeit 166 Organisationen, Evolution von 263 Organisationsanalyse, mikropolitische 142 Organisationsanweisung 17 Organisationsberater 33, 211 f, 269 Organisationsberatung 38 f, 213, 217 f Organisationsforschung, interpretative 283 Organisationsforschung, kulturalistische 38 Organisationsforschung, neoinstische 39 Organisationsforschung, neoinstitutionalistische 39 Organisationsforschung, situative 17, 289 Organisationsgesellschaft 37 Organisationskapital 201 Organisationskultur 17, 116, 218 Organisationspathologien 211, 218 Organisationspersönlichkeit 291
334
Organisationsprinzipien 121 Organisationssoziologie 5, 11, 13 f, 16, 268 Organisationssoziologie, neo-institutionalistische 211 Organisationsstrukturen 21 Organisationstheorie 14, 16, 20 f, 23, 35, 38, 41, 51, 77, 82, 100, 115, 117, 120 ff, 125, 129, 222, 228, 240, 263, 270, 283, 289, 290 Organisationsversagen 39 Organisationsverschulden 162 ff, 234 Organisationswelten 8, 18, 20, 23, 279 organizational capabilities 207 Oszillation 212, 235 Output 131, 203, 273 Outsourcing 126 Palimpsest 220 f Panda-Prinzip 264 Panoptikum, Benthamsches 120 Paradigmatisch 36 paradigmatische Dimension 102 Paradoxie 6, 94, 125, 127, 133, 145 ff, 184, 208, 212, 217, 251, 286 Paradoxie des Entscheidens 6, 127, 145 f Paradoxieentfaltung 212 Parlament 232 Parsifal-Motiv 289 Parsons-Kritik 155 Parsons-Rezeption 154 Parteienfinanzierung 141 Partikularität 92 f Partizipation 184, 213 Pascals Wette 7, 253 path dependency 84, 210 pathisch 231 PC-Hersteller 195 Perfektionssurrogat 255 performance 87 Performanz 238 performativ 33, 97, 118, 220, 232 Performativ 30, 52, 89 performativer Selbstwiderspruch 57, 64 Performativität 87, 110 Peripherie 13, 63, 64, 75 Person 95, 162, 199, 218, 226 f, 233, 246 ff Person, juristische 179, 232 ff, 240 Personalökonomie 284 Personalreduktion 215 Personen, natürliche 232 f, 236
Sachregister
Perspektiven, divergente 285 Perspektivität 280, 285 f Peter-Prinzip 148 Pfadabhängigkeit 179, 210 f, 267 Pfand 256 Pflicht 88, 118, 163 Pflichten 88, 172, 232 Phänomenologie 78, 90, 124, 127, 273 Pharmakon 172, 192, 291 phrónesis 145, 149 Placebo 7, 9, 211-218 Placebo-Responder 7, 9, 211, 218 Pläne 12 Planung 191 Planungs- und Kontrollsystem 165 Planungsansätze 195 playing-at-a-role 151 Policyinstrumente 177 Politik als endogene Dimension 282 Politik, symbolische 241 Politikfeld 282 Politik-Netzwerke 170 Polykontexturalität 174 pooling 206 population-ecology-Ansatz 17 Position 19, 52, 55, 62, 72, 86 f, 89, 94, 106, 120, 152, 289 Positionen, Distribution sozialer 203 Positionsinhaber 152 Positivismusstreit 41, 44, 60 f, 72, 76 postfranzösisch 43, 165 Posthistorie 48 post-hoc-Rationalisierung 122 postmodern 43 f, 47, 49, 116 Postmoderne 5 f, 18, 40, 47 ff, 51, 64, 85 f, 88, 91 ff, 95, 115 ff, 120, 271 Postmodernismus 47, 85, 91 f Poststrukturalismus 17, 41, 49 f, 96, 105 Potential 77, 180, 189, 197, 202, 207 f, 270 Potentiale, Aktualisierung von 210 Potentialität 267 Präferenz 61, 159, 279 Pragmatismus 19, 120, 240, 283 Praktiken 36 f, 81, 93 f, 100, 102 ff, 140, 182 ff, 190 ff, 205, 224, 286 Präsens 30 Präsenz 30 f, 35, 79, 99, 102, 129 Praxis 81, 94, 103, 126, 132, 140, 148, 157, 166, 190, 202, 205, 224, 230 f, 234, 236, 239, 257
