Silvia Schneider, Jürgen Margraf (Hrsg.) Lehrbuch der Verhaltenstherapie Band 3: Störungen im Kindes- und Jugendalter
Silvia Schneider Jürgen Margraf (Hrsg.)
Lehrbuch der Verhaltenstherapie Band 3: Störungen im Kindes- und Jugendalter
Mit 134 Abbildungen und 95 Tabellen
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Prof. Dr. Silvia Schneider Klinische Kinder- und Jugendpsychologie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstraße 60–62 4055 Basel, Schweiz
Prof. Dr. Jürgen Margraf Klinische Psychologie und Psychotherapie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstraße 60–62 4055 Basel, Schweiz
ISBN 978-3-540-79544-5 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2009 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Annette Allée, Dinslaken, Dr. Astrid Horlacher, Dielheim Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg SPIN: 10998915 Gedruckt auf säurefreiem Papier
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Vorwort Warum Lehrbuch, warum Neuauflage? Die Verhaltenstherapie befindet sich in ständiger Weiterentwicklung. Während sich Anfang der 1960er Jahre noch mancher fragte, ob denn überhaupt genügend Substanz für eigene Zeitschriften oder Handbücher vorhanden sei, ist heute die Informationsflut kaum noch zu übersehen. Mittlerweile ist die Verhaltenstherapie die am besten abgesicherte Form von Psychotherapie, bei vielen Störungen ist sie die Methode der Wahl. Dennoch sind Patienten, Fachleute und Administrationen unzureichend informiert und wird kompetente Verhaltenstherapie nach wie vor zu selten angeboten. Mit seinen ersten beiden Auflagen 1996 und 2000 hatte sich das Lehrbuch der Verhaltenstherapie die Aufgabe gestellt, die wachsende Bedeutung der Verhaltenstherapie in Versorgung, Ausbildung und Forschung adäquat abzubilden. Zusammen mit den Autoren freuen sich die Herausgeber sehr, dass Umfragen bei Universitäten, Ausbildungsinstituten und klinischen Einrichtungen zeigen, dass das Lehrbuch nicht nur nahezu flächendeckend in Lehre und PsychotherapieAusbildung eingesetzt wird, sondern auch in der klinischen Praxis weit verbreitet ist. Die anhaltende Weiterentwicklung macht nun eine neue Auflage des Lehrbuches notwendig. Diese soll sicherstellen, dass die Verhaltenstherapie umfassend und auf dem neuesten Wissensstand dargestellt wird. Dabei werden erneut Grundlagen, Forschung, Praxis und Rahmenbedingungen behandelt. Besondere Aufmerksamkeit gilt der praxisrelevanten Darstellung des konkreten therapeutischen Vorgehens sowie der Verankerung der Therapieverfahren in der klinischen Grundlagenforschung. Daneben soll erstmals explizit auch die Verhaltenstherapie bei Störungen des Kindes- und Jugendalters in einem eigenen Band behandelt werden. Aus diesem Grund fungiert auch Silvia Schneider, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Basel, als Herausgeberin. Darüber hinaus werden in einem künftigen vierten Band zu den Themen der ersten drei Bände die notwendigen konkreten Werkzeuge (z. B. Anschauungsmaterial, Fragebogen, Patientenmerkblätter) für den alltäglichen therapeutischen Gebrauch kompakt zur Verfügung gestellt. Insgesamt geht die Neuauflage deutlich über eine bloße Aktualisierung hinaus. Sie stellt eine wesentliche Erweiterung dar, die notwendig ist, um dem faszinierenden Gebiet der Verhaltenstherapie und ihren Grundlagen gerecht zu werden.
Warum der Begriff »Verhaltenstherapie«? Die meisten Psychotherapeuten betrachten sich als Eklektiker, und der Wunsch nach einer Überwindung des Schulenstreites und dem Aufbau einer »allgemeinen Psychotherapie« ist weit verbreitet. Warum also nicht ein Lehrbuch der allgemeinen Psychotherapie? Aussagen zu einer allgemeinen Psychotherapie können leicht auf einem so hohen Abstraktionsniveau liegen, dass sie kaum noch konkrete Inhalte aufweisen. Zudem erscheint es uns nicht sinnvoll, eine nur oberflächliche Gemeinsamkeit vorzugeben. Ob die breite psychotherapeutische Grundorientierung, die die Verhaltenstherapie heute ist, einmal mit anderen Ansätzen zu einer »allgemeinen Psychotherapie« zusammenwachsen wird, ist nicht absehbar. Fraglich ist auch, ob der Psychotherapie anders als anderen Wissenschaften jemals der große Wurf einer »allgemeinen« Theorie gelingen kann (man denke nur an die Physik). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die psychotherapeutischen Grundorientierungen jedenfalls zu unterschiedlich, als dass sie problemlos zusammengeführt werden könnten. Darüber hinaus sind Konkurrenz und gegenseitige Kritik ein wichtiger Entwicklungsantrieb, wie nicht zuletzt die Geschichte der Verhaltenstherapie zeigt. Als genuin psychologischer Heilkundeansatz könnte die Verhaltenstherapie mit besonderem Recht als psychologische Behandlung oder (in der Sprache des deutschen Psychotherapeutengesetzes) als psychologische Psychotherapie bezeichnet werden. Andererseits hat sich Verhaltenstherapie als Begriff eingebürgert, ist quasi ein »Markenbegriff« geworden, unter dem sich immer mehr Menschen etwas vorstellen können. Der Begriff und die ihm innewohnende Tradition sollten daher nicht leichtfertig aufgegeben werden. Auch eine genauere Festlegung einer bestimmten Ausrichtung (z. B. »kognitive Verhaltenstherapie«) erscheint uns für ein umfassendes Lehrbuch wenig sinnvoll. Verhaltenstherapeutische und kognitive Verfahren sind Teile einer gemeinsamen Grundströmung, deren wichtigste gemeinsame Klammer die Fundierung in der empirischen Psy-
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Vorwort
chologie ist. Folgerichtig wird in Studium und postgradualen Ausbildungsgängen zwischen kognitiven und verhaltensorientierten Methoden nicht stärker unterschieden als innerhalb der Gruppe der kognitiven und oder der verhaltensorientierten Verfahren. Deshalb wird im vorliegenden Lehrbuch darauf verzichtet, eine neuere oder »modernere« Form begrifflich abzugrenzen. Allerdings muss die Auffassung von Verhaltenstherapie, die dem Lehrbuch zugrunde liegt, explizit kenntlich gemacht werden. Dies geschieht ausführlich in dem einleitenden Kapitel von Band 1 »Hintergründe und Entwicklung«.
Warum in dieser Form? Die Differenziertheit der Verhaltenstherapie stellt hohe theoretische und praktische Ansprüche an diejenigen, die sie ausüben. Ihre kompetente Anwendung setzt daher eine fundierte Ausbildung voraus. Diese muss nicht nur Grundlagenwissen aus der Psychologie und ihren Nachbardisziplinen, sondern auch klinisch-psychologisches Störungs- und Veränderungswissen sowie hinreichend konkrete Anwendungsfertigkeiten vermitteln. Wenngleich kein Lehrbuch alle diese Punkte umfassend abdecken kann, so wird doch die Aufbereitung des Wissensstandes in einem praxisorientierten Rahmen einen Beitrag zur besseren Verfügbarkeit leisten, so dass mehr Menschen von den in der verhaltenstherapeutischen Forschung erzielten Fortschritten profitieren können. Da die Verhaltenstherapie heute von keinem Einzelnen mehr im Detail überblickt werden kann, wurde eine Gruppe von Experten aus dem deutschsprachigen und internationalen Raum als Autoren gewonnen. Die der großen Autorenzahl innewohnende Vielfalt kann eine Stärke, aber auch ein Problem darstellen. Durch Vorgabe gemeinsamer Richtlinien und intensive Bearbeitung haben Herausgeber und Verlag versucht zu erreichen, dass sich vor allem die positiven Seiten der Vielfalt auswirken. Der beachtliche Umfang des demnächst vierbändigen Lehrbuches geht dabei sowohl auf die große Differenziertheit der Verhaltenstherapie als auch auf den Wunsch zurück, die Beiträge hinreichend konkret für die praktische Umsetzung zu gestalten. Auch wenn dies manchmal schwerer als erwartet war, hoffen wir doch, dass wir uns unserem Anspruch angenähert haben. Der neue Band zu Kindern und Jugendlichen trägt der Bedeutung dieses vernachlässigten Gebietes für das Gesundheitswesen Rechnung. Dies wird nicht zuletzt durch neue Forschungsbefunde aus Epidemiologie und Risikoforschung unterstrichen: Demnach sind psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters ähnlich häufig wie die des Erwachsenenalters und zudem wichtige Risikofaktoren für das Auftreten psychischer Störungen des Erwachsenenalters. Gleichzeitig hat es in den letzten Jahren eine erfolgreiche Weiterentwicklung in der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen gegeben. Ziel des neuen Bandes ist es daher, das Wissen um die moderne verhaltenstherapeutische Behandlung im Kindes- und Jugendalter einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen. Die im künftigen Band 4 geplante kompakte Zusammenstellung der konkreten Arbeitswerkzeuge für den alltäglichen psychotherapeutischen Gebrauch ist im deutschsprachigen Raum vollkommen neu. Bisher bieten Fachbücher höchstens Materialien zu einigen wenigen Störungsbildern, so dass für den Praktiker umfassende Buchsammlungen notwendig sind, um die wichtigsten Themen abzudecken. Außerdem sind Materialien zu einer Störung oft nicht umfassend, sondern beinhalten nur einzelne der benötigten Kategorien: Fragebogen, Anschauungsmaterial oder Patientenmerkblätter etc. Daneben müssen sich die Praktiker oftmals benötigte störungsübergreifende Materialien aus unterschiedlichen Quellen zusammensuchen. Im vierten Band des Lehrbuchs für Verhaltenstherapie, der im Moment in Vorbereitung ist, sollen deshalb überwiegend von den Autoren der ersten drei Bände störungsspezifische und störungsübergreifende Materialien für die psychotherapeutische Praxis vorgestellt werden (z. B. Anschauungsmaterial, Arbeitsanweisungen, Patientenmerkblätter, Fragebogen, allgemeine Informationen).
An wen wendet sich das Lehrbuch? Das Lehrbuch wendet sich vor allem an Studenten, Ausbildungskandidaten, Praktiker und Forscher aus den Bereichen klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie sowie deren Nachbardisziplinen. Darüber hinaus sollen auch Interessenten aus Gesundheits- und Erziehungswesen, Kostenträgern, Verwaltung und Politik angesprochen werden. Die einzelnen Kapitel sollen möglichst auch ohne Bezug auf den Rest des Buches verständlich sein, was natürlich manchmal auf Grenzen stößt. Weiterführende Literaturempfehlungen, ein aus-
VII Vorwort
führliches Glossar und ein praktischer Anhang (mit Informationen z. B. zu Fachgesellschaften, Fachzeitschriften etc.) sowie der künftige Band 4 mit seinen Therapiematerialien sollen die Nutzbarkeit erhöhen. Das Lehrbuch wurde nicht in erster Linie für Patienten und ihre Angehörigen geschrieben. Bücher reichen als Therapie meist nicht aus, sie können aber sehr wohl über Therapie informieren. Solche Informationen können nützliche Entscheidungsgrundlagen sein. Für den knappen Überblick stehen im deutschsprachigen Raum mehrere populärwissenschaftliche Bücher zur Verfügung. Wenn jedoch Umfang, Preis oder Fachsprache nicht abschrecken, spricht auch nichts gegen die Lektüre eines Lehrbuches. Sollte eine Behandlung angebracht sein, wird es in der Regel aber sinnvoll sein, die schriftlichen Informationen noch einmal persönlich mit Therapeut oder Therapeutin zu besprechen.
Aufbau und Gestaltung des Lehrbuches Das Lehrbuch besteht aus vier einander ergänzenden Bänden, die folgendermaßen aufgebaut sind: Band 1: Verhaltenstherapie – Grundlagen und Verfahren Grundlagen – Diagnostik – Verfahren – Rahmenbedingungen Band 2: Verhaltenstherapie – Störungen im Erwachsenenalter Störungen – Spezielle Indikationen – Glossar Band 3: Verhaltenstherapie – Störungen im Kindes- und Jugendalter Spezifische Grundlagen für die VT mit Kindern und Jugendlichen – Verfahren – Spezifische Störungen – Spezielle Indikationen – Rahmenbedingungen Band 4: Therapiematerialien (in Vorbereitung) Störungsspezifische und störungsübergreifende Therapiematerialien zu allen relevanten Themenbereichen der ersten drei Bände Die praktische Arbeit mit dem Lehrbuch wird durch ausführliche Sachwort- und Autorenregister sowie ein umfassendes Glossar erleichtert. Die Methoden-, Störungs-, Diagnostik- und Grundlagenkapitel folgen einheitlichen Gliederungen, deren zentrale Elemente im folgenden Kasten dargestellt sind. Da jede Regel schädlich werden kann, wenn sie zu dogmatisch ausgelegt wird, konnten die Autoren aber im Einzelfall von diesen Vorgaben abweichen.
Aufbau der Verfahrenskapitel 1. 2. 3. 4. 5.
Theoretische Grundlagen Praktische Voraussetzungen und Diagnostik Darstellung des Verfahrens Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen (Indikationen und Kontraindikationen) Empirie: Wirkmechanismen und Effektivität
Aufbau der Diagnostikkapitel 1. Hintergrundwissen 2. Praktische Hinweise für den Einsatz 3. Grenzen und typische Probleme
Aufbau der Störungskapitel 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Darstellung der Störung Modelle zu Ätiologie und Verlauf Diagnostik Therapeutisches Vorgehen Fallbeispiel Empirische Belege
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Vorwort
Zwei Bemerkungen zur Terminologie: 4 Es gibt verschiedene Wege, das Problem unangemessener geschlechtsspezifischer Begrifflichkeiten anzugehen. Am wenigsten geeignet erscheinen uns Doppelnennungen, Schrägstrichlösungen oder das große »I«. Sofern die Geschlechtszugehörigkeit keine spezielle Rolle spielt, werden im vorliegenden Lehrbuch Begriffe wie »Patient« oder »Therapeut« grundsätzlich geschlechtsneutral verwandt, betreffen also stets beide Geschlechter. Abweichungen von dieser Regel werden explizit vermerkt. 4 Dem in der Medizin etablierten Patientenbegriff wurde im Zuge der Kritik am »medizinischen Modell« vorgeworfen, er drücke ein Abhängigkeitsverhältnis aus und entspreche nicht dem Ideal des aufgeklärten, mündigen Partners in der therapeutischen Beziehung. Als Alternative wurde mancherorts der Klientenbegriff vorgeschlagen, der frei von den genannten Bedeutungen sein sollte. Aufschlussreich ist hier die Wortgeschichte [vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (22. Aufl.). Berlin: De Gruyter, 1989]. »Patient« bedeutet wortwörtlich »Leidender«. Im 16. Jahrhundert wurde der Begriff aus dem lateinischen »patiens« (duldend, leidend) gebildet, um kranke oder pflegebedürftige Personen zu bezeichnen. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde »Klient« ebenfalls aus dem Latein entlehnt (von »cliens«, älter »cluens«). Die wörtliche Bedeutung dieses Begriffes lautet »Höriger« (abgeleitet vom altlateinischen Verb »cluere«: hören). Klienten waren ursprünglich landlose und unselbstständige Personen, die von einem Patron abhängig waren. Dieses Abhängigkeitsverhältnis bedingte zwar gewisse Rechte (z. B. Rechtsschutz durch den Patron), vor allem aber eine Vielzahl von Pflichten. Drei Gründe sprachen demnach für die Verwendung von »Patient« anstelle von »Klient«: 5 Die tatsächliche Bedeutung des Begriffes »Klient« widerspricht der erklärten Absicht seiner Einführung. 5 Eine bloße terminologische Verschleierung des teilweise realen »Machtgefälles« zwischen Behandelnden und Behandelten ist wenig sinnvoll. 5 Der Begriff »Patient« beschreibt adäquat das Leiden hilfesuchender Menschen.
Danksagungen Ein Projekt wie das vorliegende Lehrbuch erfordert umfangreiche Unterstützung, die wir anerkennen und für die wir uns bedanken möchten. Die Neuauflage des Lehrbuches hat in ganz besonderer Weise von der Kompetenz, Geduld und positiven Ausstrahlung von Eva Wilhelm profitiert. Ihre Mitarbeit war ein enormer Gewinn. Daneben haben auch Frank Wilhelm, Claudia Arnold, Helen Kessler, Sonja Hilbrand und Martina Tremp an der Universität Basel tatkräftig geholfen. Sehr herzlich möchten wir uns bei den Autoren der Kapitel bedanken, die manchmal viel Geduld aufbrachten (wegen Anpassungen an das Gesamtkonzept, langwierigen Überarbeitungen oder Zeitverzögerungen durch die unvermeidbaren Nachzügler). Unsere Entschuldigung gilt denjenigen, die die Terminvorgaben einhielten, unser zusätzlicher Dank denen, die wegen Krankheiten oder anderer Unwägbarkeiten kurzfristig »einsprangen«. Ihre Ausdauer ganz besonders unter Beweis gestellt haben Renate Scheddin, die das Projekt beim Springer-Verlag kompetent betreute, sowie Renate Schulz, Annette Allée und Christine Bier, die das sachkundige Lektorat besorgten. Alle zusammen haben wir den Patienten zu danken, deren aktive Mitarbeit in der Verhaltenstherapie besonders wichtig ist. Für die langjährige Unterstützung unserer Forschung zur Verhaltenstherapie durch Sachbeihilfen und Personalmittel danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem deutschen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) und dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Während unserer Marburger Zeit profitierten wir sehr von der aktiven, uneigennützigen Förderung durch unsere damalige Chefin Irmela Florin und vom Austausch mit den dortigen Kollegen. Später bot uns die TU Dresden ein anregendes Umfeld, wobei der Aufbau der klinischen Psychologie und Psychotherapie der tatkräftigen und entscheidungsstarken Unterstützung durch die Universität viel verdankte. Der Aufbau eigener verhaltenstherapeutischer Ambulanzen in Marburg, Dresden und Basel, die Zusammenarbeit mit psychosomatischen, verhaltensmedizinischen und psychiatrischen Kliniken, insbesondere der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel unter der Leitung von Franz Müller-Spahn, der ständige Kontakt mit niedergelassenen Kollegen und die jahrelange Tätigkeit in der psychotherapeutischen Fortund Weiterbildung gaben ebenfalls wesentliche Impulse, die ihren direkten Niederschlag in Kon-
IX Vorwort
zeption und Autorenschaft des Lehrbuches fanden. Um den fruchtbaren Austausch fortzusetzen, möchten wir ausdrücklich darum bitten, Rückmeldungen oder Vorschläge an unsere im Innenumschlag angegebene Anschrift zu schicken. In den ersten beiden Auflagen galt der Dank zudem den Mitarbeitern der Klinischen Psychologie und Psychotherapie an der TU Dresden, allen voran Kerstin Raum für die organisatorische Koordination sowie Frank Jacobi, Klaus Dilcher, Juliane Junge und Heiko Mühler. Im SpringerVerlag leistete Heike Berger zusammen mit Stefanie Zöller, Bernd Stoll, Renate Schulz, Simone Ernst, Miriam Geissler und Regine Körkel-Hinkfoth tatkräftige Hilfe. Das vorliegende Buch ist ein Projekt, das uns besonders am Herzen liegt, widmen möchten wir es unseren Eltern. Silvia Schneider und Jürgen Margraf Riehen, im Frühjahr 2009
Lehrbuch der Verhaltenstherapie: Das Lehrbuch besteht aus vier einander ergänzenden Bänden, die jedoch auch unabhängig voneinander genutzt werden können. Die Bände haben folgende Inhalte:
Band 1: Verhaltenstherapie – Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen 4 4 4 4 4 4
Grundlagen Diagnostik Verfahren Rahmenbedingungen Personenverzeichnis Sachverzeichnis
Band 2: Verhaltenstherapie – Störungen im Erwachsenenalter – Spezielle Indikationen – Glossar 4 4 4 4 4 4
Störungen im Erwachsenenalter Spezielle Indikationen Glossar Anhang Personenverzeichnis Sachverzeichnis
Band 3: Verhaltenstherapie – Störungen im Kindes- und Jugendalter 4 4 4 4 4 4 4
Spezifische Grundlagen für die Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen Verfahren Spezifische Störungen Spezielle Indikationen Rahmenbedingungen Personenverzeichnis Sachverzeichnis
Band 4 (in Vorbereitung): Therapiematerialien zu den relevanten Themen der ersten drei Bände 4 4 4 4
Störungsspezifische Therapiematerialien Störungsübergreifende Therapiematerialien Personenverzeichnis Sachverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis Band 3 I Spezifische Grundlagen für die Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen
III Spezifische Störungen 19 Regulationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295
Dieter Wolke
1 Entwicklungspsychologische Grundlagen . . . .
3
20 Bindungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sabina Pauen, Eva Vonderlin
2 Entwicklungspsychopathologie. . . . . . . . . . . . Franz Petermann, Franziska Damm 3 Biologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Konrad 4 Klinische Bindungsforschung . . . . . . . . . . . . Margarete Bolten 5 Klinisch-psychologische Familienforschung . . Meinrad Perrez, Guy Bodenmann 6 Medien und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claude Messner 7 Klassifikation psychischer Störungen . . . . . . Andrea Suppiger, Silvia Schneider 8 Diagnostisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . Carmen Adornetto, Silvia Schneider 9 Entwicklungsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Alexander Grob, Priska Hagmann-von Arx, Nancy M. Bodmer 10 Psychotherapieforschung . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Döpfner
23
21 Autistische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
331
Fritz Poustka .
43
22 Intellektuelle Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . .
.
55
23
.
77
24
.
95
.
111
.
123
.
145
Germain Weber, Johannes Rojahn Stottern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Fiedler Enuresis und Enkopresis . . . . . . . . . . . . . Susanne Schreiner-Zink, Pia Fuhrmann, Alexander von Gontard Lese-/Rechtschreibstörung . . . . . . . . . . . Karin Landerl Aufmerksamkeitsstörung . . . . . . . . . . . . Peter F. Schlottke, Ute Strehl, Gerhard W. Lauth
351
....
367
....
381
....
395
....
411
27 Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
429
25 26
Manfred Döpfner
28 Störungen des Sozialverhaltens . . . . . . . . . . . .
159
29
..............
503
..............
531
..............
555
..............
573
34 Generalisierte Angststörung . . . . . . . . . . . . . .
593
31 32 183
33
Michael Borg-Laufs
12 Psychoedukation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Franz Petermann, Judith Bahmer
13 Operante Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
209 221
233 243
647
38 Depression/Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . .
663
Patrick Pössel
39 Adipositas und Binge Eating Disorder . . . . . . . 255
Nina Heinrichs, Kurt Hahlweg
18 Familienintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37 Ticstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Döpfner
Ulrike Petermann, Johanna Pätel
17 Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . .
629
Michael Simons
Veronika Brezinka
16 Entspannungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . .
609
Markus A. Landolt
36 Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gerhard W. Lauth, Katja Mackowiak
15 Computerspiele in der Verhaltenstherapie mit Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tina In-Albon
35 Posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . .
Friedrich Linderkamp
14 Kognitive Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
453 481
II Verfahren 11 Erstkontakt und Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . .
Friedrich Lösel, Daniela Runkel Trennungsangst . . . . . . . . . Silvia Schneider, Judith Blatter Spezifische Phobien . . . . . . Barbara Schlup, Silvia Schneider Soziale Phobie . . . . . . . . . . Siebke Melfsen, Andreas Warnke Selektiver Mutismus . . . . . . Siebke Melfsen, Andreas Warnke Prüfungsängste . . . . . . . . . Lydia Suhr-Dachs
..............
30
Fritz Mattejat
313
Ute Ziegenhain
277
689
Simone Munsch
40 Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
719
Beate Herpertz-Dahlmann, Reinhild Schwarte 41 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leonie Fricke-Oerkermann
739
XII
Inhaltsverzeichnis
42 Substanzmissbrauch und -abhängigkeit . . . . . Eva Hoch, Roselind Lieb 43 Neurodermitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Viktoria Ritter, Ulrich Stangier 44 Chronischer Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Kröner-Herwig 45 Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Warschburger
763
V Rahmenbedingungen 785 803
52 Verhaltenstherapie in der Pädiatrie . . . . . . . . .
819
53 Verhaltenstherapie in der Pädagogik . . . . . . . .
843
Silvia Schneider
865
56 Supervision in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001 Fritz Mattejat, Kurt Quaschner
57 Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015
Franz Moggi
49 Verhaltenstherapie und psychopharmakologische Behandlung . . . . . .
55 Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie in Deutschland, der Schweiz und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . 987 Josef Könning, Tina In-Albon, Bibiana Schuch
855
Beate Schwarz
48 Kindesmisshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
975
Jürg Forster
IV Spezielle Indikationen
47 Kinder nach Trennung und Scheidung . . . . . . .
959
Ulrike Petermann, Mara Zoe Krummrich
54 Berufsethische und rechtliche Aspekte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen . . .
46 Kinder psychisch kranker Eltern . . . . . . . . . . .
937
Meinolf Noeker
887
Gunther Meinlschmidt, Marion Tegethoff
Hans-Christoph Steinhausen
50 Prävention psychischer Störungen . . . . . . . . .
901
Juliane Junge-Hoffmeister
51 Sport und psychische Gesundheit . . . . . . . . . .
Anhang 923
Tim Hartmann, Uwe Pühse
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1049
XIII
Autorenverzeichnis Adornetto, Carmen, Dr.
Borg-Laufs, Michael, Prof. Dr.
Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik Schaffhauserrheinweg 55 4058 Basel Schweiz
[email protected]
Fachbereich Sozialwesen an der Hochschule Niederrhein Richard-Wagner-Straße 101 41065 Mönchengladbach
[email protected]
Brezinka, Veronika, Dr. Dr. Bahmer, Judith, Dr. Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation Universität Bremen Grazer Straße 6 28359 Bremen
Psychopathologie des Kindes und Jugendalters Universität Zürich Neptunstrasse 60 8032 Zürich Schweiz
[email protected]
Blatter, Judith, Dr. Zentrum für Kinder- und Jugendpsychotherapie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60–62 4055 Basel Schweiz
[email protected]
Damm, Franziska, Dipl.-Psych.
Bodenmann, Guy, Prof. Dr.
Döpfner, Manfred, Prof. Dr.
Psychologisches Institut der Universität Zürich Klinische Psychologie Binzmühlestrasse 14/23 8050 Zürich Schweiz
[email protected]
Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Köln Robert-Koch-Straße 10 50931 Köln
[email protected]
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation Universität Bremen Grazer Straße 6 28359 Bremen
[email protected]
Fiedler, Peter, Prof. Dr. Bodmer, Nancy, Dr. Entwicklungs-und Persönlichkeitspsychologie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60–62 4055 Basel Schweiz
[email protected]
Bolten, Margarete, Dr. Klinische Kinder-und Jugendpsychologie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Birmanssgasse 8 4009 Basel Schweiz
[email protected]
Psychologisches Institut der Universität Heidelberg Hauptstraße 47–51 69117 Heidelberg
[email protected]
Forster, Jürg, Dr. Schulpsychologischer Dienst Zürich Seestrasse 346 8038 Zürich Schweiz
[email protected]
Fricke-Oerkermann, Leonie, Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters der Universität zu Köln Robert-Koch-Straße 10 50931 Köln
[email protected]
XIV
Autorenverzeichnis
Fuhrmann, Pia, Dipl.-Psych.
Herpertz-Dahlmann, Beate, Prof. Dr.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum des Saarlandes 66421 Homburg/Saar
[email protected]
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen
[email protected]
Gontard, Alexander, von, Prof. Dr. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum des Saarlandes 66421 Homburg/Saar
[email protected]
Grob, Alexander, Prof. Dr. Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60–62 4055 Basel Schweiz
[email protected]
Hagmann-von Arx, Priska, Lic. phil. Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60–62 4055 Basel Schweiz
[email protected]
Hahlweg, Kurt, Prof. Dr. Institut für Psychologie Technische Universität Braunschweig Konstantin-Uhde-Straße 4 38106 Braunschweig
[email protected]
Hoch, Eva, Dr. Klinische Psychologie und Psychotherapie Technische Universität Dresden Chemnitzer Straße 46 01187 Dresden
[email protected]
In-Albon, Tina, Dr. Klinische Kinder- und Jugendpsychologie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60–62 4055 Basel Schweiz
[email protected]
Junge-Hoffmeister, Juliane, Dr. Dipl.-Psych. Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik Universitätsklinikum »Carl Gustav Carus« an der Technischen Universität Dresden Fletcherstraße 74 01307 Dresden
[email protected]
Könning, Josef, Dr. AKJP GmbH Bohmter Straße 1 49074 Osnabrück
[email protected]
Hartmann, Tim, M. Sc. Institut für Sport und Sportwissenschaften Universität Basel Brüglingen 33 4052 Basel Schweiz
[email protected]
Heinrichs, Nina, Prof. Dr. Abt. für Psychologie Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft Universität Bielefeld Postfach 100131 33501 Bielefeld
[email protected]
Konrad, Kerstin, Prof. Dr. LFG Klinische Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen
[email protected]
Kröner-Herwig, Birgit, Prof. Dr. Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie Abteilung 7: Klinische Psychologie und Psychotherapie Universität Göttingen Goßlerstraße 14 37073 Göttingen
[email protected]
XV Autorenverzeichnis
Krummrich, Mara Zoe, Dipl.-Psych. Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation Universität Bremen Grazer Straße 6 23359 Bremen
[email protected]
Institute of Criminology University of Cambridge Sidgwick Avenue Cambridge CB3 9DT United Kingdom
[email protected]
Landerl, Karin, Prof. Dr.
Mackowiak, Katja, Prof. Dr.
Psychologisches Institut Abteilung Klinische und Entwicklungspsychologie Universität Tübingen Gartenstraße 29 72074 Tübingen
[email protected]
Pädagogische Psychologie Pädagogische Hochschule Weingarten Kirchplatz 2 88250 Weingarten
[email protected]
Mattejat, Fritz, Prof. Dr. Landolt, Markus, Priv.-Doz. Dr. Kinderspital Zürich Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich Schweiz
[email protected]
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum Gießen und Marburg Hans-Sachs-Straße 6 35039 Marburg/Lahn
[email protected]
Meinlschmidt, Gunther, Dr. Lauth, Gerhard, Prof Dr. Psychologie und Psychotherapie Heilpädagogische Fakultät Universität zu Köln Klosterstraße 79b 50931 Köln
[email protected]
Klinische Psychologie und Psychotherapie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60-62 4055 Basel Schweiz
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Melfsen, Siebke, Dr. Lieb, Roselind, Prof. Dr. NFS sesam Universität Basel Birmannsgasse 8 4009 Basel Schweiz
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Linderkamp, Friedrich, Priv.-Doz. Dr. Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik Rehabilitationspsychologie Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fk I Ammerländer Heerstraße 114–118 26129 Oldenburg
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Lösel, Friedrich, Prof. Dr. Dr. Institut für Psychologie I Universität Erlangen-Nürnberg Bismarckstraße 1 91054 Erlangen
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Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Füchsleinstraße 15 97080 Würzburg
Messner, Claude, Dr. Sozial- und Wirtschaftspsychologie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60-62 4055 Basel Schweiz
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Moggi, Franz, Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie Bern Bolligenstrasse 111 3000 Bern Schweiz
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XVI
Autorenverzeichnis
Munsch, Simone, Priv.-Doz. Dr.
Poustka, Fritz, Prof. Dr.
Klinische Psychologie und Psychotherapie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60-62 4055 Basel, Schweiz
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Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt Deutschordenstraße 50 60590 Frankfurt am Main
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Noeker, Meinolf, Dr. Psychologischer Dienst Zentrum für Kinderheilkunde der Universität Bonn Adenauerallee 119 53113 Bonn
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Pätel, Johanna, Dipl.-Psych. IVB Institut für Verhaltenstherapie Berlin Hohenzollerndamm 125/126 14199 Berlin
Pauen, Sabina, Prof. Dr. Psychologisches Institut der Universität Heidelberg Hauptstraße 47–51 69117 Heidelberg
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Perrez, Meinrad, Prof. Dr. Institut für Psychologie Universität Fribourg Rue de Faucigny 2 1700 Fribourg Schweiz
[email protected]
Petermann, Franz, Prof. Dr. Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation Universität Bremen Grazer Straße 6 28359 Bremen
[email protected]
Petermann, Ulrike, Prof. Dr. Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation Universität Bremen Grazer Straße 6 28359 Bremen
[email protected]
Pössel, Patrick, Prof. Dr. Department of Educational and Counseling Psychology University of Louisville 2301 S. Third Street Louisville, KY 40292 USA
[email protected]
Pühse, Uwe, Prof. Dr. Institut für Sport und Sportwissenschaften Universität Basel Brüglingen 33 4052 Basel Schweiz
[email protected]
Quaschner, K., Dr. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Philipps-Universität Marburg Hans-Sachs-Straße 6 35039 Marburg/Lahn
[email protected]
Ritter, Viktoria, Dipl.-Psych. Klinische Psychologie und Psychotherapie Institut für Psychologie der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt Varrentrappstraße 40–42 60486 Frankfurt am Main
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Rojahn, Johannes, Ph. D. George Mason University Department of Psychology 10340 Democracy Lane, Suite 202 Fairfax, VA 22030-4444 USA
[email protected]
Runkel, Daniela, Dipl.-Psych. Institut für Psychologie I Universität Erlangen-Nürnberg Bismarckstraße 1 91054 Erlangen
[email protected]
Schlottke, Peter F., Prof. Dr. Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie Psychotherapeutische Hochschulambulanz Medizinische Fakultät Universität Tübingen Gartenstraße 29 72074 Tübingen
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XVII Autorenverzeichnis
Schlup, Barbara, Dr.
Stangier, Ulrich, Prof. Dr.
Psychiatrische Poliklinik Inselspital Murtenstrasse 21 3010 Bern Schweiz
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Klinische Psychologie und Psychotherapie Institut für Psychologie der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt Varrentrappstraße 40–42 60486 Frankfurt am Main
[email protected]
Schneider, Silvia, Prof. Dr.
Steinhausen, Hans-Christoph, Prof. Dr. Dr.
Klinische Kinder- und Jugendpsychologie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60–62 4055 Basel Schweiz
[email protected]
Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters Medizinische Universität Wien Währingerguertel 18–20 1090 Wien Österreich
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Chair of Child and Adolescent Psychiatry Psykiatrien – Region Nordjylland Alborg Psychiatric Hospital Aarhus University Hospital Mølleparkvej.10 9000 Aalborg Denmark und Klinische Kinder- und Jugendpsychologie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60-62 4055 Basel Schweiz
[email protected] und Zentrum für Kinder- und Jugendpsychologie der Universität Zürich Neumünsterallee 3 8008 Zürich Schweiz
[email protected]
Schwarte, Reinhild, Dipl.-Psych.
Strehl, Ute, Priv.-Doz. Dr.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen
[email protected]
Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie Universität Tübingen Gartenstraße 29 72074 Tübingen
[email protected]
Schreiner-Zink, Susanne, Dr. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum des Saarlandes 66421 Homburg/Saar
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Schuch, Bibiana, Dr.
Schwarz, Beate, Dr. Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60-62 4055 Basel Schweiz
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Suhr-Dachs, Lydia, Dr. Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Universtität zu Köln (AKIP) Robert-Koch-Straße 10 50931 Köln
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Simons, Michael, Dr. Dipl.-Psych. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Neuenhofer Weg 21 52074 Aachen
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Suppiger, Andrea Doris, Dr. Klinische Psychologie und Psychotherapie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60–62 4055 Basel Schweiz
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XVIII
Autorenverzeichnis
Tegethoff, Marion, Dipl.-Psych.
Weber, Germain, ao. Prof. Dr.
Klinische Psychologie und Psychotherapie Fakultät für Psychologie der Universität Basel Missionsstrasse 60–62 4055 Basel Schweiz
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Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie Universität Wien Liebiggasse 5 1010 Wien Österreich
[email protected]
Vonderlin, Eva, Dr. Psychologisches Institut Universität Heidelberg Hauptstraße 47–51 69117 Heidelberg
[email protected]
Warnke, Andreas, Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Füchsleinstraße 15 97080 Würzburg
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Warschburger, Petra, Prof. Dr. Institut für Psychologie der Universität Potsdam Beratungspsychologie Postfach 601553 14415 Potsdam
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Wolke, Dieter, Prof. Dr. Department of Psychology and HSRI Warwick Medical School The University of Warwick Coventry CV4 7AL United Kingdom
[email protected]
Ziegenhain, Ute, Priv.-Doz. Dr. Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstraße 5 89070 Ulm
[email protected]
I
I Spezifische Grundlagen für die Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen 1
Entwicklungspsychologische Grundlagen – 3 Sabina Pauen, Eva Vonderlin
2
Entwicklungs-psychopathologie
– 23
Franz Petermann, Franziska Damm
3
Biologische Grundlagen
– 43
Kerstin Konrad
4
Klinische Bindungsforschung
– 55
Margarete Bolten
5
Klinisch-psychologische Familienforschun – 77 Meinrad Perrez, Guy Bodenmann
6
Medien und Gewalt
– 95
Claude Messner
7
Klassifikation psychischer Störungen – 111 Andrea Suppiger, Silvia Schneider
8
Diagnostisches Vorgehen
– 123
Carmen Adornetto, Silvia Schneider
9
Entwicklungsdiagnostik
– 145
Alexander Grob, Priska Hagmann-von Arx, Nancy M. Bodmer
10
Psychotherapieforschung Manfred Döpfner
– 159
1
1
Entwicklungspsychologische Grundlagen Sabina Pauen, Eva Vonderlin
1.1
Einleitung – 4
1.2
Was ist an Kindern so besonders?
1.3
Wie nützen entwicklungspsychologische Kenntnisse Kinderund Jugendtherapeuten? – 5
1.4
Verschiedene Lernformen und ihre Entwicklung – 7
1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4
Klassische Konditionierung – 7 Operante Konditionierung – 8 Beobachtungslernen – 9 Lernen durch Einsicht – 10
1.5
Entwicklungspsychologische Veränderungen mit Bedeutung für die Verhaltenstherapie – 12
1.5.1 1.5.2 1.5.3
Entwicklung kognitiver Grundfunktionen – 12 Entwicklung emotionaler Grundfunktionen – 14 Entwicklung sozialer Grundfunktionen – 18
1.6
Ausblick
– 20
Zusammenfassung Literatur
– 21
– 21
Weiterführende Literatur
– 22
–4
4
1
Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
1.1
Einleitung
Wer sich mit den Grundlagen der Verhaltenstherapie beschäftigt, mag sich fragen, warum es eigentlich notwendig sein soll, Kinder als etwas Besonderes zu betrachten. Gelten die allgemeinen Lerngesetze nicht genauso für Neugeborene wie für Erwachsene? Der vorliegende Beitrag wird diese These bestätigen und gleichzeitig deutlich machen, warum eine differenzierte Auseinandersetzung mit entwicklungspsychologischen Kenntnissen zu einem besseren Verständnis der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen führt. Ein kurzer Rückblick auf das psychologische Bild vom Kind im historischen Wandel soll dies zunächst an Beispielen illustrieren. Anschließend wird systematisch begründet, inwiefern entwicklungspsychologische Kenntnisse für die Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen wichtig sind. Die nachfolgenden Abschnitte beziehen sich auf verschiedene Lernformen und bieten dem Leser Einblick in empirische Erkenntnisse zur Entwicklung dieser Lernformen über das Lebensalter. Am Ende des Beitrags folgt eine Beschreibung der wichtigsten entwicklungspsychologischen Veränderungen für ausgewählte Verhaltensbereiche, die in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle spielen.
1.2
ihrer Wirklichkeit« seien – Wesen also, die nicht blind auf Belohnung und Bestrafung reagieren, sondern Erfahrungen stets interpretieren und einordnen, um ihnen dadurch Bedeutung zu verleihen. In den 1970er Jahren vollzog sich auch innerhalb der Verhaltenstherapie ein Perspektivwandel: Die sog. »kognitive Wende« führte dazu, dass man zunehmend nach den Gedanken von Menschen fragte, um ihr Verhalten zu verstehen. Ferner machte Piaget deutlich, dass die Formen der Auseinandersetzung mit der Umwelt (in der Terminologie seiner Theorie ist von »Schemata« oder »Denkstrukturen« die Rede) sich in systematischer Weise mit dem Alter verändern. Damit war klar: wer das Verhalten von Kindern richtig deuten oder ihre Lerngeschichte nachhaltig beeinflussen will, muss über Kenntnisse ihrer altersspezifischen Denkstrukturen verfügen. Diese Überzeugung wurde im Informationsverarbeitungsansatz, der sich kritisch mit Piagets Theorie auseinandersetzte, weitergeführt. Hier stellte man die genaue Analyse der Anforderungen einer Aufgabe an das handelnde Kind in Beziehung zu dem, was man über seine geistigen Ressourcen wusste. Neu an diesem Ansatz war, dass nun auch die Frage, wie sich basale mentale Prozesse mit dem Alter verändern, Eingang in die Forschung fand. Es begann eine Phase der verstärkten Untersuchung solcher Prozesse, wie etwa der Veränderung von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, die schließlich die Grundlage von höheren Denkprozessen bilden.
Was ist an Kindern so besonders? Einbeziehung der emotionalen Entwicklung
Das Bild vom Kind im historischen Wandel Noch bis ins 19. Jahrhundert betrachtete man Kinder als kleine Erwachsene. Man zog sie so an, man verlangte ihnen Ähnliches ab, und man dachte, dass sie im Prinzip genauso funktionieren würden wie die Großen – nur eben ein bisschen langsamer und auf niedrigerem Leistungsniveau. Auch die ersten Behavioristen und Lerntheoretiker machten zunächst keinen grundlegenden Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Alle Menschen lernen demnach in allen Altersstufen nach den gleichen Prinzipien und in vergleichbarer Weise. Allerdings konstatierte Watson, einer der berühmtesten Vertreter der klassischen Lerntheorie, dass Kinder noch keine lange Lerngeschichte hinter sich haben und man sie daher durch gezielten Einsatz von Belohnung und Bestrafung zu beliebigen Persönlichkeiten machen könne. Auch wenn diese Aussage heute wohl niemand mehr unterschreiben würde, weil wir inzwischen auch viel darüber gelernt haben, dass Kinder nicht als unbeschriebene Blätter geboren werden, bleibt es wahr, dass Kinder offen sind für unterschiedlichste Arten von Erfahrungen und dass das frühe Lernen für das spätere Leben eine zentrale Rolle spielt. Was hat sich seit den Anfängen des Behaviorismus noch geändert an unserem Bild vom Kind? Zunächst erfuhr die Welt von Jean Piaget, dem Begründer der kognitiven Entwicklungspsychologie, dass schon Kinder »Konstrukteure
Auch wenn dieser veränderte Blick auf Kinder zweifellos einen großen Gewinn bringt, besteht ein Nachteil aller bislang genannten Ansätze immer noch darin, dass sie die emotionale Seite der Kindesentwicklung weitgehend unbeachtet lassen. Kinder haben aber nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle, und der Umgang mit Gefühlen verändert sich mit dem Alter. Meistens sind es gerade Probleme mit der Gefühlswelt, die Eltern dazu veranlassen, professionelle psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Ausführungen zur Dynamik, die hinter dieser emotionalen Entwicklung steht, finden sich bis heute vor allem in psychoanalytisch geprägten Entwicklungstheorien. Neuerdings gibt es jedoch eine ganze Reihe von theoretischen Ansätzen aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen, die versuchen, die Gefühls- und Kognitionsentwicklung direkt aufeinander zu beziehen. Einige Beispiele mögen den engen Zusammenhang zwischen beiden Bereichen verdeutlichen: Sprachentwicklung. Die Sprachentwicklung macht bekanntlich im Altern zwischen 2 und 6 Jahren entscheidende Fortschritte. Diese Fortschritte tragen ganz wesentlich mit dazu bei, dass Kinder ihre Gefühle auf sozial akzeptierte Weise zum Ausdruck bringen können. Sie können schimpfen anstatt zu schlagen, wenn sie wütend sind; sie können sich beschweren anstatt zu heulen, wenn ihnen Unrecht angetan wird, und sie können ihre Bedürfnisse
5 1.3 · Wie nützen entwicklungspsychologische Kenntnisse Kinder- und Jugendtherapeuten?
differenziert mit Worten mitteilen. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten hat Konsequenzen für das Verhalten. So weiß man etwa, dass insbesondere Kinder, die eine Sprache nicht beherrschen, eher zu aggressivem Verhalten neigen und soziale Schwierigkeiten haben. Die Sprache ist also eine kognitive Leistung mit wichtigen Implikationen für den Gefühlsausdruck und die Möglichkeit, in einen befriedigenden Austausch mit anderen Menschen zu kommen. Wir werden uns wesentliche Meilensteine der Sprachentwicklung aus diesem Grund später noch genauer vor Augen führen. Theory of Mind. Ein zweites Beispiel ist die Entwicklung einer »Theory of Mind«: gemeint ist die Fähigkeit, mentale Zustände anderer Personen zu repräsentieren. Dazu gehört etwa, dass man nachvollziehen kann, was eine andere Person weiß und was nicht oder welche Motive sie dazu bringen, etwas Bestimmtes zu tun. Auch diese Errungenschaft, die an ganz spezifische geistige Leistungen geknüpft ist, hat große Bedeutung für den Umgang mit eigenen Gefühlen: In Auseinandersetzungen sind die Chancen, befriedigende Lösungen für beide Seiten zu finden, wesentlich größer, wenn man sich in die Lage des Gegenübers versetzen kann. Außerdem hilft einem diese Form der »sozialen Intelligenz« ganz allgemein, befriedigende Beziehungen mit anderen Menschen zu haben. Sie macht Mitgefühl und gegenseitiges Verständnis überhaupt erst möglich. Auch hier zeigt sich folglich der enge Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen, der für therapeutische Prozesse von Relevanz ist. Obwohl die Entwicklung einer Theory of Mind ihrerseits systematische Bezüge zur Sprachentwicklung aufweist, stellt sie dennoch einen eigenen Forschungsbereich dar, der in der modernen Entwicklungspsychologie zunehmend an Bedeutung gewinnt. Auf entsprechende Befunde werden wir daher später noch eingehen.
gang mit Gefühlen und die Verhaltensplanung. Indem wir heute nach hirnphysiologischen Korrelaten für beobachtbares Verhalten fragen, wird uns deutlich, wie eng verschränkt die kognitive und emotionale Entwicklung sind. Gleichzeitig wird damit klar, wie wichtig es ist, die biologische Perspektive mit im Blick zu behalten, wenn wir entwicklungspsychologische Voraussetzungen der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen diskutieren. In diesem Zusammenhang mag es interessant sein zu erfahren, dass auch die Sprachproduktion und die Entwicklung einer Theory of Mind mit Frontalhirnfunktionen in Verbindung gebracht werden. > Fazit Unsere Sicht auf Kinder hat sich seit Beginn der psychologischen Forschung entscheidend verändert. Heute ist uns bewusst, dass das Verhalten von Kindern und Jugendlichen nicht in jeder Hinsicht auf gleichen Voraussetzungen basiert wie das von Erwachsenen. Ein Grund dafür ist die biologische Reifung des Gehirns. Ein weiterer Grund sind noch fehlende Kompetenzen in einzelnen Bereichen des Denkens und Fühlens, die als Grundlage für höhere mentale Leistungen dienen und die erst ganz allmählich aufgebaut werden. Wer das Verhalten von Kindern in seiner Veränderung mit dem Lebensalter richtig verstehen will, muss behaviorale, mentalistische und biologische Aspekte von Entwicklung gleichermaßen beachten.
Ausgehend von diesen Grundannahmen soll im nächsten Abschnitt ausgeführt werden, in welcher Hinsicht eine differenzierte Auseinandersetzung mit altersbedingten Veränderungen für Verhaltenstherapeuten nützlich sein kann.
1.3 Neurobiologie. Ein drittes Beispiel weist auf einen ganz
neuen Trend innerhalb der entwicklungspsychologischen Forschung hin: Heute interessieren wir uns verstärkt für die neurobiologischen Grundlagen, die Verhalten erklären: So ist die Fähigkeit zur exekutiven Kontrolle (zur Kontrolle darüber, welches Verhalten wann wie gezeigt wird) für planvolles Handeln genauso unabdingbar wie für die Kontrolle von Gefühlsäußerungen. Die Entwicklung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten hängt also auch hier eng miteinander zusammen. Das ist kein Zufall, sondern lässt sich damit erklären, dass im Gehirn in beiden Fällen ein evolutionär besonders junger Bereich, das Frontalhirn, zur Steuerung dieser Funktion wichtig ist. Wie wir inzwischen wissen, reift das Frontalhirn vergleichsweise spät. Das gilt sowohl für die Verschaltung der Nervenzellen untereinander als auch für die Myelinisierung (die Isolierung einzelner Neurone). Außerdem verändert sich die Hormonproduktion noch einmal ganz wesentlich während der Pubertät, und das hat ebenfalls Konsequenzen für den Um-
Wie nützen entwicklungspsychologische Kenntnisse Kinderund Jugendtherapeuten?
Die Relevanz entwicklungspsychologischer Forschung als Grundlage der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen lässt sich an drei Kernthemen verdeutlichen: 4 Entwicklungsnormen, 4 Entwicklungsaufgaben und 4 altersabhängige Kompetenzen.
Entwicklungsnormen Kinder und Jugendliche verhalten sich in vielen Situationen anders als Erwachsene und können daher nur bedingt an den Normen für Erwachsene gemessen werden. So ist es zwar nicht unbedingt wünschenswert, aber durchaus im Bereich des Normalen, wenn ein Grundschüler sich im Streit mit anderen rauft – im Erwachsenenalter wäre ein vergleichbares Verhalten dagegen von der Norm abweichend.
1
6
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
> Die Entwicklungspsychologie bietet Definitionen des Normalen und Abweichenden, die altersspezifisch sind. Eine detaillierte Kenntnis solcher Normen ist wichtig für Störungskonzeptionen und die Beurteilung der Therapiebedürftigkeit im Einzelfall.
Entwicklungsaufgaben Im Laufe seines Lebens muss der Mensch zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Entwicklungsaufgaben meistern. Beispielsweise muss ein Kleinkind lernen, seine Körperfunktionen allmählich selbst zu kontrollieren, ein Kindergartenkind muss lernen, sich in größeren sozialen Gruppen auch ohne Anwesenheit primärer Bezugspersonen zurechtzufinden, von einem Grundschüler wird erwartet, dass er sich an die Regeln des Schulalltags hält und Leistungsbereitschaft zeigt, und ein Jugendlicher steht vor der Herausforderung, seinen Umgang mit dem anderen Geschlecht neu zu bestimmen. Die Gesellschaft beurteilt Kinder danach, wie gut sie diese Entwicklungsaufgaben zur rechten Zeit erfüllen. Gelingt ihnen dies nicht, so kann das ein wichtiges Motiv für eine Verhaltenstherapie sein. ! Entwicklungspsychologische Theorien geben Aufschluss darüber, welche Entwicklungsaufgaben in welchem Alter relevant sind. Daraus ergeben sich insbesondere die Therapieziele (z. B. Autonomie, Selbststeuerung, Identitätsentwicklung).
Altersabhängige Kompetenzen Auch wenn es für alle Altersstufen allgemeine Prinzipien des Lernens und der Verhaltensmodifikation gibt, ist es doch nicht das Gleiche, wenn man einem Zweijährigen helfen möchte, sein Verhalten zu ändern, als wenn man das mit einem Jugendlichen versucht. Je jünger ein Kind ist, desto wichtiger sind Eltern für den Therapieerfolg. Je älter die Kinder werden, desto bedeutsamer sind Gespräche und eigene Einsichten. Zudem durchläuft das Gehirn in bestimmten Phasen der Entwicklung wesentliche Reifungsschritte, die für die Verhaltenssteuerung, das Denken und Fühlen des Kindes und damit für die Auswahl geeigneter Interventionsmöglichkeiten durch den Therapeuten von Bedeutung sind. ! Die Entwicklungspsychologie bietet Anhaltspunkte dafür zu beurteilen, welche Interventionsformen für welche Altersstufen besonders Erfolg versprechend sind. Sie klärt, ob wichtige soziale, emotionale und kognitive Voraussetzungen für die Durchführung von Interventionsprogrammen in einem gegebenen Alter erfüllt sind.
Bereits vorliegende Beiträge zu entwicklungspsychologischen Voraussetzungen für die Therapie von Kindern und Jugendlichen beziehen sich vorzugsweise auf Entwicklungsnormen oder Entwicklungsaufgaben (Borg-Laufs u. Trautner 1999). In Ergänzung und Erweiterung solcher
Beiträge wollen wir das Hauptaugenmerk auf altersabhängige kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen richten, da diese als Voraussetzung für die Umsetzung von verhaltenstherapeutischen Konzepten von herausragender Bedeutung sind. Diese Orientierung scheint vor dem Hintergrund jüngster Entwicklungen besonders nützlich, da sich gerade in den letzten Jahren verhaltenstherapeutische Konzepte etabliert haben, die auf komplexen Lernprinzipien basieren und höhere kognitive Leistungen und Selbststeuerungsprozesse vom Klienten erwarten. Während Interventionsansätze früher sehr stark lerntheoretisch orientiert waren (klassisches und operantes Konditionieren) führte die kognitive Wende in der Verhaltentherapie dazu, dass heute neben der Veränderung der funktionellen Bedingungszusammenhänge die Veränderung von vermittelnden Gedanken, Situationswahrnehmungen, Überzeugungen und Einstellungen im Mittelpunkt der Therapie stehen (Lauth et al. 2001). Das therapeutische Arbeiten an und mit den Kognitionen erfordert aber sprachliche Interventionsstrategien, wie beispielsweise Selbstexploration oder Selbstinstruktion. In der Folge entstand eine Reihe von Therapiemanualen mit vielfältigen Übungen insbesondere zur sozialen Wahrnehmung sowie zum Aufbau geeigneter Selbstanweisungen, die vom Patienten in der Therapie geübt und in den Alltag übertragen werden sollen (Reduzierung aggressiven Verhaltens, Abbau von Impulsivität). Diese Erweiterung des Methodenspektrums stellt höhere Anforderungen an den Patienten. Das gilt etwa für seine Ausdrucksmöglichkeiten, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Wahrnehmung eigener Gefühle oder die Einsicht in das Verständnis in die Situation anderer sowie das planvolle Handeln. Neben der Betonung der altersspezifischen Voraussetzungen für den Therapieprozess verfolgt der vorliegende Beitrag noch ein weiteres Ziel: Er will den Bereich der frühen Kindheit, der von der Verhaltenstherapie bislang nicht explizit aufgegriffen wurde, stärker beleuchten. Dieser neue Fokus scheint gleich aus mehreren Gründen sinnvoll: Zunächst wird eine Analyse der Kompetenzen von Säuglingen und Kleinkindern dokumentieren, dass verhaltenstherapeutische Interventionen auch schon für diese Altersgruppe interessant sind. So werden wir zeigen, dass die Basislernformen, auf denen Verhaltensprogramme für ältere Kinder aufbauen, bereits Neugeborenen zur Verfügung stehen. Bedenkt man zudem, dass eine Vielzahl von Verhaltensstörungen ihre Wurzeln in Erfahrungen der frühen Kindheit haben, dann scheint es naheliegend, rechtzeitig einzuschreiten, bevor sich Teufelskreisläufe und schlecht angepasste Verhaltensmuster fest etablieren. Während es für die frühe Säuglingszeit überwiegend therapeutische Konzepte auf systemischer und tiefenpsychologischer Grundlage gibt (Reck et al. 2001), sind verhaltenstherapeutische Interventionen für diese Altersgruppe noch im Entstehen und müssen weiter etabliert werden (Papousek et al. 2001).
7 1.4 · Verschiedene Lernformen und ihre Entwicklung
Ausgehend von dieser Überlegung wollen wir im nächsten Schritt zunächst verschiedene Lernformen besprechen, die für die Verhaltenstherapie relevant sind. Dabei werden wir jeweils aufzeigen, welche Anforderungen ein solches Lernen an das Kind stellt, welche Voraussetzungen zur Umsetzung das Kind von Beginn an mitbringt und welche Fähigkeiten es erst im Verlauf seiner Entwicklung erwirbt. Anschließend werden für eine Auswahl von kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen, die im Rahmen von Therapieprozessen eine entscheidende Rolle spielen, wichtige Meilensteine der Entwicklung näher erläutert. Wir analysieren entwicklungspsychologische Voraussetzungen für verhaltenstherapeutische Interventionen damit aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: zunächst aus der Perspektive der Lerntheorie und dann aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie. ! Da die kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten bei Kindern erst in Entwicklung befindlich sind, bedarf es differenzierter Kenntnisse seitens des Therapeuten bezüglich des Leistungsniveaus von Kindern eines gegebenen Alters, um geeignete Interventionen auswählen zu können.
1.4
Verschiedene Lernformen und ihre Entwicklung
In der Verhaltenstherapie spielen neben der klassischen und operanten Konditionierung auch das Beobachtungslernen sowie das Lernen durch Problemeinsicht eine wichtige Rolle. Auf jede dieser Lernformen und ihre Entwicklung wird nachfolgend ausführlicher eingegangen (vgl. hierzu auch 7 Kap. I/5 und I/8).
1.4.1 Klassische Konditionierung
Die klassische Konditionierung ist eine der elementarsten Lernformen. Sie setzt voraus, dass es eine unbedingte, natürliche Reaktion auf eine gegebene Reizart gibt. Beim Pavlow’schen Hund erzeugt der Anblick von Futter (unkonditionierter Stimulus, UCS) eine Speichelreaktion (unkonditionierte Reaktion, UCR). Auch beim Neugeborenen gibt es unbedingte Reaktionen auf bestimmte Reize. So fängt ein hungriges Babys sofort an, nach der Mutterbrust zu suchen (UCR), sobald es Kontakt mit menschlicher Haut hat (UCS). Tritt nun kurz vorher immer ein konditionierter Reiz auf – ein Reiz also, der allein keine Reaktion auslöst (z. B. ein Glockenton), so lernt der Pavlow’sche Hund, ihn als Hinweis zu interpretieren und zeigt die Speichelsekretion auch dann, wenn der Glockenton nicht vom Futter gefolgt wird (konditionierte Reaktion, CR). In ähnlicher Weise kann man beobachten, dass hungrige Neuge-
borene bevorzugt immer dann nach der Brust suchen (CR), wenn sie auf dem Arm ihrer Mutter sind. Sie haben offensichtlich innerhalb kürzester Zeit gelernt, den spezifischen Körpergeruch und die Stimme der eigenen Mutter als Hinweis auf eine baldige Nahrungszufuhr zu interpretieren (CS). Auch wenn solche klassischen Lernleistungen beeindruckend erscheinen mögen, wurden sie doch lange in ihrer Bedeutung überschätzt. Wie Tierversuche eindrucksvoll belegen, wird Mutterliebe nicht nur durch die Suche nach Nahrung geprägt: Erhielten junge Äffchen, die man von ihrer Mutter getrennt aufzog, immer nur bei einer Drahtgestell-Mutter Milch, nicht aber bei einer Fellmutter, dann hielten sie sich trotzdem nur zur Nahrungsaufnahme bei der Drahtgestell-Mutter auf und suchten ansonsten die Nähe zur Fellmutter. Wenn Babys sich allein bewegen könnten, würden sie sich sicher ähnlich verhalten (Harlow u. Zimmerman 1959).
Beispiel An einem anderen Beispiel für frühe Lernleistungen konnte man zeigen, dass Neugeborene beim Erklingen einer Melodie, zu der sich ihre Mutter in der Schwangerschaft regelmäßig entspannt hat, postnatal ebenfalls mit Entspannung reagieren. Offensichtlich hörte der Fötus den unkonditionierten Reiz (hier: die Melodie), und weil das Hören der Melodie physiologisch mit Entspannung gekoppelt war – zunächst, indem es den Körper der Mutter entspannte und auf diese Weise auch beim Kind Wohlbehagen auslöste –, wurde die Melodie zu einem Hinweisreiz auf Entspannung, der postnatal zu entsprechenden Reaktionen beim Kind führte (DeCaspar u. Spence 1986).
Allerdings besteht ein großer Teil früher Lernerfahrungen auch aus der Koppelung von Reizen und negativen Erlebenszuständen, wie Schmerz. Das Pieksen in den Fuß zwecks Blutentnahme ist ein typisches Beispiel für einen schmerzhaften unkonditionierten Stimulus. Diese Erfahrung löst beim Neugeborenen mit einiger zeitlicher Verzögerung den Rückzug des Fußes aus (UCR). Geht dem Pieksen (UCS) regelmäßig ein neutraler Reiz voraus (z. B. die Desinfektion der Einstichfläche, CS durch einen Arzt), dann löst diese an sich harmlose Pflegemaßnahme schon nach wenigen Wiederholungen beim Kind Rückzugsverhalten aus (CR). Konditionierungsprozesse können die Desinfektion zu einem Hinweisreiz (CS) auf eine nahende Bedrohung machen und schließlich zu Abwehrverhalten beim Anblick des Artztes führen. Dieses Problem lässt sich häufig bei Frühgeborenen beobachten, die im Rahmen medizinischer Maßnahmen vergleichsweise oft Schmerz auslösenden Situationen ausgesetzt sind.
1
8
1
Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
Beispiel Auch im sozialen Bereich gibt es Belege für frühe Konditionierungsprozesse auf negative Reize: So hat man etwa festgestellt, dass Kinder von depressiven Müttern, denen es oft schwerfällt, in direkten Interaktionen mit ihrem Kind einen gelungenen Austausch von positiven Gefühlen zu etablieren, schon mit 3–4 Monaten aktives Blickvermeidungsverhalten zeigen, wenn sie mit ihren Müttern (aber nicht unbedingt mit anderen Personen) kommunizieren (Reck et al. 2001). Sie assoziieren einen bestimmten emotionalen Gesichtsausdruck der Mutter (CS) mit Stress oder Aversion (UCS) und reagieren mit Abwendung und Unbehagen (CR).
Die genannten Beispiele sollen Folgendes verdeutlichen: ! Die Voraussetzungen für klassische Konditionierungsprozesse sind bereits ab dem Säuglingsalter gegeben. Sie führen dazu, dass an sich neutrale Reize eine positive oder negative Bedeutung erlangen und als Hinweisreize für bestimmte Reaktionen des Kindes dienen. Ganz allgemein sind konditionierte Reaktionen wichtig, damit das Kind von Anfang an ein Bewertungssystem aufbauen kann und Hinweise zur Vorhersage für später folgende Ereignisse nutzen lernt.
Prinzipiell ist es von Geburt an möglich, klassische Konditionierungsprozesse einzusetzen, um das Verhalten von Kindern zu steuern. Dies geschieht im Alltag ganz automatisch und ungeplant. Es kann aber auch bewusst eingesetzt werden, um das Verhalten des Kindes zu beeinflussen. Petermann (2003) benennt verschiedene Methoden der Kinderverhaltenstherapie, die auf klassischer Konditionierung beruhen: 4 die Aversionsbehandlung, 4 das Entspannungstraining und 4 die systematische Desensibilisierung. Für ältere Kinder spielen andere Lernformen, wie etwa die operante Konditionierung oder das Beobachtungslernen insgesamt eine größere Rolle.
1.4.2 Operante Konditionierung
Im Unterschied zur klassischen Konditionierung gilt für die operante Konditionierung, dass ein spontan auftretendes Verhalten durch Belohnung oder Bestrafung, die der Reaktion nachfolgt (Konsequenz), in seiner Auftretenshäufigkeit beeinflusst wird. Auch diese Lernform ist sehr früh nachweisbar, wie Säuglingsstudien belegen. Ganz allgemein scheint es bemerkenswert, dass gerade zu Beginn des Lebens die Auswahl an materiellen Verstärkern vergleichs-
weise gering ist (z. B. Milch), während eine ganze Palette unterschiedlicher sozialer Verstärker, die einen positiven zwischenmenschlichen Kontakt ermöglichen (z. B. Lächeln, Ammensprache, Streicheln) zur Verfügung stehen. Wie das Beispiel zur Saugpräferenz (s. unten) anschaulich dokumentiert, können auch in der frühkindlichen Entwicklung Handlungsverstärker (hier: vertraute Geschichte hören) zum Einsatz kommen.
Beispiel Das Saugpräferenzparadigma (DeCaspar u. Fifer 1980) Um nachzuweisen, dass sich Föten an während der Schwangerschaft vorgelesene Geschichten erinnern können, setzte man wenige Tage alten Babys einen Kopfhörer auf und erfasste zunächst, wie häufig sie spontan saugten. Dann spielte man ihnen entweder eine Geschichte ein, die sie noch nicht kannten, oder die bereits vertraute Geschichte (beide von einer fremden Person vorgelesen). Welche Geschichte zu hören war, hing von ihrer Saugrate ab: Die Hälfte der Kinder musste schneller saugen, um die vertraute Geschichte zu hören, und die andere Hälfte der Kinder musste langsamer saugen. Die Kinder lernten sehr schnell, ihr Nuckelverhalten so anzupassen, dass sie die vertraute Geschichte zu hören bekamen. Hieran sieht man, dass neben primären Verstärkern, wie etwa Nahrung, auch sekundäre Verstärker, wie etwa ein vertrautes Lautmuster, zur Verhaltenssteuerung (hier: der Steuerung des Nuckelverhaltens) eingesetzt werden können.
Neues Wissen über die Gehirnentwicklung passt zur Beobachtung früher Lern- und Gedächtnisprozesse: Demnach scheint der Hippocampus, eine Struktur im Temporallappen, die beim Lernen und Erinnern sowie bei der Zuordnung von unterschiedlichen Gedächtnisinhalten eine zentrale Rolle spielt, bereits zum Zeitpunkt der Geburt weit entwickelt zu sein. Der Hippocampus ist eng verschaltet mit dem limbischen System, das als Gefühls- und Bewertungszentrum des Menschen diskutiert wird. Man kann also zunächst einmal davon ausgehen, dass Babys prinzipiell als lern- und erinnerungsfähige Wesen im umfassenden Sinne zur Welt kommen. Ferner ist es möglich, ihr Verhalten sowohl über klassische als auch operante Konditionierung zu steuern. Dabei sind neben primären auch sekundäre Verstärker unterschiedlicher Art wirksam. Bis heute ist noch sehr wenig darüber bekannt, ob unterschiedliche Verstärkerpläne bei Säuglingen und Kleinkindern eine vergleichbare Wirkung haben wie bei älteren Kindern und Erwachsenen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Prinzipien der Kontingenz (enge zeitlich Koppelung von auftretendem Verhalten und folgender Verstärkung), der Reihenfolge (erst Zielverhalten, dann Ver-
9 1.4 · Verschiedene Lernformen und ihre Entwicklung
stärkung) sowie Wiederholung (kontinuierliche oder zumindest intermittierende Verstärkung) für alle Altersgruppen gleichermaßen wichtig sind. Beobachtungen aus Interaktionsstudien legen den Schluss nahe, dass bei jüngeren Kindern ein hohes Maß an Kontingenz für den Aufbau neuer Reaktionsweisen sehr wichtig sein dürfte. Das zeigt sich besonders anschaulich am Lernen von kommunikativem Verhalten: Mütter/Väter, die mit ihren Säuglingen so umgehen, dass sie in aller Regel prompt und angemessen auf die Kommunikationssignale ihres Kindes reagieren, schaffen damit die Basis für ein sicheres Bindungsverhalten und fördern die Tendenz ihrer Kinder, sich mitzuteilen (Papousek et al. 2001). Dabei sollten die Reaktionen der Eltern in der Regel zeitlich eng an die Äußerungen des Kindes gekoppelt sein. Außerdem muss es sich um ein stabiles Antwortmuster handeln. Mütter/Väter, die sich wenig kontingent verhalten und widersprüchliche Signale aussenden, erzeugen unsicheres Bindungsverhalten. Bereits wenige Monate alte Säuglinge quittieren dies durch Blickabwendung und geringe Kommunikationsbereitschaft gegenüber den betreffenden Personen. Konditionierungsprozesse sind von Geburt an möglich. Ob die Anzahl von Wiederholungen zum Aufbau einer konditionierten Reaktion in jüngeren Jahren kleiner oder größer ist als bei älteren Kindern, wissen wir noch nicht sicher. Die Beantwortung dieser Frage dürfte stark mit der Art des zu lernenden Inhalts variieren. Die Eltern werden umso eher Einfluss auf das Verhalten des Kindes haben, je eindeutiger sie bestimmte Hinweisreize setzen, je besser sie darauf achten, dass das Kind in einem lernbereiten Zustand (aufmerksam) ist, wenn der Hinweisreiz gegeben wird und je zuverlässiger auf den unbedingten Reiz bzw. auf die spontane Verhaltensweise bedeutsame Konsequenzen folgen. Zu beachten gilt es ferner, dass sozialen Verstärkern, wie Zuwendung und Ansprache, von Geburt an ein großer Stellenwert beizumessen ist. Was sich mit dem Alter verändert, ist vor allem, wie unmittelbar die Belohnung auf das erwünschte Verhalten folgen muss. Während eine prompte Reaktion, die in Mimik und Sprachmelodie eindeutig erkennbar sein sollte, für Säuglinge extrem wichtig ist, können Dritt- oder Viertklässler durchaus auch sehr indirekte Formen der Anerkennung, wie etwa eine gute Schulnote, die erst eine Woche nach der gezeigten Leistung als Belohnung zum Tragen kommt, mit dem gewünschten Verhalten (hier: für die Schule üben) in Verbindung bringen. Kindergartenkinder und jüngere Grundschüler befinden sich in einem Zwischenstadium. Sie profitieren stärker von direkt spürbaren Konsequenzen ihres Verhaltens, sind z. T. aber auch schon in begrenztem Umfang zu Belohnungsaufschub in der Lage. Wichtig ist es in diesen Fällen, den Zusammenhang zwischen Verhalten und Konsequenz verbal zu verdeutlichen, da diese Verdeutlichung gleichzeitig als Gedächtnisstütze dient und die Reflexion über das eigene Handeln und seine Folgen fördert. Wachsende Gedächtnis- und Sprachkompetenzen
sind also ganz wesentlich für die Fähigkeit von Kindern, Belohnungsaufschub akzeptieren zu können. Die Verwendung von Tokensystemen, die bei der operanten Konditionierung im Rahmen der Kindertherapie eine herausragende Rolle spielt (Lauth et. al. 2001, 7 Kap. III/13), setzt Symbolverständnis voraus, denn das Kind muss verstehen, dass die erworbenen Tokens (Punkte, Sternchen, Smileys etc.) für konkrete Belohnungen stehen, die zu einem späteren Zeitpunkt in materielle oder soziale Verstärker umgetauscht werden können. Grundschulkinder lernen, sich auf etwas zu freuen. Zusätzlich finden in der Schule Lernprozesse statt (wie etwa das Grundrechnen auch mit Geld), die ihnen die Bedeutung von Tokens nahebringen. Der Umgang mit solchen Systemen macht ihnen auch aus diesem Grund häufig Spaß. Folglich gibt es verschiedene entwicklungspsychologische Gründe, warum Tokensysteme im Rahmen der operanten Konditionierung ab dem Grundschulalter besonders gut anwendbar sind. ! Eine Verhaltensformung im Sinne von klassischer und operanter Konditionierung findet von Geburt an statt, die primären Bezugspersonen spielen dabei eine zentrale Rolle.
1.4.3 Beobachtungslernen
Wie die beiden vorangegangen Lernformen, so kann auch das Beobachtungslernen von früh an nachgewiesen werden. Sieht man einmal von der Neugeborenenimitation ab, die sich auf einfache mimische Gesten beschränkt, kann man ab dem 3.–4. Lebensmonat auch die gezielte Nachahmung von einfachen Handlungen beim Kind beobachten, die vor allem in direkter Interaktion von Angesicht zu Angesicht zum Tragen kommt. Babys werden in der Folge zu aufmerksamen Betrachtern ihrer Umgebung. Sie lieben es, Erwachsenen bei Haushaltstätigkeiten zuzusehen, und sobald es ihre motorischen Kompetenzen erlauben, ahmen sie dieses Verhalten nach. Das zeigt sich z. B. am Werkzeuggebrauch: Spielzeugmodelle realer Objekte werden bereits gegen Ende des 1. Lebensjahres in ihrer funktionsspezifischen Weise gehandhabt: Die Bürste wandert zum Kopf, das Handy ans Ohr, das Puppentässchen zum Mund, und das Auto wird über den Tisch geschoben. Die Mimik und der Tonfall der Eltern oder von Geschwisterkindern werden ebenfalls imitiert. Auffällig ist dabei, dass Kinder zu Beginn des 2. Lebensjahres vor allem an den Zielen einer Handlung interessiert sind. Das bedeutet, dass sie unter Umständen nicht das exakte Verhalten eines Erwachsenen nachahmen, aber das Verhaltensziel übernehmen. Es interessiert sie also weniger das Wie als das Was. Erst etwas später, ab Mitte des 2. Lebensjahres, bemühen sie sich, eine beobachtete Verhaltensweise in möglichst ähnlicher Weise auszuführen wie das Vorbild (Hurley u. Chater 2006). Wichtig erscheint an dieser Stelle der Hinweis, dass auch der Umgang mit Aus-
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
einandersetzungen, die für Kinder emotional bedeutsam sind, aufmerksam verfolgt wird. Die Bedeutung von Lernen durch Beobachtung verstärkt sich im Verlauf der Kleinkind- und Kindergartenzeit noch weiter. Imitiert werden bevorzugt Modelle, die für das Kind wichtig sind. Das können Erwachsene, aber auch Altersgenossen sein. Die Imitation erfolgt nicht immer unmittelbar, sondern kann unter Umständen auch erst Tage später zum Tragen kommen. Im Alltag lässt sich diese Vorliebe zum Imitieren u. a. am Spielverhalten der Kinder beobachten: Das Rollenspiel, in dem Kinder in unterschiedliche Persönlichkeiten schlüpfen, ist im Kindergartenalter besonders verbreitet – nicht zuletzt deshalb, weil Kinder in dieser Spielform üben können, in die Haut anderer zu schlüpfen und deren Verhaltensrepertoire aktiv zu spiegeln. Während in früher Kindheit vor allem Eltern und Geschwister für Imitationshandlungen als Vorbild dienen, nimmt ab dem Kindergartenalter die Bedeutung von Peers immer weiter zu. Kinder imitieren mit höherer Wahrscheinlichkeit Modelle, die ihnen ähnlich sind, und bevorzugen solche Verhaltensweisen, für die das Modell vor ihren Augen belohnt wird. Dabei kann die Interpretation dessen, was als Belohnung wahrgenommen wird, durchaus variieren: Ein jüngeres Kind, das Zuwendung und Aufmerksamkeit vermisst, und beobachtet, wie sich die Erzieherin länger mit einem anderen Kind unterhält, welches zuvor jemanden geschlagen hat, wird diese Form der Zuwendung möglicherweise als Belohnung für das aggressive Verhalten deuten und mag demnächst versuchen, auf ähnliche Weise Zuwendung zu erhalten. Ein anderes Kind, das Aufmerksamkeit und Zuwendung nicht in gleicher Weise vermisst, muss nicht den gleichen Effekt zeigen. In ähnlicher Weise mag ein Jugendlicher, der beobachtet, wie ein anderer Jugendlicher für riskantes Verhalten Achtung und Respekt durch seine Peers erfährt, sich geneigt fühlen, selber auch riskantes Verhalten zu zeigen, um Anerkennung zu erlangen – und zwar mit umso größerer Wahrscheinlichkeit, je abhängiger er von der Wertschätzung seiner Peers ist. ! Was sich hier mit dem Alter verändert, ist vor allem der Bezugsrahmen für die Interpretation von Belohnung: Bei jüngeren Kinder spielt das Verhalten und die Bewertung durch Erwachsene eine zentrale Rolle, aber mit zunehmendem Alter steigt die Relevanz der Bewertung durch Gleichaltrige immer weiter an.
Soziale Zuwendung und Aufmerksamkeit durch andere bleiben konstante Motive, die Beobachtungslernen wahrscheinlich machen. Es können immer nur solche Handlungen imitiert werden, die im Verhaltensrepertoire des betreffenden Kindes oder Jugendlichen liegen. Naturgemäß erweitert sich damit das Spektrum der potenziell nachahmbaren Handlungen mit dem Alter – schon allein, weil die motorischen Kompetenzen zunehmen. In den meisten verhaltenstherapeutischen Therapiekonzepten wird das Lernen am Modell als wichtiger Wirk-
faktor angesehen. Zum einen vermittelt der Therapeut selbst als Modell, wie eine bestimmte Anforderung bewältigt werden könnte (»teilnehmendes Modelllernen«). So beinhaltet z. B. das »Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern« nach Lauth und Schlottke (2002) wiederholte Demonstrationen des Therapeuten zum Problemlösen: [er] löst eine Aufgabe und demonstriert, wie er vorgeht. Er verdeutlicht sein Vorgehen, um die Regeln und Strategien zu veranschaulichen, denen er folgt (Lauth u. Schlottke 2002, S. 127).
Zum anderen stehen Therapiematerialien zur Verfügung, die zeigen, wie sich andere Personen/Kinder in einer bestimmten Situation verhalten bzw. mit welchen Strategien sie bestimmte Konflikte lösen (symbolisches/medienvermitteltes Modelllernen; z. B. »Wackelpeter & Trotzkopf« aus Döpfner et al. 2002). Damit Kinder von solchen therapeutischen Maßnahmen profitieren können, müssen sie aber bereits in der Lage sein, Gemeinsamkeiten zwischen sich und dem Modell herzustellen und das Verhalten der anderen Person auf ihre eigene Situation übertragen können. Wie bereits dargelegt, entwickeln sich die entsprechenden Kompetenzen im Verlauf der Grundschulzeit. ! Im Rahmen der Behandlung von Verhaltensstörungen ist es wichtig zu explorieren, welche Personen für das Kind besonders wichtig sind und wem es nacheifern möchte. Dabei gilt zu beachten, dass unerwünschte Verhaltensweisen unter Umständen durch Lernen am Modell zustande gekommen sein können.
1.4.4 Lernen durch Einsicht
Einsicht setzt die Fähigkeit zur Reflexion voraus. Mit Reflexion ist nichts anderes gemeint, als dass man über ein gegebenes Problem, über eine Situation oder ein Verhalten bewusst nachdenkt. Doch nicht nur ein Nachdenken über externe Situationen spielt für die psychische Gesundheit und Therapie eine große Rolle, sondern ebenso die Fähigkeit zur Reflexion über die eigene Person und das eigene kognitive und emotionale Erleben. Dieses bewusste Nachdenken ist nicht notwendigerweise an Sprache gebunden. So konnten wir in eigenen Studien dokumentieren, dass selbst 7 Monate alte Babys über Ursache und Wirkung nachdenken und komplex unterschiedliche Arten von Erfahrungen integrieren, um eine gegebene Situation zu interpretieren. Doch trotz solcher eindrucksvoller Denkleistungen im vorsprachlichen Alter darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Sprache sehr wichtig für die Vermittlung von Einsichten durch Dritte ist, wie dies vor allem im Rahmen von therapeutischen Prozessen der Fall ist. Im vorliegenden Fall interessieren dabei insbesondere Einsichten in Verhaltensnormen, die nachfolgend näher beleuchtet werden:
11 1.4 · Verschiedene Lernformen und ihre Entwicklung
Jüngeren Kindern bis Eintritt in das Schulalter gelingt es nur schwer, eigene Fehler einzusehen; im Allgemeinen verinnerlichen sie Verhaltensregeln, die ihnen von Erwachsenen oder Gleichaltrigen vermittelt werden, weitgehend unreflektiert und stellen Abweichungen von dieser Regel fest, ohne die Regeln selbst zu begründen oder zu hinterfragen. Dennoch macht es einen großen Unterschied, ob man Kindergartenkinder einfach nur für richtiges Verhalten belohnt und für falsches Verhalten bestraft oder ob man ihnen eine Begründung dafür gibt. Insbesondere müssen sie erst lernen zu verstehen, warum bestimmte zwischenmenschliche Regeln (z. B. sich nicht gegenseitig zu belügen, zu bestehlen, zu beleidigen oder zu schlagen; höflich zueinander zu sein, sich gegenseitig zuzuhören) wichtig für das Zusammenleben sind. Man kann dieses Verständnis fördern, indem man ihnen die Erklärung in konkreten Situationen liefert. Hört das Kind die Begründung solcher Regeln wiederholt, so erlangen diese allmählich an Bedeutung. Ein konkretes Beispiel mag die Wichtigkeit von Lernen durch Einsicht auch bei kleinen Kindern verdeutlichen:
Beispiel Wenn ein fünfjähriger Junge ein anderes Kind auf der Straße schlägt, und seine Mutter reagiert darauf konsequent und prompt mit der Aussage: »Das macht man nicht! Du gehst jetzt sofort rein auf Dein Zimmer!«, dann hat sie gute Chancen zu erreichen, dass ihr Sohn seine Spielkameraden schon bald nicht mehr in ihrer Gegenwart schlägt, um zu vermeiden, dass er auf sein Zimmer gehen muss. Hier greift das Prinzip der operanten Konditionierung. Schaut die Mutter beim nächsten Mal aber gerade weg, dann gibt es aus der Sicht ihres Sohnes keinen Grund, das Hauen zu unterlassen, denn er hat noch nicht verstanden, warum er nicht schlagen soll. Die negativen Konsequenzen sind vor allem daran gebunden, dass die Mutter sieht, was geschieht. Ist sie abwesend, besteht keine entsprechende Gefahr. Stellen wir uns im Kontrast dazu eine Mutter vor, die ihrem fünfjährigen Sohn erklärt, dass er andere Kinder nicht schlagen darf, weil das weh tut. Um Lernen durch Einsicht zu fördern, bittet die Mutter ihren Sohn sich vorzustellen, selbst geschlagen worden zu sein. Gelingt diese Vorstellung, dann sind die Voraussetzungen dafür gegeben, einzusehen, warum man nicht schlagen soll. Auch wenn der Sohn vielleicht noch nicht in der Lage ist, sich wirklich in sein Opfer hineinzuversetzen, macht die Mutter auf diese Weise doch deutlich, dass es eine Erklärung gibt und regt an, nach Gründen für Verhalten oder Verhaltensregeln zu fragen. Diese Grundhaltung ist nicht selbstverständlich und muss Kindern erst durch Lernen am Modell vermittelt werden.
In der Grundschulzeit konsolidieren Kinder ihr bisher gelerntes Wissen über den richtigen Umgang miteinander. Außerdem werden ihnen eine ganze Reihe neuer Regeln zusätzlich vermittelt. Nicht umsonst dominieren in dieser Zeit auch auf dem Schulhof oder zuhause Regelspiele – seien es Brettspiele, Sportspiele oder Kartenspiele. Kinder ermahnen sich gegenseitig zur Einhaltung der Regeln und stellen fest, was passiert, wenn man Regeln überschreitet, trickst oder sich unfair verhält. Kinder üben den »korrekten« Umgang miteinander – auch ohne Aufsicht von Eltern. Spätestens mit Beginn der Pubertät werden viele Regeln noch einmal neu hinterfragt. Der Jugendliche setzt sich nun aktiver als bisher mit den Erwartungen von Erwachsenen auseinander und kontrastiert sie mit Erwartungen von Gleichaltrigen und seinen eigenen Vorstellungen. Jetzt wird das Lernen durch Einsicht besonders wichtig, gleichzeitig aber auch schwieriger, weil es Pubertierenden im Allgemeinen nicht leicht fällt, sich Einsichten durch Erwachsene vermitteln zu lassen. Häufig sehen sich Eltern deshalb entweder mit verschlossenen Jugendlichen konfrontiert, die zuhause nicht über ihre Werte diskutieren wollen, oder mit solchen, die endlos diskutieren, um ihre Eltern von eigenen Vorstellungen zu überzeugen. ! Zunehmende Fähigkeiten, über kognitives und emotionales Erleben nachzudenken und sprachlich zu kommunizieren, ermöglichen eine bewusste Auseinandersetzung mit sozialen Regeln und Normen. Dies schafft die Voraussetzung für eine Verhaltensmodifikation durch Einsicht. > Fazit Alle wichtigen Lernformen sind von Geburt an im Repertoire von Kindern vorhanden. Das gilt sowohl für die klassische und operante Konditionierung als auch für das Beobachtungslernen und das Lernen durch Einsicht. Dennoch verändert sich ihre Umsetzung auf verschiedenen Ebenen. Dazu trägt einerseits die Verschiebung der potenziellen Verstärkermechanismen bei. In jedem Alter sind andere Verstärker wirksam, wobei soziale Anerkennung immer einen hohen Stellenwert einnimmt. Unmittelbare positive Gefühlsreaktionen von emotional bedeutsamen Personen sind von Geburt an wirksam; mit zunehmendem Sprachverständnis spielt Lob eine immer wichtigere Rolle, und ab dem Kindergarten- bzw. Grundschulalter, wenn Kinder das Prinzip des Belohnungsaufschubs verstehen, können Tokensysteme zum Einsatz kommen. Weiterhin verändert sich die Reflexionsfähigkeit über das eigene Tun, die vor allem sprachgebunden ist. Sie beeinflusst insbesondere höhere Lernformen wie etwa das Beobachtungslernen und das Lernen durch Einsicht.
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
1.5
Entwicklungspsychologische Veränderungen mit Bedeutung für die Verhaltenstherapie
Im nächsten Schritt werden ausgewählte Bereiche der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die für die Umsetzung verhaltenstherapeutischer Konzepte von besonderer Bedeutung sind, näher beleuchtet. Dazu zählen die Bereiche 4 kognitive Grundfunktionen: 5 Aufmerksamkeit, 5 Lernen und Gedächtnis; 4 emotionale Grundfunktionen: 5 emotionale Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit sowie 5 Selbstregulation; 4 soziale Grundfunktionen: 5 Sprache und Kommunikation sowie 5 Sozialverhalten und soziale Fertigkeiten. 1.5.1 Entwicklung kognitiver Grundfunktionen
Das Ziel von Verhaltenstherapie ist Verhaltensänderung. Verhaltensänderung setzt ihrerseits Aufmerksamkeits-, Lern- und Gedächtnisprozesse beim Kind voraus. Wenn wir Verhaltensänderungen gezielt induzieren wollen, müssen wir folglich über die Entwicklung solcher basaler kognitiver Funktionen Bescheid wissen.