Sachregister
Praxis, organisationale 81 Praxis, rekursive Schleifen sozialer 157 praxistheoretische Grundierung 186 preemptive wars 237 Preise 14, 201 presence 36, 100 f, 110 pretext 16 principium 254 Prinzip 30, 79, 82, 90, 93, 131, 160, 194, 198, 261, 264, 291 Prinzip der Bedürfnisbefriedigung 79 Prinzip der Knappheit 79 Prinzip, erwerbswirtschaftliches 283 Prinzipal-Agenten-Verhältnis 206 Prinzipien, ethische 88 Prinzipienethik 90 prisoner’s dilemma 22 private governance regimes 170 f, 174, 179, 237 Privatisierung 173 f Privatrecht 170 f, 174 f problem solver 12 Problem und Lösung 137 problématisation 11 Problemdefinitionen 212 Problemverschiebung mit eingebauten Folgeproblemen 212 Produktentwicklung 194 f Produktfehler 163 Produkthaftung 163 f Produktion 99, 195 Produktion, Form der 132 Produktion, just-in-time 265 Produktion, kooperative 259 Produktion, stille 77, 185, 192 Produktionsfaktoren 38, 203 Produktionskosten 274 Produktionsmittel 99, 189, 193 Produktionsprozesse 166, 180 Produktionsregime 175 ff Produktionsweisen 192 Produktivität 15, 37, 132, 215 Produkt-Markt-Perspektive 135 Produktstandards 180 profit center 16 Prognose 213, 246 property rights 206 Prophezeiung, selbsterfüllende 213 prosumer 194 Protentionen 36
335
Prothese 227 Protokolle 102 Protokollsätze 44 Prozesse 34, 84, 119, 167, 178, 182, 193, 208, 210, 215 f, 283 Prozessordnung 169 Prozessorganisation 121 Prozessualität 121 Psyche 39 Psychoanalyse 95, 107 f Psychologie 32 f, 108 Publikationsmedien 171, 175 punishment 254 Qualitätskontrolle 163 f Qualitätsmanagement 216 Qualitätssicherung 162, 164 f QWERTY 264, 267 Ratings 169 rational choice 193 Rational-Choice-Ansätze 211 Rationalisierungsvorhaben 215 Rationalismus 57, 64 Rationalität 38, 75, 80, 115, 125, 176, 191, 198, 211, 263, 270, 289 Rationalität, begrenzte 12, 117, 255 Rationalitäten, Kampf der 141 Rationalitätsfassaden 12 Rationalitätsfiktionen 279 Rationalitätsprinzip 284 Rationalwahlansatz 287 Raum 32, 36 ff, 43, 102 f, 124, 158, 175, 190 f, 198, 255, 264, 279, 280 Räumlichkeit 37 Realfiktionen des Rechts 179 Realität 239 ff Realität der Außenwelt 43 Realitätsbezug 287 f Realverhalten 230, 233 Rechenhaftigkeit 126 Recht 16, 28, 30, 32, 40, 50, 58, 65 f, 70 f, 75, 92 f, 97, 110, 155, 159, 163 f, 166-182, 207, 235, 237, 247, 251, 272, 285 f Recht, internationales 86 Rechtfertigung 51, 225, 258 Rechtfertigungsdruck 146 f Rechtsanwendung 176, 178 Rechtsbegriff, unbestimmter 167
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Rechtsdurchsetzung 158 Rechtsfiktion 240 Rechtsform 222 Rechtspolitik 173 Rechtsprechung 76, 79, 163-170, 180 Rechtsproduktion 176, 181 Rechtssystem 237, 272 Rechtstheorie 71 Rechtswesen 84 Reduktion, phänomenologische 228 Reduktionismus, psychologischer 268 re-entry 16, 166, 167, 176 f, 179 REFA 169 Referenten 59, 99, 110 Referenz 99, 107, 110, 186, 270 Referenzrahmen 124 reflexive monitoring of action 33, 123 Reflexivität 5, 32 f, 37, 39, 84, 116, 195, 283 Reflexivität der Moderne 33 Reform 168, 211, 215 Reformblockade 211, 218 Reformen 211 Reformstau 22 Regel und Ausnahme 23 Regel, formale 140 Regelanwendung 117, 139 Regelanwendungskompetenz 148 f Regelbefolgung 202, 234 Regelbildung 176 Regelmäßigkeit 103 f, 126, 149, 201 Regeln 14, 17, 21, 36 ff, 56, 70, 76 ff, 94, 98, 100 ff, 108, 115, 117 f, 124, 126, 133, 139, 141, 144, 148 ff, 154 ff, 159 f, 169, 172, 176, 185, 188 ff, 192, 199-208, 257, 263 Regelproduktion 178 Regelsystem 66 Regeltreue 170, 172 Regelungen 165 Regelungsinteressen der Produktionsregimes 178 Regelungswut 149 Regelverletzung 83, 144, 150, 234 Regelwerk 77, 140 f, 143 f, 172, 190, 204, 234 Regelwissen 201 f, 208 Regress der Kontexte, unendlicher 16 Regress, infiniter 124 Regulation 77, 168, 177, 179 Regulation, Theorie der 168 Regulationsbehörden 168 regulative Idee 80
Sachregister
Regulierungssysteme 170 Reifikation 270 Rekontextualisierung 111, 193 Rekursivität 5, 20, 31 ff, 37, 78, 84, 102, 104, 131 ff, 196, 199, 231, 250, 270 Rekursivität von Zweck und Mittel 37 Rekursivitäts- und Supplementaritätsbeziehungen 207 relational contract 175 Relativismus 6, 18, 45 f, 52, 69, 72, 85 f, 88-94, 118, 280 f, 285 Relativist 55, 90, 93 Relativität 69, 88, 90, 280, 285 f Relevanzen 238 Relevanzkriterien 103, 156 Reliabilität 248, 258 Relianz 7, 245, 248 f, 255 ff, 259 Relianzsystem 172 rent-seeking theory 135, 168 Reorganisation 188, 212 f, 215, 217 f Reorganisationsvorhaben 212 Repetition 103 Repräsentation 35, 99, 183, 258 Reproduktion 36, 67, 103, 105, 159 Reproduktionserfolg 263 f Reputation 14, 143, 231, 258 Reputationsaufbau 256 resistance to change 213 resource dependence approach 38 resource-based view 22, 38, 135, 187, 201, 207-209, 283 Ressource 21, 23, 36 ff, 98-103, 135, 140, 185-210, 212, 215, 231, 236 f, 292 Ressourcen als Kraft- und Machtpotentiale 204 Ressourcen(-verteilungen) 204 Ressourcen, allokative 14, 186 Ressourcen, autoritative 186 Ressourcen, einzigartige 187, 207 Ressourcen, In- und Output von 203 Ressourcen, intangible 202 Ressourcen, materielle und immaterielle 187 Ressourcen, natürliche 187 Ressourcen, nicht-imitierbare 207 Ressourcen, Nutzung der 207 Ressourcen, organisationale 206 Ressourcen, unverdiente 186 Ressourcenallokation 203 Ressourcen-Leverage 208 Ressourcennutzung 186
Sachregister