Aufmerksamkeit Der Mensch verfügt grundsätzlich über limitierte geistige Ressourcen. Das fängt schon damit an, dass wir unsere Augen auf einen ganz bestimmten Bereich der Außenwelt lenken und auch nur einen eng umgrenzten Teil des Raumes scharf sehen. Innerhalb dieses Bereiches können wir unsere Aufmerksamkeit wiederum auf ganz bestimmte Teilaspekte richten und die fokussierten Teile besonders intensiv verarbeiten. Es ist also der Normalfall, dass ein Großteil der prinzipiell zur Verfügung stehenden Information nicht verarbeitet wird. Damit stellt sich die Frage, wie Kinder lernen, sich auf Teilaspekte zu konzentrieren. Solche Kenntnisse sind für Verhaltenstherapeuten gleich aus mehreren Gründen wichtig: Zum einen muss sichergestellt sein, dass Trainingsprogramme für Kinder ihren altersbezogenen Fähigkeiten entsprechen. Zum anderen sind Probleme mit der Aufmerksamkeitssteuerung häufig Anlass für therapeutische Interventionen. Auf die eher praktisch orientierten Aspekte wird später noch genauer eingegangen (7 Abschn. 1.5.2, »Selbstregulation«). An dieser Stelle sollen zunächst die Grundlagen der Aufmerksamkeitsentwicklung näher erläutert werden. Visuelle Aufmerksamkeit. Im Kontext der Wahrnehmung
nimmt der Sehsinn eine zentrale Stellung ein: Beim Neuge-
borenen ist das Sehen noch vergleichsweise schlecht entwickelt, und es dauert bis ca. Mitte des 1. Lebensjahres, bevor ein Kind annähernd so gut sehen kann wie ein Erwachsener. Auch das Zusammenspiel der beiden Augen, das für die Tiefenwahrnehmung bedeutsam ist, entwickelt sich im Verlauf des 1. Lebensjahres. Es scheint daher kaum verwunderlich, dass für die Steuerung des Blickverhaltens zunächst nur subkortikale Regionen im Gehirn (die im Stammhirn gelegenen Colliculi superiores) verantwortlich sind. Sie ermöglichen es dem Baby, von Geburt an auf bewegte Reize mit Blickzuwendung zu reagieren. Aber auch, wenn das Kind ein plötzliches Geräusch hört, dreht es seinen Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Etwas später, mit ca. 3–4 Monaten folgt eine Phase, die man »obligatory looking« nennt. Hat das Kind jetzt einmal einen Gegenstand fixiert, so »klebt« es förmlich daran und kann seinen Blick nicht ohne Weiteres wieder auf etwas anderes richten. Dieses Verhalten wird dann abgelöst durch willentlich gesteuerte visuelle Aufmerksamkeit, die das Kind in der Folge zunehmend schult. Diese willentlich gesteuerte Aufmerksamkeit ist gebunden an Hirnprozesse, die den Thalamus, das anteriore Cingulum sowie die frontalen Augenfelder einschließen (einen guten Überblick zur visuellen Aufmerksamkeitsentwicklung aus neurologischer Sicht gibt Johnson 2006). Man kann nun feststellen, dass der Aufmerksamkeitszustand eines Kindes variiert, während es einen Gegenstand fixiert. So unterscheidet man zwischen einfachem »looking« (Anschauen) und »examining« (Examinieren, Untersuchen), wobei der letztgenannte Zustand mit einer Verlangsamung des Herzschlags zusammenfällt, was seinerseits als Hinweis auf eine kortikale Beteiligung gewertet wird (Elsner et al. 2006). Kortikal vermittelte Prozesse ermöglichen es dem Kind auch, antizipatorisch fließende Blickbewegungen auszuführen: Wenn ein Objekt hinter einem Wandschirm verschwindet, eilt der Blick des Kindes dem Gegenstand nun voraus und erwartet ihn am anderen Ende des Wandschirmes. In Babyversuchen spielt die visuelle Aufmerksamkeit und die Blickpräferenz (als Maß des Interesses an einem Gegenstand) eine zentrale Rolle. Sie wird als Indikator für höhere Denkprozesse unter Beteiligung des Großhirns gewertet. Aufmerksamkeitsspanne. Auch im weiteren Leben eines Kindes ist sein Aufmerksamkeitsverhalten für das Lernen und Denken von entscheidender Bedeutung. Dabei gilt es zu beachten, dass die Aufmerksamkeitsspanne eines Kindes im Normalfall mit zunehmendem Alter anwächst. Während ein Baby im Durchschnitt nur wenige Sekunden bis Minuten mit einem interessanten Gegenstand beschäftigt ist, fällt diese Spanne beim Kindergartenkind schon deutlich länger aus und beträgt etwa eine halbe Stunde. Im Grundschulalter sind Kinder unter Umständen auch mal eine ganze Stunde mit einem Objekt beschäftigt. Jugendliche oder Erwachsene bleiben schließlich bis zu mehreren
13 1.5 · Entwicklungspsychologische Veränderungen mit Bedeutung für die Verhaltenstherapie
Stunden konzentriert und aufmerksam bei der Sache. Allerdings gilt es zu beachten, dass die Möglichkeiten, den Gegenstand aktiv zu explorieren, also auch mit den Händen zu manipulieren, ebenfalls wachsen, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das Kind sein Interesse in aktiver Auseinandersetzung mit Objekten länger erhält. Aufmerksamkeitssteuerung. Wie bereits erwähnt, ist es für den therapeutischen Prozess von großer Bedeutung, die Aufmerksamkeitskapazitäten eines Kindes zu berücksichtigen – vor allem, wenn es um die Anregung neuer Lernprozesse geht. Aber noch ein zweiter Aspekt scheint an dieser Stelle wichtig zu sein. Aufmerksamkeitsprobleme können nämlich in zwei unterschiedlichen Richtungen bestehen: Entweder wird nicht genug Aufmerksamkeit/Konzentration aufgebracht, um einen gegebenen Reiz zu verarbeiten, oder die Aufmerksamkeit konzentriert sich zu stark auf ganz spezifische Aspekte und kann nicht von ihnen gelöst werden. Gerade bei jüngeren Kindern ist das Aufmerksamkeitssystem noch sehr stark außengesteuert. Eine ablenkende Umgebung macht es vielen von ihnen schwer, sich zu konzentrieren. Sie haben also vor allem Probleme der ersten Art. Die einseitige Fokussierung auf ganz spezifische Reize bei gleichzeitiger Ausblendung anderer Aspekte findet sich dagegen vermehrt im Jugendalter. Diese Veränderungen auf der Verhaltensebene haben u. a. mit physiologischen Reifungsprozessen zu tun. In einem späteren Abschnitt zum Thema Selbstregulation (unter 7 1.5.3) wird die Aufmerksamkeitssteuerung nochmals aufgegriffen und aus einer etwas anderen Perspektive beleuchtet. ! Nur in einem aufmerksamen Zustand ist das Kind wirklich aufnahmebereit. Gezielte Interventionen sollten nur dann erfolgen, wenn sichergestellt ist, dass das Kind diese auch bewusst wahrnimmt.
Lernen und Gedächtnis Verhaltenstherapeutische Maßnahmen wollen Verhalten ändern. Dies setzt Lern- und Gedächtnisprozesse voraus. Sämtliche bereits besprochenen Lernformen gründen sich auf die Fähigkeit von Kindern, Kontingenzen zu erkennen, Wissen zu vernetzen und Erfahrungen zu konsolidieren. Wie aber entwickeln sich diese Fähigkeiten? Bereits im Mutterleib beginnen Kinder, Erfahrungen dauerhaft zu speichern. Das konnte für unterschiedliche Sinnesmodalitäten, wie etwa das Riechen, Schmecken oder das Hören nachgewiesen werden. In Bezug auf die akustische Wahrnehmung belegen empirisch gut kontrollierte Studien, dass Babys die Stimme ihrer Mutter unmittelbar nach der Geburt wiedererkennen. Ebenso können sie sich offensichtlich an eine Geschichte erinnern, die ihnen in den letzten Wochen vor der Geburt einmal pro Tag laut vorgelesen wurde. Diese Befunde waren bereits im Zusammenhang mit klassischer und operanter Konditionierung besprochen worden.
Implizites Lernen. Ein Lernmechanismus, der Kindern von Geburt an zur Verfügung steht, aber noch nicht besprochen wurde, ist das implizite Lernen. Darunter versteht man nichtbewusstes Lernen, das mehr oder weniger automatisch erfolgt. Auf der Seite des Gedächtnisses differenziert man zwischen a) prozeduralem Gedächtnis, das sich vor allem auf motorische Abläufe bezieht, und b) Priming, einer Art Bahnung zum Abruf von Gedächtnisinhalten durch die Wahrnehmung.
Während im erstgenannten Fall das Kleinhirn und die Basalganglien beteiligt sind, spielt im zweiten Fall das Großhirn mit seinen für die Wahrnehmung zuständigen sensorischen Arealen eine entscheidende Rolle. Habituation und Dishabituation. Einen Lernmechanismus,
der z. T. mit Priming in Verbindung gebracht wird, stellt die Habituation dar: Präsentiert man immer wieder den gleichen Reiz, dann wird ein Kind sich daran gewöhnen und mit der Zeit weniger stark darauf reagieren. Habituationsvorgänge lassen sich schon vor der Geburt beobachten, wenn Föten zunächst Schreckreaktionen (Blinzeln, Zucken) und eine Beschleunigung ihrer Herzrate zeigen, sobald man einen vibratorisch-akustischen Reiz durch die Bauchdecke der Mutter sendet. Diese Reaktion nimmt bei wiederholter Darbietung ab. Interessant scheint dabei, dass der gleiche Reiz auch nach 24 Stunden zu einer schwächeren Reaktion führt als bei seiner ersten Präsentation. Der Fötus hat sich also durchaus etwas gemerkt. Mit zunehmendem Alter wird das Behaltensintervall größer. Die Habituation/Gewöhnung an angstauslösende Situationen ist für die Verhaltenstherapie mit älteren Kindern und Erwachsenen wichtig. Konkret geht es um das Verfahren der Desensibilisierung. Wie wir aus Studien mit Föten schließen können, scheint Desensibilisierung, ähnlich wie Konditionierung, eine Lernform zu sein, der man sich von Anfang an bedienen kann, um Verhalten zu formen. Habituationsprozesse sind für Studien, die das frühe Lernen und Gedächtnis untersuchen wollen, ein überaus wichtiges Phänomen – vor allem in Kombination mit Dishabituationsprozessen, die immer dann auftreten, wenn nach Gewöhnung an einen Reiz ein anderer Reiz präsentiert wird, den das Kind als neu wahrnimmt und der deshalb eine Orientierungsreaktion (verstärkte Aufmerksamkeit) auslöst. Präsentiert man etwa ein bestimmtes Gesicht auf einem Foto, bis das Baby daran gewöhnt ist, und gibt ihm dann zwei Gesichter zur Auswahl – noch einmal das bereits bekannte und ein anderes –, so wird das Baby bevorzugt das neue Gesicht anschauen. Diskriminationslernen. Damit eine solche Orientierungsreaktion entstehen kann, muss das Kind in der Lage sein, Reize zu unterscheiden. Es geht im vorliegenden Zusammenhang also vor allem um die Möglichkeiten eines Kindes, Dinge als vertraut wahrzunehmen. Man spricht daher
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
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. Abb. 1.1. Modell von Habituation- und Dishabituationsleistungen. (Aus Kavsek 2000)
auch von »recognition« oder Wiedererkennung. Das Diskriminationslernen ist im Rahmen von verhaltenstherapeutischen Verfahren von größter Relevanz, wenn es um die Angemessenheit von Reaktionen geht. Nur wenn ein Kind Reize sicher unterscheiden kann, kann es auch lernen, unterschiedlich auf sie zu reagieren. Wie . Abb. 1.1 deutlich macht, spielen bei Habituations- und Dishabituationsprozessen eine ganze Reihe latenter kognitiver Operationen eine zentrale Rolle, von denen einige auch für das das Diskriminationslernen von großer Bedeutung sind. Recall. Bislang war ausschließlich von Verhaltensweisen die Rede, die in Reaktion auf einen gegebenen Reiz deutlich wer-
den. In vielen Fällen ist es aber auch wichtig, dass Kinder in einer gegebenen Situation von sich aus bestimmte Aktivitäten zeigen oder sich etwas in Erinnerung rufen. Dazu müssen sie sich aktiv an die passende Verhaltensweise erinnern. Man spricht auch von Recall. Ein berühmtes Beispiel für frühe Recall-Leistungen liefert das Mobile-Paradigma (s. unten). Recall ist u. a. für die verzögerte Imitation im Rahmen des Beobachtungslernens (s. oben) von Bedeutung. Einen Überblick über die Lern- und Denkentwicklung in den ersten Lebensjahren gibt Pauen (2006). Entwicklungspsychologische Veränderungen der Gedächtnisleistung bei älteren Kindern (z. B. Metagedächtnis) werden in anderen Zusammenhängen später noch besprochen.
Beispiel Das Mobile-Paradigma zur Untersuchung von Recall im Säuglingsalter (Rovée-Collier u. Hayne 1987) Zunächst wird das spontane Strampelverhalten eines Babys in einem Bettchen unter einem Mobile beobachtet (Basisphase). Anschließend folgt eine Lernphase, in der Bein und Mobile verknüpft werden. In einer dritten Phase wird dann nochmals unter Basisbedingungen gemessen, wie sich die Strampelaktivitäten gegenüber der ersten Phase verändern. Wie sich zeigte, stellen bereits Babys einen systematischen Zusammenhang zwischen den Bewegungen des Mobiles und denen ihrer Beine her. Dass sie ihr implizites Wissen über diesen Zusammenhang aktiv erinnern, zeigt sich daran, dass sie selbst Tage bzw. Wochen später mehr strampeln, wenn man das gleiche Mobile wieder über ihr Bettchen hängt. Indem man systematisch die Zeitabstände zwischen Lern- und Testphase vari-
ierte und außerdem die Kontextbedingungen (anderes Bettchen, anderes Mobile) veränderte, konnte man untersuchen, wie sich die Lern- und Erinnerungsleistungen mit dem Alter verändern. Dabei sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: 4 Die Zeitabstände, nach denen Erinnerungsleistungen festgestellt wurden, vergrößerten sich systematisch über das 1. Lebensjahr hinweg von einem Tag auf bis zu 2 Wochen. 4 Während die Kinder am Anfang nur dann in der Lage waren, die Erinnerung wachzurufen, wenn die Kontextbedingungen identisch mit den Lernbedingungen waren, generalisierte diese Leistung mit dem Alter auch auf andere Kontextbedingungen.
15 1.5 · Entwicklungspsychologische Veränderungen mit Bedeutung für die Verhaltenstherapie
1.5.2 Entwicklung emotionaler Grundfunktionen
Emotionale Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit Eine ganze Reihe von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten, die zu therapeutischen Interventionen führen, betrifft die emotionale Wahrnehmung und den emotionalen Ausdruck. Kinder müssen erst lernen, Gefühlszustände bei anderen Personen zu erkennen und eigene Gefühle angemessen auszudrücken (Petermann u. Wiedebusch 2003). Abhängig von Temperamentsunterschieden und Beziehungserfahrungen fällt ihnen dies unterschiedlich leicht. Da die therapeutische Arbeit mit den Gefühlen der Patienten auch in der Verhaltenstherapie zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist es wichtig zu beachten, welche emotionalen Kompetenzen das Kind bereits erworben hat. Es muss geklärt sein, ob das Kind in der Lage ist, relevante Gefühle bei Interaktionspartnern zu registrieren und sein Verhalten darauf abzustimmen. Folgende drei Bereiche emotionaler Kompetenzen lassen sich zusammenfassen, deren Entwicklung die sozialen Interaktionen des Kindes maßgeblich beeinflusst: 4 der Emotionsausdruck, 4 das Emotionsverständnis und 4 die Emotionsregulation (Saarni 1999). Betrachtet man die Entwicklung dieser drei Kernkompetenzen, ergeben sich viele Überschneidungen mit anderen Bereichen, insbesondere der sozialen Wahrnehmung bzw. sozialen Kognition und der Selbstregulation, von denen später noch die Rede sein wird. An dieser Stelle soll jedoch zunächst über die Differenzierung von Emotionen und das Emotionserkennen im Entwicklungsverlauf berichtet werden. Emotionsausdruck. Das menschliche Gesicht nimmt in der Kommunikation und Interaktion eine zentrale Stellung ein. Schon Säuglinge zeigen eine deutliche Präferenz für menschliche Gesichter gegenüber anderen Reizmustern und beginnen, auf das Ausdrucksverhalten ihrer Bezugsperson zu reagieren. Tiefenpsychologisch orientierte Säuglingsforscher betrachten diesen frühen emotionalen Austausch zwischen Mutter und Kind im 1. Lebensjahr als zentral für den Aufbau eines »präsymbolisch organisierten Selbst« und sprechen von der Entwicklung eines »affektiven Kerns« durch die »Internalisierung emotionaler Interaktionsmuster« (Reck et al. 2001). Andere Forschungstraditionen betonen ebenfalls die Bedeutung emotionaler Wahrnehmungsfähigkeiten und untersuchen z. B. auf der Grundlage evolutionär orientierter Theorien, in welchem Alter Kinder in der Lage sind, universelle, kulturübergreifende Basisemotionen im mimischen Gesichtsausdruck zu erkennen. Diese Basisemotionen spielen eine wichtige Rolle sowohl für den Beziehungsaufbau zu den Bezugspersonen (interpsychische Funktion) als auch zur Eigenregulation
(intrapsychische Funktion). Wie zahlreiche Studien zeigen konnten, sind das Erkennen und Beachten emotionaler Signale im Gesichtsausdruck von Interaktionspartnern Voraussetzungen für sozial angepasstes und erfolgreiches Verhalten (Saarni 1999). In Bezug auf die eigene Person schützt z. B. Ekel vor schädlichen Substanzen, Freude und Erregung erhöhen die Aufnahmebereitschaft für Informationen, und Angst dient der Vermeidung von Gefahren. Sowohl im Emotionsausdruck als auch beim Erkennen der Gestimmtheit anderer Personen scheinen zunächst globale, an der Valenz der Gefühle (positiv vs. negativ) orientierte Unterscheidungen im Vordergrund zu stehen, die sich in den folgenden Monaten zunehmend ausdifferenzieren. Während das Neugeborene noch ein eher unspezifisches »Distress-Schreien« zeigt, kann man beim 2 Monate alten Kind schon klar zwischen Hunger- und Schmerzschreien unterscheiden. Ebenso differenziert sich das zunächst zufällig auftretende Neugeborenenlächeln weiter aus und ist mit etwa 4 Monaten immer dann zuverlässig zu sehen, wenn das Kind »Freude« an der Interaktion bzw. Kommunikation erlebt. Aus diesen zunächst ungerichteten Ausdruckszeichen (wie Schreien oder Lächeln) entstehen also im Verlauf der ersten Monate zunehmend gerichtete Ausdruckszeichen (z. B. Hungerschrei, soziales Lachen), die an einen bestimmten Anlass gekoppelt sind (Hunger, Interesse) und auf eine bestimmte Reaktion bei der Bezugsperson zielen (Füttern, Spiel). . Tab. 1.1 zeigt im Überblick, in welchem Alter welche emotionalen Kompetenzen zu beobachten sind. Dabei zeigt sich, dass der Grundstein für die Entwicklung der wichtigsten Emotionen bereits in der frühen Kindheit gelegt wird. Emotionsverständnis. Parallel zum Emotionsausdruck entwickelt sich auch die emotionale Eindrucksfähigkeit, d. h. der Säugling lässt sich in seinem Erleben vom emotionalen Ausdruck einer anderen Person beeindrucken. Zunächst handelt es sich dabei um Gefühlsansteckung: Wenn ein anderes Baby schreit, reagiert das Kind ebenfalls mit Geschrei. Aber schon mit wenigen Monaten gelingt es Säuglingen, die Mimik anderer Personen zu deuten, und sie erwarten, dass zu einem fröhlichen Gesicht auch eine freundliche Stimme gehört bzw. zu einem ärgerlichen Gesicht eine ärgerliche Stimme. Präsentiert man zueinander passende Bild-TonPaare, dann reagiert ihr Gehirn in anderer Weise, als wenn Gesicht und Stimme im Emotionsausdruck nicht zusammenpassen (Grossmann 2006). Ab etwa 9 Monaten nehmen die Kinder dann den Ausdruck der Bezugsperson als deren innere Befindlichkeit wahr und beobachten sehr genau, wie die Mutter auf eine neue Situation oder ein neues Objekt reagiert (s. oben). Das sog. »emotional referencing« wird also erst dann möglich, wenn die Kinder eine Beziehung zwischen dem Emotionsausdruck der Mutter und dem Situationsanlass hierfür herstellen. Mit fortschreitender Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten lernen die Kinder im 2. und 3. Lebensjahr Ge-
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
. Tab. 1.1. Regulationsfunktionen der »Basisemotionen«. (Aus Holodynski u. Oerter 2002) Regulationsfunktion in Bezug auf Emotion
Alter [Monate]
Anlass
die eigene Person (intrapsychisch)
den Interaktionspartner (interpsychisch)
Ekel
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Wahrnehmung von schädlichen Substanzen/Individuen
Weist schädliche Substanzen/Individuen zurück
Signalisiert Aufnahmefähigkeit beim Individuum
Interesse/ Erregung
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Neuartigkeit, Abweichung; Erwartung
Öffnet das sensorische System
Signalisiert Aufnahmebereitschaft für Informationen
Freude
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Vertraulichkeit; genussvolle Stimulation
Signalisiert dem Selbst, die momentanen Aktivitäten fortzuführen
Fördert soziale Bindung durch Übertragung von positiven Gefühlen
Ärger
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Zielfrustration
Bewirkt die Beseitigung von Barrieren und Quellen der Zielfrustration
Warnt vor einem möglichen drohenden Angriff; Aggression
Trauer
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Verlust eines wertvollen Objekts; Mangel an Wirksamkeit
Fördert auf niedrigem Niveau Empathie; führt bei höherer Intensität zur Handlungsunfähigkeit des Individuums (um evtl. dem Auftreten weiterer traumatischer Ereignisse vorzubeugen)
Löst Pflege- und Schutztendenzen sowie Unterstützung und Empathie aus
Furcht/Angst
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Wahrnehmung von Gefahr
Identifiziert Bedrohung, fördert Flucht- und Angriffstendenzen
Signalisiert Unterwerfung: wehrt Angriff ab
Wahrnehmung von Neuartigkeit; Verletzung von Erwartungen
Bereitet den Organismus auf neue Erfahrungen vor
Demonstriert Naivität des Organismus; beschützt diesen vor Angriffen
Überraschung
Scham/ Schüchternheit
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Wahrnehmung, dass die eigene Person Gegenstand intensiver Begutachtung ist
Führt zu Verhalten, welches das Selbst vor weiteren Angriffen auf die Intimsphäre schützt
Signalisiert Bedürfnis nach Zurückgezogenheit
Schuld
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Erkenntnis, falsch gehandelt zu haben, und das Gefühl, nicht entkommen zu können
Fördert Versuche zur Wiedergutmachung
Führt zu unterwürfiger Körperhaltung, welche die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs reduziert
fühle zu benennen und stellen Überlegungen über deren Anlass an, z. B. warum sich eine Person auf einem Bild freut. Die reine Gefühlsansteckung wird also abgelöst durch ein Hineinversetzen in andere Personen und deren Emotionen und Motive, was als wichtiger Schritt für die Entwicklung von Empathie zu sehen ist. Für das Kindergartenalter liegt daher eine Vielzahl von Untersuchungen vor, in denen man Kindern Bilder von Personen mit unterschiedlichen Emotionen zeigte und sie sowohl die Emotionen benennen ließ als auch nach entsprechenden Anlässen für die abgebildeten Gefühle fragte. Dabei zeigte sich übereinstimmend, dass Freude am schnellsten und eindeutigsten erkannt wird, während die Wahrnehmung von Ärger oder Überraschung noch 4- bis 5-jährigen Kindern Probleme bereitet. Das Erkennen und Benennen von Emotionen entwickelt sich vor allem im Vorschulalter weiter, bei 7- bis 10-jährigen Kindern scheint bereits ein hohes Maß an Sicherheit im Umgang mit Emotionsausdrücken erreicht zu sein. Hier ist vor allem eine deutliche Steigerung im Tempo der Erkennungsleistung von Bedeutung. Im therapeutischen Setting finden sich ebenfalls viele Übungen und Arbeitsmaterialien, die prüfen, wie sicher die Kinder im Erkennen und Benennen von Emotionen bereits
sind und welchen Situationen sie welche Emotionen zuordnen. Dies ist insbesondere relevant bei Patienten, die Probleme im Sozialverhalten zeigen, und bei Kindern mit Angststörungen. Während in der ersten Gruppe ein gehäuftes Wahrnehmen von Ärger beim Interaktionpartner nachgewiesen wurde, ist in der zweiten Gruppe eine besondere Unsicherheit im Umgang mit Angst/Furcht zu vermuten, in der Hinsicht, dass eine breitere Anzahl von Emotionsausdrücken als Angst wahrgenommen und interpretiert wird oder der Emotion Angst eine größere Anzahl von Auslösersituationen zugeordnet wird (Schneider 2004). Eine Reihe von verhaltenstherapeutischen Techniken wurde deshalb in Therapiemanualen für Kinder aufgenommen, mit dem Ziel, die emotionale Kompetenz der Kinder zu erhöhen und deren Wahrnehmungsprozesse zu differenzieren. Einen guten Überblick zur emotionalen Entwicklung geben u. a. Holodynski und Friedlmeier (2006).
Selbstregulation Die selbstständige Regulation von Aufmerksamkeit und Affekten gehört zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben des Menschen in jedem Alter. Es handelt sich um Fähigkeiten, die einerseits von hoher Relevanz für die eigene psy-
17 1.5 · Entwicklungspsychologische Veränderungen mit Bedeutung für die Verhaltenstherapie
chische Gesundheit sind, die andererseits aber auch die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen prägen. Eine bedeutsame Rolle spielen dabei die Handlungsplanung, die Handlungssteuerung sowie die Antizipation von Konsequenzen. Diese Kompetenzen werden unter dem Begriff der exekutiven Funktionen zusammengefasst. Neuropsychologische Untersuchungen belegen, dass diese primär durch das Frontalhirn kontrolliert werden, welches im Verlauf der Kindheit und Jugend besonders langsam reift. Man kann also erst relativ spät davon ausgehen, dass dem Jugendlichen vergleichbare Regulations- und Steuerungsmechanismen zur Verfügung stehen wie Erwachsenen. Zudem gibt es viele Erwachsene, die nur in begrenztem Maße über entsprechende Fähigkeiten verfügen. Eine mangelnde Handlungs- und Impulssteuerung ist das Hauptsymptom bei sog. externalen Störungen. Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) oder Störungen des Sozialverhaltens haben z. B. Schwierigkeiten, ihr Verhalten so zu steuern, dass es an die Anforderungen im schulischen Kontext angepasst ist, oder können ihr Arbeits- und Lernverhalten schwer strukturieren und vorausplanen (Döpfner et al. 2002, Lauth u. Schlottke 2002, 7 Kap. III/26). Für diese Gruppe von Kindern wird die kognitive Verhaltentherapie besonders empfohlen, weil sie geeignete Interventionen bereitstellt, um die Entwicklung der Selbststeuerung und Selbstregulation zu unterstützen und zu fördern. Effortful Control. Eine wichtige Voraussetzung für die Selbstregulation wird bereits im Säuglingsalter erworben: das Kind muss zunächst erfahren, dass es mit seinem Verhalten und seinen Reaktionen in seiner Umwelt etwas erreichen kann. Es ist dabei auf die Reaktionen seiner Bezugspersonen, insbesondere der Mutter, angewiesen. Wie die Forschungen zur frühen Eltern-Kind-Interaktion zeigen, benötigt der Säugling eine auf seine Signale abgestimmte (feinfühlige), zeitnahe (kontingente) und voraussehbare Reaktion der Mutter, um seine inneren Erregungszustände zu regulieren, seine Bedürfnisse zu befriedigen und sich selbst als aktiv an der Kommunikation beteiligte Person zu erleben (Papousek et al. 2001; Reck et al. 2001). Während also zunächst die Bezugsperson das Verhalten und das Erregungsniveau des Neugeborenen reguliert, übernimmt der Säugling zunehmend eigene Anteile in der interpsychischen Regulation. Mit dem Konzept der »Effortful Control« wird die Entwicklung dieser kindlichen Kontrollfunktionen beschrieben. Darunter versteht man die Fähigkeit, Aufmerksamkeit und Verhalten aktiv zu initiieren, zu modulieren und zu hemmen (Kochanska et al. 2000). In den ersten Lebensmonaten sind die Säuglinge durch Umgebungsreize noch schnell überlastet und reagieren häufig mit Stress; sie müssen lernen, ihre eigenen Verhaltenszustände zu steuern und sind dabei auf Beruhigungshilfen der Eltern angewiesen. Zwischen 3 und 6 Monaten gewinnt dabei die Lenkung der Aufmerksamkeit eine große
Bedeutung, die Babys können jetzt ihre Aufmerksamkeit aktiv von den überfordernden Reizen weglenken oder unangenehme innere Zustände (z. B. Schmerz) durch die Beschäftigung mit interessantem Spielzeug abbauen. Die neurologische Grundlage der Effortful Control wird in der Entwicklung und Reifung des anterioren cingulären Gyrus in der zweiten Hälfte des 1. Lebensjahres gesehen. Hierfür gibt es Markeraufgaben – Aufgaben also, die eine Feststellung des Reifungsgrades des anterioren Aufmerksamkeitssystems erlauben: Diamond (1991) konnte bei einer Untersuchung mit einem Versteck- und Suchparadigma zeigen, dass es Kindern mit etwa 12 Monate gelingt, eine dominante Verhaltensantwort, nämlich das Greifen nach einem Gegenstand direkt entlang der Sichtlinie, zu unterdrücken und das Objekt auch außerhalb des direkten Sichtfeldes zu greifen, wenn eine Glasscheibe zwischen Kind und Gegenstand stand. Weitere in diesem Zusammenhang häufig eingesetzte Untersuchungsverfahren sind an Kinder angepasste Versionen des Stroop-Tests (s. unten).
Beispiel Adaptierte Version des Stroop-Tests (Eisenberg et al. 2004) Die Kinder bekommen z. B. Karten mit Abbildungen von »Tag« (Sonne) und »Nacht« (Mond und Sterne), sollen diese aber in gegenteiliger Weise benennen. Mit etwa 30 Monaten erreichen die Kinder deutliche Verbesserungen in diesen adaptierten Stroop-Tests, da sie nun in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit auf einen von zwei konkurrierenden Hinweisreizen zu lenken und die jeweils dominante Verhaltensreaktion zu unterdrücken.
Ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt liegt in der Fähigkeit, Verhalten auf Verlangen einer anderen Person zu hemmen. In einer von Kochanska entwickelten Testbatterie konnte bei Kindern zwischen 22 und 33 Monaten in diesem Bereich eine deutliche Verbesserung beobachtet werden (Kochanska et al. 2000). Dies ist die Grundlage für die weitere Entwicklung der Selbstwirksamkeit im Kleinkindund Vorschulalter, in der das Kind zunächst immer mehr gleichwertige Regulationsanteile übernimmt, um sich dann zunehmend mehr unter Anleitung der Bezugsperson zu steuern. Strategien zum Belohnungsaufschub und zur Ablenkung.
Bis zum Schulalter ist im Normfall eine Entwicklungsstufe erreicht, in der das Kind in der Lage ist, sich selbst unter eigener Anleitung zu steuern und zu regulieren. Dies wird in Situationen untersucht, in denen Kinder gefordert sind, eine dominante Verhaltensweise zu unterdrücken und stattdessen eine subdominante Verhaltensantwort zu zeigen.
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
Beispiel Ein klassisches Untersuchungsparadigma hierzu ist der Belohnungsaufschub: Kindern werden im Untersuchungsraum Süßigkeiten auf einen Tisch gelegt, die sie aber noch nicht essen dürfen, oder ihnen wird ein verpacktes Geschenk übergeben, das sie erst zu einem späteren Zeitpunkt öffnen dürfen. In diesem Zusammenhang konnte beobachtet werden, dass die willkürliche Lenkung der Aufmerksamkeit den Kindern beim Abwarten hilft und Kinder ab etwa 4 Jahren aktiv Ablenkungsstrategien einsetzten, um ihre negativen Emotionen abzuschwächen (»ich habe einfach nicht hingeguckt«; Eisenberg et al. 2004).
Solche Maßnahmen zur Selbststeuerung bezeichnet man auch als Metakognition. Das Kind setzt bewusst eine Strategie ein, um sich selbst zu steuern und kann diese Strategie auch verbal benennen. Weitere Strategien, die der Emotionskontrolle dienen, schließen die aktive Beschäftigung mit einer anderen Aktivität ein, um Anspannung zu reduzieren. Im Vorschulalter setzen Kinder auch Strategien ein, in dem sie sich die Belohnung in der Zukunft vorstellen oder sich bewusst auf die weniger interessanten Aspekte der Belohnung konzentrieren (auf die sog. »cold cues«, d. h. nur an das Aussehen, aber nicht an den Geschmack der Schokolade denken). Beim Belohnungsaufschub wird zunehmend auch die Sprache zur eigenen »Anleitung« genutzt, in dem sich das Kind die Anweisungen zunächst laut und später innerlich vorspricht (z. B. »nicht hinschauen«). Darüber hinaus sind in diesem Alter bei den Kindern auch erste kognitive Strategien, wie die Umdeutung des Anlasses (»reappraisal«), zur Emotionsregulation zu beobachten. Generell scheint ein hohes Maß an Verhaltenskontrolle mit besserer Anpassung und höherer sozialer Kompetenz verbunden zu sein. Vorschulkinder, die mehr Ablenkungsstrategien einsetzten, wurden von ihren Lehrern als sozial kompetenter und von ihren Mitschülern als beliebter beschrieben. Außerdem sagte die von Lehrern und Eltern berichtete Aufmerksamkeitskontrolle im Vorschulalter die spätere soziale Kompetenz in der Schule voraus. In Längsschnittstudien korrelierte ein Mangel an Verhaltenskontrolle im Alter von 3 oder 5 Jahren positiv mit externalisierenden (Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit) und internalisierenden (Ängstlichkeit) Problemen in der Adoleszenz (Eisenberg et al. 2004). ! Der Aufbau von Strategien zum Belohnungsaufschub sowie Ablenkungsstrategien bei Frustration scheint also gerade im Vorschulalter therapeutisch sinnvoll und hilfreich zu sein, indem er der Prävention späterer sozialer Störungen dient.
Therapeutische Methoden. Vom Vorschul- bis ins Grundschulalter hinein sind therapeutische Interventionen besonders erfolgversprechend, die den Übergang von der Fremd- zur Eigensteuerung unterstützen. Hierzu zählen Techniken wie der Reaktionsstopp oder Hinweisreize, die an das Zielverhalten erinnern. Weitere Techniken beziehen sich auf den Einsatz von handlungsbegleitendem inneren Sprechen, Selbstinstruktionen und Selbstverstärkungen (Lauth u. Schlottke 2002). Die Abstimmung dieser therapeutischen Methoden auf die bereits vorhanden Fähigkeiten zur Selbststeuerung des Kindes könnte auch eine Erklärungsmöglichkeit für unterschiedliche Befunde zur Wirksamkeit von Selbstmanagementmethoden sein (Döpfner et al. 2002). Beispielsweise wäre es plausibel, dass die Erarbeitung handlungsleitender Selbstanweisungen in der Therapie nur dann effektiv ist, wenn die Kinder noch wenig Wissen über Handlungsalternativen erworben haben (jüngere Kinder), ältere Kinder hingegen könnten nicht mehr von dieser Intervention profitieren, da sie grundsätzlich bereits über Lösungswissen verfügen, aber es noch wenig selbstständig einsetzen können. Letztere würden also eher von Selbstinstruktion profitieren, um die Handlungsanleitungen auch zu verinnerlichen, oder von Selbstverstärkung, um die Auftretenswahrscheinlichkeit des prinzipiell bekannten Verhaltens auch im Alltag zu erhöhen. Zu den komplexeren Interventionsmethoden zählen Problemlösetrainings, die Strategien vermitteln und planvolles Vorgehen fördern. Anhand von Materialien werden mit dem Kind aufeinanderfolgende Stadien des Problemlösens erarbeitet und auf alltagsrelevante Situationen übertragen. Jüngere Kinder sind mit der systematischen Anwendung von Problemlöseschritten (Beschreibung des Problems, Zielvorstellungen entwickeln, Lösungswege diskutieren) noch überfordert. Die hierfür nötigen kognitiven Fähigkeiten (exekutive Funktionen) sind eng an die Myelinisierung des frontalen Kortex gekoppelt und reifen im späten Grundschulalter sowie am Übergang zur Pubertät. Dies dürfte eine wichtige Erklärung für Befunde aus der Evaluationsforschung sein, die zeigen, dass die Wirksamkeit von Problemlösetherapien bei Zwölfjährigen besonders groß sind, bei Jugendlichen und vor allem jüngeren Kindern hingegen noch begrenzt (Kazdin u. Weisz 1998; 7 Abschn. 1.4.4). ! Die Selbstregulation verändert sich mit dem Alter in entscheidender Weise. Da ein zentrales Grundprinzip in der Verhaltenstherapie die Selbststeuerung bzw. das Selbstmanagement darstellt und das Ziel der Therapie in aller Regel eine zunehmende eigenverantwortliche Verhaltenssteuerung einschließlich der Selbstverstärkung erwünschter Verhaltensweisen ist, sollten Verhaltenstherapeuten stets abklären, welche altersbedingten Voraussetzungen ein Kind bezüglich dieser Fähigkeiten mitbringt.
19 1.5 · Entwicklungspsychologische Veränderungen mit Bedeutung für die Verhaltenstherapie
1.5.3 Entwicklung sozialer Grundfunktionen
Sprache und Kommunikation Jüngere Kinder haben andere Formen sich mitzuteilen als Jugendliche. Ihre sprachlichen Kompetenzen werden im Verlauf der Kindergarten- und Grundschulzeit wesentlich erweitert. Das ist ein Grund dafür, warum die Elternarbeit umso wichtiger ist, je jünger die Klienten sind. Aber auch der direkte Kontakt des Therapeuten zum Kind ist ab einem gewissen Alter von großer Bedeutung für jede Beratung und Therapie. ! Wer mit einem Kind spielt oder spricht, sollte sich der Ausdrucksvorlieben und -möglichkeiten der zugehörigen Altersgruppe sehr wohl bewusst sein. Nur so ist sichergestellt, dass die Signale, die das Kind auf altersgerechte, z. T. auf verschlüsselte Weise artikuliert, richtig wahrgenommen werden können. Säuglings- und Kleinkindalter. Bereits gegen Ende des
1. Lebensjahres verstehen Säuglinge eine begrenzte Anzahl von Wörtern. Ihre Wortproduktion folgt kurz darauf. Sie beginnt zunächst schleppend, bis das Kind mit ca. 18 Monaten bei normaler Entwicklung mindestens 50 Wörter aktiv benutzt. Danach aber findet der so genannte »vocabulary spurt« statt: Jetzt lernt das Kind in rasendem Tempo. Schon mit 2 Jahren ist sein aktiver Wortschatz auf ca. 200 Begriffe angewachsen, und im Kindergartenalter lernt es im Durchschnitt mindestens 4–5 Wörter pro Tag. Die sprachliche Kommunikation gewinnt für die Erziehung ab dem 2. Lebensjahr eine stetig wachsende Bedeutung. Dabei ist nicht nur entscheidend, dass das Kind einzelne Wörter versteht, sondern auch Wortzusammenhänge. Bereits mit 9 Monaten gelingt es Säuglingen, aus einem Wortfluss einzelne Wörter herauszulösen, und nur wenig später sind sie in der Lage, grammatisch falsche von grammatisch richtigen Sätzen zu unterscheiden. Allerdings ist es für die Verständigung mit sehr jungen Kindern besonders wichtig, langsam, klar, mit Betonung und in kurzen Sätzen zu sprechen. Ab dem Kindergartenalter gewinnt auch die Pragmatik der Sprache an Relevanz. Hier geht es um die Frage, wie Kinder ihre Sprachkompetenzen in sozialen Situationen einsetzen. So gelingt es ihnen wesentlich früher, Befehle oder Bitten zu formulieren als Entschuldigungen. Die Bedeutung von Versprechen muss ebenfalls erst noch gelernt werden. Die Anpassung der eigenen Sprechweise an das Gegenüber funktioniert dagegen schon im Kindergartenalter recht gut. So benutzen 4- bis 6-Jährige einfachere Sätze und Worte, wenn sie mit einem jüngeren Spielkameraden sprechen als mit einem Gleichaltrigen. Im Gegenzug übernehmen sie gerne Wortwendungen von älteren – oft, ohne ihre Bedeutung zu verstehen. Gerade wenn es um Schimpfworte oder sexuell motivierte Äußerungen geht, kann das Kindergartenkind bereits begreifen, dass solche Ausdrücke provozieren und setzt sie unter Umständen entsprechend ein – auch wenn es gar nicht wirklich weiß, was es sagt.
Kindergarten- und Grundschulalter. Wenn ein Kindergar-
tenkind Erwachsenen oder Freunden von einem Erlebnis berichtet, lässt es den Wissensstand seines Gegenübers oft unberücksichtigt. Es führt die Charaktere nicht ein, beginnt bei einem beliebigen Ausschnitt der Handlung und beachtet die Abfolge der Ereignisse nicht konsistent. Das macht es für Zuhörer schwer, der Erzählung zu folgen. Oft muss man durch Nachfragen und Kombinieren erschließen, worum es geht. Diese Schwierigkeiten hängen nicht nur mit mangelndem Sprachwissen zusammen, sondern auch mit der z. T. noch unterentwickelten Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. In kommunikativen Situationen mit mehreren Personen fällt es 4- bis 6-Jährigen schwer, sich an Sprechregeln zu halten und z. B. zu warten, bis eine Sprechpause entsteht, bevor das eigene Anliegen formuliert wird. Sie lassen andere oft nicht ausreden. Auch andere Regeln des Umgangs mit Sprache sind noch nicht voll entwickelt. So muss z. B. die Unterscheidung zwischen »Du« und »Sie« erst gelernt werden. Alle genannten Fähigkeiten verbessern sich wesentlich im Grundschulalter, so dass es bereits mit Kindern der 1. oder 2. Klasse gelingen kann, sich »normal« zu unterhalten. Für Kinder der 3. und 4. Klasse ist die Sprache bereits zum zentralen Medium des Austausches von Gedanken und Gefühlen geworden. Damit eignet es sich nun auch als Medium für die Verhaltenstherapie. Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt zur Selbstregulation deutlich wurde, ist »inneres Sprechen« für Metakognitionen von großer Bedeutung und hilft Kindern, ihr Verhalten zu steuern. Diese Fähigkeiten wachsen vor allem im Verlauf der Grundschulzeit und Präpubertät und können dann auch im Rahmen von therapeutischen Interventionen als Selbstreflexion und -Instruktion zum Einsatz kommen. Einen guten Überblick zur Sprachentwicklung findet sich bei Szagun (2000).
Sozialverhalten und soziale Fertigkeiten Zahlreiche Studien konnten belegen, dass Kinder mit psychischen Störungen häufig Probleme im Sozialverhalten und im Umgang mit sozialen Kognitionen haben. Sie zeigen insbesondere Defizite beim Perspektivenwechsel, der Rollenübernahme und der sachbezogenen Kommunikation (Ronen 2000). Sie haben Schwierigkeiten, das eigene Verhalten vorherzusagen, zu evaluieren oder zu verstärken, in dem sie z. B. die Konsequenzen ihres eigenen Verhaltens in der Wirkung auf andere Personen unterschätzen. Weiterhin können sie Gründe für das Verhalten anderer Personen schlechter erkennen. Ihre Sensibilität für zwischenmenschliche Konflikte scheint reduziert, und sie generieren weniger alternative Lösungsansätze bei zwischenmenschlichen Problemen. Wie schon erwähnt, ist das Sozialverhalten auch durch basale kognitive und emotionale Grundfunktionen mitgeprägt. Defizite im Bereich der Aufmerksamkeitssteuerung und Selbstregulation, aber auch in der Emotionswahrnehmung und der Sprache wirken sich direkt auf das Sozialverhalten und die sozialen Kompetenzen von Kindern aus.
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
Fertigkeitstrainings zum Aufbau sozialer Kompetenzen sind daher wesentliche Bausteine in verschiedenen verhaltenstherapeutischen Therapiemanualen für Kinder- und Jugendliche. Häufig steht dabei die Behandlung externaler Störungen wie oppositionelles Verhalten oder Aggressivität im Vordergrund, ein Aufbau sozialer Kompetenzen wird aber auch bei internalen Störungen (wie Unsicherheit, Schüchternheit) empfohlen. Ein wichtiges Element, mit dem in diesen Behandlungskonzepten gearbeitet wird, ist die soziale Wahrnehmung, d. h. die Art und Weise, wie Kinder über Beziehungen zu anderen Menschen denken und wie sie deren Handlungen interpretieren. Zum besseren Verständnis der Defizite der Patienten und der Wirkfaktoren dieser Therapiestrategien ist es hilfreich, den altersabhängigen Entwicklungsverlauf der sozialen Wahrnehmung und Kognition zu betrachten. Säuglings- und Kleinkindalter. Schon in den ersten Lebensmonaten zeigen Babys eine besondere Sensibilität für den emotionalen Gesichtsausdruck der Bezugsperson. In der direkten Interaktion mit der Bezugsperson werden erste Erwartungen an das Verhalten anderer Personen aufgebaut und Möglichkeiten geschaffen, sich selbst als Auslöser von Reaktionen beim Gegenüber, d. h. selbstwirksam, zu erfahren (s. unten). Wie bereits weiter oben erwähnt, können Kinder schon früh die emotionale Gestimmtheit anderer Personen wahrnehmen und ihr eigenes Verhalten danach ausrichten.
Beispiel Das Still-Face-Paradigma (Weinberg u. Thronick 1996) In dieser Versuchsanordnung sitzt die Mutter dem Kind gegenüber und spricht oder spielt mit ihm für einige Minuten. Anschließend stellt sie für 1–2 Minuten ihre mimischen und sprachlichen Reaktionen auf das Baby ein und blickt mit neutralem Gesichtsausruck auf einen Punkt hinter dem Kind. Bei den Babys ist daraufhin eine deutliche Verhaltensänderung zu sehen, sie beginnen durch positive Annäherungsversuche, Rückzugs- oder Protestverhalten die Mutter zur Wiederaufnahme der Kommunikation zu bewegen. Bereits 3–4 Monate alte Säuglinge sind also durch das Ausbleiben der mütterlichen Reaktionen irritiert und bemühen sich, die Kommunikation wieder herzustellen
Am Ende des 1. Lebensjahres beginnen Kinder, Motive und Ziele im Verhalten von Personen zu erkennen. Sie lernen z. B. die Zeigegeste verstehen, als Hinweis darauf, dass eine Person sich für einen bestimmten Gegenstand interessiert und ihn evtl. haben möchte. Weiterhin zeigten Studien mit abstrakten Computeranimationen, dass auch Objekten dann Intentionen (Motive, Bedürfnisse, Wünsche) und soziale Rollen zugeschrieben werden, wenn sie sich in einer bestimmten Art und
Weise zueinander verhalten, die für Lebewesen charakteristisch ist (z. B. aufeinander abgestimmte Bewegung, ohne physikalischen Kontakt). Das bedeutet jedoch noch nicht, dass sich die Kinder in diesem Alter auch schon in komplexere Gefühlssituationen anderer Personen hineinversetzen können und deren längerfristige Handlungsziele oder Bewertungen verstehen. Insbesondere die bewusste Reflexion über das Erleben anderer Menschen ist noch unterentwickelt. Kindergarten- und Grundschulalter. Das Erkennen und Verstehen von Handlungszielen und Intention jedoch wird als Beginn der sog. »Theory of Mind« (Wimmer u. Perner 1983) gesehen. Unter dieser Perspektive wird untersucht, wie sich Kinder psychologisches Wissen aneignen, also nicht Wissen über ihre physikalische Umwelt oder Objekte, sondern Kenntnisse über das »Funktionieren« anderer Personen, deren Sichtweisen und Überzeugungen. In vielfältigen experimentellen Studien konnten hier entscheidende Entwicklungsfortschritte im Alter zwischen 3 und 5 Jahren nachgewiesen werden (Wimmer u. Perner 1983). Es dauert in der Regel bis in das späte Vorschulalter hinein, bis Kindern eine soziale Perspektivenübernahme bzw. Rollenübernahme in dem Sinne möglich ist, dass sie über die Bewertung ihres eigenen Verhaltens durch andere Personen nachdenken bzw. sich über unterschiedliche Absichten von Personen bewusst sind. Eine hierbei häufig eingesetzte Versuchsanordnung ist die des sog. »False Belief« (der »falschen Überzeugung«) (s. unten). Einen knappen Überblick zur Theory-of-Mind-Forschung gibt Heyes (1998).
Beispiel Forschungsparadigma des »False Belief« (Hogrefe et al. 1986) In einer einfachen Variante wird dem Kind eine SmartiesSchachtel gezeigt mit der Frage, was sich darin befinden könnte. Die allermeisten Kinder antworten darauf »Smarties«. Anschließend zeigt ihnen der Versuchleiter aber, dass sich in dieser Schachtel ein ungewöhnlicher Gegenstand befindet (z. B. ein Stift). Fragt man die Kinder nun, was wohl ihr Freund annehmen würde, der draußen vor der Tür steht, was in der Schachtel ist, antworten Vierjährige in der Regel mit »Smarties«, während Dreijährige »Stift« sagen. Dreijährige Kinder haben offenbar noch Schwierigkeiten, bewusst zu verstehen, dass andere Personen nicht über die gleichen Informationen verfügen wie sie selbst (sog. »falsche Überzeugung«) und daher von ihnen auch andere Handlungen zu erwarten sind. Vier- bis fünfjährige Kinder hingegen verstehen bereits, dass die Personen vor der Tür eine andere (falsche) Erwartung haben, und sie leiten deren Handlungsvorhersagen dennoch von diesen ab. Bis zu diesem Alter scheinen also die Begriffe »Absicht« und »Überzeugung« als Kern der Handlungserklärung von Personen fest etabliert.
21 Literatur
Bis in das Grundschulalter hinein entwickeln die Kinder ein zunehmendes Verständnis geistiger Aktivitäten und Konstruktionen; sie können immer besser Auskunft über ihr eigenes Denken und ihre Überzeugungen geben und beginnen Personen situationsübergreifende psychologische Merkmale zuzuschreiben, die über aktuelle Handlungsintentionen und situative Merkmale hinausgehen. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung, um z. B. mit Kindern über die Wirkung von Erwartungen und Vorurteilen auf das eigene Verhalten und Handeln zu reflektieren. Entsprechende Therapiemanuale schlagen daher Übungen zur Sensibilisierung der Patienten in ihren sozialen Wahrnehmungsprozessen vor: z. B. eine Situation aus der Perspektive verschiedener beteiligter Personen zu erzählen, deren unterschiedliche Handlungsziele zu differenzieren und emotionale Befindlichkeiten zu benennen (Petermann 2003). Diese Entwicklungsprozesse sind auch wichtige Grundlagen beim Einsatz von Rollenspielen oder kognitiven Techniken in der Verhaltenstherapie mit Kindern. Ist das therapeutische Ziel bei Rollenspielen nicht nur das Imitationslernen (Lernen am Modell), sondern ein Eindenken und Einfühlen in andere Interaktionspartner im Sinne einer Perspektivenübernahme, setzt dies beim Kind eine fortgeschrittene Stufe der Theory of Mind voraus. Die Kinder müssen differenzieren können, welche unterschiedlichen Handlungsziele die beteiligten Personen verfolgen und welche verschiedenen Strategien sie einsetzen, um diese zu erreichen. Auch ist es wichtig zu lernen, dass ein und dasselbe Verhalten von verschiedenen Beteiligten unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden kann.
1.6
Ausblick
Wie im vorliegenden Beitrag deutlich geworden sein dürfte, stehen Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen prinzipiell die gleichen Grundformen des Lernens (klassische und operante Konditionierung, Beobachtungslernen und Lernen durch Einsicht) zur Verfügung wie Erwachsenen. Dennoch setzt die Planung einer verhaltenstherapeutischen Intervention mit Kindern differenzierte Kenntnisse der Entwicklung kognitiver, emotionaler und sozialer Grundfunktionen voraus, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben soll. Dabei gilt es zu beachten, dass die Art der Verstärker, relevanter Modelle oder möglicher Einsichten mit dem Alter variiert. Weiterhin darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die sprachliche und soziale Verständigung mit dem Therapeuten ebenfalls vom Entwicklungsstand des Kindes abhängt. Während Therapie mit Säuglingen und Kleinkindern sich vor allem auf Elternarbeit stützen muss, kann spätestens ab dem Vorschulalter auch die direkte Auseinandersetzung mit dem Kind zu fruchtbaren Lösungsansätzen führen. Jenseits einer detaillierten Auseinandersetzung mit verschiedenen verhaltenstherapeutischen Techniken und ihren entwicklungspsychologischen Voraussetzungen in un-
terschiedlichen Altersstufen hat der vorliegende Beitrag versucht deutlich zu machen, dass insbesondere der Bereich der frühen Kindheit von Verhaltenstherapeuten künftig stärker in den Blick genommen werden sollte. Viele psychische Probleme haben ihre Wurzeln in einer langen Lerngeschichte, die nicht selten bereits im Säuglingsalter beginnt. Im Sinne der Prävention von Verhaltensstörungen wäre es daher überaus wünschenswert, weiterhin nach altersgerechten neuen Zugängen zur Frühdiagnose von Verhaltensauffälligkeiten und ihrer Behandlung zu suchen und auch für diese Altersgruppe verhaltentherapeutische Interventionen zu konzipieren und zu etablieren.
Zusammenfassung Das Bild vom Kind in unserer Gesellschaft hat sich in den letzten 100 Jahren drastisch gewandelt. Wir wissen heute, dass sich die Gedanken- und Gefühlswelt mit dem Alter wesentlich verändert, so dass psychologische Therapien eine differenzierte Kenntnis dieser Veränderungen voraussetzen. Neben Entwicklungsnormen und Entwicklungsaufgaben interessieren insbesondere die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen für die Verhaltenstherapie. Dies gilt für kognitive Grundfunktionen wie Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis, emotionale Grundfunktionen wie Gefühlswahrnehmung bzw. -ausdruck oder Selbstregulation und für soziale Grundfunktionen wie Sprache und Kommunikation, Sozialverhalten oder soziale Fertigkeiten in gleicher Weise. Zwischen diesen Bereichen gibt es zudem bedeutsame wechselseitige Abhängigkeiten, die teilweise mit biologischen Hirnreifungsprozessen zusammenhängen. Wichtigstes Anliegen des vorliegenden Beitrags war es, angehenden Therapeuten erste Einblicke in diese Veränderungen und ihr Zusammenspiel zu geben, um auf diese Weise ihr Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Kinder- und Jugendtherapie ein überaus anspruchsvolles Arbeitsfeld darstellt und nur in enger Zusammenarbeit mit Entwicklungspsychologen produktiv weiterentwickelt werden kann.
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Kapitel 1 · Entwicklungspsychologische Grundlagen
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2
2
Entwicklungspsychopathologie Franz Petermann, Franziska Damm
2.1
Der Beitrag der Entwicklungspsychopathologie für das Verständnis psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter – 24
2.2
Forschungsansätze
2.3
Entwicklungsmodelle und -gesetzmäßigkeiten
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
Der biopsychosoziale Ansatz – 27 Sensible Phasen – 28 Entwicklungsaufgaben – 28 Entwicklungspfade – 29
2.4
Wie können Anpassung und Fehlanpassung erklärt werden? – 30
2.4.1 2.4.2
Risikofaktoren – 31 Ressourcen – 33
2.5
Ergebnisse der Entwicklungspsychopathologie
2.6
Nutzen der Entwicklungspsychopathologie für die Praxis
2.7
Ausblick
– 39
Zusammenfassung Literatur
– 25
– 40
– 40
Weiterführende Literatur
– 41
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Kapitel 2 · Entwicklungspsychopathologie
2.1
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Der Beitrag der Entwicklungspsychopathologie für das Verständnis psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter
Die Behandlung von psychischen Störungen im Kindesund Jugendalter wird besonders durch das zeitgleiche Auftreten zweier oder mehrerer Störungen (Komorbidität) erschwert. Die Schwierigkeit besteht darin, herauszufinden, wo genau die Intervention schwerpunktmäßig anzusetzen ist. Leidet beispielsweise ein Kind an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), ist es sehr wahrscheinlich, dass es in der Schule auch Lern- und Verhaltensschwierigkeiten zeigen wird. In diesem Fall wären diese jedoch eine Konsequenz aus der mangelnden Konzentrationsfähigkeit des Kindes. Folglich muss zunächst die Aufmerksamkeitsstörung behandelt werden. Um die Frage zu klären, ob eine Störung der anderen vorausgeht bzw. ob sie kausal miteinander verbunden sind, ist es deshalb von besonderem Interesse, Entwicklungsverläufe von psychischen Störungen zu kennen. Darüber hinaus ist es wichtig, auch frühe Hinweise auf eine entstehende Störung möglichst frühzeitig zu erkennen. Denn sind die Vorläufer einer Störung bekannt, kann ihnen früh mit Gegenmaßnahmen entgegengetreten werden, um die negativen Folgen zu begrenzen oder abzuschwächen. Auch für die Bestimmung der Ätiopathogenese von Störungen ist es notwendig, differenzierte Analysen zu den Bedingungen eines Entwicklungsverlaufs vorzunehmen und Kenntnisse zu prinzipiell möglichen Vorläuferstörungen, Begleit- und Folgeerscheinungen von psychischen Störungen zu gewinnen. Diese zeitliche und entwicklungsbezogene Folge von Störungen und Störungskonstellationen wird durch Entwicklungspfade dargestellt. Aus diesen Befunden lassen sich wiederum Implikationen für die Diagnostik und Intervention ableiten. Die Bedeutung von Entwicklungspfaden für die Klassifikation, Diagnostik und Intervention wird in 7 Abschn. 2.3.4 noch einmal vertiefend aufgegriffen.
Besonderheiten der Entwicklungspsychopathologie Mit den einleitend erwähnten Fragestellungen beschäftigt sich insbesondere die Entwicklungspsychopathologie. Nach Sroufe und Rutter (1984) setzt sich die Entwicklungspsychopathologie mit der Entstehung, den Ursachen und dem Verlauf individueller Muster abweichenden Verhaltens auseinander. Sie verfolgt dabei einen biopsychosozialen Ansatz, wonach sich Entwicklung in Wechselwirkung mit biologischen, psychischen und sozialen Faktoren vollzieht. Die Betrachtung von Entwicklungsverläufen über die gesamte Lebensspanne ermöglicht ihr, den Beginn und Verlauf von psychischen Störungen, ihren gleich bleibenden Erscheinungsformen oder ihren wechselnden Manifestationen, ihren Vorboten und Folgeerscheinungen zu bestimmen (vgl. Petermann u. Noeker 2008).
Bedenkt man, wie viele Faktoren für das Verständnis menschlichen Verhaltens bedeutsam sind, wird schnell deutlich, dass es eines interdisziplinären Ansatzes bedarf, Entstehung und Verlauf abweichenden Verhaltens zu erforschen. Dieser Anspruch, die verschiedenen für die Entwicklung relevanten Disziplinen zu berücksichtigen, ist ein Merkmal, in dem sich die Entwicklungspsychopathologie von den traditionellen Disziplinen unterscheidet (s. Übersicht).
Was unterscheidet die Entwicklungspsychopathologie von traditionellen Disziplinen? Die Entwicklungspsychopathologie 4 betont eine interdisziplinäre und integrative Sicht, 4 vergleicht pathologische und unauffällige Entwicklungsverläufe und -ausgänge, 4 berücksichtigt explizit Ressourcen im Entwicklungsverlauf und 4 betont den Prozesscharakter des pathologischen Geschehens.
Auch in Bezug auf Einflussfaktoren gilt das Interesse der Entwicklungspsychopathologie sowohl den negativen als auch den positiven Einwirkungen auf die Entwicklung. Es ist also nicht nur von Interesse, welchen Risikofaktoren (z. B. Misshandlung) ein Kind ausgesetzt ist oder wie hoch seine Anfälligkeit (Vulnerabilität) für bestimmte Störungen ist. Genauso wichtig ist es zu untersuchen, welche positiven Einflüsse (Schutzfaktoren, Kompensationsfaktoren) den Risikofaktoren entgegenwirken und was Personen auszeichnet, die trotz widriger Bedingungen und/oder ungünstiger persönlicher Voraussetzungen keine Störung entwickeln, also resilient sind. Häufig werden in der Praxis eigene Stärken und Potenziale der Betroffenen oder Ressourcen aus ihrem Umfeld zu wenig berücksichtigt, dabei können sie einen entscheidenden Beitrag für Interventionen leisten (Petermann u. Schmidt 2006). Ein letzter und wichtiger Punkt zur Unterscheidung von anderen Disziplinen ist die Betonung des Prozesscharakters von Psychopathologie. Eine Depression beispielsweise entsteht als Ergebnis eines Zusammenspiels verschiedener Einflüsse im Entwicklungsverlauf (u. a. Fehlregulation des Serotoninspiegels, besonderer kognitiver Verarbeitungsstil). Eine Fehlanpassung wird also als Ergebnis von Entwicklung verstanden.
Aufgabenbereiche der Entwicklungspsychopathologie Aus der schon angesprochenen interdisziplinären Sichtweise der Entwicklungspsychopathologie resultiert einer ihrer Aufgabenbereiche: die Suche nach biologischen (genetischen und neurobiologischen), psychischen (kognitiven und affektiven) und sozialen (familiären und kulturellen) Ursachen von Verhalten (Petermann u. Resch 2008).
25 2.2 · Forschungsansätze
2.2 Welche Aufgaben hat die Entwicklungspsychopathologie? 4 Suche nach biologischen, psychischen und sozialen Ursachen von Verhalten 4 Vergleich auffälliger und unauffälliger Entwicklungsverläufe 4 Untersuchung von Kontinuität und Diskontinuität im Verhalten 4 Klärung von Vorboten einer zukünftigen Entwicklung (Prädiktion) 4 Untersuchung von Risiko- und Schutzfaktoren und ihrer Wirkungsweise 4 Untersuchung von Vulnerabilität und Resilienz
Eine weitere Aufgabe besteht darin, Kontinuität (Stabilität) und Diskontinuität (Veränderung) im Verhalten zu untersuchen. Auch für den Kliniker ist wichtig zu wissen, welche Faktoren eine bestehende Störung aufrechterhalten und zu einer kontinuierlichen Fehlanpassung führen und wie angemessene Interventionen aussehen können, die zu einer Verhaltensänderung führen. Kontinuität ist an dieser Stelle nicht als absolute Stabilität (= keine Veränderung) zu verstehen. Ebenso muss Kontinuität nicht bedeuten, dass immer dasselbe Verhalten gezeigt wird. So spricht man z. B. von heterotypischer Kontinuität, wenn sich aggressive Verhaltensweisen altersentsprechend über den Entwicklungsverlauf in unterschiedlichen Verhaltensausprägungen zeigen. Das heißt, wenn ein vierjähriges Kind Gleichaltrige schubst, mit 16 Jahren in Prügeleien verwickelt ist und als Erwachsener wegen schwerer Körperverletzung angezeigt wird, handelt es sich um verschiedene Verhaltensweisen, die sich in ihrer Intensität sehr voneinander unterscheiden können. Dennoch würde man von einer Kontinuität im Verhalten sprechen, da die genannten Verhaltensweisen trotzdem in einer systematischen Beziehung zueinander stehen. Von homotypischer Kontinuität spricht man dagegen, wenn es sich um gleichartige Verhaltensweisen über die Zeit handelt. Die Suche nach Stabilität und Veränderung zwischen unauffälligen und auffälligen Entwicklungsverläufen besteht also darin, die dahinter liegenden Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen aufzudecken. Bei der Abklärung belastender Faktoren (Risikofaktoren, Vulnerabilität) und Ressourcen von Personen (Schutz-, Kompensationsfaktoren, Resilienz) liegt der Schwerpunkt der Entwicklungspsychopathologie jedoch nicht nur darauf, diese aufzuspüren. Vielmehr soll auch ermittelt werden, wie und warum diese Faktoren überhaupt wirken. Wenn bekannt ist, warum eine enge Bindung im Kleinkindalter eine schützende Funktion hat, kann dieser Mechanismus vielleicht auch in anderen Faktoren gefunden und gezielt genutzt werden.
Forschungsansätze
Das spezielle Anliegen der Entwicklungspsychologie, ein komplettes Bild angepasster und fehlangepasster Entwicklung aufzuzeichnen, erfordert die Berücksichtigung von Kenntnissen und Forschungsmethoden verschiedener Disziplinen. Dies betrifft sowohl relevante Ansätze der unterschiedlichen Fachrichtungen als auch fachübergreifende charakteristische Forschungsmethoden. Im Folgenden soll ein kurzer Einblick in die Vorgehensweise einiger Disziplinen und deren Ergebnisse gegeben werden.
Genetik Forschungsansätze der Genetik befassen sich mit den genetischen Einflüssen auf die Entwicklung. Während sich die quantitative Genetik mit der Frage nach dem Anteil genetischer Faktoren auf die phänotypische Varianz beschäftigt, widmet sich die Molekulargenetik der Suche nach der Verortung von Genen, die mit der Ausprägung bestimmter Merkmale oder Krankheiten assoziiert sind. Die molekulargenetische Forschung ermöglicht es mittlerweile, genetische Marker (DNS-Regionen mit bekannter Basenfolge) auf den menschlichen Chromosomen zu bestimmen, wodurch eine wichtige Voraussetzung geschaffen wird, die Lage von Genen zu lokalisieren. Bisher erweist es sich jedoch als schwierig, relevante Gene für die Ausprägung einer psychischen Störung zu identifizieren, da die meisten psychischen Merkmale und dementsprechend auch Störungen nicht auf dem Defekt eines einzelnen Gens beruhen. Vielmehr lassen sie sich auf die kombinierte Wirkung mehrerer Gene zurückführen. Zudem erschwert die zumeist komplexe Interaktion zwischen genetischen Faktoren und psychosozialen Faktoren sowie auch epigenetischen Effekten die Identifikation von Kandidatengenen.
Beispiel So konnten Caspi et al. (2003) nachweisen, dass Träger eines oder beider kurzen Allele des Serotonin-Transporter-Gens (5-HTTLPR) erst im Zusammenspiel mit lebenskritischen Ereignissen in höherem Maße depressive Symptome ausbilden als Träger von zwei langen Allelen. Das kurze Allel weist im Vergleich zum langen Allel eine verringerte Transkriptionseffizienz auf, was eine verminderte Expression des Transporters und Beeinträchtigung des Serotoninsystems zur Folge hat. Ohne die Belastung durch negative Lebensereignisse ist das Risiko, an einer depressiven Störung zu erkranken, jedoch bei allen gleich.
Verhaltens- und Kognitionswissenschaften Die Forschungsansätze in den Verhaltens- und Kognitionswissenschaften beschäftigen sich z. B. mit der Abklärung
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Kapitel 2 · Entwicklungspsychopathologie
des Entwicklungsstandes von Kindern und damit, welches Verhalten und welche kognitiven Fähigkeiten sie aufweisen. Für Erhebungen dieser Art stehen der Psychologie mittlerweile viele Testverfahren und experimentelle Vorgehensweisen zur Verfügung, wobei altersangemessene Verfahren immer noch eine Herausforderung darstellen.
Beispiel So werden z. B. in der Säuglingsforschung bevorzugt Habituierungsexperimente zur Untersuchung visueller und kognitiver Leistungen herangezogen. Hierbei wird dem Säugling wiederholt ein bestimmter Reiz dargeboten, bis eine Abschwächung der Reaktion auf diesen Reiz, feststellbar über die Fixationsdauer, zu vernehmen ist. Auf diese Weise kann herausgefunden werden, ob der Säugling zwischen zwei verschiedenen Reizen unterscheiden kann und ob bzw. wann er über verschiedene kognitive Fähigkeiten verfügt. Zauner und Schwarzer (2003) untersuchten z. B. die Gesichtsverarbeitung im ersten Lebensjahr und konnten feststellen, dass die Art und Weise der Gesichtsverarbeitung abhängig ist vom Alter sowie von dem zu verarbeitenden Merkmal. Es deutete sich in dieser Untersuchung ein Entwicklungsverlauf von einer analytischen hin zu einer holistischen Verarbeitung von dargebotenen Gesichtern im ersten Lebensjahr an.
Forschungsmethoden Längsschnitt-, Querschnitt- sowie Zwillings- und Adoptionsstudien zählen zu jenen Forschungsmethoden, auf welche verschiedene Disziplinen gleichermaßen zurückgreifen. Längsschnittstudien. Für die entwicklungspsychologischen Fragestellungen ist der Einsatz von Längsschnittstudien unverzichtbar. Die wiederholte Messung derselben Personen zu verschiedenen Zeitpunkten ermöglicht es, Veränderungen im individuellen Entwicklungsverlauf verfolgen bzw. interindividuell verschiedene Entwicklungsverläufe über die Zeit miteinander vergleichen zu können. Dadurch lassen sich z. B. Prädiktoren (Vorboten) für sich später manifestierende psychische Störungen identifizieren oder aber auch Bedingungen aufdecken, welche die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Entwicklungsabweichungen erhöhen bzw. die negativen Auswirkungen von ungünstigen Erfahrungen und Ereignissen mildern. Ein Beispiel für eine prospektiv angelegte Längsschnittstudie im deutschsprachigen Raum stellt die Mannheimer Risikokinderstudie (Laucht et al. 2004) dar. Querschnittstudien. In Querschnittstudien werden Per-
sonen unterschiedlichen Alters zu einem bestimmten Zeitpunkt einmalig untersucht. Sie werden z. B. zur Ermittlung der Häufigkeit und der Verteilung von Störungen in unter-
schiedlichen Populationen eingesetzt. Darüber hinaus eignet sich diese Methode zum Generieren bzw. zum Überprüfen konkurrierender Hypothesen. Die Schwierigkeit in beiden Forschungsdesigns besteht darin, Schlussfolgerungen zu kausalen Beziehungen zwischen den untersuchten Variablen und den Störungen zu ziehen. Hierzu bedarf es des Einsatzes besonderer Methoden, wie z. B. der systematischen Variation von Bedingungen, welche u. a. in experimentell angelegten Interventionsstudien realisiert werden. Zwillings- und Adoptionsstudien. Zwillings- und Adoptionsstudien sind zentrale Forschungsmethoden der quantitativen Genetik, sie erlauben Aussagen über die Bedeutsamkeit von genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen. Die Besonderheit von Adoptionsstudien besteht in der Möglichkeit, Merkmale des Adoptivkindes sowohl mit denen seiner leiblichen Eltern als auch mit denen seiner Adoptiveltern (i. d. R. nicht genetisch verwandt) zu vergleichen. Dadurch können nicht nur Aussagen zum genetischen Beitrag an der Merkmalsähnlichkeit abgeleitet werden, sondern auch Schlussfolgerungen zu Einflüssen der geteilten Familienumwelt gezogen werden. Mittels Zwillingsstudien können wiederum zusätzlich Erkenntnisse zu Einflüssen der nicht geteilten Umwelt gewonnen werden, welche mehr zur Unterschiedlichkeit zwischen Personen als geteilte Familieneinflüsse beitragen.
2.3
Entwicklungsmodelle und -gesetzmäßigkeiten
Vorannahmen der Entwicklungspsychopathologie implizieren kein bestimmtes Entwicklungsmodell. Der Anspruch eines solchen Modells ist jedoch, dass es einerseits die Ursachen und den Verlauf einer Störung erklären, andererseits aber auch das diagnostische Vorgehen begründen und therapeutische Verfahren spezifizieren muss (Petermann u. Resch 2008). Hierbei soll das Modell nicht nur das Individuum, sondern alle relevanten biopsychosozialen Einflussgrößen mit berücksichtigen. Geeignete Modelle müssen außerdem in der Lage sein, sowohl die normale als auch die abweichende Entwicklung einer Person zu beschreiben. Die Entwicklungspsychopathologie geht von fließenden Übergängen zwischen einer gesunden und einer abweichenden Entwicklung aus. Das heißt, es existieren verschiedene Ausprägungen der Anpassung und nicht nur die beiden Kategorien »gesund« und »krank«. Dies ist sinnvoll, da fast alle zu beschreibenden Phänomene, wie Angst, Depression oder auch Hyperaktivität, kontinuierlich verteilt sind und es meist keine eindeutig bestimmbaren Grenzen zwischen gesundem und pathologischem Erleben und Verhalten gibt. Und selbst bei psychischen Störungen wie Autismus und Schizophrenie, die als qualitativ unterschiedlich vom normalen Verhaltens-
27 2.3 · Entwicklungsmodelle und -gesetzmäßigkeiten
spektrum angesehen werden, gibt es Anzeichen von Spektrumsstörungen, d. h. auch wenn nicht alle Kriterien für die Diagnose erfüllt sind, liegen klinisch bedeutsame Symptome vor. Bisher existiert kein Modell, was allen Ansprüchen der Entwicklungspsychopathologie gerecht wird. Mit verschiedenen Modellen lassen sich dennoch Teilbereiche der Entwicklung gut beschreiben oder gar erklären. Einer der zentralen Ansätze der Entwicklungspsychopathologie wird im folgenden Abschnitt näher erläutert.
beteiligt sind, gegenseitig beeinflussen und dadurch umgeformt (= transformiert) werden, so auch das soziale Regulationsmodell von Sameroff (1995).
Beispiel Für unser Beispiel bedeutet dies, dass auch das kindliche Verhalten Veränderungen seiner Umwelt bewirkt. So kann das schwierige Temperament eines Kindes das Verhalten der Eltern beeinflussen, indem es sie zu noch mehr Disziplinierung animiert.
2.3.1 Der biopsychosoziale Ansatz
In biopsychosozialen Modellen wird davon ausgegangen, dass jede Entwicklung von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren bestimmt wird. So wird z. B. der Verlauf der Hirnreifung eines Säuglings sowohl durch biologische Vorbedingungen als auch durch Umweltbedingungen beeinflusst. Diese verschiedenen Einflüsse sind nicht unabhängig voneinander, sondern stehen in einer gegenseitigen Wechselwirkung. Auf einen Sauerstoffmangel während der Geburt, der die Hirnaktivitäten des Säuglings beeinflusst, kann beispielsweise mit medizinischen Sofortmaßnahmen reagiert werden. Bei den biopsychosozialen Ursachenmodellen wird zwischen Interaktions- und Transaktionsmodellen unterschieden. Beide gehen jedoch davon aus, dass Person und Umwelt (inter)aktiv den Entwicklungsverlauf bestimmen. Die verschiedenen Modelle sollen anhand eines Beispiels näher erläutert werden: Interaktionsmodell. In einer Studie von Vitaro et al. (2006) wurden die Zusammenhänge spezifiziert, die zwischen dem schwierigen Temperament eines Kleinkindes, einer harschen Disziplinierung der Eltern während der Kindheit und aggressivem Verhalten des Kindes im Kindergarten bestehen. Im Interaktionsmodell, wird davon ausgegangen, dass die psychische Entwicklung des Kindes (K) über die Zeit (1–3) aus der Verbindung seiner genetisch festgelegten Möglichkeiten und seiner umweltbedingten Erfahrungen (U) resultiert.
Jeder Entwicklungsschritt des Kindes ergibt sich demnach aus seinen typischen Charakteristiken, seinen Umweltbedingungen und der Wechselwirkung dieser beiden Faktoren. In diesem Modell wird ebenfalls die fortlaufende Organisation der Umwelt betont. Die dem Kind gebotenen Erfahrungen sind weder völlig abhängig von seinen Charakteristiken noch zufällig. Transaktionsmodell. Ein noch weiter ausdifferenziertes Modell stellt das Transaktionsmodell der Entwicklung dar. Es berücksichtigt die Transaktionen zwischen der Person, ihren biologischen (inneren) und den sozialen (äußeren) Abläufen und unterscheidet damit neben dem Umweltfaktor (U) noch zwischen dem Genotyp (G) und dem Phänotyp (P) einer Person. 4 Der Umweltfaktor beinhaltet kulturelle und soziale Gegebenheiten, die die Entwicklungsmöglichkeiten einer Person in ihrer Gesellschaft bestimmen. 4 Der Phänotyp bezieht sich auf das äußere Erscheinungsbild und Verhalten einer Person. 4 Der Genotyp bildet die Gesamtheit der Erbanlagen einer Person. Aus demselben Genotyp können durch unterschiedliche Umwelten verschiedene Phänotypen resultieren (Beispiel: eineiige Zwillinge).
Die Wechselwirkung und der Grad der Ausgewogenheit dieser drei Systeme bestimmen den Entwicklungsverlauf. Sobald sich ein Teil des Systems ändert, wird das Gesamtsystem reorganisiert.
Beispiel
Beispiel
Bei einem bestehenden Zusammenhang würde dies bedeuten, dass das aggressive Verhalten des Kindes aus seinen biologischen Vorbedingungen (dem schwierigen Temperament) und den Erfahrungen aus der Umwelt (harsche Disziplinierung durch die Eltern) resultiert.
Sind also die biologischen Grundlagen des Laufenlernens gegeben (Genotyp) und das Kind beginnt tatsächlich zu laufen (Phänotyp), dann reorganisiert sich auch die Umwelt, indem z. B. die Eltern des Kindes u. a. zerbrechliche Gegenstände nicht mehr in erreichbarer Höhe des Kindes liegen lassen. Allerdings beeinflussen auch veränderte Anforderungen der Umwelt, wie z. B. die Einschulung, das Verhalten des Kindes. Die neuen 6
Soziales Regulationsmodell. Transaktionsmodelle stellen eine Weiterentwicklung dieser Überlegungen dar. Sie gehen davon aus, dass sich alle Faktoren, die an einer Interaktion
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Kapitel 2 · Entwicklungspsychopathologie
Anforderungen, die ihm gestellt werden (ruhig sitzen, konzentriert arbeiten), müssen durch den Ausbau oder Erwerb neuer Fertigkeiten bewältigt werden (7 Abschn. 2.3.3). Bei einer abweichenden Entwicklung besitzt das Kind entweder nicht die Fähigkeiten, bestehende Aufgaben zu lösen, oder ihm fehlen Aufgaben, die seinen Fähigkeiten gerecht werden.
Mittlerweile konnte in vielen Studien ein bidirektionaler Effekt zwischen der Person und ihrem sozialen Kontext nachgewiesen werden (Sameroff u. MacKenzie 2003). Weitere Längsschnittstudien in diesem Bereich sollen helfen, Entwicklungsabschnitte zu identifizieren, in dem das Kind oder das Umfeld des Kindes am besten beeinflusst werden können bzw. am empfänglichsten für Veränderungen sind. In diesem Kontext ist auch das Konzept der sensiblen Phasen, das im Folgenden näher erläutert wird, von zentraler Bedeutung.
2.3.2 Sensible Phasen
Die Stadien der menschlichen Hirnentwicklung legen nahe, dass es ein genetisch fixiertes Steuerungsprogramm gibt, das bestimmte Entwicklungsphasen besonders empfänglich für Umwelteinflüsse macht. Diese Phasen lassen sich als biologische »Voreinstellung« verstehen, die einen optimalen Zeitpunkt bilden, um bestimmte Erfahrungen zu sammeln. Auf neuronaler Ebene findet in der entsprechenden Region des Nervensystems eine begrenzte Periode rapiden Zellwachstums statt, um auf diese Lernprozesse vorzubereiten. Die synonym benutzte Bezeichnung »Zeitfenster« macht die zeitliche Begrenzung dieser Phase deutlich, wobei präzise Untersuchungen zu ihrer Dauer bisher noch ausstehen. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass die sensiblen Phasen je nach Charakter und Qualität der zu machenden Erfahrung in ihrer Länge variieren. Bleiben die benötigten Sinnesreize in dieser Zeit aus, werden Lernprozesse versäumt, die später schlecht nachgeholt werden können. Im schlimmsten Fall bleiben nicht nur die Entwicklungsrückstände erhalten, sondern die entstandenen Mängel bilden ungünstige Ausgangsbedingungen für die Bewältigung nachfolgender Entwicklungsanforderungen (kumulatives Defizit; vgl. Petermann et al. 2008). Aufgrund dieser Langzeiteffekte sollte gerade frühen Entwicklungsphasen eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Das Prinzip der sensiblen Phasen macht die Notwendigkeit deutlich, Interventionszeitpunkte gut abzupassen. Viele (Folge-) Probleme können vermieden werden, wenn früh- und rechtzeitig Maßnahmen durchgeführt werden.
Beispiel So kann eine Reizarmut in früher Kindheit zu kognitiven Defiziten führen, die sich wiederum auf die späteren Ausbildungsmöglichkeiten des Kindes auswirken. Eine Intervention sollte hier schon möglichst zeitig stattfinden, sobald abzusehen ist, dass die Mutter des Kindes mit diesem überfordert ist und Beratung bzw. Unterstützung benötigt.
! Eine sensible Phase bildet einen Lebensabschnitt mit einer erhöhten Bereitschaft des Menschen, bestimmte Verhaltensweisen, Fertigkeiten oder Fähigkeiten zu erwerben. Für viele Anforderungen an den Menschen existieren im Entwicklungsverlauf Zeitfenster, in denen – im Vergleich zu früheren und noch folgenden Perioden – spezifische Erfahrungen eine besondere Wirkung haben, d. h. Neues besonders schnell gelernt werden kann.
Es wird den Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen jedoch nicht gerecht, das Konzept der sensiblen Phasen mit dem Phänomen der »verpassten Lernchancen« gleichzusetzen. Zwar gibt es besonders günstige Zeitpunkte des Lernens, Entwicklung ist dennoch ein lebenslanger Prozess, und versäumte Lerngelegenheiten können bis zu einem gewissen Grad nachgeholt werden (s. hierzu auch 7 Abschn. 2.4.2.). Dabei ist allerdings zu bedenken, dass dies außerhalb sensibler Phasen nur mit größerem Aufwand kompensiert werden kann (vgl. Petermann et al. 2008). Folglich lassen sich Rückstände nicht beliebig aufholen. Darüber hinaus stehen für die Bewältigung aktueller altersspezifischer Anforderungen nicht mehr genügend Ressourcen zur Verfügung (Petermann u. Schmidt 2006).
2.3.3 Entwicklungsaufgaben
Entwicklungsaufgaben erfordern vom Kind spezifische Anpassungsleistungen in einer bestimmten Lebensperiode des Kindes. Neben biologisch determinierten Entwicklungsaufgaben (Laufenlernen) sind andere Aufgaben eher soziokulturell (Übernahme der Geschlechterrolle) oder durch psychische Veränderungen bedingt.
Beispiel Eine der ersten Aufgaben, die an einen Säugling gestellt werden, ist z. B. die aktive Mitwirkung am Aufbau eines Bindungs- und Kommunikationssystems mit den primären Bezugspersonen. Dies geschieht durch angemessene Signale wie Lächeln, Schreien und das Hinwenden zur Bezugsperson.
29 2.3 · Entwicklungsmodelle und -gesetzmäßigkeiten
! Entwicklungsaufgaben sind lebensaltertypische Herausforderungen, die an ein Individuum gestellt werden (z. B. der Aufbau einer Bindung im frühen Kindesalter). Ihre erfolgreiche Bewältigung führt zu Fertigkeiten und Kompetenzen, die künftige Entwicklungsaufgaben erleichtern (Havighurst 1972).
Die erfolgreiche Bewältigung von Entwicklungsaufgaben ist Grundlage für einen angepassten Entwicklungsverlauf und für das psychische Wohlbefinden des Kindes. Damit ein Kind Entwicklungsaufgaben angemessen bewältigen kann, benötigt es hinreichende Ressourcen, die in der Person selbst verankert sein können oder die das Kind aus seiner unmittelbaren Umgebung beziehen kann (7 Abschn. 2.4). Durch die Auseinandersetzung mit Entwicklungsaufgaben erwirbt das Kind wiederum Kompetenzen, die es für spätere Anforderungen braucht. Das bedeutet, dass sich die Ressourcen eines Kindes über die Zeit verändern und sich den steigenden Anforderungen anpassen. Masten und Reed (2002) geben einen umfassenden Überblick zu relevanten psychosozialen Schutzfaktoren, welche auch als Ressourcen eines Kindes verstanden werden können, um altersspezifische Entwicklungsaufgaben umsetzen zu können. Werden Entwicklungsaufgaben dagegen nicht gelöst, führt dies auch zu Komplikationen für die weiteren Entwicklungsschritte. Für die Entstehung einer psychischen Störung sind nicht hauptsächlich die aktuellen Bedingungen entscheidend, sondern der bisherige Verlauf von Anpassung und Fehlanpassung gegenüber entwicklungstypischen Herausforderungen. Die gelungene Bewältigung während einer Entwicklungsperiode (z. B. Bindung an die primäre Bezugsperson) fördert also die angemessene Anpassung an die Herausforderungen zukünftiger Entwicklungsperioden (z. B. die Entwicklung der Selbstständigkeit). Die Bedeutung einer bewältigten Anforderung nimmt zwar mit der Zeit ab, bleibt aber dennoch für die gesamte Entwicklung wichtig. Dies hat zur Folge, dass einmal erworbene Kompetenzen über die gesamte Lebensspanne hinweg wirksam sind, auch wenn sie durch neue Umweltanforderungen verändert und in neue Kompetenzen integriert werden. Dementsprechend entstehen psychische Störungen, wenn erworbene Kompetenzen . Abb. 2.1. Primäre und sekundäre Störungen
unzureichend integriert und (in der Folge) Anforderungen einer Entwicklungsperiode nicht bewältigt werden können. Resch (1999) betont jedoch, dass die Symptome einer Störung wiederum eine Anpassungsfunktion für das sich entwickelnde Kind besitzen können. Angst wäre demnach nicht nur das Ergebnis einer gescheiterten Anpassung, sondern hat die Funktion, das Kind zu stabilisieren, indem es als Signal für das Umfeld wirkt und so Veränderungen provoziert. Im Entwicklungsverlauf addieren sich gestörte oder unangemessene Kompetenzen, so dass relativ unscheinbare Störungen der frühen Kindheit weitreichende Konsequenzen haben können. Psychische Störungen werden auf diesem Hintergrund als Entwicklungsabweichungen verstanden. Sind dabei die kognitiv-emotionalen Kompetenzen beeinträchtigt, die sich während der ersten zwei Lebensjahre entwickeln, so liegen primäre Entwicklungsstörungen vor (. Abb. 2.1). Wenn diese Kompetenzen vorhanden sind, sie sich aber in veränderter Form zeigen, kann man von primären Verhaltensstörungen ausgehen. Sowohl die primären Entwicklungs- als auch Verhaltensstörungen können zu sekundären Störungen führen. Liegt bei einem Kind eine primäre Entwicklungsstörung in Form eines frühkindlichen Autismus vor, führt dies beispielsweise später zu Verhaltensauffälligkeiten wie geringer Kontrolle der eigenen Emotionen oder Zwangshandlungen (Blanz et al. 2006).
2.3.4 Entwicklungspfade
Nach Sroufe (1997) lassen sich die unterschiedlichen Verläufe, welche die kindliche Entwicklung einnehmen kann, am besten durch das Bild eines stark verästelten Baumes illustrieren. Danach muss eine anfängliche Fehlanpassung nicht zwangsläufig in ein negatives Entwicklungsergebnis münden. Ebenso wenig führt eine anfänglich positive Anpassung unbedingt zu einem günstigen Entwicklungsausgang. Um die Komplexität solch möglicher Entwicklungsverläufe zu beschreiben und zu veranschaulichen, wird das Konzept der Entwicklungspfade herangezogen. Ein Pfad beschreibt hierbei die zeitliche Abfolge der Verhaltensweisen eines Kindes bis zu einem bestimmten Entwicklungsausgang. Von einem Entwicklungsausgang wird gesprochen, wenn ein bestimm-
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tes Entwicklungsergebnis erreicht wurde. Die Entwicklungsfolge ist damit noch nicht abgeschlossen, sondern es handelt sich um eine Art Zwischenstadium. Das Modell der Entwicklungspfade von Sroufe (1997) basiert auf den folgenden Annahmen: 4 Störungen sind Abweichungen vom normalen Entwicklungsverlauf. Sie entstehen dadurch, dass alterstypische Entwicklungsaufgaben nicht bewältigt wurden, und durch Fehlanpassungen der Person, die es von einem positiven Entwicklungspfad abgebracht haben. 4 Veränderungen (in beide Richtungen) können zu vielen Zeitpunkten stattfinden. Eine Störung ist also nicht als endgültiger Zustand zu sehen, da die Rückkehr zu einem positiven Entwicklungsverlauf möglich ist.
4 Veränderungsmöglichkeiten werden durch vorangegangene Anpassungsprozesse und die Länge des zurückgelegten Entwicklungspfades eingeschränkt. Dies bedeutet, dass Interventionen umso schwieriger werden, je weniger Anpassungsleistungen ein Kind in der Vergangenheit gezeigt hat und je länger es einem negativen Entwicklungspfad gefolgt ist. 4 Unterschiedliche Pfade können zu einem ähnlichen Entwicklungsergebnis führen. Ein Entwicklungsergebnis kann unterschiedliche Ursprünge haben. 4 Unterschiedliche Entwicklungsausgänge können auf den gleichen anfänglichen Pfad zurückführbar sein. Dieselben Ausgangsbedingungen können zu unterschiedlichen Entwicklungsausgängen führen.
Wichtige Prinzipien der Entwicklungspsychopathologie: Äquifinalität und Multifinalität Das Prinzip der Äquifinalität besagt, dass die Entwicklung verschiedener Organismen trotz unterschiedlicher Voraussetzungen zum selben Ergebnis führen kann. Die Mehrheit der psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter lassen sich nicht auf eine bestimmte Ursache zurückführen, sondern können das Resultat verschiedener Ausgangsbedingungen und Entwicklungsverläufe sein. Die Entwicklung einer depressiven Störung kann nach diesem Verständnis in verschiedenen Entwicklungsphasen auf ganz unterschiedlichen Entwicklungswegen und Risiken beruhen (Groen u. Petermann 2008). Je früher depressive Symptomen bzw. Störungen im Entwicklungsverlauf auftreten, umso schwerwiegender kann die weitere Entwicklung beeinträchtigt sein. Depressive Störungen wurden u. a. auf eine erhöhte Vulnerabilität (Verletzlichkeit, s. Abschn. »Vulnerabilität« unter 7 2.4.1) gegenüber psychosozialen Anforderungen zurückgeführt, die sich durch das ungünstige Zusammenwirken von kindlichen Temperamentsmerkmalen und dem elterlichen Bindungs- und Erziehungsverhalten ergibt. Diese erhöhte Empfindlichkeit, welche sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen (Verhalten, Kognitionen und Emotionen) äußern und von Person zu Person variieren kann, beeinflusst letztendlich, ob und wie stark Individuen auf psychische Anpassungsleistungen und belastende Ereignisse mit depressiven Symptomen reagieren (vgl. Groen u. Petermann 2008). Dieses Beispiel soll verdeutlichen, wie wichtig es ist, die Entwicklungsverläufe zu betrachten und nicht nur aktuelle Zustände zu erfassen. Auch wenn das gezeigte Verhalten identisch ist, sind je nach Entwicklungsverlauf unterschiedliche Maßnahmen nötig, um negative Verhaltensweisen erfolgreich zu verändern. Das Prinzip der Multifinalität ergänzt diese nichtdeterministische Sicht auf Entwicklungsprozesse durch die Aussage, dass gleiche Startbedingungen in ganz
unterschiedlichen Entwicklungsausgängen resultieren können. Personen mit ähnlichen Ausgangsbedingungen, z. B. einer starken Belastung durch die Familie, können aufgrund unterschiedlicher Entwicklungsbedingungen später sowohl unauffälliges als auch abweichendes Verhalten zeigen. So kann z. B. die familiäre Belastung einer Person durch eine gute außerfamiliäre Beziehung abgeschwächt werden (s. Abschn. »Schutzfaktoren« unter 7 2.4.2), während sie bei einer anderen Person etwa aufgrund mangelnder sozialer Fertigkeiten zu externalisierendem (Delinquenz) oder auch internalisierendem (Ängsten) Problemverhalten führen kann. Negative Erfahrungen oder Erlebnisse müssen also nicht zwangsläufig für jede Person zu Beeinträchtigungen führen. Ebenso wirken Risikofaktoren nicht störungsspezifisch, sondern können auch das Auftreten anderer psychischer Störungen begünstigen. Darüber hinaus ist ein negativ bewertetes Verhalten, wie Delinquenz oder Aggression, nicht in jedem Fall unangepasstes Verhalten, sondern vielleicht nur in einer Untergruppe angepasst. Das heißt, während aggressives Verhalten in den meisten Personengruppen unüblich ist, gehört es in einer Gruppe gewaltbereiter Jugendlicher vielleicht zum »guten Ton« (vgl. Petermann u. Petermann 2007). Interventionen müssten an dieser Stelle also auch am Umfeld des Jugendlichen ansetzen. Es wird deutlich, dass es nicht möglich ist, aufgrund einer einzigen Bedingung eine Entwicklungsprognose zu erstellen oder eine Person hinreichend zu beschreiben. Menschen reagieren auf ihre Umwelt und interagieren mit ihr, und so wird der Mensch zum Mitproduzenten seiner eigenen Entwicklung (Lerner 1982). Er organisiert sich selbst, gestaltet sein Umfeld und nimmt wiederum Eindrücke seiner Umwelt auf. Die Prinzipien Äquifinalität und Multifinalität zeigen die Komplexität von Entwicklungsverläufen auf, bieten damit aber einen realistischeren Zugang zum Verständnis psychischer Störungen als vereinfachende Beschreibungsmuster.