ressourcenorientierter Ansatz 210 Ressourcenpooling 206 Ressourcenpotentiale 187 Ressourcenverteilung 186, 204, 206 Ressourcenverteilung, asymmetrische 206 Resultat, unintendiertes 197 Retention 264 Reversibilität 127 reward 254 Rezept 209, 216 Rhetorik 15, 28, 50, 53, 75, 87, 119, 212, 281, 283 f Rhetorik-Kritik 50, 53 Richter, herkulische 71 Richterrecht 153, 164 ff, 169 Rigidität 152, 210, 279, 287 Rigorismus 89 Risiko 28, 32 Risikogesellschaft 32 Risikosoziologie 28 Riskanz 32, 195, 266 Rituale 265 role making 152, 154 f role taking 151 f, 155 role-person-merger 154 Rolle 151, 185 Rolle, informale 150 Rollenabweichung 155 Rollenambiguität 155 Rollenanforderungen 151, 154 Rollendistanz 152, 155 Rollenerwartungen 150, 152, 154 f Rollenkonflikt 150 Rollenkonformität 155 Rollenkonzept 154 Rollenspiel 159 Rollentheorie 6, 150 ff, 154 ff, 159 Rollenübernahme 151 f, 158 Routine 201, 210 Routine, Lob der 269 Routineentscheidungen 122, 124 Routiniertheit 201 Routinisierung 186 Rückeinspeisung 83 Rückgang in den Grund 130 Rückwirkungsverbot 17 Rückzug in den Code 99 Rückzug in den Text 108 rule following 12, 16, 81, 156, 234 runder Tisch 179
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Sanktion 104 Sanktionsmacht 144 satisficing 122, 284 Schein 31, 75, 184, 216, 224 ff, 230 Scheinheiligkeit 12, 166, 216, 232, 241, 280 Schema 133 f, 150, 155, 189, 237 Schemata 236 Schiedsgerichtsbarkeit, internationale 178 Schließung 18, 20, 166, 178, 197, 210, 233, 290 f Schließung, soziale 236 Schlüssel und Schloß 19, 22 schnelle Punkte 184 Schnitt in die Welt 126 Schnittstellenprobleme 181 Schrift 109 Schriftverkehr 102 Schwerkraft 122 science wars-Debatten 41 Scorecard 169 f, 184 screening 256 script 125 Seilschaften 257 sekundäre Produktion 99 Selbst- und Fremdbeschreibung 234 Selbstbeschreibung 231 Selbstbezüglichkeit 42, 84 Selbstbindung 22, 256 Selbst-Dekonstruktion 122, 212 Selbst-Dekonstruktion von Konventionen 81, 139 Selbstevaluation 179 Selbstidentität 68 Selbstorganisation 6, 78, 83, 105, 143, 150, 159 f, 169, 171, 179, 184, 198, 217 Selbstreferentialität 56, 65, 231, 239 f Selbstreferenz 65, 116, 175, 274, 276 f Selbstreflexivität 84, 117 Selbstregulation 168 Selbststeuerung 217 Selbstverpflichtung 166 selbstverstärkende Mechanismen 210 selbstverstärkende Prozesse 84 Selbstverstärkung 42, 57, 65, 83, 208 Selbstwiderspruch 62, 72 Selbstwidersprüche, performative 89 Selbstwidersprüchlichkeit 62 Selektion 18, 100, 146, 264, 285 Selektivität 210 sense-making 18, 23, 212 sensus communis 145, 149