31 2.4 · Wie können Anpassung und Fehlanpassung erklärt werden?
Die Dokumentation von verschiedenen Entwicklungsverläufen bzw. -pfaden ist deswegen hilfreich, da auf den ersten Blick einander ähnelnde Störungen sich in Hinblick auf ihr Erstmanifestationsalter oder andere Charakteristika erheblich unterscheiden können. Entwicklungspsychopathologische Befunde liefern somit entscheidende Anhaltspunkte für die Ausdifferenzierung (Diversifikation) von psychischen Störungen. Unter Berücksichtigung des bisherigen Entwicklungsverlaufs lassen sich dann wiederum frühzeitig Präventionsmöglichkeiten und spezifische Interventionsansätze ableiten.
2.4
Wie können Anpassung und Fehlanpassung erklärt werden?
Im Kontext der Gesundheitsförderung und der Prävention im Kindes- und Jugendalter kommen Risiko- und Schutzfaktoren eine besondere Bedeutung zu. Die Erkenntnisse auf diesem Gebiet geben wichtige Hinweise, wie Prävention und Therapieansätze entwickelt und optimiert werden können.
Risikofaktoren sind Einflussgrößen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es zu einer Entwicklungsabweichung kommt, die eine Störung begünstigt. Vulnerabilität bezeichnet eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Umweltbedingungen. Ressourcen sind alle Formen von Potenzialen, die einem Individuum aktuell zur Verfügung stehen und ihn bei seiner Entwicklung unterstützen. Schutzfaktoren bestehen schon vor dem Auftreten von Störungen und werden durch das Auftreten von Risi-
2.4.1 Risikofaktoren
Von einem Risikofaktor wird dann gesprochen, wenn als Folge eines spezifischen Merkmals (z. B. Frühgeburt, Depression der Mutter), besonderer Erfahrungen (körperliche Handicaps, soziale Deprivation, Drogenkonsum) oder einschneidenden Ereignissen (Tod einer Bezugsperson, schwere Krankheit), die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsabweichung erhöht ist und dadurch eine Störung begünstigt wird. Es wird grundsätzlich zwischen internen (kindbezogenen) und externen (umgebungsbezogenen) Risikofaktoren unterschieden (. Abb. 2.2). Zu den risikoerhöhenden Bedingungen auf Seiten des Kindes (s. hierfür auch Abschn. »Vulnerabilität«) zählen Einflüsse wie z. B. eine genetisch bedingte Anfälligkeit für Krankheiten, ein schwieriges Temperament (s. Box) oder verschiedene biologische Komplikationen, die vor, während oder nach der Geburt des Kindes auftreten können. Beispiele hierfür sind:
In diesem Kontext sind Ergebnisse aus Längsschnittstudien hilfreich, kausale Zusammenhänge aufzuzeigen und zu illustrieren, wie Risiko- und Schutzfaktoren miteinander interagieren. Auch hierbei hilft die Untersuchung verschiedener Entwicklungsverläufe, indem ermittelt wird, welche personen- und umweltbezogenen Faktoren die Anpassung einer Person fördern bzw. welche Faktoren eine Störung begünstigen. So ist es z. B. ein Ziel, Personen mit einem hohen Risiko zu identifizieren und von denjenigen Personen zu unterscheiden, die bei ähnlichem Risiko keine Störung entwickeln. Längerfristig sollen so Faktoren ermittelt werden, mit denen ein ungünstiger Entwicklungsverlauf vermieden oder positiv beeinflusst werden kann. Einen wichtigen Einblick in die Entwicklungsvorgänge geben die verschiedenen Mechanismen, die einem Kind als individuelle Ressource zur Verfügung stehen. Beispielsweise besitzen Mädchen eine besondere Fähigkeit, sich an wechselnde Situationen und Anforderungen anzupassen (Petermann u. Schmidt 2006). Auch Kleinkinder setzen solche Mechanismen flexibel ein, um Zuwendung aus der Umgebung zu erhalten (Meyerhofer u. Keller 1966). Der Einsatz dieser Wirkmechanismen wird in sozialen Lernprozessen erworben.
kofaktoren aktiv, indem sie deren Wirkung abmildern oder aufheben. Kompensationsfaktoren sind Faktoren, die zur Bewältigung entstandener (psychischer) Störungen eingesetzt werden. Resilienz beschreibt die Widerstandsfähigkeit einer Person gegenüber belastenden Umständen. Resilientes Verhalten wird in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt von der Person, vor allem durch die gelungene Bewältigung von Anforderungen und Risiken erworben.
4 Risikofaktoren vor der Geburt: Infektionen der Mutter, Fehl- und Mangelernährung, Stoffwechselstörungen, Medikamente oder Drogen. 4 Während der Geburt: Frühgeburt, Komplikationen wie Sauerstoffmangel oder Hirnblutungen. 4 Nach der Geburt: Stoffwechselstörungen, Fehl- und Mangelernährung, soziale Deprivation und Misshandlung. Im Rahmen verschiedener prospektiver Studien konnte z. B. gezeigt werden, dass das mütterliche Rauchen während der Schwangerschaft speziell die Entwicklung späterer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen begünstigt (Petermann et al. 2008; Schmidt u. Petermann 2008). Darüber hinaus wird auch das Geschlecht des Kindes als Risikofaktor gewertet. So fällt die Auftretenshäufigkeit für externalisierende Verhaltensstörungen für Jungen deutlich höher aus, wohingegen das weibliche Ge-
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Kapitel 2 · Entwicklungspsychopathologie
schlecht einen Risikofaktor im Hinblick auf die Entwicklung einer Depression im Jugendalter darstellt (Groen u. Petermann 2008).
2 Unter Temperament versteht man eine spezifische Eigenheit des Menschen, mit der man seine Muster der Umgänglichkeit, des Tatendrangs und der Emotionalität beschreiben kann. Gerade bei Kleinkindern wird oft zwischen einem schwierigen und einem unauffälligen bzw. einfachen Temperament unterschieden. So ist ein Kind mit einem schwierigen Temperament meist leicht irritierbar, gehemmt und weint viel, während ein Kind mit einfachem Temperament über eine gute Selbstkontrolle verfügt und eine positive soziale Orientierung besitzt. Häufig werden verschiedene Temperamentskonstellationen im Kleinkindalter mit Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter in Zusammenhang gebracht. So konnte Nigg (2006) zeigen, dass kindliche Temperamentsmerkmale wie hohe negative Emotionalität und geringe willentliche Aufmerksamkeits- und Handlungskontrolle (»effortful control«) zu späteren Angststörungen führen können. Spätere externalisierende Verhaltensstörungen scheinen dagegen durch eine verminderte Angstreaktion und hohe Ärgerbereitschaft begünstigt zu werden.
Bei den umgebungsbezogenen Risikofaktoren handelt es sich um psychosoziale Stressoren aus dem familiären und weiteren sozialen Umfeld des Kindes. Zu unterscheiden ist hierbei noch zwischen distalen und proximalen Risikofaktoren (vgl. Noeker u. Petermann 2008). Distale Risikofaktoren können sich indirekt ungünstig auf die kindliche Entwicklung auswirken. Hierzu zählen z. B. beengte Wohnverhältnisse, ein geringer Bildungsstand oder die psychische Befindlichkeit der Eltern. Auffälligkeiten in der ElternKind-Interaktion sowie im Kommunikations- und Erziehungsverhalten stellen wiederum proximale Risikofaktoren dar, die direkt mit Entwicklungsabweichungen verknüpft sind. So wird im Zusammenhang mit der Depression einer Mutter immer wieder auf die Bedeutung der Qualität der Mutter-Kind-Interaktion verwiesen. Kinder depressiv erkrankter Mütter zeigen bereits im Säuglingsalter erste Hinweise für Auffälligkeiten im Verhalten (Petermann et al. 2008). Esser et al. (2008) konnten zudem zeigen, dass familiäre Belastungen im Kindesalter und zu Beginn der Pubertät sowie chronische Belastungen im Alter von 18 Jahren den Missbrauch von psychotrophen Substanzen vorhersagen, während Komplikationen während der Schwangerschaft und Geburt keinen bedeutsamen Beitrag zur Vorhersage liefern. Einige der relevanten psychosozialen Risikofaktoren sind in der folgenden Box dargestellt.
In der Kurpfalzstudie (Esser et al. 2008) erwiesen sich folgende familiäre Belastungen bis zum Alter von 13 Jahren als bedeutsam für die Vorhersage von verschiedenen Formen des Substanzmissbrauchs im Alter von 25 Jahren: 4 Alter der Mutter unter 18 Jahre 4 Unerwünschte Schwangerschaft 4 Berufstätigkeit der Mutter im ersten Lebensjahr 4 Ungelernter/angelernter Vater 4 Beengte Wohnverhältnisse 4 Ständiger Ehestreit/unvollständige Familie 4 Kriminalität des Vaters 4 Depression der Mutter 4 Heimaufenthalt des Kindes
Wie komplex das Zusammenspiel zwischen kind- und umgebungsbezogenen Faktoren sein kann, soll exemplarisch an den Ergebnissen zu Regulationsstörungen im Säuglingsalter illustriert werden. Wolke (2008) sieht expressive Schreien, Durchschlaf- und Fütterprobleme in den ersten Lebensmonaten eines Säuglings als dessen mangelhaft entwickelte Kompetenz, Verhaltensabläufe intern zu kontrollieren. Auf Seiten der Eltern wird dieses Problemverhalten durch eine fehlende bzw. unzureichende Unterstützung in der Entwicklung der Verhaltensregulation bekräftigt und aufrechterhalten. Frühkindliche Regulationsprobleme können wiederum mit Beeinträchtigungen der frühen Mutter-Kind-Interaktion einhergehen (Laucht et al. 2004). Es wurden z. B. weniger positive Interaktionen (wechselseitiges Anlächeln) zwischen Mutter und Kind beobachtet. Zudem zeigten sich die Mütter im Vergleich mit der Gruppe der unauffälligen Säuglinge weniger feinfühlig im Umgang mit ihren Kindern und gingen auch weniger auf deren Kommunikationsversuche ein. Solche disharmonischen Interaktionen erhöhen ihrerseits das Risiko späterer Auffälligkeiten, was zu einer schlechteren Prognose für diese Kinder beiträgt. ! Frühkindliche Regulationsprobleme beinhalten Störungen der Nahrungsaufnahme, des SchlafWach-Rhythmus und der affektiven Erregung. Ein bekanntes und für betroffene Eltern sehr belastendes Beispiel affektiver Erregung bildet das exzessive Schreien eines Säuglings.
Generell zeigte sich in der Studie von Laucht et al. (2004), dass frühkindliche Regulationsprobleme sehr häufig auftreten. Es ließen sich vier Auffälligkeitsmuster ableiten: 4 Irritierbarkeit des Kindes, 4 Hyporeaktivität (wenig auf das Umfeld reagierend), 4 Regulationsprobleme körperlicher Funktionen und 4 multiple Regulationsprobleme. Im weiteren Entwicklungsverlauf wiesen jedoch nur solche Kinder, bei welchen im Säuglingsalter mehrere Regulati-
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onsschwierigkeiten auftraten, ein erhöhtes Risiko für spätere psychische Störungen auf. Insbesondere im Zusammenhang mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen werden frühkindliche Regulationsstörungen als Vorläuferstörungen diskutiert. Als Langzeitfolgen ergeben sich auch andere Verhaltensauffälligkeiten wie aggressives und oppositionelles Verhalten, aber auch depressive und ängstliche Symptome sowie Schulleistungsprobleme infolge einer ungünstigen Erziehungsumwelt (Wolke 2008, 7 Kap. III/19).
Zur Wirkungsweise von Risikofaktoren Wie von Sameroff (2000) dargestellt wurde, ist für die Entstehung einer psychischen Störung nicht die Art, sondern die Anzahl der Risikofaktoren entscheidend, denen ein Kind ausgesetzt ist. Bereits Rutter (1989) konnte im Rahmen der Isle-of-Wight-Studie zeigen, dass mit zunehmender Anzahl von Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit einer abweichenden Entwicklung steigt. Demnach liegt die Wahrscheinlichkeit, eine Störung zu entwickeln, bei Kindern, die nur einem oder gar keinem Risikofaktor ausgesetzt sind, nur bei 2%. Dieses Risiko steigt jedoch bei 2–3 Faktoren auf 6% und bei 4 Faktoren sogar auf 20% an. Es wird deutlich, dass das Zusammenspiel von Risikofaktoren sehr komplex ist, ebenso wie ihre spezifischen Wirkmechanismen. Sie wirken nicht universell, sondern stellen immer ein Risiko im Hinblick auf einen spezifischen negativen Entwicklungsverlauf dar. Ebenso ist der Zeitpunkt des Auftretens eines Faktors entscheidend dafür, wie durch ihn der Entwicklungsverlauf beeinflusst wird.
Beispiel Die vorübergehende Trennung von seinen Eltern stellt für einen Säugling z. B. noch keine Bedrohung dar, da der Aufbau einer stabilen Bindung erst zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet. Es gibt jedoch eine kritische Phase, in der die Trennung von den Eltern einen negativen Einfluss auf die Eltern-Kind-Bindung ausübt und somit einen Risikofaktor darstellen kann.
Der Einfluss des Entwicklungsstandes auf die Wirksamkeit eines Faktors geht soweit, dass derselbe Faktor zu einem Zeitpunkt eine schützende und später eine negative Wirkung haben kann.
Beispiel So stellt eine enge Bindung zur Mutter für ein Kind einen Schutzfaktor dar. Für einen Jugendlichen kann diese enge Bindung jedoch im Kontext der Loslösung von den Eltern und der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit ein Risiko darstellen.
Bei der Erforschung der Risikofaktoren liegt das primäre Ziel mittlerweile nicht mehr im bloßen Auffinden von Bedingungen, die ein Risiko für Störungen oder Entwicklungsabweichungen erhöhen. Vielmehr liegt der Fokus der Aufmerksamkeit in der Betrachtung der zugrunde liegenden Prozesse und Mechanismen. Wie wirken die Risikound Schutzfaktoren zusammen, und wie können spezifische Faktoren über die Zeit mit welchen angepassten und fehlangepassten Entwicklungsausgängen in Verbindung gebracht werden? Befunde zu Auswirkungen von psychischen Störungen der Eltern zeigen z. B., dass nicht die Besonderheiten bestimmter Störungen von Bedeutung sind, etwa bei Schizophrenie oder Depression, sondern die Dauer (Chronizität) und die mit der Störung verbundenen psychosozialen Beeinträchtigungen (z. B. eine beeinträchtigte Erziehungskompetenz).
Vulnerabilität Nicht alle Kinder reagieren in der gleichen Weise auf ähnliche Risikobedingungen. Ob bzw. in welchem Ausmaß sich die verschiedenen Risikofaktoren ungünstig auf den weiteren Entwicklungsverlauf auswirken, wird u. a. entscheidend durch die Vulnerabilität eines Kindes bestimmt. Die Vulnerabilität drückt eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Umweltbedingungen aus. Hierbei kann es sich z. B. um genetische Dispositionen, chronische Krankheiten, eine niedrige Intelligenz, aber auch um umgebungsbedingte Faktoren handeln. Zu unterscheiden ist zwischen einer primären Vulnerabilität, die das Kind von Geburt an aufweist (genetische Dispositionen) und einer sekundären Vulnerabilität, die das Kind in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt »erwirbt« (z. B. negatives Bindungsverhalten). Ist ein Kind sehr anfällig (vulnerabel), reichen wenige Risikofaktoren aus, um eine Störung zu begünstigen. Vulnerabilitätsfaktoren wirken also indirekt, durch ihre Interaktion mit den auftretenden Risikomechanismen.
Beispiel Mädchen weisen in der späteren Kindheit ein höheres Risiko auf, eine Angststörung zu entwickeln. Bereits im Kleinkindalter reagieren sie stärker mit Furcht als Jungen. Fisak und Grills-Taquechel (2007) konnten aufzeigen, dass Mädchen u. a. besonders empfindlich gegenüber angstbezogenen sozialen Hinweisreizen (z. B. mimischer Ausdruck von Stress) ihrer Mütter sind. Entweder konzentrieren Mädchen sich stärker auf furchtbezogene Hinweisreize oder sie interpretieren diese auf andere Art und Weise. Ebenso könnten sie aber auch ein höheres, angeborenes Level an Ängstlichkeit per se aufweisen.
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Kapitel 2 · Entwicklungspsychopathologie
2.4.2 Ressourcen
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In verschiedenen Abschnitten des vorliegenden Beitrags wurde bereits die Wichtigkeit von Ressourcen für die kindliche Entwicklung hervorgehoben, z. B. im Hinblick auf die Bewältigung von altersspezifischen Anforderungen oder in Bezug auf den Ausgleich von versäumten Lernerfahrungen. Seit den 1980er Jahren hat, u. a. durch die OttawaCharta (WHO 1986), ein neues Gesundheitsverständnis Verbreitung gefunden, was den Fokus nicht mehr ausschließlich auf krankhafte Prozesse richtet, sondern sich mit der Frage nach Faktoren beschäftigt, welche die Gesundheit schützen und fördern. Das Forschungsinteresse richtet sich also auf das Vorhandensein und die Art der Ausprägung von Ressourcen. Hierunter werden aktuell verfügbare Potenziale, welche die Entwicklung unterstützen, verstanden. Dies können sowohl eigene Ressourcen des Kindes (hohe Intelligenz, physische Gesundheit) als auch Umweltressourcen (Unterstützung der Familie, positives Gemeindeklima) sein. Sowohl in der Diagnostik als auch in der Klassifikation und Intervention wird heutzutage der Berücksichtigung von Ressourcen ein hoher Stellenwert zugeschrieben (Petermann u. Schmidt 2006). Eine ressourcenorientierte Intervention kümmert sich daher nicht nur um eine Symptomreduzierung, sondern lenkt ihren Blick auch auf die Kompetenzentwicklung des Kindes. Im Folgenden werden nun Ressourcen vorgestellt, welche unter pathogenen Umständen wirksam werden, entweder um Fehlentwicklungen zu verhindern (Schutzfaktoren) oder um Fehlentwicklungen auszugleichen (Kompensationsfaktoren). Anschließend wird das Konzept der Resilienz erläutert.
Schutzfaktoren Rutter spezifizierte 1987 das Konzept »Schutzfaktor« wie folgt: ! Schutzfaktoren üben erst ihre positive Wirkung aus, wenn tatsächlich ein Entwicklungsrisiko besteht. Sie haben also eine risikomildernde oder -abpuffernde Wirkung und gehören zu den Ressourcen eines Kindes. Wichtig ist an diesem Punkt, dass ein Schutzfaktor nicht universell wirkt, sondern immer einen Schutz vor etwas Bestimmten darstellt. Eine gute körperliche Verfassung schützt nicht vor späterem aggressivem Verhalten und ein hohes Bildungsniveau der Eltern bietet keinen Schutz vor einer Depression.
Damit wird deutlich, dass es nicht ausreicht, einen Schutzfaktor auf das bloße Fehlen von Risikofaktoren zu reduzieren. Ebenso wie Risikofaktoren lassen sich Schutzfaktoren in kindbezogene und umgebungsbezogene Faktoren unterteilen (. Abb. 2.2). Bei den kindbezogenen Faktoren handelt es sich um angeborene Merkmale, wie z. B. ein günstiges Temperament oder eine überdurchschnittliche Intelligenz und um erworbene Resilienzen
(7 Abschn. »Resilienz«). Dem Geschlecht als angeborenem Faktor kommt im Hinblick auf bestimmte Störungen eine besondere Bedeutung zu. So verfügen Mädchen über eine höhere körperliche Robustheit und weisen ausgeprägtere soziale Fertigkeiten auf, worin geschlechtsspezifische Stärken liegen (Alsaker u. Bütikofer 2005). Im Jugendalter hingegen stellt das weibliche Geschlecht in Bezug auf eine Depression eher einen Risikofaktor dar (Groen u. Petermann 2008). Wie die Risikofaktoren haben also auch Schutzfaktoren keinen universellen Anspruch, sondern sind in ihrer Wirkung spezifisch und abhängig vom Entwicklungsstand und Geschlecht des Kindes. Diese internen, also auf das Kind bezogenen vererbten und erworbenen Ressourcen verdeutlichen die Kompetenzen des Kindes. Sind die Ressourcen eines Kindes stark ausgeprägt, führt dies zu einer besseren Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Wenn die entsprechenden Kompetenzen jedoch fehlen oder nur schwach ausgeprägt sind, kann sich dies in spezifischen Verhaltensdefiziten oder nicht altersgemäßen Verhaltensweisen äußern (Petermann u. Schmidt 2006). Diese Fehlentwicklungen wiederum haben einen negativen Einfluss auf die weitere Entwicklung, da Zeit und Energie, die für folgende Entwicklungsaufgaben benötigt werden, verloren gehen. Diese Anhäufung negativer Effekte ist ein Grund, warum bei Risikokindern eine frühe Förderung von Kompetenzen bedeutsam ist (Petermann u. Koglin 2008). Die umgebungsbezogenen Schutzfaktoren beziehen sich auf bestimmte Merkmale der Familie, wie z. B. einen engen familiären Zusammenhalt, oder auf Eltern, die ein Modell für positives Bewältigungsverhalten darstellen, aber auch auf Merkmale des weiteren sozialen Umfeldes wie positive Freundschaftsbeziehungen und die Qualität des Schulsystems. Als eines ihrer Ergebnisse aus der Kauai-Längsschnittstudie konnte Werner (2005) zeigen, dass folgende Faktoren ein Kind vor Fehlentwicklungen schützen können: 4 eine enge Beziehung zu einer verlässlichen Bezugsperson, 4 eine gute Schulbildung der Mutter und 4 ein kompetenter Umgang der Mutter mit ihrem Kind. Sind die Anforderungen an und Belastungen für ein Kind größer als dessen Ressourcen, kann dies je nach Ausmaß und Dauer unterschiedliche Folgen haben. Handelt es sich um ein gering ausgeprägtes oder kurzfristig andauerndes Ungleichgewicht, kann dies etwa durch eine erhöhte Anstrengung des Kindes ausgeglichen werden. Durch die Entwicklung von Ressourcen kann sich die Bewältigung von widrigen Ereignissen bzw. Erfahrungen sogar positiv auf die weitere Entwicklung des Kindes auswirken (Petermann u. Schmidt 2006). Eine große Diskrepanz, sowohl in Form einer Über- als auch einer Unterforderung des Kindes, kann dagegen langfristig Fehlentwicklungen erzeugen. Je länger ein Kind durch die negative Ereignisse bzw. Erfahrungen belastet ist, desto weniger Ressourcen bleiben ihm
35 2.4 · Wie können Anpassung und Fehlanpassung erklärt werden?
. Abb. 2.2. Belastungen und Ressourcen
für aktuell zu bewältigende Entwicklungsaufgaben und Anforderungen zu Verfügung.
Kompensationsfaktoren Kompensationsfaktoren sind aktuell verfügbare Mittel, die entweder angeboren sind oder im Rahmen psychosozialer Prozesse erworben wurden (Petermann u. Schmidt 2006). Sie stellen Ressourcen eines Kindes dar, welche dazu genutzt werden, um Fehlentwicklungen auszugleichen. Gleichzeitig können sie ihren Ursprung aber auch im Umfeld des Kindes haben.
Beispiel Entspannungsübungen können für Kinder mit Neurodermitis eine Möglichkeit sein, mit ihrer Krankheit besser umzugehen.
In . Abb. 2.2 sind die Kompensationsfaktoren zusätzlich zu den Schutzfaktoren angegeben, da sie im Gegensatz zu diesen erst nach Störungsbeginn wirksam werden. Zudem muss unterschieden werden zwischen sozial erwünschter und sozial unerwünschter Kompensation.
Da auch biologische Funktionen, wie Sinnesbeeinträchtigungen, kompensiert werden können, ist es in der Praxis wichtig, bei Störungen von Kindern abzuklären, ob physiologische Einschränkungen vorliegen. Bevor beispielsweise ein Kind aufgrund seiner schlechten Schulleistungen in seinen kognitiven Fähigkeiten getestet wird, muss sichergestellt werden, dass diese Leistungen sich nicht auf körperliche Faktoren zurückführen lassen (z. B. ein schlechtes Sehvermögen).
Resilienz Trotz ungünstiger und widriger Entwicklungsbedingungen weisen nicht alle Kinder im späteren Entwicklungsverlauf psychische Beeinträchtigungen auf. Bereits an anderer Stelle wurde auf die Bedeutung der kindlichen Vulnerabilität im Bezug auf die Bewältigung von Risikofaktoren eingegangen. Das Gegenstück hierzu bildet die Resilienz, eine Widerstandsfähigkeit gegenüber dem negativen Einfluss von Risikofaktoren. Hierbei handelt es sich also um die Fähigkeit eines Kindes, relativ unbeschadet mit widrigen Umständen umzugehen und Bewältigungskompetenzen entwickeln zu können. Die betroffenen Kinder erwerben aktiv altersangemessene Fähigkeiten, die ihnen eine gelungene Entwicklung relativ zu den Umständen ermöglichen.
Beispiel
Beispiel
Mitunter kompensieren männliche Jugendliche, die eine geringe Körpergröße aufweisen, »vermindertes Ansehen«, indem sie sich besondere motorische/sportliche Fertigekeiten aneignen, wie z. B. Skateboardfahren. Gleichzeitig können auch sozial unerwünschte Verhaltensweisen, etwa Drogenkonsum dieses persönliche Defizit ausgleichen. Im Kontext von Diagnostik und Therapie muss daher geklärt werden, welche Funktion das Kompensationsverhalten übernimmt und durch welche sozial erwünschten Verhaltensweisen es dementsprechend ersetzt werden kann.
Resilienzfaktoren sind z. B.: ein positives Sozialverhalten, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen oder ein aktives Bewältigungsverhalten.
Resilienz und Vulnerabilität stellen keine absoluten, stabil überdauernden Persönlichkeitseigenschaften dar. Vielmehr entwickeln sie sich in der Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt in Abhängigkeit von aktuellen Anforderungen und Ressourcen. Sie unterliegen dabei auch einer gewissen Variabilität, d. h. Kinder, die zu einem Zeitpunkt mit den negativen Einflüssen auf ihr Leben gut umgehen konnten,
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Kapitel 2 · Entwicklungspsychopathologie
können zu einem späteren Zeitpunkt wesentlich anfälliger (vulnerabler) erscheinen. Außerdem bestehen altersspezifische Zusammenhänge zwischen Resilienzfaktoren und einer angepassten Entwicklung (s. Ergebnisse der KauaiStudie im 7 Abschn. »Schutzfaktoren«). Darüber hinaus wird die Widerstandsfähigkeit eines Kindes in verschiedenen Bereichen und Situationen unterschiedlich wirksam (Noeker u. Petermann 2008). Das bedeutet, dass ein Kind sich beispielsweise im Lebensbereich Familie als resilient erweist, in einem anderen wie der Schule jedoch nicht. Neben der Altersspezifität und Kontextabhängigkeit muss Resilienz auch unter einem kulturellen Blickwinkel betrachtet werden. Im Extremfall können z. B. Temperamentsäußerungen in einem Kulturkreis negativ bewertet werden, in einem anderen dagegen überlebenswichtig sein.
Beispiel In einer Studie mit den Massai konnte DeVries (1984) feststellen, dass während einer Dürreperiode nur Kinder mit einem »schwierigen Temperament« ausreichend ernährt worden waren. Während in anderen Kulturkreisen ein »einfaches Temperament« einen Resilienzfaktor darstellt, verhungerten diese ruhigen Kinder bei den Massai.
In der Resilienzforschung konnten Faktoren verschiedener Kontexte bestimmt werden, die die Resilienzentwicklung eines Kindes fördern (für eine Übersicht Noeker u. Petermann 2008). Sie lassen sich auf vier Ebenen beschreiben: 4 personale Merkmale des Kindes (z. B. effektive Fertigkeiten zur Emotionsregulation und Verhaltenssteuerung), 4 familienbezogene Faktoren (z. B. positiver Erziehungsstil der Eltern), 4 netzwerkbezogene Faktoren (z. B. Verfügbarkeit sozialer Unterstützung) sowie 4 kulturell-gesellschaftliche Merkmale (z. B. hoher gesellschaftlicher Stellenwert von Kindergesundheit und Bildung). Welchen Nutzen haben aber nun die Ergebnisse der Resilienzforschung für die Prävention und Intervention von hochbelasteten Kinder und deren Familie? Wenn bekannt ist, dass bestimmte Eigenschaften des Kindes bzw. Merkmale in seiner Familie oder seines näheren sozialen Umgebung die Bewältigung widriger Umstände unterstützen, müssen genau diese gezielt gefördert bzw. entwickelt werden. Eine sichere Bindung zwischen Mutter und Kind z. B. fördert den kompetenten Umgang mit emotional belastenden Ereignissen. Auf dieser Grundlage können psychosoziale Belastungen erfolgreich bewältigt werden. Besonders junge Mütter und deren Säuglinge stellen
eine Hochrisikogruppe aufgrund einer Kumulation von psychosozialen Risikofaktoren dar, welche sich nachteilig auf die Qualität der Mutter-Kind-Interaktionen auswirken können. Beziehungsorientierte Interventionen und Präventionen sollen zu einem kompetenteren und feinfühligeren Umgang der Mütter gegenüber ihrem Kind verhelfen, um Beeinträchtigungen in der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes vorzubeugen (Ziegenhain et al. 2004). Aber auch die Fähigkeiten und Kompetenzen eines Kindes selbst können gestärkt werden. Im Vorschulalter müssen Kinder z. B. lernen, sich in eine Gruppe einzuordnen oder sich in andere hineinzuversetzen. Weitere Kompetenzen wie soziale Problemlösefertigkeiten, der Umgang mit und der Ausdruck von eigenen Gefühlen oder Konzentrationsfähigkeiten sind in Vorbereitung auf den Schuleintritt zu erwerben. Verschiedene Trainingsprogramme richten sich speziell an Vorschulkinder, um über die Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen Verhaltensauffälligkeiten und Schulproblemen im weiteren Entwicklungsverlauf vorzubeugen (vgl. Koglin u. Petermann 2008).
2.5
Ergebnisse der Entwicklungspsychopathologie
Das Ziel der Entwicklungspsychopathologie ist es also, Kontinuität und Veränderung in der angepassten sowie in der fehlangepassten Entwicklung zu ermitteln und Faktoren zu identifizieren, welche zur Entstehung und Entwicklung von Fehlanpassung führen. Die hieraus resultierenden Erkenntnisse sollen zu einem besseren Verständnis für Störungsursachen und -verläufe verhelfen, was wiederum die Vorbedingung für eine gezielte Prävention und Intervention darstellt. Im folgenden Abschnitt sollen deshalb einige Befunde aus der Entwicklungspsychopathologie dargestellt werden, um im letzten Abschnitt den Nutzen dieser Disziplin für die Praxis aufzuzeigen.
Ängstlichkeit Die systematische Analyse unterschiedlicher Verläufe von Fehlanpassungen und Störungen, eine zentrale Aufgabe der Entwicklungspsychopathologie, verhilft zu einem besseren Verständnis, wie psychische Störungen frühzeitig erkannt und behandelt werden können. In der entwicklungspsychopathologischen Forschung werden schwerpunktmäßig eher externalisierende Verhaltensstörungen, insbesondere aggressive Verhaltensauffälligkeiten, betrachtet. Über die Entwicklungspfade von Angststörungen und soziale Ängstlichkeit im Kindes- und Jugendalter ist dagegen bisher wenig bekannt. Angststörungen werden vor dem Hintergrund eines multifaktoriellen Verursachungsmodells erklärt, welches biologische, psychische und soziale Faktoren berücksichtigt. Im Fokus der Entwicklungspsychopathologie stehen insbesondere bidirektionale Übertragungsprozesse zwi-
37 2.5 · Ergebnisse der Entwicklungspsychopathologie
schen (ängstlichen) Eltern und (ängstlichen) Kindern, welche zur Entwicklung und Aufrechterhaltung von Angststörungen beitragen. Sieht man einmal davon ab, dass Kinder eine generelle Prädisposition für die Entwicklung von Ängsten erben, sind es vor allem die spezifischen Lernerfahrungen in der frühkindlichen Entwicklung eines Kindes, welche die Ausformung einer spezifischen Angststörung zu bestimmen scheinen (Fisak u. Grills-Taquechel 2007). In einer Übersichtsarbeit von Fisak und Grills-Taquelchel (2007) werden drei verschiedene Lernmechanismen herangezogen, um den Erwerb von ängstlichen und vermeidenden Verhalten zu erklären: 4 Modellverhalten der Eltern, 4 Verstärkung von ängstlichem und vermeidendem Verhalten und 4 Informationen in Bezug auf Situationen, die vermieden werden sollen. Die modellhafte Wirkung des elterlichen Angstverhaltens wird über eine Vielzahl an Wegen übermittelt: Äußerung ihrer eigenen Ängste oder angstbezogenen Gedanken gegenüber ihrem Kind bzw. sichtbare Anzeichen und modellhaftes Vermeidungsverhalten. Die elterliche Äußerung von Verlegenheit und Schamgefühlen stellt dabei einen spezifischen Risikofaktor für die Entwicklung einer sozialen Phobie auf Seiten des Kindes dar. Ein weiterer Lernmechanismus ist die Verstärkung von ängstlichem und vermeidendem Verhalten durch die Eltern. Interessanterweise wurden keine Unterschiede in den elterlichen Interaktionen zwischen ängstlichen Kindern und ihren nichtängstlichen Geschwistern gefunden. So scheinen andere Faktoren die Beeinträchtigungen aufgrund einer ängstlichen Kindererziehung zu moderieren (s. weiter unten). Botschaften wie »sei vorsichtig«, die Eltern mit der Absicht äußern, ihr Kind zu schützen, können ihrerseits die Furcht vor derartigen Situationen und Ereignissen vergrößern. Da Eltern häufig die erste und einflussreichste Informationsquelle für ihre Kinder sind, kann die ängstliche elterliche Kommunikation wohlmöglich in besonderem Maß die Art und Weise beeinflussen, wie Kinder Situationen und Reize interpretieren. Befunde hierzu lassen vermuten, dass Kinder während besonderer Phasen ihrer sozialen Entwicklung empfindlicher gegenüber negativen Informationen über soziale Situationen sind. Im Hinblick auf frühe Lernerfahrungen und die Besonderheiten, die sich in der Interaktion zwischen Eltern und ihren Kindern ergeben, ist jedoch zu berücksichtigen, dass Kinder ihrerseits an der Gestaltung von Erfahrungen aktiv mitwirken. In diesem Zusammenhang sei auf das Konzept der Verhaltenshemmung (»behavioral inhibition«) verwiesen, ein Temperamentsmerkmal, welches als Risikofaktor für die Entwicklung von Angststörungen, insbesondere sozialer Ängstlichkeit, gesehen wird (Hirshfeld-Becker et al. 2007). Verhaltensgehemmte Kinder zeichnen sich bereits
im Kleinkindalter dadurch aus, dass sie auf neuartige Situationen, Reize und Personen mit Ängstlichkeit und Anspannung reagieren. Durch diese Art und Weise, auf Neuartiges zu reagieren, erzeugen Kinder vielleicht ängstliches Verhalten auf Seiten der Eltern, welches wiederum zu einer Verstärkung der Angstsymptome bei Kindern und/oder deren Eltern führen kann. > Fazit Die dargestellten Befunde zeigen, dass es nicht sinnvoll ist, einfache lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in der Entwicklung von psychischen Störungen anzunehmen. Nicht alle Kinder, welche denselben ungünstigen Entwicklungsbedingungen ausgesetzt sind, in diesem Fall einer Angststörung bei einem oder beiden Elternteilen, entwickeln selbst Angstsymptome. Deshalb ist es so wichtig, die Transaktionen zwischen Faktoren, welche in der Person selbst (z. B. das Temperamentsmerkmal Verhaltenshemmung) oder in ihrer sozialen Umwelt (ängstlicher Umgang mit dem Kind) angesiedelt sein können, im Entwicklungsverlauf zu berücksichtigen.
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Wie wichtig es für die Prognose und Therapie ist, Entwicklungsverläufe für die verschiedenen Störungsbilder aufzuzeichnen, soll am Beispiel der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung unter Einbezug der Begriffe Vorläufer-, Begleit- und Folgestörungen noch einmal aufgegriffen und veranschaulicht werden. Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung mit den Leitsymptomen Störung der Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität ist neben oppositionellem und aggressivem Verhalten die am häufigsten gestellte klinische Diagnose im Kindesalter (Döpfner et al. 2008, 7 Kap. III/27). Bereits im Säuglings- und Kleinkindalter sind erste frühe Anzeichen (Vorboten) einer späteren ADHS identifizierbar. Ein erhöhtes Risiko für eine spätere ADHS weisen z. B. Kinder mit einem schwierigen Temperament auf. Sie lassen sich nur schwer beruhigen, haben Schwierigkeiten, sich neuen Situationen anzupassen und zeichnen sich häufig durch eine negative Stimmung aus. Bereits an anderer Stelle wurde zudem auf die Bedeutung von Regulationsstörungen in der frühen Kindheit auf die Entwicklung späterer externalisierender Störungen eingegangen (7 Abschn. 2.4.). Besonders Säuglinge, welche zwei oder drei Regulationsstörungen aufweisen, entwickeln mit größerer Wahrscheinlichkeit im späteren Entwicklungsverlauf ADHS (Wolke 2008, 7 Kap. III/19). Ab dem Alter von 2 Jahren sind vermehrte Wutanfälle, eine höhere motorische Aktivität sowie Aufmerksamkeitsprobleme zu beobachten. Als spezifische Prädiktoren für eine spätere ADHS in diesem Alter erwiesen sich insbesondere eine erhöhte motorische Unruhe und Irritierbarkeit
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Kapitel 2 · Entwicklungspsychopathologie
(Esser et al. 2008). Mit zunehmendem Alter ist eine sehr hohe Stabilität der hyperkinetischen Symptomatik zu beobachten. In der Grundschule stellt vor allem die kurze Aufmerksamkeitsspanne der betroffenen Kinder ein großes Problem dar. Ebenso zeigen sich hier häufig Störungen in den Beziehungen zu Gleichaltrigen. Im weiteren Entwicklungsverlauf zeichnet sich dann eine allgemeine Verminderung der Symptomatik ab, jedoch setzen sich die Verhaltensprobleme bis in Erwachsenenalter fort (Schmidt u. Petermann 2008). Dass Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen in reiner Form, d. h. ohne begleitende psychische Auffälligkeiten bzw. Folgeerscheinungen, auftreten, ist eher selten. Allerdings ist die Abgrenzung von Begleit- und Folgestörung dadurch erschwert, dass verschiedene emotionale und Verhaltensauffälligkeiten sich sowohl komorbid als auch als Konsequenz der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung entwickeln können. Häufig wird im Verlauf der ADHS ebenfalls eine oppositionelle Verhaltensstörung und/oder eine Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert. Zeigt ein Kind neben der hyperkinetischen Symptomatik außerdem aggressives Verhalten, besteht ein erhöhtes Risiko, wesentlich ernsthaftere psychische Störungen zu entwickeln als ausschließlich hyperkinetisch auffällige Kinder. Diese Kinder fallen im Jugendalter u. a. häufiger durch delinquentes Verhalten auf. Folgende Störungen sind u. a. im Zusammenhang mit ADHS zu berücksichtigen (Döpfner et al. 2008): 4 oppositionelle Verhaltensstörungen und aggressive oder dissoziale Störungen des Sozialverhaltens, 4 depressive Störungen, 4 Angststörungen, 4 Ticstörungen, 4 Sprech- und Sprachstörungen, 4 umschriebene Lernstörungen (Lese-Rechtschreib-Störungen und Dyskalkulie), 4 Missbrauch bzw. Abhängigkeit von psychotrophen Substanzen. Bei Ticstörungen ist zu erwähnen, dass das zeitgleiche Auftreten von ADHS und Tics zu einem höheren Risiko für weitere komorbide externalisierende wie auch internalisierende Verhaltensauffälligkeiten führt (Roessner et al. 2007, 7 Kap. III/37). Schulleistungsdefizite ergeben sich häufig aus der Aufmerksamkeitsstörung heraus. Nicht selten kommen sekundäre Symptome wie ein vermindertes Selbstwertgefühl und Misserfolgserwartungen hinzu, die ihrerseits Leistungsdefizite verursachen können. Zudem sind Beziehungsstörungen zwischen Peers, Eltern und Lehrern aufgrund der Verhaltensproblematik nicht auszuschließen. In der bereits von Esser et al. (2008) erwähnten Studie leisten hyperkinetische Symptome zudem einen eigenständigen Beitrag zur Vorhersage des Nikotinkonsum im Alter von 25 Jahren. So gesehen können hyperkinetische Stö-
rungen wiederum als Vorläuferstörungen für Substanzmissbrauch, aber auch für aggressive Verhaltensauffälligkeiten gewertet werden.
Depression im Kindes- und Jugendalter Depressive Störungen sind von besonderer entwicklungspsychopathologischer Relevanz, da sie die weitere Entwicklung und Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtigen können. Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit der mütterlichen Depression als Risikofaktor für eine depressive Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Nach einem kurzen Überblick zu den zugrunde liegenden Mechanismen der Transmission soll aufgezeigt werden, wie aus den entwicklungspsychopathologischen Befunden Implikationen für präventive Interventionsmaßnahmen abgeleitet werden können. Die depressive Erkrankung von Müttern kann sich gravierend auf die kindliche Entwicklung auf allen Funktionsbereichen auswirken. Bereits im Säuglingsalter sind erste Hinweise für Entwicklungsabweichungen beobachtbar. Nach Laucht et al. (2002) ist im weiteren Verlauf eine Zunahme der Beeinträchtigung in der kognitiven und sozioemotionalen Entwicklung der betroffenen Kinder zu verzeichnen. Welche Faktoren führen aber nun zu solch schwerwiegenden Entwicklungs- und Verhaltensabweichungen? Goodman und Gotlib (1999) entwickelten hierzu ein entwicklungspsychopathologisches Modell, welches vier grundlegende Mechanismen der Transmission berücksichtigt: 4 Kinder depressiver Mütter erben auf direkten Weg eine genetische Disposition für eine depressive Erkrankung. 4 Auf demselben Weg können aber auch bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, kognitive und interpersonale Stile weitergegeben werden, welche ihrerseits das Risiko für eine Depression erhöhen. 4 Neben einer genetischen Disposition und angeborenen Dysfunktionen im Neuroregulationssystem, auf welche an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll, sind es vor allem psychosoziale Belastungsfaktoren, die sich ungünstig auf die kindliche Entwicklung auswirken können. Aufgrund kognitiver, emotionaler und verhaltensbezogener Beeinträchtigungen können depressive Mütter z. B. weniger einfühlsam auf kindliche Signale und Bedürfnisse eingehen. Dies kann im Säuglingsalter eine instabile Mutter-Kind-Bindung und eine beeinträchtigte Entwicklung der emotionalen Selbstregulation auf Seiten des Kindes zur Folge haben (Petermann et al. 2008). Auch im weiteren Verlauf können sich Beeinträchtigungen in der sozioemotionalen Entwicklung ergeben, wenn Mütter, aber auch Väter mit einer depressiven Störung ihre Kinder im Sozialisationsprozess nicht angemessen unterstützen können. 4 Darüber hinaus können aus der depressiven Erkrankung der Mutter eine Vielzahl an stressinduzierenden Belastungen wie finanzielle Probleme, längere Tren-
39 2.7 · Ausblick
nung von der Mutter bei chronischen Verläufen oder eheliche Konflikte resultieren, die wiederum das Risiko für das Auftreten einer Depression des Kindes erhöhen können. Natürlich moderieren weitere Faktoren wie Merkmale des Kindes, die Verfügbarkeit und Gesundheit des Vaters sowie der Zeitpunkt des Auftretens und der Verlauf der mütterlichen Depression den Einfluss auf das Entwicklungsergebnis. Da die Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten von Kindern depressiver Mütter entscheidend durch Störungen in der Mutter-Kind-Interaktion mitbestimmt werden, werden Elemente der Eltern-Kind-Interaktion, speziell für das Säuglings- und Kleinkindalter, mittlerweile in Therapieprogrammen integriert. Das Ziel ist dabei, die Kompetenzen im Umgang mit dem eigenen Kind zu fördern und eine Auseinandersetzung mit der Mutterschaft zu initiieren (Hornstein et al. 2007).
2.6
Nutzen der Entwicklungspsychopathologie für die Praxis
Die Entwicklungspsychopathologie liefert wichtige Erkenntnisse über individuelle Muster in der Abfolge von Entwicklungsschritten. Unter Berücksichtigung der Vorläuferstörungen und der Ausdifferenzierung von psychischen Störungen können so Entwicklungsprognosen erstellt werden. Insbesondere die Qualität der Bewältigung früherer Entwicklungsaufgaben bestimmt die Anpassungsleistung an die Herausforderung zukünftiger Entwicklungsperioden. Fehlanpassungen in der frühen Kindheit können folglich den weiteren Entwicklungsverlauf nachhaltig beeinflussen. Die Entdeckung von Vorläufern manifester Störungen eröffnet allerdings die Chance, frühzeitig mit präventiven Maßnahmen zu beginnen und wirkungsvolle Therapie einzusetzen. Die Entwicklungsabfolge einer Störung gibt wiederum bei einem komplexen Störungsspektrum Anhaltspunkte darüber, welche Störung primär und welche als Folge einer anderen Störung (= sekundär) anzusehen ist. Hieraus lassen sich wichtige Empfehlungen für den Aufbau und die Abfolge von Interventionsschritten ableiten. Empirisch fundierte Entwicklungsmodelle können für den klinischen Anwendungsbereich sowie in der Kinderund Jugendhilfe Empfehlungen dazu liefern, 4 wann am effektivsten und nachhaltigsten ein Interventionserfolg erzielt werden kann, 4 wer in eine Intervention unbedingt mit einbezogen werden sollte, 4 unter welchen Bedingungen eine Maßnahme wiederholt werden muss und 4 welche pädagogischen (schulischen) Angebote ein Kind für eine normale Entwicklung dringend benötigt.
Entwicklungspsychopathologische Konzepte und Befunde könnten damit ein umfassendes Frühwarnsystem für die Entwicklung von Kindern und ihren Familien liefern, auf das Familien- und Jugendpolitiker genauso zurückgreifen können wie Pädagogen, Kinderärzte/-psychiater oder Klinische Kinderpsychologen.
2.7
Ausblick
In den letzten 25 Jahren hat der entwicklungspsychopathologische Ansatz einen bedeutsamen Beitrag zum Verständnis psychischer Störungen geleistet. Mittlerweile hat sich die Entwicklungspsychopathologie als eigenständige Disziplin etablieren können, welche den klinischen Anwendungsgebieten fundierte und entwicklungsorientierte Konzepte zur Verfügung stellt. Vor allem Längsschnittstudien konnten eine Vielzahl an kausalen Verknüpfungen im Entwicklungsverlauf aufzeigen, welche für verschiedene Interventionen nutzbar gemacht werden konnten. In Zukunft muss sie sich weiteren Herausforderungen stellen. Einige von diesen zukünftigen Aufgaben sollen nun weiter ausgeführt werden. Eine wesentliche Aufgabe der Entwicklungspsychopathologie besteht darin, das Konzept der Vorläuferstörungen in Bezug auf externalisierende wie auch internalisierende Verhaltensstörungen stärker zu erarbeiten. Bisherige Studien konzentrierten sich hierbei mehr auf die verschiedenen Entwicklungsverläufe bei externalisierenden Verhaltensstörungen wie ADHS oder Störung des Sozialverhaltens. Dagegen ist die Befundlage zu Entwicklungspfaden von ängstlichen und depressiven Kindern und Jugendlichen eher noch sehr vage. In diesem Zusammenhang sollte der Komorbidität von psychischen Störungen auch mehr Beachtung geschenkt werden. Bislang fehlen Studien, welche spezifische Aussagen darüber machen, was das zeitgleiche Auftreten verschiedener Störungen bedeutet. Besitzen sie dieselben Vorbedingungen bzw. Risiken oder begünstigt eine Störung die andere? Antworten hierauf verhelfen zu einem besseren Verständnis, welche Rolle bestimmten Risiko- und Schutzfaktoren in der psychopathologischen Entwicklung zukommen kann (Rutter u. Sroufe 2000). Darüber hinaus liefern sie entscheidende Anhaltspunkte für die Umsetzung wirkungsvoller Interventions- und Präventionsmaßnahmen. Die Entwicklung eines Kindes resultiert aus den kontinuierlichen wechselseitigen Beziehungen zu seiner Umwelt. Künftige Entwicklungsmodelle zur Genese psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter müssen stärker diese biopsychosozialen Transaktionen berücksichtigen (Petermann u. Resch 2008). Dem Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren, aber auch dem Einfluss von Vulnerabilität und Resilienz muss in Zukunft noch mehr Beachtung geschenkt werden, um Anpassung und Fehlanpassung beschreiben und erklären zu können. So haben wir
2
40
2
Kapitel 2 · Entwicklungspsychopathologie
z. B. bisher zu wenig Wissen über die genauen dynamischen Prozesse zwischen den verschiedenen Faktoren, welche in der Pathogenese von Angststörungen eine besondere Rolle spielen (Muris 2006). Gleichzeitig ist es notwendig, Veränderungen im Entwicklungsverlauf und bedeutsame Übergänge, welche eine Anpassungsleistung erfordern und somit die Ressourcen und Kompetenzen eines Kindes beanspruchen, stärker fokussieren. Die empirische Absicherung der komplexen Entwicklungsmodelle verlangt wiederum eine engere Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen. Insbesondere die enormen Fortschritte der Neurobiologie und Humangenetik verändern nicht nur den Blickwinkel entwicklungspsychopathologischer Forschung, sondern eröffnen auch neue Perspektiven für die Prävention und Intervention psychischer Störungen (Masten 2006). Es sind weitere Längsschnittstudien erforderlich, welche die neuen Tendenzen in der Entwicklungspsychopathologie aufgreifen und für ihre Forschungsziele nutzbar machen sollten. Um der entwicklungsorientierten Perspektive stärker gerecht zu werden, müssen Längsschnittstudien in Zukunft weiter auf das (hohe) Erwachsenenalter ausgedehnt werden, um z. B. bestimmen zu können, wie sich psychische Störungen im Entwicklungsverlauf qualitativ verändern und worauf diese Unterschiede beruhen (vgl. Schmidt u. Petermann 2008).
Zusammenfassung Bei der Entwicklungspsychopathologie handelt es sich um einen interdisziplinären Ansatz, der einen Beitrag zum Verständnis von Entstehung, Ursachen und Verlauf psychischer Störungen leistet. In diesem Kontext ist sie für die Begründung, Planung und praktische Umsetzung in Prävention und Therapie von Bedeutung. Wesentlich sind dabei der Vergleich und die Gegenüberstellung von normalen und abweichenden Entwicklungsverläufen. Die abgeleiteten Entwicklungsmodelle integrieren komplexe biopsychosoziale Faktoren. Um verschiedene Entwicklungspfade angepassten und unangepassten Verhaltens besser erklären und um gezielt intervenieren zu können, werden die Ressourcen einer Person, die Schutz- und Kompensationsfaktoren sowie das Konzept der Resilienz ausführlich erläutert und an Beispielen illustriert. Des Weiteren wird auf die Bedeutung von Risikofaktoren und Vulnerabilitäten eingegangen. Die Ergebnisse der entwicklungspsychopathologischen Forschung leisten einen großen Beitrag zum Verständnis psychischer Störungen und helfen auf diese Weise, die gebräuchlichen Klassifikationssysteme (ICD-10, DSM-IV) weiterzuentwickeln. Vor allem Längsschnittstudien stellen außerdem eine große Hilfe für die Begründung spezifischer Präventions- und Therapiemaßnahmen dar.
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2
3
3
Biologische Grundlagen Kerstin Konrad
3.1
Einleitung
3.2
Regelhafte Hirnentwicklung
3.2.1
Geschlechtsspezifische Hirnentwicklung und psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters – 48 Adoleszenz: eine kritische Periode für die Entwicklung von Psychopathologie – 48
3.2.2
– 44 – 44
3.3
Entwicklungsgenetik
3.4
Sensible Phasen für Interventionen?
3.4.1
Neurowissenschaftlich fundierte Therapieverfahren bei Kindern und Jugendlichen – 52
3.5
Ausblick
– 52
Zusammenfassung Literatur
– 50
– 52
– 53
Weiterführende Literatur
– 54
– 51
44
Kapitel 3 · Biologische Grundlagen
Wenn es stimmt, dass ausnahmslos alles, was wir denken, wissen, glauben, hoffen, fühlen, erleiden, entscheiden oder tun sich bis ins letzte Detail auf die Strukturen unserer Neurone und Synapsen und der Prozesse, die sich zwischen ihnen abspielen, zurückführen lässt, wenn also das, was wir als seelisch bezeichnen, sowohl in
3
seiner Existenz als auch in seiner Beschaffenheit vollständig eine Hervorbringung neuronaler Schaltkreise ist, dann hat das für das Verständnis psychischer Störungen und für die Wirkungsweise von Psychotherapie weit reichende Konsequenzen. (Grawe 2004, S. 17)
3.1
Aufgrund der großen Fortschritte auf dem Gebiet der Neurowissenschaften ist es heute möglich, die molekularbiologischen Vorgänge im menschlichen Gehirn zu untersuchen und mit Hilfe von immer leistungsfähigeren Bildgebungsverfahren, die Entwicklung des Gehirns und mögliche Störungen, die in dieser Entwicklung auftreten können, besser zu verstehen. Die mit Hilfe dieser Methoden gewonnenen neuen Erkenntnisse der regelhaften Hirnentwicklung seien im Folgenden zusammenfassend dargestellt.
Einleitung 3.2
Für das Verständnis von psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters und die Entwicklung effektiver Behandlungsformen ist die Berücksichtigung der Entwicklungsperspektive von besonderer Bedeutung. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen: Sie unterscheiden sich nicht nur in ihrem kognitiv-emotionalen und sozialen Entwicklungsstand von Erwachsenen, sondern auch in basalen biologischen Mechanismen, wie z. B. dem Herz-KreislaufSystem, der Lungen- und Nierenfunktion oder der Thermoregulation. Daraus ergibt sich eine besondere Bedeutung für den Arzneimittelmetabolismus, so dass seit einigen Jahren Einigkeit darüber besteht, dass pharmakologische Behandlungen sich einer separaten Wirksamkeitsüberprüfung im Kindes- und Jugendalter unterziehen müssen. Aber auch für die Anwendung psychotherapeutischer Techniken ist das Verständnis biologischer Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen elementar, um die für das Erwachsenenalter etablierten Behandlungsprogramme auf die spezifischen Bedürfnisse des Kindes- und Jugendalters anzupassen. Dabei kommt dem Verständnis der Hirnentwicklung über die Lebensspanne eine besondere Bedeutung zu: So muss z. B. eine verhaltenstherapeutische Intervention, die sich bei Erwachsenen als wirksam erwiesen hat, nicht notwendigerweise auch bei jüngeren Kindern Erfolg versprechend sein. Eine mögliche Ursache hierfür könnte darin liegen, dass bei jüngeren Kindern auf neuronaler Ebene noch nicht die notwendigen Voraussetzungen für bestimmte Lernprozesse etabliert sind. Beispielsweise scheinen erwachsene Patienten mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) von einer kognitiv-behavioralen Therapie zu profitieren (Safren 2006), während das bei jüngeren Patienten nicht der Fall zu sein scheint (Taylor et al. 2004). Umgekehrt ist es möglich, dass aufgrund einer höheren Plastizität des kindlichen Gehirns bestimmte Interventionen im Kindesalter noch wirksam oder schneller wirksam sind als bei Erwachsenen. So wurden die größten Effekte für intensive verhaltenstherapeutische Interventionen beim Autismus berichtet, je früher im Kindesalter diese begonnen wurden (Hazell 2007). Um diese Mechanismen besser zu verstehen, ist es notwendig, sich mit den spezifischen biologischen Grundlagen des Lernens im Kindesalter näher zu beschäftigen.
Regelhafte Hirnentwicklung
Während der Embryonalzeit werden im Gehirn des noch ungeborenen Kindes im Durchschnitt 250.000 Neuronen/ min gebildet (Kandel et al. 2000). Dieser Vorgang und die nächsten Phasen der neuronalen Entwicklung werden primär genetisch determiniert. Die embryonale Gehirnentwicklung lässt sich im Wesentlichen in vier Phasen einteilen: 1. neuronale Proliferation, d. h. Bildung von Neuronen durch Zellteilung, 2. Migration, d. h. Wanderung der Neurone zu einer bestimmten Lokalisation, 3. Differenzierung und Reifung, d.h. Ausreifung von Dendriten, Axonen und Synapsen, 4. Zelltod und Synapsenreduktion: Die Apoptose setzt bereits während der Zellproliferation ein und führt zu einem Untergang von ca. 1/4 bis zu 1/3 der ursprünglichen Neuronen. Aber auch hinsichtlich der Synapsenbildung kommt es nach einer Phase der Überproduktion wieder zu einer selektiven Elimination von synaptischen Verbindungen (»pruning«). Die neuronale Entwicklung endet aber nicht mit der Geburt, sondern reicht bis in die späte Adoleszenz hinein. Man geht heute davon aus, dass sich das zerebrale Gesamtvolumen nach dem 5. Lebensjahr nicht mehr signifikant verändert und das Gehirn somit »ausgewachsen« ist. Weiterhin finden aber bis in die Adoleszenz parallel regionale Volumenvergrößerungen und -verminderungen statt (Giedd et al. 1997). Der Anteil weißer Substanz nimmt von der Kindheit bis in das Jugendalter hinein an Volumen zu (Reiss et al. 1996). Diese Veränderung ist nach Yakovlev u. Lecours (1967) auf die fortschreitende Myelinisierung der Axone durch Oligodendrozyten zurückzuführen. Sie beginnt schon vor der Geburt und ist in den ersten zwei Lebensjahren besonders ausgeprägt. Insgesamt verläuft die Myelinisierung von inferioren zu superioren Hirnarealen und dabei tendenziell von posterior nach anterior. Eine Ausnahme stellt das Corpus callosum dar, dessen weiße Substanz zunächst in ihren anterioren Arealen reift. Diese sind mit primären sensorischen und motorischen Arealen der grauen Substanz assoziiert. Die Mye-
45 3.2 · Regelhafte Hirnentwicklung
. Abb. 3.1. Alters- und geschlechtsabhängige Veränderungen der grauen Substanz im Laufe der normalen Entwicklung. Männliche Personen (schwarze Linien); weibliche Personen (blaue Linien); 95%
Konfidenzintervall (gestrichelte Linien). (Nach Giedd et al. 1999; aus Konrad u. Fink 2007)
linisierung des posterioren Anteils findet später statt und endet erst in der Adoleszenz (Giedd et al. 1999; Thompson et al. 2000). Die graue Substanz unterliegt ebenfalls dynamischen Veränderungen, die schon vor der Geburt beginnen und
bis zur Adoleszenz andauern (Jacobson 1991). Nach einer Längsschnittstudie von Giedd et al. (1999) nimmt die kortikale graue Substanz bis ins Kindesalter zunächst zu. Durch anhaltenden Zelltod von Neuronen und Gliazellen beginnt dann in der Adoleszenz eine Abnahme des Volu-
3
46
3
Kapitel 3 · Biologische Grundlagen
mens bis hin zum Erwachsenenalter (Rabinowicz 1986; . Abb. 3.1). Das Volumen der Basalganglien nimmt ebenfalls im Laufe der Adoleszenz ab und scheint mit einer Volumenreduktion im frontalen Kortex assoziiert zu sein. In einer Längsschnittuntersuchung konnte gezeigt werden, dass sich insbesondere der Kopf des Nucleus caudatus im Verlauf verkleinert (Thompson et al. 2000). Diese Veränderungen werden als eine kritische Periode der Reifung frontostriataler Kreisläufe angesehen (Luna u. Sweeney 2001). Frontostriatale Dysfunktionen werden mit einer Reihe von psychischen Störungen in Zusammenhang gebracht, die typischerweise in der Kindheit beginnen, wie z. B. dem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder den Ticerkrankungen. Insgesamt erreicht der Anteil grauer Substanz im Bereich des Frontalhirns bei gesunden Kindern um das 12. Lebensjahr einen Höhepunkt (Giedd et al. 1997). Man geht heute davon aus, dass die Synaptogenese intrinsisch reguliert wird, wohingegen die Synapsenelimination zumindest teilweise durch die Umwelt (insbesondere durch Lernerfahrungen) reguliert zu werden scheint (Huttenlocher u. Dabholkar 1997).
> Fazit Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Hirnregionen, die mit eher basalen sensorischen und motorischen Prozessen assoziiert sind, in der Entwicklung zuerst reifen, wohingegen Hirnareale wie der präfrontale Kortex, die für höhere kognitive Funktionen, wie z. B. die Handlungskontrolle, das Planen oder Problemlösen etc. verantwortlich sind, später reifen und Maturationsprozesse bis in die späte Adoleszenz anhalten.
Auf funktioneller Ebene zeigt sich, dass Kinder im Vergleich zu Erwachsenen bei einer Vielzahl kognitiver und emotionaler Aufgaben ein größeres, d. h. noch unreifes und diffuses Netzwerk zu aktivieren scheinen. Insbesondere die Aktivität in Hirnarealen, die mit der Leistung in der spezifischen Aufgabe korrelieren, scheint sich im Laufe der Entwicklung zu fokalisieren, während die Aktivität in Hirnregionen, die unabhängig von der Leistung in der entsprechenden Aufgabe ist, mit der Zeit abzunehmen scheint (Casey et al. 2005). Interessanterweise zeigt sich ein analoges Veränderungsmuster der Hirnaktivität im Rahmen von Trainingsstudien (z. B. im Bereich des motorischen Lernen) mit erwachsenen Probanden (Karni et al. 1995), d. h. momentan kann noch nicht differenziert werden, ob solche kortikalen Veränderungsmuster stärker durch Reifungsprozesse oder durch Erfahrung und Lernprozesse beeinflusst werden.
Exkurs Bildgebungsverfahren Für die Untersuchung von Kindern und Jugendlichen ist unter den Bildgebungsverfahren die Magnetresonanztomographie (MRT) besonders geeignet, da sie nichtinvasiv hoch auflösende Aufnahmen des Gehirns ermöglicht, die weder den Einsatz radioaktiver Substanzen noch ionisierender Strahlung erfordert. Auch für die Untersuchung der normalen Gehirnentwicklung im Verlauf der Kindheit und Jugend kann diese Methode genutzt werden, da sowohl kranke als auch gesunde Kinder problemlos mehrfach im Magnetresonanztomographen untersucht werden können. Strukturelle MRT. Das Ziel hirnmorphometrischer Untersuchungen ist die Analyse des Zusammenhangs zwischen strukturellen Eigenschaften des Gehirns und normalen oder pathologisch veränderten Hirnfunktionen bei verschiedenen Erkrankungen. Derzeit liegt die Auflösung der mit Routinetechniken durchgeführten strukturellen MRTAufnahmen des gesamten Gehirns bei ca. 1×1×1 mm. In den letzten Jahren wurde mit Hilfe der strukturellen Bildgebung eine Vielzahl neuer Erkenntnisse über die normale Hirnentwicklung bei gesunden Kindern und Jugendlichen erzielt, wobei Studien zu strukturellen Veränderungen bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen 6
Störungen bislang noch eher selten sind. Neuere Arbeiten weisen aber z. B. auf strukturelle Veränderungen der Amygdala bei Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens hin, ähnlich wie sie auch bei Erwachsenen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung gezeigt werden konnten (Hübner et al. 2008). Somit könnte die Untersuchung von hirnmorphometrischen Abweichungen in der Entwicklung längerfristig für die frühe Identifikation von Risikopersonen interessant sein. Diffusionstensor-Bildgebung (DTI). Mit Hilfe der Diffusionstensor-Bildgebung kann man seit einigen Jahren genauere Informationen über die Struktur der weißen Hirnsubstanz gewinnen. Diese Methode ist für Bildgebungsarbeiten bei Kindern und Jugendlichen besonders interessant, da sie neue Erkenntnisse über die Entwicklung des Gehirns in der Reifungsphase und bezüglich der neuronalen Plastizität erwarten lässt. Beim DTI wird die Richtungsabhängigkeit (Anisotropie) des Diffusionskoeffizienten ausgenutzt, um die Orientierung der Faserbündel darzustellen, aus denen die weiße Substanz im Wesentlichen besteht. Dabei nutzt man aus, dass die Wassermoleküle im Gewebe sich entlang der Fasern schneller bewegen als senkrecht zu ihnen. Die Stärke
47 3.2 · Regelhafte Hirnentwicklung
der Diffusionsanisotropie hängt ab von Dicke und Zustand des Myelins, von denen die einzelnen Nervenfasern umgeben sind. Auf der Grundlage einer DTI-Messung des menschlichen Gehirns kann man eine Faserorientierungskarte erzeugen, die in jedem Volumenelement die vorherrschende Faserorientierung darstellt. Zur automatischen Verfolgung und Darstellung von solchen Bahnen (»Fibre tracking«) werden zurzeit verschiedene Auswertungsalgorithmen diskutiert. Was wird in der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) gemessen? In der fMRT werden Probanden im Scanner untersucht, während sie bestimmte Aufgaben bearbeiten müssen. Dabei werden lokale Änderungen der zerebralen Blutoxygenierung, der sog. »blood-oxygen-level-dependent« (BOLD)-Effekt gemessen. Ist eine bestimmte Gehirnregion aktiv, so steigt der Verbrauch von Metaboliten und Sauerstoff, entsprechend steigt der Blutfluss zu dieser Region (Ernst u. Rumsey 2000). Um aber eine gesteigerte Sauerstoffextraktion durch das Gewebe zu ermöglichen, muss der Blutfluss – und entsprechend das regionale Blutvolumen – so stark gesteigert werden, dass ein Sauerstoffüberschuss entsteht. Dies wird durch eine lokale Vasodilatation erreicht. Sauerstoff ist im Blut an das Hämoglobin als Transportprotein gebunden. Dieses Protein enthält einen Eisenkomplex, an den der Sauerstoff für den Transport reversibel gebunden wird. Eisen hat bei gebundenem Sauerstoff (Oxyhämoglobin) eine andere Wertigkeit als ohne Sauerstoffbindung (Desoxyhämoglobin). Da die MRT in einem statischen Magnetfeld stattfindet und auf elektromagnetischen Mechanismen beruht, hat die unterschiedliche magnetische Wirkung des Eisens einen Einfluss auf die lokale Signalstärke der MRT-Aufnahme. Während mit Sauerstoff beladenes Hämoglobin vergleichsweise neutral ist, hat Desoxyhämoglobin eine reduzierende Wirkung auf die lokale Bildintensität (. Abb. 3.2). Bei der fMRT wird also die Tatsache genutzt, dass neuronale Aktivität zu einem erhöhten Blutfluss in der betreffenden Hirnregion führt. Große Bedeutung kommt den an fMRT-Aufnahmen gekoppelten Aufgaben zu, die geeignet konstruiert sein müssen, um eine sinnvolle Interpretation der funktionellen Daten zu ermöglichen. So kann man indirekt die Hirnaktivierung während der Durchführung von verschiedenen kognitiven Aufgaben zur Aufmerksamkeit, zum Gedächtnis, Problemlösen oder von Aufgaben zur emotionalen Informationsverarbeitung sichtbar machen. Praktische Hinweise für die Durchführung. Bei der Durchführung von Untersuchungen mit Hilfe der MRT im Kindes- und Jugendalter sind eine Reihe von Besonderheiten zu beachten. Prinzipiell ist es möglich, auch schon
. Abb. 3.2. Prinzip der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). (Aus Konrad u. Gilsbach 2007)
bei Kindern im Vorschulalter ohne Sedierung eine Untersuchung mit dem funktionellen Magnetresonanztomographen durchzuführen. Voraussetzung hierfür ist aber eine intensive Vorbereitung des Kindes auf die bevorstehende Untersuchung. Dies kann z. B. mit Hilfe eines Simulators oder spielerisch mit einem einfachen Spieltunnel erfolgen (Davidson et al. 2003). Besonders viel Wert sollte darauf gelegt werden, den Kindern die Notwendigkeit des Stilliegens (insbesondere des Kopfes) zu verdeutlichen und gegebenenfalls dies mit Hilfe von Belohnungsverfahren oder Feedbackprozeduren einzuüben. Auch sollten die Kinder bereits an die Geräusche im Tomographen und das notwendige technische Equipment (Kopfspule, Kopfhörer etc.), das möglicherweise auf kleinere Kinder etwas furchterregend wirken kann, gewöhnt werden. Da Kinder seltener als Erwachsene klaustrophobische Ängste aufweisen (Spear 2002), wird die Enge des Tomographen von den Kindern äußerst selten als aversiv erlebt. Während der Durchführung der strukturellen Aufnahme hat es sich bewährt, den Kindern z. B. ein Video zu zeigen, um die Zeit der Messung möglichst abwechslungsreich zu gestalten. Die funktionellen Aufgaben sollten so kindgerecht und so kurz wie möglich sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsstörungen untersucht werden. Ferner ist bei der Konstruktion der Aufgaben darauf zu achten, dass mögliche Leistungsunterschiede zwischen den Kindern oder Gruppen kontrolliert werden können. So ist es z. B. günstig, Aufgaben mit einer parametrischen Schwierigkeitsmanipulation zu wählen, wenn gesunde Kinder und Kinder mit einer Aufmerksamkeitsstörung verglichen werden sollen. Dies ermöglicht es z. B. nicht nur die neuronale Aktivität beider Gruppen in einer Bedingung zu vergleichen, sondern auch die Hirnaktivierung in verschieden schwierigen Bedingungen bei vergleichbarer Leistung beider Gruppen (Munakata et al. 2004).
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48
Kapitel 3 · Biologische Grundlagen
3.2.1 Geschlechtsspezifische Hirnentwicklung
und psychische Störungen des Kindesund Jugendalters
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Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Hirnentwicklung sind möglicherweise für die Entwicklungspsychopathologie hochinteressant. So könnte es einen Zusammenhang geben zwischen dem in der Hirnentwicklung relativ kleineren N. Caudatus bei Jungen und der Knabenlastigkeit von psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters, die mit Dysfunktionen dieser Hirnstruktur assoziert sind. Wie oben beschrieben, nimmt das Volumen der Basalganglien, insbesondere des N. caudatus, graduell zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr ab, und diese Abnahme scheint bei Jungen stärker ausgeprägt zu sein als bei Mädchen. In dieses Zeitfenster fallen die Hauptmanifestationszeitpunkte von ADHS, Tics und Zwangserkrankungen bei Jungen, wobei sich die ADHS am frühesten im Laufe der Entwicklung manifestiert und die Zwangserkrankung zuletzt. Somit könnte die ausgeprägte Knabenlastigkeit dieser Störungen im Kindesalter mit den offensichtlich vorhandenen geschlechtsspezifischen Unterschieden während der Hirnreifung in den frontostriatalen Kreisläufen assoziiert sein. Castellanos et al. (2002) berichteten, dass Jungen mit ADHS nicht die graduelle Abnahme im Volumen des N. caudatus aufweisen, sondern dass der N. caudatus schon bei 4-jährigen Kindern kleiner war und auch in der Entwicklung kleiner blieb als bei gesunden Kindern. Dies könnte dafür sprechen, dass strukturelle Veränderungen der Basalganglien in frühen Entwicklungsabschnitten die Kinder für die Entwicklung einer ADHS prädisponiert haben. In Übereinstimmung hiermit konnte auch gezeigt werden, dass Kinder mit perinatalen Gehirninfarkten, die die Basalganglien betrafen, ein 4-fach erhöhtes Risiko für ADHS und Tics im Schulalter aufwiesen (Casey et al. 2001). Im Unterschied dazu ist in der Hirnentwicklung der Mädchen das Amygdala-Volumen geringer. Der Amygdala wird eine besondere Bedeutung in der Ätiologie internalisierender Störungen eingeräumt. In diesem Kontext ist es interessant, dass Mädchen im Vergleich zu Jungen in höherem Maße psychische Störungen aus dem internalisierenden Formenkreis, wie z. B. Angststörungen oder Depressionen aufweisen. Für internalisierende Störungen wurden in mehreren Studien funktionelle und/oder strukturelle Auffälligkeiten in limbischen Hirnarealen, insbesondere in der Amygdala gezeigt (Übersicht in Durston et al. 2001). Interessanterweise manifestieren sich bei den Mäd-
chen diese Störungen in der Regel erst im Laufe der Pubertätsentwicklung, wenn typischerweise die Sekretion von Östrogenen zunimmt. Insbesondere limbische Hirnstrukturen haben ein hohes Vorkommen von Östrogenrezeptoren, so dass es hier neben soziokulturellen Faktoren einen Zusammenhang zwischen hormonell beeinflussten Veränderungen des Gehirns und einer Vulnerabilität für psychische Störungen des Jugendalters geben könnte (Sisk u. Zehrl 2005).
3.2.2 Adoleszenz: eine kritische Periode für
die Entwicklung von Psychopathologie Relativ zu anderen Lebensabschnitten, ist die Adoleszenz durch besonders impulsives und risikoreiches Verhalten gekennzeichnet, das zum Teil schwerwiegende Folgen nach sich ziehen kann (Frühschwangerschaften, HIV-Infizierung, hohes Verkehrsunfallrisiko, früher Drogenkonsum, Suizide etc.). Wie oben bereits dargestellt, finden in der Adoleszenz Umstrukturierungsprozesse in kortikalen, limbischen und Reward-Arealen (Belohnungssystem) des Gehirns statt. Diese Areale spielen eine wichtige Rolle für die Emotionsverarbeitung und die Motivation. Insbesondere die funktionelle und strukturelle Konnektivität, d. h. die Verbindung und Interaktion zwischen dem präfrontalen Kortex und der Amygdala bzw. Reward-Strukturen, wie dem N. accumbens, scheinen sich in der Adoleszenz zu verändern. Jüngere funktionelle Studien sprechen dafür, dass möglicherweise eine Imbalance in der Reifung frontostriataler und frontolimbischer Netwerke dem risikoreicheren Verhalten von Jugendlichen zugrunde liegen könnte, d. h., dass in dieser Lebensphase emotionale und Belohnungsreize zu besonders starken Aktivierungen in RewardStrukturen und im limbischen System führen, der präfrontale Kortex aber noch nicht ausreichend gereift ist, um diese Aktivierung in tieferliegenden Hirnstrukturen hinreichend zu modulieren. So wurde z. B. gezeigt, dass die Neigung, risikoreiches Verhalten zu zeigen, positiv assoziiert war mit einer erhöhten Aktivierung im N. accumbens bei Jugendlichen. Die reifungsbedingten Veränderungen im Gehirn von Jugendlichen scheinen aber nicht nur das Auftreten bestimmter gesundheitsgefährdender Verhaltensweisen zu begünstigen, sondern möglicherweise auch mit einem erhöhten Risiko für langfristige negative Konsequenzen solcher Verhaltensweisen verantwortlich zu sein. Dies sei am Beispiel des frühen Cannabiskonsums veranschaulicht.
49 3.2 · Regelhafte Hirnentwicklung
Wie schädlich ist Cannabis für das Gehirn von Jugendlichen? Zu dieser Frage gibt es eine Vielzahl teilweise sich widersprechender Untersuchungsergebnisse. Während eine große Meta-Analyse gezeigt hat, dass sich insgesamt bei Cannabis-Langzeitkonsumierenden im Vergleich zu Nichtkonsumierenden eher nur milde Auffälligkeiten in den Bereichen Gedächtnis und Lernen von neuen Informationen feststellen ließen (Grant et al. 2003), häufen sich in jüngster Zeit Hinweise darauf, dass diese Ergebnisse möglicherweise nur für Erwachsene gelten. Erste tierexperimentelle Arbeiten und Humanstudien sprechen dafür, dass ein früher Cannabiskonsum nachhaltige negative Auswirkungen auf kognitive Leistungen hat und das Risiko für die Entwicklung neuropsychiatrischer Erkrankungen erhöht. Auch scheint ein früher Cannabiskonsum illegalen Drogenkonsum sowie die Entwicklung einer Cannabisabhängigkeit zu begünstigen. Dies könnte mit Reifungsprozessen des endogenen Cannabinoidsystems im Gehirn zusammenhängen, dessen Aktivität in der Pubertät am höchsten ist. Übereinstimmend mit dieser Vermutung wurde gezeigt, dass männliche Ratten, die während der Pubertät mit synthetischen Cannabinoidrezeptoragonisten behandelt wurden, schwerwiegendere und persistierende Verhaltensauffälligkeiten entwickelten im Vergleich zu Ratten, die vor der Pubertät mit Cannabinoidrezeptoragonisten behandelt wurden. Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass das Gehirn von Jugendlichen im Vergleich zu dem von Erwachsenen besonders vulnerabel ist und sich nachhaltige negative Auswirkungen durch die frühe Exposition mit Cannabinoiden manifestieren können (Schneider 2008).
Der Übergang zum Erwachsensein in der Pubertät ist sowohl durch reifungsbedingte Veränderungen auf der kognitiven, emotionalen und Verhaltensebene gekennzeichnet als auch durch körperliche Veränderungen, die insbesondere das gonadale System betreffen. All diese Prozesse werden durch zentral gesteuerte Mechanismen beeinflusst, die zu bestimmten Zeitpunkten in der Entwicklung durch interne und externe Ereignisse ausgelöst werden. Dabei scheint das Zusammenspiel von Verhaltens- und gonadalen Veränderungen äußerst komplex zu sein. In den letzten Jahren haben tierexperimentelle Daten verdeutlicht, dass das Gehirn die Aktivierung des Gonadotropin-Releasing-Hormons (GnRH) zum Zeitpunkt der Pubertät zu initiieren scheint, was zu einer vermehrten Produktion von Steroidhormonen führt. Umgekehrt modulieren Steroidhormone die GnRH-Sekretion im Gehirn und organisieren und aktivieren neuronale Pfade, die u. a. das Reproduktionsverhalten beeinflussen. Diese Hormoneffekte auf das Verhalten
. Abb. 3.3. Strukturelle Veränderungen des Gehirns während der Adoleszenz betreffen eine Vielzahl unterschiedlicher Hirnregionen und scheinen teilweise durch Geschlechtshormone beeinflusst zu werden. Die verschiedenen Regionen sind wie folgt gekennzeichnet: hellgrau Salienz von sexuellen Reizen und sensorischen Assoziationen; blau sexuelles Interesse; dunkelgrau Sexualverhalten. (Nach Sisk u. Foster 2004)
scheinen teilweise durch pubertätsbedingte Veränderungen des Nervensystems bedingt zu sein und teilweise auch unabhängig von gonadalen Reifungsprozessen stattzufinden (. Abb. 3.3). Man geht heute davon aus, dass die Adoleszenz eine besonders sensible Phase für hormonabhängige Veränderungen des Gehirns ist. Deshalb können krankheitsbedingte Veränderungen des Beginns der Pubertät (z. B. Pubertas praecox) auch mit individuellen Unterschieden in psychologischen Merkmalen assoziiert sein. Für die klinische Kinderpsychologie ist dies aus zwei Gründen besonders relevant: 1. Frühzeitiger Pubertätsbeginn ist mit einer erhöhten Rate an entwicklungspsychopathologischen Auffälligkeiten assoziiert, insbesondere mit einem erhöhten Auftreten von Essstörungen und Depressionen. 2. Juvenile Essstörungen, bei denen es starvationsbedingt zu Veränderungen in der Ausschüttung von Steroidhormonen kommt, können somit möglicherweise die Gehirnentwicklung langfristig beeinflussen.
Tanner-Stadien zur Klassifikation der Pubertätsentwicklung Für eine Vielzahl an Untersuchungen zur psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen kann es deshalb sinnvoll sein, neben dem Alter der Kinder die Pu6
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50
Kapitel 3 · Biologische Grundlagen
bertätsentwicklung systematisch zu erfassen. Hierfür definierte Tanner u. Whitehouse (1976) Entwicklungsstufen, die anhand externer primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale (weibliche Brustentwicklung, Entwicklung der männlichen Geschlechtsorgane und Entwicklung des Schamhaarwuchses) bestimmt werden. Die Tanner-Stadien werden je nach individueller Veranlagung und äußeren Einflüssen unterschiedlich schnell während der Pubertät durchlaufen.
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3.3
Entwicklungsgenetik
Entwicklungsbiologische Prozesse weisen eine erhebliche genetische Komponente auf und erbliche Eigenschaften werden im Rahmen der Entwicklung angelegt oder ausgeprägt. Die Entwicklungsgenetik beschäftigt sich mit der Zurückführung von Unterschieden im Verhalten und der Persönlichkeit von Menschen auf die verschiedenen Anteile von Genom- und Umwelteinflüssen. Warum ist eine solche Auseinandersetzung sinnvoll? Auch nach der Entschlüsselung des Genoms zeigte sich, dass die unterschiedliche Ausprägung von Eigenschaften, wie z. B. Intelligenz, nicht allein durch die Genetik erklärt werden kann. Vielmehr unterliegen Eigenschaften einer komplizierten Wechselwirkung zwischen Genen und Umwelt, die sich durch Genom-Umwelt-Interaktion und Genom-Umwelt-Kovariation gegenseitig beeinflussen. ! Vielfach wird angenommen, dass eine Beteiligung genetischer Faktoren für eine psychische Störung gegen eine psychologische Intervention sprechen würde. Dies ist aus heutiger Sicht eindeutig falsch. Genetische Faktoren erklären immer nur einen Teil der Varianz, und auch bei vorhandener genetischen Vulnerabilität kann es aufgrund der neuronalen Plastizität des Gehirns durch eine Modifikation von psychologischen Variablen zu neurobiologischen Veränderungen kommen, die die Manifestation oder Aufrechterhaltung einer psychischen Störung verhindert.
Ein bekanntes Beispiel für den Einfluss von Gen-UmweltInteraktionseffekten in der Entwicklung ist die Phenylketonurie. Entsprechend den gegebenen Umweltbedingungen werden bestimmte Allele der DNA aktiviert und wirken somit auf das Verhalten. Bei Kindern mit dem entsprechenden Enzymdefizit, die keine spezielle Diät erfahren, wird die Entwicklung des Zentralnervensystems behindert, so dass eine geistige Behinderung entsteht. Bei einer entsprechenden Diät jedoch, die auch nach Reifung des ZNS abgesetzt werden kann, wird kein Intelligenzdefizit ausgeprägt.
Folgende Untersuchungsmethoden stehen der Entwicklungsgenetik zur Verfügung: 4 Formalgenetische Studien, z. B. Zwillings- oder Adoptionsstudien. Durch den Vergleich von eineiigen, also genetisch identischen Zwillingen, mit zweieiigen Zwillingen lassen sich Abschätzungen anstellen, zu welchem Anteil bestimmte Eigenschaften oder psychische Störungen erblich, d. h. heritabel sind. 4 Kopplungsanalysen. Durch die Untersuchung von mehreren von einer Erkrankung Betroffenen innerhalb einer Familie lässt sich der Bereich eines Chromosoms eingrenzen, auf dem die eigenschaftsbestimmende bzw. erkrankungsverursachende Genmutation lokalisiert ist. 4 Assoziationsstudien. Aufgrund der Annahme, dass bei allgemein zufälliger Verteilung der DNA-Marker in der Population ein mit der Eigenschaft assoziierter Marker in statistisch signifikanter Weise häufiger unter Individuen auftaucht, die die analysierte Eigenschaft aufweisen, vergleicht man nicht miteinander verwandte Individuen innerhalb einer Population. Durch den Einsatz von Gen-Chips unter Einsatz von bis zu 500.000 Einzel-Nukleotid-Polymorphismen (SNP) sind Assoziationsstudien jetzt über das gesamte Genom möglich. Trotz der enormen Fortschritte auf dem Gebiet der Molekulargenetik, sind die Erkenntnisse im Bereich der Genetik psychischer Störungen in den letzten Jahren noch relativ begrenzt. Trotz zum Teil hoher Heritabilitäten, die z. B. für ADHS oder für die juvenile Schizophrenie auf ca. 80% geschätzt werden, konnten bislang für verschiedene Erkrankungen in Kopplungsanalysen zwar einige Suszeptibilitätsloci identifiziert werden, doch ließen sich nur wenige in unabhängigen Stichproben replizieren. Auch gelang bislang bei kaum einer psychischen Störung eine eindeutige Identifikation von bestimmten Kandidatengenen, d. h. von Genen, die möglicherweise Assoziationen mit dem Auftreten von genetisch beeinflussten Erkrankungen aufweisen. Dies spricht dafür, dass Entwicklungsprozesse von zahlreichen Genen, also polygen, beeinflusst werden, die für sich alle eher kleine Effekte aufweisen. Daraus lässt sich folgern: Nicht das einzelne Gen bestimmt, ob es zur Ausprägung einer psychischen Störung kommt, sondern in Abhängigkeit der Varianten zahlreicher anderer Gene und bestimmter Umweltfaktoren legt es nur die Wahrscheinlichkeit fest, mit der sich unter bestimmten Gegebenheiten eine bestimmte Eigenschaft manifestiert. Wie komplex das Zusammenspiel von biologischen Risikofaktoren und spezifischen Umweltfaktoren für die Entwicklung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter sein kann, soll noch einmal am folgenden Beispiel verdeutlicht werden.
51 3.4 · Sensible Phasen für Interventionen?
3.4 Beispiel Der Einfluss mütterlicher Wärme auf die Entwicklung von ADHS-Symptomen bei Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht Eine interessante Studie legten Tully et al. (2004) vor. Sie untersuchen 2232 Zwillinge im Alter von 5 Jahren, von denen die Hälfte ein Geburtsgewicht unter 2500 g aufwies. Ein niedriges Geburtsgewicht gilt als ein unspezifischer Risikofaktor in der Ätiologie der ADHS. Bei allen Kindern wurde die mütterliche Wärme, als eine Komponente von »expressed emotions« (EE) erfasst, ferner wurde die Intelligenz der Kinder gemessen und Eltern und Lehrer beurteilten die Ausprägung der ADHSSymptome der Zwillinge. Es zeigte sich eine signifikante Interaktion zwischen dem Geburtsgewicht und der mütterlichen Wärme hinsichtlich der Ausprägung der ADHS-Symptome im Lehrerurteil. Hingegen fand sich kein signifikanter Interaktionseffekt für das allgemeine Intelligenzniveau der Kinder. Daraus kann abgeleitet werden, dass mütterliche Wärme einen moderierenden Effekt auf die Ausprägung der ADHS-Symptome (jedoch nicht auf die Intelligenz) im Kindesalter zu haben scheint und es spricht dafür, dass die Verbesserung der mütterlichen Wärme in der Mutter-Kind-Interaktion eine sinnvolle Präventionsmaßnahme in Hochrisikopopulationen für ADHS darstellen könnte.
Sensible Phasen für Interventionen?
Die Idee, dass es kritische oder sensible Phasen in der neuronalen, kognitiv-emotionalen und behavioralen Entwicklung geben könnte, hat eine lange Tradition und wurde durch Konrad Lorenz berühmte Prägungsversuche weltweit bekannt. Heute geht man davon aus, dass unsere Fähigkeit, sich an die Umwelt zu adaptieren, relativ hoch ist und man von multiplen variierenden sensiblen Phasen ausgehen muss, die vermutlich mit der zunehmenden Spezialisierung des Gehirns parallel verlaufen. Leider gibt es bislang in der Kinderpsychotherapieforschung kaum Untersuchungen, die explizit die altersabhängig variierende Plastizität des Gehirns mit der Effektivität spezifischer Interventionsverfahren versuchen in Beziehung zu setzen. Dies wäre aber hochrelevant, da man sich ähnlich wie bei der Wirkung von Arzneimitteln vorstellen kann, dass Interventionsart (z. B. kognitive VT versus isolierte Anwendung operanter Prinzipien), Interventionsdosis (z. B. mehrfach tägliche Expositionsübungen versus niedrigfrequente Übungen) und Interventionssetting (z. B. Einbezug der primären Bezugsperson) nicht nur erkrankungsspezifisch, sondern auch entwicklungsabhängig die Wirksamkeit beeinflussen können. Dies sei an einem Beispiel zur altersabhängigen Wirksamkeit eines Aufmerksamkeitstrainings bei jungen gesunden Kindern im Folgenden veranschaulicht.
Beispiel Altersabhängige Effekte von Aufmerksamkeitstraining Eine sehr interessante Studie zur altersabhängigen Wirksamkeit von Aufmerksamkeitstrainings wurde von Rueda et al. (2005) veröffentlicht. Gesunde Vorschulkinder im Alter von 4 bis 7 Jahren nahmen an einem computergestützten Aufmerksamkeitstraining teil, bei dem über 5 Tage spezifisch die Komponente der exekutiven Aufmerksamkeit trainiert wurde. Diese Komponente der Aufmerksamkeit wird primär über das anteriore Cingulum und den lateralen präfrontalen Kortex mediiert. Zwar verbesserten sowohl 4-jährige als auch 6-jährige Kinder ihre Aufmerksamkeitsleistungen nach dem Training, jedoch zeigten lediglich die 6-jährigen Kinder einen signifikanten Trainingseffekt im Vergleich zu der Wartekontrollgruppe. Dieses Ergebnis spricht dafür, dass eine Intervention nicht zwangsläufig umso effektiver ist, je früher sie erfolgt, sondern dass möglicherweise die neuronale Basis für eine bestimmte Intervention bereits ausgereift sein muss, damit ein Training wirksam ist. Das heißt, dass es zukünftig von entscheidender Bedeutung sein wird, solche sensiblen Phasen zu identifizieren. Dies ist insbesondere für die Frage des optimalen Be-
handlungszeitpunktes für Präventionsmaßnahmen, z. B. von Hochrisikokindern, besonders bedeutsam. Neben den altersabhängigen Trainingseffekten zeigten sich in der Studie von Rueda et al. (2005) ebenfalls genotypabhängige Trainingseffekte. Kinder mit einem bestimmten Genotyp des dopaminergen Systems (DAT1), von dem man annimmt, dass es mit der Funktionsweise der exekutiven Aufmerksamkeit assoziiert ist, zeigten stärkere Trainingseffekte. Allerdings sollte einschränkend erwähnt werden, dass aufgrund der kleinen Stichprobe die Arbeit von Rueda et al. dringend einer Replikation an einer größeren Stichprobe bedarf. Es erscheint aber sinnvoll, dass weitergehende Forschungsarbeiten der nächsten Jahre sich darum bemühen, die komplexen Interaktionen zwischen bestimmten genetischen Veränderungen und kognitiv/emotionalen Dysfunktionen weiter aufzuklären und es längerfristig somit ermöglichen, dass Kinder mit einem bestimmten genetischen Risiko in entsprechend sensiblen Perioden der Hirnreifung spezifischen Interventionen zugeführt werden können.
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52
Kapitel 3 · Biologische Grundlagen
3.4.1 Neurowissenschaftlich fundierte Therapie-
verfahren bei Kindern und Jugendlichen
3
Der Begriff der Neuropsychotherapie, der von Grawe im deutschsprachigen Raum eingeführt wurde, hat das Potenzial verdeutlicht, das die Neurowissenschaften für die Psychotherapie haben. Neben der Möglichkeit, neurowissenschaftlichen Methoden für die differenzielle Indikationsstellung oder für die Therapieerfolgsmessung einzusetzen, ist es heute auch vorstellbar, neurowissenschaftliche Verfahren als Hilfsmittel für therapeutische Interventionen einzusetzen, d. h. direkt die Aktivität des Gehirns, z. B. mit Hilfe von Neurofeedbackverfahren, zu beeinflussen. Da solche »brain based interventions« nichtinvasiv und damit relativ nebenwirkungsarm sind, könnten sie längerfristig, insbesondere auch für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, geeignet sein, allerdings fehlen bislang hierzu noch entsprechend kontrollierte Studien. Die für den Kinder- und Jugendbereich potenzial am interessantesten Methoden sind im Folgenden kurz vorgestellt: Neurofeedbackverfahren. Hier wird mit Hilfe von Rückmeldung und Belohnung die Selbstregulation der Hirnaktivität erlernt. Somit erhält der Patient Informationen über seine eigenen hirnphysiologischen Prozesse, die der Aufmerksamkeit und Steuerung sonst nicht zugänglich sind (Holtmann et al. 2004). Am häufigsten wurde diese Methode bislang für die Beeinflussung elektrophysiologischer Maße eingesetzt. Jüngere Ansätze beziehen sich ferner auf das sog. »real-time«-fMRT, bei dem Patienten direkte Rückmeldungen über lokale Blutflussveränderungen gegeben werden. Neurofeedback wurde zunächst bekannt für die Behandlung therapierefraktärer Epilepsien. Erste Studien zur Wirksamkeit von Neurofeedbackverfahren in der Behandlung der ADHS zeigten vielversprechende Effekte, die sich zwar bislang noch auf kleine Patientenzahlen stützen, aber hinsichtlich ihrer Effektstärken zum Teil mit den von Stimulanzien vergleichbar waren (Hirshberg et al. 2005). Insgesamt muss kritisch angemerkt werden, dass das Training insgesamt sehr aufwendig ist und eine hohe Motivation und Compliance aufseiten der Patienten voraussetzt. Repetitive transkraniale Magnetstimulation (rTMS). Dies ist eine nichtinvasive, neurophysiologische Methode, mit der kortikale Neuronen durch ein zeitlich veränderliches Magnetfeld in ihrer elektrischen Aktivität beeinflusst werden können, wobei die Stimulation durch rasch aufeinander folgende Einzelstimuli erfolgt. Diese Art der Gehirnstimulation wird in Studien mit Erwachsenen für den Einsatz bei der Major Depression, Schizophrenie, Angststörungen und einigen neurologischen Störungen erforscht, ist aber für Kinder- und Jugendliche noch nicht zugelassen (Hirshberg et al. 2005).
Vagusnervstimulation (VNS). Hier erfolgt eine wiederholte
Stimulation des linken N. Vagus durch implantierte Elektroden. Diese invasive Methode hat sich für die Kontrolle einer Epilepsie sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern und Jugendlichen bewährt. Neben ihrer Wirkung bei Epilepsie, gibt es ebenfalls Hinweise auf einen antidepressiven Effekt (Martinez u. Zboyan 2006).
3.5
Ausblick
Die Betrachtung biologischer Grundlagen hat für die Weiterentwicklung der Kinderverhaltenstherapie weitreichende Bedeutung. Besonders relevant erscheint zukünftig eine stärkere Integration von entwicklungsbiologischen Modellen. Wenn wir mehr über die Effekte von spezifischen Umweltfaktoren, die möglicherweise mit bestimmten Geneffekten interagieren, wissen, können wir gezieltere Präventionsmaßnahmen etablieren, um die Entwicklung von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen zu verhindern. Wenn wir dysfunktionale Mechanismen des Gehirns bei abweichendem Verhalten besser verstehen, können wir gezieltere Methoden einsetzen, um Störungen neuronaler Kreisläufe zu unterbrechen und neue Lernvorgänge zu ermöglichen. Alle diese Kenntnisse können längerfristig dazu beitragen, eine individualisierte psychotherapeutische Behandlung der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen. Aber auch für gesellschaftspolitische Entscheidungen, die die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen betreffen, wie z. B. die Frage der Legalisierung von Cannabiskonsum oder die Anwendung des Jugendstrafrechts für Heranwachsende, ist das Wissen über biologische Grundlagen der Entwicklung hilfreich.
Zusammenfassung Für die klinische Kinderpsychologie ist das Verständnis entwicklungsbiologischer Grundlagen, insbesondere der regelhaften Hirnentwicklung, elementar. Durch die Aufklärung von geschlechtsspezifischen Unterschieden und die Identifikation von kritischen Phasen in der Entwicklung des Gehirns kann es gelingen, wichtige Hinweise auf die neurobiologische Verursachung von jungen- und mädchenspezifischen Prävalenzraten und Manifestationszeitpunkten von psychischen Störungen zu bekommen. Psychologische Interventionen im Kindes- und Jugendalter sollten die altersabhängig variierende Neuroplastizität des Gehirns mitberücksichtigen. Eine Präventions- oder Interventionsmaßnahme muss nicht notwendigerweise umso erfolgreicher sein, je früher sie erfolgt. Mit der Entwicklung von verschiedenen hirnbasierten Interventionen, wie z. B. Neurofeedbackverfahren, könnten sich längerfristig nicht nur in der Epilepsiebehandlung, sondern auch als Ergän-
53 Literatur
zung bei der Behandlung zahlreicher psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters interessante Zukunftsperspektiven ergeben.
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Kapitel 3 · Biologische Grundlagen
Weiterführende Literatur
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4
4
Klinische Bindungsforschung Margarete Bolten
4.1
Einleitung – 56
4.2
Ideengeschichte der klinischen Bindungsforschung – 57
4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6
Vordenker der Bindungsforschung – 57 John Bowlby und die Grundlagen der Bindungstheorie – 57 Mary Ainsworth – neue Methoden in der Bindungsforschung – 60 Bindung als internales Arbeitsmodell – 62 Erfassung des Bindungsstils im Kindes- und Jugendalter – 63 Psychobiologische Ansätze in der Bindungsforschung – 66
4.3
Bindung im Lebenslauf: Die Entwicklung des Bindungssystems – 70
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Bindung im Säuglings- und Kleinkindalter – 71 Bindung im Kindesalter – 71 Bindung im Jugendalter – 71 Die transgenerationale Weitergabe der Bindungsqualität – 72
4.4
Bindungstheorie und psychotherapeutische Praxis – 72
4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5
Klinische Relevanz der Bindung – 73 Bindungsmuster in klinischen Stichproben – 73 Bindung in der therapeutischen Beziehung – 74 Bindung im therapeutischen Prozess – 74 Bindungsmuster und Therapieerfolg – 74
4.5
Ausblick
– 75
Zusammenfassung Literatur
– 75
– 75
Weiterführende Literatur
– 76
56
4
Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun. Auch künftige Politiker und Staatsmänner werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben – das ist erschreckend, aber es ist wahr. (Astrid Lindgren in ihrer Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, am 22. Oktober 1978)
4.1
Einleitung
Der Legende nach wollte Friedrich II (1194–1250) die Ursprache des Menschen finden und ließ dazu Säuglinge weitgehend isoliert, ohne soziale Kontakte aufziehen. Den Kindern wurde nur eine Pflege, welche ihre Grundbedürfnisse deckte, zuteil. Dies hatte zur Folge, dass diese nach kurzer Zeit starben. Obwohl es sich nur um eine Legende handelt, wird diese von modernen Forschungsergebnissen bestätigt. René Spitz untersuchte als Erster systematisch die Sozialbeziehungen von Säuglingen und Kleinkindern sowie den Einfluss emotionaler Vernachlässigung auf deren Entwicklung. Er wurde besonders durch seine empirischen Untersuchungen zur gestörten Mutterbeziehung des Säuglings bekannt. Dabei konnte Spitz zeigen, dass verschiedene psychische und psychosomatische Störungen Folge eine frühen Vernachlässigung sein können. Ähnliches untersuchte auch der amerikanische Psychologe und Primatenforscher Harry Harlow. Er setzte junge Rhesusaffen völlig isoliert in Käfige, ohne Kontakt zur Mutter bzw. Spielgefährten. Die so gehaltenen Affen spielten und explorierten nicht. Vielmehr beobachtete Harlow bei ihnen eine Reihe von Verhaltensauffälligkeiten. Aus stammesgeschichtlicher Sicht ist das Bedürfnis eines Menschen nach Nähe und sozialem Kontakt genauso grundlegend wie die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme und der Fortpflanzung. Menschen sind Teil von sozialen Gruppen. Säuglinge kommen mit einem angeborenen Bedürfnis nach sozialer und emotionaler Nähe zur Welt. Eine liebevolle und fürsorgliche Beziehung ist die Grundvoraussetzung für eine gesunde Entwicklung von Kindern. Bei sozialen Lebewesen bieten die Eltern ihren Kindern Schutz vor Feinden, aber auch vor Fremdem, vor Gefährlichem oder vor Neuem. Dieser Schutz wird durch die Nähe zwischen Eltern und Nachkommen gewährleistet. Im Rahmen dieses Schutzes entwickeln sich soziale Kompetenzen. Klinische Erfahrungen und die Durchsicht der Fachliteratur zeigen, dass Menschen, die in früher Kindheit vernachlässigt oder misshandelt wurden, im Laufe ihrer Entwicklung häufiger psychosomatische, emotionale oder Verhaltensprobleme haben und nicht selten psychotherapeutische Hilfe benötigen. Eine sichere Bindung ist zwar
keine Garantie für lebenslanges Wohlbefinden, jedoch scheint sie ein wichtiger Schutzfaktor zu sein. In mehreren Längsschnittstudien erwies sich familiäre Unterstützung und besonders das Vorhandensein einer stabilen Bezugsperson in der frühen Kindheit als ein wesentlicher Faktor für eine gesunde Entwicklung bis ins Erwachsenenalter. Eine sichere Bindung ist wesentlich für den Kompetenzerwerb, ermöglicht in Konfliktsituationen eine bessere Bewältigung und ist damit ein fundamentaler Einflussfaktor auf jede Art der Intervention. Unsichere Bindungen müssen dagegen als Risikofaktoren eingestuft werden, weil ein unsicherer Bindungsstil häufig mit unangepasstem Verhalten gegenüber anderen, mit Fehleinschätzungen anderer im Hinblick auf deren Pläne und Ziele und mit einer mangelhaften Integration und Kohärenz der eigenen Gefühle einhergeht. Im psychotherapeutischen Setting spielen Bindungsmerkmale nicht nur für die Pathogenese, sondern auch für den Therapieerfolg eine Rolle. Einige Studien zeigen Zusammenhänge zwischen Therapieerfolg und Bindungsmuster sowohl der Patienten als auch der Therapeuten. Dabei scheinen sichere Bindungsmerkmale häufiger mit Therapieerfolg einherzugehen (McBride et al. 2006). Der Begriff der »Bindung« geht auf die Arbeiten des englischen Kinderpsychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby zurück. Zusammen mit Mary Ainsworth entwickelte er die Bindungstheorie. Historisch betrachtet entstand diese aus der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie, entwickelte sich aber rasch zu einer eigenständigen Entwicklungs- und Erkenntnistheorie. In diese flossen neben ethologischen auch kognitions- und sozialpsychologische Ansätze ein. Im Zentrum der Bindungstheorie steht die Bindung zwischen Mutter und Kind, wobei davon ausgegangen wird, dass der menschliche Säugling die angeborene Neigung hat, die Nähe einer vertrauten Person zu suchen. Die Bindungstheorie beschäftigt sich dementsprechend nicht ausschließlich mit der Bindung zwischen Mutter und Kind. Das Bindungskonzept lässt sich ebenso auf die Beziehung zu anderen Bezugspersonen anwenden. So spielt Bindung nicht nur in familiären, sondern auch in außerfamiliären Kontexten eine wichtige Rolle. Der Wandel in Gesellschaft und Arbeitswelt macht eine familienergänzende Kinderbetreuung für viele Eltern notwendig. Aber noch immer besteht eine erhebliche Unsicherheit über eventuelle negative Folgen für die Eltern-Kind-Bindung und damit die Entwicklung des Kindes. Forschungsergebnisse, welche den Einfluss von Fremdbetreuung in der frühen Kindheit auf die Bindungsqualität untersuchen, sind neben historischen und aktuellen Studien der klinischen Bindungsforschung Gegenstand dieses Kapitels.
57 4.2 · Ideengeschichte der klinischen Bindungsforschung
4.2
Ideengeschichte der klinischen Bindungsforschung
4.2.1 Vordenker der Bindungsforschung
Die Bindungstheorie kann als die gemeinsame Arbeit von John Bowlby und Mary Ainsworth angesehen werden (Ainsworth u. Bowlby 1991). Sie gründet jedoch auf Ideen mit einer langen Entwicklungsgeschichte. Bowlby und Ainsworth wurden in ihrer frühen Karriere beide von den Arbeiten Sigmund Freuds beeinflusst. Während jedoch die psychoanalytische Auffassung sensu Freud die Sexualität als die zentrale Motivation für die gesamte psychische Entwicklung sieht, gründet die Bindungstheorie vielmehr auf einem motivationalen Ansatz, der das Streben nach physischer und emotionaler Wärme für grundlegend hält. Bowlby formulierte die Grundzüge der Bindungstheorie aufbauend auf Konzepten der Verhaltensbiologie, der Kybernetik, der Kognitionsforschung, der Entwicklungspsychologie und der Psychoanalyse. Er revolutionierte dabei die Vorstellungen über die Mutter-Kind-Bindung, Trennungen, Deprivation und Trauer. Mary Ainsworths innovative Methoden machten es schließlich möglich, Bowlbys theoretische Überlegungen empirisch zu untersuchen und trugen damit entscheidend dazu bei, der Bindungstheorie neue Impulse zu geben und sie zu erweitern. Die systematische Beobachtung von Kindern und ihre Eltern ergab die Möglichkeit zur objektiven Erfassung von individuellen Verhaltensparametern. Neben Freuds Vorstellungen über die Innenwelt und deren Einfluss auf das menschliche Verhalten, waren auch andere Psychoanalytiker wegweisend für die Bindungstheorie. So arbeitete beispielsweise Freuds Tochter Anna als Mitbegründerin der Kinderanalyse entwicklungsbegleitend. Sie gründete mit Dorothy Burlingham eine Kindergartengruppe für Kinder aus der Wiener Unterschicht und beobachtete ihre psychische Entwicklung, was die Beschreibung und Untersuchung von Entwicklungsprozessen ermöglichte. Melanie Klein beschäftigte sich mit der frühkindlichen Entwicklung und der Eltern-Kind-Interaktion. Sie vertrat die Ansicht, dass die Wahrnehmung der Welt durch die Beziehungen zu wichtigen frühen Bezugspersonen (»Objekten«) geprägt wird. Diese Objekte können geliebt oder gehasst werden. René Spitz beobachtete in der Tradition von Anna Freud Kinder in Waisenhäusern und Gefängnissen. Er prägte den Begriff der »anaklitischen Depression«. René Spitz beschrieb als erster die Folgen einer längeren Trennung von der Mutter, aber auch emotionaler Vernachlässigung bei Säuglingen und Kleinkindern. So beobachtete er Entwicklungsverzögerungen und -störungen bei längerem Krankenhaus- oder Heimaufenthalt infolge unpersönlicher Betreuung und mangelhafter individueller Zuwendung. Zwei Theorieansätze können als Grundpfeiler der Bindungstheorie betrachtet werden: die Psychoanalyse und die
Ethologie (vergleichende Verhaltensforschung). Die Psychoanalyse bot zwei Theorien zur Erklärung der Mutter-KindBeziehung an: die Triebtheorie und die Theorie der Objektbeziehungen. Jedoch wiesen beide in Bowlbys Augen Mängel auf. Die Psychoanalyse stelle zwar die richtigen Fragen, liefere aber vielfach die falschen Antworten. Mit der Ethologie kam Bowlby in Kontakt, als er den Entwurf der englischen Übersetzung von Konrad Lorenz’ »König Salomons Ring« (1952) las. Die Verhaltensbiologie geht von der Annahme aus, dass Verhaltenssysteme ihren Ursprung in der phylogenetischen Entwicklungsgeschichte haben. In deren Verlauf haben sie einen bestimmten Überlebenswert (»evolutionary adaptiveness«) gewonnen. Besonders das von Lorenz beschriebene Nachfolgephänomen bei einigen Vogelarten beeindruckte Bowlby. Frisch geschlüpfte Gänse folgen ihrer Mutter (oder einem Mutterersatz) nach und zeigen Symptome von Angst, wenn sie von ihr getrennt werden. Die Gedanken von Kenneth Craik, einem Vordenker der Künstlichen-Intelligenz-Forschung, von dem Bowlby den Ausdruck »internes Arbeitsmodell« übernahm und Ian Suttie, dessen Ideen psychoanalytische mit biologischen, medizinischen, soziologischen und anthropologischen Ansätzen vereinten, können ebenfalls als Vordenker auf dem Weg zur Bindungstheorie betrachtet werden.
4.2.2 John Bowlby und die Grundlagen
der Bindungstheorie John Bowlby stammte aus einer großbürgerlichen englischen Familie. Er wurde 1907 als viertes von sechs Kindern in London geboren. Sein Vater war ein berühmter Arzt, der durch seine Position als königlicher Chirurg beruflich stark in Anspruch genommen wurde und wenig Zeit mit seinen Kindern verbrachte. Die Kinder der Familie wuchsen unter der Obhut von Angestellten auf. Der Kontakt zur Mutter war auf wenige Stunden beschränkt. Mit 7 Jahren, mit Beginn des ersten Weltkriegs, wurde Bowlby in ein Internat geschickt, wo er sich nicht wohl fühlte. Dieser persönliche Hintergrund mag mit ein Grund sein, weshalb sich Bolwby zeitlebens dem Thema der elterlichen Fürsorge widmete. Von 1925 bis 1933 studierte Bowlby Medizin in Cambridge und London. Nach dem ersten Studienabschnitt, welchen er mit mehreren Auszeichnungen abschloss, arbeitete er zwei Jahre als Lehrer in einer Schule für Kinder und Jugendliche mit gestörtem Sozialverhalten. Sein Engagement in dieser fortschrittlichen Schule war für ihn ein Schlüsselerlebnis, das seine späteren Arbeiten nachhaltig prägen sollte. Er wollte Kinderpsychiater werden und absolvierte deshalb zwischen 1933 und 1937 eine psychoanalytische Ausbildung. 1936 ging Bowlby an die Child Guidance Clinic. Bereits sehr früh in seiner wissenschaftlichen Karriere kam John Bowlby mit psychoanalytischen, aber auch ent-
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58
4
Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
wicklungspsychologischen Theorien in Kontakt. Er absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung. Seine Lehranalytikerin Joan Riviere war stark von den Ideen Melanie Kleins beeinflusst. Die psychoanalytische Ausbildung sagte ihm jedoch nicht besonders zu, da er, im Gegensatz zur Auffassung seiner Lehranalytikerinnen, die Rolle der Umwelt bei der Entstehung psychischer Störungen für grundlegend hielt. So hielt er in einer ersten theoretischen Arbeit (1940) fest, dass die Aufarbeitung eigener Erfahrungen aus der Kindheit die Gefühle einer Mutter zu ihrem eigenen Kind positiv beeinflussen können. Hier ging er also erstmals auf die intergenerationale Transmission von Bindungserfahrungen ein und wies auf die wichtige Rolle ungelöster Probleme aus der Kindheit eines Elternteils bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltensproblemen der eigenen Kinder hin. In diesem Zusammenhang verweist Bowlby auf die Möglichkeit, Kinder zu therapieren, indem man bei den Eltern ansetzt. In seiner ersten empirischen Studie, welche er im Artikel »Forty-four juvenile thieves: Their characters and home life« (Bowlby 1944) veröffentlichte, wertete Bowlby seine Aufzeichnungen über insgesamt 44 Einzelfälle aus und machte deutlich, dass frühe emotionale Traumatisierungen durch Verlust- und Trennungserlebnisse die Entwicklung von Verhaltensstörungen fördern können. Bowlby war überzeugt, dass frühkindliche Erlebnisse und die Beziehung zu den Eltern einen größeren Einfluss auf die emotionale Entwicklung eines Kindes haben als der Ödipuskomplex oder das Monopol der Sexualität. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute er mit Esther Bick eine Abteilung für Kinderpsychotherapie mit einem entsprechenden Ausbildungsprogramm an der Tavistock Clinic auf. Schon damals war Bowlby überzeugt, dass reale frühkindliche Erlebnisse in der Beziehung zu den Eltern die Entwicklung eines Kindes grundlegend bestimmen. Er entschloss sich deshalb, die Folgen der Trennung von Mutter und Kind systematischer zu untersuchen. Um die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung zu betonen, nannte er die Kinderabteilung in »Abteilung für Eltern und Kinder« um. Bei seinem Vortrag vor der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft, anlässlich seiner Aufnahme als ordentliches Mitglied, warnte er nachdrücklich vor den schweren Folgen längerer Mutter-Kind-Trennung. Den Grundstein für die Entwicklung der Bindungstheorie legte Bowlby in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, als er im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die psychische Gesundheit von obdachlosen Kindern im Nachkriegseuropa und die Zustände in Kinderheimen und Erziehungsanstalten untersuchte (Bowlby 1951). Bowlby formulierte in diesem WHO-Bericht erstmals wesentliche Grundannahmen seiner späteren Theorie über die Bindung zwischen Eltern und Kindern. Seine Erkenntnisse wurden später unter dem Titel »Child Care and the Growth of Love« einem breiten Publikum zugänglich gemacht.
Der Befund, dass manche Kinder mehr unter dem Verlust ihrer Bezugspersonen litten und anderen die Trennung scheinbar nichts ausmachte, war mit den damals vorherrschenden Erklärungsmodellen der Psychoanalyse und des Behaviorismus allein nicht schlüssig erklärbar. Erst durch die Integration ethologischen, entwicklungspsychologischen und systemischen Denkens mit Elementen der Psychoanalyse fand Bowlby einen Ansatz zur Beschreibung und Erklärung der Bindungsbeziehung zwischen Eltern und ihren Kindern. Dabei lieferte die Ethologie, als biologische Wissenschaft vom Verhalten von Tieren und Menschen, neben dem Behaviorismus wichtige methodische Grundlagen für die Bindungstheorie. Während sich der Behaviorismus jeweils nur auf einzelne Verhaltensausschnitte konzentriert, betrachtet die Ethologie das Individuum als Ganzes in seiner natürlichen Umgebung und bezieht evolutionäre Aspekte mit ein. Systemische Ansätze fließen in die Bindungstheorie ein, insofern die Beziehung zwischen Fürsorgebedürftigem und Fürsorgespender ein wechselseitig interagierendes System ist, welches durch positive und negative Rückkopplungen gesteuert wird. Aus diesen unterschiedlichen Theorieansätzen entstand ein neues Forschungsfeld, das sich intensiv mit dem Einfluss der frühen Eltern-Kind-Beziehung auf die emotionale und soziale Entwicklung auseinandersetzte. 1958 formulierte Bowlby in seinem Aufsatz »The nature of the child’s tie to his mother« erstmals seine Überzeugung, dass es ein biologisch angelegtes System der Bindung zwischen Mutter und Kind gibt. Seine Überlegungen waren durch die Arbeiten von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen, aber auch durch die Studien von Robert Hinde mit Rhesusaffen beeinflusst. In der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft, vor der Bowlby seine Thesen zur Bindungstheorie zur Diskussion stellte, waren die Reaktionen außerordentlich skeptisch bis offen ablehnend. Die schärfste Kritik bestand darin, dass er mit seinen Vorstellungen den Boden der psychoanalytischen Metatheorie – die Triebtheorie – verlassen habe. Die Triebtheorie war nach Bowlbys Ansicht keine hinreichende Erklärung für die Objektbezogenheit des Säuglings. Er postuliert ein davon unabhängiges Bindungsbedürfnis. Das Kind bindet sich an Objekte, nicht weil sie Triebbefriedigung gewährleisten, sondern weil sie Sicherheit und Kontakt bieten. Durch seine Mitarbeit in der interdisziplinären WHOGruppe, welcher u. a. auch Konrad Lorenz, Jean Piaget, Margaret Mead, Erik Erikson und Julian Huxley angehörten, kam er mit verschiedenen Theorien und Ansätzen zur menschlichen Entwicklung in Kontakt. Im 1969 erschienen Buch Attachment formulierte er schließlich erstmals die Bindungstheorie. Die Studien von Harlow, der als erster in großem Umfange experimentelle Untersuchungen zur emotionalen Entwicklung von Rhesusaffen durchführte, bestätigten Bowlbys Beobachtungen. So
59 4.2 · Ideengeschichte der klinischen Bindungsforschung
konnte Harlow beispielsweise zeigen, dass Affenkinder eine weiche Stoffmutter vor der Drahtmutter bevorzugen, auch wenn Letztere die Äffchen mit Nahrung versorgte (s. Exkurs). In den Jahren 1964-1979 verfasste er neben dem Werk Attachment die beiden Bücher Separation (1973) und Loss (1980), die schließlich seine Trilogie zur Bindungsforschung komplettierten.
John Bowlby starb 1990 im Alter von 83 Jahren. Als seine größte Leistung kann wohl die Zusammenführung der Psychoanalyse mit der Ethologie und der evolutionären Biologie in der Bindungstheorie betrachtet werden. Seine Ablehnung strafender Kindererziehung war heftig. Er verabscheute die Art, wie Kindern unter dem Vorwand, sie nicht »verderben« zu wollen, Liebe und Zuneigung entzogen wurde.
Exkurs Harry Harlow: Mutterliebe und das Stofftier als Ersatz Der amerikanische Psychologe und Primatenforscher Harry Harlow führte in den 1950er Jahren eine Reihe von Experimenten mit Rhesusaffen durch, welche nicht nur Meilensteine für die Primaten-, sondern auch für die Bindungsforschung waren. Als Harlow eine Pflegestation für junge Affen aufbaute, bemerkte er, dass sich die Äffchen in den sterilen Käfigen an die Tücher, mit denen die Wände verhängt waren, klammerten. Sie schaukelten darin und wickelten sich ein. Dieses Verhalten der Tiere erinnerte ihn an menschliche Babys und ihre Neigung, sich in eine Decke, ein Kissen oder ein Plüschtier zu kuscheln, wenn sie von ihrer Mutter getrennt wurden. Harlow fing an, über die MutterKind-Beziehung nachzudenken, über Geborgenheit und Körperkontakt. Dies war ein Novum in der damaligen Psychologie, in der die Bedeutung der emotionalen Bindung des Kindes an die Bezugsperson nicht diskutiert wurde. Vielmehr herrschte die Sichtweise vor, dass das Verhalten der Kinder ausschließlich über Konditionierungsprozesse erklärt werden könnte. Um zeigen zu können, dass die Affenbabys nicht durch das Nahrungsangebot konditioniert werden, sondern den Körperkontakt und eine sichere Basis suchen, baute Harlow mit seinen Studenten eine Ersatzmutter mit einem hölzernen Kopf und einem weichen Plüschkörper. Daneben fertigten Sie jedoch auch Ersatzmütter aus Drahtgestell. In einem ihrer frühesten Experimente trennten Harlow und Zimmermann (1958) neugeborene Makaken-Äff-
chen von ihrer Mutter und setzten sie in einen Käfig, in dem sich eine Draht- und eine Frotteemutter nebeneinander befanden. Die Drahtmutter hielt eine Milchflasche, während die Stoffmutter sich nur weich anfühlte. Das Verhalten der kleinen Affen wurde beobachtet (. Abb. 4.1). Die Ergebnisse bestätigten Harlows Hypothese über die Basis der Mutter-Kind-Beziehung, denn die Äffchen lebten förmlich auf der Frotteemutter. Manche weigerten sich sogar noch dann, von ihr abzulassen, wenn sie hungrig waren. Andere hielten sich an ihr fest, während sie gleichzeitig versuchten, an der Milchflasche der Drahtmutter zu saugen. Das Bedürfnis nach Wärme und Geborgenheit war dem Streben nach einer konstanten Nahrungsaufnahme also überlegen. Später modifizierte Harlow sein Experiment und machte eine weitere wichtige Beobachtung. Er setzte die jungen Affenkinder entweder in einen Käfig mit der Draht- oder der Stoffmutter, welche jeweils eine Milchflasche hielten. Die Äffchen beider Gruppen tranken in etwa die gleiche Menge und wuchsen in gleicher Weise, jedoch verhielten sich beide Gruppen sehr unterschiedlich. Während sich die Affen, welche mit der Stoffmutter in einem Käfig lebten, unauffällig entwickelten, wiesen die von der Drahtmutter ernährten Jungtiere später neben sozialen und emotionalen Auffälligkeiten auch »psychosomatische« Störungen wie z. B. chronischen Durchfall und Entwicklungsrückstände auf. Aber was machte Harlow so sicher, dass die emotionale Bindung den Unterschied ausmachte? Wenn die Äffchen
. Abb. 4.1. Harlows aus Draht und aus Frottee gearbeitete Ersatzmütter. (Aus Harlow 1958)
4
60
Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
4 . Abb. 4.2. Explorationsverhalten eines Makaken-Jungen mit (links und Mitte) und ohne sichere Basis (rechts) der Stoffmutter. (Aus Harlow 1958)
mit angstauslösenden, fremden oder lauten Objekten (z. B. einem blechernen Armeejeep, einem überdimensionalen hölzernen Grashüpfer oder einem trommelnden Teddybären) konfrontiert wurden, suchten die Äffchen sehr schnell die Nähe zu ihren Stoffmüttern und beruhigten sich dort. Harlow vermutete, dass sie ihre Mutter als sichere Basis nutzten, die es ihnen erlaubte, nach der anfänglichen Angst neugierig die Umgebung zu erkunden. Im Gegensatz dazu zogen sich die Tiere, welche von den Drahtmüttern versorgt wurden, nicht zu diesen zurück, sondern warfen sich auf den Boden, kauerten sich zusammen und schrien vor Angst (. Abb. 4.2, vgl. Harlow 1958). Harlow konnte auch zeigen, dass die Ausbildung der Eltern-Kind-Bindungen an kritische Perioden in der frühen Kindheit gekoppelt ist und dass das Sprichwort »lieber spät als nie« in Bezug auf die Eltern-Kind-Bindung nicht angewendet werden kann. Nach Ablauf der sensiblen Phase ist es schwierig bis unmöglich, einen Mangel an emotionaler Sicherheit zu kompensieren bzw. aufzuholen. Nachdem die Versuchstiere in den ersten Lebensmonaten in totaler Isolation aufgezogen wurden, lehnten diese jeden
4.2.3 Mary Ainsworth – neue Methoden
in der Bindungsforschung Viele junge Studenten und Promotionsstipendiaten in Bowlbys Forschergruppe waren von seinen Ideen beeindruckt, unter ihnen auch die Kanadierin Mary Ainsworth. In ihrer Promotion hatte sie sich mit der »Sicherheitstheorie« von Blatz auseinandergesetzt, wonach Kinder bzw. Menschen im Allgemeinen für ihre emotionale Entwicklung Vertrauen zu einer sicheren Bezugsperson entwickeln müssen. Bereits in dieser Theorie finden sich wesentliche Gedanken, die später in die Bindungstheorie eingingen. Mary Ainsworth arbeitete 3 Jahre in Bowlbys Arbeitsgruppe in London. Dort beschäftigte sie sich mit dem Einfluss von Trennung auf die kindliche Entwicklung. 1953 ging sie mit ihrem Mann nach Uganda und begann dort mit Untersuchungen zu Mutter-Kind-Beziehungen im freien Feld. Sie
Kontakt zu anderen Affen oder auch zu einer Ersatzmutter ab, egal ob diese aus Draht oder aus Stoff gefertigt war. Wenn jedoch erst einmal eine emotionale Bindung hergestellt wurde, so war diese der Schlüssel zu sozialem Verhalten. Diese Befunde hatten sehr starken Einfluss auf die Adoptionspraxis. Harlows Arbeiten lieferten den experimentellen Beleg für die Bedeutung der sozialen vor der biologischen Elternschaft und unterstrichen das Entwicklungsrisiko von Adoptionen jenseits des Kleinkindalters. Mit seinen Experimenten zeigte Harlow, dass Affenkinder, genauso wie menschliche Kinder, Nähe und Wärme brauchen, um sich gesund zu entwickeln. Harlow arbeitete zeitlebens daran, die Leitlinien der Erziehungs- und Adoptionspraxis zu verbessern. Obwohl Harlow immer auch zugab, dass die Tiere in seinen Untersuchungen gelitten hätten, bereute er dies nicht. Einem Zeitungsreporter antwortete er einmal: »Bedenken Sie, dass auf jeden misshandelten Affen eine Million misshandelter Kinder kommen. Wenn meine Arbeit dies verdeutlicht und auch nur eine Million Menschenkinder rettet, kann ich mich über zehn Affen nicht übermäßig ereifern.«
beobachtete Mutter-Kind-Dyaden über 9 Monate längsschnittlich. Bei der Datenanalyse war Ainsworth insbesondere an individuellen Unterschieden in der Beziehung der Mütter zu ihren Kindern interessiert, zu deren Erfassung sie eine Reihe von Skalen entwickelte. Am bedeutendsten ist die Skala zur Beurteilung der Feinfühligkeit. Feinfühligkeit ist nach Ainsworth die Fähigkeit, die Signale des Kindes richtig wahrzunehmen und zu interpretieren sowie angemessen und prompt darauf zu reagieren. Hierbei sei jedoch kritisch angemerkt, dass das Ausmaß der Feinfühligkeit nicht nur von der inneren Befindlichkeit der Mutter bestimmt wird, sondern auch von sozialen Randbedingungen abhängt. So kann eine Mutter, die von ihrem Partner unterstützt wird, sich besser auf die Bedürfnisse ihres Kindes konzentrieren als eine Mutter, die wegen Erschöpfung und Überforderung kaum mehr die Kraft aufbringt, auf das wahrgenommene laute Weinen ihres Kindes angemessen zu reagieren.
61 4.2 · Ideengeschichte der klinischen Bindungsforschung
Antagonistische Verhaltenssysteme: Bindungs- vs. Explorationsverhalten Das Bindungssystem wird in der Bindungstheorie als eigenständiges System betrachtet, welches das Ziel hat, Sicherheit und Schutz zu erreichen. Ohne Exploration und spielerisches Erkunden ist es einem Kind jedoch nicht möglich, seine Umwelt zu erkunden und neue Erfahrungen zu machen, eine wichtige Voraussetzung für Lernprozesse und die allgemeine Entwicklung des Kindes. Bowlby nahm deshalb an, dass es neben dem Bindungs-
verhalten eine weitere Gruppe von Verhaltensweisen geben muss, die abwechselnd mit dem Bindungsverhalten auftreten, immer dann, wenn sich die Kinder sicher fühlen. Dieses Verhalten bezeichnete er als Explorationsverhalten und meinte damit das neugierige Erkunden der Umgebung. Das Bindungs- und das Explorationsverhalten stehen in einer reziproken Beziehung (. Abb. 4.3). Kinder suchen dann die Nähe zur Bezugsperson, wenn sie unsicher sind oder sich unwohl fühlen. Wenn sie dagegen sicher sind, explorieren sie ihre Umgebung.
. Abb. 4.3. Antagonismus zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten eines Kindes
Mary Ainsworth legte sehr großen Wert auf die direkte Beobachtung und verfeinerte ihre Methoden zur Untersuchung der Eltern-Kind-Beziehung immer mehr. Auf der Basis der Untersuchungen an einjährigen Kindern in deren natürlicher Umgebung entwickelte sie schließlich eine standardisierte Verhaltensbeobachtung im Labor, die »strange situation« (fremde Situation, FS) (Ainsworth u. Witting 1969), um Bowlbys Bindungsmodell in einer standardisierten Situation beobachtbar zu machen. Diese Testsituation ermöglicht es, bei 12–18 Monate alten Kindern sowohl das Bindungs- als auch das Explorationsverhalten zu aktivieren. Ainsworth und Kollegen (1978) nahmen an, dass durch die Trennung von der Bezugsperson in der für das Kind fremden Situation das Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird und somit die Qualität der Mutter-Kind-Bindung beobachtet werden kann. In Anwesenheit der Mutter sollten die Kinder sich sicher fühlen und in der Lage sein, die Umgebung zu erkunden (Explorationsverhalten). Wenn die Mutter das Kind verlässt, sollte das Kind mit Bindungsverhalten (Weinen, Rufen, Suchen, Nachfolgen, Anklammern etc.) reagieren. Jedoch beobachtete die Forschergruppe nicht bei allen Kindern das zuvor hypothetisch erwartete Bindungs- und Explorationsverhalten. Vielmehr wurden drei Gruppen von Kindern identifiziert, wobei nur die Kinder der ersten Gruppe das vorhergesagte Wechselspiel zwischen Bin-
dungs- und Explorationsverhalten zeigten. Bei den beiden anderen Gruppen war entweder das eine oder das andere Verhalten stärker ausgeprägt (s. Box unten). Das Bindungsverhalten ist keine angeborene Eigenschaft des Kindes, sondern wird durch die Merkmale der Mutter-KindBeziehung geprägt (Ainsworth et al. 1978). Die unten beschriebenen Bindungsmuster entwickeln sich also aus der Anpassung des Kindes an das Verhalten seiner Bezugsperson. Mütterliches und kindliches Verhalten stehen in einer reziproken Beziehung. Mütter »sicher gebundener Kinder« gehen einfühlsam und feinfühlig auf ihre Kinder ein. Sie gewähren ihnen Nähe und Schutz, wenn sie diese benötigen. Gleichzeitig unterstützten sie ihre Kinder beim Erkunden der Umwelt. Mütter von »unsicher-vermeidend gebundenen Kindern« gehen häufig auf das Bedürfnis ihrer Kinder nach Nähe und Kontakt nicht ein. Oft ist ihnen körperlicher Kontakt unangenehm. Die Kinder scheinen sich dem anzupassen, indem sie ihre Aufmerksamkeit vermehrt der Umgebung zuwenden und weniger den Kontakt zur Mutter suchen. Mütter »unsicher-ambivalent gebundener Kinder« reagieren für das Kind wenig vorhersehbar. Während die Mütter das eine Mal einfühlsam und feinfühlig auf die Bindungsbedürfnisse ihrer Kinder eingehen, weisen sie ihre Kinder ein anderes Mal zurück. Da die Kinder sich dementsprechend nie sicher sein können, wann ihre Mutter wie reagieren wird, richten
4
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Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
sie vermehrte Aufmerksamkeit auf den Kontakt zur Mutter und zeigen ein verstärktes Bindungsverhalten, um sich der Nähe zur Mutter und deren Schutz im Notfall sicher sein zu können.
Somit entwickeln sich aus dem phylogenetisch angelegten Bindungsbedürfnis eines Kindes durch qualitativ unterschiedliche Bindungsbeziehungen verschiedenartige psychologische Anpassungsmuster.
Klassifikation der Bindungsqualität in der fremden Situation
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Kategorie B: Sicher gebundene Kinder. Diese Kinder zeigen deutliches Bindungsverhalten nach der ersten wie auch nach der zweiten Trennung von der Mutter. Sie rufen nach der Mutter, folgen ihr nach, suchen sie, weinen bzw. zeigen deutliche Anzeichen für Stress. Zum Teil kann sich die Aktivierung des Bindungsverhaltens bei sicher gebundenen Kindern aber auch nur in einem weniger konzentrierten Spiel äußern. Kinder mit diesem Bindungsstil sind meist in der Lage, sich von der fremden Person beruhigen zu lassen. Auf die Wiederkehr der Mutter reagieren sie mit Freude, suchen den Körperkontakt, wollen getröstet werden, können sich aber nach kurzer Zeit wieder beruhigen und wenden sich angebotenen Spielsachen erneut zu. Kategorie A: Unsicher-vermeidend gebundene Kinder. Diese Kinder reagieren auf die Trennung von der Mutter nur mit wenig Bindungsverhalten. Sie protestieren kaum, folgen der Mutter nicht nach und spielen weiter. Auf die Rückkehr der Mutter reagieren sie eher mit Ablehnung und wollen nicht auf den Arm genommen und getröstet werden. In der Regel kommt es auch zu keinem intensiven Körperkontakt. Kategorie C: Unsicher-ambivalent gebundene Kinder. Diese Kinder zeigen nach den Trennungen extrem stark ausgeprägtes Bindungsverhalten. Sie weinen heftig
4.2.4 Bindung als internales Arbeitsmodell
Basierend auf der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie und der Künstlichen-Intelligenz-Forschung entwickelte Bowlby (1969) das Konzept des »internalen Arbeitsmodells (Inner Working Model) von sich und anderen«, ein Modell kybernetisch regulierter Verhaltenssysteme. Den Fachausdruck »inneres Arbeitsmodell« übernahm er von Kenneth Craik, einem Vordenken der künstlichen Intelligenz. Craik vertrat die evolutionäre Ansicht, dass Organismen, die in der Lage sind, komplexe »innere Arbeitsmodelle« ihrer Umgebung zu bilden, auf diese Weise ihre Überlebenschancen erheblich steigern. Die Begriffe »Arbeit« und »Modell« weisen dabei darauf hin, dass eine Person seine Repräsentationen mental ablaufen lassen kann, um konkrete Handlungspläne auszuarbeiten. Dies ist möglich, da die Arbeitsmodelle eine Beziehungsstruktur haben, die den erlebten Zusammenhängen in der Umwelt analog sind und sie mehr oder weniger genau mental nachbilden.
und zeigen viele Stresssymptome. In der Regel kann die Mutter sie nach ihrer Rückkehr kaum beruhigen, und es braucht längere Zeit, bis diese Kinder wieder einen emotional stabilen Zustand erreicht haben. Diese Kinder verhalten sich sehr ambivalent in Bezug auf das Suchen nach körperlicher Nähe. Sie suchen einerseits den Körperkontakt, andererseits wehren sie sich gleichzeitig durch Strampeln, Schlagen, Stoßen oder Abwenden dagegen.
Kategorie D: Kinder mit unsicher-desorganisiertem/ desorientiertem Verhaltensmuster. Main und Solomon (1986) identifizierten eine vierte Gruppe von Kindern, welche während der Beobachtung kurzzeitig weder Bindungsverhalten noch Explorationsverhalten zeigten. Sie wirkten wie erstarrt, führten begonnenes Verhalten nicht zu Ende und zeigten teilweise gleichzeitig bzw. kurz danach widersprüchliches Verhalten. Außerdem wurden häufig stereotype Verhaltens- und Bewegungsmuster beobachtet. Diese Kinder wurden als »desorganisiert« bezeichnet, da sie für kurze Zeit keine organisierte Verhaltensstrategie aufwiesen. Diese Verhaltensweisen wurden so interpretiert, dass das Bindungssystem dieser Kinder zwar aktiviert ist, ihr Bindungsverhalten sich aber nicht in ausreichend konstanten und eindeutigen Verhaltensstrategien äußert.
Bowlby postuliert, dass die Qualität früher Bindungserfahrungen, also die Sensitivität und Verfügbarkeit der Bezugspersonen sowie deren Wertschätzung, zum Entstehen komplexer Repräsentationen beitragen. Bowlbys theoretische Vorstellung über das Inner Working Model bezieht sich vor allem auf die Entwicklung der inneren Organisation von Emotionen im Zusammenhang mit dem eigenen Bindungs- und Explorationssystem. Er ging davon aus, dass eine gesunde Persönlichkeit ein Vorstellungsmodell von sich entwickelt hat, welches sie in die Lage versetzt, sich selbst zu helfen, aber auch die Hilfe von anderen anzunehmen. Zwei Aspekte sind grundlegend für das internale Arbeitsmodell, die elterliche Feinfühligkeit für die Bindungswünsche des Kindes und seine Bedürfnisse zum Explorieren. Demnach bauen Menschen im Laufe ihrer Entwicklung internale Arbeitsmodelle von ihren Bezugspersonen und sich selbst auf. Die wichtigste Funktion dieser Modelle ist es, das Verhalten der Bezugsperson bzw. des Partners voraussehen zu können und das eigene Verhalten voraus-
63 4.2 · Ideengeschichte der klinischen Bindungsforschung
schauend planen zu können (Bowlby 1969). Je genauer das internale Arbeitsmodell mit der externen Realität übereinstimmt und je weniger Verzerrungen es aufweist, desto besser kann eine Person ihr Verhalten an die gegebenen Anforderungen anpassen. Innere Arbeitsmodelle spiegeln unterschiedliche Bindungsqualitäten wider. Sie beinhalten generelle Handlungspläne, die sich auf soziale Beziehungen anwenden lassen. Diese Handlungspläne lassen sich als ein geistiger Orientierungsrahmen beschreiben, der aus Erfahrungen mit Bezugspersonen abgeleitet wird. Bowlby wählte den Begriff Arbeitsmodell, weil sich ein solches Modell durch neue Erfahrungen ändern kann. Allerdings wird dieser Veränderungsprozess mit zunehmendem Alter und der Menge an Erfahrung schwieriger. Während der frühen Lebensjahre entwickelt sich zunächst ein unbewusstes Arbeitsmodell. Dieses kann besonders unter starken emotionalen Belastungen handlungswirksam werden. Erst später bildet sich allmählich ein zweites Modell, das mit ersterem gleichzeitig wirksam ist, heraus. Jedoch ist dieses zweite Arbeitsmodell nach Auffassung Bowlbys viel differenzierter, weil es auf umfangreicheren Erfahrungen und sprachlichen Erinnerungen basiert. Es reguliert aktuelle Anpassungen, während das erste Modell auf frühen emotionalen Erfahrungen mit Bindungspersonen basiert und aktuelle Erfahrungen nicht mehr integrieren kann. Die Fähigkeit, negative Erfahrungen neu zu bewerten und in die Lebensgeschichte zu integrieren, ist grundlegend für eine gesunde psychische Entwicklung. Eine Person mit einem sicheren Arbeitsmodell ist gekennzeichnet vom Vertrauen auf die Erreichbarkeit und
Verfügbarkeit einer schützenden und unterstützenden Bindungsperson. Nach Bowlby entwickelt sich parallel zum Arbeitsmodell über die Bindungsperson ein Arbeitsmodell eines geschätzten und kompetenten Selbst. Umgekehrt kann ein Arbeitsmodell eines entwerteten und inkompetenten Selbst entstehen, wenn die Person ein unsicher vermeidendes Arbeitsmodell aufgrund von Zurückweisungen durch die Bindungspersonen entwickelt hat. Um weitere Zurückweisung zu vermeiden, unterdrückt sie Bindungsgefühle und -verhalten und verleugnet jedes Verlangen nach engen Beziehungen, entwickelt Misstrauen und Angst davor, sich auf jemanden zu verlassen.
4.2.5 Erfassung des Bindungsstils
im Kindes- und Jugendalter Grundsätzlich greifen die verschiedenen Methoden zur Erfassung des Bindungsstils im Kindes- und Jugendalter auf drei unterschiedliche Ebenen der Bindungsrepräsentation zurück: 4 die primäre, 4 die implizite und 4 die explizite Ebene. Die Verfahren lassen sich weiterhin in fünf Hauptgruppen gliedern, welche jeweils auf diese drei Ebenen zurückgreifen (. Abb. 4.4). Wir unterscheiden physiologische Messungen, Beobachtungsverfahren, Trennungsbilder, Geschichtenergänzungs- und Puppenspielverfahren sowie Interview und Fragebogenmethoden. Je nach Lebensalter des Kindes bzw.
. Abb. 4.4. Systematik der Methoden zur Erfassung von Bindungsmerkmalen
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Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
des Jugendlichen kommen unterschiedliche Verfahren zur Anwendung.
Der Fremde-Situations-Test (FST, Ainsworth u. Witting 1969)
4
Beschreibung. Ainsworth entwickelte das Paradigma der fremden Situation aufgrund der in der Bindungstheorie beschriebenen Zusammenhänge zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten. Der FST eignet sich zur Erfassung des individuellen Bindungs- und Explorationsverhaltens bei 12–18 Monate alten Kindern. Der Test besteht aus 8 jeweils ca. 3-minütigen Episoden (. Tab. 4.1), welche in einer für das Kind fremden Umgebung durchgeführt werden. Für die Bestimmung der Bindungsqualität werden die Wiedervereinigungssituationen bewertet. Es wird dabei auf die Dimensionen Nähesuchen, Kontaktverhalten, Widerstand gegen Körperkontakt und Vermeidungsverhalten geachtet. Reliabilität. Die Interrater-Reliabilitäten liegen bei 85–95%, die Retest-Reliabilitäten bei 50–96% (Solomon u. George 1999).
. Tab. 4.1. Episoden der fremden Situation Episode
Dauer [Minuten]
Beschreibung
1
1
4 Untersucher führt Mutter und Kind in Raum mit Spielzeug, Kameras und zwei Stühlen
2
3
4 Kind wird an eine bestimmte Stelle im Raum gesetzt 4 Mutter sitzt auf dem Stuhl
3
3
4 Fremde betritt den Raum und setzt sich erst auf einen Stuhl 4 Beginnt dann ein Gespräch mit der Mutter und nimmt schließlich Kontakt mit dem Kind auf
4
3
1. Trennung 4 Mutter verlässt den Raum 4 Kind wird von der Fremden zum Spielen angeregt
5
3
1. Wiedervereinigung 4 Mutter kehrt zurück 4 Fremde verlässt den Raum unauffällig
6
3
2. Trennung 4 Mutter verlässt das Kind erneut 4 Kind ist jetzt allein
7
3
4 Fremde betritt wieder den Raum 4 macht ein Spiel- oder Trostangebot
8
1
2. Wiedervereinigung 4 Mutter kommt zurück 4 bietet Trost an und versucht, das Kind für ein Spielzeug zu interessieren 4 Fremde verlässt den Raum
Validität. Psychobiologische Untersuchungen zeigen signifikante Zusammenhänge zwischen der Aktivierung des Bindungssystems mittels FST und physiologischen Systemen. Es konnte gezeigt werden, dass sich sicher von unsicher gebundenen Kindern in stresssensitiven Parametern wie der Herzrate, der Kortisolausschüttung oder immunologischen Parametern in der FS unterschieden (Spangler et al. 2002).
Variation der Fremden Situation für Kindergartenkinder Beschreibung. Mehrere Arbeitsgruppen entwickelten Kategoriensysteme zur Beurteilung des Bindungsstils im Kindergartenalter (Cassidy u. Marvin 1987; Crittenden 1992; Main u. Cassidy 1988). Je nach Kategoriensystem können Kinder der Altersstufen zwischen 2 ½ und 6 Jahren untersucht werden. Alle drei Systeme unterscheiden die Bindungsstile sicher (B), vermeidend (A) und ambivalent bzw. zwanghaft (C). Während in den Klassifikationssystemen von Cassidy-Marvin und Main-Cassidy der Bindungsstil »kontrollierend/desorganisiert« (D) auftaucht, unterscheidet das Crittenden-System (Preschool Assessment of Attachment, PAA) zusätzlich zu den Kategorien A, B und C die Kategorien »abweisend-zwanghaft« (A/C) und »ängstlich-depressiv« (AD). Alle drei Systeme verwenden außerdem eine Kategorie für unsichere bzw. unklassifizierbare Fälle. Die Durchführung entspricht bei Cassidy und Marvin (1987) und bei Crittenden (1992) genau der Fremden Situation im Kleinkindalter nach Ainsworth und Witting (1969). Bei der Auswertung werden nicht nur das Trennungs- und Wiedervereinigungsverhalten, sondern auch sprachliche Merkmale berücksichtigt. Das PAA bezieht neben Verhaltensmustern des Kindes zusätzlich noch dessen Verhandlungen mit der Mutter über die Trennung sowie auch die Affektregulation und das Verhalten seiner Bindungsperson mit ein. Das von Main und Cassidy (1988) entwickelte Klassifikationssystem beruht auf der Beurteilung des kindlichen Verhaltens in den ersten Minuten nach einer einstündigen Trennung von seiner primären Bezugsperson. Reliabilität. Die Interrater-Reliabilität beträgt für alle drei Kategoriensysteme bei trainierten Auswertern 70–92%; die Retest-Reliabilität für das Main-Cassidy-System (1-Monats-Intervall) 50–62% (Solomon u. George 1999). Validität. Hohe Übereinstimmungen (79% bzw. κ=.74) bestehen beim Vergleich der Main-Cassidy-Klassifikation mit den Ergebnissen des Geschichtenergänzungsverfahren (Solomon u. George 1999). Signifikante Übereinstimmungen gibt es zwischen der Klassifikation von Kindern mit der Bindungsgeschichtenergänzungsaufgabe und ihrem Wiedervereinigungsverhalten im FST (Bretherton et al. 1990). Mehr mütterliche Beteiligung und positiverer Affekt ist bei sicher gebundenen Kindern zu beobachten. Misshandelte Kinder wurden signifikant häufiger als desorga-
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nisiert oder unsicher klassifiziert (Crittenden et al. 2007). Müttern mit Angststörungen hatten seltener sicher gebundene (25%) Kinder und in mehr als der Hälfte der Fälle (65%) einen desorganisierten oder unsicheren Bindungsstil (Solomon u. George 1999).
Separation-Anxiety-Test (SAT; Hansburg 1972; Klagsbrun u. Bowlby 1976) Beschreibung. Der SAT wurde 1972 von Hansburg zuerst für Adoleszente entwickelt und später von Klagsbrun und Bowlby (1976) für Kinder im Alter zwischen 4 und 7 Jahren modifiziert. Das semiprojektive Verfahren nutzt sechs Abbildungen mit Trennungssituationen. Dabei reicht das Ausmaß der Trennungen vom »Gute-Nacht-Sagen« bis hin zu »Eltern gehen auf eine zweiwöchige Reise«. Der Test beruht auf der Annahme, dass die Reaktionen von Kindern auf Trennungsbilder Rückschlüsse auf eigene Erfahrungen und damit auf ihre Bindungsrepräsentationen zulassen. Die Kinder werden gefragt, was das jeweilige Kind in dieser Situation wohl fühlen und wie es sich verhalten wird. Kaplan entwickelte 1987 schließlich ein Klassifikationssystem, welches die emotionale Offenheit und die Fähigkeit, konstruktive Lösungen zu finden, heranzieht. Kinder, welche die Lösung der Situation konstruktiv angehen und keine Anzeichen von übermäßigem Stress zeigen, werden als sicher gebunden eingestuft. Wird die Situation hingegen als schmerzhaft angesehen, ohne konkrete Lösungsvorschläge anzubieten, werden die Kinder als unsicher-vermeidend beurteilt. Die Kinder, deren Gefühle in keine eindeutige Richtung weisen, werden als ambivalent eingestuft. Unorganisierte Antworten und Verwirrung sprechen beim SAT für einen desorientierten Bindungsstil. Reliabilität. Interrater-Übeinstimmungen reichen von 76%
(Solomon u. George 1999) bis 93% (Wright et al. 1995). Interne Konsistenzen von Cronbachs betragen α=0.42–0.77 und Split-Half-Reliabilitäten von r=.46–.66 für die Skalen »Attachment« und »Avoidance« (Wright et al. 1995). Die Skala »Self-reliance« wies nur in der klinischen Stichprobe hinreichende Reliabilitäten mit r=.42–.55 auf (Wright et al., 1995). Validität. Übereinstimmungen zwischen der Klassifikation
mittels FST und SAT gibt es bei 68–89% (Grossmann 1991; Solomon u. George 1999).
Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung (GEV-B; Gloger-Tippelt u. König 2006) Beschreibung. Das GEV-B geht auf die »Attachment Story Completion Task« (ASCT; Brethertonet al. 1990) zurück. Gloger-Tippelt und König adaptierten das Verfahren für den deutschsprachigen Raum. Das Verfahren erfasst die Bindungsrepräsentation 5- bis 8-Jähriger mittels ASCT-Bildmaterials. Wie im ursprünglichen Verfahren werden den Kindern Geschichtenanfänge erzählt, welche in ein Spiel mit
Familienfiguren (Vater, Mutter, Sohn, Tochter und Oma) und zusätzlichen Requisiten (Auto, Äste Geschirr, Stühle, Tisch, Bettchen etc.) eingebettet sind. Dem Kind werden nacheinander fünf Geschichten mit einem offenen Ende erzählt, welche es mit Hilfe der Puppen weitererzählen soll. Somit nutzt das Verfahren nicht nur die sprachliche Ebene. Es werden folgende Situationen erzählt: a) das Kind verschüttet Saft, b) das Kind verletzt sich am Knie, c) das Kind »entdeckt« ein Monster im Schlafzimmer, d) die Eltern gehen weg und e) die Eltern kommen wieder. Allen Geschichten liegt eine bindungsrelevante Situation zu Grunde. Ziel des Verfahrens ist es, im Spiel das Bindungsverhalten des Kindes kontinuierlich zu aktivieren. Deshalb muss die Reihenfolge der Geschichten standardisiert eingehalten werden, da das Thema Bindung von Geschichte zu Geschichte intensiver wird. Am Ende jeder Geschichte folgen zwei Nachfragen: »Wie geht es dem Kind?« und »Denkt das Kind noch etwas?«. Reliabilität. Die Interrater-Reliabilitäten liegen bei κ=0.59– 0.92 (Übereinstimmungen der Klassifikation 83%–88%) (Gloger-Tippelt u. Koenig 2007). Validität. In Längsschnittstudien fanden die Testautoren eine sehr hohe Stabilität der Bindungsklassifikationen (sicher/unsicher) gemessen mit dem FST (1 Jahr) und dem GEV-B (6,5 Jahre) (Gloger-Tippelt et al. 2002; GlogerTippelt u. Koenig 2007). Hohe Übereinstimmungen ergaben sich zwischen dem mittels AAI erfassten Bindungsstil der Mütter und der Klassifikation ihrer 6-jährigen Kinder mit Hilfe des GEV-B (Gloger-Tippelt et al. 2002; GlogerTippelt u. Koenig 2007).
Child Attachment Interview (CAI Target et al. 2002) Beschreibung. Mit dem CAI sollen die Bindungsrepräsentationen von 7- bis 12-Jährigen ermittelt werden. Dabei gehen die Autoren davon aus, dass Kinder in diesem Alter in der Lage sind, auf Fragen bezüglich ihrer Bindungserfahrungen direkt zu antworten. Das CAI wurde konzeptionell aufgrund verschiedener AAI-Kriterien entwickelt. Im Interview werden Beziehungsepisoden zwischen dem Kind und seinen Eltern beschrieben. Aufgrund dieser zurückliegenden Ereignisse soll das Bindungssystem des Kindes aktiviert werden. Die mittels des Interviews erhobenen Daten werden den Skalen: emotionale Offenheit, ambivalenter Ärger, Idealisierung, Abwertung, Selbstorganisation, Balance zwischen positiven und negativen Aussagen über die Bindungsperson, Verwendung von Beispielen, Konfliktlösungen und generelle Kohärenz zugeordnet, anhand derer eine Klassifikation der verschiedenen Bindungsstile möglich ist. Neben der Sprache wird
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Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
auch das Verhalten des Kindes in die Analyse mit einbezogen. Reliabilität. Die Interrater-Reliabilitäten betragen r=.67–.95
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bzw. Übereinstimmungen 83%–98%, die interne Konsistenz bei Cronbachs α liegt bei .91 für Mütter und bei .90 für Väter, Retest-Reliabilitäten für die einzelnen Skalen betragen r=.38–1.0 (Target et al. 2002). Bei der Hauptklassifikation (sicher/unsicher) gab es Übereinstimmungen von 85,7% für die Bindung zur Mutter und 82,1% für die Bindung zum Vater. Validität. Die Übereinstimmung zwischen der Hauptklassifikation innerhalb der Mutter-Kind-Dyaden (AAI und CAI) lag bei 75% (Target et al. 2002).
Adult Attachment Interview (AAI; George et al. 1985) Beschreibung. Mittels des von George et al. (1985) entwickelten und von Fremmer-Bombik et al. (1992) ins Deutsche übersetzten Verfahrens können Bindungseinstellungen bzw. Bindungsqualitäten Jugendlicher und Erwachsener erfragt werden. Das Interview wird durch 18 Fragen strukturiert, die durch Nachfragen des Interviewers ergänzt werden können. Die Jugendlichen werden nach Ihren Erinnerungen an das eigene Bindungsverhalten in der Kindheit, die elterlichen Reaktionen darauf und die Bewertung dieser Erfahrungen aus heutiger Sicht befragt. Darüber hinaus wird erfasst, ob die Kindheitserfahrungen einen Einfluss auf die heutige Persönlichkeit haben und inwiefern die Befragten heute Verständnis für das elterliche Verhalten zeigen. Interessant ist zudem, ob es Veränderungen in der Beziehung zu den Eltern im Vergleich zu früher gibt und wie sich diese gestalten. In die Bewertung gehen neben der Kohärenz, in welcher die erinnerten bindungsbezogenen Erlebnisse erzählt werden, die emotionale und kognitive Integrationsfähigkeit der geschilderten Bindungserfahrungen ein (s. Übersicht). Die Auswertung des Interviews erfolgt also nicht nur hinsichtlich der tatsächlich ausgesprochenen Informationen, sondern auch nach Aspekten, die den Befragten unbewusst bleiben (Inkohärenz, Affektregulation). Aus den Transkripten des Interviews lassen sich interindividuelle Unterschiede in den erfassten Bindungsrepräsentationen in den folgenden Hauptkategorien abbilden: »secure« (sicher-autonom), »dismissing« (distanziert), »enmeshed-preoccupied« (verstrickt), »unresolved loss« (unverarbeitete Trauer), »unresolved trauma« (unverarbeitetes Trauma) und nicht klassifizierbar. Reliabilität. Die Interrater-Reliabilitäten der Klassifikationen liegen zwischen κ=.71 und .82; die Retest-Reliabilität zwischen 78 und 90% (κ=.63–.79) (Bakermans-Kranenburg u. van Ijzendoorn 1993; Sagi et al. 1994).
AAI-Leitfaden 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.
Orientierung Beziehung zu Eltern allgemein in der Kindheit Adjektive Beziehung zur Mutter in der Kindheit Adjektive Beziehung zum Vater in der Kindheit Wem näher gefühlt? Kummer (Krankheit, Verletzung, Körperkontakt) in der Kindheit Erste Trennung, spätere Trennungen Ablehnungen Bedrohung (Missbrauch, Misshandlung) Einfluss der Kindheitserfahrungen auf die Persönlichkeit Warum verhielten sich die Eltern so? Elternähnliche Bezugspersonen Verluste durch Tod (Umstände) Veränderung der Beziehung zu den Eltern Heutige Beziehung zu den Eltern Trennung vom eigenen Kind Wünsche für das eigene Kind Weitergeben von eigenen Erfahrungen an das Kind
Validität. In mehreren Studien konnte die diskriminante
Validität und die Konstruktvalidität des AAI nachgewiesen werden. Die Ergebnisse des AAI beruhen auf bindungsrelevanten Aspekten und nicht etwa auf Leistungen wie Intelligenz oder Gedächtnisfähigkeit (van Ijzendoorn 1995). Die mit dem AAI bestimmte Bindungsklassifikation der Eltern sagt ihr Verhalten ihrem Kind gegenüber vorher. Übereinstimmungen zwischen kindlichem und mütterlichem Bindungsstil lagen zwischen 45 und 89% (Hesse 1999).
4.2.6 Psychobiologische Ansätze
in der Bindungsforschung Trotz der evolutions- bzw. verhaltensbiologischen Basis der Bindungstheorie wurde das Zusammenspiel zwischen Bindungsverhaltenssystem und biologischen bzw. physiologischen Systemen lange Zeit kaum erforscht. Dies änderte sich, als in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit der Kritik an der Validität der fremden Situation der Frage nachgegangen wurde, ob z. B. bei vermeidend gebundenen Kindern das Bindungssystem in der fremden Situation überhaupt aktiviert wird. Studien, die sich mit den Auswirkungen früher aversiver Lebenserfahrungen beschäftigen (vgl. die Übersichtsarbeit von Heim u. Nemeroff 2001) untersuchten zudem eine Vielzahl von neuronalen und neuroendokrinen Veränderungen als Folge von Stresserfahrungen in der frühen Kindheit.
67 4.2 · Ideengeschichte der klinischen Bindungsforschung
Sensible Phasen in der Entwicklung
Frühkindliche Lernerfahrungen
Innerhalb der kurzen Zeitspanne von der Empfängnis bis ins 2. Lebensjahr findet eine massive Entfaltung und Reifung des Gehirns statt. Fünf Sechstel des Gehirns entwickeln sich in den ersten 18–24 Monaten nach der Geburt. Frühe sozioemotionale Erfahrungen werden während der Zeit des stärksten Hirnwachstums gemacht und prägen die biologische Struktur des wachsenden Gehirns. Die Gehirnentwicklung wird also nicht nur durch das genetische Programm angetrieben. Vielmehr hat die Umwelt einen bedeutenden Einfluss auf das genetische Programm. Diese Umwelt wird zunächst intrauterin in Wechselwirkung durch den Feten und die Mutter geprägt. Aktuelle Forschungsarbeiten zeigen (Zusammenfassung bei Rieger 2005), dass die intrauterine endokrine Umgebung die Genexpression im fetalen Gehirn regulieren und damit auch morphologische Veränderungen bewirken kann, die bis ins Erwachsenenalter aufrechterhalten werden. Aber auch nach der Geburt, in den ersten 2 Jahren, kann die Hirnentwicklung durch Umweltfaktoren wie die Mutter-KindBeziehung beeinflusst werden. Genetisch prädisponierte Merkmale können nur in dem Maße verwirklicht werden, wie es innerhalb der spezifischen Umwelt ermöglicht wird. Das menschliche Gehirn wird durch die Umweltbedingungen geformt, auf die es trifft. Die Reifung des Gehirns wird zu einem großen Teil durch die Umwelt beeinflusst. So zeigten beispielsweise die in den 1960er und 1970er Jahren von David Hubel und Torsten Wiesel durchgeführten Experimente an jungen Katzen, dass eine visuelle Deprivation der Tiere zu dauerhaften Veränderungen im visuellen Kortex führt. Hierfür ist das Alter der Versuchstiere von zentraler Bedeutung – je früher die Deprivation einsetzte, desto ausgeprägter waren die Veränderungen im Kortex. Setzte die Deprivation erst im Erwachsenenalter der Tiere ein, traten keine Anomalien im Kortex auf. Hubel und Wiesel schlossen daraus, dass es sensible Phasen für die Reifung des visuellen Systems gibt, in denen die Umwelt Einfluss auf die Hirnentwicklung nehmen kann.
Früheste Lernerfahrungen bewirken eine grundlegende Reorganisation von ursprünglich noch unspezifisch organisierten neuronalen Verschaltungen im Gehirn, wodurch es allmählich zur Ausformung eines synaptischen Netzwerks kommt, das die neuronale Basis für spätere Verhaltensweisen bildet (Review bei Pryce et al. 2005). Wachsen Kinder emotional depriviert auf, machen sie in einer sensitiven Entwicklungsphase Erfahrungen von Vernachlässigung oder Gewalt, können diese Erfahrungen die neuronalen Verschaltungen entsprechend verändern (Comery et al. 1995). Zusätzlich können frühe Stresserfahrungen und fehlende emotionale Fürsorge auch Veränderungen in den neuroendokrinen Stresssystemen zur Folge haben (Heim u. Nemeroff 2001). Diese neuronalen und neuroendokrinen Anpassungsmechanismen durch frühkindliche emotionale Lernprozesse sollen dem heranwachsenden Individuum ein Überleben in zu erwartenden widrigen Lebensumständen ermöglichen. Durch frühe negative Beziehungserfahrungen kann das neuroendokrine Stresssystem verändert werden. In Gefahrensituationen ist es ein Vorteil, wenn das Individuum hypervigilant ist. In einer latent feindlich gesinnten Umgebung ist es zudem durchaus ein großer Überlebensvorteil für ein Kind, selbst sehr aggressiv und misstrauisch zu sein. Jedoch sind diese Anpassungsmechanismen in einem »normalen« sozialen Umfeld weniger angemessen, und es kann aufgrund dieses Mismatchings zwischen Individuum und Umwelt zu verschiedenen Verhaltensproblemen oder psychischen Erkrankungen kommen. Eine solche Konstellation ist im unten stehenden Fallbeispiel beschrieben.
! Sensible Phasen sind also Zeitfenster erhöhter neuronaler Plastizität.
Während der Hirnreifung kommt es zunächst zu einer Vermehrung synaptischer Verbindungen, die dann im Verlauf der weiteren Entwicklung teilweise wieder abgebaut oder neu verschaltet werden. Während dieser Reorganisation werden redundante Synapsen zugunsten von häufig genutzten Synapsen, deren Übertragungsstärke erhöht wird, eliminiert. Diese Selektion wird in erheblichem Maße über Lernprozesse gesteuert. Durch solche erfahrungs- und damit umweltgesteuerten Selektionsprozesse ist es dem Individuum möglich, sich möglichst effizient an eine bestimmte Umwelt anzupassen. Das Gehirn assimiliert sich im Verlauf der frühen Entwicklung gewissermaßen an die jeweilige Umwelt und sichert dem Individuum dadurch eine optimale Überlebensstrategie.
Fallbeispiel Die Pflegeeltern bringen den 13-jährigen Andreas zur stationären Aufnahme in den kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst, weil sie sich nicht mehr zu helfen wissen. In letzter Zeit kam es zu wiederholten Gewaltausbrüchen gegen Lehrer, Mitschüler, seine Pflegegeschwister und die Pflegeeltern. Häufiger Auslöser waren der Zigaretten- und Alkoholkonsum des Jungen. Andreas blieb der Schule fern und verbrachte stattdessen die Zeit mit älteren Jugendlichen. Die ständigen Konflikte mit seiner Umwelt eskalierten schließlich in einer Suiziddrohung. Andreas wuchs in den ersten 4 Lebensjahren unter sehr widrigen Bedingungen bei seiner leiblichen Mutter auf, die sich aufgrund einer Alkoholabhängigkeit kaum um ihren Sohn kümmern konnte. Der Vater war wegen mehrer Delikte inhaftiert worden und verstarb schließlich im Gefängnis. Häufig wechselnde Partner der Mutter misshandelten den Jungen zum Teil schwer. Er wuchs in den ersten Jahren ohne jegliches Spielzeug
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Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
auf. Mit 4 Jahren wurde er in ein Heim gebracht und schließlich an verschiedene Pflegefamilien vermittelt, in denen es wiederholt zu Konflikten und daraus resultierend zu Beziehungsabbrüchen kam.
Das »social isolation syndrome« im Tiermodell
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Aufgrund ethischer und praktischer Restriktionen in Bezug auf die experimentelle Manipulation der frühen Umwelt im Humanbereich werden vielfach Tiermodelle zur Untersuchung von akuten und Langzeiteffekten herangezogen. Eine isolierte Haltung führt bei Versuchstieren zum sog. »social isolation syndrome« (Heidbreder et al. 2000), welches durch eine Reihe von Veränderungen im Hirnstoffwechsel und damit auch im Verhalten der Tiere gekennzeichnet sind. So verhalten sich die isoliert aufgewachsenen Ratten besonders in einer neuen Umgebung hyperaktiv, sie entwickeln Stereotypien und andere motorische Auffälligkeiten. Generell waren die Tiere ängstlicher und wiesen eine stärkere neuroendokrine Stressreaktivität auf. Neben diesen Auffälligkeiten wurden auch Veränderungen in der Kortexarchitektur und in den Neurotransmittersystemen nachgewiesen. Durch die Trennung von der Mutter kommt es zu einer länger andauernden Periode der Abwesenheit sozialer Kontakte. Dies stellt einen erheblichen Stressor für die Tiere dar. ! Deshalb zeigen Versuchstiere, welche unter früher sozialer Isolation aufgezogen wurden, besonders in jenen neurobiologischen Systemen Defizite, welche entscheidend an der Verhaltensregulation und Stressreaktivität beteiligt sind.
Wegweisend in diesem Bereich sind die Arbeiten von Steven Suomi. Er untersuchte mit seiner Arbeitsgruppe in der Tradition Harlows den Einfluss früher mütterlicher Deprivation bei Rhesusaffen. Die Forscher fanden dramatische Kurz- und Langzeiteffekte früher sozialer Erfahrungen sowohl im Verhalten als auch auf physiologischer Ebene. Suomi schließt daraus, dass die frühen sozialen Beziehungen zur Mutter bzw. anderen Bezugspersonen wichtige Prädiktoren für spätere Verhaltensprobleme sind. So zeigte die Arbeitsgruppe u. a., dass die erwachsenen Affen nach früher sozialer Isolation depressionsähnliches Verhalten aufwiesen (Suomi 1997). Als Ursache identifizierten die Forscher Defizite in der zentralen Serotoninfunktion des Gehirns. Diese spielt auch beim Menschen bei der Entstehung psychischer Erkrankungen eine wichtige Rolle. Frühe mütterliche Deprivation führte bei den Rhesusaffen zu einem reduzierten Serotoninumsatz. Dieser Effekt bliebt von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter hinein stabil (Shannon et al. 2005). Dabei fand man zudem eine deutliche GenUmwelt-Interaktion. Spezifische Polymorphismen (natürlich auftretende Genvariationen) des Serotonin-Transporter-Gens waren mit einem veränderten Serotoninmetabo-
lismus und damit neurobiologischen Funktionsdefiziten, extremer Aggressivität sowie extremem Alkoholkonsum bei Affen verbunden, die eine frühe Bindungsunsicherheit erfuhren. Bei Tieren, die diese Genvariation zwar aufwiesen, aber im frühen Lebensalter eine sichere Bindung an ihre Mutter erlebten, war der Serotonin-Metabolismus nicht verändert (Suomi 2003). Andere Deprivationsstudien mit Primaten fokussierten auf das Stresssystem (Review bei Pryce et al. 2005). Hier fand man Veränderungen in der Sekretion von Stresshormonen (Kortisol, Noradrenalin und Adrenalin). Dopaminspiegel, systolischer und diastolischer Blutdruck waren erhöht. Die physiologischen und anatomischen Veränderungen gingen mit einer erhöhten autonomen Aktivierung bei den erwachsenen Versuchstieren einher. Die Tiere waren insgesamt motorisch aktiver und zeigten eine erhöhte sympathische Aktivierung (Dettling et al. 2002). Studien mit Ratten, welche vom Muttertier getrennt wurden, sind ebenfalls zentrale Paradigmen zur Untersuchung des Einflusses früher Deprivation auf neurobehaviorale Parameter (Überblick bei Pryce et al. 2005). So führte eine frühe Deprivation bei den Versuchstieren zu erhöhten Stresshormonspiegeln (Glukokortikoide, ACTH) und einer stärker ausgeprägten Sensitivität gegenüber Stressoren. Die Tiere zeigten vermehrte Ängstlichkeit und erhöhte motorische Aktivität in angstauslösenden Situationen. Außerdem wurden Veränderungen in der Entwicklung von Neuronen und Gliazellen, der hippokampalen Serotoninaktivität und der Anzahl der Glukokortikoidrezeptoren gefunden.
Frühe negative Lebenserfahrungen als Entwicklungsrisiko Basierend auf Beobachtungen beim Menschen und experimentellen Tierstudien wissen wir heute, dass das Fehlen adäquater Umweltbedingungen während sensibler Entwicklungsphasen häufig zu Defiziten in sensorischen, intellektuellen und emotionalen Bereichen führt. So entwickeln beispielsweise Heimkinder, die ohne echte Bezugsperson aufwuchsen, Verhaltensstörungen und verminderte Lernleistungen (Johnson et al. 2006). ! Neben einer mangelhaften intellektuellen Förderung ist vor allem die emotionale Deprivation für diese Defizite verantwortlich. Eine stabile emotionale Beziehung zu einer oder mehreren Bezugspersonen bewirkt hingegen eine Verbesserung der kognitiven und sozioemotionalen Entwicklung.
Längsschnittuntersuchungen konnten eindrucksvoll nachweisen, dass sichere Bindungserfahrungen und ein sicheres internales Arbeitsmodell einem Kind helfen können, Entwicklungsaufgaben zu bewältigen und Entwicklungsthemen kompetent und resilient zu meistern. Bindungssicherheit in der Familie steht in enger Beziehung zu gelingenden Freundschaftsbeziehungen, einem realistischen Selbstbild
69 4.2 · Ideengeschichte der klinischen Bindungsforschung
und einer angemessenen sozialen Wahrnehmung. Andere Studien wiederum zeigen, dass insbesondere inadäquate Eltern-Kind-Beziehungen mit einer Reihe von psychischen, aber auch körperlichen Problemen und Verhaltensauffälligkeiten und mangelnder Anpassungsfähigkeit einhergehen können (Review bei Heim u. Nemeroff 2001). Deshalb stellen inadäquate Eltern-Kind-Beziehungen ein nicht zu vernachlässigendes Gesundheitsrisiko und damit ein gesamtgesellschaftliches Problem dar. In diesem Zusammenhang sind insbesondere Vernachlässigung sowie psychische, physische und sexuelle Misshandlung zu nennen. Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen u. a., dass verschiedene neurobiologische Systeme [noradrenerges, serotonerges und GABA-erges System und die HypothalamusHypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA)] durch diese frühen Erfahrungen dauerhaft verändert sein können, was wiederum psychische Probleme zur Folge haben könnte. Studien, welche die Funktion der HHNA untersuchten, fanden u. a. eine deutlich erhöhte Feedback-Sensitivität, eine erhöhte endokrine Stressreaktivität und erhöhte Herzraten während einer Stressexposition bei Personen mit Erfahrungen von Vernachlässigung und Missbrauch im Kindesalter. Außerdem war das Volumen des Hippocampus geringer. Diese Hirnstruktur weist die größte Dichte an Glukokortikoidrezeptoren im gesamten ZNS auf und spielt u. a. eine zentrale Rolle bei der Langzeitspeicherung von emotionalen Informationen (Heim u. Nemeroff 2001).
Psychobiologische Forschung und die fremde Situation Die Bindungstheorie geht davon aus, dass das Bindungssystem einen wichtigen Beitrag beim Zusammenspiel der verschiedenen Systeme zur Aufrechterhaltung der Homöostase im Organismus leistet. Betrachtet man das Zusammenwirken zwischen Bindungsverhalten und psychobiologischen Parametern auf der Grundlage eines Coping-StressModells, so liegt die Funktion des Verhaltenssystems eher in der Veränderung der Umwelt im piagetschen Sinne eines Assimilationsprozesses und die Funktion physiologischer Systeme eher in der Regulation des inneren Milieus (Überblick bei Spangler et al. 2002). Zur Aktivierung der HHNA und damit zur Ausschüttung von Kortisol kommt es zumeist dann, wenn auf der Verhaltensebene keine Reaktionsmöglichkeiten mehr gegeben sind, da eine angemessene Verhaltensstrategie nicht zur Verfügung steht. Demnach sind bei Kindern, die keine oder nur inadäquate Strategien zur Bewältigung einer für sie belastenden Situation besitzen, stärkere Kortisolsekretionen zu erwarten. Fehlende bzw. geringe Kortisolanstiege in der fremden Situation sprechen dagegen für das Vorliegen angemessener Verhaltensstrategien.
Ein sicherer Bindungsstil ermöglicht es einem Kind, solche Verhaltensstrategien zu finden, um effektiv mit Ereignissen, welche das Bindungssystem aktivieren, umgehen zu können. Aus bindungstheoretischer Sicht stellt das Weinen eines Kindes bei einer Trennung von seiner Bezugsperson ein angemessenes Verhalten dar, da es dazu dient, die Nähe wieder herzustellen. Damit erfolgt bei Kindern, die ein solches emotionales Ausdrucksverhalten zeigen, die Regulation der Homöostase auf der Verhaltensebene, eine Anpassung auf der physiologischen Ebene ist nicht mehr notwendig. Dagegen zeigen unsicher-vermeidend gebundene Kinder kaum negative Emotionen, aus Angst vor Zurückweisung. Sie sind damit nicht in der Lage, eine Homöostase über Regulation der Verhaltensebene herzustellen. Somit sind erhöhte Kortisolwerte bei diesen Kindern also durchaus erwartungsgemäß. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder versuchen in der fremden Situation durch starkes Anklammern und extreme emotionale Reaktionen die Verfügbarkeit der Mutter aufrechtzuerhalten, können aber letztlich ihre Nähe nicht zur Verhaltensregulation nutzen. Diese dysfunktionale Verhaltensregulation führt auf der physiologischen Ebene ebenfalls zu einer Anpassungsreaktion und damit zu einer vermehrten Kortisolausschüttung bei einer Trennung von der Bindungsperson.
Spangler und Grossmann (1993) fanden genau diese biobehavioralen Organisationsmuster. Obwohl die Befunde eine nachvollziehbare Systematik aufweisen, fanden nicht alle Studien erhöhte Kortisolwerte bei unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent gebundenen Kindern. Betrachtet man das Bindungsverhaltenssystem und das physiologische System als primär unabhängige Systeme, welche in Abhängigkeit von Kontextbedingungen und der Funktion anderer Systeme an der Regulation von Emotionen und Stress beteiligt sind, so mögen solche inkonsistenten Befunde jedoch nicht verwundern. Eine kardiovaskuläre Aktivierung wird ebenfalls mit einer Aktivierung des Bindungssystems in Verbindung gebracht. Besonders aber bei desorganisiert gebundenen Kindern fand sich eine sehr starke Herzratenreaktivität auf den FST (Überblick bei Spangler et al. 2002). Die fehlende Herzfrequenz-Orientierungsreaktion im Zusammenhang mit einem verstärkten Explorationsverhalten während des FST lässt den Schluss zu, dass bei unsicher-vermeidend gebundenen Kindern das Bindungssystem sehr wohl aktiviert ist, auch wenn ihr Verhalten nicht darauf schließen lässt. Dies deutet darauf hin, dass es sich beim Spiel dieser Kinder in der fremden Situation um ein sehr oberflächliches und wenig konzentriertes Verhalten handelt. Sicher gebundene Kinder hatten dagegen bei Kontrolle für motorische Arte-
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Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
fakte einen geringeren Herzratenanstieg im Verlaufe der FS als unsicher und desorganisiert gebundene Kinder.
4.3
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Bindung im Lebenslauf: Die Entwicklung des Bindungssystems
Bindungsverhaltensweisen unterliegen im Verlauf der Entwicklung bestimmten Veränderungen. Im Hinblick auf Kontinuität bzw. Diskontinuität von Bindungsmustern über die Lebensspanne ergeben die bisherigen Forschungen kein einheitliches Bild. Bowlby grenzte sich von der Psychoanalyse insofern ab, dass er den frühkindlichen Determinismus verwarf und stattdessen ein Modell der Entwicklungspfade aufstellte. In diesem Modell spielen frühe Erfahrungen eine ebenso wichtige Rolle wie die im Laufe der Entwicklung gemachten Bindungserfahrungen. Er ging davon aus, dass das ausgebildete Bindungsmuster in der Kindheit relativ leicht wandelbar ist. Jedoch wird es im Lauf des Lebens immer schwieriger, diese zu verändern. Mehrere Längsschnittuntersuchungen zeigten zwar, dass es eine gewisse Stabilität von Bindungsstilen gibt und dass eine sichere Bindung zur Mutter im ersten Lebensjahr prädiktiv für die Qualität späterer Beziehungen zu Gleichaltrigen bzw. die soziale Orientierung ist (Main et al. 2005; Sroufe et al. 2005). Jedoch überwiegen die Hinweise auf eine Diskontinuität des Bindungsverhaltens, denn Entwicklung ist kein stetiger, bruchloser Prozess. Es gibt immer wieder Veränderungen in dem Sinne, dass ältere Merkmale völlig verschwinden und neue hervortreten. Ein einmal erworbener Bindungsstil wird nicht zwangsläufig bis ins hohe Alter hinweg aufrechterhalten. Eine mögliche Erklärung ist,
. Abb. 4.5. Phasen der Mutter-Kind-Bindung nach Ainsworth (1972)
dass neben den im Kleinkindalter erworbenen Bindungsmustern auch Lebensbedingungen und Erfahrungen, die im Laufe der Lebensspanne gemacht werden, eine bedeutsame Rolle spielen. So können bestimmte Lebensereignisse wie z. B. längere Trennungen, schwere Erkrankungen oder Todesfälle von Bezugspersonen die Bindung ebenso beeinflussen wie positive Erfahrungen mit Bezugspersonen, die einfühlsam auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen. Außerdem besteht aufgrund der fortschreitenden intellektuellen Entwicklung die Fähigkeit, die eigenen Beziehungserfahrungen zu überdenken und zu bewerten. Bindung tritt beim Säugling und Kleinkind in besonderer Form auf. Sie konzentriert sich auf die Eltern oder andere enge Bezugspersonen. Während das Bindungsverhalten zu Beginn des Lebens auf körperlicher Nähe und emotionaler Entlastung beruht, nimmt bei älteren Kindern und Jugendlichen die Bedeutung der sprachlichen Repräsentation und Kommunikation für die Bewertung der Bindung zu. Es entstehen Bindungsrepräsentationen, die als innere Arbeitsmodelle bezeichnet werden können. Diese aus der konkreten Erfahrung abgeleiteten Schemata darüber, wie Beziehungen zu anderen Menschen zu bewerten sind, bestimmen die Einschätzung von neuen Beziehungserfahrungen und tragen zur Emotionsregulation in Belastungssituationen bei. Mary Ainsworth (1972) unterteilte die Entwicklung des Bindungsverhaltens in vier Phasen (. Abb. 4.5): 4 Vorphase (»preattachment phase«); 4 Differenzierungsphase (»attachment in the making«); 4 Phase der ausgeprägten Bindung (»clear-cut-attachment«) und 4 Phase der zielorientierten Partnerschaft (»goal directed partnership«).