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service 207 Setzung, performative 236 Seveso-II-Richtlinie 165 shirking 218 Sicherheit 28, 32, 126, 129, 164, 199, 241 Sicherheitsmanagement 165 Sichtbarkeit 182 Sich-Verlassen-auf 248 Signalling 256 Signifikation 38, 192, 224 Signifikationsordnung 284 Signifikationspraktiken 192 Singularität 181 Sinn 11, 18, 22, 34, 43 f, 77 f, 159, 179, 192 ff, 200, 215, 220 f, 223, 246, 273 Sinn, objektiver 200 Sinn, subjektiv gemeinter 204 sinnhafter Aufbau der sozialen Welt 15 Sinnkonstitution 16, 34, 271 Sinnkriterium 40, 44 Sinnlosigkeitssyndrom 283 Sinnprovinz 273, 286 Sinnselektion 273 Sinnträger 204 Sinnwelt 285 ff Sinnzusammenhang 188, 200 f, 204 Sinnzusammenhang, objektiver 200 Sinnzusammenhang, subjektiver 200 Sirene 22 Sisyphos 8, 23, 179, 209, 292 Situation 44, 66, 81 ff, 103, 117, 123 ff, 133, 140, 151 f, 154 f, 157, 189, 234, 252, 272 Situativer Ansatz 133 Skandale 183 Skeptizismus 72 Sklerose 21 slack, organizational 187, 210, 218 sleeping dog strategy 125 small events 83 social responsibility 166 social rule system approach 39 societas civilis 235 Soft Law 6, 162 Software-Häuser 192 Sokal’s hoax 9, 45 Solidarität 143, 175, 248 Solidarsystem 257 Solipsismus 43, 62, 119 Sollgeltung 233
Sachregister
Sorgfaltspflicht 164 soziale Ressource 203 soziale Struktur 107, 201 Sozialisierung 186 Sozialleistungen, betriebliche 121, 265, 280, 282 f, 285 Sozialpolitik, nationale 257 Sozialsysteme 171 Spandrillen 7, 80, 263 ff Sparquote 273 Spezifikation 132, 153, 155 f Spezifität 207 Sphinx 227 Spiel, organisationales 142 Spiele, kooperative 282 Spiele, Theorie iterativer 81, 83 Spielregel 72 Spieltheorie 199 spin doctors 237 Sprache 15, 18 ff, 36, 44, 55 f, 60, 62, 65, 69, 100, 102 f, 106, 108 f, 110, 121, 177, 194, 199 Sprache, Gebrauch von 192 Sprache, Hypostasierung der 239 Sprache, Selbstbezüglichkeit der 239 Sprachethik 284 Sprachgebrauch 91, 237 Sprachstrom 42, 65 Sprechakt 110, 194 Sprechakt, performativer 232, 236 Sprechsituation 69 Sprechsituation, ideale 78 Spur 49, 76, 101 f, 205, 258 stakeholder 166, 169 Standard 50, 179 f, 183, 236, 249 Standard, ineffizienter 179 Standard-Anwender 183 Standardisierung 6, 167 f, 173, 179 ff Standardisierungs- und Normalisierungsprozesse 177 Standardisierungsorganisationen 183 Standardisierungsverfahren 176, 180 f Standardlösung 181 Standards, Kosten der Etablierung von 180 Standards, Netzwerkeffekte von 179 Standardsoftware 192 Standort Deutschland 168 Starrheit 117 Statusinkonsistenz 203 Stellungskrieg 259
Sachregister
Stellvertretung 258 Steuergesetzgebung 285 Steuerung 212 Steuerung durch Medien 276 Steuerungsprozess 179 stocks of knowledge 206 Stoppregel 125 story-telling 15 straight jacket 22 Straßen- und Schienennetz 203 strategic assets 187, 207 Strategie 53, 60, 117, 223 Strategiefindung, Regeln der 209 Strategien, emergente 217 strategisches Management 7, 207 Streik 265 Streikanfälligkeit 265 structure follows strategy 121, 135 structure-conduct-performance 133 f Strudel 5, 42, 59, 65 f, 70, 75, 77 f, 80 Strukturalismus 57, 98, 105, 185, 206 Strukturation 5 f, 16 f, 31, 33, 35, 37, 39, 98, 100, 102 f, 206, 290 Strukturationstheorie 36 ff, 78, 96, 98, 