71 4.3 · Bindung im Lebenslauf: Die Entwicklung des Bindungssystems
4.3.1 Bindung im Säuglings- und Kleinkindalter
Beim Säugling und Kleinkind konzentriert sich die Bindung auf die Eltern oder eine andere enge Bezugsperson. Das Bindungsverhalten beruht zu Beginn des Lebens auf körperlicher Nähe und emotionaler Entlastung durch die Bindungsperson. Menschliche Säuglinge sind davon abhängig, dass sie von ihrer Mutter bzw. ihrer Bezugsperson versorgt werden und diese seine Bedürfnisse erkennt und feinfühlig beantwortet. Der Säugling ist von Geburt an auf die Interaktion mit seiner primären Bezugsperson ausgerichtet. Bereits nach der Geburt ist das Bindungsverhalten eines Kindes so weit entwickelt, dass Kinder die Nähe zu ein oder mehreren Bindungspersonen herstellen können. Zu Beginn des 2. Lebensjahres hat sich dann in den meisten Fällen eine relativ stabile Bindung an mindestens eine Person entwickelt. In diesem Alter sind die neurologischen Steuerungssysteme des kindlichen Verhaltens weit genug integriert, um schnell aktiviert werden zu können, sobald Gefahr droht. Bei einem Kleinkind entsteht Angst besonders durch die Entfernung von der Bindungsperson. Im Gegenzug dazu wird die Angst am intensivsten durch die Anwesenheit und den Körperkontakt mit der Bindungsperson gemildert.
4.3.2 Bindung im Kindesalter
Das Bindungsverhalten im Kindesalter ist besonders in Situationen, in denen das Bindungssystem aufgrund von Belastungen wie Müdigkeit, Unsicherheit oder Angst aktiviert wird, zu beobachten. Kinder im Vorschulalter sind in der Lage, auf eine verinnerlichte »sichere Basis« zurückzugreifen, und benötigen somit nicht mehr durchgängig die körperliche Anwesenheit einer Bindungsperson, um sich sicher zu fühlen. Durch ihre im Vergleich zum Säugling größeren motorischen Fähigkeiten können sie selbstständig die Nähe zur Bindungsperson suchen und aufrechterhalten, aber andererseits auch verstärkt ihre Umwelt erkunden. Ab einem Alter von 4 Jahren ist es den Kindern darüber hinaus zumeist möglich, neben ihren eigenen Gefühlen, Zielen und Bedürfnissen auch die Gefühle, Ziele und Bedürfnisse einer anderen Person in ihre Gedanken mit einzubeziehen und sich darüber auszutauschen. Dadurch ist es den Kindern möglich, sowohl seine eigenen als auch die Bedürfnisse seiner Bezugsperson in seine Betrachtung einzubeziehen. Beispiel Steht bei einem 5-jährigen Kind eine vorübergehende Trennung von der Mutter an, wird es möglicherweise protestieren und die Mutter begleiten wollen, um in ihrer Nähe zu bleiben. Gleichzeitig kann es jedoch auch den Wunsch der Mutter verstehen, z. B. allein zum Zahnarzt gehen zu wollen und das Kind in Obhut eines Babysitters zu lassen.
Das Kind ist schließlich ohne größere Probleme in der Lage, die Trennung auf Zeit zu akzeptieren. Bei seiner Beurteilung der Situation nutzt das Kind seine inzwischen erworbenen Möglichkeiten, sich selbst zu beruhigen, eine Zeitdauer einzuschätzen und Verhaltensalternativen auszuwählen.
4.3.3 Bindung im Jugendalter
In den meisten Familien wandelt sich in der frühen Adoleszenz die Beziehung zwischen Kind und Eltern von einer hierarchischen, unsymmetrischen zu einer zunehmend symmetrischeren Beziehung. Diese Veränderung erfolgt primär durch ein Aushandeln von Rechten und Pflichten. Das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung körperlicher Nähe zu den Eltern tritt zunehmend in den Hintergrund. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in dieser Entwicklungsphase Bindung weniger wichtig ist. Im Jugendalter manifestiert sich das Bindungsverhalten eher in der Kommunikation mit den Bindungspersonen. Die körperlichen, psychischen und sozialen Veränderungen in dieser Phase stellen für die meisten Jugendlichen eine mehr oder weniger große Herausforderung dar, für deren Bewältigung die Eltern eine große Bedeutung haben. Neben den Eltern gewinnen aber auch Freundschaften und Partnerschaften immer mehr an Bedeutung. Durch die anwachsenden Bewältigungskompetenzen und -fähigkeiten gewinnen Jugendliche mehr und mehr an Autonomie. Sie werden kompetenter im Umgang mit Problemen und müssen immer seltener auf die Hilfe der Eltern zurückgreifen. Während bei sehr kleinen Kindern die direkte körperliche und emotionale Verfügbarkeit der Bindungsperson notwendig ist, um das aktivierte Bindungssystem zu beruhigen, spielt dies mit steigendem Alter eine immer untergeordnetere Rolle. Durch die vorangeschrittene kognitive Entwicklung, hin zur formal-operativen Phase Piagets, ist ab dem Jugendalter die Fähigkeit erweitert, mehrere Perspektiven gleichzeitig in die Bewertung von Sachverhalten mit einzubeziehen. Somit ist es dem Heranwachsenden immer besser möglich, die gemachten Erfahrungen zu überprüfen und zu bewerten. Im Laufe der Entwicklung verinnerlicht das Kind bzw. der Jugendliche, wie seine Bezugspersonen auf seine Zeichen nach Bindungsbedürfnis reagieren. Es hat sich ein relativ stabiles internales Arbeitsmodell hinsichtlich der emotionalen Verfügbarkeit der Bindungspersonen gebildet. Dieses steuert die Informationsverarbeitung und die Regulation auftretender Gefühle. Das Verhalten der Eltern wird hinterfragt, sie werden nicht mehr länger als reine Autoritäten betrachtet. Das Erkennen von Eigenheiten und Fehlern bei den eigenen Eltern hilft aber auch negative Erfahrungen nicht als Ablehnung der eigenen Person zu verstehen, sondern auf möglicherweise bestehende Rahmenbedingungen wie Alltagsbelastungen zurückzuführen.
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Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
4.3.4 Die transgenerationale Weitergabe
der Bindungsqualität
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Verschiedene Längsschnittstudien in Deutschland, den USA und England konnten zeigen, dass sicher gebundene Mütter häufiger auch sicher gebundene Kinder haben, bzw. Mütter mit einer unsicheren Bindungsrepräsentation auch häufiger Kinder, die mit einem Jahr unsicher gebunden sind. Ähnliche Zusammenhänge, wenn auch nicht mit gleicher Intensität, fanden sich für die Beziehung zwischen dem Bindungsstil der Väter und der Bindungsqualität ihrer Kinder. Diese Studien weisen auf eine Weitergabe von Bindungsstilen und -mustern zwischen Generationen hin. Einen Überblick über Arbeiten zur transgenerationalen Weitergabe von Bindungsmustern und -repräsentationen geben Steele und Steele (1994). Exemplarisch seien an dieser Stelle drei Arbeiten vorgestellt. Benoit und Parker untersuchten (1994) die Stabilität von Bindungsrepräsentationen von Erwachsenen und deren Weitergabe über drei Generationen hinweg. Mit den Müttern wurde während der Schwangerschaft und 11 Monate nach der Geburt ein Adult-Attachment-Interview (AAI) durchgeführt. Mit den Kindern dieser Mütter wurde im 12. Lebensmonat ein Fremde-Situations-Test (FST) durchgeführt. Zusätzlich erfassten die Autoren auch bei den Großmüttern die Bindungsrepräsentation. Es wurden sehr hohe Stabilitäten der Bindungsklassifikation der Mütter gefunden (Vier-Kategorien-System; sicher, unsicher-ambivalent, unsicher-vermeidend und desorganisisert gebunden: 77%, Drei-Kategorien-System; sicher, unsicher und desorganiserter Bindungsstil: 90%). Auch zwischen der AAIKlassifikation der schwangeren Mutter und ihrer Mutter fanden die Autoren signifikante Übereinstimmungen (VierKategorien-System: 46% bzw. Drei-Kategorien-System: 75%). Die Bindungsrepräsentation der Mutter in der Schwangerschaft sagte zu 68% (Vier-Kategorien-System) bzw. 81% (Drei-Kategorien-System) die Bindungsqualität ihres Kindes in der FS vorher. Fonagy et al. (1991) überprüften die Vorhersagbarkeit des kindlichen Bindungsstils durch die mütterliche Bindungsrepräsentation (AAI) am Ende der Schwangerschaft. In 75% der Fälle konnte das spätere Bindungsmuster des noch ungeborenen Kindes zu seiner Mutter vorhergesagt werden. Die transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern geht auch aus einer Untersuchung von Crowell und Feldman (1991) hervor. Sie untersuchten den Zusammenhang zwischen dem mütterlichen Bindungsmuster und der Mutter-Kind-Interaktion in einer 45-minütigen Spiel-LernSituation, die mit einer 2-minütigen Trennung beendet wurde. Die Mütter wurden bezüglich der Art, wie sie ihre Kinder auf die Trennung vorbereiteten, den Schwierigkeiten, die bei der Trennung zu beobachten waren, und ihrer Empfänglichkeit für ihre Kinder bewertet. Das Verhalten der Kinder wurde im Hinblick auf ihr Befinden bei der
Trennung, die Stärke ihres Protestes während der Trennung, ihre Copingstrategien und ihr Verhalten gegenüber der Mutter bei der Wiedervereinigung beurteilt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Bindungsmodelle der Mütter signifikant mit ihrem Verhalten assoziiert waren. Sicher klassifizierte Mütter bereiteten ihre Kinder fürsorglicher auf die Trennung vor, hatten weniger Trennungsschwierigkeiten, waren empfänglicher und hatten engeren Körperkontakt mit ihren Kindern während der Wiedervereinigung als unsicher klassifizierte Mütter. Unsicher klassifizierte Mütter waren, verglichen mit sicher klassifizierten Müttern, weniger emotional empfänglich für ihre Kinder. Die mangelnde Sensibilität war verbunden mit der Ablehnung der Kinder bei der Wiedervereinigung. Unsicher-verstrickt klassifizierte Mütter zeigten signifikant mehr Schwierigkeiten bei der Trennung und waren ängstlicher als sicher und unsicher-distanziert klassifizierte Mütter. Unsicher-distanziert klassifizierte Mütter hatten weniger Schwierigkeiten bei der Trennung und bereiteten ihre Kinder eher auf die Trennung vor als unsicher-verstrickt klassifizierte Mütter. Das Verhalten der Kinder während der Trennung war unabhängig von der Bindungsklassifikation ihrer Mütter, jedoch unterschieden sich die Kinder bei der Wiedervereinigung. Kinder von sicher klassifizierten Müttern waren signifikant weniger ablehnend während der Wiedervereinigung.
4.4
Bindungstheorie und psychotherapeutische Praxis
Die klinisch-therapeutisch orientierte Bindungsforschung hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen, was im Sinne Bowlbys sein dürfte, der die Bindungstheorie ursprünglich für die klinische Arbeit geschaffen hatte. Die Bindungstheorie kann einen wichtigen Beitrag zur Konzeptualisierung und zum Verständnis von Psychopathologien leisten, spielt aber auch in der psychotherapeutischen Alltagspraxis eine wichtige Rolle. Die Bindungstheorie bietet die Möglichkeit, biologische und psychologische Ansätze in der Psychotherapie miteinander zu verbinden. Besonders im Hinblick auf die konzeptuelle Integration zentraler Konstrukte, die in verschiedenen therapeutischen Richtungen eine wesentliche Rolle spielen, kommt ihr eine verbindende Funktion zu. So gibt es Parallelen zwischen Bowlbys Konzept des inneren Arbeitsmodells und Konstrukten, wie den inneren Repräsentanzen, den Schemata oder dem Selbstkonzept. Die Bindungstheorie bietet Therapeuten eine entwicklungspsychologische Basis dieser Konstrukte und besitzt damit Implikationen für deren klinische Anwendung. Es gibt jedoch keine spezielle Bindungstherapie. Die Bindungstheorie liefert lediglich die grundlegenden Rahmenbedingungen, die auf viele Therapieformen anwendbar sind. Ziel der bindungstheoretisch orientierten Psychotherapie ist, dass ein Patient alternative Denk- und Verhaltens-
73 4.4 · Bindungstheorie und psychotherapeutische Praxis
muster erlernt, welche an sein gegenwärtiges Leben und seine Bedürfnisse besser angepasst sind. Dies bedeutet nach Auffassung Bowlbys (1995), dass sich der Klient radikal von alten Bindungsmodellen trennen sollte, welche ihn zu einem Sklaven alter und unbewusster Stereotypen machen.
4.4.1 Klinische Relevanz der Bindung
Die therapeutische Arbeit ist untrennbar mit der PatientTherapeuten-Beziehung verbunden. Diese wiederum wird nach Ansicht Bowlbys sehr stark von Bindungsprozessen und den inneren Arbeitsmodellen des Patienten beeinflusst. Die Bindungstheorie sieht in der Herstellung einer Bindung zwischen Patienten und Therapeuten eine grundlegende Funktion der Anwendung der Theorie für die therapeutische Praxis (Bowlby 1997). Bowlby geht davon aus, dass die Selbst- und Elternrepräsentanzen mit den entsprechenden Bindungs- und Explorationsmustern aus der frühen Kindheit in der therapeutischen Beziehung reaktiviert werden. Die empirische Datenlage zur klinischen Anwendung der Bindungstheorie ist insgesamt jedoch relativ überschaubar. Drei Hauptrichtungen der Forschung können unterschieden werden: Bindungsmuster als Risikofaktoren für die Entstehung von psychischen Störungen, Bindungsprozesse in der therapeutischen Beziehung und Einfluss von Bindungsstilen auf den Therapieerfolg und damit die Therapieindikation. Anzumerken ist außerdem, dass sich nahezu alle empirischen Studien zu diesen Fragestellung auf erwachsene Patienten beziehen.
4.4.2 Bindungsmuster in klinischen
Stichproben In klinischen Stichproben zeigt sich häufig ein Zusammenhang zwischen Qualität der frühkindlichen Fürsorge und späteren Anpassungsproblemen wie emotionalen Störungen und sozialen Schwierigkeiten (Crittenden 1995; Rutter 1997). Grundsätzlich muss an dieser Stelle zwischen Bindungsstörungen und Bindungsmustern unterschieden werden, welche entweder Risiko- oder Schutzfaktoren für das Auftreten psychischer Probleme sein können. Erstere werden in 7 Kap. III/20 ausführlich vorgestellt, weshalb hier nicht näher darauf eingegangen wird. Bowlby (1995) war der Überzeugung, dass auf der Basis der Bindungstheorie bei Menschen mit psychischen Störungen gehäuft unsichere Bindungsmuster zu finden sind. Prospektive Längsschnittstudien zu Risiko- und Schutzfaktoren haben gezeigt, dass es sich bei der menschlichen Entwicklung um einen äußerst komplexen Prozess handelt. Viele verschiedene Faktoren greifen ineinander, und eine einzelne Variable kann selten allein als ursächlich für die Entstehung psychischer Probleme im Kindes- und Jugendalter identifiziert werden. Deshalb scheint es fraglich, ob
eine unsichere Bindung allein zu einer Störung führt. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass ein solcher Bindungsstil einen Risikofaktor für die Entwicklung darstellt (Sroufe et al. 2005). Zusammenhänge zwischen Verhaltensauffälligkeiten, wie beispielsweise antisoziales Verhalten, Substanzmissbrauch, Depressionen oder Ängste im Kindes- und Jugendalter, werden meist theoriebasiert auf die Eltern-Kind-Bindung zurückgeführt. Prospektive Längsschnittstudien fehlen in diesem Bereich weitgehend (Greenberg 1999). Somit lässt sich beim jetzigen Stand der Forschung lediglich konstatieren, dass eine unsichere Bindung die Vulnerabilität für die Entwicklung psychopathologischer Störungen erhöhen kann. Auf der anderen Seite haben Längsschnittstudien gezeigt, dass sicher gebundene Kinder einige Entwicklungsvorteile zu haben scheinen (Greenberg 1999). Sie sind lösungsorientierter, können sich im Spiel besser konzentrieren und stehen Sozialkontakten mit Gleichaltrigen und Erwachsenen aufgeschlossener gegenüber. Eine Reihe von Studien haben die spezifischen Bindungscharakteristika in klinischen Populationen Erwachsener untersucht, beispielsweise bei Depressionen, Angststörungen, Essstörungen, Süchten, Borderlinestörungen und Schizophrenien (Übersicht bei Dozier et al. 1999). Dabei war der Anteil sicher bzw. autonom gebundener Patienten in allen Störungsgruppen geringer ausgeprägt im Vergleich zu psychisch gesunden Personen. Unsicher-verstrickte Bindungsmuster bilden zumeist den größten Anteil. Längsschnittstudien belegen, dass der Verlust eines oder beider Elternteile in der Kindheit eine depressive Entwicklung begünstigen kann (Browne u. Winkelman 2007). Eine inadäquate Betreuung des Kindes nach dem Verlust seiner Bindungsperson verdoppelte diesen Effekt. Eltern depressiver Patienten werden als weniger unterstützend und abweisender beschrieben als Eltern gesunder Personen. Fonagy et al. (1996) fanden bei Angstpatienten signifikant häufiger unsicher-verstrickte Bindungsrepräsentationen und einen überproportional hohen Anteil ungelöster Trauer (86% bei n=44). Jedoch war diese Bindungsklassifikation (unsicher-verstrickt) nicht ausschließlich in der Gruppe der Angststörungen erhöht und trennte deshalb nicht signifikant von anderen klinischen Gruppen. De Ruiter und Van Ijzendoorn (1992) kommen in einer Metaanalyse zur Bindungsqualität bei Agoraphobikern zu einem ähnlichen Ergebnis. Auch hier waren die Patienten im Vergleich zu psychisch unauffälligen Menschen überwiegend unsicher-verstrickt gebunden. Dieses Bindungsmuster spielt aber auch bei anderen Störungen eine Rolle. Es kann also nicht davon ausgegangen werden, dass bestimmte psychische Störungen eindeutig mit spezifischen Bindungscharakteristika einhergehen. Zudem handelt es sich um Querschnittsdaten, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Bindungsauffälligkeiten nicht Folge der Störung sind.
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Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
4.4.3 Bindung in der therapeutischen
Beziehung
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Das Konzept der sicheren Basis ist nach Bowlby ein wichtiger Faktor bei der therapeutischen Arbeit. Der Therapeut sollte dem Patienten als sichere Basis dienen und all jene Merkmale aufweisen, die auch mütterliche Feinfühligkeit auszeichnen. Dabei ist besonders eine selbstkongruente, offene, wertschätzende Haltung des Therapeuten für den Aufbau einer sicheren therapeutischen Bindung von Bedeutung. Sie wird als grundsätzliche Bedingung angesehen, damit therapeutische Techniken und Botschaften innerhalb der Therapie vermittelt werden können. Die von Ainsworth geforderten Qualitäten der Feinfühligkeit – das Wahrnehmen der Signale des Patienten und die angemessene und prompte Reaktion auf diese Signale – können z. T. auch auf die therapeutische Situation übertragen werden. Einige Autoren befassen sich mit dem Zusammenhang zwischen der Qualität der therapeutischen Beziehung und dem Therapieerfolg (z. B. Luborsky et al. 1985). Die therapeutische Beziehung scheint einen Einfluss auf die Bereitschaft des Patienten haben, sich zu öffnen und Widerstände abzubauen.
4.4.4 Bindung im therapeutischen Prozess
Ein Therapeut, der die Bindungstheorie in seiner Arbeit berücksichtigen möchte, müsse die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Patient die Repräsentanzen seiner Bindungsfiguren und seinem internalen Arbeitsmodell nachspüren und die neu gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen in die bestehenden Systeme einbauen kann. Dabei entspricht die therapeutische Beziehung der sicheren Basis. In seinem Beitrag »Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung« nennt Bowlby (1995) fünf konkrete Aufgaben des Psychotherapeuten: 1. Der Therapeut müsse als sichere Basis fungieren, die es dem Patienten ermöglicht, die verschiedenen unglücklichen und schmerzhaften Aspekte seines Lebens zu explorieren. 2. Der Therapeut müsse dem Patienten bei seinen Explorationen beistehen, indem er ihn animiert, die Art seiner Beziehungsgestaltung zu bedeutsamen Bezugspersonen, die Bedeutung von Erwartungen für sein eigenes Erleben und Verhalten, für die anderen sowie die unbewussten Einflüsse auf die Beziehungsgestaltung zu prüfen. 3. Der Patient solle ermuntert werden, die Beziehung zwischen ihm und dem Therapeuten kontinuierlich zu überprüfen, da er in diese Beziehung all seine Wahrnehmungen, Konstruktionen und Erwartungen an Bindungsfiguren, die von seinem inneren Arbeitsmodell diktiert werden, importieren wird. 4. Mit Hilfe des Therapeuten soll der Patient seine gegenwärtigen Wahrnehmungen und Erwartungen auf frühere Erfahrungen zurückführen.
Schließlich gelte es, mit dem Patienten seine Bilder oder Modelle von sich selbst und anderen für die Gegenwart und Zukunft zu erarbeiten, wenn diese inadäquat und nicht zu rechtfertigen sind.
4.4.5 Bindungsmuster und Therapieerfolg
Die Frage, wie sich unterschiedliche Bindungsrepräsentanzen im Psychotherapieprozess niederschlagen und damit auch in der Therapieplanung beachtet werden sollten, ist bisher nur in sehr wenigen Studien untersucht worden. Empirische Untersuchungen zur prognostischen Bedeutung von Bindungsmerkmalen gibt es kaum, und bei den wenigen variieren die Ergebnisse in Abhängigkeit von den verwendeten Methoden. Theoriegeleitet ist zu vermuten, dass sich bei sicher gebundenen Patienten bessere Arbeitsbeziehungen entwickeln, sie lösungsorientierter und Ichflexibler sind, was wiederum zu besseren Ergebnissen führen kann. Dagegen können sich Patienten mit vermeidendem Bindungsmuster möglicherweise in einer Therapie weniger öffnen und weisen die therapeutischen Angebote eher zurück, was sich wiederum in einem geringeren Behandlungserfolg niederschlägt. Mosheim und Kollegen (2000) untersuchten, inwiefern das Ausmaß an Bindungssicherheit bei Erwachsenen ein guter Prädiktor für den Behandlungserfolg in stationären Psychotherapien ist. Dabei waren spezifische Bindungsmuster nicht mit dem Therapieerfolg assoziiert. Auch bei Pilkonis et al. (1991) erwies sich die Achse-II-Pathologie von depressiven Patienten als ein besserer Prädiktor für den Therapieerfolg als ihr Bindungsmuster. Carnelley et al. (1994) kamen jedoch zum Ergebnis, dass das Bindungsmuster bei depressiven Patienten die spätere Beziehungsfähigkeit besser vorhersagt als die Schwere der Depression. Fonagy und Kollegen (1996) zeigten, dass unsicher-vermeidend gebundene Patienten mit Persönlichkeitsstörungen bessere Behandlungserfolge als sicher und unsicher-verstrickt gebundene hatten. Die Autoren beziehen dies auf die größere Reflexionsfähigkeit dieser Patientengruppe. Dagegen fanden Horowitz et al. (1993) in Kurzzeitpsychotherapien im Vergleich zu sicher gebundenen Patienten eher ungünstige Therapieverläufe bei vermeidend gebundenen Patienten. McBride und Kollegen (2006) untersuchten, inwieweit die Dimensionen Vermeidung und Ängstlichkeit im Bindungsverhalten depressiver Patienten bei der Wahl der Intervention beachtet werden sollten. Es zeigte sich, dass die Bindungsängstlichkeit keinen Einfluss auf den Therapieerfolg sowohl mit einer interpersonellen Psychotherapie als auch einer Verhaltenstherapie hatte. Dagegen profitierten Patienten mit starker Bindungsvermeidung primär von der Verhaltenstherapie. Dieses Ergebnis gibt erste Hinweise darauf, dass der Bindungsstil eines Patienten bei der Therapieplanung berücksichtigt werden sollte, da der Therapieerfolg von der Passung zwischen Bindungsstil
75 Literatur
des Patienten und dem therapeutischen Vorgehen abzuhängen scheint. Jedoch ist auch auf diesem Gebiet die empirische Datenlage noch unzulänglich. Deshalb steht die Frage im Raum, welche spezifischen Techniken und Interventionen für den jeweiligen Patienten, mit seinen individuellen Bindungsmerkmalen, am besten geeignet sind.
4.5
Ausblick
Aktuelle Fragen der Bindungsforschung betreffen vor allem die Entwicklung und die Erscheinungsformen von Bindungsqualitäten sowie die biobehavioralen Grundlagen der Bindungsorganisation. Eine Reihe von Forschungsarbeiten beleuchteten die psychobiologischen Aspekte der Bindung sowohl am Tiermodell als auch in Humanstudien. Dabei wird deutlich, dass es aufgrund früher Deprivationserfahrungen (Vernachlässigung, Ablehnung oder Trennungen von der Bezugsperson) zu neurophysiologischen Veränderungen kommen kann, welche dann wiederum Verhaltensauffälligkeiten nach sich ziehen können. In klinischen Stichproben ist der Anteil an unsicher-verstrickten Bindungsmustern erhöht. Somit lässt sich vermuten, dass unsichere bzw. desorganisierte Bindungsstile die Vulnerabilität für die Entwicklung psychischer Störungen erhöhen. Jedoch gibt es in diesem Bereich noch kaum empirische Längsschnittuntersuchungen, welche die Störung als Folge des Bindungsstils identifizieren können. Auch bei der Therapieprognose scheint insbesondere ein sicherer Bindungsstil eine gute Prognose aufzuweisen, jedoch ist auch hier die Datenlage uneinheitlich. Möglicherweise erfordern die verschiedenen Bindungsstile jeweils andere therapeutische Methoden. Für die Zukunft wären also weitere Studien zum Zusammenhang zwischen Bindungsstil, psychischen Störungen und Therapieerfolg wünschenswert.
Zusammenfassung Die Bindungstheorie versucht, die Neigung des Menschen, starke gefühlsmäßige Bindungen an andere zu entwickeln, in ein Konzept zu bringen und zu erklären. Bindung besitzt eine neurobiologische Grundlage, ist notwendig für eine adäquate Entwicklung, wird in starkem Maße durch frühe Erfahrungen geformt und hat erhebliche Auswirkungen auf psychische Funktionen im Erwachsenenalter. Die von John Bowlby begründete Bindungstheorie integriert Konzepte der Verhaltensbiologie, Psychoanalyse, Kognitionsforschung, Entwicklungspsychologie und Kybernetik. Die vier Grundannahmen der Bindungstheorie sind: 4 Ein Bindungsbedürfnis ist phylogenetisch determiniert und von Geburt an vorhanden. 4 Bindungsverhalten wird in neuartigen bzw. angstauslösenden Situationen aktiviert.
4 Idealerweise besteht eine Balance zwischen Bindungsund Explorationsverhalten. 4 Die feinfühlige Fürsorge der Bindungsperson bildet eine wichtige Grundlage für eine sichere Bindungsentwicklung des Kindes. 4 Sichere Bindung wird als ein Schutzfaktor für die Entwicklung angesehen.
Literatur Weitere Literaturangaben (insbesondere zu den in diesem Kapitel genannten Tests und Studien) können bei der Autorin angefordert werden. Ainsworth, M. (Ed.). (1972). Attachment and dependency: A comparison. Oxford: Winston. Ainsworth, M., Blehar, M. C., Walters, E. & Wall, S. (1978). Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Ainsworth, M. & Bowlby, J. (1991). An ethological approach to personality development. American Psychologist, 46(4), 333–341. Ainsworth, M. & Witting, B. A. (1969). Attachment and exploratory behaviour in one-year-olds in a strange situation. In B. Foss (Ed.), Determinants of infant behavior (Vol. 4, pp. 113–136). London: Methuen. Bowlby, J. (1940). The influence of early environment in the development of neurosis and neurotic character. International Journal of Psycho-Analysis, 21, 154–178. Bowlby, J. (1944). Forty-four juvenile thieves: Their characters and home-life (II). International Journal of Psycho-Analysis. 25, 107– 128. Bowlby, J. (1951). Maternal care and mental health. Genf: World Health Organisation. Bowlby, J. (1969). Attachment and loss. Vol. 1: Attachment. New York: Basic Books. Bowlby, J. (1995). Bindung, Kommunikation, und therapeutischer Prozess. In J. Bowlby (Hrsg.), Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung. Therapeutische Aspekte der Bindungstheorie (S. 129–144). Heidelberg: Dexter. Bowlby, J. (1997). Bindung: Historische Wurzeln, theoretische Konzepte und klinische Relevanz. In Z. P. Spangler (Hrsg.), Die Bindungstheorie: Grundlagen, Forschung und Anwendung (2. Aufl., S. 17–26). Stuttgart: Klett-Cotta. Crittenden, P. M. (Ed.). (1995). Attachment and psychopathology. Hillsdale, NJ: Analytic Press. Dettling, A., Feldon, J. & Pryce, C. R. (2002). Early deprivation and behavioral and physiological responses to social separation/novelty in the marmoset. Pharmacology, Biochemistry and Behaviour, 73(1), 259–269. Dozier, M., Stovall, K. C. & Albus, K. E. (Eds.). (1999). Attachment and psychopathology in adulthood. New York: Guilford. Greenberg, M. T. (Ed.). (1999). Attachment and psychopathology in childhood. New York: Guilford. Harlow, H. F. (1958). The nature of love. American Psychologist, 13, 673– 685. Heidbreder, C. A., Weiss, I. C., Domeney, A. M. et al. (2000). Behavioral, neurochemical and endocrinological characterization of the early social isolation syndrome. Neuroscience, 100(4), 749–768. Heim, C. & Nemeroff, C. B. (2001). The role of childhood trauma in the neurobiology of mood and anxiety disorders: preclinical and clinical studies. Biological Psychiatry, 49(12), 1023–1039. Johnson, R., Browne, K. & Hamilton-Giachritsis, C. (2006). Young children in institutional care at risk of harm. Trauma Violence Abuse, 7(1), 34–60.
4
76
4
Kapitel 4 · Klinische Bindungsforschung
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5
5
Klinisch-psychologische Familienforschung Meinrad Perrez, Guy Bodenmann
5.1
Was ist klinisch-psychologische Familienforschung?
5.2
Definitionen
5.2.1 5.2.2
Was sind Familien? – 78 Was sind gestörte Familien und Paare?
5.3
Kennzeichen gestörter Familien
5.3.1 5.3.2 5.3.3
Störungen der Familie als Ganzes – 79 Störungen der Paarbeziehungen – 81 Störungen der Elternrolle bzw. des Eltern-Kind-Systems
5.4
Antezedenzien für die Entwicklung von Störungen (in) der Familie – 82
5.4.1 5.4.2
Risikofaktoren für die Entwicklung von Störungen (in) der Familie – 82 Schutz- und Resilienzfaktoren bei der Entwicklung von Störungen (in) der Familie – 83
5.5
Pathogene Verhaltensmechanismen als Antezedenzien und/oder aufrechterhaltende Bedingungen – 84
5.5.1 5.5.2 5.5.3
Ebene der Familie – 84 Ebene des Partnerschaftssystems – 86 Zusammenhang zwischen Partnerschaftskonflikten und der Eltern-Kind-Beziehung – 86
5.6
Folgen von Störungen (in) der Familie für die Entwicklung ihrer Mitglieder – 88
5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 5.6.5
Folgen von Störungen der Familie als Ganzes – 88 Folgen von Störungen des Eltern-Kind-Systems – 89 Folgen von Partnerschaftsstörungen für das Befinden der Eltern – 89 Folgen von Partnerschaftsstörungen für das Befinden der Kinder – 89 Folgen von Scheidung für die Kinder – 90
– 78
Zusammenfassung – 91 Literatur
– 78
– 91
Weiterführende Literatur
– 93
– 78
– 79
– 81
78
Kapitel 5 · Klinisch-psychologische Familienforschung
5.1
5
Was ist klinisch-psychologische Familienforschung?
Die klinisch-psychologische Familienforschung ist eine Domäne der klinischen Psychologie. Die klinische Psychologie umfasst nach heutigem Verständnis (Perrez u. Baumann 2005) die Klassifikation, Diagnostik, Epidemiologie, Ätiologie, Prävention, Therapie und Rehabilitation psychischer Störungen auf der individuellen Ebene (Funktions- und Muster/Syndrom-Ebene) und auf der interpersonellen Ebene (Störungen von Familien oder Paaren). Unter klinischpsychologischer Familienforschung ist nach diesem Verständnis die Ätiologie, Klassifikation, Diagnostik usw. von Störungen auf der interpersonellen Ebene der Störungen (in) der Familie und ihren Subsystemen (z. B. Partnerschaft) zu verstehen. In diesem Kapitel beschränken wir uns auf die klinisch-psychologische Erforschung der Antezedenzien (Ätiologie), die Funktionsweisen und Folgen von Störungen (in) der Familie, und zwar auf der Ebene der Familie als Gesamtsystem und auf der Ebene des Subsystems Paar/Eltern. Familieninterventionen werden in 7 Kap. III/18 behandelt.
5.2
Definitionen
Dieses aus mehreren Personen bestehende soziale intime Bezugssystem »Familie« setzt sich aus verschiedenen Subsystemen zusammen (s. Übersicht).
Familiäre Subsysteme 4 Das Elternsystem ist durch sein biologisch und/ oder rechtlich basiertes Sorgerecht und die Sorgepflicht für das Kind oder durch die sozioemotional basierte faktische Fürsorge für das Kind definiert. 4 Das Paarsystem bezeichnet dagegen die Eltern in ihrer wechselseitigen sozioemotionalen Beziehung unter Absehung ihres Bezuges zum Kind oder den Kindern. 4 Auf der Kindseite kann von Systemen auf der gleichen generationalen Ebene gesprochen werden, wenn zwei oder mehrere Kinder in einer Familie vorhanden sind. Diese sind unter Umständen wieder in Subsysteme (Geschwistersubsystem) aufzuteilen. 4 Als intergenerationale Subsysteme kommen alle möglichen Relationen von einem Elternteil oder beider Elternteile (Elternsystem) zu einem oder mehren Kindern einzeln oder zu Subsystemen auf der Kinderebene in Frage.
5.2.1 Was sind Familien? ! Familien sind intime, auf längerfristige Ziele hin angelegte, intergenerationale Bezugssysteme, die mindestens aus einem Elternteil und einem Kind bestehen. Eines ihrer zentralen Ziele besteht im gemeinschaftlichen Lebensvollzug. Die Intimität umfasst die physische, geistige und emotionale Nähe.
Für eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesem psychologischen Familienverständnis verweisen wir auf Schneewind (1999). Die heutige Gesellschaft zeichnet sich durch einen Pluralismus an verschiedenen Familienformen aus. Vollständige Familien umfassen beide Elternteile und mindestens ein Kind. Die Verbundenheit der zwei Generationen kann biologisch, und/oder sozioemotional und/ oder rechtlich basiert sein. Derzeit werden die folgenden Familienvarianten unterschieden: 4 Die klassische Kernfamilie, die aus der Gemeinschaft von Mann und Frau mit ihren unverheirateten Kindern besteht; 4 die Einelternfamilie: Fuhrer (2005) unterscheidet Mutterfamilien aufgrund lediger Mutterschaft versus Mutterfamilien aufgrund von Scheidung/Trennung sowie Vaterfamilien; 4 die Fortsetzungsfamilie, unter der jene Familienform verstanden wird, die nach einer Scheidung (oder Verwitwung) neu konstituiert wird, u. U. unter Zusammenführung von Kindern aus der vorangegangenen Familie.
5.2.2 Was sind gestörte Familien und Paare?
Als Störungseinheiten kommen die Familie als Ganzes oder einzelne Subsysteme in Frage, z. B. gestörte Geschwisterbeziehungen, gestörte Eltern-Kind- oder Mutter-KindBeziehung oder gestörte Paarbeziehung usw. ! Familien oder ihre Subsysteme betrachten wir dann als gestört, wenn sie in ihrer Funktionstüchtigkeit bedeutsam und über längere Zeit beeinträchtigt sind und einzelne Familienmitglieder Leidensdruck aufweisen (Perrez 2002).
Funktionstüchtig sind sie dann, wenn sie imstande sind, ihre zentralen Funktionen angemessen wahrzunehmen. Auf der Ebene ihrer übergeordneten Funktionen der »Metaentwicklungsaufgaben« (Schneewind 1995) bedeutet dies, dass sie die Funktionen des Zusammenhalts und der Förderung der Entwicklung der einzelnen Personen und der Subsysteme angemessen wahrzunehmen vermögen. ! Paarbeziehungen betrachten wir analog dann als gestört, wenn sie ihren Funktionen nicht mehr nachzukommen vermögen, nämlich einerseits den Erhalt und die Festigung der intimen Beziehung zu sichern und andererseits die Entwicklung beider Partner zu fördern.
79 5.3 · Kennzeichen gestörter Familien
Beide Systeme sind ferner gestört, wenn das Paar- oder Familienklima nachhaltig destruktiv ist (z. B. chronische Konflikte, gewalttätige Konfliktäußerungen) und zur Ursache für individuelle psychische oder somatische Störungen eines oder mehrer Familienmitglieder wird oder Störungen durch das System aufrechterhalten werden. ! Eltern-Kind-Beziehungen sind dann als gestört zu bezeichnen, wenn die Eltern ihre Rolle als fürsorgliche Erzieher nicht mehr wahrzunehmen vermögen oder die Beziehungsqualität dermaßen niedrig ist, dass ein Leidensdruck eines oder mehrer Mitglieder vorliegt.
Neben einer destruktiven Beziehung kann jedoch auch eine allzu fürsorgliche, überbemutternde Beziehung zwischen den Familienmitgliedern (z. B. Mutter-Kind-Beziehung) problematisch und störungsbegünstigend sein. Störungen (in) der Familie betrachten wir nicht als diskrete kategoriale Phänomene, sondern in der Regel als multidimensionale Beeinträchtigungen der Funktionstüchtigkeit, die im Extremfall das Funktionieren der Familie zusammenbrechen lassen. Gewisse multidimensionale Beeinträchtigungen ergeben Störungsmuster, die in der Literatur beschrieben werden und in der Praxis bekannt sind. So können z. B. Familien mit extrem hoher Kohäsion und extrem niedriger Adaptabilität als »rigid-verstrickt« klassifiziert werden (7 Abschn. 5.3.1).
5.3
Kennzeichen gestörter Familien
5.3.1 Störungen der Familie als Ganzes
Die genannten Störungskriterien auf der Familien- und der Paar-/Elternebene bezüglich der Funktionstüchtigkeit und der Metaentwicklungsaufgaben (Schneewind 1995) haben verschiedene Operationalisierungen erfahren. Kohäsion – Adaptabilität. Gemäß dem Circumplex-Modell
(z. B. Olson 2000) lassen sich gestörte Familien durch zu hohe oder zu niedrige Kohäsion und/oder Adaptabilität charakterisieren. ! Die Kohäsion bezeichnet den inneren emotionalen und sozialen Zusammenhalt, die wechselseitigen Bindungen und die Nähe der Familienmitglieder untereinander. Die Adaptabilität stellt die Fähigkeit des Systems dar, sich der Situation anzupassen, wenn die Umstände (z. B. Entwicklung der Kinder) es strukturell oder situational erfordern.
So müssen die Familienregeln den Veränderungen des Entwicklungsstandes eines Kindes Rechnung tragen und entsprechend adaptiert werden, was strukturellen Anpassungen entsprechen würde. Oder Einzelsituationen können es erforderlich machen, dass von den üblichen Rollenver-
. Abb. 5.1. Circumplex-Modell. (Nach Olson 2000)
teilungen flexibel abzusehen ist, zugunsten einer konkreten Problemlösung oder einer Gewährung von neuen Freiheiten, einer neuen Einbindung in Verantwortung und neuen Grenzziehungen. Die Adaptabilität hat also mit Aspekten der binnenfamiliären Flexibilität, aber auch mit der Kontrolle zur Aufrechterhaltung der familiären Regeln und Abmachungen sowie Rollendefinitionen zu tun. Beide Dimensionen zusammen, die familiäre Kohäsion (emotionaler Zusammenhalt zwischen den Familienmitgliedern) und die familiäre Adaptabilität oder Flexibilität, stellen zwei zentrale Dimensionen dar, durch die das Funktionsniveau einer Familie beschrieben werden kann (. Abb. 5.1). Für die Erhaltung der Homöostase der Familie als einem System im entwicklungsbedingten Wandel sind die Erhaltung der Ordnung (Morphostase) wie auch die Entwicklung der Ordnung (Morphogenese) bedeutungsvoll. Eine Starrheit des Familiensystems ist gegeben, wenn die morphostatischen Kräfte zu groß sind, während ihre zu geringe Ausprägung den Zusammenhalt gefährdet (Heekerens 1997). Chaotisch-losgelöste Familien zeigen Symptome des zu geringen Zusammenhalts und der emotionalen Unverbindlichkeit. Rigid-verstrickte – am diagonalen Gegenpol – sind zwanghaft starr in ihren Regeln und gleichzeitig schwer trennbar emotional verstrickt (. Abb. 5.1). Verstrickung – Loslösung. Minuchin (1978) unterscheidet unter strukturellen Gesichtspunkten verschiedene Konstellationen problematischer familiärer Beziehungen, die »Verstrickung« und die »Loslösung« als zentrale Störungskategorien; womit jene Dimension in den Blick gerät, die im Olson’schen Circumplex-Modell als »Kohäsion« bezeichnet wird.
5
80
Kapitel 5 · Klinisch-psychologische Familienforschung
! Nach Minuchin spielt die Qualität der Grenzen zwischen den Subsystemen eine bedeutende Rolle für das Funktionieren der Familie. Die Grenzen zwischen den Subsystemen sollten klar sein, weder zu durchlässig (diffus) noch zu starr (rigid).
5
Mit der Aufhebung oder Verwischung der Grenzen zwischen den einzelnen Mitgliedern der Familie oder ihren Subsystemen oder der Familie und der Außenwelt schwindet die Differenzierung des Systems: Minuchin nennt diese Störungskonstellation Verstrickung. Sie bedeutet überstarke Bindung und engt die Autonomie der beteiligten Mitglieder ein. Die verstrickte Familie reagiert zu sensibel, zu schnell auf Normverletzungen. Das MutterKind-Subsystem ist naturgemäß, besonders solange die Kinder klein sind, für Verstrickungen anfällig (vgl. 7 Abschn. 5.3.3). Die zweite Störungskategorie ist durch übermäßig starre Grenzen charakterisiert. Diese disponieren zur Loslösung der Subsysteme. Die losgelöste Familie reagiert auf
Normverletzungen zu spät oder zu schwach. Minuchin geht davon aus, dass alle Familien an irgendeinem Punkt des Kontinuums von starren bis zu diffusen Grenzen angesiedelt werden können (. Abb. 5.1). Familien mit einer mangelhaften Bindung zwischen den Kindern und den Eltern sind auf der linken Seite des Kontinuums anzusiedeln, während »symbiotische« Familien, welche die Entwicklung der Individualität gefährden, der rechten Seite zuzuordnen sind. Zentripetale – zentrifugale Familienstile. Neben den Mo-
dellen von Olson und Minuchin haben auch Beavers und Mitarbeiter Kriterien für familiäre Dysfunktionalität beschrieben. Das Ausmaß der Dysfunktionalität der Familie als Ganzes wird im Ansatz von Beavers und Hampson (1990) durch Dimensionen bestimmt, die als Familienstile und als Aspekte der Familienkompetenz bezeichnet werden können. Beide zusammen definieren das Funktionsniveau einer Familie. Innerhalb der Familienstile werden zentripetale oder zentrifugale Stile unterschieden (s. unten).
Familiäre Stile nach Beavers und Hampson (1990) 1. Der zentripetale Familienstil. Die Familienmitglieder suchen ihre sozialen und andere Verstärker in der Familie. Störungen in der Familie und kommunikative Ambivalenzen werden eher übersehen. Zentripetal stark dysfunktionale Familien weisen schwer durchlässige Außengrenzen auf. Die Autonomieentwicklung der Kinder wird durch die überstarke Familienloyalität behindert. Intergenerationale Grenzen werden oft nicht respektiert. Obwohl innere Störungen vorhanden sind, scheinen sie nach außen mitunter als Fassadenfamilien intakt. Sie disponieren bei ihren Mitgliedern eher zu einem späten Verlassen des Elternhauses durch ein rigides Festhalten an diesem Stil auch in Familienentwicklungsphasen, in denen dies nicht mehr adäquat ist. Sie führen oft zu internalisierenden Störungen bei ihren Familienmitgliedern (Beavers u. Hampson 1990).
Die verschiedenen Ansätze zur Klassifikation und Dimensionierung von Familienstörungen lassen Überlappungen zwischen den Ansätzen – teilweise auch innerhalb eines Ansatzes – erkennen. Für eine eingehendere Diskussion verweisen wir auf die Analyse von Bodenmann-Kehl (1999), welche sich mit dem Ansatz des familiären Funktionsniveaus und der Familienkompetenz ausführlich beschäftigt. Kompetenzdefizite. Diese Beschreibungssysteme von gestörten Familien stellen überdauernde Verhaltensdispositionen von Individuen, Subsystemen oder der Familie als Ganzes dar. Sie sind in der Familienpsychologie und Familientherapie weit verbreitet und in gewissem Umfang auch
2. Der zentrifugale Familienstil. Verstärker werden in diesen Familien außerhalb der Familie gesucht. Es gibt nur einen geringen inneren Zusammenhalt. In der Familie werden oft negative Emotionen und Feindseligkeiten gezeigt, was eher zu Meidetendenzen in der Familie führt. Zentrifugal stark dysfunktionale Familien sind in ihrer Gestalt und Struktur diffus. Die Machtverhältnisse sind unklar und wenig wirkungsvoll, die Einhaltung von Verhaltensregeln unzureichend. Konkurrenz, Konflikte und geringe Empathie und Unterstützung kennzeichnen das Klima. Gewalt ist häufig anzutreffen. Dieser Familienstil disponiert eher zu externalisierenden Störungen seitens der Kinder.
empirisch bewährt. Für die verhaltenstherapeutische Betrachtung ist es zentral, dass die Störungen auf der Ebene der gestörten Funktionstüchtigkeit respektive der gestörten Kompetenzen beschrieben und klassifiziert werden, denen auf der Performanzebene konkrete Verhaltensweisen zuzuordnen sind. Entsprechend bedeutungsvoll sind Ansätze, welche das familiäre Funktionsniveau im Hinblick auf Kompetenzen der Familienmitglieder beziehen. Einen solchen Ansatz stellt das McMaster-Modell des familiären Funktionierens von Epstein (Epstein et al. 1983) dar. In diesem Modell werden sechs Verhaltensdefizite beschrieben, welche gestörte familiäre Systeme kennzeichnen (s. Übersicht).
81 5.3 · Kennzeichen gestörter Familien
Kennzeichen gestörter Familien bezüglich Kompetenzdefiziten (Epstein et al. 1983) 1. Mangelnde emotionale und instrumentelle Problemlösekapazität 2. Schlechte Kommunikationsfähigkeit 3. Unklare Rollenverhältnisse und mangelnde Kompetenzen, die Rollen und Aufgaben angemessen wahrzunehmen (wie z. B. die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Kinder durch die Eltern) 4. Unfähigkeit, Emotionen angemessen auszudrücken 5. Unangemessene Involvierung in die Interaktion und Beziehung, d. h. weder narzisstisch noch symbiotisch 6. Mangelnde Kompetenz der positiven Verhaltenskontrolle
Diese Kompetenzbereiche lassen sich für die Verhaltensdiagnostik und die Therapie auf die Verhaltensebene transponieren. Einzelne dieser Kriterien beziehen sich auf Störungen der Elternrolle bzw. des Eltern-Kind-Systems oder des Paarsystems. Nachfolgend werden solche Kennzeichen gestörter Subsysteme der Familie deskriptiv dargestellt.
5.3.2 Störungen der Paarbeziehungen
Es ist heute hinlänglich dokumentiert, dass sich zufriedene von unzufriedenen Paaren in der Art und Qualität ihrer Interaktion und deren Folgen signifikant unterscheiden, wobei nicht der Inhalt der Konflikte zwischen den beiden Gruppen differiert, sondern die Art, wie diese Konflikte gelöst werden (vgl. Bodenmann 2004; Gottman 1994, s. Übersicht).
Kennzeichen gestörter Paarbeziehungen 4 Hohes Ausmaß an Negativität (z. B. Kritik, Abwertungen, Ablehnungen, Sarkasmus, Rückzug) 4 Geringe Positivität im Alltag (kaum Komplimente, geringe Rate an Lob und freundlichen Worten, wenig Interesse am Partner, geringe Zärtlichkeit) 4 Hohe Vorhersagbarkeit von negativem Verhalten des Partners (aufgrund der häufigen Konflikte) 4 Häufige Eskalationen bei Konflikten aufgrund einer mangelnden Problemlösefähigkeit der Dyade
1. Geschwächtes Elternverhalten. Zum geschwächten Elternverhalten gehört die Beeinträchtigung bzw. Unfähigkeit, die Elternrolle angemessen wahrnehmen zu können. Kinder werden dann in ihren Bedürfnissen nach Akzeptierung, Führung und Sicherheit unterversorgt. 2. Die Parentifizierung der Kinder. Unter Parentifizierung des Kindes versteht man die stillschweigende Delegierung einer Elternrolle an ein Kind, was u. a. eine Folge des geschwächten Elternverhaltens sein kann, welches ein Leadership-Vakuum bewirkt. Die mit dieser Rolle verbundene Verantwortlichkeit überfordert die Kinder und beeinträchtigt sie in ihrer Entwicklung und Entfaltung. 3. Grenzverletzungen und Kindesmisshandlung/Gewalt.
Die Grenzverletzungen umfassen im dyadischen Kontext die gleichen Aspekte, wie sie oben auf der Ebene der Familie als Gesamtsystem beschrieben worden sind. Es können die physischen und psychischen Grenzen überschritten werden (Minuchin 1978). Extreme Formen der Grenzverletzung liegen in der physischen und der psychischen Kindesmisshandlung vor. ! Unter Gewalt verstehen wir im Sinne der Empfehlung des Ministerrates der Mitgliedsstaaten des Europarates (1985) alle Handlungen oder Unterlassungen, die das Leben, die körperliche oder seelische Unversehrtheit, die Freiheit oder die persönliche Entwicklung gefährden. Als Formen der Gewalt, die in der Familie bedeutungsvoll sind, werden a) aktive physische Gewalt (die immer auch psychische Gewalt einschließt), b) aktive psychische Gewalt, c) passive physische und psychische Gewalt oder Vernachlässigung und d) sexuelle Gewalt unterschieden.
Ebenso stellt die sexuelle Kindesmisshandlung eine gravierende Form der Grenzverletzung dar. Alle Formen der binnenfamiliären Gewalt stellen Grenzverletzungen dar. Subtilere Formen äußern sich in andauernden Einmischungen in die Privatsphäre des Kindes oder in dauerhaften transgenerationalen Koalitionen, die die Kindrolle nicht respektieren. 4. Chronische Zurückweisung der Kinder. Die chronische Zurückweisung des Kindes besteht in einer ablehnenden, nichtakzeptierenden Beziehung eines Elternteils oder beider Eltern zum Kind. Auch dies ist eine Form der Kindesmisshandlung.
5.3.3 Störungen der Elternrolle bzw.
des Eltern-Kind-Systems Störungen des elterlichen Subsystems treten in den folgenden Varianten in Erscheinung (Bedrosian u. Bozicas 1994; vgl. auch Heekerens u. Perrez 2005, S. 1146):
5. Störungen der erzieherischen Verhaltenskontrolle. Sie äußern sich in einem dysfunktionalen Erziehungsstil, ohne dass das Elternverhalten zwingend geschwächt wäre. Die erzieherische Verhaltenskontrolle kann in ihrer Qualität und/oder ihrer Intensität dysfunktional sein. Ein primär
5
82
Kapitel 5 · Klinisch-psychologische Familienforschung
bestrafender Erziehungsstil, inkonsistentes Erziehungsverhalten oder ein Erziehungsstil, der dem Kind keine Grenzen setzt, sind in ihrer Qualität dysfunktional. Ein Mangel an Interaktion und Kommunikation, wie er sich extrem bei der Vernachlässigung als Variante der Kindesmisshandlung zeigt, betrifft neben der Qualität auch die geringe Quantität und Intensität der Interaktion. Eine überbehütende Mutter verletzt dagegen Grenzen und weist Probleme bezüglich der Interaktionsqualität und -intensität (zu viel Interaktion) auf.
5
Diese fünf Störungskategorien sind nicht disjunkt, aber sie umschreiben Störungsbereiche, die oft in dominanter Weise das Eltern-Kind-Subsystem kennzeichnen und erweisen sich daher als nützliches Raster für die Identifizierung gewisser Familienstörungen.
5.4
Antezedenzien für die Entwicklung von Störungen (in) der Familie
Bei den Antezedenzien von Störungen (in) der Familie sind einerseits ätiologische Faktorenkategorien wie genetische, neurobiologische, endokrinologische oder psychologische/ psychosoziale, ökologische oder gesellschaftliche Faktoren zu unterscheiden, die in komplexer Zusammenwirkung zu den Störungen führen. Andererseits führt die zeitliche Lokalisierung der störungsfördernden Faktoren (u. a. für die Prävention) zu nützlichen Differenzierungen. Wir unterscheiden in Analogie zu den Phasen für die Entwicklung individueller Störungen (vgl. Baumann u. Perrez 2005) die folgenden Faktoren, welche in der anschließenden Übersicht dargestellt sind. Die vierte Faktorengruppe, die aufrechterhaltenden Bedingungen, sind für die Verhaltenstherapie von besonderer Bedeutung. Sie erklären die Performanz des gestörten Verhaltens und stellen den primären Ansatzpunkt für die Verhaltensdiagnostik und Intervention dar. . Abb. 5.2. Klassifikation von Stressoren. (Aus Perrez et al. 1998)
Störungsrelevante Faktoren in ihrer zeitlichen Lokalisierung 1. Faktoren im Vorfeld der Familiengründung (z. B. psychische Störung eines Elternteils, zu frühe Familiengründung etc.) 2. Faktoren während der Familienentwicklung (z. B. Bindungsprobleme, chronische Überbelastung, dysfunktionales dyadisches Coping etc.) 3. Faktoren im Vorfeld des Ausbruchs der Störung (kritische Lebensereignisse) 4. Aufrechterhaltende Bedingungen nach dem Ausbruch der Störung
Die Faktorengruppen 1–3 stellen in der Regel Stressoren dar, die das familiäre System und/oder Subsysteme dergestalt beanspruchen, dass die Relation von Beanspruchung und Ressourcen prekär ist. Von der Beanspruchungsdauer des Stressors her gesehen, können 4 Alltagswidrigkeiten, 4 kritische Lebens- und Familienereignisse und 4 chronische Stressoren unterschieden werden, die in ihrer negativen Valenz variieren können (. Abb. 5.2).
5.4.1 Risikofaktoren für die Entwicklung von
Störungen (in) der Familie In Anlehnung an die heuristische Formel von Albee (1980) kann davon ausgegangen werden, dass es umso wahrscheinlicher zu einer Störung (in) der Familie kommt, je ungünstiger das Verhältnis von inneren und äußeren Belastungsfaktoren zu den inneren und äußeren Resilienz- und Unterstützungsfaktoren ausgeprägt ist.
83 5.4 · Antezedenzien für die Entwicklung von Störungen (in) der Familie
! Risikofaktoren sind Bedingungen, von denen angenommen werden darf, dass sie die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten von Störungen bei Personen oder interpersonellen Systemen erhöhen.
Kausale Risikofaktoren sind nicht nur statistisch, sondern ursächlich mit dem Auftreten der Störung assoziiert. Als wichtigste Risikofaktoren für Störungen (in) der Familie gelten heute die folgenden Stressoren, die in der folgenden Übersicht dargestellt sind.
dernd wirken können. Sie können einerseits zu Störungen der Familienentwicklung (z. B. zu niedriger familiärer Kohäsion) oder direkt zu Störungen bei Kindern (z. B. zu einer externalisierenden Störung) oder Störungen bei anderen Familienmitgliedern (z. B. zur Alkoholabhängigkeit des Vaters) führen. Die gestörte Familie wird ihrerseits (zusätzlich) zum sozialen Risikofaktor für die Kinder und Jugendlichen.
5.4.2 Schutz- und Resilienzfaktoren bei der
Entwicklung von Störungen (in) der Familie Risikofaktoren für Störungen in der Familie 1. Familienexterne Risikofaktoren: – Kritische Lebensereignisse (z. B. Armut, Krieg, Migration) – Chronische Stressoren (z. B. chronisch belastende familienexterne Sozialbeziehungen) 2. Familieninterne Risikofaktoren: – Kritische Familienereignisse (z. B. Tod eines Elternteils, Scheidung) – Chronische Stressoren (z. B. psychische Störungen und/oder chronische Krankheiten eines Elternteils, Elternschaft in zu jungem Alter, Delinquenz des Vaters, Substanzabhängigkeit eines Elternteils, Risikomerkmale des Paar-/Elternsubsystems wie z. B. gewaltförmige Interaktion)
Für viele dieser Risikofaktoren gilt, dass sie nicht nur das Risiko für Störungen von Familien erhöhen, sondern gleichzeitig auch als Risikofaktoren für die Störungsentwicklung bei einzelnen Familienmitgliedern oder innerhalb des Subsystems der Familie gelten können. Wenn eine Familie externen Risikofaktoren direkt exponiert ist, sind in der Regel auch einzelne Familienmitglieder den Faktoren ausgesetzt, weshalb sie gewissermaßen ohne das »Interface Familie« bei einzelnen Familienmitgliedern störungsför-
Der Einfluss der inneren und äußeren Risikofaktoren wird durch binnenfamiliäre innere und äußere, familienexterne Schutzfaktoren moderiert; dabei sind »Schutzfaktoren« nicht als die bloße Abwesenheit von Risikofaktoren, sondern als identifizierbare »Positiva« zu verstehen. . Abb. 5.3 schematisiert die Risiko- und Schutzfaktoren für Störungen (in) der Familie als indirekte und direkte Antezedenzien für die Entwicklung von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Die inneren protektiven Faktoren werden analog durch Eigenschaften des familiären Systems (wie Kohäsion, Adaptabilität oder »Familienkompetenz«, vgl. L’Abate 1990; Bodenmann-Kehl 1999) und der Subsysteme der Familie (wie z. B. sichere Bindung, positiver Austausch) und durch Merkmale der Individuen, wie die Resilienz, gebildet, die Masten et al. (1990) als »die Kapazität zur angemessenen Adaptation, trotz ungünstiger oder bedrohlicher Umstände« definieren. Auf der Ebene der Kinder fasst Werner (1999) folgende Resilienzfaktoren zusammen: Temperamentseigenschaften, die bei Sorge- und Erziehungspersonen positive Reaktionen auslösen, Geselligkeit, Ausgeglichenheit und frühe Selbstständigkeit. Bei Schulkindern fallen Kommunikations- und praktische Problemlösungsfähigkeiten als Schutzfaktoren auf. Auf der Familienebene sind es nach der Übersicht von Werner (1999) eine enge
. Abb. 5.3. Direkte und indirekte Antezedenzien von Störungen in der Familie. (Aus Perrez 2005)
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Kapitel 5 · Klinisch-psychologische Familienforschung
Bindung an mindestens eine verlässliche Person sowie die Schulbildung der Mutter und ihr kompetenter Umgang mit dem Kind, die als Schutzfaktoren wirken. Wenn Mütter chronisch krank sind, spielen Ersatzeltern oder -personen in der Familie eine schützende Rolle. Auch religiöse Überzeugungen werden als protektiver Faktor berichtet. Nach Werner (2000) kennzeichnet sich Resilienz durch das Faktum aus, dass Kinder eine normale Entwicklung zeigen, trotz 4 hohen Risikofaktoren (z. B. Armut, chronischen Krankheiten eines Elternteils), 4 stressreichen kritischen Lebensereignissen (z. B. Scheidung) und 4 schweren Traumata (wie Kriege, Katastrophen). Dabei spielen Protektivfaktoren eine zentrale Rolle. Äußere protektive Faktoren sind soziale Umgebungsfaktoren der Familie, wie ein unterstützendes und anregendes soziales Netzwerk (vgl. Egle et al. 1997 und Laucht et al. 1997, s. Übersicht).
Protektive Faktoren für Störungen in der Familie (nach Cummings et al. 2000) 1. Personinterne dispositionelle Merkmale: Einfaches Temperament, günstige Persönlichkeitsmerkmale, angemessene Copingstile, männliches Geschlecht, internale Kontrollüberzeugungen, positives Selbstbild 2. Familienmerkmale: Kohäsion, Wärme, positive Eltern-Kind-Beziehung, harmonische Beziehung der Eltern 3 Familienexterne Faktoren: Positive Beziehung zu anderen erwachsenen Personen als den Eltern, positive soziale Schulerfahrungen und Schulerfolg, sichere unterstützende Umwelt u. a.
Die Beachtung der Resilienz- und Schutzfaktoren ist für die verhaltenstherapeutische Intervention unter dem Ressourcenaspekt bedeutungsvoll. In der Regel kann dieses Potenzial therapeutisch nutzbar gemacht werden.
5.5
Pathogene Verhaltensmechanismen als Antezedenzien und/oder aufrechterhaltende Bedingungen
5.5.1 Ebene der Familie
Auf der Ebene der Familie können verschiedene verhaltenspsychologische Bedingungen (vgl. Bodenmann et al. 2004; Perrez 2005) benannt werden, welche die Entwicklung von Störungen begünstigen:
1. Die familiären Bedingungen verunmöglichen oder hemmen Adaptation/Lernen wegen der Vieldeutigkeit der Reize/Signale, die sie zur Verhaltensregelung anbieten (Pavlows Diskriminationsproblem als Variante der experimentellen Neurose); und die familiären Bedingungen verunmöglichen oder hemmen Adaptation/Lernen durch inkonsistente Verstärkungsbedingungen (positive und aversive).
Diese Mechanismen sind aktiv, wenn in einer Familie Kommunikationszeichen und/oder Verhaltensregeln keine eindeutige Bedeutung und Geltung haben und damit die Orientierung wechselseitig erschweren. Darüber hinaus sind die Verhaltensfolgen nicht klar vorhersehbar. Eltern mit einem inkonsistenten Erziehungsstil disponieren, insbesondere wenn schwere aversive Konsequenzen im Spiele sind, zu Demotivierung, Hilflosigkeit, aber auch zu anderen Störungen.
2. Die familiären Bedingungen konditionieren Fehlverhalten im Sinne der klassischen Konditionierung durch Traumatisierung oder durch chronische subtraumatische Bedingungen.
Der klassische Konditionierungsmechanismus ist vor allem für viele Angststörungen und auch für posttraumatische Belastungsstörungen relevant. Innerhalb des familiären Systems können bestimmte Personen und/oder Situationen zu Auslösern für aversive Reaktionen auf emotionaler, kognitiver oder behavioraler, aber auch physiologisch-vegetativer Ebene und für Flucht und Meidereaktionen werden. Über die Variante des sog. evaluativen Konditionierens können negative Familienereignisse auf diesem Weg das Familiensetting emotional negativ einfärben und damit die binnenfamiliären Entwicklungsbedingungen behindern. Verhaltensdiagnostisch und -therapeutisch stellt sich aus der Familienperspektive die Frage, inwieweit diese Konditionierungsprozesse, denen Kinder oder andere Familienmitglieder in ihren primären Sozialisationserfahrungen ausgesetzt waren, wegen der aversiven sozial-emotionalen Erfahrungen und Traumata zu Angst-, Meide- und Fluchtverhalten disponieren und/oder das Familienklima negativ einfärben.
3. Die familiären Bedingungen hemmen den Aufbau von Verhalten durch einen Mangel an Verstärkern.
Binnenfamiliäre Störungen, wie sie durch das McMasterModell in Form von Verhaltensdefiziten beschrieben wer-
85 5.5 · Pathogene Verhaltensmechanismen als Antezedenzien und/oder aufrechterhaltende Bedingungen
den (Epstein et al. 1983; vgl. Übersicht unter 7 5.3.1), sind verhaltenspsychologisch oft als Folge mangelnder oder inkonsistenter (vgl. Mechanismus a, s. unten) Verstärkung durch die Familienmitglieder (insbesondere die Eltern) zu erklären. Emotionale und instrumentelle Problemlösekapazität, Kommunikationsfähigkeit, klare Rollenverhältnisse, angemessener Emotionsausdruck usw. werden in intakten Familien durch angemessene wechselseitige Verstärkung aufgebaut. Verhaltensdiagnostisch ist bei beobachteten Verhaltensdefiziten verschiedenster Art jeweils zu prüfen, wie weit die Defizite durch einen chronischen Mangel an kontingenter sozialer Verstärkung in der Familie bedingt sind. Verstärkerverluste und Kontrollverlust durch entsprechende kritische Familienereignisse könnten die Ursache für Deaktivierung, Niedergeschlagenheit, Motivationsverlust und andere depressive Symptome sein. Selbst wenn alle Familienmitglieder dem gleichen Verstärker- und Kontrollverlust exponiert sind – z. B. dem Tod eines geliebten Großelternteils – müssen nicht alle in gleicher Weise darauf reagieren.
Bei Strafen im Sinne von körperlicher und psychischer Misshandlung können schwere Störungen vorhergesagt werden. Dass dies bis heute kein seltenes Phänomen ist, zeigen repräsentative Studien, z. B. aus der Schweiz, wonach rund 1% der Eltern angeben, ihre Kinder im Alter zwischen 0 und 2,5 Jahren »manchmal« bis »sehr häufig« mit Gegenständen zu schlagen; in absoluten hochgerechneten Zahlen sind dies in der Schweiz mehr als 1700 betroffene Kinder, deren Vulnerabilität durch derartige Interaktionen erhöht wird oder die direkt Schaden nehmen. Über 35.000 Kinder unter 2,5 Jahren erhalten »manchmal bis sehr häufig« Schläge auf den Po und über 13.000 Kinder der gleichen Altersgruppe werden geohrfeigt (Schöbi u. Perrez 2005). Die negativen Folgen der hohen Bestrafungstendenz stehen in Wechselwirkung mit Kindmerkmalen (Vulnerabilität, Temperament und Entwicklungsphase). Bei externalisierendem Temperament wird eher Aggressivität gefördert.
6. Ein Spezialfall von (5) ist die koersive Verhaltenskontrolle (Verhaltensnötigung). 4. Die familiären Bedingungen konditionieren operant Fehlverhalten durch dysfunktionale Kontingenzen (positive und aversive).
Unter dysfunktionalen Kontingenzen verstehen wir Kontingenzverhältnisse, die nicht das erwünschte Verhalten fördern und das unerwünschte schwächen. Sie können darin bestehen, dass a) statt des erwünschten Verhaltens das unerwünschte verstärkt wird, b) das erwünschte Verhalten nicht verstärkt wird oder c) erwünschtes (und unerwünschtes) Verhalten inkonsistente Verhaltensfolgen erfährt (vgl. Krohne u. Hock 1994), also einmal positiv verstärkt, dann wieder bestraft wird. Snyder und Patterson (1995) gehen davon aus, dass die in der Lerngeschichte erfahrene kumulative Nützlichkeit von aggressivem Verhalten im Vergleich zu nichtaggressiven Reaktionen, um Konflikte mit den Eltern und mit Geschwistern zu lösen, einen direkten Effekt auf die Förderung des aggressiven Verhaltens haben. Die verhaltensdiagnostische Entdeckung dysfunktionaler Kontingenzen ist eine zentrale Aufgabe der Verhaltesanalyse von gestörten Familien.
5. Die Interaktion der Familie oder einzelner Subsysteme steht unter dem Primat aversiver Kontrolle. Die soziale Verhaltenskontrolle bedient sich in diesem Fall aversiver Verstärker, d. h. bestrafender Verhaltensfolgen zur Regulation des Verhaltens.
Wechselseitige aversive Kontrolle zwischen Mutter oder Vater und Kind stabilisiert oft einen unseligen interaktiven Mechanismus (Snyder et al. 1997), den Patterson (1982) »coercion« genannt hat. Exzessives Quengeln des Kindes oder Klagen des Partners wird zum Schweigen durch Nachgeben gebracht. Damit wird das unerwünschte auslösende Verhalten positiv und das »problemlösende« Verhalten negativ verstärkt und stabilisiert.
7. Die familiären Bedingungen fördern Fehlverhalten durch Modelle unangemessenen Verhaltens und/ oder den Mangel an Modellen für angemessenes Verhalten. Modellverhalten schließt hier emotionales, kognitives und soziales Verhalten ein.
Zu den kognitiven Einflussfaktoren für die Entstehung psychischer Störungen, die familienrelevant sind, gehören Prozesse des Modelllernens. Es ist naheliegend, dass gestörte erzieherische Verhaltensmodelle geeignet sind, für die Ätiologie einzelner Störungen hervorragende Modelllernbedingungen zu schaffen. Besonders für die Entwicklung aggressiven Verhaltens werden Modelllernprozesse als relevant betrachtet. Bezüglich Ängstlichkeit konnte in mehreren Studien glaubhaft gemacht werden, dass ängstliche Mütter ihren Kindern die Ängstlichkeit über Modelllernprozesse weitergeben. Muris et al. (1996) haben an 409 Kindern (<12 Jahre) mit verschiedenen Störungen zeigen können, dass die Trait-Angst der Kinder signifikant mit jener der Väter und Mütter korreliert ist. Die Werte in der Skala »Furcht« (Fear Survey Schedule) korrelieren deutlich mit
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Kapitel 5 · Klinisch-psychologische Familienforschung
dem Ausmaß, mit dem die Mütter ihre Angst zeigen, was mit dem Beobachtungslernen erklärt werden kann.
Partner beginnen, ihre Bedürfnisse durch eine zunehmende Negativität durchzusetzen (vgl. Patterson 1982). Die Kommunikationsqualität nimmt weiter ab und weicht einer allgemeinen Negativität.
5.5.2 Ebene des Partnerschaftssystems
Die unter 7 5.5.1 beschriebenen verhaltenspsychologischen Mechanismen sind alle auch für die Ebene des Partnerschaftssystems relevant. Hier werden die lerntheoretischen Prozesse, die die Etappen der Entwicklung von Beziehungsstörungen oft charakterisieren, ergänzend dargestellt (s. Übersicht).
5 Lerntheoretisch relevante Störungsbedingungen 4 Verstärkererosion (Habituation), welche zur Monotonie und zum Zerfall der Vitalität der Beziehung führt 4 Negative Besetzung des Partners durch häufige eskalierende Konflikte (klassische Konditionierung) 4 Verschlechterung des Beziehungsklimas durch koersive Prozesse (Zwangsprozess) 4 Aufbau von negativen Erwartungen (vgl. Bodenmann 2004).
Entwicklung negativer Erwartungen. Diese häufige Negativität führt ihrerseits zur Ausbildung negativer Erwartungen. Die Partner erwarten nichts Positives vom Partner und fangen an, negative Alltagserlebnisse (z. B. Zuspätkommen des Partners) auf dessen Persönlichkeit zu attribuieren (partnergerichtete, stabile und globale Attribution). Damit setzt ein Teufelskreis negativer Gedanken, negativen Handelns und negativer Bewertungen (Attributionen) ein.
In neueren stresstheoretischen Ansätzen wird angenommen, dass die beschriebenen Prozesse vor allem durch die Einwirkung von äußeren Stressoren (die primär nichts mit der Partnerschaft zu tun haben) zustande kommen und durch das »spill-over« von externem Stress (z. B. beruflicher Art) auf die Partnerschaft eine Verschlechterung der partnerschaftlichen Kommunikation und der Beziehungsqualität erfolgt (Bodenmann 2000).
5.5.3 Zusammenhang zwischen Partnerschafts-
konflikten und der Eltern-Kind-Beziehung Verstärkererosion. Bei der Verstärkererosion (Habituation)
wird davon ausgegangen, dass eine Partnerschaft mit zunehmender Dauer bei beiden Partnern mit einem Verlust des wechselseitigen Verstärkerwerts einhergeht. Vormalig verstärkende Eigenschaften (z. B. physische Attraktivität des Partners) verlieren mit der Zeit an Attraktionswert, Monotonie und Langeweile machen sich breit, und im Zuge dieser Entwicklung nimmt die Partnerschaftszufriedenheit ab und das Scheidungsrisiko zu. Diese Abnahme der Partnerschaftsqualität im Verlauf der Zeit ist hinreichend gut dokumentiert (vgl. Bodenmann 2004). Klassische Konditionierungsprozesse. Die Partnerschaftsqualität wird zudem problematisch durch die Tatsache, dass gleichzeitig destruktiv verlaufende Konflikte zunehmen und eine negative Besetzung des Partners infolge einer klassischen Konditionierung stattfinden können. Der vormalig positiv besetzte Partner wird im Zuge einer raum-zeitlichen Koppelung mit Aggression (und in besonders destruktiven Fällen Gewalt) oder einer starken physiologischen Überschwemmung während Konflikten (vgl. Gottman 1994) (vgl. interozeptive Konditionierung) allmählich negativ besetzt, verliert seinen Attraktionswert und wird im Gegenteil zu einem konditionierten Reiz, welcher negative Gefühle auslöst. Koersive Prozesse. Die Verschlechterung des Beziehungsklimas und der Kommunikation in der Dyade wird dabei häufig durch koersive Prozesse flankiert, in deren Zuge die
Konflikte zwischen den Eltern hängen in aller Regel mit ihrem dem Kind gegenüber gezeigten Erziehungsverhalten und der emotionalen Nähe, die sie zum Kind herstellen können, zusammen (Cummings u. Davies 1994), da interparentale Konflikte die Sensitivität der Eltern bezüglich der kindlichen Bedürfnisse herabsetzen (. Abb. 5.4). Die Studie von Kaczynski et al. (2006) bestätigt, dass sich Eltern, die vermehrt Partnerschaftskonflikte berichteten, weniger feinfühlig und abweisender gegenüber ihren Kindern verhalten. Katz und Gottman (1996) monieren, dass Eltern mit häufigen dyadischen Auseinandersetzungen weniger Zeit und Energie für ihre Kinder aufbringen und so auch weniger an ihren Interessen, ihrem Leben und ihrer Entwicklung partizipieren können. Auch die Fürsorge für die Kinder (z. B. Essen kochen, Schulaufgaben kontrollieren, sie zum Training fahren usw.) wird eingeschränkt. Die Kinder erleben dies häufig als Zurückweisung oder mangelndes Interesse. Eine positive Eltern-Kind-Beziehung kann auf der anderen Seite als Puffervariable zwischen interparentalen Konflikten und Verhaltensproblemen der Kinder wirken (vgl. Doyle u. Markiewicz 2005), ein Befund, der allerdings nicht konsistent repliziert werden konnte. So fanden Davies et al. (2006) keine Abschwächung der Effekte elterlicher Konflikte auf kindliches Verhalten über die Moderatorvariable Zuneigung der Eltern gegenüber dem Kind. Insgesamt scheint die Frage nach direkten und indirekten Zusammenhängen bisher jedoch noch nicht ausrei-
87 5.5 · Pathogene Verhaltensmechanismen als Antezedenzien und/oder aufrechterhaltende Bedingungen
. Abb. 5.4. Modell zum Zusammenhang zwischen Partnerschaftskonflikten, Erziehung und Eltern-Kind-Beziehung und kindlicher Pathologie. (Aus Cummings u. Davies 1994, S. 89)
chend geklärt. Die Studie von Sturge-Apple et al. (2006) zeigt beispielsweise, dass ebenfalls zwischen der Art der Konfliktaustragung einerseits und der Vater-Kind- oder Mutter-Kind-Beziehung andererseits differenziert werden muss. So scheinen Väter nur dann weniger emotional verfügbar für ihre Kinder zu sein, wenn sie im Konflikt Rückzugsverhalten gezeigt hatten, nicht jedoch, wenn sie aggressiv-hostiles Verhalten zeigten. Bei den Müttern fand sich dagegen kein Zusammenhang zwischen Konfliktaustragung mit dem Partner und Verhalten gegenüber den Kindern. Unabhängig vom Konfliktstil waren sie für die Kinder nachfolgend weniger zugänglich. Andererseits hängen elterliche Konflikte mit ihrem Erziehungsverhalten zusammen. Aufgrund der emotionalen Involviertheit in die Konflikte mit dem Partner sind Eltern häufig nicht mehr in der Lage, ihre gewohnten Erziehungseinstellungen und -praktiken aufrechtzuerhalten (Cummings u. Davies 1994). Partnerschaftskonflikte sind entsprechend positiv mit einem inkonsistenteren und ineffektiveren Erziehungsverhalten assoziiert, wodurch die Wahrscheinlickeit für unerwünschtes Kindverhalten steigt (z. B. Cox et al. 2001; Cummings u. Davies 1994). Krishnakumar und Buehler (2000) dokumentierten in ihrer Metaanalyse den Zusammenhang zwischen elterlichen Konflikten und ineffektiver Erziehung mit einer durchschnittlichen Effektstärke von d=.62. Die Zusammenhänge zwischen interparentalen Konflikten und körperlicher Bestrafung oder das Fehlen der Akzeptanz gegenüber den Kindern waren dabei am ausgeprägtesten. Die Autoren be-
richten aber von auffallend wenigen publizierten Studien oder Buchkapiteln, die über den Mediatoreffekt der inkonsistenten Erziehung durch Paarkonflikte berichten. Allerdings ist anzunehmen, dass es sich hier häufig nicht um lineare Zusammenhänge handelt, sondern dass die elterlichen Konflikte über verschiedene Prozesse (z. B. verändertes Kindverhalten) zu einem ungünstigeren Erziehungsverhalten führen (vgl. Sturge-Apple et al. 2006). Im erweiterten Modell von Cummings und Davies (2002) sind die verschiedenen Variablen, welche mit dem Kindverhalten im Zusammenhang stehen, nochmals im Überblick dargestellt (. Abb. 5.5). Einen Zusammenhang zwischen elterlichen Konflikten und schwierigen Beziehungen von Kindern und Jugendlichen zu Peers konnten Cummings und Davies (2002) in mehreren Studien nachweisen. Dieser Zusammenhang wird damit erklärt, dass Jugendliche, die z. B. mit erhöhter Aggressivität reagieren, mehr Mühe haben, in einer Gruppe aufgenommen zu werden. Eine Chance hingegen bietet sich Kindern, die bereits in einer Gruppe integriert sind. Die Qualität dieser Beziehungen kann verschiedene negative Effekte, die von interparentalen Konflikten herrühren, abfedern. Bei den elterlichen psychischen Störungen, die mit Konflikten in der Familie in Zusammenhang gebracht werden, wurden bisher vor allem depressive Symptome der Eltern sehr gut untersucht (Cummings u. Davies 2002). Diese korrelierten mit elterlichen Konflikten und mit kindlichen Anpassungsstörungen.
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Kapitel 5 · Klinisch-psychologische Familienforschung
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. Abb. 5.5. Modell zur Einbettung verschiedener Wirkfaktoren im Zusammenhang mit kindlichem Verhalten. (Aus Cummings u. Davies 2002, S. 34)
5.6
Folgen von Störungen (in) der Familie für die Entwicklung ihrer Mitglieder
5.6.1 Folgen von Störungen der Familie
als Ganzes In Untersuchungen sind die Resultate von zu hoher oder zu niedriger Kohäsion und/oder Adaptabilität nicht einheitlich, weil das am häufigsten verwendete Messinstrument von Olson (2000) die beiden Variablen nicht inhaltsvalide abbildet. Sie sind so konzipiert, dass es naheliegt, höhere Werte als positive und niedrige als negative Merkmale von Familien zu interpretieren (Vandeleur 2003). Damit können zwar Extremwerte auf der Seite niedriger Ausprägungsgrade im Sinne des Circumplex-Modells theoriekonsistent interpretiert werden, nicht aber jene mit hohen Ausprägungen. So zeigen sich in Familien mit niedriger Kohäsion häufiger depressive Störungen und Störungen durch psychotrope Substanzen bei Jugendlichen (Prange et al. 1992; Cumsille u. Epstein 1994; Garrison et al. 1997) und mehr Stressprobleme (Jordan 1992). In der Studie von Perrez et al. (2000), an der 77 Familien mit insgesamt 243 Eltern und ihren adoleszenten Jugendlichen teilgenommen hatten, wurde der Zusammenhang der Kohäsion und Adaptabilität mit den Modalitäten der
binnenfamiliären Stressbewältigung untersucht. Es zeigte sich, dass vor allem die Variable Kohäsion zwischen den bevorzugten Copingstrategien differenziert. Geringe Kohäsion (»losgelöst«) ist assoziiert mit mehr Passivität im Angesicht von binnenfamiliären Stressoren, mit weniger Suche nach Hilfe in der Familie, einer geringeren Neigung, die Probleme anzupacken und mit schlechteren CopingErgebnissen. Geringe Kohäsion bedeutet verhaltenspsychologisch, dass ein zentrifugaler Familienstil vorliegt, wie ihn Beavers und Hampson (1990) beschrieben haben. Die Verstärker werden in Ermangelung der binnenfamiliären Verstärkerressourcen außerhalb der Familie gesucht. Für weitere Folgen s. unter 7 5.3.1. Ein Mangel an Adaptabilität (Rigidität) oder zu hohe Adaptabilität ist mit einer dysfunktionalen Verhaltenskontrolle innerhalb der Familie verbunden. Eine rigide und zwanghafte Verhaltenskontrolle beeinträchtigt die Entwicklungsmöglichkeiten der Familienmitglieder, indem sie deren Spielräume unangemessen einschränkt. Diese äußert sich u. a. in Familienritualen, die nicht an die Entwicklung der Familienmitglieder angepasst werden. Zu viel Adaptabilität hingegen verunmöglicht ein einigermaßen geordnetes Zusammenleben und beeinträchtigt damit zielorientiertes Lernen und Entwickeln. Sie ist Ausdruck einer geschwächten Elternrolle (7 Abschn. 5.3.3).
89 5.6 · Folgen von Störungen (in) der Familie für die Entwicklung ihrer Mitglieder
5.6.2 Folgen von Störungen
des Eltern-Kind-Systems Die Folgen von Störungen des Eltern-Kind-Systems sind in vielen Belangen nicht trennscharf von jenen der Familie als Ganzes zu unterscheiden, wie das Beispiel der zu hohen Adaptibilität als Ausdruck einer geschwächten Elternrolle verdeutlicht. Eltern-Kind-Interaktion, die durch eine chronisch aversive emotionale Qualität charakterisiert ist, wirkt sich negativ auf die Entwicklung des Kindes aus. Diese Qualität steht normalerweise im Zusammenhang mit einem stark bestrafenden Erziehungsstil, mit inkonsequentem Erziehungsverhalten (Krohne u. Hock 1994) und oft mit dem koersiven Mechanismus (7 Abschn. 5.5.1), der sog. »Verhaltensnötigung«, in Zusammenhang. Die Gewaltanwendung stellt eine Steigerung und Eskalation dieser Merkmale dar. Da Gewalt von der Wirkung her definiert wird, ist sie auch abhängig von Kindmerkmalen. Vulnerable Kinder zeigen schneller schädigende Effekte als robuste. Häufigkeit und Intensität von gewaltförmigen Erfahrungen, die eine Familie vermittelt, sind indes gute Indikatoren für das Ausmaß ihres potenziell schädigenden Einflusses. Körperliche und psychische Gewalt können im Extremfall nicht nur zu geistiger Behinderung, zu Wachstums- und Gedeihstörungen führen, sondern beeinträchtigen bereits bei geringerer Ausprägung den Selbstwert und die Beziehungsfähigkeit der Kinder; Störungen des Sozialverhaltens, depressive und Angststörungen sind oft die Folge. Die gut kontrollierte Mannheimer Langzeitstudie (Weindrich u. Löffler 1990) beobachtete bei vernachlässigten und/oder abgelehnten Säuglingen bereits am Ende des 2. Lebensjahres kognitive Entwicklungsverzögerungen und mehr Verhaltensstörungen als in der Vergleichsgruppe. Eltern von Kindern, die sich in einer psychologischen Behandlung befinden, schlagen ihre Kinder nach der Studie von Mahoney et al. (2000) wesentlich häufiger und verhalten sich ihren Kindern gegenüber wesentlich (physisch) aggressiver im Vergleich zur Normalpopulation. Ausgelöst wird das aggressive Verhalten oft durch externalisierendes Kindverhalten. Als Folgen der Vernachlässigung treten teilweise ähnliche Störungen auf (vgl. Egle et al. 1997). Die Folgen der sexuellen Misshandlung lassen sich nach Salter (1988) in zwei Breitbandfaktoren zusammenfassen, in einer internalisierenden Symptomatik (Depression, Angst, Nägelbeißen, Rückzugsverhalten, schulischer Misserfolg, Ess- und Schlafstörungen) und in einer externalisierenden Symptomatik (Störungen des Sozialverhaltens, Weglaufen, delinquentes Verhalten usw.). Diese Befunde sind auch in neueren Studien erhärtet worden (z. B. Egle et al. 1997).
5.6.3 Folgen von Partnerschaftsstörungen für
das Befinden der Eltern Die Partnerschaftsqualität ist für die physische und psychische Gesundheit von großer Bedeutung. Eine Vielzahl von Studien belegen, dass 4 verheiratete Personen eine bessere Gesundheit (weniger Substanzabusus, geringere Gewichtsprobleme, gesündere Ernährung, mehr Bewegung) und ein geringeres Mortalitäts- und Suizidrisiko aufweisen als ledige oder geschiedene Personen, 4 besonders die Qualität der Beziehung für das Befinden der Partner relevant ist (z. B. Bodenmann 2000) und 4 Partnerschaftskonflikte mit einem schwächeren Immunsystem und mehr psychischen und somatischen Störungen einhergehen (z. B. Beach et al. 1990; Robles u. Kiecolt-Glaser 2003). Eine gestörte Partnerschaft, gekennzeichnet durch häufige Konflikte und dyadische Spannungen, kann daher als ein relevanter Risikofaktor für das psychische und physische Befinden bezeichnet werden. So finden sich beispielsweise im Vorfeld von Depressionen in vielen Fällen chronische Partnerschaftskonflikte (Beach et al. 1990), und Partnerschaftsstörungen sind häufig mit somatischen Erkrankungen assoziiert (z. B. Robles u. Kiecolt-Glaser 2003). Zurückgeführt wird diese vulnerabilisierende Bedeutung von Partnerschaftskonflikten für die Gesundheit häufig auf psychophysiologische Prozesse, da dabei ein erhöhtes physiologisches Erregungsmuster (erhöhter Puls, höherer Blutdruck, erhöhte Kortisolwerte) nachgewiesen werden kann, welches im Falle von chronischen Konflikten mit einer längerfristigen Schwächung des Immunsystems einhergehen kann.
5.6.4 Folgen von Partnerschaftsstörungen für
das Befinden der Kinder Die Frage, ob eine gestörte Partnerschaftsqualität per se verantwortlich für die Entwicklung von kindlichen Störungen ist oder ob nicht andere Faktoren, wie z. B. eine inkonsistente Erziehung (vgl. Krishnakumar u. Buehler 2000), eine ungünstige Eltern-Kind-Beziehung (vgl. Cummings u. Davies 1994) oder ein dysfunktionales Familienklima (vgl. Ittel u. von Salisch 2005) für eine negative Entwicklung der Kinder von größerer Bedeutung sind, beschäftigt die klinische Familienforschung seit Längerem. Neuere Überblicksarbeiten weisen darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen Partnerschaftskonflikten und kindlichen Anpassungsstörungen gut dokumentiert ist (z. B. Davies u. Lindsay 2004). So zeigen Cummings und Davies (1994) in ihrem Überblicksartikel, dass Partnerschaftskonflikte bis zu 20% der Varianz von Entwicklungsund Verhaltensstörungen bei Kindern aufklären, ein Anteil, der gegen 50% steigt, wenn die Kinder aggressiven Ehekon-
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Kapitel 5 · Klinisch-psychologische Familienforschung
flikten ausgesetzt sind. Elterliche Konflikte kovariieren bei den Kindern mit typischen Stressreaktionen (wie Schreien, Stupor, gestresster Gesichtsausdruck, körperlich-motorische Zeichen von Stress), Angst oder Besorgnis und physiologischen Reaktionen. Typischerweise können drei Verhaltensmuster beschrieben werden: 4 das besorgte Muster (tritt am häufigsten auf); 4 das zornig-ambivalente Muster (hier zeigen Kinder Ärger und Wut und gleichzeitig Vermeidungsverhalten gegenüber den Eltern), 4 das unresponsive Muster. Bei diesem Rekationsmuster, das insgesamt selten vorkommt, zeigen die Kinder kaum Reaktionen, meiden die Eltern und scheinen eher internalisierend-verdrängend zu reagieren (Cummings u. Davies 1994). Insgesamt können die Reaktionen der Kinder auf die Konflikte der Eltern relativ stark variieren (Davies u. Lindsay 2004), doch insbesondere aggressive Konflikte scheinen negative Auswirkungen auf das Selbstbild der Kinder zu haben (Davies et al. 2006). Während die Zusammenhänge bei Kindern insgesamt relativ homogen sind, ist die Befundlage bei Jugendlichen in Bezug auf direkte und indirekte Auswirkungen von Partnerschaftsstörungen auf das Befinden von Jugendlichen uneinheitlich (z. B. Webster-Stratton et al. 2001). Während Cohn (1991) fand, dass Jungen oft stärker negativ auf aggressive Konflikte der Eltern reagieren und vermehrt aggressives Verhalten zeigen, reagieren Mädchen eher mit Ängstlichkeit und Rückzug. Jedoch konnte dieser Effekt in anderen Studien so nicht dokumentiert werden. Vielmehr zeigten Katz und Gottman (1996), dass es die Art der Konfliktaustragung der Eltern ist, welche das Störungsprofil bei den Kindern vorhersagen lässt. So kovariiert ein aggressiver, hostiler Konfliktstil der Eltern mit mehr externalisierenden Störungen (wie Aggressivität, Hyperaktivität, antisozialem Verhalten) selbst 3 Jahre später. Der Zusammenhang zwischen elterlichen Konflikten und Verhaltensproblemen der Kinder kann heute als empirisch gut dokumentiert bezeichnet werden. Die Metaanalyse von Reid und Crisafulli (1990) zeigt, dass mit einer Effektstärke zwischen d=.20 und .50 ein Zusammenhang zwischen Partnerschaftskonflikten und Verhaltensproblemen der Kinder besteht. Eine weitere Metaanalyse von Buehler et al. (1997) stützt diesen Befund mit einer mittleren Effektstärke von d=.32, wobei diese Analyse nahelegt, dass keine signifikanten Unterschiede zwischen Mädchen und Knaben bestehen. Andererseits zeigen neuere Studien auch, dass nicht nur Partnerschaftskonflikte negative Auswirkungen auf das kindliche Befinden haben, sondern dass umgekehrt auch kindliches Problemverhalten negative Effekte auf die Partnerschaftsqualität der Eltern hat (z. B. O’Connor u. Insabella 1999). Weiter zeigte eine Untersuchung von Cui et al. (2005), dass Veränderungen der Partnerschaftsqualität mit Veränderungen des Problemverhaltens der Kinder kovariieren.
5.6.5 Folgen von Scheidung für die Kinder
Die Scheidung stellt erwiesenermaßen in vielen Fällen eine beachtliche Stressquelle für die betroffenen Kinder dar (z. B. Hetherington et al. 1998), da direkte Folgen der Scheidung (Konflikte der Eltern, Trennung der Eltern, Einschränkung des Kontakts zu einem Elternteil) mit indirekten Folgen – z. B. Verminderung des Einkommens und der familiären Kaufkraft (Amato u. Keith 1991), Veränderung des Wohnorts, Neuaufbau eines Freundesnetzes etc. – kovariieren. Die direkten und indirekten Belastungen, welche eine Scheidung für die Kinder mit sich bringt, sind entsprechend häufig mit Verhaltensproblemen oder affektiven Störungen (Depressionen, Angststörungen, Störungen der Impulskontrolle, Störungen des Sozialverhaltens) korreliert (Perrez 1996). So zeigen etliche Studien, dass Kinder aus Scheidungsfamilien eine negativere Befindlichkeit aufweisen als Kinder aus intakten Familien. Die ungünstigen Auswirkungen der Trennung der Eltern auf die Entwicklung des Kindes können kurz- oder langfristig sein, indem sie sich in vorübergehenden Störungen unmittelbar nach der Scheidung äußern, zu anhaltenden Störungen der Identität und des Selbstwertgefühls des Kindes prädisponieren oder gar mit einer höheren Scheidungswahrscheinlichkeit in der eigenen Ehe im Erwachsenenalter einhergehen. Es ist andererseits jedoch auch nachgewiesen, dass mediierende Prozesse diese Effekte abschwächen können, z. B. positive Erziehung oder ein kontinuierlicher Kontakt zu beiden Elternteilen (Hetherington 1999). Insgesamt zeigt jedoch die Mehrzahl der bis 1990 durchgeführten Studien, dass Kinder aus Scheidungsfamilien niedrigere Werte bezüglich Schulmotivation, schulischen Leistungen, sozialen Verhaltensweisen und generell bezüglich des psychischen und physischen Wohlbefindens erreichen als Kinder aus intakten Familien (Amato 2001; Amato u. Keith 1991; Perrez 1996). Sie weisen häufiger Verhaltensprobleme auf, die externalisierender (z. B. aggressives oder oppositionelles Verhalten, delinquentes Verhalten, Trotzverhalten) oder internalisierender Natur sind (z. B. depressive Verstimmungen, Angststörungen, sozialer Rückzug etc.). Diese Ergebnisse beruhen allerdings meist auf der Grundlage von einzelnen Querschnittstudien oder retrospektiven Vergleichen zwischen Kindern von geschiedenen Eltern mit Kindern aus intakten Familien und sind damit in ihrer Aussagekraft eingeschränkt. Demgegenüber haben die von Amato (2001) oder Amato und Keith (1991) durchgeführten Metaanalysen zur Frage der Scheidungsfolgen bei Kindern ein ganz anderes Gewicht und erlauben eine breiter abgestützte Aussage. Die Ergebnisse dieser Metaanalysen (statistische Analysen, die alle im Kontext der Fragestellung durchgeführten Studien untersuchen und die Ergebnisse synthetisieren) zeigen, dass sich Scheidungskinder von Nichtscheidungskindern in sieben untersuchten Bereichen signifikant unterscheiden, diese Unterschiede sich jedoch nur in geringen Effektstärken niederschlagen (. Tab. 5.1).
91 Literatur
. Tab. 5.1. Unterschiede zwischen Scheidungskindern und Kindern aus intakten Familien Bereich
Unterschiede
Effektstärken 1991a
Effektstärken 2001b
Geringere schulische Leistungen (schlechtere Schulzensuren, negativere Bewertung durch die Lehrpersonen, Intelligenzbeurteilungen)
Scheidungskinder ungünstigere Werte
.16*** (gering)
.16*** (gering)
Negatives Sozialverhalten (Betragensverstöße, aggressives Verhalten)
Scheidungskinder ungünstigere Werte
.23*** (gering)
.22*** (gering)
Emotionales Befinden (Stimmungsschwankungen, Ängste, weniger Lebensfreude)
Scheidungskinder ungünstigere Werte
.08*** (gering)
.21*** (gering)
Selbstbild (niedrigeres Selbstbewusstsein, negativere Selbstwahrnehmung, geringere eigene Kompetenzüberzeugung)
Scheidungskinder ungünstigere Werte
.09*** (gering)
.12*** (gering)
Soziale Anpassung (niedrigere soziale Beliebtheit, schlechtere Integration, Isolierung)
Scheidungskinder ungünstigere Werte
.12*** (gering)
.15*** (gering)
Mutter-Kind-Beziehung (weniger Affektivität und schlechtere Qualität der Interaktion)
Scheidungskinder ungünstigere Werte
.19*** (gering)
–
Vater-Kind-Beziehung (weniger Affektivität und schlechtere Qualität der Interaktion)
Scheidungskinder ungünstigere Werte
.26*** (gering)
–
a Amato u. Keith 1991. b Amato 2001. Effektstärken: 0– .40: geringe Effekte; .41– .80: mittlere Effekte; ≥.81: starke Effekte.
Interessant ist zudem, dass die Verschlechterung der Vater-Kind-Beziehung die stärkste Effektstärke aufweist, auch wenn dieser Effekt statistisch gesehen ebenfalls als eher schwach zu bezeichnen ist. Bemerkenswert ist auch die Stabilität der Effekte zwischen 1991 und 2001 (Amato 2001) (vgl. 7 Kap. III/47).
milie stehen die aufrechterhaltenden pathogenen Verhaltensmechanismen, die es durch die Verhaltensdiagnostik im Einzelfall zu entdecken gilt. Sie sind der Ansatzpunkt für die Intervention.
Zusammenfassung
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Dieses Kapitel stellt die Kennzeichen gestörter Familien und der Paar- sowie Eltern-Kind-Subsysteme, die Ätiologie und aufrechterhaltenden Bedingungen und die Folgen der Störungen dar. Dabei wurden Aspekte berücksichtigt, die für die Charakterisierung der Familie als Gesamtsystem bedeutungsvoll sind, ungeachtet dessen, ob sie dem verhaltenstherapeutischen Ansatz entstammen oder nicht. Es sollten jene Inhalte vermittelt werden, die auch in der verhaltenstherapeutischen Arbeit mit Familien als Wissensbestände vorausgesetzt werden müssen. Die Vorhersage von Störungen (in) der Familie durch Risikofaktoren ist mit dem Faktum konfrontiert, dass zahlreiche bekannte Risikofaktoren in der Regel nicht nur die Familie als Ganzes, sondern auch ihre einzelnen Mitglieder sowie die Subsysteme beeinträchtigen. Je nach Resilienz oder Vulnerabilität werden meist zunächst einzelne Personen in ihrem Funktionieren gestört, mit Auswirkungen auf Subsysteme (Paar und/oder Eltern-Kind-System). Die Vorhersage hat ferner stets auch die protektiven Faktoren mit zu berücksichtigen. Im Zentrum einer klinisch-psychologischen Ätiologiebetrachtung von Störungen (in) der Fa-
Literatur
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92
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Kapitel 5 · Klinisch-psychologische Familienforschung
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5
6
6
Medien und Gewalt Claude Messner
6.1
Einleitung – 96
6.2
Theoretische Grundlagen: Zusammenhang zwischen Gewalt in den Medien und aggressivem Verhalten – 96
6.3
Kurz- und langfristige Einflüsse gewalthaltiger Medien
6.3.1 6.3.2 6.3.3
Fernsehen – 98 Computerspiele – 100 Weitere Medien – 101
6.4
Generelles Aggressionsmodell – 101
6.4.1 6.4.2 6.4.3
Merkmale der Person – 102 Merkmale der Situation – 103 Interne Verarbeitung – 104
6.5
Moderatoren beim Konsum gewalthaltiger Medien auf die Aggression – 106
6.5.1 6.5.2 6.5.3
Eigenschaften der Person – 106 Eigenschaften der Medien – 106 Soziale Umgebung – 107
6.6
Interventionen zur Gewaltprävention – 107 Zusammenfassung und Ausblick Literatur
– 110
Weiterführende Literatur
– 110
– 109
– 98
96
Kapitel 6 · Medien und Gewalt
6.1
6
Einleitung
In dem Spiel »River Raid« hat der Spieler die Aufgabe, gegnerische Flugzeuge und Schiffe abzuschießen. 1984 setzte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) das Spiel auf den Index. Begründet wurde die Indizierung damit, dass das Spielen die Aggression der Spieler erhöhe. Im Jahre 2002 entwickelte der Hersteller eine Version für die Playstation 2 und beantragte daher eine erneute Überprüfung der Indizierung. Diesmal erfolgte eine Freigabe ohne Altersbeschränkung. Dieses Beispiel veranschaulicht, wie in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Gewalt in den Medien zugenommen hat, sondern auch wie die Grenze der Zumutbarkeit von Gewalt für ein Kind in den Medien sich verschoben hat. Auf Kinder und Jugendliche hat virtuelle Gewalt eine gewisse Anziehungskraft und bereitet Spaß. Der Nachteil dieser Spiele ist jedoch, dass sie die Aggression der Spieler erhöhen. Je mehr virtuelle Gewalt ein Kind konsumiert, desto aggressiver ist sein Verhalten. Wie der Konsum von Gewalt in den Medien mit dem aggressiven Verhalten von Kindern und Jugendlichen zusammenhängt, wird im ersten Teil dieses Kapitels beschrieben. Der zweite Teil beschreibt die Prozesse, wie das Beobachten von Gewalt zu aggressivem Verhalten führt. Der dritte Teil nennt Bedingungen, die den Einfluss des Konsums gewalthaltiger Medien auf die Aggression vergrößern oder verkleinern. Der letzte Teil diskutiert Interventionen gegen den Einfluss der Mediengewalt.
6.2
Theoretische Grundlagen: Zusammenhang zwischen Gewalt in den Medien und aggressivem Verhalten
Wie aggressiv ein Kind ist, wird im Wesentlichen geprägt durch die Eltern, die Lehrer, die gleichaltrigen Spielkameraden und die Medien. So hängt die Stärke der Aggression mit der Häufigkeit und der Dauer des Konsums gewalthaltiger Medien zusammen. ! Je häufiger und je länger ein Kind Gewalt in Medien konsumiert, desto aggressiver ist sein Verhalten.
Dieser Zusammenhang ist bei Kindern und Jugendlichen stabil und zeigt sich in einer Vielzahl von Studien. Die Stärke des Zusammenhangs zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien und Aggression schwankt je nach Untersuchung zwischen leicht und mittelstark. Die durchschnittliche Stärke dieses Zusammenhangs ist r=.20 (Paik u. Comstock 1994). Es gibt mindestens sieben Möglichkeiten, wie der Konsum gewalthaltiger Medien und aggressives Verhalten zusammenhängen können. . Abb. 6.1 zeigt diese Varianten in den Modellen 0–6. Modell 0. Theoretisch wäre es denkbar, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien und Aggression gibt. Dieses Modell wird vor allem von denjenigen Personen bevorzugt, die von der Herstellung oder dem Verkauf gewalthaltiger Medien leben (s. Exkurs unter 7 6.3.1). Empirisch zeigt sich jedoch immer wieder ein Zusammenhang (Paik u. Comstock 1994).
Was ist Aggression? Aggression ist ein Verhalten, das eine Schädigung einer anderen Person beabsichtigt. Diese Schädigung geschieht gegen den Willen des Opfers. In der Wissenschaft bezeichnet Aggression immer ein Verhalten. In der Umgangssprache werden auch interne Zustände als Aggression bezeichnet, die einem aggressiven Verhalten vorangehen. Diese internen Zustände sind aggressive Gedanken (z. B. Fantasien über aggressives Verhalten), aggressive Emotionen (Wut, Zorn, Hass, Frust) und eine körperliche Erregung (vgl. Anderson u. Bushman 2002). Diese internen Zustände führen nicht immer zu einem aggressiven Verhalten. In den meisten Situationen gibt es nichtaggressive Alternativen. Versehentliche oder fahrlässige Schädigungen sind keine Aggression. Es handelt sich ebenfalls nicht um Aggression, wenn die Schädigung auf Verlangen passiert (wie beispielsweise in sexuellen oder religiösen Kontexten).
Modell 1. Weniger eindeutig ist jedoch die Richtung des Zusammenhangs. Zum einen kann es sein, dass die Gewalt in den Medien einen kausalen Einfluss auf die Aggression hat (Modell 1). Demnach führt das Konsumieren von Gewalt zu einem Anstieg der Aggression. Bei Modell 1 würde eine Reduktion des Gewaltkonsums zu einer Reduktion der Aggression führen. Für diese Richtung des Effektes sprechen sehr viele Befunde – sowohl experimentelle Studien als auch Langzeitstudien. Modell 2. Es ist jedoch auch die umgekehrte Kausalrichtung denkbar: das Aggressionsniveau einer Person beeinflusst den Konsum gewalthaltiger Medien. Demnach konsumieren aggressive Kinder lieber gewalthaltige Medien als weniger aggressive Kinder. So führt ein Anstieg der Aggression zu einem Anstieg des Konsums von Gewalt. Demnach könnten die Kinder so viel Gewalt konsumieren, wie sie wollten, und es hätte keine negativen Auswirkungen, da die Aggression die Ursache für den Medienkonsum ist. Für die Kausalrichtung von Modell 2 existieren auch vereinzelte Belege, die jedoch von geringer praktischer Relevanz sind, da sich keine Interventionen ableiten lassen. Denn eine Veränderung des Medien-
97 6.2 · Theoretische Grundlagen: Zusammenhang zwischen Gewalt in den Medien und aggressivem Verhalten
gelnde Sorgfaltspflicht der Eltern. Diese führt sowohl zu einem Anstieg des Medienkonsums als auch zu mehr Aggression bei den Kindern. Solche Variablen können in manchen Fällen dazu führen, dass sie zwar statistisch korrelieren, jedoch nicht kausal zusammenhängen. Modell 4 sucht also nach Drittvariablen, die den Zusammenhang alternativ erklären. Tatsächlich gibt es neben der elterlichen Sorgfaltspflicht noch eine ganze Reihe von Variablen, die sowohl die Aggression als auch den Konsum gewalthaltiger Medien beeinflussen. Beispiele sind die Höhe des Familieneinkommens, die Höhe der Gewalt in der Nachbarschaft, der Erziehungsstil und elterliche psychische Erkrankungen. Aber keine dieser Variablen kann den Zusammenhang alternativ erklären. Der Einfluss vom Konsum gewalthaltiger Medien auf die Aggression bleibt bestehen, auch wenn für diese Drittvariablen kontrolliert wird (Johnson et al. 2002). Modell 5. Es gibt auch Drittvariablen, die den Zusammenhang besser verstehen lassen. Diese sog. vermittelnden Prozesse oder Variablen (Mediatoren) beschreiben den Prozess, wie es zu dem Zusammenhang kommt. So bewirkt der Konsum gewalthaltiger Medien nicht direkt eine Steigerung der Aggression. Stattdessen führt der Konsum gewalthaltiger Medien zu einer Steigerung der körperlichen Erregung, einer Senkung der Aggressionstoleranz und zur Aktivierung aggressiver Verhaltensskripte. Diese Variablen bewirken erst den Anstieg der Aggression.
. Abb. 6.1. Es gibt mindestens sieben Möglichkeiten, wie der Konsum gewalthaltiger Medien und aggressives Verhalten zusammenhängen können
konsums hätte dann keine Reduktion der Aggression zur Folge. Modell 3. Dennoch kann es sein, dass beide Kausalrichtungen (Modell 1 und 2) gleichzeitig gelten (z. B. Johnson et al. 2002). Bei Modell 3 führt wie bei Modell 1 eine Reduktion des Konsums gewalthaltiger Medien zu einer Reduktion der Aggression. Wären die kausalen Zusammenhänge so einfach wie in den Modellen 1–3 dargestellt, müsste sich ein starker Zusammenhang zwischen Konsum gewalthaltiger Medien und Aggression zeigen. Tatsächlich findet sich jedoch »nur« ein kleiner bis mittlerer Zusammenhang (r=.20). Dies spricht dafür, dass die Zusammenhänge komplexer sind und noch andere Faktoren einen Einfluss haben. Modell 4. Eine Möglichkeit für einen komplexen Zusammenhang beschreibt Modell 4. Es gibt Variablen, die sowohl einen Einfluss auf den Konsum gewalthaltiger Medien haben als auch auf die Aggression. Ein Beispiel ist eine man-
Modell 6. Neben den Variablen, die den Zusammenhang erklären, gibt es Variablen, die den Zusammenhang stärker oder schwächer machen. Diese Variablen nennt man Moderatoren. Ein Beispiel ist das Geschlecht. Jungen konsumieren häufiger gewalthaltige Medien als Mädchen. Außerdem ist der Einfluss des Medienkonsums auf das aggressive Verhalten bei Jungen größer als bei Mädchen. Neben Eigenschaften der Person können auch Eigenschaften der Medien den Effekt verstärken oder abschwächen. So nimmt die Aggression stärker zu, wenn man sich mit der handelnden Person identifizieren kann.
Die Modelle 0–6 beschreiben den Zusammenhang zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien und der Aggression. Nach den Modellen 0, 2 und 4 hätte der Konsum gewalthaltiger Medien keinen direkten Einfluss auf die Aggression. Demnach müssten auch keinerlei Einschränkung der Medieninhalte und der Konsumdauer erfolgen. Ein sorgsamer Umgang mit den Medien hätte keine Verringerung der Aggression zur Folge. Ein sorgsamer Umgang mit den Medien hätte also nur dann eine Verringerung der Aggression zur Folge, wenn der Konsum der Gewalt einen kausalen Einfluss auf die Aggression hat. Daher haben die meisten Studien das Ziel, Belege für Modell 1, 5 und 6 zu sammeln. Für Modell 1 gibt es mittlerweile sehr viele Belege. Die kurzfristigen und langfristigen Auswirkungen des
6
98
Kapitel 6 · Medien und Gewalt
Konsums von gewalthaltigen Medien auf die Aggression sind in 7 Abschn. 6.3 zusammengefasst. Da die Zusammenhänge zwar stabil, aber nicht besonders groß sind, stellt sich die Frage, welche Prozesse diesen Zusammenhang vermitteln (Modell 5). Diese Prozesse sind in 7 Abschn. 6.4 beschrieben. Die Faktoren, die den Zusammenhang verstärken oder abschwächen (Modell 6) sind in 7 Abschn. 6.5 beschrieben.
Ein Übermaß an Medienkonsum macht dumm, dick, krank und traurig Mit dem Slogan »Ein Übermaß an Medienkonsum macht dumm, dick, krank und traurig« (Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen) oder »Fernsehen macht dick, dumm und gewalttätig« (Spitzer 2005) warnen einige Personen vor einem übermäßigen Medienkonsum, auch unabhängig von gewaltverherrlichenden Inhalten. Denn das Freizeitverhalten hat sich mit dem Aufkommen der neuen Medien drastisch verändert. In Deutschland verbringt ein 10-jähriges Kind im Durchschnitt ca. 2 Stunden pro Tag vor dem Fernseher, dem Computer oder der Spielkonsole (Mößle et al. 2006) – wobei die Varianz sehr groß ist und manche Kinder mehr Zeit mit den Medien als in der Schule verbringen. In dieser Zeit bewegt sich ein Kind wenig, erledigt keine Schulaufgaben und vor allem interagiert es nicht mit Eltern, Geschwistern oder Spielkameraden. Die Möglichkeiten, schulische und soziale Kompetenzen zu erwerben, sind somit eingeschränkt. Der Mangel an sozialen Kompetenzen bewirkt, dass ein Kind nicht ausreichend lernt, adäquat in Konfliktsituationen zu reagieren. Dies bedeutet, dass der Medienkonsum auch ohne gewalthaltige Inhalte zu aggressivem Verhalten führen kann. Bislang gibt es für diese Idee jedoch keine Belege. Nach der Argumentation müssten dann jedoch alle Personen, die viel Zeit mit sich allein verbringen (z. B. mit Lesen, Malen, Schreiben), aggressiver sein als Personen, die viel mit anderen interagieren.
6
6.3
Kurz- und langfristige Einflüsse gewalthaltiger Medien
Es gibt zwei Wege, um einen kausalen Einfluss vom Konsum gewalthaltiger Medien auf aggressives Verhalten nachzuweisen. Den sichersten Nachweis liefern kontrollierte Experimente. In kontrollierten Experimenten werden jedoch nur kurzfristige Effekte untersucht. Denn alle Manipulationen, die zu einem längerfristigen Anstieg der Aggression führen, wären ethisch bedenklich. Für den Nachweis langfristiger Effekte werden daher Längsschnittuntersuchungen im Feld durchgeführt.
Die meisten Studien untersuchen die Effekte von Filmen und Computerspielen. Das Fernsehen von gewalthaltigen Filmen ist das bislang am besten untersuchte Medium und das einzige, zu dem Langzeitstudien veröffentlicht wurden (7 Abschn. 6.3.1). Neuere Studien untersuchen vermehrt gewalthaltige Computerspiele (7 Abschn. 6.3.2). Diese lassen den Konsumenten durch den interaktiven Charakter stärker an der Gewalt teilhaben. Daher liegt die Vermutung nahe, dass Computerspiele mehr Aggression beim Konsumenten erzeugen als das bloße Betrachten gewalthaltiger Filme. Zu anderen Medien gibt es vergleichsweise nur wenige Studien (7 Abschn. 6.3.3).
6.3.1 Fernsehen
Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es experimentelle Studien, die kurzfristige Auswirkungen von Gewalt in den Medien auf das Verhalten untersuchen (s. Exkurs »Bobo Doll« in 7 Abschn. 6.4.1). In einem typischen Design schaut die Hälfte der Kinder einen gewalthaltigen Film und die anderen Kinder einen Film ohne Gewalt. Nach dem Film wird die Aggression der Kinder beim Spielen oder beim Bearbeiten einer Aufgabe beobachtet. So wurden beispielsweise in einer Studie 5-jährige Kinder beim Spielen von zwei Personen beobachtet, die nicht wussten, welchen Film die Kinder zuvor gesehen hatten. Es zeigte sich, dass diejenigen Kinder, die den gewalthaltigen Film gesehen hatten, häufiger andere Kinder schlugen und häufiger mit anderen rauften als Kinder, die den gewaltfreien Film gesehen hatten (Bjorkqvist 1985). Metaanalysen der experimentellen Studien zeigen, dass das Schauen aggressiver Filme zu einem Anstieg von aggressiven Verhaltensweisen führt (Paik u. Comstock 1994). Noch stärker sind die Auswirkungen auf Variablen, die dem aggressiven Verhalten vorausgehen. So steigert das Schauen gewalthaltiger Filme die physiologische Erregung. Der Körper ist also zum Kampf oder zur Flucht bereit. Außerdem erhöht das Schauen gewalthaltiger Filme die Zugänglichkeit zu aggressiven Gedanken. Alle Gedanken, die mit Gewalt zu tun haben, kommen einem nun schneller in den Sinn. Vergangene aggressive Erlebnisse werden besser erinnert und zukünftige, aggressive Verhaltensweisen werden gedanklich durchgespielt. Ähnliches gilt für die Emotionen: Aggressive Emotionen sind nach dem Konsum eines gewalthaltigen Filmes schneller zugänglich. Dies betrifft sowohl die eigenen Emotionen wie auch die Wahrnehmung von Emotionen anderer Personen. Andere Personen werden nun eher als wütend oder zornig wahrgenommen und auch die eigene Wut sowie der eigene Zorn können schneller entstehen (Paik u. Comstock 1994). Der Konsum gewalthaltiger Medien erhöht nicht nur die Aggression, sondern auch die Aggressionstoleranz. Er führt zu einer größeren Akzeptanz von Aggression. Die Schwelle, ab wann ein Kind eine Aggression durch andere
99 6.3 · Kurz- und langfristige Einflüsse gewalthaltiger Medien
nicht mehr toleriert, erhöht sich. So rufen Kinder, die zuvor einen aggressiven Film gesehen haben, später einen Erwachsenen zu Hilfe als Kinder, die einen friedlichen Film gesehen haben (Drabman u. Thomas 1974; Molitor u. Hirsch 1994). Der Fernsehkonsum im Kindes- und Jugendalter hat jedoch nicht nur kurzfristige Auswirkungen. Der Konsum wirkt auch auf die Persönlichkeit und somit langfristig. Die Merkmale der Persönlichkeit entwickeln sich im Kindesund Jugendalter und sind im Erwachsenenalter sehr stabil. Dies verdeutlichen Langzeitstudien mit großen Zeitintervallen. Und so gibt es vereinzelte Belege, dass die Häufig-
keit und Dauer des Konsums gewalthaltiger Filme im Kindesalter einen Einfluss auf die Aggressivität im Erwachsenalter hat. Je häufiger gewalthaltige Filme konsumiert werden, desto eher wird aggressives Verhalten gefördert. Die Stärke der Effekte ist klein. Doch aufgrund der großen Zahl der Betroffenen in einer Population und aufgrund der großen Häufigkeit und Dauer des Medieneinflusses haben diese kleinen Effekte bedeutsame soziologische Folgen (Anderson u. Bushman 2002). Der Schaden für die öffentliche Gesundheit lässt sich mit den durch Zigaretten oder Asbest verursachten Schäden vergleichen (Anderson et al. 2003).
Exkurs Kritik an der bisherigen Forschung Es sind vor allem Personen der Filmindustrie oder Hersteller von Computerspielen, die am Zusammenhang zwischen dem Konsum von Gewalt in den Medien und aggressivem Verhalten zweifeln. Bei Personen, die ihre Aussagen mit wissenschaftlichen Studien belegen, gibt es jedoch kaum Zweifler. Eine Ausnahme ist Freedman (2002). Er kritisiert, dass vor allem Evidenzen für einen Zusammenhang zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien und aggressivem Verhalten gesucht und berichtet werden. Nur selten werden jedoch die methodischen Schwächen der Studien diskutiert. Seine Kritik ist erfrischend und hilft die Studien besser zu verstehen. Auch wenn inzwischen Metaanalysen belegen, dass es auch unter Berücksichtigung dieser methodischen Schwächen einen Zusammenhang zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien und Aggression gibt, so ist diese Kritik dennoch lesenswert. Freedmans Hauptkritik an experimentellen Studien im Labor ist die Dauer der Aggression und die Stärke der Effekte. Die Effekte sind schwach und nach einer Stunde nicht mehr nachzuweisen. Daher stellt Freedman in Frage, ob diese Effekte überhaupt außerhalb des Labors auftreten. Was Freedman kritisiert, ist jedoch gleichzeitig auch erwünscht. Denn Experimente, durch die Kinder langfristig aggressiver werden, wären ethisch nicht vertretbar. Für die Untersuchung langfristiger Effekte bieten sich Längsschnittstudien an. Die von Freedman zitierten Längsschnittstudien suchen nach Zusammenhängen zwischen dem Konsum oder der Vorliebe von gewalthaltigen Filmen im Kindesalter und der Aggression zu einem späteren Zeitpunkt. Die Längsschnittstudien haben in der Regel mehr als zwei Messzeitpunkte und untersuchen mehrere verschiedene Stichproben. Somit ergeben sich mehrere Analysen, die einen Zusammenhang zwischen dem Konsum im Kindesalter und der Aggression im Jugend- oder Erwachsenenalter zeigen können. Alle Längsschnittstudien haben gemeinsam, dass nur wenige Analysen einen Zusammen-
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hang zeigen. Die Mehrheit der Analysen zeigt keinen statistisch bedeutsamen Effekt. Selbst in der am meisten zitierten Studie (Huesmann et al. 1984) zeigt nur eine von drei Analysen bei Jungen einen Effekt zwischen dem Alter von 8 und 18 Jahren und keine der drei Analysen bei den Mädchen. Bei den Mädchen zeigte sich sogar ein umgekehrter Effekt. Alle Analysen des Zusammenhangs zwischen dem Konsum mit 8 Jahren und der Aggression mit 30 Jahren zeigten keine Effekte. Somit liefert diese Langzeitstudie nur bei einer von 18 Analysen einen Nachweis für einen Einfluss des Konsums gewalthaltiger Medien als Kind auf die Aggressivität im Erwachsenenalter. Aber genau dieser eine Nachweis wurde immer wieder zitiert, was zu einer Überbewertung des Ergebnisses führte. Auch in der methodisch saubersten Längsschnittstudie (Multiwave-Studie) zeigt sich nur bei 3 von 15 Analysen ein statistisch bedeutsamer Zusammenhang. Auf den ersten Blick hinterlässt das simple Auszählen von signifikanten und nichtsignifikanten Zusammenhängen den Eindruck entstehen, es würde den Effekt nicht geben. Dies verdeutlicht . Abb. 6.2. Freedman übersieht jedoch, dass die meisten nichtsignifikanten Zusammenhänge
. Abb. 6.2. Zusammenfassung der Kritik von Freedman (2002) an der Interpretation der Langzeitstudien. Die Mehrzahl der Analysen zeigt keine signifikanten Zusammenhänge zwischen dem Konsum gewalthaltiger Filme im Kindesalter und aggressivem Verhalten im Erwachsenenalter
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100
Kapitel 6 · Medien und Gewalt
dennoch in die erwartete Richtung gehen. Es fehlt ihnen lediglich die statistische Power. Hingegen gibt es fast keine Effekte, die in die andere Richtung zeigen; bei denen also durch den Konsum gewalthaltiger Medien die Aggression abnimmt. Metaanalysen, die alle Vergleiche
6.3.2 Computerspiele
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Beim Fernsehen wird Gewalt passiv konsumiert. Bei Computerspielen sind die Spieler aktiv. Hier kämpfen und töten die Spieler per Joystick oder Knopfdruck. Die Aufgaben der Spieler bewegen sich in den meisten Fällen jenseits von moralischen Werten. Dies beginnt mit dem
berücksichtigen, bestätigen hingegen den Zusammenhang zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien im Kindesalter und der Aggressivität im Erwachsenalter (Anderson 2004).
Abschießen von Hühnern (»Mohrhuhn«, frei ab 6 Jahren) und endet mit der Aufgabe, auf möglichst grausame Art und Weise Menschen oder menschenähnliche Kreaturen umzubringen (z. B. »Manhunt«, »Counterstrike«, »Doom«, »Half-Life«). Gewalt übt eine Faszination auf die Spieler aus und scheint ein Verkaufsgarant zu sein.
Exkurs Lernsoftware für gezieltes Töten Beim Computerspielen bereiten virtuelle Handlungen Spaß, die in der realen Welt von den meisten Personen nicht ausgeführt werden können. Es gibt jedoch grausame Ausnahmen. So gab es zum einen in der realen Welt Massaker, die den virtuellen Massakern der Computerspiele ähnlich sind. Zum anderen existieren Computerspiele, die tatsächlich das Ziel haben, die Spieler zum Töten auszubilden. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen sog. Ego-Shooter (auch: »First Person Shooter«) wie beispielsweise »Doom«, »Half-Life« oder »Counter-Strike«. Hier schlüpft der Spieler in die Rolle eines Jägers und sieht das ganze Geschehen aus seiner Perspektive. Die Aufgabe besteht darin, mit Hilfe verschiedenster Waffen menschenähnliche Kreaturen oder Monster zu töten. Mittlerweile sind einige Quellcodes dieser Spiele frei zugänglich, und die Spielumgebung kann leicht angepasst werden. So hat der Amokläufer von Emsdetten (2006) seine Schule in einem Counter-Strike-Level nachgebaut und das Massaker zunächst virtuell verübt, bevor er in der realen Schule wahllos auf Menschen schoss. »Counter-Strike« wurde nicht entwickelt, um aus Kindern Amokläufer zu machen. Auch die Softwarehersteller haben kein Interesse daran, dass irgendjemand das in der virtuellen Welt gelernte Verhalten in der realen Welt
Virtuelles Töten macht manchen Kindern und Jugendlichen Spaß. Bei der hohen Zahl der virtuell verübten Gewalttaten überrascht es, wie wenige dieser Handlungen in der realen Welt imitiert werden. Und es ist daher ein Lieblingsargument von Befürwortern gewalthaltiger Spiele, dass die meisten Spieler zwischen der realen und der virtuellen Welt unterscheiden können. Sie zeigen keine Impulse, wahllos unschuldige Personen abzuschlachten. Dies legt den Schluss nahe, dass die virtuell
wiederholt. Es gibt jedoch Ego-Shooter, die mit dem Ziel entwickelt wurden, die Spieler zum gezielten Töten auszubilden (»Serious Games«, 7 Kap. III/15). Diese Ego-Shooter sind »Counter-Strike« sehr ähnlich. So hat die US Army einen Ego-Shooter zu Rekrutierungs- und Ausbildungszwecken entwickelt (»America’s Army«, frei ab 16). Diese Software kann kostenlos heruntergeladen werden. Hier spielt der Spieler online in einer Gruppe anderer Onlinespieler gegen eine andere Gruppe. Jede Gruppe hat das Ziel, die andere Gruppe zu eliminieren. Für Spieler beider Gruppen erscheinen die Gegner immer als Terroristen. Es ist eine Lernsoftware für skrupelloses, gezieltes Töten. Dieses Computerspiel vermittelt den Eindruck, dass das gelernte Verhalten innerhalb der US Army imitiert werden kann. So ist diese Software zumindest als Rekrutierungsmaßnahme für die US Army äußerst erfolgreich. Wie groß die Gefahr einer Imitation des virtuellen Verhaltens bei extrem grausamen Spielinhalten ist, kann bislang nicht beurteilt werden. Es ist nicht klar, ob die Softwarehersteller Personen imitieren, die wahllos Unschuldige töten, oder ob diese Amokläufer Computerspiele imitieren. Ein kausaler Einfluss eines Computerspiels auf eine direkte Imitation eines virtuellen Massakers in der realen Welt ist kaum nachzuweisen, denn diese Ereignisse sind glücklicherweise selten.
verübte Gewalt keinen Einfluss auf das Verhalten ausübt. Die Studien über gewalthaltige Computerspiele zeigen jedoch ein anderes Bild. Tatsächlich steigt ihnen zufolge die Aggression nach dem Spielen gewalthaltiger Computerspiele an. So prügelten sich Kinder mit Gleichaltrigen häufiger, wenn sie zuvor ein aggressives Computerspiel gespielt hatten, als wenn sie sich mit einem friedlichen Computerspiel beschäftigt hatten (Irwin u. Gross 1995, Bartholow u.
101 6.4 · Generelles Aggressionsmodell
. Abb. 6.3. Größe der Effekte von gewalthaltigen Videospielen auf aggressives Verhalten, prosoziales Verhalten, aggressive Gedanken, aggressive Gefühle und physiologische Erregung. (Nach Daten von Anderson u. Bushman 2001)
Anderson 2002). Gewalthaltige Computerspiele steigern aggressives Verhalten, aggressive Gedanken, aggressive Emotionen, reduzieren das Hilfeverhalten und erhöhen die physiologische Erregung (für einen Überblick siehe: Anderson et al. 2004). Bisher gibt es noch zu wenige Studien, um beurteilen zu können, ob die Effekte tatsächlich stärker sind als beim Fernsehen. Sie sind jedoch mindestens gleich stark, also d=.20. Dies ist statistisch gesehen ein kleiner Effekt. Doch wie beim Fernsehen macht die große Anzahl von Computerspielen diesen Effekt bedeutsam. Einen Überblick der Ergebnisse bisheriger Studien bietet . Abb. 6.3 (vgl. Anderson 2004). Über langfristige Auswirkungen von gewalthaltigen Computerspielen kann momentan nur spekuliert werden, denn bislang liegt noch keine veröffentlichte Langzeitstudie vor.
6.3.3 Weitere Medien
Über den Einfluss von Gewalt anderer Medien sind nur vereinzelte Studien publiziert. Für Lieder gibt es die Theorie, dass sowohl Texte als auch Musik Aggressionen auslösen können. Manche Musik klingt aggressiv. So könnte man meinen, dass das Hören von Rap-Musik oder Heavy Metal zu einem Anstieg der Aggression führt. Alle Versuche, dies zu zeigen, sind bislang jedoch gescheitert (Anderson et al. 2003). Allerdings haben die Liedtexte einen Effekt. Denjenigen Personen, die Liedtexte mit aggressiven Inhalten lesen, sind Wörter mit aggressiven Inhalten leichter zugänglich als Wörter mit friedlichen Inhalten. So ergänzen Personen, die einen gewalthaltigen Liedtext gelesen hatten, das Wortfragment »_iebe« zu »Hiebe« und Personen, die einen friedlichen Liedtext gelesen hatten zu »Liebe« (vgl. Anderson et al. 2003). Über den Einfluss von Gewalt in Nachrichtensendungen oder im Internet gibt es kaum Studien. Hier wird die
Gefahr vergleichsweise gering eingeschätzt. Das Internet enthält zwar extrem grausame Gewaltdarstellungen, und es können gewaltverherrlichende Computerspiele heruntergeladen werden, doch die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche zufällig auf solche Seiten gelangen, ist gering. Allerdings sind sie einfach zu finden, wenn sie danach gezielt suchen. Um dies zu unterbinden, gibt es Filter in den Suchmaschinen, die einen Zugriff auf solche Inhalte sperren. Manche Medienphänomene sind so neu, dass sie noch nicht systematisch untersucht wurden. Ein Beispiel ist das sog. »happy slapping«. Dies bezeichnet das Überraschen von ahnungslosen Personen mit irgendeiner Form der Aggression. Das Quälen von Unschuldigen oder Außenseitern ist kein neues Phänomen. Das Besondere ist, dass diese Szenen in letzter Zeit vermehrt per Handy als Video aufgenommen und verbreitet werden. Inwiefern diese Verbreitung zum Nachahmen animitiert und zu einer kontinuierlichen Steigerung der Gewalt beiträgt, ist bislang nicht untersucht.
6.4
Generelles Aggressionsmodell
Verschiedene Prozesse und Theorien beschreiben den Einfluss des Konsums gewalthaltiger Medien auf die Aggression. Da sich die Theorien und Prozesse nicht widersprechen, wurden sie in einem »generellen Aggressionsmodell« zusammengefasst. Die wichtigsten Elemente sind in . Abb. 6.4 dargestellt (eine ausführliche Beschreibung findet sich bei Anderson u. Bushman 2002 oder Anderson et al. 2004). Das Modell beschreibt, welche Faktoren darüber entscheiden, ob aggressives Verhalten gezeigt wird oder ob die Impulse kontrolliert werden und ein nichtaggressives Verhalten folgt. Diese Faktoren lassen sich in Faktoren der Person, der Situation und der internen Verarbeitung zusammenfassen. Die Faktoren der Person und Situation beeinflussen die in-
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102
Kapitel 6 · Medien und Gewalt
. Abb. 6.4. Die wichtigsten Prozesse des generellen Aggressionsmodells
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ternen Prozesse, welche dann zu Bewertungen und Entscheidungen führen, welche schlussendlich die Art des Verhaltens bestimmen.
6.4.1 Merkmale der Person
Nicht alle Personen sind gleich aggressiv. Wie häufig eine Person aggressiv reagiert und wie stark die Aggressionen ausfallen, hängt von vielen Faktoren ab. Die wichtigsten sind die Lerngeschichte, der Selbstwert und das Geschlecht.
Beispiel Will ein Kind mit dem gelben Spielzeugbagger eines anderen Kindes spielen, kann gewaltsames Entreißen eine erfolgreiche Strategie sein. Angenommen es gibt keine Gegenreaktion, und kein Erwachsener greift ein, war die aggressive Strategie erfolgreich. Die Wahrscheinlichkeit, sich zukünftig auf ähnliche Weise die erwünschten Spielsachen zu besorgen, ist somit gestiegen. Macht das Kind jedoch die Erfahrung, dass diese Strategie nicht zum gewünschten Zustand führt, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung.
Lerngeschichte Ob eine Person in einer Situation aggressiv oder friedlich reagiert, wird durch die Lerngeschichte im Kindes- und Jugendalter geprägt. Das Lernen von Aggression beginnt bereits sehr früh. In manchen Situationen kann ein Kind nur dann mit den erwünschten Spielsachen spielen, wenn es sich gegen andere Kinder durchsetzt. Hierfür sind Aggressionen hilfreich. So ist die Lernerfahrung von der Reaktion des anderen Kindes oder der anderen anwesenden Personen abhängig. Dies gilt auch für komplexere Formen des Lernens. Ein Kind, das häufig aggressive Konfliktlösungen beobachten
kann, ist aggressiver als ein Kind, das häufig gewaltfreie Konfliktlösungen beobachtet. Ein Kind, das viel Gewalt erlebt hat, wird eher aggressiv reagieren als ein Kind, das gewaltfrei groß wurde. Ein Kind, das lernen konnte, die Perspektive eines anderen zu übernehmen, wird seltener mit aggressiven Mitteln seine Interessen durchsetzen, als ein Kind mit geringeren Fähigkeiten zum Perspektivenwechsel. Diese Lerngeschichte des Kindes ist für die Entwicklung der Aggressivität einer Person entscheidend. Die Aggressivität wird am stärksten durch die Eltern, die Geschwister,
103 6.4 · Generelles Aggressionsmodell
die gleichaltrigen Spielkameraden, die Lehrer und andere Betreuungspersonen sowie durch das soziale Umfeld geprägt. Welche Verhaltensweisen zum Erfolg führen, lernt
ein Kind zum einen durch die Beobachtung anderer Personen (s. Exkurs) und zum anderen durch eigene Erfahrungen.
Exkurs Bobo Doll Bobo Doll ist die berühmteste aufblasbare Clownpuppe der Psychologie. Mit Hilfe dieser Puppe demonstrierte Bandura mit seinen Mitarbeitern in einer Reihe von Experimenten, dass aggressives Verhalten allein durch Beobachtung und Imitation gelernt werden kann (für eine Übersicht s. Bandura 1973). Untersucht wurden Kinder im Kindergartenalter. Der Versuchsaufbau war bei allen Experimenten ähnlich (Bandura et al. 1961, 1963). Die Kinder der Experimentalgruppe beobachteten, wie eine erwachsene Person auf Bobo Doll einschlug und jene beschimpfte. Die andere Hälfte der Kinder diente als Kontrollgruppe und beobachtete friedliches Verhalten im Umgang mit der Puppe. Im zweiten Teil des Experimentes wurden die Kinder im Umgang mit Bobo Doll beobachtet. Es zeigte sich, dass einige Kinder der Experimentalgruppe die erwachsene Person imitierten und ebenfalls auf die Puppe einschlugen und sie beschimpften. Die Kinder der Kontrollgruppe zeigten fast nie ein aggressives Verhalten gegenüber Bobo Doll. Im Originalexperiment beobachteten die Kinder das Verhalten der erwachsenen Person direkt. In späteren Experimenten sahen die Kinder einen Film, in dem eine erwachsene Person Bobo Doll schlägt, oder sie sahen ein Zeichentrickfilm, in dem eine Zeichentrickkatze Bobo Doll
Selbstwert Bei dem gewaltsamen Entreißen eines Spielzeuges, um selbst damit zu spielen, dient die Aggression dem Erreichen eines Ziels. Die Schädigung des anderen Kindes ist nicht das Ziel, sondern wird in Kauf genommen, um das Spielzeug zu erhalten. Es gibt jedoch auch Aggressionen, die das Ziel haben, eine andere Person zu schädigen. Der Sieg bzw. die Erniedrigung der anderen Person hinterlässt ein gutes Gefühl, denn der Selbstwert steigt dadurch an. Somit ist Aggression eine geeignete Methode, um den Selbstwert zu erhöhen. Man könnte daraus schließen, dass Personen mit einem geringen Selbstwert daher häufiger Aggressionen zeigen. Das ist jedoch nicht der Fall. Es sind eher die Personen mit einem hohen, jedoch instabilen Selbstwert, die Aggression zur Korrektur des Selbstwerts vornehmlich einsetzen (Baumeister u. Campbell 1999). Es sind die Kinder und Jugendlichen, die sich selbst für die tollsten halten. Diese geraten schnell in Situationen, in denen sie eine Diskrepanz zwischen ihrem überhöhten Selbstbild und der Realität wahrnehmen. Diese Diskrepanz lässt sich durch eine gewaltsame Erniedrigung einer anderen Person zumindest kurzfristig reduzieren. Daher sind Personen mit einem hohen, aber instabilen Selbstwert aggressiver als Personen mit einem stabilen Selbstwert. Eine weitere Strategie zur Auf-
schlägt. Die Kinder imitierten sowohl die Erwachsenen aus dem Film als auch die Zeichentrickfigur. Allerdings imitierten sie das aggressive Verhalten seltener als die Kinder in der Originalstudie. Bandura (1973) kommt nach einer Reihe von Bobo-Doll-Studien zu dem Schluss, dass die Kinder nicht nur das Verhalten, sondern auch die evaluativen Standards, Gedanken und Gefühle der Modelle übernehmen. Die Bobo-Doll-Studien zeigen, dass es Situationen gibt, in denen ein aggressives Verhalten, das in den Medien beobachtet wird, später imitiert wird. Sie zeigen jedoch auch, dass die Eltern eine größere Modellwirkung haben als die Figuren aus den Medien. Verhaltensweisen werden vor allem dann imitiert, 4 wenn das Kind eine gefühlsmäßige Beziehung zu dem Modell hat, 4 wenn das Modell für das Kind wichtig ist und einen hohen sozialen Status besitzt (Eltern, Lehrer, Held), 4 wenn das Kind das Verhalten nachvollziehen kann und in der Lage ist es nachzuahmen, 4 wenn das beobachtete Verhalten für das Kind erfolgreich ist, 4 wenn das Kind für die Imitation des Verhaltens verstärkt wird.
wertung des Selbstwertes ist die Identifizierung mit einem Helden. Daher sind Personen mit einem instabilen Selbstwert nicht nur aggressiver, sondern konsumieren auch lieber gewalthaltige Medien.
Geschlecht Das Entreißen von Spielsachen oder die Identifizierung mit gewalttätigen Helden scheint typisch für Jungen und wirkt eher untypisch für Mädchen. Daher scheinen diese Prozesse auf den ersten Blick bei Jungen stärker zu sein als bei Mädchen. Tatsächlich zeigen Jungen häufiger direkte Formen der Aggression, wie das Besiegen im Kampf. Mädchen zeigen allerdings häufiger indirekte Formen der Aggression. So erzählen sie häufiger Lügen, um andere in Schwierigkeiten zu bringen. Somit gibt es womöglich keinen Geschlechtsunterschied in der Häufigkeit der Aggression, jedoch einen Geschlechtsunterschied in der Art der Aggression (Bjorkqvist et al. 1992).
6.4.2 Merkmale der Situation
Es gibt keine Person, die immer aggressiv ist. Stattdessen sind selbst die aggressivsten Kinder in manchen Situationen
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104
Kapitel 6 · Medien und Gewalt
friedlich und die friedlichsten Kinder in manchen Situationen aggressiv. Auch Merkmale der Situation beeinflussen die Aggression. Zwei sehr bedeutsame Merkmale sind die Norm der Gruppe und die Anwesenheit von aggressiven Hinweisreizen.
Norm der Gruppe
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Ein sehr einflussreiches Merkmal einer Situation ist die Norm der Gruppe. Ist ein Kind in einer Gruppe, die ihm wichtig ist, sind die Normen der Gruppe für das Verhalten wichtiger als die eigenen Normen. Die Gruppennorm wirkt wie eine Spielregel. So wie man sich für gewöhnlich beim Spielen an die Spielregeln hält, halten sich Mitglieder einer Gruppe an die Verhaltensnormen der Gruppe. Ein ansonsten friedfertiges Kind kann in einer Gruppe plötzlich aggressive Verhaltensweisen zeigen, und auch umgekehrt kann ein ansonsten aggressives Kind in einer Gruppe plötzlich friedlich Konflikte lösen. Die eigene Identität wird weniger wichtig, und die soziale Identität bestimmt das Verhalten.
ren Person zu überprüfen, in dem sie ihr für jeden Fehler einen Elektroschock verabreichten. Bei der Hälfte der Versuchspersonen war ein aggressiver Hinweisreiz im Raum (Baseballschläger), bei der anderen Hälfte der Versuchspersonen war ein nichtaggressiver Hinweisreiz im Raum (Badmintonschläger). Sowohl der Baseballschläger als auch der Badmintonschläger hatten mit der Aufgabe der Versuchsperson nichts zu tun, sie befanden sich lediglich im selben Raum. Es zeigte sich, dass die Personen mit dem aggressiven Hinweisreiz längere und stärkere Elektroschocks verabreichten als die Personen mit dem nichtaggressiven Hinweisreiz.
Gewalthaltige Medien enthalten eine Fülle von aggressiven Hinweisreizen. So sind auch das Betrachten eines gewalthaltigen Films, das Spielen eines gewalthaltigen Computerspiels oder das Hören eines Gangster-Raps Merkmale der Situation, die ein aggressives Verhalten wahrscheinlicher machen.
Beispiel So entstehen Massenunruhen in sozial benachteiligten Gebieten typischerweise, nachdem ein Mitglied einer anderen Gruppe (z. B. ein Polizist) versehentlich ein unschuldiges Gruppenmitglied getötet hat oder nachdem ein Mitglied einer anderen Gruppe für eine Tötung eines Gruppenmitglieds der eigenen Gruppe freigesprochen wurde. In Schulklassen finden sich ähnliche Dynamiken in einer harmloseren und spielerischeren Art. Die Schüler einer Klasse stehen typischerweise in Rivalität mit Schülern einer anderen Klasse oder einer anderen Schule. Ein literarisch verarbeitetes Beispiel ist Das fliegende Klassenzimmer (Erich Kästner, 1933).
Für eine ausführliche Beschreibung der Prozesse der Gruppennorm s. Reicher et al. (1995).
Aggressive Hinweisreize Nicht nur die Personen können aggressionssteigernd wirken, sondern auch Gegenstände, wenn sie mit Aggression assoziiert sind. So ist die Anwesenheit einer Waffe ein Hinweis auf Aggression und führt daher bei allen Anwesenden zu einer Steigerung der Aggression.
Beispiel Dies zeigten Berkowitz und LePage bereits 1967 in einem klassischen Experiment. Dabei hatten die Versuchspersonen die Aufgabe, den Lernerfolg einer ande-
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6.4.3 Interne Verarbeitung
Die Merkmale der Person bestimmen, wie stark die Prozesse der internen Verarbeitung aktiviert werden. Ob der Konsum gewalthaltiger Medien zu einem aggressiven Verhalten führt, hängt also von der internen Verarbeitung ab. Der Konsum gewalthaltiger Medien aktiviert im Gedächtnis aggressive Wissensinhalte und aggressive Emotionen und erhöht die physiologische Erregung. Erinnerungen an Gewalt und feindselige Gefühle sind nun leichter zugänglich, ebenso wie Erinnerungen an früheres aggressives Verhalten. Diese erhöhte Zugänglichkeit aggressiver Verhaltensweisen und Gefühle sowie die physiologische Erregung erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass in einer entsprechenden Situation ein aggressives Verhalten gezeigt wird. > Fazit Das generelle Aggressionsmodell macht Vorhersagen für alle aggressiven Verhaltensweisen. Speziell für den Medienkonsum zeigt es zwei Wege, wie der Konsum gewalthaltiger Medien zu einem aggressiven Verhalten führt. Der eine Weg läuft über das Lernen am Modell. Die Kinder beobachten die Verhaltensweisen in den Medien und imitieren sie dann in der realen Welt. Der zweite Weg läuft automatisch: Durch aggressive Hinweisreize in den Medien werden aggressive Gedanken und Gefühle leichter zugänglich, und die körperliche Erregung steigt. Erinnerungen an aggressive Verhaltensweisen kommen daher leichter ins Gedächtnis und werden eher ausgeführt. Gewalt in den Medien erhöht somit die Wahrscheinlichkeit, in einer Situation aggressiv zu reagieren, und verringert die Wahrscheinlichkeit einer gewaltfreien Konfliktlösung.
105 6.4 · Generelles Aggressionsmodell
Exkurs Katharsis – Ein Wort, viele Bedeutungen Es gibt die Theorie, dass der Konsum von Gewalt zu einer Reduktion der Aggression beim Betrachter führt. Diese Idee ist mit dem Begriff der Katharsis verbunden. Doch weder die Verwendung des Begriffs der Katharsis in der Philosophie noch in der Psychoanalyse sagt eine Reduktion der Aggression durch den Konsum gewalthaltiger Medien vorher. Katharsis in der Philosophie. Ursprünglich stammt der Begriff der Katharsis aus der Medizin und bedeutet »Reinigung«. So war sie für Hippokrates eine Reinigung durch die Ausscheidung von etwas Negativem wie z. B. die Ausscheidung eines Sekrets. Auch heute gibt es in der Medizin noch den wortverwandten Begriff »Katarrh«. Bereits die antiken Griechen begannen das Wort Katharsis auch für eine seelische Reinigung zu verwenden. Das Endprodukt einer Katharsis ist in der Philosophie ein sittliches Verhalten, das der Gesellschaft oder dem Staat nutzt. Aristoteles beschrieb, wie eine Tragödie aufgebaut werden muss, damit sie beim Zuschauer eine kathartische Wirkung hat. So beginnt eine griechische Tragödie mit einem Helden, der etwas wagt und anfänglich Erfolg hat. Hier ist die positive Wirkung auf den Zuschauer, dass der Erfolg des Helden den Zuschauer motiviert. Aristoteles spricht von einer Reinigung der Emotion Furcht (»phobos«). In der griechischen Tragödie bricht der Held die Regeln der Götter und wird daher von ihnen bestraft. Hier ist die positive Wirkung für den Zuschauer, dass er am Modell lernt, dass man die Regeln der Götter nicht brechen sollte. Man könnte auch von Abschreckung durch Strafe sprechen. Die reinigende Wirkung wird durch das Mitfühlen des Leides (»eleos«) erzielt. Aristoteles erwartet, dass sich ein Zuschauer durch das Erleben der beiden Emotionen an einem gesunden Mittelmaß orientiert und weder extrem träge noch extrem unsittlich agiert. Dieses richtige Niveau entsteht jedoch nur, wenn die Tragödie dem aristotelischen Aufbau entspricht. Die Katharsis im Sinne Aristoteles’ ist also nicht gleichzusetzen mit einem Rückgang der Aggression. Da der Aufbau der meisten Filme und Computerspiele ein anderer ist, würde Aristoteles wohl weder eine Katharsis noch einen Rückgang der Aggression erwarten. Katharsis in der Psychoanalyse. Sigmund Freud führte den Begriff der Katharsis in die Psychoanalyse ein. In vielen psychoanalytischen Schulen spielt der Begriff der Ka-
tharsis bis heute eine zentrale Rolle. In der Psychoanalyse wird darunter ein Ausleben von angestauten Emotionen verstanden, dem eine reinigende Wirkung zugesprochen wird. In diesem Zusammenhang wird gerne eine Dampfkesselmetapher verwendet. Mit Zunahme des Dampfes in einem verschlossenen Kessel steigt der Druck. Der einzige Weg, diesen Druck zu reduzieren, ist es, den Dampf entweichen zu lassen. Die Idee ist, dass Emotionen sich wie der Dampf verhalten. Wenn Emotionen unterdrückt und nicht ausgelebt werden, steigt der Druck. Eine Erleichterung bringt das Ausleben oder das Phantasieren über das Ausleben der Emotionen. Das Ausleben der eigenen Emotion ist jedoch nicht dasselbe wie das Beobachten eines fremden Verhaltens. Das Beobachten von Aggressionen anderer Personen sollte nicht zu einer Katharsis führen. Der Konsum von gewalthaltigen Medien erleichtert weder das Ausleben der eigenen Wut noch der eigenen Aggression. Aggression macht Spaß Die Idee der Katharsis hält sich hartnäckig in der Literatur. Ein Grund hierfür könnte sein, dass viele Personen eine Art Katharsis aus ihrer eignen Biographie kennen. Viele Personen reagieren, wenn sie wütend sind, durch das Ausleben der Wut und schlagen beispielsweise eine Türe zu. Dieses »Herauslassen« der Wut hat eine positive Wirkung, denn sie fühlen sich danach besser. Doch das gute Gefühl nach dem Zuschmeißen der Türe bedeutet nicht gleichzeitig auch einen Rückgang der Wut. So steigt nach aggressivem Verhalten die Stimmung, doch die Aggression geht nicht zurück (Bushman et al. 2001). Eine bessere Stimmung ist demnach kein Indiz für einen Rückgang an Aggression. Allerdings ist die bessere Stimmung nach einer Tat ein Motiv für erneutes aggressives Verhalten. So gibt es regelmäßig Berichte in den Zeitungen von Jugendlichen, die Langeweile oder die Suche nach einem Kick als Motiv für ihre Aggression angaben (Baumeister u. Campbell 1999). Wird bei der Ausübung einer aggressiven Handlung dieser Kick erlebt, führt dies im Sinne einer positiven Verstärkung zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung. Das Herauslassen der Wut führt jedoch nur bei denjenigen Personen zu einer besseren Stimmung, die an die positive Wirkung glauben (Bushman et al. 2001). Das Motiv, eine bessere Stimmung zu erhalten, könnte auch für den Konsum gewalthaltiger Medien gelten. Das Ziel beim Konsum gewalthaltiger Medien ist, Spaß zu haben und nicht Aggression abzubauen.
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106
Kapitel 6 · Medien und Gewalt
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Moderatoren beim Konsum gewalthaltiger Medien auf die Aggression
Das generelle Aggressionsmodell sagt vorher, dass bei allen Personen, die Gewalt konsumieren, die Aggression ansteigt. Es gibt keine Theorien darüber, dass eine Gruppe von Personen gegen den Einfluss der Gewalt in den Medien immun ist. Allerdings gibt es Unterschiede, wie stark der Einfluss der Gewalt in den Medien auf die Aggression ist. Wie stark die Aggression ansteigt, hängt ab von Eigenschaften des Kindes, von Eigenschaften der Medien und von der sozialen Situation. Eine ausführliche Beschreibung der Moderatoren findet sich bei Anderson et al. 2003.
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6.5.1 Eigenschaften der Person
Die Eigenschaften der Person, die bestimmen, wie sehr die Gewalt in den Medien einen Einfluss auf die Aggression hat, sind im Wesentlichen das Alter, Geschlecht und die generelle Aggressivität. Überraschenderweise hat die Intelligenz keinen Einfluss auf den Zusammenhang. Alter. Der Zusammenhang zwischen dem Konsum ge-
walthaltiger Medien und aggressivem Verhalten ist bei Kindern stärker als bei Erwachsenen. Zum einen haben Kinder eine größere Lernbereitschaft als Erwachsene, und zum anderen können sie zwischen einer Fantasiewelt und der realen Welt noch nicht so gut trennen. In der Fantasiewelt gibt der Held dem Kind Sicherheit und dient manchmal sogar als Vorbild. Geschlecht. Die Helden gewalthaltiger Medien sind meistens auf die Bedürfnisse von Jungen zugeschnitten (Batman, Spiderman, Superman, X-man). Jungen finden Medien mit gewalthaltigen Inhalten nicht nur attraktiver und konsumieren sie häufiger, sie werden von ihnen auch stärker beeinflusst als Mädchen. Aggressivität. Ein ganz ähnlicher Zusammenhang findet
sich bei der Aggressivität. Kinder mit einer hohen Aggressivität werden von der Gewalt in Medien stärker beeinflusst als Kinder mit einer niedrigen Aggressivität. Sie finden Medien mit gewalthaltigen Inhalten attraktiver und konsumieren sie häufiger. Sie identifizieren sich eher mit den aggressiven Figuren und erleben Gewalt eher normativ. Womöglich machen sie dies, um ihr Verhalten zu rechtfertigen (Huesmann et al. 2003). Bei ihnen ist generell die Schwelle für aggressives Verhalten niedrig, und aggressive Verhaltensweisen sind sehr leicht zugänglich. So foulten Kinder bei einem Hockeyspiel nur dann häufiger, wenn sie zuvor einen aggressiven Film gesehen hatten und eine hohe Aggressivität mitbrachten. Sie foulten häufiger als Kinder, die einen friedlichen Film gesehen hatten oder eine niedrige Aggressivität mitbrachten (Josephson 1987).
Intelligenz. Der Einfluss von Gewalt in den Medien auf aggressives Verhalten ist von der Intelligenz des Kindes unabhängig. Sowohl intelligente als auch weniger intelligente Kinder sind gefährdet. Weniger intelligente Kinder sind deswegen gefährdet, weil sie im Durchschnitt mehr fernsehen und Computer spielen als intelligente Kinder. Intelligente Kinder sind gefährdet, weil sie schneller lernen als weniger intelligente Kinder, weshalb sie auf Medien mit aggressiven Inhalten schneller reagieren.
6.5.2 Eigenschaften der Medien
Neben den Eigenschaften der Person gibt es auch Eigenschaften der Medien, die den Einfluss des Konsums auf die Aggression erhöhen. Die Gewalt in den Medien steigert die Aggression stärker, wenn sich das Kind mit den Helden und dessen Gewalt identifizieren kann und kein Mitgefühl mit den Opfern der Gewalt aufkommt. Identifikation mit dem Helden. Filme oder Computerspiele, bei denen sich die Kinder mit den aggressiven Helden identifizieren können, steigern die Aggression. Kinder identifizieren sich mit den aggressiven Helden eher, wenn diese charismatisch sind, Macht haben, attraktiv sind oder wenn sie eine Ähnlichkeit mit dem Kind aufweisen. Identifikation mit der Gewalt. Neben der Identifikation mit dem Helden ist die Identifikation mit der Gewalt bedeutsam. Mit Gewalt, die gerechtfertigt erscheint, kann sich ein Kind stärker identifizieren als mit ungerechtfertigter Gewalt. Ein Beispiel ist die Rechtfertigung der Gewalt als Reaktion auf eine Provokation. Ein weiteres Beispiel ist der Erfolg der Gewalt. Führt die Gewalt zu einem erwünschten Ergebnis, erhält sie den Anschein, sie sei gerechtfertigt. Außerdem fällt die Identifikation mit der Gewalt leichter, wenn sie von Humor begleitet wird. Perspektive des Opfers. Die meisten Kinder würden sich weder mit der Gewalt noch mit einem Helden identifizieren, wenn sie die Perspektive des Opfers erfahren würden. Damit der Konsum von Gewalt in den Medien einen Einfluss auf die Aggressivität hat, sollte möglichst kein Mitgefühl mit dem Opfer entstehen. Daher sind die Opfer meist anonym, und die Folgen der Gewalt für das Opfer werden nicht dargestellt (s. Box).
Mitgefühl mit dem Opfer Betrachtet man die »Killerspiele« und vergleicht sie mit den Berichten von wahllos tötenden Soldaten oder Amokläufern, erkennt man viele Gemeinsamkeiten. Es fällt jedoch auch ein großer Unterschied auf: Der Unter-
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107 6.6 · Interventionen zur Gewaltprävention
schied ist die Perspektive des Opfers. Wie grausam die Gewalt ist, wird in Computerspielen nicht dargestellt. Was die Perspektive des Opfers bewirkt, verdeutlicht folgendes Zitat. Es ist der erste Absatz eines Artikels über wahlloses Töten von Zivilisten durch US-Soldaten. An jenem Tag, der das Leben des US-Sanitäters Michael Harmon für immer verändern wird, ist in der Kleinstadt El Rashidiya nahe Bagdad soeben eine Sprengfalle explodiert. Der 24-Jährige aus Brooklyn sieht, wie seine schießwütigen Kameraden deshalb wild und ziellos in die Gegend ballern. Harmons Blick fällt auf ein zweijähriges Mädchen »mit süßen, kleinen, stämmigen Beinen«. »Das Baby schaute mich an, weinte nicht, tat gar nichts, schaute mich einfach an. Es mag verrückt klingen, aber es war, als wollte sie mich fragen: ›Warum habe ich eine Kugel in meinem Bein?‹ « (Fabian Löhe, 17.07.2007, http://www.focus.de)
6.5.3 Soziale Umgebung
Wie stark ein Kind von der Gewalt in den Medien beeinflusst wird, hängt auch von der sozialen Umgebung ab. Diese wird im Besonderen durch die Kultur und das Verhalten der Eltern bestimmt. Sie haben einen Einfluss darauf, wie gerne ein Kind gewalthaltige Medien konsumiert und wie stark es sich mit dem gewalttätigen Helden identifiziert. Gewaltfreiheit als Kulturgut. Es gibt Kulturen, für die Gewaltfreiheit eine große kulturelle Leistung ist. In diesen Kulturen ist der Einfluss der Medien auf die Gewalt geringer. Ein Beispiel sind die Bewohner eines Kibbuz. Bei ihren Kindern sind zum einem gewalthaltige Medien nicht besonders populär, und zum anderen ist deren Einfluss auf die Aggression gering. Denn sollte ein Kind einen gewalttätigen Helden aus den Medien einmal imitieren oder aufgrund aggressiver Hinweisreize aggressiv reagieren, wird dies vom sozialen Umfeld nicht verstärkt. So ist der Einfluss der Medien für Kinder eines Kibbuz geringer als für Kinder israelischer Vorstädte (Huesmann u. Eron 1986). Die Kultur der Gewaltfreiheit wird den Kindern zu einem großen Teil von den Eltern vermittelt. Eltern. Die Eltern haben den größten Einfluss auf die Aggression der Kinder. Die Eltern entscheiden, ob in einem Kinderzimmer ein Fernseher steht und wie viel Gewalt ihre Kinder konsumieren. Die Eltern haben auch einen Einfluss darauf, wie das Kind einen gewalthaltigen Film oder ein gewalthaltiges Computerspiel verarbeitet. Kinder werden weniger von der Gewalt beeinflusst, wenn die Eltern sich die Zeit nehmen, gemeinsam mit dem Kind die Medien zu konsumieren und dann mit ihnen über die enthaltene Ge-
walt sprechen. In dem Maße, wie die Eltern die Gewalt wieder in ein realistisches Licht stellen, reduziert sich der Einfluss der Gewalt auf das Kind (Singer u. Singer 1986). Somit haben die Eltern die besten Möglichkeiten, der Gefahr der Medien entgegenzuwirken. Allerdings fällt damit der Nutzen der Medien als »effektive Kinderbetreuer« weg. Sozialer Status. Die Sorgfalt der Eltern benötigt Zeit. Arbeitende Personen aus sozial benachteiligten Schichten haben nur wenige Möglichkeiten, diese Zeit aufzubringen oder Personen zu finanzieren, die diese Zeit aufbringen. So konsumieren Kinder aus sozial benachteiligten Schichten mehr Gewalt als Kinder aus sozial privilegierten Schichten. Daher moderiert der soziale Status ebenfalls den Zusammenhang zwischen Gewaltkonsum und Aggression.
6.6
Interventionen zur Gewaltprävention
Der Zusammenhang zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien und aggressivem Verhalten wurde in sehr vielen Studien untersucht. Auch das Interesse an diesem Thema ist beachtlich, es gehört zu den meistzitierten Themen der Psychologie. Dies steht im großen Gegensatz zum Interesse an Interventionen. Nur wenige publizierte Studien setzen sich mit der Effektivität von Interventionen auseinander. Prinzipiell gibt es zwei Formen von Interventionen: Zum einen kann der Staat per Gesetz bestimmte Formen der Gewaltdarstellungen verbieten, und zum anderen können die Eltern und Lehrer die Kinder zu einem kompetenten Umgang mit den Medien erziehen.
Staatliche Interventionen Die einfachste Form der Intervention scheint ein Verbot der Gewalt in den Medien oder eine Einschränkung des Zugangs zu gewalthaltigen Medien durch den Gesetzgeber. Solche Einschränkungen oder Verbote gibt es in den meisten Ländern. So erschweren Jugendschutzbestimmungen den uneingeschränkten Zugang zu gewalthaltigen Medien. In manchen Ländern, wie auch in Deutschland und in der Schweiz, gibt es sogar die Möglichkeit, Medien mit extremer Gewaltdarstellung ganz zu verbieten (z. B. »Manhunt«). Als eine erstaunlich effektive Maßnahme der Gewaltprävention haben sich Einschränkungen im Marketing erwiesen. In den USA ist das Bewerben von Filmen und Spielen, die nur für Erwachsene freigegeben sind, erschwert. Dies hat zur Folge, dass die großen Warenhausketten meist ganz auf den Verkauf verzichten, da ohne Marketing der Umsatz zu gering ist. Gesetzliche Interventionen reduzieren das Angebot und haben somit eine Wirkung. Allerdings schränken sie die Freiheit des Einzelnen ein und betreffen daher in den meisten Ländern nur die extremsten Formen der Gewalt. Je umfassender ein Verbot von gewalthaltigen Medien, desto mehr Personen können nicht mehr das konsumieren, was
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108
Kapitel 6 · Medien und Gewalt
sie gerne möchten. Besser als eine Einschränkung des Angebots ist daher eine Reduktion der Nachfrage. Denn die große Nachfrage nach gewalthaltigen Medien ist der Grund für das große Angebot.
Medienkompetenz Um die Nachfrage nach gewalthaltigen Medien zu reduzieren, sollte eine Intervention das Ziel haben, den Kindern einen kompetenten Umgang mit den Medien beizubringen. Die beste Möglichkeit dafür haben die Eltern. Kinder, deren Eltern auf die Medieninhalte ihrer Kinder achten und nega-
tiv über Gewalt sprechen, haben weniger aggressive Einstellungen als Kinder, deren Eltern weniger sorgsam sind (Nathanson 1999). Diese Kinder lernen den Umgang mit gewalthaltigen Medien. Das Bundesfamilienministerium in Deutschland hat daher die Initiative »Schau hin, was Deine Kinder machen« gestartet (http://www.schau-hin.info). Diese Initiative gibt Anregungen, wie Kinder beim Erwerb eines kompetenten Umgangs mit Medien unterstützt werden können. So wurden für den Umgang mit dem Fernsehen, dem PC und dem Internet jeweils 10 goldene Regeln aufgestellt (s. Übersicht).
10 Goldene Regeln zur Fernsehnutzung
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In vielen Kinderzimmern steht er bereits, der Fernseher. Kleinere Kinder sind fasziniert von den bunten Bildern. Die Älteren suchen Action, Liebesdramen und Sendungen, in denen Wissen vermittelt wird. Wie können Eltern den Fernsehkonsum steuern und mit ihren Kindern darüber reden? SCHAU HIN! mit den zehn goldenen Fernsehregeln. 1. Regeln vereinbaren Vereinbaren Sie mit Ihren Kindern klare Regeln, wann, wie lange und was sie im Fernsehen gucken dürfen und achten Sie auf die Einhaltung der Vereinbarung. Schon aus diesem Grund gehört ein Fernseher nicht ins Kinderzimmer, denn dann ist Kontrolle kaum noch möglich. 2. Gemeinsam fernsehen Der Fernseher eignet sich nicht als Babysitter. Schauen Sie, sooft es geht, gemeinsam mit Ihrem Kind fern. Vor allem Vorschul- und Grundschulkinder benötigen unsere Begleitung. Bekannte Formate und Videos, von denen Sie wissen, dass sie gut zu verkraften sind, können sich die Kinder gelegentlich auch allein ansehen. 3. Über Erlebnisse sprechen Achten Sie auf die Signale Ihres Kindes beim Fernsehen und gehen Sie darauf ein. Und seien Sie nicht irritiert, wenn Ihr Kind beim Fernsehen spricht oder im Zimmer umherläuft. Hierdurch verarbeitet es die Fernseherlebnisse. 4. Fernsehen ist kein Druckmittel Das Fernsehen sollte nicht als Mittel für Belohnung und Strafe eingesetzt werden. Dem Medium wird dabei eine Bedeutung verliehen, die mit dem eigentlichen Grund der Bestrafung (z. B. das Zimmer wurde nicht aufgeräumt) nichts zu tun hat, und das Interesse am Fernsehen wird durch das Verbot noch gesteigert. 5. Kritische Nutzung Versuchen Sie, Ihre Kinder dabei zu unterstützen, das Fernsehen selbstständig und kritisch zu nutzen. Helfen Sie ihnen, Werbung und Programme klar von einander zu trennen. Sie sollten mit ihnen auch über Gewaltdarstellungen sprechen.
6. Den Tagesablauf nicht diktieren lassen Lassen Sie sich Ihren Tagesablauf nicht von der »Flimmerkiste« diktieren. Möchten Sie oder Ihre Kinder gar nicht auf eine Sendung verzichten, gibt es ja noch den Video- oder DVD-Rekorder. Es besteht kein Grund, alles stehen- und liegenzulassen. 7. Vorbildfunktion Überdenken Sie als Vorbild für Ihre Kinder Ihr eigenes Fernsehverhalten. Zappen Sie oberflächlich oder wählen Sie Programme bewusst aus? Lassen Sie den Fernseher oft nebenbei laufen? Besser ist es, den Fernseher zu einer bestimmten Sendung einzuschalten und danach wieder abzuschalten. 8. Erfahrungsaustausch Ihr Einfluss auf Ihr Kind verändert sich mit zunehmendem Alter: Kinder orientieren sich dann verstärkt an Freunden, Freundinnen und anderen Gleichaltrigen, mit denen sie ihre Zeit verbringen. Tauschen Sie sich deshalb mit anderen Eltern z. B. über die Themen Fernsehkonsum, TV-Werbung oder Gewaltdarstellungen aus. 9. Kein schlechtes Gewissen Kinder brauchen das Fernsehen genauso wie die Erwachsenen: um sich zu informieren und zu lernen, um abzuschalten, um sich unterhalten zu lassen, um eine eigene Fantasiewelt zu entwickeln. Haben Sie kein schlechtes Gewissen, wenn Ihr Kind nicht nur »pädagogisch wertvolle« Sendungen guckt. Oder dass es überhaupt fernsieht, anstatt mit anderen Kindern »sinnvoll« zu spielen. 10. Auch mal abschalten Achten Sie darauf, dass Sie und Ihr Kind auch noch Zeit für Spiele, Sport sowie Freunde und Freundinnen haben. Fernsehen sollte auf keinen Fall die einzige gemeinsame Tätigkeit Ihrer Familie sein. Und umgekehrt sollte einem Kind das Fernsehen nicht grundsätzlich verboten werden. Es muss lernen, sich in einer Welt zurechtzufinden, die sehr stark durch Medien bestimmt ist. Finden Sie das richtige Mittelmaß: Verteufeln Sie das Fernsehen nicht, aber haben Sie auf jeden Fall ein Auge darauf, was sich Ihr Kind anschaut.
109 Zusammenfassung und Ausblick
10 Goldene Regeln für die PC-Nutzung Es sind die Eltern, die in Sachen PC Nachhilfeunterricht brauchen. Während ihre Kinder mit Leichtigkeit durchs Netz surfen und sich immer schnellere Rechner wünschen, holen die Eltern nur langsam auf. Trotzdem können sie die Kinder beim Umgang mit dem PC unterstützen. Wie? SCHAU HIN! mit den zehn goldenen Regeln: 1. Klare Regeln Vereinbaren Sie mit Ihrem Kind klare Regeln und Zeiten zur Computernutzung. Achten Sie auf die Einhaltung dieser Abmachung. 2. Kenntnis der Spiel- und Lernsoftware Machen Sie sich selbst mit Spiel- und Lernsoftware vertraut, um Ihrem Kind geeignete Spiele nahebringen zu können. Beschreibungen und Einschätzungen zu den wichtigsten PC-/Konsolenspielen finden Sie in der Zeitschrift Spiel- und Lernsoftware pädagogisch beurteilt. 3. Alterskennzeichnung Achten Sie bei Computer- und Bildschirmspielen auf die Alterskennzeichnung nach dem Jugendschutzgesetz. Sie dient Ihnen als Orientierungshilfe. Über die Altersfreigabe können Sie sich bei der USK (Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle) informieren. 4. Gemeinsam spielen Ab und zu sollten Sie gemeinsam mit Ihrem Kind spielen. Sprechen Sie mit ihm über gute und schlechte Spiele. Lassen Sie sich von ihrem Kind die PC-Spiele erklären, die es gerne nutzt. Ihr Kind wird stolz sein, auch Ihnen einmal etwas beibringen zu können. 5. Beobachten Beobachten Sie, mit wem, wo und wie oft Ihr Kind Computerspiele nutzt.
Zusammenfassung und Ausblick Es gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Konsum von gewalthaltigen Medien und aggressiven Gedanken, Emotionen und Verhalten. Die stärksten Effekte zeigen sich in kontrollierten Experimenten direkt nach dem Medienkonsum. Diese kurzfristigen Effekte sind Grund genug, um auf einen verantwortungsvollen Medienkonsum zu achten. Neben diesen kurzzeitigen Effekten gibt es jedoch auch Langzeiteffekte. So hat der Konsum gewalthaltiger Medien als Kind einen Einfluss auf die Aggression als Erwachsener. Diese Langzeiteffekte sind zwar klein, doch aufgrund der großen Zahl der Betroffenen in einer Population und aufgrund der großen Häufigkeit und Dauer des Medieneinflusses, haben diese kleinen Effekte enorme soziologische Folgen. Es ist eine Herausforderung der nächsten Jahre, den Umgang mit den neuen Medien zu lernen. Die Einschrän-
6. Ego-Shooter Insbesondere bei den sog. Ego-Shootern sollten Sie auf die Alterskennzeichnung achten. Kinder und jüngere Jugendliche können im Umgang damit überfordert sein. Insbesondere Kinder im Vor- und Grundschulalter können noch nicht klar zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. 7. LAN-Parties Wenn Ihr Kind zu einer LAN-Party (LAN = Local Area Network) gehen möchte, erkundigen Sie sich beim Veranstalter, welche Spiele dort gespielt werden, wie viele Kinder teilnehmen, wer die Aufsicht führt. Auch bei einer LAN-Party müssen die Alterskennzeichnungen der USK beachtet werden. Fragen Sie Ihr Kind, was es an diesen Treffen gut findet. Ob Sie Ihrem Kind die Teilnahme erlauben, müssen Sie im Einzelfall entscheiden, denn niemand kennt Ihr Kind besser als Sie! 8. Kein Missbrauch des Computers Benutzen Sie den Computer nicht als Belohnungs- oder Bestrafungsmittel und missbrauchen Sie ihn nicht als Babysitter. 9. Erfahrungsaustausch Tauschen Sie sich mit anderen Eltern über Ihre Beobachtungen und Erfahrungen zu Computer- und Videospielen aus. 10. Ausgleich Sorgen Sie für geistigen und körperlichen Ausgleich zum Computer und bieten Sie Ihrem Kind attraktive Alternativen an.
kungen der Gewalt in den Medien durch den Gesetzgeber betreffen nur die extremsten Formen der Gewalt. Durch ein Verbot lernt ein Kind jedoch nicht einen sorgsamen Umgang mit der Gewalt. Diesen kann es nur lernen, wenn Eltern beim gemeinsamen Medienkonsum die beobachtete Gewalt thematisieren. Das Einbeziehen der Eltern hat womöglich noch einen weiteren Vorteil. Größer als der Einfluss des Konsums gewalthaltiger Medien auf die Aggression eines Kindes ist der Einfluss der Eltern. Kinder, die Gewalt in der Familie erleben, sind aggressiver als Kinder, die gewaltfrei aufwachsen. Wenn es gelänge, Eltern davon zu überzeugen, Verantwortung dafür zu übernehmen, dass ihr Kind einen sorgsamen Umgang mit Gewalt in den Medien erlernt, so würde dies möglicherweise auch die Bereitschaft der Eltern erhöhen, in sozialen Konflikten gewaltfreie Lösungen zu suchen. Es kann also sein, dass die positive Wirkung der elterlichen Verantwortung für einen sorgsamen Umgang mit Gewalt in
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110
Kapitel 6 · Medien und Gewalt
den Medien größer ist als die negativen Folgen der Gewalt in den Medien.
Literatur
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7
7
Klassifikation psychischer Störungen Andrea Suppiger, Silvia Schneider
7.1
Einleitung – 112
7.2
Das Störungskonzept im Kindes- und Jugendalter – 112
7.2.1 7.2.2
Definition von Klassifikation – 112 Gütekriterien der diagnostischen Klassifikation
7.3
Klassifikationssysteme
7.3.1 7.3.2 7.3.3
Entwicklungsstadienspezifische Klassifikation – 116 Multiaxiale Klassifikation – 118 Operationalisierte psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter (OPD-KJ) – 120
7.4
Ausblick
Literatur
– 114
– 121
Zusammenfassung
– 114
– 121
– 121
Weiterführende Literatur
– 122
112
Kapitel 7 · Klassifikation psychischer Störungen
7.1
7
Einleitung
Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter sind häufig: 20% der Kinder und 25% der Jugendlichen und jungen Erwachsenen weisen mindestens eine akute psychische Störung auf. Meist »verschwinden« solche Störungen nicht einfach, sondern bleiben bis ins Erwachsenenalter bestehen. Zudem hat sich gezeigt, dass psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter einen Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen im Erwachsenenalter darstellen. Um belastende Einbußen an Lebensqualität der Kinder respektive Jugendlichen und deren Familien und zugleich langfristig volkswirtschaftliche Kosten zu vermindern, ist Früherkennung von psychischen Auffälligkeiten von großer Bedeutung. Zur sinnvollen Einordnung der beobachteten Phänomene und für die Gewährleistung einer Verständigung zwischen einzelnen Fachpersonen sind einheitliche Klassifikationssysteme unerlässlich. Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass die Erkenntnisse aus der empirischen Forschung zu psychischen Störungen im Erwachsenenalter auch auf das Kindes- und Jugendalter zutreffen. Verfahren und Klassifikationssysteme, die ursprünglich für das Erwachsenenalter entwickelt und überprüft worden waren, wurden mit nur geringfügigen Ergänzungen und ohne Überprüfung der psychometrischen Gütekriterien auch bei Kindern angewendet. In diesem Kapitel sollen die Besonderheiten der diagnostischen Klassifikation im Kindes- und Jugendalter aufgezeigt werden. Verschiedene Systeme zur Klassifikation von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen, insbesondere auch für das Säuglings- und frühe Kindesalter, werden vorgestellt. Eine ausführliche Darstellung der allgemeinen Aspekte von Klassifikationssystemen befindet sich 7 Kap. I/10.
7.2
Das Störungskonzept im Kindesund Jugendalter
Lange Zeit wurden psychische Störungen und Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter wenig wissenschaftlich untersucht, da allgemein die Ansicht herrschte, dass sich diese im Laufe der Zeit von alleine »auswüchsen« (Schneider 2000). Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in diesem Bereich eine eigenständige Wissenschaft. Von Psychiatriehistorikern im deutschsprachigen Raum wird die Loslösung der Kinder- von der Erwachsenenpsychiatrie mit dem 1887 erschienenen Lehrbuch Die psychischen Störungen des Kindesalters vom Freiburger Psychiater Emminghaus in Verbindung gebracht (Knölker et al. 1997). Emminghaus beschäftigte sich mit der »Psychose des Kindesalters«, die er mit »Seelen- und Geistesstörung« gleichsetzte. Gleichzeitig betonte er, dass neben psychischen Störungen im Kindesalter immer auch nicht krankhafte Entwicklungsvarianten in Betracht gezogen
werden müssten. Diese Unterscheidung wird auch heute noch als bedeutsam erachtet. So z. B. sind Ängste im Kindesalter weit verbreitet und für bestimmte Entwicklungsphasen nicht weiter bedenklich. Gehen sie aber über das normale Maß hinaus oder führen sie zu deutlichem Leidensdruck oder Beeinträchtigung des Kindes, ist es wichtig, diese als psychische Störungen zu erkennen und zu behandeln. Die Einschätzung hinsichtlich der klinischen Relevanz von Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten setzt grundlegende Kenntnisse über Variabilität und Erscheinungsformen typischer Entwicklungsphänomene voraus. Nur so kann die Bedeutung einer individuellen Abweichung adäquat beurteilt werden. Bei der Einstufung von Verhaltens- und Erlebensweisen als normal oder abnormal spielen zudem soziale Normen und kulturelle Aspekte eine wichtige Rolle. Ob und welche psychische Störung diagnostiziert wird, hängt auch stark vom angewendeten Störungsmodell ab. Eine allgemeingültige Definition für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter existiert in der neueren Literatur nicht. Bei der Entwicklung der heute gängigen Klassifikationssysteme spielen die Erkenntnisse zum Störungskonzept bei Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle. ! Nach Steinhausen (2002) liegt eine psychische Störung dann vor, wenn das Verhalten und/oder Erleben eines Kindes oder Jugendlichen unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren (z. B. Alter, Geschlecht, Erwartungen der Gesellschaft, Art und Ausmaß der Auffälligkeiten) abnormal ist und/oder zu einer Beeinträchtigung führt (z. B. durch persönliches Leiden, soziale Einengung, Behinderung der Entwicklung, Auswirkungen auf Dritte).
7.2.1 Definition von Klassifikation
Der Begriff Klassifikation wird nach Häcker u. Stapf (1998) als Ergebnis und Umsetzung eines Abstraktionsvorganges definiert, bei dem eine Menge nach bestimmten Gesichtspunkten und unter Vernachlässigung irrelevanter Nuancen und Details in Teilmengen aufgegliedert wird. Das Ziel von Klassifikationssystemen bei Erwachsenen – wie auch bei Jugendlichen und Kindern – ist, die große Zahl klinischer Bilder nach übergeordneten Gesichtspunkten der Ähnlichkeit zu gruppieren und dadurch auf eine überschaubare Menge typischer Symptomkonstellationen zu reduzieren (Esser 2003). Diese Einteilung kann auf der Grundlage einzelner Symptome, anhand von Syndromen oder auch nosologisch erfolgen, wobei bei letzterem Verlauf, Ansprechen auf Behandlungsmaßnahmen sowie Ätiologie und Pathogenese von Bedeutung sind.
113 7.2 · Das Störungskonzept im Kindes- und Jugendalter
! Das Ziel von Klassifikationssystemen ist, die große Zahl klinischer Bilder nach übergeordneten Gesichtspunkten der Ähnlichkeit zu gruppieren und dadurch auf eine überschaubare Menge typischer Symptomkonstellationen zu reduzieren.