110, 204, 284 Strukturbegriff 36, 38 f, 185 Strukturfunktionalismus 185, 206 Strukturwert 234 Stückkostenreduktion 126 Subjekt 15, 30 f, 36, 43, 45, 60, 95, 98, 107, 120, 196 f, 199 f, 227, 286 Subjekt, Dezentrierung des 98, 106 f Subjekt, perverses 290 Subjektbegriff 228 Subjektivität 229 Substantive 223 Subversion 74, 191, 201 Suche, Grenzkosten der 147 Suchparadox, platonisches 145 sucker’s pay-off 254 sunk costs 127, 203, 218 Supplément 6, 76, 78, 80, 93, 102, 115, 127, 132, 143, 149, 150 f, 155, 164, 169, 172, 177, 189 f Supplément, Logik des 129 Supplementarität 20, 75, 79, 133, 142, 199, 201 Supplementierung 81, 164 ff, 169 f, 174, 195 Symbol 116, 158 System, politisches 278 Systeme, soziale 227
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Systeme, Theorie dynamischer, komplexer, adaptiver 178 systemischer Imperativ 83 Systemtheorie 206 Taken for granted 11 taking the role of the other 151 talk, decision, and action 117 Tasten 19 Tatsachen, soziale 186 Tausch 76, 144, 205, 247, 270, 277, 280 Tausch von Handlungsmöglichkeiten 144 Tausch, mikropolitischer 140 Täuschung 46, 58, 228 f, 231, 239, 241 Täuschungen 240 Taylorismus 15 Technik 7, 77, 99, 163, 193, 227, 286, 290 Technik, Stand der 166 Technikforschung 38, 41, 77, 193 Technikgenese 193 f Technikgeneseforschung 137 Technischer Überwachungsverein 169 Technologie 116, 171, 179, 241 Techno-Wissenschaft 35, 99 Teilnahmeentscheidung 235 Teilsysteme, funktional differenzierte 161, 238 Teleologie 70, 92, 225 Tele-Technologie 35, 99 Telos 69 f, 94, 225 Telos der Verständigung 69 Temporalisierung 83, 198 Temporalität 98, 121 temptation 254 Text 16, 45 f, 51, 55, 68, 78, 90, 99, 106, 108 ff, 192, 200, 220 f, 239, 273 Textbegriff 108 textual relativism 107 Themen 238 Theorie der Selbstorganisation 78 Theorie der Unternehmung 14, 284 Theorie iterativer Spiele 81, 83 Theorie kommunikativen Handelns 110 Theorie, kritische 61 Theoriefiktion 122, 279 theory of the firm 14 Thora 50 time measurement unit 21 time to market 21 Times Literary Supplement 46
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Titanic 32 totalisierende Kritik 71 Totalitarismus 62 Tradition 31, 37, 190 Trägheit von Organisationen 211, 266 Trailer 194 Trajektorie 20, 22, 178, 197, 199 Trajektorien des Gebrauchs 7, 197 transaction cost approach 289 Transaktion 117, 173, 175, 272, 274, 276 f Transaktionsbegriff 271, 274, 277 Transaktionskosten 13 f, 265, 274, 276, 280, 282 Transaktionskostentheorie 13, 173, 276 Transaktionsspezifität 21, 211 Transparenz- und Publizitätsgesetz 168 TRIPS (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights) 237 Trittbrettfahrerei 173 Trost 66 f, 250, 257, 261 trust 249 trust, organizational 172 trustworthiness 248 Tschernobyl 32 tu quoque 72 tun-als-ob 231 Typen 15, 154 ff, 170, 177, 218 Typisierungen 199, 201 Typus 72, 155, 188, 200 