Warum wir klassifizieren Einteilungen wie klein – groß, gut – böse, dick – dünn oder gut – schlecht zeigen, dass wir alle ständig Klassifikationen vornehmen. Wahrscheinlich hat es sich in der Stammesgeschichte des Menschen als nützlich erwiesen, rasch zwischen polarisierten Kategorien zu unterscheiden: Freund oder Feind, giftig oder genießbar, schnell oder langsam. Die Welt in kategoriale Ordnungen zu gliedern, war eine besondere Leidenschaft im 18. Jahrhundert, als im Rahmen der Wissenschaftsentwicklung viele heute noch gültige Ordnungen im Bereich der Tiere, Pflanzen oder Krankheiten geschaffen wurden. Verschiedene Experimente haben gezeigt, dass Lernvorgänge im Gehirn bevorzugt über die Kodierung von Kategorien stattfinden und nicht von Einzelreizen abhängen. Dies führt dazu, dass wir die Welt erst in grobe Einheiten einteilen, um uns möglichst rasch orientieren zu können. Erst danach leisten wir uns den Luxus einer detaillierten Unterscheidung. Klassifikationen respektive Einordnungen in ein System sind aber nicht immer unbedenklich, vor allem dann nicht, wenn sie unbewusst oder implizit erfolgen. Gerade bei der Zuordnung psychischer Symptome zu psychischen Störungskategorien besteht die Gefahr, intuitive Klassifikationen aufgrund klinischer Erfahrung vorzunehmen, die der Gefahr einer »Bestätigungsdiagnostik« Vorschub leisten. So werden etwa hypothesenkonforme Informationen zur Bestätigung des Verdachts auf eine Zwangsstörung aktiv gesucht oder bevorzugt wahrgenommen, während Informationen, die gegen die Verdachtsdiagnose sprechen, nicht aktiv aufgesucht oder gar verleugnet werden. Da wir sowieso ständig klassifizieren, sollten wir uns auf explizite, reliable und valide Klassifikationssysteme und -kriterien einigen, wie dies die großen Klassifikationssysteme ICD und DSM tun. Bei einer so vorgenommenen Klassifikation überwiegen die Vorteile des Klassifizierens – v. a. schneller Zugriff auf ätiologisches und therapeutisches Störungswissen – klar gegenüber den möglichen Nachteilen – Reduktion von Informationen, Reifikation künstlicher Einheiten etc. (7 Kap. I/10).
Kategorialer vs. dimensionaler Ansatz zur Erfassung psychischer Störungen Psychische Störungen können kategorial oder dimensional erfasst werden. Der kategoriale Ansatz folgt dem Allesoder-Nichts-Prinzip, wobei immer eine Entscheidung für
oder gegen eine Klasse gemacht werden muss. Die Frage lautet demnach immer: Liegt eine psychische Störung respektive ein bestimmtes Verhalten vor? Ja oder nein? Eine bestimmte Kategorie zeichnet sich dabei durch eindeutige Ein- und Ausschlusskriterien aus, wobei zwischen verschiedenen Kategorien hinreichend qualitative Unterschiede bestehen müssen, um eine Aufteilung in verschiedene Klassen zu rechtfertigen. Kategoriale Modelle dienen vor allem dem Kliniker, da sie eine 4 sinnvolle Informationsreduktion darstellen, 4 eine klar definierte Nomenklatur bieten, 4 die Kommunikation erleichtern und verbessern 4 und darauf aufbauend einen schnellen Zugriff auf ätiologisches und therapeutisches Störungswissen ermöglichen. Die Entwicklung kategorialer Klassifikationssysteme zur Erfassung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter hat wesentlich dazu beigetragen, einzelne Störungsbilder untereinander abzugrenzen und die Verständigung über klinische Sachverhalte zu erleichtern. Im Gegensatz zum kategorialen Ansatz geht der dimensionale Ansatz davon aus, dass sich psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten nicht eindeutig von »normalem« Verhalten abgrenzen und sich keine eindeutig voneinander unterscheidbaren Klassen definieren lassen. Vielmehr wird angenommen, dass den beobachteten Phänomenen bestimmte Dimensionen zugrunde liegen, auf denen die Beobachtungen kontinuierlich verteilt sind (von unauffällig zu auffällig oder von gesund zu krank). Die feststellbaren Unterschiede sind dabei vor allem quantitativer Natur, so dass es keine klare Trennung zwischen den beiden Polen gibt. Das »Psychopathologische Befund-System für Kinder und Jugendliche« (Cascap-D; Döpfner et al. 1999) sowie Fragebogenverfahren wie z. B. die »Child Behavior Checklist« (CBCL/4–18; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998) sind auf dieser Basis konstruiert (7 Kap. III/8). Als Beispiel für eine Kombination aus kategorialem und dimensionalen Klassifikationsansatz sei das deutschsprachige strukturierte Interview zur Erfassung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter (Kinder-DIPS) von Schneider et al. (2009) erwähnt. Das Kinder-DIPS besteht aus einer Kinderversion zur direkten Befragung des Kindes bzw. Jugendlichen sowie einer parallelen Elternversion zur Befragung eines Elternteils oder einer anderen Bezugsperson (weitere Ausführungen 7 Kap. III/8). Über die Erfassung der für das DSM-IV-TR (Sass et al. 2003) notwendigen Symptome hinaus (kategorialer Ansatz) werden zahlreiche Symptome nach ihrer Auftretenshäufigkeit oder Intensität auf Ratingskalen beurteilt (dimensionaler Ansatz). Zudem wird der Grad der Beeinträchtigung durch die Symptomatik sowie der Ausprägungsgrad der Störung (Skalierung von 1–8, wobei Werte >4 als klinisch relevant zu bewerten sind) unter Berücksichtigung des klinischen Urteils des
7
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7
Kapitel 7 · Klassifikation psychischer Störungen
Diagnostikers eingeschätzt. Im Vergleich zum kategorialen Ansatz, bei dem eine Diagnose bei knapper Nichterfüllung der Kriterien ausgeschlossen werden muss, können mit Hilfe des dimensionalen Ansatzes auch subklinische Fälle erfasst werden. So z. B. kann im Kinder-DIPS eine ADHS (mit Schweregrad 3) als subklinisch vergeben werden, wenn trotz Behandlungswunsch und großem Leidensdruck nur fünf der mindestens sechs geforderten Symptome von Unaufmerksamkeit gegeben sind und somit streng gesehen die Diagnosekriterien für diese Störungsklasse nicht erfüllt wären. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass die Erfassung subklinischer Fälle im klinischen Alltag von Bedeutung ist. So haben Angold et al. (1999) nachgewiesen, dass 9,4% der auffälligen Kinder, denen keine kategoriale Diagnose zugeteilt werden konnte, deutliche Beeinträchtigungen im Alltag aufweisen. Zudem hat sich gezeigt, dass subklinische Phänomene klinischen Störungskategorien vorausgehen (Costello et al. 1996). > Fazit Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass insbesondere im klinischen Alltag sowohl das kategoriale als auch das dimensionale Vorgehen seinen Stellenwert in der Erfassung von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen hat. Soll z. B. die Kostenträgerschaft für eine therapeutische Intervention sichergestellt werden, ermöglicht die klassifikatorische Diagnostik die eindeutige Ermittlung und Kommunikation von behandlungsbedürftigen Störungsbildern. Auf der anderen Seite ermöglicht das dimensionale Vorgehen eine differenziertere Abstufung einer Störungsausprägung, was z. B. bei der Dokumentation eines Therapieverlaufes von Bedeutung ist.
7.2.2 Gütekriterien der diagnostischen
Klassifikation Die Voraussetzungen an die diagnostische Klassifikation psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters sind weitgehend vergleichbar mit denen des Erwachsenenalters, die in 7 Kap. I/10 beschrieben sind. Wie andere diagnostische Prozesse sollte die Klassifikation objektiv, reliabel, valide und ökonomisch sein. Bei der Überprüfung der Gütekriterien von Klassifikationssystemen psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters sind jedoch einige Punkte speziell zu beachten. Eine Besonderheit ist die Tatsache, dass für die Diagnosestellung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter in der Regel die zu erfassenden Symptome über die Eltern bzw. Bezugspersonen und das Kind exploriert werden. Ein Problem dabei ist jedoch, dass sich die Angaben von Eltern und Kindern zu Art und Häufigkeit kindlicher Symptome teilweise stark unterscheiden (Schneider et al. 1995). Hinzu kommt, dass für den Umgang mit der mangelnden Eltern-Kind-Übereinstimmung kein
verbindlicher goldener Standard existiert und somit nicht geklärt ist, wie die unterschiedlichen Informationen von Eltern und Kind in Abhängigkeit der einzelnen Störungsbilder am besten gewichtet werden. Dass sich hieraus erhebliche Probleme für die Bestimmung der Validität und Reliabilität von Krankheitsentitäten im Kindes- und Jugendalter ergeben, erscheint evident. Eine weitere Herausforderung an die Klassifikation psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters sind die für diese Altersstufe typischen Veränderungen in der sozialen, kognitiven und emotionalen Entwicklung. Dabei wirft der Entwicklungsaspekt die Frage nach der Notwendigkeit von verschiedenen, altersabhängigen Klassifikationssystemen auf, was die Überprüfung der Gütekriterien zusätzlich aufwendiger macht. ! Besondere Herausforderungen für die Klassifikation psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters stellen 4 die mangelnde Übereinstimmung von Eltern und Kind im Symptombericht 4 sowie die Veränderung psychischer Störungsbilder in Abhängigkeit vom Lebensalter der Kinder und Jugendlichen dar.
7.3
Klassifikationssysteme
Die am häufigsten eingesetzten Klassifikationssysteme zur Erfassung psychischer Störungen im Erwachsenenund im Kindes- und Jugendalter sind das »Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen« (DSMIV-TR, Sass et al. 2003) sowie die »Internationale Klassifikation Psychischer Störungen« (ICD-10, World Health Organisation 1991), wobei letztere von Remschmidt et al. (Remschmidt et al. 2006) geringfügig modifiziert wurde, um sie an die diagnostische Praxis im Bereich der klinischen Kinder- und Jugendpsychologie anzupassen. Im Gegensatz zu früheren Versionen stimmen die derzeitigen Fassungen von ICD-10 und DSM-IV-TR in großen Teilen überein. Beide Systeme enthalten sich weitgehend ausschließende Kategorien und haben das Ziel, unterschiedliche Störungsbilder und deren diagnostische Kriterien gegeneinander abzugrenzen. Ein wesentliches Merkmal der beiden Klassifikationssysteme ist dabei der deskriptive Ansatz, bei dem sich die Diagnosekriterien vor allem auf beobachtbare Merkmale einer Störung beziehen und hinsichtlich Ätiologie und Pathogenese weitgehend atheoretisch sind, da in dieser Hinsicht bei psychischen Störungen insbesondere auch im Kindes- und Jugendalter kein Konsens vorliegt. Der Aufbau und die Bedeutung verschiedener Störungsmerkmale für die Klassifikation psychischer Störungen nach DSM-IV-TR- und ICD-10-Diagnosekriterien ist in der folgenden 7 Übersicht dargestellt.
115 7.3 · Klassifikationssysteme
Aufbau der DSM-IV-TR und ICD-10-Diagnosekriterien Hauptmerkmal der Störung 4 Beispiel: Die soziale Phobie (DSM-IV-TR: 300.23) äußert sich als eine ausgeprägte und anhaltende Angst vor einer oder mehreren sozialen oder Leistungssituationen, wobei die Person befürchtet, ein peinliches oder demütigendes Verhalten oder Angstsymptome zu zeigen. 4 Beispiel: Bei der generalisierten Angststörung des Kindesalters (ICD-10: F93.80) stehen intensive Ängste und Sorgen, die sich auf mindestens einige Ereignisse und Aktivitäten beziehen und an der Mehrzahl der Tage während mindestens sechs Monaten auftreten, im Vordergrund.
Weitere Kriterien zur Beschreibung der Störung Klinische Relevanz: Anzahl Symptome 4 Beispiel: Bei der posttraumatischen Belastungsstörung (DSM-IV-TR: 309.81) müssen mindestens zwei von fünf Symptomen, die auf ein erhöhtes Arousal hinweisen, vorhanden sein. 4 Beispiel: Bei einer Dysthymia (ICD-10: F34.1) müssen mindestens drei von elf Symptomen vorliegen, wie z. B. verminderter Antrieb, Schlaflosigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten. Klinische Relevanz: zeitliche Aspekte 4 Beispiel: Die Störung des Sozialverhaltens (DSM-IVTR: 312.8x) setzt voraus, dass mindestens drei von 15 vorgegebenen Kriterien während der letzten 12 Monate aufgetreten sind, wobei mindestens eines davon in den letzten sechs Monaten aufgetreten sein muss. 4 Beispiel: Bei der nichtorganischen Insomnie (ICD-10: F51.0) müssen die Schlafstörungen mindestens dreimal pro Woche während mindestens eines Monats auftreten. Erstmanifestation der Auffälligkeiten 4 Beispiel: Um die Diagnose einer Enuresis (DSM-IV-TR: 307.6) vergeben zu können, muss das Kind mindestens fünf Jahre alt sein oder ein entsprechendes Entwicklungsalter haben. 4 Beispiel: Eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) kann nur diagnostiziert werden, wenn der Beginn der Störung vor dem 7. Lebensjahr liegt. Störungsverlauf 4 Beispiel: Die Diagnose einer Major Depression, rezidivierend (DSM-IV-TR: 296.3x) wird vergeben, wenn zwei oder mehrere Episoden einer Major Depression vorhanden sind, wobei die Episoden klar voneinander
6
abgrenzbar sein müssen. Liegt nur eine Episode vor, wird die Diagnose einer Major Depression, einzelne Episode (DSM-IV-TR: 296.2x) vergeben. 4 Beispiel: Eine vorübergehende Ticstörung (ICD-10: F95.0) wird diagnostiziert, wenn einzelne oder mehrere Tics während mindestens vier Wochen aber höchstens 12 Monaten auftreten. Treten die Tics während einer längeren Zeitspanne auf, so wird die Diagnose einer chronischen motorischen oder vokalen Ticstörung (ICD-10: F95.1) vergeben.
Klinisch bedeutsamer Leidensdruck/ Beeinträchtigung 4 Beispiel: Eine Schlafstörung mit Alpträumen (DSMIV-TR: 307.47) wird nur dann diagnostiziert, wenn die Traumerfahrung oder die durch das Erwachen bedingte Schlafstörung zu klinisch bedeutsamem Leidensdruck oder Beeinträchtigung in wichtigen Funktionsbereichen führt. 4 Beispiel: Bei der spezifischen Phobie (ICD-10: F40.2) müssen die Symptome oder das Vermeidungsverhalten zu deutlicher emotionaler Belastung führen.
Differenzialdiagnostischer Ausschluss Ausschluss eines medizinischen Krankheitsfaktors oder eines direkten Einflusses einer Substanz 4 Beispiel: Bei einer Panikstörung ohne Agoraphobie (DSM-IV-TR: 300.01) sind die Panikattacken nicht die direkte Folge einer körperlichen Wirkung einer Substanz (z. B. Droge, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. Hyperthyreose). 4 Beispiel: Eine nichtorganische Enuresis (ICD-10: F98.0) darf nicht direkt auf einen epileptischen Anfall, eine neurologisch bedingte Inkontinenz, eine anatomische Abweichung des Urogenitaltraktes oder eine andere nichtpsychiatrische, medizinische Erkrankung zurückgehen. Ausschluss aufgrund einer anderen psychischen Störung, die die Symptomatik besser erklären kann 4 Beispiel: Selektiver Mutismus (DSM-IV-TR: 313.23) darf nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auftreten und kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung (z. B. Stottern) erklärt werden. 4 Beispiel: Eine emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (ICD-10: F93.0) darf nicht im Rahmen einer umfassenderen Störung der Emotionen, des Sozialverhaltens oder der Persönlichkeit auftreten, ebenso wenig wie im Rahmen einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, einer psychotischen Störung oder einer durch psychotrope Substanzen bedingten Störung.
7
116
Kapitel 7 · Klassifikation psychischer Störungen
Zusatzkodierung Schweregrad 4 Beispiel: Die Störung des Sozialverhaltens (DSM-IVTR: 312.8x) kann als leicht, mittelschwer oder schwer kodiert werden. 4 Beispiel: Eine depressive Episode (ICD-10: F32.xx) kann als leicht (F32.0), mittelgradig (F32.1), schwer ohne psychotische Symptome (F32.2) oder schwer mit psychotischen Symptomen (F32.3) diagnostiziert werden. Früher vs. späterer Beginn 4 Beispiel: Liegt der Beginn einer Störung mit Trennungsangst (DSM-IV-TR: 309.21) bereits vor dem Alter von sechs Jahren, wird die Zusatzkodierung »früher Beginn« vergeben.
7 7.3.1 Entwicklungsstadienspezifische
Klassifikation In den beiden gängigen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV-TR sind für »Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend« (ICD-10: F9) respektive »Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder Adoleszenz diagnostiziert werden« (DSM-IV-TR) eigenständige Kapitel für Störungen des Kindes- und Jugendalters bestimmt. In der ICD-10 existieren zudem eigene Abschnitte für Entwicklungsstörungen (ICD-10: F8) und Intelligenzminderungsstörungen (ICD-10: F7). . Tabelle 7.1 zeigt die Oberklassen von psychischen Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder der Adoleszenz diagnostiziert werden, und vergleicht dabei die Einteilung von ICD-10 und DSM-IV-TR. Eine ausführliche Auflistung der DSMIV-TR-Bezeichnungen und den entsprechenden ICD-10Kodierungen sind im DSM-IV-TR nachzulesen. In gewissen Bereichen entsprechen sich die beiden Klassifikationssysteme nur annähernd. Während die ICD-10 z. B. eine Reihe spezifischer emotionaler Störungen des Kindesalters (z. B. Störung mit sozialer Ängstlichkeit oder phobische Störung des Kindesalters) von emotionalen Störungen des Erwachsenenalters abgrenzt, sind im DSM-IVTR für Angst- und affektive Störungen mit Ausnahme der Störung mit Trennungsangst keine für das Kindes- und Jugendalter spezifischen Kategorien vorgesehen. Im Allgemeinen werden bei Kindern und Jugendlichen die gleichen Diagnosekriterien wie bei Erwachsenen angewandt. Im DSM-IV-TR werden jedoch bei einigen Störungskriterien (affektive Störungen und Angststörungen) spezifische Besonderheiten für das Kindesalter ergänzend vermerkt, wodurch die Notwendigkeit von separaten Diagnosen für das Kindesalter entfällt. So muss z. B. das Kriterium B der
4 Beispiel: Bei Störungen des Sozialverhaltens (ICD-10: F91.x) kann das Alter bei Störungsbeginn zusätzlich kodiert werden. Es wird unterschieden zwischen »Beginn in der Kindheit« (Auftreten eines Symptoms vor dem 10. Lebensjahr) und »Beginn in der Adoleszenz« (keine Symptome vor dem 10. Lebensjahr). Subtypus 4 Beispiel: Eine soziale Phobie (DSM-IV-TR: 300.23) wird als »generalisiert« vergeben, wenn die Ängste in viele verschiedenen sozialen Situationen auftreten. 4 Beispiel: Bei einer spezifischen Phobie (ICD-10: F40.2) kann der Typus spezifiziert werden, um den Inhalt der Angst oder der Vermeidung zu kennzeichnen. Es wird unterschieden zwischen »Tier-Typ«, »NaturgewaltenTyp«, »Blut-Injektion-Verletzungs-Typ«, »situativem Typ« und »anderen Typen«.
Zwangsstörung nach DSM-IV-TR (»Die Person erkennt zu irgendeinem Zeitpunkt der Störung, dass der Zwangsgedanke oder die Zwangshandlung übertrieben oder unbegründet ist«) bei Kindern und Jugendlichen nicht erfüllt sein. Oder beim Kriterium B der spezifischen Phobie nach DSM-IV-TR wird vermerkt, dass sich die Angst bei Kindern auch durch Schreien, Wutausbrüche, Erstarrung oder Anklammern äußern kann. Dies ist insbesondere deshalb von Bedeutung, weil Kinder und Jugendliche weniger von typischen vegetativen Anzeichen von Ängsten berichten als Erwachsene. Im Gegensatz zum DSM-IV-TR sehen die aktuell gültigen Forschungskriterien der ICD-10 separate Kriterien für folgende vier Angststörungen des Kindes- und Jugendalters vor: 4 emotionale Störung mit Trennungsangst, 4 phobische Störung, 4 Störung mit sozialer Ängstlichkeit und 4 generalisierte Angststörung des Kindesalter. Darüber hinaus können bei Kindern und Jugendlichen aber auch Angststörungen des Erwachsenenalters diagnostiziert werden (z. B. generalisierte Angststörung, spezifische Phobie). Die Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F93.2) und die phobische Störung (F93.1) werden nur diagnostiziert, wenn die beschriebenen Ängste des Kindes entwicklungsphasenspezifisch sind, was bedeutet, dass die Mehrheit der Kinder in diesem Alter zumindest zu Beginn der klinisch manifesten Störung ähnliche Befürchtungen und Ängste aufweist (z. B. Angst vor Dunkelheit, Angst vor Tieren). In der ICD-10 wird aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass die Angststörungen des Kindesalters den Angststörungen des Erwachsenenalters ähnlich sind.
117 7.3 · Klassifikationssysteme
. Tab. 7.1. Oberklassen psychischer Störungen mit Beginn im Kleinkindalter, in der Kindheit oder der Adoleszenz nach ICD-10 und DSM-IV-TR
ICD-10
DSM-IV-TR
F7
Intelligenzminderung
Geistige Behinderung
F8
Entwicklungsstörungen
–
F80
Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache
Kommunikationsstörungen
F81
Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten
Lernstörungen
F82
Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen
Störung der motorischen Fertigkeiten
F83
Kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen
–
F84
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
F88
Sonstige Entwicklungsstörungen
–
F89
Nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung
–
F9
Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
–
F90
Hyperkinetische Störungen
Störungen der Aufmerksamkeit, Aktivität und des Sozialverhaltens
F91
Störungen des Sozialverhaltens
–
F92
Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
–
F93
Emotionale Störungen des Kindesalters
–
F94
Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit
–
F95
Ticstörungen
Ticstörungen
–
Fütter- und Essstörungen im Säuglings- oder Kleinkindalter
–
Störungen der Ausscheidung
Sonstige Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit
Andere Störungen im Kleinkindalter, in der Kindheit oder Adoleszenz
F98
In einer Studie, in der Kinder mit Angststörungen und deren Eltern anhand strukturierter Interviews sowohl nach den DSM-IVTR- als auch nach den ICD-10-Kriterien diagnostiziert wurden, zeigte sich, dass die beiden Klassifikationssysteme in der Diagnose einer Angststörung nicht immer übereinstimmten (Adornetto, Suppiger, InAlbon, Schneider, in Vorbereitung). Generell zeigt sich, dass das DSM mehr Kinder mit einer Angststörung diagnostiziert. Die höchste Übereinstimmung zwischen den beiden Klassifikationssystemen zeigte sich für die Störung mit Trennungsangst (Kappa-Wert: 0,71 Kindangaben, 0,77 Elternangaben), während die Übereinstimmungen für die Phobien und die generalisierte Angststörungen gering ausfielen (Kappa-Werte zwischen 0,41 und 0,52).
Die Autoren der ICD-10 führen verschiedene Gründe an, die die Unterscheidung von Angststörungen des Kindesalters von denen des Erwachsenenalters rechtfertigen. Sie gehen davon aus, dass emotionale Störungen des Kindesalters keine eigenständigen, qualitativ auffälligen Phänomene darstellen, sondern eher als Verstärkung normaler Entwicklungstrends zu verstehen sind. Zudem seien die meisten Kinder mit emotionalen Störungen als Erwachsene unauffällig. Auch würden sich die bei emotionalen Störungen beteiligten psychischen Prozesse im Kindes- und Jugendalter von denjenigen im Erwachsenenalter unterscheiden. Die in der ICD-10 vorgenommene Unterscheidung zwischen spezifischen Angststörungen des Kindesalters und den entsprechenden Störungen des Erwachsenenalters führt in der klinischen Praxis aber oft zu Zuordnungsproblemen und sollte kritisch betrachtet werden. Die Frage, ob etwa eine Spinnenphobie bei einem 17-jährigen
7
118
Kapitel 7 · Klassifikation psychischer Störungen
Mädchen, die im Alter von 7 Jahren begonnnen hat, als phobische Störung des Kindesalters oder als spezifische Phobie klassifiziert werden soll, ist nicht geklärt. Die Unterscheidung zwischen den Angst- und phobischen Störungen des Kindes- und des Erwachsenenalters wird zudem nicht durch neue Befunde zum Verlauf von Angststörungen des Kindes- und Jugendalters gestützt (Brückl et al. 2007). Diesen Studien zufolge weist ein erheblicher Anteil der Angststörungen des Kindesalters eine Kontinuität bis zum Erwachsenenalter auf.
7.3.2 Multiaxiale Klassifikation
7
Multiaxiale Klassifikation oder Beurteilung bedeutet, dass klinisch relevante Informationen gleichzeitig auf mehreren Dimensionen (Achsen) eingeschätzt werden. Neben den psychischen Auffälligkeiten werden unter anderem die körperliche Symptomatik, psychosoziale Stressoren und das Niveau der psychosozialen Anpassung auf separaten Achsen erfasst. Somit vermögen multiaxiale Systeme der Komplexität eines Individuums eher gerecht zu werden. Im Folgenden werden verschiedene multiaxiale Klassifikationssysteme vorgestellt.
Multiaxiale Klassifikation nach DSM-IV-TR Das »Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen« (DSM-IV-TR; Sass et al. 2003) sieht für Erwachsene wie auch Kinder und Jugendliche die in folgender 7 Übersicht abgebildeten fünf Achsen vor. Achse I erfasst alle psychischen Störungen, abgesehen von den Persönlichkeitsstörungen und der geistigen Behinderung, die auf Achse II erfasst werden. Auf Achse I können ebenfalls Schwierigkeiten und Probleme von Kindern und Jugendlichen (z. B. Probleme in der Schule, Identitätsprobleme, sexueller Missbrauch oder Vernachlässigung eines Kindes, kulturelle Anpassungsprobleme) dokumentiert werden, die im DSM-IV-TR unter »Andere klinisch relevante Probleme« aufgeführt sind. Achse III dokumentiert aktuelle medizinische Krankheitsfaktoren, die möglicherweise für den Umgang mit der psychischen Störung des Betroffenen oder für deren Verständnis relevant sind. Achse IV dient der Erfassung psychosozialer und umgebungs-
bedingter Probleme, die Diagnose, Therapie und Prognose einer psychischen Störung (Achse I und II) beeinflussen können. Normalerweise werden auf Achse IV psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme kodiert, die bis zu einem Jahr vor der klinischen Untersuchung aufgetreten sind. Es können aber auch Belastungsfaktoren, die länger als ein Jahr zurückliegen, kodiert werden, wenn diese zur psychischen Störung beitragen oder Anlass zur Behandlung geben (z. B. frühere Kriegserfahrungen, die eine Angststörung begünstigen). Auf Achse V wird die Beurteilung des allgemeinen Funktionsniveaus (psychosozial und beruflich) des Patienten erfasst. Die Ermittlung des allgemeinen Funktionsniveaus erfolgt dabei anhand der »Global Assessment of Functioning Scale« (GAF; Sass et al. 2003). Shaffer et al. (1983) entwickelten 1983 analog zur Erwachsenenform die »Childrens Global Assessment Scale« (CGAS).
Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters Das »Multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters« (MAS; Remschmidt et al. 2006) basiert auf der ICD-10 (Dilling et al. 1991). Im Vergleich zur ICD-10 hat das MAS den Vorteil, dass die Beschreibung eines psychisch kranken Kindes nicht »nur« auf die ICD-10-Diagnose auf Achse I beschränkt ist, sondern auf insgesamt sechs Achsen weitere wichtige Variablen mit einbezieht. Zur Beschreibung von aktuellen Störungsbildern werden die in der folgenden 7 Übersicht abgebildeten sechs Achsen des MAS herangezogen. Achse I entspricht dem Kapitel F der Sektion V der ICD-10, wobei die Klassen F7 und teilweise F8 ausgenommen sind. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84) werden auf der Achse I kodiert. Spezifische umschriebene Entwicklungsstörungen (F80–83) werden dagegen auf der Achse II kodiert. Die Achse III beinhaltet die Klasse F7 und beschreibt das allgemeine Intelligenzniveau. Abweichend von der ICD-10 können mit Hilfe des MAS neben den Kategorien der Intelligenzminderung auch höhere Intelligenzgrade erfasst werden. Auf Achse IV werden Krankheiten und somatische Besonderheiten aus anderen Kapiteln der ICD-10 kodiert, die häufig im Zusammenhang mit psychischen Störungen auftreten. Dabei werden
Die fünf Achsen des DSM-IV-TR
Die sechs Achsen des MAS
4 Achse I: Klinische Syndrome und andere klinisch relevante Probleme 4 Achse II: Persönlichkeitsstörungen und geistige Behinderung 4 Achse III: Medizinische Krankheitsfaktoren 4 Achse IV: Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme 4 Achse V: Globale Beurteilung des Funktionsniveaus
4 4 4 4 4
Achse I: Klinisch-psychiatrisches Syndrom Achse II: Umschriebene Entwicklungsstörungen Achse III: Intelligenzniveau Achse IV: Körperliche Symptomatik Achse V: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände 4 Achse VI: Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus
119 7.3 · Klassifikationssysteme
nur aktuelle, d. h. zum Zeitpunkt der Diagnostik vorhandene Störungsbilder kodiert. Achse V bietet die Möglichkeit, abnorme psychosoziale Belastungen zu kodieren, die für die Verursachung der psychischen Störung oder für die Therapieplanung von Bedeutung sind. Es wird empfohlen, die Beurteilung der psychosozialen Umstände auf die letzten sechs Monate zu beziehen. Durch die Einführung eines detaillierten Glossars (Remschmidt et al. 2006) wurde die Reliabilität und Validität der Angaben auf Achse V deutlich verbessert. Kodierungen auf Achse VI spiegeln auf einer Skala von 0–8 (0 = gutes soziales Funktionieren,
8 = tiefe und durchgängige soziale Beeinträchtigung) die psychologische, soziale und berufliche respektive schulische Leistungsfähigkeit des Patienten zum Zeitpunkt der klinischen Evaluation wider. Die Kodierungen beziehen sich auf psychosoziale Beeinträchtigungen, die direkt als Folge der psychischen Erkrankung verstanden werden. Im Unterschied zum multiaxialen System für psychische Störungen bei Erwachsenen werden bei Kindern und Jugendlichen Beeinträchtigungen, die aus physischen oder umgebungsbedingten Einschränkungen resultieren, nicht kodiert.
Exkurs Exkurs zur historischen Entwicklung der Achse V des MAS Eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen konnte aufzeigen, dass psychosoziale und umgebungsbedingte Belastungsfaktoren eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter spielen. Ferner sind diese auch im Zusammenhang mit dem Verlauf, der Prognose und den Behandlungseffekten als wichtig zu erachten. Solange es aber keine eindeutigen Richtlinien zur Feststellung dieser Belastungsfaktoren gab, waren Aussagen darüber leicht subjektiv beeinflussbar und die Ergebnisse aus wissenschaftlichen Untersuchungen uneindeutig. Ein Ziel bei der Einführung von Klassifikationssystemen war, eine eindeutige, differenzierte und gemeinsame
Diagnostische Klassifikation 0–3 Da ein Großteil der Störungen, die typischerweise im Säuglings- und Kleinkindalter auftreten, in der ICD-10 und im DSM-IV-TR nicht erfasst werden, wurde vom »National Center for Clinical Infant Programs die Multiaxiale Klassifikation« die »Zero-to-Three« Klassifikation entwickelt (deutsche Übersetzung von Dunitz-Scheer u. Scheer 1999). Die »Diagnostische Klassifikation 0–3« wurde entwickelt, um insbesondere Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen, die typischerweise in den ersten drei Lebensjahren auftreten, Rechnung zu tragen. Als neue diagnostische Klassen enthält das Klassifikationssystem 0–3 Regulationsstörungen und Entwicklungsstörungen. Unter der Sektion Regulationsstörungen werden Abweichungen in der neurophysiologischen, psychomotorischen, emotionalen und Verhaltensregulation erfasst, wobei sich als klinisch relevante Symptome Impulsivität, erhöhte Irritierbarkeit, Hyper- oder Hypoaktivität, Überempfindlichkeit, Schlaf- und Essstörungen zeigen. Als Alternative zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen des DSM-IV-TR und der ICD-10 erfasst das Klassifikationssystem 0–3 klinisch bedeutsame Entwicklungsstörungen in Bezug auf Kommunikation und Bindung. Es enthält fünf Achsen, die im Aufbau kompatibel zur multiaxialen Klassifikation des DSM-IV-TR entwickelt wurden (7 Übersicht).
Terminologie zu finden. Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychologie hat seit Ende der 1970er Jahre der Ansatz der multiaxialen Klassifikation die Forschung wesentlich beeinflusst. Rutter et al. (1969) haben 1969 erstmals solche multiaxiale Systeme vorgeschlagen, eine erste anwendungsreife deutsche Version wurde 1977 von Remschmidt u. Schmidt eingeführt. Im Anschluss an die Entwicklung der ICD-10 wurde 1988 von der WHO das Glossar einer revidierten Achse V herausgegeben (van Goor-Lambo et al. 1990, 1994), die deutsche Übersetzung folgte 1994 (Poustka 1994). Gleichzeitig wurde zur schnellen Orientierung ein verkürztes Glossar erstellt.
Auf Achse I werden Affektstörungen, Angststörungen im Säuglings- und Kleinkindalter, Regulationsstörungen und weitere für diesen Altersbereich bedeutsame Störungen klassifiziert, wobei die primäre Diagnose die wichtigsten Merkmale einer Störung reflektiert. Sofern eine DSMIV-TR-Diagnose die präsentierten Problembereiche am besten beschreibt, wird diese auch auf Achse I kodiert. Das Verständnis für die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung ist ein wichtiger Teil der Entwicklung eines diagnostischen Profils für Säuglinge und Kleinkinder. In dieser Altersgruppe werden viele psychische Störungen erst über die Beschreibung der Beziehungsmuster erkennbar, und die therapeutische Arbeit konzentriert sich oft auf die Veränderung problematischer Eltern-Kind-Interaktionen. Auf Achse II wird die Art der Beziehung durch verschiedene Unter-
Die fünf Achsen des 0–3 4 Achse I: Primäre Diagnose 4 Achse II: Beschreibung der Eltern-Kind-Interaktion 4 Achse III: Medizinische Probleme, Entwicklungsstörungen und Krankheiten 4 Achse IV: Psychosoziale Belastungsfaktoren 4 Achse V: Funktionsniveau der emotionalen Entwicklung
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Kapitel 7 · Klassifikation psychischer Störungen
gruppen von »unterinvolviert« bis »missbrauchend« eingeordnet. Die Aspekte Verhaltensqualität der Interaktion, Art und Weise des Gefühlsausdrucks sowie das Ausmaß der gefühlsmäßigen Verbundenheit werden dabei zur Beurteilung der Beziehungsqualität herangezogen. Eine globale Einschätzungsskala mit Werten von 10–90 (10 = massiv beeinträchtigt, 90 = gut adaptiert) erlaubt die Bestimmung des Ausprägungsgrades der vorliegenden Beziehungsqualität. Achse III dient dazu, alle organischen, medizinischen und neurologischen Symptome, die in anderen, international anerkannten diagnostischen Klassifikationssystemen benannt werden, festzuhalten. Achse IV erfasst verschiedene Formen und Schweregrade von psychosozialem Stress. Mit Hilfe des Stressindex sollen unterschiedliche Stressquellen sowie deren Schwere und Dauer identifiziert werden. Achse V kodiert auf sieben Stufen den Entwicklungsstand, auf dem ein Kleinkind affektive, interaktive, kommunikative, kognitive, motorische und sensorische Erfahrungen integriert und organisiert. Komplexe kognitive und emotionale kindliche Fähigkeiten können dabei im interaktionellen Kontext bestimmt werden. Die Beschreibungen auf dieser Achse können als wesentliche Vorstufe der späteren Intelligenzdiagnostik betrachtet werden. Eine Studie von Skovgaard et al. (2005) konnte zeigen, dass psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, die nach den Kriterien der »Zero-to-Three«-Klassifikation diagnostiziert wurden, bei einer Stichprobe von 116 1,5-jährigen Kindern im Vergleich zur ICD-10 reliabler, sprich noch zuverlässiger, diagnostiziert wurden. Die Einschätzung der Eltern-Kind-Interaktion auf Achse II fiel mit einer Übereinstimmung von Kappa-Wert = 1.00 ebenfalls sehr hoch aus.
7.3.3 Operationalisierte psychodynamische
Diagnostik im Kindes- und Jugendalter (OPD-KJ) Das OPD-KJ-Manual (Arbeitskreis OPD-KJ 2003 ist ein modular aufgebautes, psychodynamisches Klassifikationssystem, das als Ergänzung zum »Multiaxialen Klassifikationssystem« (MAS) zu verstehen ist. Wie der Arbeitskreis OPD-KJ aufzeigt, konstatieren die Herausgeber der deutschen Fassung des Kapitels V der ICD-10, dass die in der ICD-10 und im DSM-IV-TR vorgenommene deskriptive Form der Diagnostik nicht ausreichend ist. Die Herausgeber der OPD-KJ zitieren in ihrem Werk wie folgt: Benutzer von der ICD-10 sollten nicht vergessen, dass deskriptive Diagnostik nur einen, wenn auch wesentlichen Teil des nosologischen Verständnisses unserer Patienten umfasst. Weitreichende Aspekte der Psychopathologie, der Psychodynamik wie auch der Psychophysiologie, vor allem aber die individuellen Besonderheiten des einzelnen Patienten dürfen wir dabei nicht aus dem Auge verlieren. (Dilling et al. 1991, S. 10)
In der OPD-KJ werden das innere Erleben des Patienten sowie die Resonanz des Untersuchers auf den Patienten als wesentliche Informationsquellen in den diagnostischen Prozess miteinbezogen. Gegenüber dem im MAS gewählten kategorialen Ansatz erhält in der OPD-KJ die dimensionale Betrachtung ein stärkeres Gewicht (z. B. bei der Beschreibung der psychischen Struktur). Die OPD-KJ enthält zusammengefasst die folgenden Achsen: Beziehung, Konflikt, psychische Struktur und Behandlungsvoraussetzungen. Bislang fehlen jedoch Aussagen zur Reliabilität und Validität dieses Klassifikationssystems.
Komorbidität und Klassifikation Die Beschäftigung mit Klassifikationssystemen erfordert auch die Beschäftigung mit dem Thema Komorbidität. Unter Komorbidität wird das Auftreten von mehr als einer spezifisch diagnostizierbaren psychischen Störung bei einer Person in einem definierten Zeitintervall (Wittchen u. Vossen 1995) verstanden. Demnach wird von Komorbidität gesprochen, wenn bei einem Kind z. B. gleichzeitig eine Angst- und affektive Störung vorliegt. Sowohl das DSM-IVTR als auch die ICD-10 erlauben dem Diagnostiker explizit, multiple Diagnosen zu vergeben, wenn zwei oder mehr unabhängige Störungsbilder gleichzeitig vorliegen. Bei beiden Klassifikationssystemen ist auf Achse I die Vergabe von Mehrfachdiagnosen möglich, die in Abhängigkeit der klinischen Bedeutung hierarchisch nach Primär- sowie Zusatzdiagnosen angeordnet werden können. Die ICD-10 sieht bei Kindern und Jugendlichen in zwei Fällen von komorbiden Störungen sog. gemischte Kategorien vor. Dabei handelt es sich um die »hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens« (F90.1) und die »kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen« (F92). Im Unterschied zur ICD-10 sieht DSM-IV-TR hier in beiden Fällen vor, jeweils die beiden Einzeldiagnosen separat zu stellen. ! Unter Komorbidität wird das Auftreten von mehr als einer spezifischen psychischen Störung bei einer Person in einem definierten Zeitintervall verstanden.
In beiden Klassifikationssystemen ist aufgrund des deskriptiven und atheoretischen Ansatzes nicht vorgesehen, dass mögliche Zusammenhänge zwischen komorbiden Diagnosen in Bezug auf Ätiologie und/oder Erst- und Folgemanifestation der Störungen kodiert werden. Bedeutsame ätiologische Gemeinsamkeiten werden z. B. zwischen der Störung mit Trennungsangst im Kindesalter und der Panikstörung mit/ohne Agoraphobie im Erwachsenenalter vermutet. Auch bei der hyperkinetischen Störung und der Störung des Sozialverhaltens wird von gemeinsamen ätiologischen Entwicklungspfaden ausgegangen. Da das komorbide Auftreten psychischer Störungen auch im Kindes- und Jugendalter eher die Regel als die Ausnahme darstellt, ist eine möglichst genaue Abklärung nach differenzialdiagnostischen Gesichtspunkten unumgänglich. Standardisierte und strukturierte Interviews (7 Kap. III/8
121 Literatur
tragen dazu bei, dass auch weniger prominente oder sozial stigmatisierte Symptome oder Störungen nicht übersehen werden. Zusätzlich wird die Befragung durch solche Erhebungsintrumente unabhängiger von Personen- und Situationsmerkmalen seitens des Diagnostikers, was zu einer erhöhten Objektivität und Vergleichbarkeit über verschiedene Diagnostiker hinweg beiträgt. Um ungerechtfertigte Komorbiditätsraten zu vermeiden, werden sowohl in der ICD-10 als auch im DSM-IV-TR differenzialdiagnostische Ausschlusskriterien formuliert (7 Übersicht »Aufbau der DSM-IV-TR und ICD-10-Diagnosekriterien«). So muss z. B. bei vielen umschriebenen Störungen des Kindes- und Jugendalters eine tiefgreifende Entwicklungsstörung ausgeschlossen werden. Ebenfalls muss geprüft werden, ob eine bestimmte Symptomatik nicht besser durch eine andere psychische oder somatische Erkrankung erklärt werden kann. Zur Erleichterung differenzialdiagnostischer Abgrenzungen gibt das DSM-IV-TR differenzialdiagnostische Entscheidungsbäume vor.
7.4
Ausblick
DSM-V und ICD-11 sind in Vorbereitung und eine weitere Annäherung der beiden Systeme ist in Planung. Durchaus wichtiger als die Unterschiede zwischen den beiden Systemen sind jedoch die allgemeinen Fortschritte in der Klassifikation. Auch wenn die Beiträge aus den klinischen Neurowissenschaften bis zum Jahre 2010 voraussichtlich noch zu gering sein werden, um das Achsensystem des DSM zu ändern, stehen doch wesentliche Verbesserungen zur Bearbeitung an. Remschmidt et al. (2006) betonen, dass aufgrund der Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt die Einführung von alterstypischen Beziehungsstörungen von großer Bedeutung ist. Erstrebenswert ist zudem, dass bei der zukünftigen nosologischen Forschung von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen dem Entwicklungsaspekt und der Frage der sinnvollen Kombination von Symptomberichten des Kindes und der Bezugsperson vermehrt Beachtung geschenkt wird.
Zusammenfassung In diesem Kapitel werden die Besonderheiten der diagnostischen Klassifikation im Kindes- und Jugendalter aufgezeigt. Verschiedene Systeme zur Klassifikation von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen, insbesondere auch für das Säuglings- und frühe Kindesalter, werden vorgestellt. Ziel der Klassifikation ist die Erfassung von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Mit Hilfe von Klassifikationssystemen wird die Vielfalt klinischer Erscheinungsformen auf überschaubare Symptomkonstellationen zusammengefasst.
Die Klassifikation erfolgt dabei weitgehend deskriptiv und frei von ätiologischen Annahmen. Die diagnostische Klassifikation steht am Ende eines diagnostischen Prozesses, in dessen Verlauf alle wichtigen Informationen über die psychische Befindlichkeit eines Kindes oder Jugendlichen erfasst wurden. Wichtig ist, dass die Klassifikation nicht ihrer selbst willen geschieht, sondern immer dazu dienen sollte, sinnvolle therapeutische Interventionen ableiten zu können. Der Prozess der diagnostischen Klassifikation vermag dabei Wissen zu akkumulieren, indem die Informationen eines einzelnen Patienten mit dem gesamten verfügbaren Störungswissen inklusive Therapieindikationen verknüpft werden können. Wesentlich ist dabei auch, dass aus gegenwärtigem Verhalten auf künftiges geschlossen werden kann. Dies gilt nicht nur für die zeitliche Dauer einer Störung, sondern auch für Wandlungen einer Störung im zeitlich weiträumigeren Verlauf der Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, beim Klassifizieren den Entwicklungsaspekt vor Augen zu haben. Ein für ein bestimmtes Alter adäquates Verhalten mag in einer anderen Altersspanne durchaus als unpassend gelten.
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7
122
7
Kapitel 7 · Klassifikation psychischer Störungen
Knölker, U., Mattejat, F. & Schulte-Markwort, M. (Hrsg.) (1997). Kinderund Jugendpsychiatrie systematisch. Lorch: UNI-MED. (Es gibt eine neuere Ausgabe von 2000!) Poustka, F. (1994). Assoziierte aktuelle abnorme Umstände. Achse fünf des multiaxialen Klassifikationsschemas für psychiatrische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter (ICD-10). Glossar der WHO (MNH/ PRO/86.1 1. Rev. Genf, 1988) in deutscher Übersetzung mit Interview für Eltern (Lifetime-Fassung) und Kindern. Frankfurt: Swets Test. Remschmidt, H., Schmidt, M. H. & Poustka, F. (Hrsg.). (2006). Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. (5., vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl.). Bern: Huber. Rutter, M., Lebovici, L., Eisenberg, L., Sneznevskij, A. V., Sadoun, R., Brooke, E. & Lin, T. Y. (1969). A tri-axial classification of mental disorders in childhood. Journal of child psychology and psychiatry, 10, 41–61. Sass, H., Wittchen, H.-U. & Zaudig, M. (2003). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – Textrevision – DSM-IV-TR. Göttingen: Hogrefe. Schneider, S. (2000). Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter. In J. Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie – Band 2. (2. vollständig überarbeitete und erweiterte Aufl.) Berlin: Springer. Schneider, S., Unnewehr, S. & Margraf, J. (1995). Handbuch zum KinderDIPS. In: S. Unnewehr, S. Schneider & J. Margraf (Hrsg.). Kinder-DIPS. Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer. Schneider, S., Unnewehr, S. & Margraf, J. (2009). Kinder-DIPS. Diagnostisches Interview psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. (2. vollständig überarbeitete Aufl.). Berlin: Springer. Shaffer, D., Gould, M. S., Brasic, J., Ambrosini, P., Fisher, P., Bird, H. & Aluwahlia, S. (1983). A children’s global assessment scale (CGAS). Archives of General psychiatry, 40, 1228–2131. Skoovgaard, A. M., Olsen, E. M., Houmann, T., Christiansen, E., Samberg, V., Lichtenberg, A. & Jorgensen, T. (2005). The copenhagen county child cohort: Design of a longitudinal study of child mental health. Scandinavian Journal of Public Health, 33(3), 197–202.
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8
8
Diagnostisches Vorgehen Carmen Adornetto, Silvia Schneider
8.1
Einleitung – 124
8.2
Diagnostik psychischer Störungen im Kindesund Jugendalter – 124
8.2.1 8.2.2
Aufgaben und Ziele der Diagnostik – 125 Komponenten der Diagnostik – 126
8.3
Spezifische diagnostische Verfahren – 128
8.3.1 8.3.2 8.3.3
Strukturierte Interviews – 128 Diagnose-Checklisten – 132 Standardisierte Fragebögen – 133
8.4
Praktische Durchführung diagnostischer Verfahren
8.4.1 8.4.2 8.4.3
Schritt 1: Erstgespräch – das Explorieren – 136 Schritt 2: Die diagnostische Einordnung – 137 Schritt 3: Die Problem- und Verhaltensanalyse und die Therapieplanung – 137
8.5
Grenzen und Schwierigkeiten
8.5.1 8.5.2 8.5.3 8.5.4
Fehlerquellen diagnostischer Verfahren – 140 Schlechte Compliance – 140 »Weiß-nicht«-Antworten – 141 Unterschiedliche Informationen von Eltern und Kind
8.6
Ausblick
– 142
Zusammenfassung Literatur
– 140
– 143
– 143
Weiterführende Literatur
– 144
– 141
– 135
124
Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
8.1
Einleitung
Diagnostik – das ungeliebte Kind der Psychotherapie
8
»Weshalb soll man Eltern und Kinder mit aufwendigen und akribischen diagnostischen Verfahren belasten?« – »Was bringt mir das Ganze?« – »Ich habe keine Zeit bzw. die Institution, in der ich arbeite, lässt mir keine Zeit für die Durchführung strukturierter Befragungen von Eltern und Kind.« – »Ich fühle mich unter Druck, den Eltern und dem Kind so schnell wie möglich zu helfen.« – »Außerdem hilft die klinische Erfahrung, zügig die für den Patienten passende Diagnose zu stellen.« Diese Aussagen mögen plakativ erscheinen, doch sind sie auch unter Verhaltenstherapeuten weiter verbreitet als uns wahrscheinlich lieb ist. Die Diagnostik ist das ungeliebte Kind in der Psychotherapie und wird zu Unrecht stiefmütterlich behandelt. Dabei sind die großen Erfolge der Verhaltenstherapie dem störungsspezifischen Behandlungsansatz geschuldet, der gerade die detaillierte, reliable und valide Störungsdiagnostik zur Voraussetzung hat. Zudem wissen wir spätestens seit den Arbeiten von Rosenhan, dass das vermeintlich gute klinische Urteil nicht frei von Fehlern und Urteilsverzerrungen – wie Labelling-, Kontextund Erwartungseffekte – ist (7 Kap. I/20). Warum also tun wir uns so schwer mit der Durchführung einer standardisierten und strukturierten Diagnostik psychischer Störungen? Die Argumente, die diesbezüglich geäußert werden, können auf zwei Kernaussagen kondensiert werden: zu viel Zeit und die Patienten wollen es nicht. Ist das wirklich so? In einer Befragung von mehr als 200 »jungen« und erwachsenen Patienten aus psychotherapeutischen Ambulanzen und stationären psychiatrischen/psychosomatischen Einrichtungen, die alle an einem strukturierten Interview mit einer durchschnittlichen Dauer von zwei Stunden (Range von 17–241 Minuten) teilgenommen hatten, konnten wir feststellen, dass die Patienten das Interview als durchweg positiv bewerteten: Sie gaben in der anonymen Fragebogenerhebung nach Abschluss des strukturierten Interviews im Durchschnitt an, dass sie das Interview als sehr hilfreich empfanden, sich sehr verstanden und ernst genommen fühlten und sie die Beziehung zum Diagnostiker als ausgesprochen positiv erlebten (MW von 2,71 bei einer Skala von 0 = gar nicht positiv und 3 = sehr positiv)! Sie fühlten sich auch nicht ausgefragt, erschöpft oder durch das Interview irritiert (Suppiger et al., im Druck). In einer gerade abgeschlossenen Internetbefragung, bei der wir Psychotherapeuten und Psychiater für das Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter befragt haben, was sie denken, wie ihre Patienten die Anwendung strukturierter Interviews wohl erleben würden, fanden wir die folgenden bemerkenswerten Ergebnisse: Die Behandler schätzten über alle Fragen hinweg die Akzeptanz des Patienten von strukturierten Interviews als erheblich schlechter ein als dies die Patienten selbst taten. Die Einschätzung von Behandler und Patient klaffte umso stärker auseinander, je weniger vertraut die Behandler mit strukturierten
Interviews waren (Bruchmüller et al., in Vorbereitung). Somit scheint das Problem der Akzeptanz von strukturierten Befragungen wohl mehr auf der Seite der Behandler bzw. Diagnostiker als auf der Seite der Patienten zu liegen. Auch das zweite wichtige Argument gegen die Durchführung detaillierter diagnostischer Verfahren, der zu große Zeitaufwand, muss bei näherer Betrachtung wohl relativert werden. Bedenkt man, dass eine psychotherapeutische Behandlung in der Regel 25 Stunden und länger dauert, so scheint ein Aufwand von durchschnittlich zwei bis vier Therapiestunden für eine sorgfältige Befunderhebung mehr als gerechtfertigt. In vielen Bereichen der Medizin ist das Verhältnis von Diagnostik zu Therapie deutlich »ungünstiger«.
8.2
Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter
Nach diesem Vorwort wollen wir nun auf die Diagnostik psychischer Störungen als wichtigem Baustein in der Planung einer effizienten Verhaltenstherapie eingehen. Um eine Behandlung angemessen zu planen und zielgerichtet durchzuführen, bedarf es einer sorgfältigen Abklärung vorhandener Beschwerden und Schwierigkeiten. Das diagnostische Vorgehen stellt dabei vor allem im Kindes- und Jugendalter eine besondere Herausforderung dar. Viele beschriebene Symptome sind bei nahezu allen Kindern in bestimmten Entwicklungsphasen zu erkennen und für die jeweiligen Altersphasen als normal zu beurteilen. Es braucht daher eine sorgfältige Überprüfung der klinischen Relevanz dieser Symptome. Zudem ist es schwieriger, konkrete und zuverlässige Angaben von Kindern zu erhalten, insbesondere von jüngeren Kindern. Aufgrund dieser Schwierigkeiten ist es unerlässlich, sowohl mehrere Informationsquellen als auch verschiedene Verfahren in die Diagnostikphase mit einzubeziehen. Dabei besteht die Schwierigkeit, dass Kinder bzw. Jugendliche und ihre Bezugspersonen meist über verschiedene Sichtweisen verfügen und das Problemverhalten unterschiedlich bewerten. Hinzu kommt, dass das Problemverhalten häufig nicht generell, sondern nur in bestimmten Situationen vorkommt. In dem vorliegenden Kapitel wird zunächst ein allgemeiner Überblick über die Aufgaben und Ziele der Diagnostik im Kindes- und Jugendalter gegeben. Weiter werden einzelne diagnostische Verfahren, die mit einer hohen Akzeptanz im deutschen Sprachraum eingesetzt werden, näher dargestellt. Im Anschluss daran wird auf die praktische Anwendung und den Umgang mit möglichen Schwierigkeiten näher eingegangen. ! Die Diagnostik psychischer Störungen im Kindesund Jugendalter stellt besondere Anforderungen an den Diagnostiker: Abgrenzung von entwicklungsphasentypischen Phänomenen, Integration der Berichte von Kind, Eltern oder anderer Bezugspersonen, Situationsspezifität von Problemverhalten.
125 8.2 · Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter
Die Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter erlebte in den letzten Jahrzehnten einen erheblichen Wandel, der auf die Entwicklung und Publikation operationalisierter Diagnosesysteme zurückzuführen ist. Dadurch konnten bedeutende Fehlerquellen in der Diagnosestellung beseitigt werden, was zu einer Steigerung der Reliabilität und indirekt auch der Validität klassifikatorischer Diagnosen führte. Für den Kindes- und Jugendbereich wurde eine Vielzahl standardisierter diagnostischer Verfahren entwickelt, um eine operationalisierte und möglichst reliable Diagnostik sicher zu stellen. Zu diesen Verfahren zählen Interviews, Checklisten und Fragebögen. Dabei wurde neben der kategorialen Diagnostik, die eine klare Einordnung der Beschwerden als »krank« oder »gesund« verlangt, auch zunehmend dimensional orientierte Diagnostik, die verschiedene Abstufungen zulässt, eingesetzt. Die dimensional orientierte Diagnostik beruht auf der Annahme, dass psychische Störungen weder klar von der Normalität abgrenzbar noch als klar voneinander unterscheidbare Störungseinheiten zu definieren sind. Vielmehr sind psychische Merkmale entlang eines Kontinuums erfassbar, wobei eine Störung am Ende solch eines Kontinuums liegt. Sowohl die kategoriale als auch die dimensionale Diagnostik haben ihren Stellenwert. Die kategoriale Diagnostik ist z. B. dann von Bedeutung, wenn eine Störung mit Krankheitswert festgestellt werden muss, um eine Kostenträgerschaft für Interventionsmaßnahmen abzusichern. Eine dimensionale Diagnostik ist vor allem dann notwendig, wenn eine klassifikatorische Zuordnung nach ICD-10 oder DSM-IV nicht erfolgen kann oder wenn mildere Störungsausprägungen vorliegen. In der Praxis ist es sinnvoll, eine kategoriale Zuordnung vorzunehmen und diese durch eine dimensionale Beschreibung zu ergänzen (Heubrock u. Petermann 2005).
8.2.1 Aufgaben und Ziele der Diagnostik
Die Diagnostik dient dem Ziel der Indikationsstellung und differenzierten Planung von psychologischen, psychosozialen oder medizinischen Interventionen zur Verminderung psychischer Auffälligkeiten. Diagnostisches Handeln ist einen Prozess, bei dem Probleme definiert und gelöst sowie Entscheidungen gefällt werden. Folgende Teilziele können dem diagnostischen Vorgehen zugeschrieben werden (Döpfner et al. 2000): 4 Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, 4 Erhebung einer Diagnose nach ICD oder DSM, 4 differenzierte Erfassung der psychischen Auffälligkeiten auf dimensionaler Ebene, 4 Erfassung von Ressourcen und Kompetenzen, 4 Durchführung einer Problem- und Verhaltensanalyse, 4 selektive Indikationsstellung, 4 Erfassung von Störungskonzepten, Therapieerwartungen und Therapiezielen,
4 Klärung des therapeutischen Auftrages, 4 Aufbau der Änderungsmotivation, 4 Kontrolle des Therapieverlaufs. Die Diagnostik psychischer Störungen kann als ein mehrstufiger Untersuchungsprozess angesehen werden (Heubrock u. Petermann 2005; Schneider u. Türke-Teubner 2008). In einem ersten Schritt erfolgt die klinische Exploration des Kindes bzw. Jugendlichen und der Bezugspersonen. Diese umfasst neben der Erhebung psychischer Auffälligkeiten und Kompetenzen des Kindes oder Jugendlichen auch die Exploration kognitiver Defizite und Fähigkeiten körperlicher Funktionen sowie psychosozialer Bedingungen. In einem nächsten Schritt erfolgt eine differenziertere Erfassung der explorierten Bereiche, wobei eine Klassifikation nach ICD-10 und/oder DSM-IV vorgenommen wird. Dabei können folgende Diagnostikbereiche voneinander abgegrenzt werden: 4 Exploration psychischer Auffälligkeiten und Symptomen, 4 Leistungsdiagnostik zur Erfassung kognitiver Defizite und Fähigkeiten, 4 medizinische Differenzialdiagnostik zum Ausschluss körperlicher Ursachen, 4 Familien- und Interaktionsdiagnostik zur Erfassung psychosozialer Bedingungen. Aufgrund der dimensional und kategorial erfassten diagnostischen Ergebnisse lässt sich in einem nächsten Schritt eine Problem- und Verhaltensanalyse durchführen, bei der ein hypothetisches Modell über verschiedene Ursachenund Aufrechterhaltungsfaktoren der Störung entwickelt wird. Darauf aufbauend erfolgt die motivationale Analyse, in der die Änderungsmotivation aller Beteiligten exploriert wird, und schließlich werden einzelne Therapieziele und eine konkrete Therapieplanung vereinbart. Während der Therapiephase werden mit diagnostischen Verfahren sowohl der Verlauf der Störung als auch die Interventionseffekte erfasst. Das konkrete Vorgehen dieser Diagnostikschritte wird in 7 Abschn. 8.4 näher beschrieben. Im Diagnostikprozess werden unterschiedliche diagnostische Verfahren eingesetzt, denen je nach Stufe, eine andere Funktion zuzuschreiben ist. Brähler u. Schumacher (2005) schreiben psychodiagnostischen Testverfahren folgende Funktion zu: 4 deskriptive Funktion mit der Erfassung und Beschreibung vorliegender Probleme bzw. Störungen in ihrer Art, Ausprägung, Dauer etc., 4 klassifikatorische Funktion mit der Zuordnung des Kindes bzw. Jugendlichen zu diagnostischen Kategorien nach ICD-10/DSM-IV und/oder zu bestimmten Interventionen, 4 Erklärungsfunktion durch das Bereitstellen von diagnostischen Informationen zur Entstehung psychischer Auffälligkeiten oder Störungen,
8
126
Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
4 prognostische Funktion mit der Vorhersage von Verläufen psychischer Störungen mit oder ohne Intervention und der Abschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit therapeutischer Interventionen, 4 evaluative Funktion mit der Bewertung therapeutischer Interventionen.
8.2.2 Komponenten der Diagnostik
8
Eine effiziente und umfassende Diagnostik psychischer Störungen und Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter setzt sich aus fünf Diagnostikkomponenten zusammen (Döpfner et al. 2000): 1. Die Diagnostik berücksichtigt mehrere Ebenen psychischer Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, die kognitive, emotionale, physiologische und Handlungsebene. 2. Die multimethodale Diagnostik erfasst mit Hilfe verschiedener Methoden psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. Dazu zählen Verfahren zur Erfassung des klinischen Urteils, des Fremd- und Selbsturteils sowie Verhaltensbeobachtungen, Testleistungen und physiologische Messungen. 3. Die situationsspezifische Diagnostik erfasst neben der Untersuchungssituation weitere natürliche Lebenssituationen, wie z. B. Familie, Schule und Gleichaltrigengruppe. 4. Die individualisierte Diagnostik erfasst individualisierte Ausprägungen psychischer Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, die sich mit standardisierten Verfahren meist nicht genügend beschreiben lassen, wie z. B. individuelle Ziele oder Zielbeschwerden. 5. Die behandlungsbezogene Diagnostik gibt konkrete Hinweise für die Therapie und kontrolliert den Verlauf und den Erfolg. Die Erfassung der Beschwerden und Auffälligkeiten auf mehreren Ebenen anhand verschiedener Methoden in unterschiedlichen Situationen erweist sich nicht nur als sinnvoll, sondern auch als notwendig, weil die Befunde und Aussagen jeweils unterschiedlich sein können und oftmals schlecht übereinstimmen. Diese Diskrepanzen können auf verschiedene Quellen zurückzuführen sein. So kann es z. B. vorkommen, dass das Problemverhalten nicht generell, sondern nur in bestimmten Situationen vorkommt (z. B. Schule, Familie). Weiter besteht die Tatsache, dass Kinder bzw. Jugendliche und ihre Bezugspersonen oftmals über unterschiedliche Sichtweisen der Beschwerden oder des Problemverhaltens verfügen (z. B. das Ausmaß betreffend). Eine schlechte Übereinstimmung kann zudem auf den Fehlerquellen einzelner Methoden basieren. Im 7 Abschn. 8.5 wird unter anderem auf die Problematik von Beurteilern näher eingegangen. Im Folgenden wird ein allgemeiner Überblick über diagnostische Verfahren der Diagnostik mit
Kindern und Jugendlichen gegeben, die dann im 7 Abschn. 8.3 detailliert beschrieben werden.
Diagnostische Verfahren In der Diagnostik werden zunächst standardisierte Breitbandverfahren durchgeführt. Dem Namen entsprechend decken diese Verfahren ein breites Spektrum psychischer Auffälligkeiten ab. Ausgehend von den diagnostischen Befunden kommen anschließend störungsspezifische Verfahren zum Einsatz, die ein differenzierteres Bild der einzelnen Störungen ermöglichen. In diesem Kapitel werden nur störungsübergreifende Verfahren behandelt. Die Auswahl beschränkt sich dabei auf Verfahren der Verhaltens- und Psychodiagnostik, die psychische Auffälligkeiten und Kompetenzen des Kindes bzw. Jugendlichen erfassen. Dazu zählen strukturierte Interviews, Checklisten, standardisierte Fragebögen und die Verhaltensbeobachtung, die je nach diagnostischer Notwendigkeit in verschiedenen Kombinationen zur Anwendung kommen. Strukturierte Interviews
Ende der 1960er Jahre zeigten Rutter et al., dass schon mit Kindern ab dem 7. Lebensjahr diagnostische Interviews durchgeführt werden können. Mit den »Isle of Wight«Studien kamen sie zum Resultat, dass die Aussagen der Kinder wertvolle und reliable Ergänzungen zu den Elternangaben darstellen (Rutter u. Graham 1968). Seither fand eine zunehmende Entwicklung diagnostischer Interviews zur Erfassung psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter statt, die direkt zur Befragung der Kinder und Jugendlichen eingesetzt werden. Anhand strukturierter Interviews werden mit Hilfe vorgegebener Interviewleitfäden systematisch Informationen über das Vorliegen psychischer Störungsbilder erhoben. Strukturierte Interviews erhöhen neben der Objektivität der Untersuchung auch die Reliabilität der Diagnosestellung, da die Befragung aufgrund des vorgegebenen Leitfadens unabhängiger von Situations- und Personenmerkmalen des Diagnostikers ist und die Vergleichbarkeit über verschiedene Diagnostiker hinweg verbessert wird (Schneider et al. 2009b). Das vom Interviewer relativ unabhängige objektive und strukturierte Vorgehen verbessert zudem die Anwendung umfangreicher und teilweise komplizierter Kriterien und Algorithmen der klassifikatorischen Diagnostik. Die systematische Befragung ermöglicht die Gewinnung einer großen Menge an Informationen und die Abklärung eines breiten Spektrums an Störungsbildern. Sie verhindert auch das Übersehen weniger prominenter Symptome bei Komorbidität. Diagnose-Checklisten
Neben strukturierten Interviews ermöglichen DiagnoseChecklisten eine systematische Erfassung des psychopathologischen Befundes bei Kindern und Jugendlichen. Im Unterschied zu strukturierten Interviews müssen bei der
127 8.2 · Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter
Verwendung von Checklisten nicht immer alle Störungsbilder abgefragt werden, sondern es können auch einzelne herausgegriffen werden. Ein solches Vorgehen bringt jedoch die Gefahr der Bestätigungsdiagnostik mit sich (7 Box »Fehler und Fallen des Diagnostizierens«). Checklisten kommen vor allem dann zum Einsatz, wenn strukturierte Interviews aufgrund des zeitlichen Aufwandes nicht durchgeführt werden können. Wie bei den strukturierten Interviews bestehen auch hier die Vorteile aufgrund der syste-
matischen Befragung, die sich unter anderem auf die Gütekriterien auswirken. > Fazit Strukturierte Interviews und Checklisten sind objektive, reliable und valide Instrumente zur effizienten Erhebung komplexer Diagnosekriterien. Allerdings unterliegen Checklisten im Unterschied zu strukturierten Interviews einer größeren Gefahr der Bestätigungsdiagnostik.
Fehler und Fallen des Diagnostizierens Fehlentscheidungen in der Diagnostik können v. a. auf drei »Fehlerquellen« zurückgeführt werden (7 Kap. I/10): 4 unpräziser oder widersprüchlicher Bericht des Patienten, 4 Art der Befunderhebung durch den Diagnostiker, 4 Güte des zugrunde liegenden Klassifikationssystems. Während die Verbesserung der Güte des Klassifikationssystems nicht im unmittelbaren Einflussbereich des Diagnostikers liegt, sollte sich der Diagnostiker und Verhaltenstherapeut stattdessen um die Kontrolle der beiden erstgenannten Fehlerquellen bemühen: inkonsistente Berichterstattung des Patienten und fehleranfällige Befunderhebung und Diagnosestellung des Diagnostikers. Eine inkonsistente Berichterstattung des Patienten kann zwar nicht vollumfänglich ausgeschlossen werden, aber ihr kann mit einer professionellen Fragetechnik und Standardisierung diagnostisch relevanter Fragenbereiche begegnet werden. Aufseiten des Diagnostikers geht es darum, insbesondere dem Bedürfnis zur Bestätigungsdiagnostik, dem Übersehen von Komorbiditäten und den Urteilsverzerrungen durch Kontext-, Erwartungs- und Labellingeffekte entgegenzutreten. Dabei gehört die Bestätigungsdiagnostik sicher zu den größten Gefahren der
Standardisierte Fragebögen
Anhand von Fragebögen können Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen effizient und reliabel erfasst werden. Die Vorteile von Fragebögen bestehen darin, dass sie auf eine ökonomische Art und Weise eine Übersicht über die Probleme des Kindes oder Jugendlichen geben, und dass dabei die Perspektiven verschiedener Beurteiler (Kind bzw. Jugendlicher selbst, Eltern, Erzieher) miteinander verglichen werden können (Schneider u. TürkeTeubner 2008). Obwohl anhand von Fragebögen Verhaltensauffälligkeiten nur indirekt erfasst werden, haben sie ihren Stellenwert im diagnostischen Vorgehen. Für Kinder und Jugendliche kann es einfacher sein, wenn sie die Probleme zunächst per Fragebogen angeben können. Insbesondere ängstliche und sozial unsichere Kinder profitieren von diesem Verfahren. Weiter sind Selbstbeurteilungsbögen hilfreich, wenn es um die Erfassung von Merkmalen geht,
Diagnostik und ist eng mit dem Übersehen von Komorbiditäten verbunden. Wie schnell verengt sich der Blickwinkel des Diagnostikers, wenn er erst einmal eine Hypothese bezüglich der Diagnose vorgenommen hat. So wird nur noch nach bestätigenden Informationen gesucht, wenn die Hypothese einer sozialen Phobie erst einmal gestellt wurde. Gleichzeitig wird möglicherweise die schwere primäre Enuresis nocturna des 9-jährigen Kindes übersehen, da es Kind und Eltern peinlich ist, dieses Thema von sich aus anzusprechen oder auch weil sie denken, dieses Thema gehöre nicht in die Psychotherapie. Wie kann nun diesen Fehlern und Fallen am besten begegnet werden? Zunächst erscheint es uns wichtig, dass sich der Diagnostiker über die Fehleranfälligkeit unsystematischer Befunderhebungen und klinischer Urteile im Klaren ist und dies ernst nimmt. Wird dies akzeptiert, dann sollte mehr als plausibel sein, dass eine reliable und valide Diagnostik nur durch eine standardisierte klinische Befragung zu den häufigsten psychischen Störungen zu gewährleisten ist. Die Auswertung der Antworten des Patienten muss danach ebenfalls systematisch und in Anlehnung an valide Kriterien (z. B. DSM- oder ICD-Kriterien) geschehen. Ein solches Vorgehen ist am besten durch die Durchführung strukturierter klinischer Interviews gewährleistet.
die am leichtesten mittels Selbsteinschätzung erhoben werden können oder nur der Selbstbeobachtung zugänglich sind (z. B. Befindlichkeit, Leidensdruck) (Brähler u. Schumacher 2005). Bei Selbstbeurteilungsverfahren ist darauf zu achten, dass das Kind weitgehend flüssig lesen kann und dass die Fragen dem intellektuellen und psychischen Entwicklungsstand angemessen formuliert sind. ! Eine Diagnosestellung basierend auf Fragebögen ist nicht möglich! Verhaltensbeobachtung
Beobachtungsverfahren bieten die Möglichkeit einer direkten Informationserfassung und spielen eine wichtige Rolle in der diagnostischen Urteilsbildung. Einerseits können sie Aufschluss über aufrechterhaltende Bedingungen der psychischen Störung geben, andererseits ermöglichen
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Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
sie eine Überprüfung der berichteten Beschwerden und Probleme. Der Diagnostiker ist nicht mehr von den Angaben der Informanten abhängig, sondern kann sich selbst ein Bild der Verhaltensauffälligkeit machen. Zu beachten ist dabei, dass die Verhaltensbeobachtungen meist nur einen eng umgrenzten Verhaltensausschnitt erfassen und das Verhalten durch den Beobachtungsvorgang beeinflusst wird. Verhaltensbeobachtungen im natürlichen Umfeld des Kindes bzw. Jugendlichen sind daher valider, wenn sie von den Bezugspersonen durchgeführt werden (Eltern, Lehrer, Erzieher). Dies wiederum setzt voraus, dass die Beobachtung so einfach wie möglich gestaltet wird, da die Bezugspersonen nicht nur Beobachter, sondern zugleich auch Beteiligte sind. Dazu zählt, dass das zu beobachtende Verhalten konkret und klar umgrenzt ist. Ereignisse, die nur einige Male am Tag vorkommen, sind einfacher zu registrieren als häufig auftretende. Bei häufig vorkommenden Ereignissen ist es hilfreich, wenn diese nur in umschriebenen Situationen beobachtet werden (z. B. während der Hausaufgaben). Hilfreich erweist sich für die Verhaltensbeobachtung der Einsatz von Hilfsmitteln, wie z. B. Beobachtungsskalen, Beurteilungsbögen, Tagebücher oder auch technische Mittel (Videoaufzeichnungen). Der Fokus der Beobachtung kann sehr unterschiedlich sein. So können z. B. das problematische Verhalten und dessen Häufigkeit, Intensität, Ursache oder Konsequenzen im Mittelpunkt der Beobachtungen stehen. Ein anderer Fokus liegt auf der Beurteilung angemessenen und kompetenten Verhaltens oder der Einschätzung, inwiefern das erwünschte Verhalten bereits gezeigt wird (Döpfner et al. 2000). Die Verhaltensbeobachtung kann auch vom Kind bzw. Jugendlichen selbst, z. B. in Form von Tagebüchern oder Selbstbeobachtungsprotokollen, durchgeführt werden. Wie die Fragebögen ist die Selbstbeobachtung etwa ab dem 8. Lebensjahr durchführbar und eignet sich besonders, wenn eine Fremdbeobachtung nur schwer oder gar nicht möglich ist (z. B. bei Emotionen oder Kognitionen). Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass die Selbstbeobachtung das Kind oder den Jugendlichen aktiv in den Therapieprozess mit einbezieht, was sehr motivierend wirken kann, besonders wenn der Fokus auf der erfolgreichen Bewältigung liegt.
8.3
Spezifische diagnostische Verfahren
Nachfolgend werden störungsübergreifende Verfahren, die im deutschen Sprachraum eingesetzt werden, näher vorgestellt. Die Auswahl beschränkt sich dabei auf Verfahren, die in der Praxis auf große Akzeptanz stoßen und häufig zum Einsatz kommen. Allgemein ist anzumerken, dass die Anzahl standardisierter Verfahren, die ein breites Spektrum psychischer Auffälligkeiten erfassen, gering ist. Im Bereich der Verhaltensbeobachtungen liegen bislang so gut wie keine standardisierten Verfahren für den Kindes- und Jugendlichenbereich vor.
8.3.1 Strukturierte Interviews
Das Mannheimer-Elterninventar (MEI, Esser et al. 1989) liegt dem Namen entsprechend nur in einer Elternversion vor, d. h., die Angaben über Symptome bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 6 und 16 Jahren werden ausschließlich über die Eltern erhoben. Das Interview ist in drei in sich geschlossene Teile gegliedert, die voneinander unabhängig sind und auch einzeln durchgeführt werden können: 1. Demographie und Sozialstatistik von Eltern und Kind, 2. kinder- und jugendpsychiatrische Symptomatik und 3. soziofamiliäre Bedingungen (z. B. Gesundheit der Eltern) und wichtige Lebensereignisse. In der folgenden 7 Übersicht sind die Symptome aufgelistet, die mit dem MEI erfasst werden. Die Interviewbefunde ermöglichen eine Diagnosestellung, basierend auf den Kriterien der ICD-10. Für die Durchführung des Interviews wird im Durchschnitt ein Zeitaufwand von 60–90 Minuten berechnet. Sowohl die Reliabilität (Interrater-Reliabilität) mit Kappa-Werten zwischen 0,71 und 1,0 (bezogen auf einzelne Symptome) und 0,71 (auf Diagnoseebene) als auch die Validität des MEI (Diagnosenübereinstimmung mit Expertenurteil von 81%) können als zufriedenstellend bis sehr gut bezeichnet werden (Esser et al. 1989).
Symptombereiche, die mit dem Mannheimer Elterninterview (MEI) erfasst werden 4 Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Atembeschwerden, hypochondrisches Verhalten 4 Tics 4 Nächtliche Trennungsangst 4 Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen 4 Stottern 4 Enuresis, Enkopresis 4 Essstörungen, magersüchtiges Verhalten, Fettsucht 4 Schulleistungsstörungen, Disziplinstörungen in der Schule, Schulverweigerung 4 Geschwisterrivalität 4 Kontaktstörungen 4 Ablenkbarkeit, Hyperkinese, Impulsivität, Wutanfälle 4 Pathologische Ängste, Phobien 4 Zwangshandlungen 4 Nägelkauen 4 Automutilation 4 Mutistisches Verhalten 4 Depressive Verstimmungen 4 Suizidgefährdung 4 Nikotin-, Alkohol-, Medikamentenmissbrauch, Gebrauch von Rauschmitteln 4 Lügen, Stehlen, Zerstörung fremden Eigentums, Weglaufen
129 8.3 · Spezifische diagnostische Verfahren
Das diagnostische Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Kinder-DIPS, Schneider et al. 2009b) umfasst eine Kinderversion zur direkten Befragung des Kindes bzw. Jugendlichen im Alter von 6–18 Jahren und einer parallelen Elternversion. Das Interview ist unterteilt in einen Überblicksteil (Screening zur Erfassung der im Vordergrund stehenden Probleme und belastenden Lebensereignissen), einen Hauptteil mit Fragen zu den psychischen Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter sowie Screenings für körperliche Krankheiten, ent-
wicklungsbezogene Koordinationsstörung, Kommunikationsstörungen, Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch und nichtorganische Psychosen und einen Abschnitt zur Erhebung der individuellen Anamnese und Familienanamnese psychischer Störungen. Darüber hinaus werden die Achsen IV (psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme) und V (globale Erfassung des Funktionsniveaus) erhoben. Die folgende 7 Übersicht fasst die psychischen Störungen zusammen, die mit dem Kinder-DIPS erfasst werden.
Psychische Störungen, die mit dem Kinder-DIPS diagnostiziert werden (die Diagnosebezeichnungen orientieren sich am DSM-IV-TR) 1. Störungen der Aufmerksamkeit, der Aktivität und des Sozialverhaltens Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – Störung mit oppositionellem Trotzverhalten – Störung des Sozialverhaltens 2. Ticstörungen – Tourette-Störung – Chronische motorische oder vokale Ticstörung – Vorübergehende Ticstörung 3. Angststörungen – Störung mit Trennungsangst – Spezifische Phobie (inklusive Schulphobie und Prüfungsangst) – Soziale Phobie – Selektiver Mutismus – Zwangsstörung – Generalisierte Angststörung – Posttraumatische Belastungsstörung – Panikstörung ohne/mit Agoraphobie – Agoraphobie ohne Anamnese einer Panikstörung
Die Fragen sind in enger Anlehnung an die DSM-IV und ICD-10-Kriterien formuliert. Die meisten Antworten werden auf einer Ratingskala quantitativ kodiert entweder aufgrund der Auftretenshäufigkeit oder der Intensität des gefragten Symptoms. Das Rating erleichtert die Entscheidung, ob ein Symptom als klinisch relevant betrachtet werden kann oder nicht. Diese Entscheidung sollte nicht nur auf den Angaben des Kindes bzw. Jugendlichen oder der Eltern basieren, sondern hier soll das trainierte klinische Urteil des Diagnostikers mit einfließen. Im Gegensatz zu standardisierten Interviews und Fragebögen
4. Störungen der Ausscheidung – Enuresis – Enkopresis 5. Schlafstörungen – Primäre Insomnie – Primäre Hypersomnie – Schlafstörung mit Albträumen – Pavor nocturnus (nur in Elternversion vorhanden) – Schlafstörung mit Schlafwandeln (nur in Elternversion vorhanden) 6. Affektive Störungen – Major Depression – Dysthyme Störung 7. Essstörungen – Pica – Anorexia nervosa – Bulimia nervosa – Binge-Eating-Störung1 1
Forschungskriterien des DSM-IV-TR.
lassen strukturierte Interviews klinische Einschätzungen explizit zu. Das Interview enthält auch einzelne offene Fragen, auf die die Antworten möglichst wortgetreu protokolliert werden sollen. Neben den für eine Diagnose erforderlichen Symptomen wird nach auslösenden und modulierenden Faktoren gefragt, was wichtige Informationen für die Therapieplanung liefert. Die Durchführungszeit für geübte Interviewer beträgt im Durchschnitt 60–120 Minuten. In . Abb. 8.1 wird ein Ausschnitt aus dem Leitfaden des Kinder-DIPS zur Veranschaulichung dargestellt.
8
130
Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
8
. Abb. 8.1. Ausschnitt aus dem Leitfaden des Kinder-DIPS. (Aus Unnewehr et al. 2009)
131 8.3 · Spezifische diagnostische Verfahren
. Abb. 8.1 (Fortsetzung)
8
132
Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
Diagnostizieren muss trainiert und gelernt werden!
8
Für die korrekte Durchführung strukturierter Interviews (z. B. Kinder-DIPS) sind sorgfältige Vorbereitungen zu treffen. Hier spielt das Training der Interviewdurchführung unter Anleitung erfahrener Interviewer eine zentrale Rolle. Nur nach einem intensiven Training kann eine reliable und valide Diagnosestellung gewährleistet werden. Als Voraussetzung für eine korrekte Durchführung strukturierter Interviews und damit einer korrekten Diagnosestellung sind gute Kenntnisse der Störungsbilder und Diagnosekriterien unerlässlich. Das Training für das Kinder-DIPS beinhaltet das sorgfältige Lesen des Handbuchs, insbesondere der Durchführungsanweisungen sowie des Interviewleitfadens einschließlich Diagnosekriterien. Als nächster Schritt sollte das Interview praktisch geübt werden, indem es zunächst im Kollegen- bzw. Bekanntenkreis und dann mit möglichst repräsentativen Patienten und deren Eltern durchgeführt wird. Weiter ist das Überprüfen der Reliabilität wichtig. Hierzu werden Übungsinterviews in Anwesenheit von erfahrenen Diagnostikern durchgeführt, wobei »Novize« und »Experte« die Diagnosen unabhängig voneinander stellen. Erst nachdem gewährleistet ist, dass zwischen »Novize« und »Experte« Übereinstimmung bezüglich der Diagnosestellung besteht, sollte eine selbstständige Durchführung strukturierter Interviews erfolgen.
Insgesamt zeigt das Kinder-DIPS in einer Studie zur Prüfung der Gütekriterien (n>200 Kinder im Alter von 5–18 Jahren und ihre Eltern) befriedigende bis sehr gute Interrater-Reliabilitäten. Für die Kinderversion beträgt die prozentuale Übereinstimmung bei allen Oberklassen 85–100%, die Kappa-Werte liegen zwischen 0,48 und 0,88. Ebenfalls zufriedenstellende bis gute Übereinstimmungsmaße zeigen sich auf der Ebene der einzelnen Störungskategorien. Für die Elternversion des Kinder-DIPS ergeben sich auf der Ebene der Oberklassen insgesamt etwas bessere Reliabilitäten. Die prozentuale Übereinstimmung beträgt bei allen Oberklassen mindestens 93%. Die Kappa-Koeffizienten liegen zwischen 0,85 und 0,94. Auf der Ebene der einzelnen Störungskategorien zeigen sich ebenfalls sehr gute Übereinstimmungsmaße (Schneider et al. 2009a). Gute Ergebnisse liefert auch die Validitätsüberprüfung beider Versionen mit psychometrischen Fragebogenskalen (Schneider et al. 19951.
8.3.2 Diagnose-Checklisten
Hier sind im deutschsprachigen Raum vor allem zwei Verfahren zu erwähnen, die in kinder- und jugendpsychotherapeutischen Einrichtungen (Kliniken und Praxen) einge-
setzt werden: das »Psychopathologische Befund-System für Kinder und Jugendliche« (CASCAP-D; Döpfner et al. 1999) und das »Diagnostik-System für Psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-IV für Kinder und Jugendliche-II« (DISYPS-II; Döpfner et al. 2008). Das CASCAP-D kann als Screeninginstrument eingesetzt werden, wenn keine vollständige Abklärung der Diagnosekriterien nach ICD-10 oder DSM-IV erforderlich ist. Es besteht aus drei Komponenten: dem Befundbogen, einem Glossar mit den definierten Merkmalen und operationalisierten Symptomausprägungen sowie einem Leitfaden, in dem die Fragen zur Exploration der einzelnen Merkmale nochmals zusammengefasst sind. Der Leitfaden existiert separat für Kind und Bezugspersonen (Eltern, Lehrer), wobei keine näheren Angaben zum Altersbereich vorgegeben sind. Mit dem Befundsystem werden psychopathologische Symptome aus 13 Bereichen mit insgesamt 98 Merkmalen erfasst. In 7 Übersicht »Merkmalsbereiche des CASCAP-D« sind die 13 Merkmalsbereiche dargestellt, die anhand einer Ratingskala beurteilt werden, was eine dimensionale Beschreibung der psychischen Auffälligkeiten ermöglicht. Die klinische Beurteilung einzelner psychopathologischer Merkmale erfolgt aufgrund einer klinischen Exploration des Kindes oder Jugendlichen und der begleitenden Bezugsperson sowie aufgrund von Beobachtungen des Diagnostikers in der Untersuchungssituation. Der Zeitaufwand für die Bearbeitung des Befundbogens beträgt etwa 15 Minuten. Das CASCAP-D erlaubt eine psychopathologische Beurteilung auf zwei Ebenen. Auf der Ebene der Einzelsymptome ist das System durch seine phänomenologische Beschreibung der psychischen Störungen eine Ergänzung zu den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV. Es erlaubt eine einfache und ökonomische Dokumentation der klinischen Einschätzung und erweist sich deshalb vor allem in der klinischen Praxis bei der Verdichtung von Informationen als besonders nützlich. Die einzelnen Symptome können weiter zu Symptomskalen zusammengefasst werden, um ein individuelles Symptomskalenprofil zu erstellen. Dies erlaubt neben der klinischen Diagnose eine differenziertere Beschreibung der psychischen Auffälligkeiten auf wesentlichen Dimensionen. Es wird jedoch empfohlen, die Werte der Symptomskalen nur als erste Orientierungshilfe für die Betrachtung auf der Merkmalsebene zu nutzen. Das System erlaubt zum einen die Erfassung der Merkmale während der Exploration durch Informationen über die aktuelle Situation und die direkte Beobachtung des Diagnostikers. Zum anderen sind die Merkmalsausprägungen in anderen Kontexten durch Informationen des Kindes bzw. Jugendlichen selbst oder der Bezugspersonen erfassbar. Die Selbst- und Fremdeinschätzungen bzw. Verhaltensbeobachtungen haben bei der Beurteilung der einzelnen Merkmale unterschiedliche 1
Ausführliche Publikationen zu den Gütekriterien des aktuellen KinderDIPS sind zurzeit in Vorbereitung.
133 8.3 · Spezifische diagnostische Verfahren
Relevanz. Im Glossar wird jeweils darauf hingewiesen, in welchem Umfang Selbst- und Fremdeinschätzungen bzw. Verhaltensbeobachtungen für die klinische Beurteilung herangezogen werden müssen (Döpfner et al. 1999). Insgesamt weist das CASCAP-D zufriedenstellende bis gute interne Konsistenzen auf. Die interne Konsistenz (»Cronbach’s Alpha«) der Symptomskalen mit externaler Symptomatik (aggressive Symptomatik, dissoziale Symptome, hyperkinetische Symptome und sozial-emotionale Impulsivität) liegt bei 0,90, der Symptomskalen mit internaler Symptomatik (Sozial- und Leistungsangst und depressive Symptome) beträgt 0,74, für Sprachauffälligkeiten 0,68 und für Essstörungen 0,80. Ergebnisse zu Retest-Reliabilitäten liegen nicht vor. Zufriedenstellende Ergebnisse lassen sich bezüglich der Validitätsüberprüfung durch die Interkorrelation der Symptomskalen berichten. Sowohl die diskriminante als auch die konvergente Validität der Skalen konnte nachgewiesen werden (Döpfner et al. 1999).
Merkmalsbereiche des CASCAP-D (Döpfner et al. 1999) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Interaktion Regelbezogenes Verhalten Entwicklungsstörungen Aktivität und Aufmerksamkeit Psychomotorik Angst Zwang Stimmung und Affekt Essverhalten Körperliche Beschwerden Denken und Wahrnehmung Gedächtnis, Orientierung und Bewusstsein Andere
ICD-10 und des DSM-IV erfasst. Das System eignet sich sowohl für die praktische Anwendung im kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychologischen Bereich als auch für Forschungszwecke. Das Verfahren besteht aus 18 Einzelverfahren und kombiniert drei Beurteilungsebenen miteinander: das klinische Urteil des Diagnostikers, das Fremdurteil der Bezugsperson und das Selbsturteil des Kindes (ab 11 Jahren). Die klinische Einschätzung bildet sich in den Diagnose-Checklisten ab, die Fremd- und Selbstbeurteilung werden anhand von Beurteilungsbögen abgegeben. In . Tab. 8.1 sind die verschiedenen Instrumente des DISYPS-II zur Erfassung der einzelnen Störungsbereiche dargestellt. Der Zeitaufwand beträgt je nach Verfahren zwischen 15 und 30 Minuten. Die Diagnose-Checklisten erlauben sowohl eine kategoriale Diagnosestellung nach ICD-10 und DSM-IV als auch eine Auswertung auf dimensionaler Ebene, indem die Symptomausprägungen jeweils mit Hilfe von Ratingskalen eingeschätzt werden. Anhand der Fremd- und Selbstbeurteilungsbögen erfolgt eine dimensionale Beschreibung der psychischen Auffälligkeiten. Die internen Konsistenzen (»Cronbach’s Alpha«) der Fremd- und Selbstbeurteilungsbogen können sowohl für die Gesamt- als auch für die Subskalen mit Werten von α>0,70 als zufriedenstellend bezeichnet werden. Die Verfahren setzen die Diagnose-Kriterien von ICD-10 und DSM-IV um und gelten daher als inhaltlich valide. Korrelationen zwischen Fremdbeurteilungsbogen, Selbstbeurteilungsbogen und Diagnose-Checklisten für ADHS, Störungen des Sozialverhaltens, Angst und Depression weisen auf eine gute konvergente und divergente Validität der Verfahren hin (Döpfner et al. 2008). Interrater- und Retest-Reliabilitäten zu den Diagnose-Checklisten liegen nicht vor.