Überdetermination 283 Über-Ich 107 Überich-Formation 154 Übersprunghandlung 38 Übertretung 157 Überwachungssystem 165 Uhrmacher, blinder 264 umbilicus 264, 266 UMTS 194 Umwelt 12, 16 f, 81, 130 f, 199, 227, 259, 270, 274 Umwelt, innere Modelle der 81 Umzu-Dinge 200 Um-zu-Motive 12 UN Global Compact 87 Understanding Origins 82 Unentscheidbarkeit 81 ff, 255 Unfallverhütungsvorschriften 168 Ungewissheit 83 Ungleichheit 206 Universalismus 6, 89, 92 ff
Sachregister
Universalismus, diskursethischer 93 Universalität 90, 93 Universitäten 211 Unsagbares 74 Unsicherheit 16, 240, 255, 284 Unsicherheitsabsorption 212 Unteilbarkeit 209 Unterbewusstes 108 Unternehmenshaftung 163 Unternehmung 5, 13 ff, 38, 163, 165 f, 173, 209, 232, 265, 276 f Unternehmung als Nexus von Verträgen 173 Unternehmungsberatung 147, 167, 169, 213 Unternehmungsführung 165 Unternehmungsnetzwerke 15, 259 Unternehmungsphilosophie 17, 212 Unternehmungsverfassung 166 Unterschied, gattungsspezifischer 49, 70 Unübersichtlichkeit 49, 117, 171 f Unverständlichkeit 60 Unvollkommenheit von Verträgen 173 Unvollkommenheit, Prinzip der 264 Ursache 30, 122, 128, 158 Urschrift 50 Ursprungsdenken 50, 62, 122 Ursprungsmythen 130 Ursprungsphilosophie 34, 50 Urteilskraft 145, 170 Ur-Text 156 Uruguay-Runde 237 User 195 Verantwortlichkeit 79, 291 Verantwortung 127, 179, 223 Verdinglichung 83, 121, 224, 289 ff Verdrängung 46, 108 Vererbung, mendelsche 263 Vererbung, lamarcksche 263 Verfahren 87 Verfahren, Legitimation durch 170 Verfahrensweisen 204 f Verfassungsbruch 225 Vergangenes 101, 258 Verhaltenserwartungen 151 f, 155 verification, rituals of 179 Verifizierbarkeit 182 Verlässlichkeit 149, 172, 181, 246, 248 f, 253, 255 f Vermögen 73, 186, 202, 207 Vernunft 12, 30, 62, 66, 69, 71, 76, 78, 92 f, 102
Sachregister
Vernunft, prozedurale 76 Vernunftbegriff 66 Vernunftkritik 49, 92 Verordnung 148 f Verrechtlichung 173, 178 Verriegelung 5, 17, 22, 178 Verschiebung 31, 81, 93, 99, 102, 133, 140, 151159, 172 f, 181, 209, 212 Versprechen 70, 232 f, 248 Verständigung 69, 82, 159 f Verständigung als Strategie 160 Verstehen 19, 40, 57, 60, 79, 281 Verstehensunterstellung 160 Verteilung 186, 191, 203, 206 Vertrag 173, 175, 233, 237 Vertragsfreiheit 173 Vertragswelten 174 f Vertragswesen, internationales 178 Vertrauen 7, 14, 68, 143, 172, 225, 243, 245-261, 280 Vertrauen als Effekt 255 Vertrauensakte 246 Vertrauensbegriff 247 Vertrauensbildung 247, 249 Vertrauensgüter 258 Vertrauenskapital 257 Vertrauensorganisation 259 Vertrauenssysteme 172 Vertrauenswürdigkeit 246 ff, 252, 256 ff Verwaltungsentscheidung 177 Verzeitlichung 81, 99, 140 Viabilität 37, 120 Vieldeutigkeit 220, 279, 283, 287 f Vielfalt, kulturelle 159 virtual order of modes of structuring 36 Völkerrecht 170 Vorgriff 240 Vorschrift 81 Vorwand 16 (Vor-)Würfe 240 Wahl 56, 63, 126, 146, 227, 246, 292 f Wahl, rationale 253 Wahlakt 15, 286 Wahrnehmung 19, 21, 81, 96, 107, 130, 140, 196, 202, 219 f, 236 ff, 260 Wahrnehmungsfähigkeit 182, 202 Wahrnehmungszyklus 236 Wandel 103, 121, 157, 264
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Wandel, organisatorischer 211 Wandel, sozialer 225 ways of making use of resources 187 ways of worldmaking 130 Weil-Motive 12 Weiterbildungsabstinenz 282 Welt, Organisation der 39 Welt, wirkliche 287 Weltbezug, gebrochener 18, 286 f Weltbilder 160, 285 Welterschließung 5, 11, 15, 17, 22, 71, 166, 192, 279 Weltgesellschaft 174 Wende, linguistische 18, 20 Wende, phänomenologische 273 Werbung 21 Werkverträge 276 Werte 55, 81 f, 104, 142, 150, 154, 158, 175, 197, 250 f, 268 Werte als Effekt 158 Wertehimmel 155, 197 Wertkonsens 104 Werttheorie, Marxsche 277 Wertwiderspruch 269 Wettbewerbsvorteil 257 Widerstand 211, 213 Widerständigkeit der Welt 240 Widerstreitseinheit 223 Wiedergänger 5, 27, 29 f, 32, 39 Wiederholbarkeit 126, 204 Wiederholung 69, 103, 125, 181, 202, 204, 212, 224, 266, 292 Wildern 7, 187, 191 f, 200 Willkür 15, 133, 144, 157 Wirklichkeit, Konstruktion der 126 Wirklichkeitsbezug 18, 279, 287 f Wirklichkeitskonstruktion 177 Wirklichkeitsverlust 239 Wirkungen, typische 200 Wirtschaft 238 Wirtschaftlichkeit 14, 132 Wirtschaftlichkeitsanalysen 240 Wirtschaftlichkeitsprinzip 121, 131 f Wirtschaftsordnung 270 Wirtschaftsorganisation 271 Wirtschaftsprüfer 258 Wirtschaftssystem 272 ff, 278 Wirtschaftswissenschaft 17, 274
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Wissen 21, 33, 56, 74, 101, 123, 125, 130, 149, 186, 193, 202 f, 206, 208 ff, 215, 245, 247, 269 Wissen, implizites 125, 247 Wissen, lokales 215 Wissen, praktisches 208 Wissensbestand 210 Wissenschaftssoziologie 42 Wissenssoziologie 42, 65, 284 Wissensspuren 101 Wohlstrukturiertheit 201 World Trade Organization 178, 237 Wozuding 188 Zählen-als 232 f Zahlung 270, 272, 274 Zappen 194 Zeichen 12, 15, 17, 36, 99, 116, 121, 204 Zeichenträger 12 Zeit 36 ff, 99 f, 102 f, 123, 158, 215, 221 f, 229 Zeitlichkeit 37 Zeit-Raum-Bindung 38 Zentrum 63 f, 75, 107, 187, 240 Zeremonien 116, 136 Zertifikat 162, 256, 258 Zertifizierung 164 Zeugenschaft 7, 258 Ziel 170 Zielforschung 268
Sachregister
Zielsuche 126 Zielvereinbarungen 213 Zielverschiebung 177 Zielwechsel 235 Zins 290 Zirkel des Anfangs 133 Zirkel, hermeneutischer 76 Zirkel, kreativer 155 Zirkelschluss 68 Zirkularität 20, 32, 42, 76, 78, 82, 188, 249 Zivilrecht 162 zone of indifference 144 Zonen des Schweigens 21 Zonen tolerierter Differenz 141, 144, 157 Zulieferer 126 Zurechnung 230, 240 Zurechnungsfähigkeit 153, 232 f Zustände, die wesentlich Nebenprodukt sind 215, 247 zustimmungspflichtige Geschäfte 168 Zuverlässigkeit 245, 266 Zwangsanstalt, staatliche 173 Zwangsarbeit 223 Zweck und Mittel 37 Zweckbegriff 13, 268 f Zweckbesetzung 265 Zwischenlager 265 Zyklon B 222