8.3.3 Standardisierte Fragebögen
Mit dem DISYPS-II werden psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach den Diagnosekriterien der
. Tab. 8.2 gibt einen Überblick über Fremd- und Selbstbeurteilungsbögen, die ein breites Spektrum psychischer und Verhaltensauffälligkeiten erfassen.
. Tab. 8.1. Instrumente des DISYPS-II. (Aus Döpfner et al. 2008) Diagnose-Checkliste (DCL)
Fremdbeurteilungsbogen (FBB)
Selbstbeurteilungsbogen (SBB)
Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung ADHS im Vorschulalter
DCL-ADHS
FBB-ADHS FBB-ADHS-V
SBB-ADHS
Störungen des Sozialverhaltens
DCL-SSV
FBB-SSV
SBB-SSV
Angststörungen Zwangsstörungen
DCL-ANG DCL-ZWA
FBB-ANZ
SBB-ANZ
Depressive Störungen
DCL-DES
FBB-DES
SBB-DES
Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
DCL-TES
FBB-TES
–
Ticstörungen
DCL-TIC
–
–
Störungen sozialer Funktionen (Bindungsstörungen und Mutismus)
DCL-SSF
–
–
Störungsbereich
8
134
Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
. Tab. 8.2. Fragebogenverfahren zur breiten Erfassung psychischer und Verhaltensauffälligkeiten Fragebogen
Autor
Alter [Jahre]
Dauer [min]
Skalen
VBV: Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder (Eltern-, Erzieherfragebogen)
Döpfner et al. 2001
3–6
30
Sozial-emotionale Kompetenzen, oppositionellaggressives Verhalten, Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität vs. Spielausdauer, emotionale Auffälligkeiten
MVL: Marburger Verhaltensliste (Elternfragebogen)
Ehlers et al. 1978
6–12
20
Emotionale Labilität, Kontaktangst, unrealistisches Selbstkonzept, unangepasstes Sozialverhalten, instabiles Leistungsverhalten
CBCL 1,5–5: »Child Behavior Checklist« (Elternfragebogen)
Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 2000a
1,5–5
20
Sozialer Rückzug, körperliche Beschwerden, ängstlich/depressiv, destruktives Verhalten, aggressives Verhalten, Schlafprobleme
CRF 1,5–5: »Child Behavior Checklist« (Erzieherfragebogen)
Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 2000b
1,5–5
20
Ängstlich/zwanghaft, depressiv/sozialer Rückzug, umschriebene Ängste, körperliche Beschwerden, unreifes Verhalten, Aufmerksamkeitsprobleme, aggressives Verhalten
CBCL 4–18: »Child Behavior Checklist« (Elternfragebogen)
Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998a
4–18
30
Aktivitäten, soziale Kompetenzen, schulische Leistungen, sozialer Rückzug, körperliche Beschwerden, Angst/Depressivität, dissoziales Verhalten, aggressives Verhalten, soziale Probleme, schizoid/zwanghaft, Aufmerksamkeitsstörungen
P3/4-SDQ: »Strengths and Difficulties Questionnaire« (Eltern-, Erzieherfragebogen)
Goodman 1997
3 (4)
5
Emotionale Symptome, Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität / Unaufmerksamkeit, Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen, prosoziales Verhalten
P/T4–16-SDQ: »Strengths and Difficulties Questionnaire« (Eltern-, Lehrerfragebogen)
Goodman 1997
3–16
5
s. P3/4-SDQ
TRF: »Teacher’s Report Form« (Lehrerfragebogen)
Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1993
6–18
20
s. CBCL 4–18
YSR: »Youth-Self-Report«
Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998b
11–18
25
s. CBCL 4–18
S11–16-SDQ: »Strengths and Difficulties Questionnaire«
Goodman, 1997
11–16
5
s. P3/4-SDQ
GBB-KJ: Gießener Beschwerdebogen für Kinder und Jugendliche
Brähler 1992
9–15
10
Allgemeinbeschwerden, Vegetativum, Schmerzen, Emotionalität, Kinderbeschwerden
SCL-90-R: Symptom-Checkliste von Derogatis
Franke 1995
ab 14
20
Somatisierung, Zwanghaftigkeit, Unsicherheit im Sozialkontakt, Depressivität, Ängstlichkeit, Aggressivität/Feindseligkeit, phobische Angst, paranoides Denken, Psychotizismus
BSI: »Brief Symptom Inventory«
Franke 2000
ab 13
10
s. SCL-90-R
Fremdbeurteilung
8
Selbstbeurteilung
Fragebogen für das Vorschulalter
Für Kinder im Vorschulalter kann der Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder (VBV; Döpfner et al. 2001) eingesetzt werden, der sowohl einen Elternfragebogen mit 53 Items als auch einen Erzieherfragebogen mit
93 Items umfasst. Beide Fragebögen sind gleich aufgebaut, was einen direkten Vergleich der Verhaltensweisen nach dem Urteil der Eltern und der Erzieher erlaubt. Zusätzlich zu den sozial-emotionalen Kompetenzen und den Verhaltensauffälligkeiten (. Tab. 8.2) umfasst der VBV eine Symp-
135 8.4 · Praktische Durchführung diagnostischer Verfahren
tomliste mit umschriebenen Auffälligkeiten (z. B. Einnässen oder Einkoten). Das Verfahren ist auf das Vorschulalter begrenzt, was den Vorteil hat, dass eine alterstypische Ausprägung der Auffälligkeiten und Kompetenzen gut erfassbar ist. Sowohl die Skalen für den Eltern- als auch für den Erzieherfragebogen sind faktoriell gesichert und intern konsistent. Mit der Marburger Verhaltensliste (MVL, Ehlers et al. 1978) existiert ein weiterer Fragebogen für Eltern. Er umfasst 80 Items, mit denen bestimmte Verhaltensweisen der Kinder in den letzten zwei Wochen erfasst werden. Es soll angegeben werden, wie oft das erfragte Verhalten zu beobachten war. Die Items können fünf Subskalen zugeordnet werden (. Tab. 8.2) und lauten z. B. wie folgt: »Wird verlegen oder weicht aus, wenn es Schulkameraden auf der Straße begegnet«, »Wird bei geringem Anlass jähzornig«. Der Fragebogen dient der quantitativen Abklärung der Therapiebedürftigkeit von Kindern auf der Verhaltensebene. Die Gütekriterien der MVL fallen zufriedenstellend bis gut aus. »Child Behavior Checklist« und »Youth Self Report«
Ein weiteres Instrument ist das Fragebogensystem von Achenbach, das von der Arbeitsgruppe »Deutsche Child Behavior Checklist« für die deutschsprachige Anwendung übersetzt und überprüft wurde. Dieses Instrument umfasst insgesamt sieben verschiedene Fragebögen, wobei fünf davon für die Anwendung im Kindes- und Jugendalter konzipiert sind. Die Fragebögen enthalten Items, die zu Kompetenz- und Problemskalen zusammengefasst werden können (. Tab. 8.2). Den verschiedenen Problemskalen sind wiederum drei Skalen übergeordnet, bezeichnet als internalisierende Skala, externalisierende Skala und Gesamtauffälligkeiten-Skala. Als Fremdbeurteilungsbögen für Eltern/Erzieher gibt es die CBCL/CRF 1,5–5 (2000a,b) und für Eltern die CBCL 4–18 (1998a), dem Namen entsprechend, für 1,5- bis 5-Jährige bzw. 4- bis 18-Jährige. Die CBCL 1,5–5 und CRF 1,5–5 enthalten jeweils 99 Items, die zu Problemskalen zusammengefasst werden. Die CBCL 4–18 mit 118 Items stellt den Kern des Fragebogensystems dar. Eine weitere Fremdbeurteilungsversion existiert für Lehrpersonen, die »Teacher’s Report Form« (TRF 1993). Diese Version ist analog zum Elternfragebogen aufgebaut (CBCL 4–18). Einzig Items, die das in der Familie beobachtbare Verhalten beschreiben, sind durch Items ersetzt, die Verhaltensprobleme in schulischen Situationen erfassen. Schließlich gibt es den Selbstbeurteilungsbogen für Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren, der »Youth Self-Report« (YSR 1998b), der fast identisch zur Elternversion (CBCL 4–18) aufgebaut ist. Items, die für die Selbstbeurteilung durch den Jugendlichen weniger geeignet sind, sind durch Items ersetzt, die sozial erwünschtes Verhalten beschreiben. Diese positiven Items werden in der Auswertung jedoch nicht berücksichtigt. Für alle fünf Fragebögen konnten die faktorielle Validität sowie die interne
Konsistenz der einzelnen Problemskalen und der übergeordneten Skalen weitgehend gesichert werden. Weitere Breitbandverfahren
Der Fragebogen zu Stärken und Schwächen (SDQ, »The Strengths and Difficulties Questionnaire«; Goodman 1997; deutsche Übersetzung: www.sdqinfo.com) existiert in drei Versionen: eine Version für Eltern oder Lehrer für 4- bis 16-Jährige (P/T4–16-SDQ), eine Eltern-, Erzieherversion für 3- (und 4-) Jährige (P3/4-SDQ) und ein Selbstbeurteilungsbogen für Kinder und Jugendliche von 11 bis 16 Jahren (S11–16-SDQ). Der Fragebogen umfasst 25 Items, die zu fünf verschiedenen Skalen (. Tab. 8.2) zusammengefasst werden können. Die faktorielle Struktur des SDQ konnte weitgehend gesichert werden und sowohl die Reliabilität als auch die Validität fallen zufriedenstellend aus. Als Selbstbeurteilungsfragebogen ist der »Gießener Beschwerdebogen für Kinder und Jugendliche« (GBB-KJ; Brähler 1992) zu nennen, der mit einem Umfang von 59 Items, die gegenwärtigen Körperbeschwerden erfasst. Der Fragebogen ermöglicht eine systematische Abfrage von Körperbeschwerden und gibt bei Kindern mit Verhaltensstörungen und anderen psychischen Auffälligkeiten einen Hinweis auf den Leidensdruck dieser Kinder. Die Reliabilität dieses Bogens konnte als zufriedenstellend bewertet werden, hinsichtlich der Validität gibt es keine eindeutig zufrieden stellenden Ergebnisse. Die deutsche Version der Symptom-Checkliste von Derogatis (SCL-90-R; Franke 1995) besteht aus 90 Items zur Selbstbeurteilung der psychischen Belastung auf neun Dimensionen. Für diesen umfangreichen Fragebogen wurde eine Kurzform mit 53 Items entwickelt, das »Brief Symptom Inventory« (BSI; Franke 2000). Für beide Versionen sind zufriedenstellende bis gute Reliabilitäten festgestellt worden und der SCL-90-R konnte als valides Instrument gesichert werden. Für die Überprüfung der faktoriellen Validität des BSI sind noch Untersuchungen notwendig. Die Auswahl des geeigneten Fragebogens hängt jeweils von der aktuellen Problematik und der Beschwerden des Kindes bzw. Jugendlichen ab und kann sehr variieren. Die CBCL und der SDQ in den verschiedenen Versionen sind sehr häufig eingesetzte Verfahren, da sie für eine breite Altersspanne anwendbar sind, eine große Bandbreite verschiedener Symptome erfassen und damit verschiedene Sichtweisen (Selbsturteil, Eltern- und Erzieher-/Lehrerurteil) erfragt werden können, was eine vollständige Erfassung der aktuellen Situation gewährleistet.
8.4
Praktische Durchführung diagnostischer Verfahren
Für eine zuverlässige Diagnostik ist neben reliablen und validen Instrumenten eine sorgfältige Anwendung dieser Verfahren notwendig. Im Folgenden werden die einzelnen
8
136
Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
Schritte und die zur Anwendung kommenden Verfahren des diagnostischen Vorgehens genauer beschrieben. Dabei ist zwischen Interventionen zu unterscheiden, die für eine erfolgreiche Verhaltenstherapie unbedingt erforderlich sind und deshalb immer mit berücksichtigt werden müssen und solchen, die je nach Bedarf ergänzend angewendet werden können. Die folgende 7 Übersicht soll einen Überblick über die erforderlichen Schritte und ergänzenden Verfahren geben und somit die Planung einer sorgfältigen Diagnostik ermöglichen.
Erforderliche und ergänzende Schritte in der Diagnostik
8
1. Schritt: Erstgespräch a) Gemeinsames Gespräch mit Eltern und Kind zur Klärung eines allgemeinen Eindrucks, Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung und Vermittlung eines Überblicks für das weitere Vorgehen – Je nach Bedarf Fragebögen 2. Schritt: diagnostische Einordnung a) Differenzialdiagnostik mit Hilfe reliabler und valider Verfahren (z. B. strukturiertes Interview, Diagnose-Checklisten). b) Medizinische Differenzialdiagnostik zum Ausschluss organischer Ursachen – Je nach Beschwerdebild zusätzliche Intelligenzdiagnostik – Je nach Bedarf Fragebögen 3. Schritt: Problem- und Verhaltensanalyse und die Therapieplanung a) Detailanalyse der auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen (z. B. SORKC-Modell) – Je nach Bedarf Verhaltensbeobachtungen (z. B. Tagebuch) – Je nach Bedarf Familiendiagnostik
8.4.1 Schritt 1: Erstgespräch – das Explorieren
In einem ersten Schritt geht es darum, Informationen zu sammeln und einen Überblick über den Behandlungsanlass zu gewinnen. Dazu wird ein gemeinsames Erstgespräch mit beiden Elternteilen und dem Kind bzw. Jugendlichen durchgeführt. Dies bietet zugleich die Möglichkeit, zu beobachten, wie die Beteiligten miteinander interagieren. Bei jüngeren Kindern können Sitzungen zunächst auch nur mit den Eltern durchgeführt werden, was bei Jugendlichen hingegen nicht empfehlenswert ist, da dies das Risiko birgt, dass ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit verloren geht. Wenn die gemeinsame Exploration dazu führt, dass sich das Kind bzw. der Jugendliche sehr unwohl fühlt, z. B., wenn die Eltern über das Problemverhalten berichten, oder
dass die Beteiligten Informationen zurückhalten, können in den folgenden Sitzungen die Explorationen auch getrennt erfolgen. Zur Entschärfung der Situation kann es hilfreich sein, die Aufmerksamkeit auf positive Eigenschaften des Kindes bzw. Jugendlichen zu richten. Allgemein sollte darauf geachtet werden, dass die Exploration nicht nur auf das problematische Verhalten abzielt, sondern vielmehr auch Interessen, Stärken und besondere Fähigkeiten des Kindes bzw. Jugendlichen berücksichtigt. Somit erhält der Diagnostiker Informationen über vorhandene Ressourcen, die später zur Problemlösung genutzt werden können. Ziel der Exploration ist es, neben der Klärung des Behandlungsanlasses eine vertrauensvolle Beziehung zum Kind und den Eltern aufzubauen. Dies spielt vor allem bei ängstlichen und jüngeren Kindern eine wichtige Rolle und bei Eltern mit Ängsten oder einer starken Abwehrhaltung. Der Rapport ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Diagnostikphase und die anschließende Behandlungsphase. Die Eltern und das Kind fühlen sich verstanden, wenn der Diagnostiker empathisch ist und nicht wertend reagiert. Die Exploration sollte mit offenen Fragen beginnen, die immer spezifischer werden. Die Beteiligten erhalten somit zunächst die Gelegenheit, ihr Anliegen auf ihre Art und Weise zu erzählen. Der Diagnostiker kann sich dadurch an den vorgebrachten Problemen orientieren und sich durch Nachfragen Klarheit verschaffen und Einzelheiten klären. Mit diesem Vorgehen kann auch einer vorzeitigen Einengung der Aufmerksamkeit vorgebeugt werden. Bei Kindern ist auf eine kindgemäße Exploration zu achten, eine Verständigung, die dem kognitiven, sprachlichen und emotionalen Entwicklungsstand des Kindes angemessen ist. Dies erfordert eine flexible Mischung interaktiver Spieltechniken, Einsatz von Bildmaterial und direkter Befragung mit kindgemäßen Worten. Zu Beginn des Gesprächs ist es sinnvoll, formale Aspekte anzusprechen und zu klären. Dazu zählen das Informieren über die Dauer und den Ablauf der Sitzung sowie der Hinweis auf die Vertraulichkeit des Gesprächs und die Schweigepflicht des Diagnostikers. Am Ende des Erstgesprächs sollte die Familie über das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen informiert werden. Dabei ist es auch wichtig, die Erwartungen und Vorstellungen der Beteiligten hinsichtlich der Untersuchung zu klären. Zudem sollte abgeklärt werden, von welchen Bezugspersonen zusätzlich Informationen eingeholt werden dürfen (z. B. Lehrer, Arzt). Dazu sollten Einverständniserklärungen schriftlich bestätigt werden. Am Ende des Erstgesprächs können erste Fragebögen mit nach Hause gegeben werden, die für den weiteren Diagnostikprozess hilfreich sein können. Sie ermöglichen das Generieren erster Hypothesen über eine Störung, die dann im weiteren diagnostischen Verlauf weiter abgeklärt werden können.
137 8.4 · Praktische Durchführung diagnostischer Verfahren
> Fazit Wichtige Ziele des Erstgesprächs sind 4 der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zum Kind und den Eltern, 4 der Gewinn eines Überblicks über die Problematik bzw. Beschwerden sowie Ressourcen des Kindes bzw. Jugendlichen, 4 die Klärung formaler Aspekte.
8.4.2 Schritt 2: Die diagnostische Einordnung
Als Nächstes geht es um die Erfassung des psychopathologischen Befundes des Kindes bzw. Jugendlichen. Ziel ist die diagnostische Einordnung einschließlich der Differenzialdiagnose, die mit Hilfe von strukturierten Interviews oder Checklisten erfolgt. Für die korrekte Durchführung strukturierter Interviews ist eine gute Einführung und Vorbereitung des Kindes bzw. der Eltern notwendig. Das folgende 7 Beispiel gibt die Einführung eines Kindes in ein Interview wieder, die alle wichtigen Informationen zum Ablauf des Interviews und Vorgehen des Diagnostikers enthält.
Beispiel Beispiel für die Einführung eines Kindes in ein diagnostisches Interview Diagnostiker: »Weißt du, (Kind beim Namen nennen), warum du heute hier bei mir bist?« Kind: »…« Diagnostiker nimmt die Antwort des Kindes auf und ergänzt: »Du bist zu mir gekommen, weil wir herausfinden möchten, welche Schwierigkeiten du hast und was notwendig ist, damit du dich wieder besser fühlst. Ich werde dir dazu ganz viele Fragen zu unterschiedlichen Bereichen stellen, in denen Kinder und Jugendliche Schwierigkeiten oder Probleme haben können. Einige Bereiche treffen vielleicht auf dich zu, andere auch nicht. Du kannst mir dann jeweils angeben, wie das bei dir ist. Es gibt dabei keine falschen Antworten, wichtig ist, wie du die Dinge erlebst, wie du dich fühlst und was du denkst. Damit ich nichts vergesse, werde ich alles, was du mir erzählst, fortlaufend notieren. Vielleicht wird es auch passieren, dass ich dich ab und zu beim Sprechen unterbreche und dir bestimmte Fragen stelle. Das passiert, damit ich auch wirklich verstehe, was du mir erzählst und keine wichtigen Fragen vergesse. Am Schluss unseres Gespräches haben wir dann nochmals genügend Zeit, über die Bereiche, die dir wichtig sind oder die du noch nicht besprechen konntest, zu reden. Wenn du müde wirst, gib mir Bescheid und wir legen eine kleine Pause ein. Das ganze Interview wird etwa eine Stunde dauern. Hast du noch eine Frage, die du mir gerne stellen möchtest? Was denkst du, wollen wir beginnen?«
Neben der Diagnostik psychischer und Verhaltensauffälligkeiten beinhaltet eine sorgfältige diagnostische Einordnung immer auch eine medizinische Abklärung durch den zuständigen Kinder- oder Facharzt, um organische Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Beschwerden des Kindes oder Jugendlichen auszuschließen bzw. zu beachten. Das Übersehen körperlicher Ursachen kann große Frustrationen für das Kind und seine Eltern bedeuten, wenn dadurch das Kind möglicherweise über Monate ohne Erfolg psychotherapeutisch behandelt wird. Das Vorliegen organischer Faktoren bedeutet nicht notwendigerweise den Ausschluss einer psychotherapeutischen Behandlung. Auch bei der Beteiligung organischer Faktoren kann es sehr sinnvoll sein, psychotherapeutische Interventionen durchzuführen. Hier sollte jedoch eine enge Kooperation und Absprache mit dem zuständigen Arzt des Kindes erfolgen (Schneider u. Türke-Teubner 2008). Abhängig von der Problematik kann eine Intelligenzdiagnostik des Kindes sinnvoll sein, um zu klären, ob die Probleme und Beschwerden des Kindes möglicherweise durch dessen mangelnde kognitive Fähigkeiten begründet sind (z. B. bei der Abklärung von ADHS). Eine Intelligenzdiagnostik ist auch dann indiziert, wenn sich anamnestische Hinweise auf Entwicklungsverzögerungen ergeben und Leistungsschwächen bzw. -defizite auftreten. Eine Intelligenzdiagnostik sollte sorgfältig abgewogen werden, da sie zeitintensiv ist. Eine Beschreibung deutschsprachiger Entwicklungsund Intelligenztests ist in 7 Kap. III/9 zu finden. Zusätzlich können auch in dieser Phase standardisierte Fragebögen eingesetzt werden, um psychische Auffälligkeiten auf einer dimensionalen Ebene zu erfassen. > Fazit Eine zuverlässige diagnostische Einordnung erfordert 4 eine psychopathologische Befunderhebung mittels strukturierten Interviews oder Diagnose-Checklisten, 4 eine medizinische Abklärung, 4 abhängig von der Problematik eine Intelligenzdiagnostik, 4 je nach Bedarf und Alter des Kindes der Einsatz von Fragebögen.
8.4.3 Schritt 3: Die Problem- und Verhaltens-
analyse und die Therapieplanung In einem nächsten Schritt wird ausgehend von der Diagnosestellung eine Detailanalyse der auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen erstellt. Die Exploration und alle diagnostischen Befunde fließen in diese Analyse mit ein. Ziel der Bedingungsanalyse ist dabei nicht eine erschöpfende Erklärung des Problemverhaltens, vielmehr ermöglicht sie die Ableitung und Planung notwendiger Interventionen. Als Beispiel soll hier das SORKC-Modell genannt werden, anhand dessen die dem Problemverhalten vorhergehenden
8
138
Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
. Tab. 8.3. SORKC-Modell bei einem Kind mit einer spezifischen Phobie vor Feuerwerk S
O
R
K
C
Kind steht mit seinen Eltern abseits von der Gruppe während eines Feuerwerks
Hohe Trait-Angst bzw. hohes Ausmaß an Behavioral-Inhibition
Verhalten: Kind hält sich die Ohren zu und stellt sich hinter seinen Vater Gedanken: »Ich hasse es. Die sind alle verrückt.« Gefühle: Angst, Wut Physiologie: Herzklopfen, Zittern
Hoch: Negative Verstärkung und Bestrafung erfolgen kontinuierlich
Kurzfristig: Angst lässt nach, Situation ist aushaltbar (negative Verstärkung). Langfristig: Aufrechterhaltung der Angst und der Vermeidung, geringes Selbstwertgefühl (Bestrafung)
S Stimulus; O Organismusvariable; R Reaktion des Kindes bzw. Jugendlichen; K Regelmäßigkeit der Konsequenz auf die Reaktion; C Konsequenz auf die Reaktion.
8
und nachfolgenden Bedingungen analysiert werden: »S« steht für Stimulus und stellt die Situation dar, die das Problemverhalten auslöst, »O« ist die Organismusvariable und beschreibt die biologischen Bedingungen und überdauernden Merkmale und Einstellungen des Kindes bzw. Jugendlichen (z. B. Temperament, Intelligenz), »R« ist die Reaktion des Kindes bzw. Jugendlichen, »K« definiert die Regelmäßigkeit, mit der die Konsequenz auf die Reaktion erfolgt und »C« beschreibt die Konsequenzen auf die Reaktion (7 Kap. I/21)). In . Tab. 8.3 ist ein SORKC-Modell für ein Kind mit einer spezifischen Phobie vor Feuerwerk zur Veranschaulichung dargestellt. Neben der Exploration im Gespräch können anhand von Verhaltensbeobachtungen (Selbst- und Fremdbeobachtungen) aufrechterhaltende Bedingungen der Problematik des Kindes erfasst werden. Insbesondere bei älteren Kindern und Jugendlichen können dafür z. B. Tagebücher in der Diagnostikphase und über die gesamte Dauer der Therapie hinweg hilfreich sein. Sie schulen zum einen das Kind in der genauen Beobachtung seiner Verhaltens- bzw. psychischen Probleme und erlauben zudem eine kontinuierliche Kontrolle des Therapiefortschritts. Je nach Art der Störung werden in den Tagebüchern unterschiedliche Informationen erfasst (z. B. Gedanken, Gefühle, Aktivitäten). In . Abb. 8.2 ist ein Beispiel für ein Tagebuch abgebildet, das in der Diagnostik und Behandlung von Trennungsängsten eingesetzt werden kann. Die Familiendiagnostik bietet zusätzlich zur kindbezogenen Diagnostik die Möglichkeit abzuklären, ob und in welcher Weise die Symptomatik des Kindes oder Jugendlichen mit familiären Interaktions- und Beziehungsformen zusammenhängt. Mit Hilfe von Fragebögen, Interviews und Beobachtungsmethoden wird versucht, die Interaktion des Kindes bzw. Jugendlichen mit seinen nächsten Bezugspersonen zu objektivieren. Folgende Instrumente können dazu eingesetzt werden: 4 Familienbögen (FB; Cierpka u. Frevert 1994), 4 Familienidentifikationsbild (FIT; Remschmidt u. Mattejat 1999),
4 Familiensystemtest (FAST; Gehring 1998), 4 subjektives Familienbild (SFB; Mattejat u. Scholz 1994), 4 Erziehungsstil-Inventar (ESI; Krohne u. Pulsack 1990). Formulierung von Behandlungszielen
Als Abschluss der diagnostischen Phase werden die Behandlungsziele, die meist schon im Erstgespräch angesprochen wurden, vor dem Hintergrund der Bedingungsanalyse mit allen Beteiligten gemeinsam definiert. Wichtig ist dabei, dass die Ziele konkret formuliert werden, damit sie auch überprüft werden können. Häufig stehen die Kinder bzw. Jugendlichen selbst weder unter einem Leidensdruck, noch verfügen sie über ein Problembewusstsein. Meist sind es die Eltern, die mit ihrem Kind zur Abklärung kommen. Daher kann es auch notwendig sein, dass zunächst die Motivation beim Kind oder Jugendlichen aufgebaut werden muss, bevor über die Behandlung gesprochen wird. Die Überprüfung der Therapieziele, die sich meist auf die Abnahme von Problemen beziehen, erfolgt während des Therapieverlaufs, wozu als diagnostische Verfahren meist Fragebögen, Checklisten oder auch Verhaltensbeobachtungen zum Zuge kommen. Fragebögen eignen sich besonders, da sie durch die dimensionale Erfassung kleine Veränderungen und Fortschritte erkennen lassen. Verhaltensbeobachtungen können von therapeutischem Nutzen sein, wenn der Fokus auf dem erwünschten Verhalten liegt. Sie können zudem als ein Bestandteil der therapeutischen Intervention angesehen werden, da sich erstens die Problemwahrnehmung der Bezugspersonen ändern kann (Feststellung, dass Verhalten doch nicht so oft vorkommt) und zweitens sich die Häufigkeit und Intensität des Problems tatsächlich vermindert (Kind erkennt, dass es gezielt beobachtet wird). Am Ende der Therapie und auch zu Nachuntersuchungen sollten nochmals strukturierte Interviews oder Checklisten durchgeführt und Fragebögen ausgeteilt werden, um den Therapieerfolg zu messen.
139 8.4 · Praktische Durchführung diagnostischer Verfahren
. Abb. 8.2. Tagebuch zur Erfassung von Trennungsängsten
8
140
Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
> Fazit Ziel der Bedingungsanalyse ist die Planung notwendiger Interventionen für eine erfolgreiche Behandlung. Dazu eignen sich neben der Exploration im Gespräch Verhaltensbeobachtungen (z. B. mittels Tagebücher) und eine Familiendiagnostik. Gemeinsam mit allen Beteiligten sollten zum Schluss der Diagnostikphase die Behandlungsziele konkret definiert werden.
8.5
Grenzen und Schwierigkeiten
Im diagnostischen Vorgehen können trotz guter Vorbereitungen vonseiten aller Beteiligten auch Schwierigkeiten auftreten. Diese sind einerseits auf die einzelnen Verfahren, andererseits auf die beteiligten Personen zurückzuführen.
8.5.1 Fehlerquellen diagnostischer Verfahren
8
Bei der Anwendung diagnostischer Instrumente ist es wichtig, sich deren Fehlerquellen bewusst zu sein. In . Tab. 8.4 sind die Fehlerquellen bei der Durchführung von Checklisten und strukturierter Interviews (Schneider et al. 2009 und bei der Anwendung standardisierter Fragebögen (Brähler u. Schumacher 2005) beschrieben. Bei der Anwendung von strukturierten Interviews, Checklisten und Fragebögen kommen zudem Wahrneh-
mungs- und Urteilsverzerrungen hinzu, die bei den ersten beiden Verfahren vom Diagnostiker zwar korrigiert werden können (klinisches Urteil), doch ist der Diagnostiker in seinem Urteil von den Informationen abhängig, die er von den Beteiligten erhält. Weitere Grenzen dieser Verfahren liegen darin, dass sie erst ab einem gewissen Alter eingesetzt werden können, meist ab dem 6. oder 8. Lebensjahr. Problematisch bei der Anwendung von Fragebögen ist zudem, dass die Angaben nicht näher exploriert werden können. Vorsicht ist auch bei der Bewertung des Verhaltens während der diagnostischen Untersuchung geboten. Das beobachtete Verhalten kann für das übliche Verhalten in realen Lebensbereichen untypisch sein. Verhaltensbeobachtungen im natürlichen Umfeld des Kindes bzw. Jugendlichen können diesem Problem zwar entgegenwirken, doch sind diese Methoden sehr zeitaufwendig und für den Diagnostiker nicht immer durchführbar. > Fazit Trotz guter Gütekriterien bergen diagnostische Instrumente Fehlerquellen, denen sich der Anwender bewusst sein sollte.
8.5.2 Schlechte Compliance
Wenn das Kind bzw. der Jugendliche die Mitarbeit verweigert, wird die Durchführung der Diagnostik schwierig.
. Tab. 8.4. Fehlerquellen bei strukturierten Interviews und standardisierten Fragebögen Instrument
Fehlerquelle
Strukturierte Interviews
Informationsvarianz Unterschiedliche Antworten des Patienten auf gleiche Fragen Symptomgewichtung Unterschiedliche Bewertung der Symptome durch verschiedene Diagnostiker Interviewervarianz Fehlerhafte Durchführung des Interviews oder der Anwendung der Diagnosekriterien Ungenauigkeit Unpräziser Interviewleitfaden oder ungenaue Diagnosekriterien Symptomvarianz Verbesserung des Zustandes des Patienten zwischen zwei diagnostischen Interviews Therapieeinfluss Verbesserung des Zustandes des Patienten durch Interventionen
Standardisierte Fragebögen
Testkonstruktion Unklare Itemformulierungen Effekte der Itempositionierung und der Antwortvorgaben Standardreihenfolge vs. inhaltshomogene Blockbildung von Items Erinnerungs-, Selbstbeobachtungs- und Selbstdarstellungsfehler Selbsttäuschung, Gedächtnisbeeinträchtigung Absichtliche Verfälschungen Simulation, Bagatellisierung Antworttendenzen Soziale Erwünschtheit, extreme Antworten Systematische Bearbeitungsfehler Falsche Schlussfolgerungen
141 8.5 · Grenzen und Schwierigkeiten
Zwar besteht die Möglichkeit, Angaben von den Bezugspersonen zu gewinnen, doch gehen wichtige und nützliche Informationen verloren, wenn das Kind oder der Jugendliche nicht auch eigene Angaben machen. Die Gründe für eine schlechte Compliance können unterschiedlich sein: Es konnte noch keine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut werden, es wurden bereits schlechte Erfahrungen gemacht oder das Kind bzw. der Jugendliche hat ein ängstliches, gehemmtes Temperament. Eine schlechte Compliance kann auch seitens der Eltern bestehen. Gründe hierfür liegen oftmals in negativen Erfahrungen mit früheren psychologischen Untersuchungen, Ängsten und Unsicherheiten oder eigener Psychopathologie der Eltern. Um die Mitarbeit des Kindes bzw. Jugendlichen und der Eltern zu fördern, lohnt es sich, sich zuerst ausreichend Zeit für den Beziehungsaufbau zu nehmen. Für Kinder und Jugendliche eignen sich dazu insbesondere spielerische Aktivitäten (z. B. Memory, Kartenspiele). Bei jüngeren Kindern kann auch der Einsatz von Handpuppen einen hilfreichen Einstieg bieten. Mit Hilfe von Handpuppen kann ein Gespräch geführt werden, ohne dass das Kind direkt gefragt wird oder über sich selbst erzählen muss. Wenn sich das Kind nicht von den Eltern trennen möchte, kann ihm gezeigt werden, wo sich die Eltern in der Zwischenzeit aufhalten werden. Gelegentlich kann es auch vorkommen, dass das Kind mitten in einer diagnostischen Untersuchung seine Eltern sehen oder sich absichern möchte, dass sie noch da sind und z. B. im Wartezimmer auf es warten. Diesem Wunsch des Kindes kann nachgegeben werden, denn oftmals reicht ein kurzer Besuch der Eltern aus, dass das Kind sich beruhigt und die Untersuchung weitergeführt werden kann. Wenn die Angst des Kindes so groß ist, dass es sich unter keinen Umständen von den Eltern trennt, können die Eltern bei der Untersuchung anwesend sein. In solchen Situationen ist unbedingt darauf zu achten, dass das Kind in der Beantwortung der Fragen nicht von den Eltern beeinflusst wird. > Fazit Bei schlechter Mitarbeit oder gar Verweigerung seitens des Kindes bzw. Jugendlichen oder der Eltern lohnt es sich, mehr Zeit in den Beziehungsaufbau zu investieren.
8.5.3 »Weiß-nicht«-Antworten
In der Befragung von Kindern kommt es immer wieder vor, dass man auf Kinder trifft, die dazu neigen, »Weiß-nicht«Antworten zu geben. Es kann durchaus lohnenswert sein, sich nicht immer sofort mit solch einer Antwort zufriedenzugeben, z. B., wenn das Kind nicht über die Frage nachdenkt, sondern von vornherein »weiß nicht« antwortet. In solch einem Fall sollte das Kind dazu ermuntert werden, sich ruhig ein bisschen Zeit zu nehmen, um über die Frage nachzudenken. Es kann natürlich auch sein, dass einige
Kinder tatsächlich keine Antwort geben können, z. B., wenn sie zu Gefühlen gefragt werden, weil sie es nicht gewohnt sind, über ihre Gefühle zu sprechen und diese nicht benennen können. In solchen Fällen ist es hilfreich, dem Kind eine Auswahl an Beispielen, wie sich jemand fühlen kann, vorzugeben, so dass es die für sich zutreffende Antwort auswählen kann. Hierbei besteht die Gefahr, dass das Kind eine Antwortmöglichkeit auswählt, obwohl diese nicht tatsächlich zutrifft. Durch eine sorgfältige und einfühlsame Vorgehensweise, gilt es abzuschätzen, ob ein Kind die Antwort tatsächlich nicht weiß oder ob es nicht motiviert ist mitzumachen (Angold 2002). Im folgenden 7 Beispiel ist ein Dialog für den Umgang mit »Weiß-nicht«-Antworten aufgeführt.
Beispiel Beispiel für den Umgang mit »Weiß-nicht«Antworten Diagnostiker: »Seit wann bist du denn so traurig?« Kind: »Ich weiß nicht.« Diagnostiker: »Hast du eine Idee, wann das angefangen hat mit dem Traurigsein?« Kind: »Mmh, keine Ahnung.« Diagnostiker: »Vielleicht kannst du dich erinnern, dass etwas Besonderes passiert ist, das dich traurig gemacht hat?« Kind: »Ja, da waren die anderen Kinder, die haben mir immer so schlimme Sachen gesagt.« Diagnostiker: »Welche Kinder waren denn das?« Kind: »Die anderen Kinder in meiner Klasse.« Diagnostiker: »Haben die dir schon immer schlimme Sachen gesagt?« Kind: »Nein, nicht immer.« Diagnostiker: »Kannst du dich erinnern, war das schon vor den Sommerferien so?« Kind: »Nein.« Diagnostiker: »Hat das nach den Ferien begonnen?« Kind: »Ja, als der Neue zu uns in die Klasse kam.« …
> Fazit »Weiß-nicht«-Antworten sind bei der Arbeit mit Kindern kein seltenes Phänomen, was seitens des Diagnostikers Einfühlungsvermögen, Kreativität und eine gewisse Hartnäckigkeit erfordert.
8.5.4 Unterschiedliche Informationen
von Eltern und Kind Untersuchungen zur Übereinstimmung von Kinderauskünften mit Elternauskünften ergeben konsistent, dass sich
8
142
8
Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
Eltern und Kinder in ihren Angaben zur Art und Häufigkeit von Symptomen beim Kind stark unterscheiden (Schneider et al. 1995). Generell kommt es bei gut beobachtbaren und klar definierten Beschwerden (z. B. Ausscheidungsstörungen) zu guten Übereinstimmungen zwischen Eltern und ihren Kindern und bei Verhaltensweisen, die stark von der subjektiven Bewertung abhängen zu schlechteren Übereinstimmungen. So können z. B. bestimmte Verhaltensweisen für die Eltern ein größeres Problem darstellen als für das Kind bzw. den Jugendlichen selbst (z. B. bei expansiven Verhaltensstörungen). Am schlechtesten stimmen Selbstund Fremdangaben bei der Befragung der Befindlichkeit des Kindes oder Jugendlichen überein. So ist es z. B. möglich, dass das Kind sich durch seine Ängste nicht beeinträchtigt fühlt, während die Eltern in ihrem Alltag erheblich beeinträchtigt sind. Weiter bestehen Diskrepanzen vor allem in den Angaben zu Ursache, Art, Häufigkeit und Ausmaß der Symptome. Bezugspersonen können dazu neigen, die Symptomatik der Beschwerden des Kindes bzw. Jugendlichen überzubewerten (z. B., wenn das problematische Verhalten erst kürzlich aufgetreten ist) oder aber auch zu unterschätzen (z. B. werden familiäre Konflikte verschwiegen). Eine mangelnde Übereinstimmung kann weiter aufgrund des Alters des Kindes bestehen. Jüngere Kinder haben mehr Mühe, Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen zu beschreiben, korrekte und detaillierte Angaben zu machen und zeigen mehr Verständnisschwierigkeiten. Bei Jugendlichen hingegen liegen die Gründe für schlechte Übereinstimmungen meist darin, dass sie ihren Bezugspersonen nicht mehr alles erzählen und diese deshalb über die Probleme und Schwierigkeiten nicht gut informiert sind. Die elterliche Psychopathologie spielt eine weitere Rolle in der Nichtübereinstimmung von Eltern- und Kindangaben. So können Eltern mit psychologischen Störungen z. B. sensibler für die Symptomatik ihres Kindes sein, das kindliche Verhalten falsch interpretieren oder die eigenen Symptome auf ihr Kind projizieren (Grills u. Ollendick 2002). Bedeutet diese mangelnde Eltern-Kind-Übereinstimmung nun, dass Eltern oder Kinder falsche Angaben machen bzw. einer von beiden nicht die Wahrheit sagt? Diese Frage offenbart unserer Meinung nach eine falsche Herangehensweise an die vorliegende Problematik, da sie impliziert, dass es »richtige« oder »wahre« Angaben gibt. Vielmehr ist es aber so, dass Eltern und Kind jeweils ihre Sichtweise des Problems schildern, und Aufgabe des klinischen Kinderpsychologen bzw. -psychiaters muss es sein, die unterschiedlichen Sichtweisen von Eltern und Kind zu integrieren und für die Diagnostik psychischer Störungen nutzbar zu machen. Es ist daher für eine sorgfältige Exploration der psychischen Störungen des Kindes oder Jugendlichen notwendig, Eltern und Kind und ggf. weitere Bezugspersonen, wie z. B. Lehrer, zu den Beschwerden des Kindes zu befragen und bei voneinander abweichenden Angaben die unterschiedlichen Sichtweisen sinnvoll zu integrieren.
Die Konfrontation einer Diskrepanz in einer gemeinsamen Sitzung mit allen Beteiligten erweist sich als weniger geeignet, da dies zu Konflikten führen kann und Informanten ihre Meinungen ändern und möglicherweise zugeben müssen, dass sie ihre Angaben nicht korrekt waren oder sie nicht genügend informiert sind. Außerdem wird das Vertrauensverhältnis zwischen dem Kind bzw. Jugendlichen und Diagnostiker dadurch unnötig belastet. Kraemer et al. (2003) betonen den Nutzen verschiedener Informanten mit unterschiedlichen Sichtweisen. Nur verschiedene, sich ergänzende Informationen können eine vollständige Erfassung der Situation des Kindes und seiner Beschwerden gewährleisten. Dies ist die Voraussetzung für eine valide Diagnosestellung. Im Allgemeinen empfiehlt es sich, bei einer Nichtübereinstimmung zwischen dem Bericht des Kindes und dem der Eltern unterschiedlich stark zu gewichten: bei externalisierenden Störungen und zeitlichen Einordnungen mehr die Elterninformationen und bei internalisierenden Störungen stärker die Angaben der Kinder bzw. Jugendlichen zu berücksichtigen. > Fazit Eltern- und Kinderauskünfte können sehr unterschiedlich ausfallen, insbesondere in der Angabe zur Art und Häufigkeit von Symptomen. Wichtig ist es, die unterschiedlichen Sichtweisen für die Diagnosestellung zu beachten und zu integrieren. Denn nur verschiedene Informanten mit unterschiedlichen, sich ergänzenden Sichtweisen ermöglichen ein umfassendes Verständnis der Situation des Kindes und seiner Beschwerden.
8.6
Ausblick
Der diagnostische Wandel der letzten Jahrzehnte hat auch im Kindes- und Jugendlichenbereich seine Spuren hinterlassen. Entwicklungen sind sowohl im Bereich der kategorialen als auch der dimensionalen Diagnostik zu finden. Eine reliable und valide Diagnosestellung ist zum einen auf die verbesserte kategoriale Diagnostik zurückzuführen, was mit der Entwicklung operationalisierter Diagnosesysteme und standardisierter Verfahren, wie diagnostische Interviews und Checklisten, erreicht wurde. Zum anderen spielte der stärkere Einbezug des dimensionalen Aspekts eine wesentliche Rolle. Eine Reihe neuer Untersuchungsverfahren ist dazu entwickelt worden, insbesondere Fragebögen, die für die Diagnostik psychischer Störungen im Kindesund Jugendalter eingesetzt werden können. Der dimensionale Ansatz ist außerdem auch bei den diagnostischen Verfahren zur kategorialen Diagnostik integriert worden, um zusätzliche wichtige Informationen zu gewinnen. Die reliable und valide Diagnosestellung anhand verbesserter Instrumente ist eine wichtige Voraussetzung für eine effiziente Behandlung. Allgemein sind störungsübergreifende Verfahren im Kindes- und Jugendalter aber immer noch rar
143 Literatur
und auf wenige Instrumente begrenzt. Vor allem für das Vorschulalter stehen kaum standardisierte Verfahren zur Verfügung. Weiter besteht im Bereich der Verhaltensbeobachtungen ein großer Bedarf standardisierter Methoden, insbesondere für die Selbstbeobachtung. Gefragt sind hier vor allem Verfahren, die diagnostische Informationen und den Therapieerfolg erfassen. Insgesamt zeigt sich eine erfreuliche Entwicklung in der Diagnostik psychischer Störungen. Es bedarf jedoch weiterer systematischer Forschung. Zum einen, um die Auswahl diagnostischer Instrumente zu vergrößern, zum anderen, um mit bestehenden Schwierigkeiten effizient umgehen zu können. Dazu zählt z. B. der Umgang mit unterschiedlichen Angaben verschiedener Informanten.
Zusammenfassung Eine umfassende Diagnostik im Kindes- und Jugendalter erfordert die Erfassung der psychischen und Verhaltensauffälligkeiten 1. auf verschiedenen Ebenen (kognitive, emotionale, physiologische und Handlungsebene), 2. durch mehrere Informanten (Kind, Eltern, Erzieher, Kindergärtnerin, Lehrer), 3. anhand unterschiedlicher Verfahren (zur Erfassung des klinischen Urteils, Fremd- und Selbsturteils sowie Verhaltensbeobachtungen, Testleistungen und physiologische Messungen) und 4. zu verschiedenen Zeitpunkten (vor, während und nach der Behandlung). Die klinischpsychologische Diagnostik kann in einen mehrstufigen Untersuchungsprozess unterteilt werden, wobei es in einem ersten Schritt um die Exploration der aktuellen Situation und der Problematik geht. Ziele dabei sind vor allem die Klärung des Behandlungsanlasses und der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Daraufhin folgt in einem zweiten Schritt die Differenzialdiagnostik. Mit Hilfe von strukturierten Interviews oder Diagnose-Checklisten wird der psychopathologische Befund erhoben. Die Differenzialdiagnose beinhaltet zudem eine medizinische Abklärung und je nach Problematik ist zusätzlich eine Intelligenzdiagnostik erforderlich. Im dritten Schritt erfolgt schließlich aufgrund der erhobenen Befunde eine Problem- und Verhaltensanalyse mit dem Ziel der Definition der Behandlungsziele. Je nach Stufe werden mit der Diagnostik unterschiedliche Funktionen erfüllt, so z. B. eine deskriptive, eine klassifikatorische oder eine evaluative. Alle Funktionen und Ziele dienen jedoch der Hauptaufgabe des diagnostischen Vorgehens, nämlich der Indikationsstellung und Planung psychologischer, psychosozialer oder medizinischer Interventionen zur Verminderung psychischer Auffälligkeiten. Für eine reliable und valide Diagnostik ist neben dem Einsatz von standardisierten und strukturierten Verfahren zum einen die korrekte Anwendung und Durchführung dieser Verfahren notwendig, zum anderen braucht es eine gute Vorbereitung sowohl seitens des Diagnostikers als auch der Beteiligten. Dennoch können Schwierigkeiten
während des diagnostischen Vorgehens auftreten, wie z. B. eine mangelnde Compliance, »Weiß-nicht«-Antworten oder schlechte Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Informanten. Gerade bei der Befragung von Kindern sind »Weiß-nicht«-Antworten kein seltenes Phänomen und stellen für den Diagnostiker eine Herausforderung dar.
Literatur Angold, A. (2002). Diagnostic interviews with parents and children. In M. Rutter & E. Taylor (Eds.), Child and Adolescent Psychiatry (pp. 32– 51), (4th edition). Oxford: Blackwell Science. Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1993a). Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen; deutsche Bearbeitung der Teacher’s Report Form der Child Behavior Checklist (TRF). Einführung und Anleitung zur Handauswertung, bearbeitet von M. Döpfner & P. Melchers. Köln: Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD). Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1998a). Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen; deutsche Bearbeitung der Child Behavior Checklist (CBCL/ 4-18). Einführung und Anleitung zur Handauswertung. 2. Auflage mit deutschen Normen, bearbeitet von M. Döpfner, J. Plück, S. Bölte, K. Lenz, P. Melchers & K. Heim. Köln: Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD). Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1998b). Fragebogen für Jugendliche; deutsche Bearbeitung der Youth Self-Report Form der Child Behavior Checklist (YSR). Einführung und Anleitung zur Handauswertung. 2. Auflage mit deutschen Normen, bearbeitet von M. Döpfner, J. Plück, S. Bölte, K. Lenz, P. Melchers & K. Heim. Köln: Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD). Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (2000a). Elternfragebogen für Klein- und Vorschulkinder (CBCL/1,5–5). Köln: Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD). Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (2000b). Fragebogen für ErzieherInnen von Klein- und Vorschulkinder (CRF/1,5–5). Köln: Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD). Brähler, E. (1992). Gießener Beschwerdebogen für Kinder und Jugendliche (GBB-KJ). Bern: Huber. Brähler, E. & Schumacher, J. (2005). Psychometrische Diagnostik. In F. Petermann & H. Reinecker (Hrsg.), Handbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie (S. 191–199). Göttingen: Hogrefe. Cierpka, M. & Frevert, G. (1994). Die Familienbögen. Ein Inventar zur Einschätzung von Familienfunktionen. Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M., Berner, W., Flechtner, H., Lehmkuhl, G. & Steinhausen, H.-C. (1999). Psychopathologisches Befund-System für Kinder und Jugendliche (CASCAP-D). Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M., Lehmkuhl, G., Heubrock, D. & Petermann, F. (2000). Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M., Berner, W., Fleischmann, T. & Schmidt, M.H. (2001). Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder (VBV). Weinheim: Beltz Test. Döpfner, M., Görtz-Dorten, A. & Lehmkuhl, G. (2008). DISYPS-II. Diagnostik-System für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-IV für Kinder und Jugendliche-II. Bern: Huber. Ehlers, B., Ehlers, T. & Makus, H. (1978). Die Marburger Verhaltensliste. Ein Elternfragebogen zur Abklärung des Problemverhaltens und zur Kontrolle des Therapieverlaufes bei sechs- bis zwölfjährigen Kindern. Handanweisungen. Göttingen: Hogrefe. Esser, G., Blanz, B., Geisel, B. & Laucht, M. (1989). Mannheimer Elterninterview (MEI). Weinheim: Beltz.
8
144
8
Kapitel 8 · Diagnostisches Vorgehen
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Weiterführende Literatur Brähler, E., Holling, H., Leutner, D. & Petermann, F. (Hrsg.) (2002). Brickenkamp Handbuch psychologischer und pädagogischer Tests (3. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M., Lehmkuhl, G., Petermann, F. & Scheithauer, H. (2002). Diagnostik psychischer Störungen. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie und -psychotherapie (S. 95-130) (5., korr. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Schneider, S., Unnewehr, S. & Margraf, J. (Hrsg.). (2009). Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Kinder-DIPS), (2. Aufl.). Berlin: Springer. Strauß, B. & Schumacher, J. (Hrsg.). (2005). Klinische Interviews und Ratingskalen. Göttingen: Hogrefe.
9
9 Entwicklungsdiagnostik Alexander Grob, Priska Hagmann-von Arx, Nancy M. Bodmer
9.1
Einleitung – 146
9.2
Entwicklungsprozesse und Entwicklungsdiagnostik – 146
9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4
Begriffsbestimmung – 146 Konstruktionsmerkmale von Entwicklungstests – 146 Klassifikation entwicklungsdiagnostischer Verfahren – 147 Aussagemöglichkeiten – 148
9.3
Übersicht zu Entwicklungstests – 149
9.3.1 9.3.2 9.3.3
Spezifische Entwicklungstests: Beispiel Intelligenz Allgemeine Entwicklungstests – 151 Entwicklungsscreenings – 152
9.4
Ausblick
– 157
Zusammenfassung Literatur
– 157
– 158
Weiterführende Literatur
– 158
– 149
146
Kapitel 9 · Entwicklungsdiagnostik
9.1
9
Einleitung
Entwicklungsdiagnostik im Kindes- und Jugendalter bedeutet, eine differenzierte Standortbestimmung hinsichtlich einer spezifischen entwicklungspsychologisch relevanten Fragestellung vorzunehmen mit dem Ziel, bei geringen Entwicklungsdefiziten eine möglichst frühe niederschwellige Intervention zu planen und bei bedeutsamen Entwicklungsabweichungen eine Therapie vorzuschlagen. Damit steht Entwicklungsdiagnostik immer auch im Dienste der Gesundheitsförderung und Prävention. Das Kapitel geht zuerst auf Entwicklungsprozesse allgemein ein und wie diese diagnostisch festgestellt werden. Hierauf wird eine Übersicht über spezifische und allgemeine Entwicklungstests gegeben. Mit zwei Fallbeispielen wird die Relevanz für die Verhaltenstherapie illustriert. Beim ersten Fallbeispiel handelt es sich um Sebastian. Er ist 5;6 Jahre alt, bei ihm geht es um die Frage der Einschulung. Bei Sebastian ergibt sich im Alter von 6;6 Jahren ein uneinheitliches Entwicklungsprofil (7 Abschn. 9.2), und im Alter von 7;6 Jahren wird eine visuelle Wahrnehmungsschwäche festgestellt (7 Abschn. 9.3.1). Die Merkmale eines Entwicklungsstandprofils und verhaltenstherapeutische Indikationen werden im Fallbeispiel von Theo (9;11 Jahre) zum Schluss als gesamthafter Prozess dargestellt. In zwei Exkursen wird außerdem die Geschichte der Intelligenz und der Entwicklungsdiagnostik aufgeführt.
Fallbeispiel Sebastian, 5 Jahre; 6 Monate: Einschulung Sebastian ist ein aufgewecktes, wissbegieriges Kindergartenkind. Er ist verspielt und dauernd in Bewegung; dabei geschieht es oft, dass er an Möbel anstößt oder andere Kinder unsanft anrempelt. Sein unkontrolliertes Verhalten führte ihn im Kindergarten in eine Außenseiterposition. Andere Kinder wollen nicht mit ihm spielen. Sebastian hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, er setzt sich lautstark für andere ein, wenn ihnen etwas Unrechtes widerfährt, und er versteht nicht, weshalb er von den anderen Kindern ausgeschlossen wird. Die Kindergärtnerin befürchtet, dass die Einschulung Sebastian trotz offensichtlicher Sachkompetenz Probleme bereiten wird und möchte eine schulpsychologische Beurteilung und Beratung.
wicklungsnormativität aus. Entwicklungsnormativität weist beträchtliche interindividuelle Varianz auf; ebenso verläuft die Entwicklung in Funktionsbereichen. Mögliche Defizite und Stärken lassen sich erst auf der Grundlage der Entwicklungsnormativität bestimmen.
9.2.1 Begriffsbestimmung
Entwicklungsnormativität bezeichnet den altersentsprechenden bereichsspezifischen Entwicklungsstand sowie mögliche bereichsspezifische Entwicklungsabweichungen im Sinne einerseits von Entwicklungsdefiziten und andererseits von Entwicklungsressourcen. Im modernen entwicklungspsychologischen Verständnis besteht eine respektable Toleranz gegenüber inter- und intraindividueller Variabilität in der Regelentwicklung. ! Kinder können sich in ihrem Entwicklungsstand deutlich von ihren Altersgenossen unterscheiden, innerhalb einzelner Funktionsbereiche wie Kognition, Sprache oder Motorik mehrere Stärken und Schwächen aufweisen und sich dennoch innerhalb des Spektrums der normalen Entwicklung bewegen.
In diesem Kapitel fokussieren wir im Rahmen der Entwicklungsdiagnostik auf Entwicklungstests, mit denen entwicklungsbezogene Leistungsdaten im Kindesalter erhoben und die individuellen Daten in Beziehung zur Merkmalsverteilung in der Population gestellt werden. Eine entwicklungspsychologische Standortbestimmung lässt sich jedoch nicht lediglich aus den erhobenen Leistungsdaten, sondern nur nach einer umfassenden diagnostischen Abklärung ableiten. Dies erfordert die Berücksichtigung von Entwicklungsbedingungen, wobei Merkmale des biopsychosozialen Kontexts des Kindes erhoben und zusammengetragen werden. Hierzu zählen biografische Merkmale (z. B. Schwangerschafts- und Geburtsverlauf, Krankheiten), Verhaltensund Temperamentsmerkmale (z. B. Schlaf-Wach-Rhythmus, Fähigkeit zur Selbstkontrolle) und Merkmale des sozialen Kontexts (z. B. familiäres und schulisches Umfeld, Sozialverhalten). So kann bei einem geistig behinderten Kind auch eine Verbesserung des Entwicklungsstandes im unterdurchschnittlichen Leistungsbereich als positives Ergebnis bewertet werden.
9.2.2 Konstruktionsmerkmale
von Entwicklungstests 9.2
Entwicklungsprozesse und Entwicklungsdiagnostik
Entwicklungsdiagnostik beschreibt einen Entwicklungszustand respektive bei mehrmaliger Messung den Entwicklungsverlauf, um Förderprogramme auf den vorliegenden Entwicklungsprozess abzustimmen. Dabei geht sie von Ent-
Entwicklungsdiagnostische Verfahren weisen meist leichte Testaufgaben auf, welche eventuell vorhandene Defizite präzise erkennen lassen. Im Vergleich mit jüngeren Kindern zeigen ältere Kinder in der Regel wegen ihrer bereits umfassenderen Kompetenzen bessere Testleistungen bei gleicher Aufgabenpräsentation. Derart ermöglichen gleichartige
147 9.2 · Entwicklungsprozesse und Entwicklungsdiagnostik
Aufgaben mit wachsendem Schwierigkeitsgrad eine Entwicklungsstandaussage in einem umschriebenen Entwicklungsbereich. Im Gegensatz dazu ermöglichen aufeinander aufbauende unterschiedliche Leistungen die Einschätzung qualitativ unterschiedlicher Entwicklungsniveaus. Aktuelle Entwicklungstests finden je nach Fokus auf die beiden Aspekte in den Testformen Stufenleiter, Testbatterie oder Inventar eine Entsprechung (vgl. Petermann u. Macha 2003). Stufenleiterverfahren. Stufenleiterverfahren orientieren sich in den Konstruktionsprinzipien in der Regel an Reifungsmodellen. Dort wird Entwicklung als universelle Abfolge im Erwerb von Fertigkeiten verstanden. Inhaltlich unterschiedliche Testaufgaben werden in aufsteigender Schwierigkeit präsentiert. Die vom Kind zuletzt bewältigte Testaufgabe wird zur Einschätzung seines Entwicklungsstandes beigezogen. Stufenleiterverfahren vermögen Entwicklungssequenzen recht gut abzubilden, sind aber nicht wirklich geeignet, die intra- und interindividuelle Variabilität in der Regelentwicklung zu berücksichtigen. Als Beispiel für ein Stufenleiterverfahren können die »GriffithsEntwicklungsskalen« (GES; Brandt u. Sticker 2001) genannt werden. Innerhalb der Unterskalen »Motorik«, »Persönlich-Sozial«, »Hören und Sprache«, »Auge und Hand« sowie »Leistungen« haben Kinder im Alter von einem Monat bis 2 Jahren verschiedene Aufgaben in ansteigendem Schwierigkeitsgrad zu absolvieren. Testbatterien. Testbatterien überprüfen in homogenen Untertests exakt definierte Teilleistungen. Die Untertests beinhalten gleichartige Items, die mit aufsteigendem Schwierigkeitsgrad die Leistung eines Kindes in einem umschriebenen Entwicklungsbereich überprüfen. Vorausgesetzt wird, dass die gewählten Untertests die Entwicklung in angemessener Weise repräsentieren. Als Beispiel für eine Testbatterie seien die »Intelligence and Development Scales« (IDS; Grob et al. 2009) genannt. Mit den IDS werden Kinder im Alter von 5 bis 10 Jahren in den Bereichen Kognition, Psychomotorik, sozial-emotionale Kompetenz, Sprache, Mathematik und Leistungsmotivation mit jeweils gleichen Aufgabentypen in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden eingeschätzt.
! In der Konstruktion entwicklungsdiagnostischer Verfahren werden die entwicklungsbedingten Kompetenzen von Kindern berücksichtigt.
Es ist darauf zu achten, dass (Klein-)Kinder ihre Aufmerksamkeit nur über kurze Zeiträume aufrechterhalten können. Eine positive Interaktion mit dem Untersucher ist unabdingbar. Ebenso müssen Untersuchungsmaterial und die Dosierung der Testaufgaben altersgerecht sein. Deswegen sind Entwicklungstests vielfach spielerisch aufgebaut und zeichnen sich durch unterschiedliche Aufgabentypen aus. Speziell für entwicklungsdiagnostische Verfahren müssen auf Seiten des eingesetzten Testmaterials, des Untersuchungsablaufes und in der Interaktion mit dem Kind sämtliche Vorkehrungen getroffen werden, damit die Testmotivation erhalten bleibt.
9.2.3 Klassifikation entwicklungsdiagnostischer
Verfahren Entwicklungsdiagnostische Verfahren erfassen bereichsspezifisch und altersangepasst den Leistungsstand des Kindes und sind in einem weiten Sinne unter die Leistungsdiagnostik subsumierbar. Entwicklungsdiagnostische Verfahren lassen sich unter einem pragmatischen Aspekt in drei Verfahrenstypen differenzieren: spezifische Entwicklungstests, allgemeine Entwicklungstests und Screeningverfahren (Macha u. Petermann 2006). Spezifische Entwicklungstests. Spezifische Entwicklungs-
Inventare. Inventare bilden mit heterogenen Skalen eine
tests nehmen differenzierte Aussagen zu ausgewählten, umschriebenen Entwicklungsbereichen vor, z. B. Intelligenz, Sprache, visuelle Wahrnehmung, auditive Wahrnehmung oder Psychomotorik. Einige Verfahren beziehen sich explizit auf Leistungsdefizite und Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, z. B. Lese- und Rechtschreibstörung oder Rechenstörung. Als Beispiel für den Entwicklungsbereich Sprache sei der »Heidelberger Sprachentwicklungstest« (HSET; Grimm u. Schöler 1991) erwähnt. Der HSET erfasst differenziert die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern zwischen dem 3. und 9. Lebensjahr in neun Bereichen (z. B. Verstehen grammatischer Strukturen, Singular-Plural-Bildung, Begriffsklassifikation).
Vielzahl von Entwicklungsqualitäten ab. Im Vergleich zu Testbatterien werden in Inventaren innerhalb einer Skala unterschiedlichste Leistungen erhoben. Als Beispiel für ein Inventar sei der »Entwicklungstest 6 Monate bis 6 Jahre« (ET 6–6; Petermann et al. 2006) erwähnt. Der ET 6–6 orientiert sich am Prinzip der Meilensteine der kindlichen Entwicklung und ermöglicht mit qualitativ vielfältigen Aufgaben, den Entwicklungsstand in den Bereichen Körpermotorik, Handmotorik, kognitive Entwicklung, Sprachentwicklung, Sozialentwicklung und emotionale Entwicklung einzuschätzen.
Allgemeine Entwicklungstests. Allgemeine Entwicklungstests ermöglichen eine differenzierte Orientierung über ein breites Spektrum kindlicher Entwicklung und sind in der Regel nach Funktionsbereichen, nämlich Psychomotorik, Wahrnehmung, kognitiven, numerischen, sprachlichen, sozial-emotionalen sowie lebenspraktischen Kompetenzen gegliedert. Die Durchführungszeit für diese Verfahren variiert entsprechend der Vielfältigkeit des Aussagebereiches und je nach Alter beträchtlich (60–120 Minuten). Als Beispiel für einen allgemeinen Entwicklungstest sei der »Ent-
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Kapitel 9 · Entwicklungsdiagnostik
wicklungstest 6 Monate bis 6 Jahre« (ET 6–6; Petermann et al. 2006) erwähnt. Dieses Inventar ermöglicht Aussagen zum Entwicklungsstand in den Bereichen Körpermotorik, Handmotorik, kognitive Entwicklung, Sprachentwicklung, Sozialentwicklung und emotionale Entwicklung. Entwicklungsscreenings. Entwicklungsscreenings sind
Kurztestverfahren, die zeitökonomisch in 10–20 Minuten eine grobe Orientierung über Entwicklungsauffälligkeiten liefern. Deren Ergebnis führt zu einer einfachen Klassifikation, meist in »auffällig« respektive »Verdacht auf Auffälligkeit« oder »unauffällig«. Im Bedarfsfall schließt sich eine Differenzialdiagnostik zur präzisen Abklärung vorhandener Defizite an. Als Beispiel für den Sprachbereich sei das »Sprachscreening für das Vorschulalter« (SSV) erwähnt (Grimm 2003), welcher für Kinder im Alter von 3;0 bis 5;11 Jahren den Sprachentwicklungsstand ermittelt. Es wird davon ausgegangen, dass die jeweiligen Untertests die sprachlichen Meilensteine, die auf eine mögliche Sprachentwicklungsverzögerung deuten, am besten erfassen. Entscheidung über den Einsatz von Entwicklungstests.
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Welche Entwicklungstests im Individualfall für die Entwicklungsdiagnostik eingesetzt werden, hängt vom Inhalt der Fragestellung, den zu untersuchenden Entwicklungsbereichen, dem Alter des Kindes, der zur Verfügung stehenden Zeit und der Fallgeschichte ab. Zum anderen sind für die Wahl eines spezifischen Verfahrens dessen psychometrische Eigenschaften (Objektivität, Reliabilität, Validität, Normierung) relevant. Als Entscheidungshilfe für die Verwendung eines Verfahrens ist eine systematische Auflistung aller in Frage kommender Tests wünschenswert. Im deutschsprachigen Raum können hierfür Brickenkamp Handbuch psychologischer und pädagogischer Tests (Brähler et al. 2002) als umfassendes Kompendium sowie spezifisch entwicklungspsychologisch orientierte Zusammenstellungen (z. B. Hagmann-von Arx et al. 2008; Petermann et al. 2006) empfohlen werden.
9.2.4 Aussagemöglichkeiten
Entwicklungstests erfassen Entwicklungszustände, bei wiederholter Anwendung Entwicklungsverläufe. Wiederholte Testanwendungen dienen der Verlaufskontrolle, z. B. der Wirksamkeitsüberprüfung von Fördermaßnahmen oder dem Einfluss von biopsychosozialen Risiken. Ergebnisse spezifischer und allgemeiner Entwicklungstests werden heute in den gängigen Verfahren meist als Profile dargestellt. Derart können Stärken und Schwächen des Kindes einerseits intraindividuell festgehalten werden. Das bedeutet, dass je nach Entwicklungstest Variationen zwischen den motorischen, kognitiven, sprachlichen, sozial-emotionalen Kompetenzen etc. dargestellt werden können. Andererseits können die individuellen Ausprägungen in den einzelnen
Bereichen in Bezug zur – bereichsspezifischen – Altersnorm gesetzt werden. Im Fokus steht die Dynamik bereichsspezifischer Leistungsausprägung innerhalb des Individuums und im Vergleich zur Normstichprobe. Deshalb ist es in den gängigen entwicklungsdiagnostischen Verfahren unüblich, verdichtete Gesamtentwicklungsaussagen beispielsweise im Sinne eines Entwicklungsquotienten vorzunehmen. Denn eine einzelne Gesamtaussage verschüttet zwangsläufig das Potenzial für in Fördermaßnahmen übersetzbare Profilaussagen. Auch werden isolierte Aussagen hinsichtlich Entwicklungsverzögerung und -vorsprung in spezifischen Entwicklungsbereichen zunehmend seltener. Dies liegt darin begründet, dass die distinkte Bezeichnung Entwicklungsverzögerung respektive Entwicklungsvorsprung in der Tradition von Stufenleitertests verankert und damit auch mit Reifungsmodellen konnotiert ist. ! Die aktuellen entwicklungsdiagnostischen Verfahren sind in ihrer Anordnung und im Aussagebereich auf einen dynamischen Entwicklungsbegriff bezogen, welcher Plastizität, Selektion, Optimierung und Kompensation in den Entwicklungsprozessen annimmt und damit direkt eine Schnittstelle zu Förderund Therapiemaßnahmen eröffnet.
Die Darstellung von entwicklungspsychologischen Testleistungen erfolgt meist in bekannten Standardwerten (z. B. T-Werte, Stanine, Centile). Die Standardwerte orientieren sich an der Werteverteilung einer Normstichprobe; sie sind in die einschlägige Metrik mit den entsprechenden Verteilungscharakteristika transformiert. Auf diesem Weg wird es möglich, eine psychometrische Beschreibung von Grundhäufigkeiten vorzunehmen und das individuelle Testergebnis nach Vorgabe explizierter Regeln zu interpretieren. Aussagen zur bisherigen Entwicklung. Basierend auf den
erhobenen Leistungsdaten können Rückschlüsse auf die bisherige Entwicklung gezogen werden. Dabei werden die Testergebnisse beispielsweise eingeteilt hinsichtlich überund unterdurchschnittlicher sowie durchschnittlicher Leistungen. Die Testautoren definieren mitunter bereichsspezifische Entwicklungsnormen und sprechen von einer Entwicklungsverzögerung, wenn beispielsweise 80, 90 oder 95% der Altersgleichen eine spezifische Kompetenzausprägung zeigen, das untersuchte Individuum jedoch nicht. Strukturgleich wird von Entwicklungsvorsprung gesprochen, wenn das Individuum eine spezifische Kompetenzausprägung zeigt, die erst von beispielsweise 5, 10 oder 20 Prozent der Altersgleichen gezeigt wird. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass die bereichsspezifischen Ergebnisse weder isoliert noch ohne Einbezug des Entwicklungskontexts interpretiert werden können. Entwicklungsprognosen. Darüber hinaus liefern Entwicklungstests Ansatzpunkte für die Erstellung von Entwicklungsprognosen. Die Genauigkeit für Entwicklungspro-
149 9.3 · Übersicht zu Entwicklungstests
gnosen, beispielsweise vom Kleinkindalter auf die Zeit der Einschulung, ist dann wenig genau, wenn der zur Vorhersage verwendete Entwicklungsstand im Durchschnittsbereich der Altersgruppe liegt. Hingegen wird die Vorhersagekraft dann stärker, wenn sich der Entwicklungsstand im unterdurchschnittlichen Bereich befindet. Dann kommt insbesondere den spezifischen Entwicklungsbedingungen des Kindes, d. h. den biologischen Voraussetzungen sowie dem psychologischen, sozialen, familiären, und schulischen Kontext, eine große Bedeutung zu. Dies zeigt erneut, dass das Ziel moderner Entwicklungsdiagnostik nicht primär in der Vorhersage des späteren Entwicklungsstandes und Leistungsvermögens besteht, sondern Indikation für Förderund Therapiemaßnahmen bietet.
Fallbeispiel Sebastian, nun 6 Jahre; 6 Monate: Uneinheitliches Entwicklungsprofil In der Zwischenzeit wurde Sebastian in einem schulpsychologischen Dienst mit standardisierten Verfahren abgeklärt. Er ist ein durchschnittlich intelligentes Kind, sein Entwicklungsprofil zeigt eine große interindividuelle Variabilität; so liegen in einigen Entwicklungsbereichen nicht altersgemäße Leistungen vor. Seine Aufmerksamkeitsspanne ist sehr kurz; länger als 5 Minuten kann er nicht an einer fremdbestimmten Aufgabe arbeiten. Seine visuelle Merkfähigkeit ist ebenfalls beeinträchtigt. In der Fein- sowie Grobmotorik weist Sebastian Entwicklungsdefizite auf. Solche Diskrepanzen in einem Entwicklungsprofil können ein Kind verunsi-
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chern und zu Verhaltensauffälligkeiten führen. Sebastian realisiert, dass er den Ansprüchen seiner Umgebung nicht genügen kann und reagiert in der Schule zunehmend mit einer Verweigerungshaltung: Er macht bei Schreibübungen kaum mit und behauptet, diese seien zu leicht für ihn.
9.3
Übersicht zu Entwicklungstests
Im Folgenden werden ausgewählte Verfahren der spezifischen und allgemeinen Entwicklungsdiagnostik sowie Screeningverfahren näher erläutert.
9.3.1 Spezifische Entwicklungstests:
Beispiel Intelligenz Als Beispiel für die spezifische Entwicklungsdiagnostik soll die Intelligenzdiagnostik näher ausgeführt werden. Verfahren, welche im erweiterten Sinne auch zur spezifischen Entwicklungsdiagnostik zugeordnet werden können, werden in diesem Lehrbuch bei den spezifischen Störungen (7 Kap. III/19–45) dargestellt. Die Aufgaben in entwicklungsdiagnostischen Verfahren beziehen sich vielfach auf einen tradierten Katalog altersbezogener Items (Hagmann-von Arx et al. 2008; Reuner u. Pietz 2006). Die Konstruktion der Aufgaben lässt sich mitunter bis in die Anfänge der Testpsychologie durch Alfred Binet zurückführen. Im Folgenden werden fünf aktuell eingesetzte Intelligenztestverfahren skizziert.
Exkurs Geschichte der Intelligenzdiagnostik Mitte des 19. Jahrhunderts unterschied Jean Esquirol in Frankreich zwischen mentaler Retardation und emotionaler Beeinträchtigung. Das Ausmaß der Sprachbeherrschung sollte herbeigezogen werden, um das Leistungsvermögen zu messen. Ende des 19. Jahrhunderts deklarierte Edouard Séguin sensorische Diskriminierung, motorische Kontrolle und nonverbales Denken für das Leistungsvermögen als relevant. Fast zeitgleich untersuchte Francis Galton (1885) in London experimentalpsychologisch interindividuelle Unterschiede in sensomotorischen Leistungen, beispielsweise indem unterschiedliche Gewichte in eine Reihenfolge zu bringen waren, während James McKeen Cattell – damals Assistent von Wundt in Leipzig — in Deutschland und Amerika u. a. die Empfindlichkeit des Hautsinns und die Reaktionszeit bei Geräuschen untersuchte. Ebbinghaus (1897) dehnte die Messung einfacher sensomotorischer Reaktionen auf die
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Erfassung komplexer(er) Merkmale aus. Eine weitere Voraussetzung für die Konstruktion von Entwicklungstests war mit dem Aufkommen der Kinderpsychologie gegeben, die auf Tagebuchaufzeichnungen von Eltern über ihre Kinder beruhte (z. B. Darwin 1877; Preyer 1882). G. Stanley Hall – seinerseits Lehrer von Terman und Gesell – sammelte mit Hilfe von Fragebogen systematisch entwicklungsrelevante Materialien. Hieraus wurden Aufgaben als Basis entwicklungsdiagnostischer Instrumenten abgeleitet. Den entscheidenden Impuls zur Entwicklungsdiagnostik gab schließlich die Konstruktion des ersten Intelligenztests: Alfred Binet erhielt 1904 vom französischen Kultusministerium den Auftrag, ein objektives Verfahren zu entwickeln, mit welchem man retardierte Kinder erfassen konnte. Hieraus entstand der erste Intelligenztest, die »échelle métrique d’intelligence« (Binet u. Simon 1905). Die Skala beinhaltete eine Serie an 30 in steigendem Schwierigkeitsgrad angeordneten Aufgaben zu sprachlichen Fähig-
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Kapitel 9 · Entwicklungsdiagnostik
keiten, Gedächtnis, Denken und psychophysikalischen Urteilen. Der Test erfuhr 1908 und 1911 eine Revision, wobei die Aufgaben nach dem Alter geordnet wurden und zum Konzept des Entwicklungsalters führten. Noch vor dem ersten Weltkrieg wurden in Amerika zwei Revisionen der Binet-Simon-Skalen produziert. Robert Yerkes und James Bridges (Yerkes et al. 1915) gruppierten ähnliche Items in Subtests und übertrugen die Leiterskala in eine Punkteskala, die »Yerkes-Bridges Point Scale Examination«. Sie diente als Modell zur Entwicklung der Wechsler-Skalen. Die zweite Revision von Lewis Terman (1916) dehnte den Altersbereich ins Erwachsenenalter aus und ersetzte das Entwicklungsalter durch den von William Stern im Jahre 1900 geprägten Begriff des Intelligenzquotienten. Mit Ausbruch des ersten Weltkrieges erlebte die Testpsychologie in Nordamerika einen mächtigen Aufschwung. Unter der Leitung von Yerkes wurden Gruppenintelligenztests zur Erfassung der Tüchtigkeit von Rekruten ausgearbeitet. Die Multiple-choice-Version des Stanford-Binet wurde als »Army Alpha« bekannt. Der »Army Beta« wurde entwickelt, um Anwärter mit geringen oder keinen Lesekompetenzen sowie nicht englischsprachige Personen zu testen (Boake 2002). David Wechsler (1939) kombinierte die verbalen Methoden und die nicht verbalen Methoden in den »Wechsler-Bellevue-Skalen« mit einem Verbal- und Handlungsteil. Weiter verzichtete er darauf, den Intelligenzquotienten als Verhältnis von mentalem zu chronologischem Alter zu berechnen. Stattdessen definierte er den alters-
Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder. Die vierte Auflage des »Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder« (HAWIK-IV; Petermann u. Petermann 2007) ermöglicht die Beurteilung der kognitiven Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis 16 Jahren. Er besteht aus insgesamt 15 Untertests, deren Ergebnisse in einem Leistungsprofil dargestellt werden. Darüber hinausgehend werden Untertests zu Indizes zusammengefasst, welche die Fähigkeiten in den vier kognitiven Bereichen Sprachverständnis, wahrnehmungsgebundenes logisches Denken, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit erfassen. Zudem können die Indizes zu einem Gesamtintelligenzquotienten zusammen geführt werden. Adaptives Intelligenz Diagnostikum. Das »Adaptive Intelligenz Diagnostikum« (AID 2; Kubinger u. Wurst 2000) hatte den Ausgang in der Bestrebung der Überarbeitung des HAWIK, unterscheidet sich aber deutlich davon. Es zeichnet sich durch eine probabilistische Testtheorie aus. Es werden basale und komplexe Kognitionen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis 15 Jahren erfasst. Dabei
normierten standardisierten Abweichungsquotienten mit einem Mittelwert von 100 Punkten und einer Standardabweichung von 15 Punkten. Hieraus entstand die »Wechsler Adult Intelligence Scale« (WAIS, Wechsler 1955). Die deutschsprachige Auflage wurde unter dem Namen »Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene« (HAWIE) veröffentlicht. Analog hierzu wurde eine Version für Kinder und Jugendliche entwickelt (»Wechsler Intelligence Scale for Children«, WISC; Wechsler 1949; deutsch »HamburgWechsler-Intelligenztest für Kinder HAWIK«; Hardesty u. Priester 1956) und wiederholt überarbeitet. In der aktuellen Version WISC-IV (Wechsler 2003) und HAWIK-IV (Petermann u. Petermann 2007) wurde die ursprüngliche Gliederung in einen Handlungs- und Verbalteil zugunsten von vier IndexWerten (Sprachverständnis, wahrnehmungsgebundenes logisches Denken, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit) aufgegeben. In Deutschland und Österreich wurde der Binet-SimonTest durch die Adaption von Otto Bobertag (1928) bekannt. Unter Supervision Bobertags revidierte Irmgard Norden (1953) den Binet-Simon-Test und veröffentlichte diesen als sog. »Binetarium«. Weiter wurde auf der Basis der BinetSimon-Skala der Test zur Prüfung von Schweizer Kindern (Biäsch 1939) herausgegeben. Josephine Kramer arbeitete mit den deutschen Bearbeitungen von Bobertag und Norden, die sie auf die lokalen Bedürfnisse adaptierte. Es entstanden der Binet-Simon-Bobertag-Kramer-Test und schließlich der »Kramer-Test« (Kramer 1972). Eine Neukonzipierung des Kramer-Tests stellen die »Intelligence and Development Scales« (IDS; Grob et al. 2009) dar.
liegt eine pragmatische intelligenztheoretische Position zugrunde, nämlich möglichst viele Fähigkeiten zu erfassen. Kaufman Assessment Battery for Children. Ebenfalls in der zweiten Auflage liegt die »Kaufman Assessment Battery for Children« (K-ABC-II, Kaufman u. Kaufman 2004; deutsch: Melchers u. Preuss 2006) vor, für Kinder im Alter von 2;6 bis 12;5 Jahren. Intelligenz wird als Fähigkeit verstanden, Probleme durch geistiges Verarbeiten zu lösen. Daher steht bei der Diagnose der Prozess der Lösungsfindung und nicht der Inhalt der Aufgabe im Vordergrund. Die K-ABC trennt intellektuelle Fähigkeiten von der Messung des Standes erworbener Fähigkeiten, um die unterschiedlichen Bereiche mentaler Leistung einzeln und im Vergleich miteinander erfassen zu können. Die K-ABC ist in vier Skalen gegliedert: einzelheitliches Denken, ganzheitliches Denken, Fertigkeiten und sprachfreie Leistungen. Intelligence and Development Scales. Die »Intelligence and Development Scales« (IDS; Grob et al. 2009) leisten nicht nur eine Intelligenzprofilanalyse und die Berechnung
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eines Intelligenzquotienten, sondern ermöglichen zusätzlich eine differenzierte Standortbestimmung im motorischen, sprachlichen, mathematischen, sozial-emotionalen und motivationalen Bereich bei 5- bis 10-jährigen Kindern. Snijders-Oomen non-verbaler Intelligenztest. Nonverbale
Intelligenztests wie der Snijders-Oomen non-verbaler Intelligenztests für die Altersbereiche 2 ½ bis 7 (SON-R 2 ½–7; Tellegen et al. 2007) und 5 ½ bis 17 Jahren (SON-R 5.5-17; Snijders et al. 1997) ermöglichen eine differenzierte Intelligenzeinschätzung in den Bereichen nonverbale Handlungs- und Denkfähigkeit. Die nonverbalen Verfahren gelangen insbesondere bei Kindern mit Sprach- und Kommunikationsproblemen sowie bei Kindern aus Einwandererfamilien zum Einsatz.
Profilinterpretation und Umsetzung in der Verhaltenstherapie Etablierte Intelligenztests, die aus inhaltlich unterschiedlichen Subtests bestehen, erlauben meist eine Profilinterpretation und bieten Hinweise für verhaltenstherapeutisch relevante Funktionsdefizite. Mit Hilfe eines Testprofils lassen sich Unterschiede in den Leistungen eines Kindes in den verschiedenen Subtests feststellen. Dabei ist es unerlässlich, dass nur bedeutsame Unterschiede interpretiert werden. Auffälligkeiten bei der Intelligenztestung können – unter Berücksichtigung der Problembeschreibung bei der Anmeldung, des klinischen Eindrucks und der anamnestischen Daten – im Sinne einer Prozessdiagnostik zur Bildung prüfbarer Arbeitshypothesen führen. So lassen sich visuelle Wahrnehmungsschwächen sowohl im HAWIK-IV als auch im K-ABC anhand von Signalbefunden feststellen. Signalbefunde beispielsweise im KABC sind die Subtests »Handbewegungen«, »Zauberfenster«, »Wiedererkennen Gesichter«, »Gestalt schließen« für visuelle Wahrnehmungsschwächen, der Subtest »Dreiecke« für räumlich-konstruktive Wahrnehmungsschwächen sowie »Handbewegungen«, »Zauberfenster«, »Wiedererkennen Gesichter« und »Räumliches Gedächtnis« für Schwächen in visuell-konstruktiven Gedächtnisleistungen. Wahrnehmungsschwächen gehen oft Lernstörungen voraus: Lese- und Rechtschreibeschwächen sowie Diskal-
Fallbeispiel Sebastian, nun 7 Jahre 6 Monate: Visuelle Wahrnehmungsschwächen Sebastian verfügt über einen altersgemäßen kognitiven Entwicklungsstand. Sein Intelligenzprofil weist jedoch Schwankungen auf, die auf relative Stärken bzw. Schwächen hin deuten. Letztere sog. »Signalbefunde« lassen vermuten, dass Sebastian eine visuelle Wahrnehmungsschwäche aufweist. Dieser Funktionsbereich wird mittels spezifischer Entwicklungstests weiter untersucht. Da Sebastian Buchstaben auffällig oft spiegelverkehrt schreibt oder vertauscht, könnte dies auf eine Wahrnehmungsschwäche, möglicherweise verbunden mit einer Aufmerksamkeitsschwäche zurückzuführen sein. Auch erscheint so sein Schreibverweigerungsverhalten in der ersten Klasse in einem anderen Licht.
kulie hängen mit Wahrnehmungsschwächen zusammen. Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit weisen oftmals ebenfalls Wahrnehmungsschwächen auf sowie oft eine Legasthenie und/oder Diskalkulie. Werden diese Auffälligkeiten in einem Intelligenzprofil erkenntlich, ist der Einsatz weiterer Tests zur differenziellen Klärung in den Funktionsbereichen unerlässlich. Des Weiteren verlangt die Überprüfung eines Entwicklungsdefizites in einem Funktionsbereich den Ausschluss einer allgemeinen kognitiven Minderleistung. Erst ein auffallender Unterschied zwischen den Leistungen in einem spezifischen Bereich und dem allgemeinen kognitiven Entwicklungsstand lässt darauf schließen, dass eine Schwäche im entsprechenden Funktionsbereich vorliegt. Dies ist speziell bei der AD(H)S-Diagnose von Bedeutung (7 Kap. III/26, III/27).
9.3.2 Allgemeine Entwicklungstests
Während Intelligenztests in der Regel für ältere Kinder konzipiert sind, ist die allgemeine Entwicklungsdiagnostik auf Kinder bis zum Alter von 6 Jahren ausgerichtet.
Exkurs Geschichte der allgemeinen Entwicklungsdiagnostik Arnold Gesell (1925, 1928) konzentrierte sich nicht nur auf den kognitiven Bereich, sondern berücksichtigte auch motorisches, adaptives, sprachliches und soziales Verhalten. Ähnlich wie Binet war Gesell bestrebt, Entwicklungsnormen mit dem für eine Altersstufe charakteristischen Verhalten zu bestimmen. Gesell verstand Entwicklungsdiagnostik zuerst als ganzheitliche Untersuchung des Kin-
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des, wobei die Quantifizierung der individuellen Leistungen nachgeordnet war. Erst in den 1940er Jahren veröffentlichte er einen eigentlichen Entwicklungstest mit der Möglichkeit der Berechnung eines Entwicklungsquotienten (Gesell u. Armatudra 1941). Von den Gesell-Skalen ableitend veröffentlichte Ruth Griffiths in England in den 1950er Jahren die Stufenleiter »Abilities for Babies«. Sie versah die unterschiedlichen Ver-
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Kapitel 9 · Entwicklungsdiagnostik
haltensbereiche mit einer gleichen Itemzahl und stärkte so die Selbstständigkeit der Einzelbereiche. Die Skalen wurden überarbeitet, ins 8. Lebensjahr ausgeweitet und als »Griffiths Mental Development Scales« herausgegeben (GMDS; Griffiths 1996, 2006; deutsch: Brandt u. Sticker 2001). Die GES schätzen die Motorik, Persönlich-Soziales, Hören und Sprechen, Sehen und Sprechen sowie Leistungen ein. Im deutschsprachigen Raum weiteten Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer das Prinzip der Binet-Skalen auf den nichtkognitiven Bereich aus. In Wien entwickelten sie die 1932 veröffentlichten und bis zur aktuellsten Auflage (Bühler u. Hetzer 1977) kaum veränderten Abfolgen von Entwicklungstestreihen für Kinder im Alter von einem Monat bis zum Ende des 6. Lebensjahres. Eingeschätzt werden können die sinnliche Rezeption, Körperbewegung, Soziales, Lernen, Materialbeherrschung und geistige Produktion. Im Vergleich zu Gesell waren sie stärker an Ergebnissen im Sinne von Entwicklungsalter und -quotienten interessiert. Aufgrund mangelnder Angaben zu Gütekriterien und Schwächen in der theoretischen Begründung sind die Gesell’schen Skalen und die Bühler-Hetzer-Tests als überholt zu bezeichnen. In der Tradition der Wiener Entwicklungsdiagnostik haben Kastner-Koller und Deimann in der Tradition von Bühler und Hetzer eine neu entwickelte Testbatterie herausgegeben, den »Wiener Entwicklungstest« (WET; Kastner-Koller u. Deimann 2002).
Aktuelle prominente Verfahren im Altersbereich bis 6 Jahre sind der »Wiener Entwicklungstest« (WET; KastnerKoller u. Deimann 2002) und der ET 6–6 (Petermann et al. 2006). Der WET ermöglicht bei Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren eine differenzierte Diagnose der visuellen Wahrnehmung, dem Lernen und Gedächtnis sowie der motorischen, kognitiven, sprachlichen und emotionalen Entwicklung. Der ET 6–6 ermöglicht die Überprüfung des Entwicklungsstandes in den Bereichen Körpermotorik, Handmotorik, kognitive Entwicklung, Sprachentwicklung, Sozialentwicklung und emotionale Entwicklung. Ab dem 4. Lebensjahr kommt zusätzlich der Untertest Nachzeichnen zum Einsatz. Als aktuellstes Verfahren weiten die oben beschriebenen IDS die allgemeine Entwicklungsdiagnostik in den Altersbereich von 5 bis 10 Jahren aus (Grob et al. 2009).
9.3.3 Entwicklungsscreenings
Für die klinische Anwendung wurden Entwicklungsscreenings konstruiert, die als Kurztestverfahren entwicklungsauffällige Kinder identifizieren sollten.
Ein einflussreiches Verfahren aus der Blütezeit der Entwicklungstests der 1930er Jahre stellen die »Bayley-Scales« dar. Im Gegensatz zu Binet und Simon beinhalten die Bayley-Scales keine verschiedenen Testserien für die einzelnen Altersstufen. Die Items werden innerhalb des motorischen und kognitiven Bereichs nach ansteigender Schwierigkeit aufgeführt. Nach einer weiteren Überarbeitung in den 1990er Jahren liegen die BSID-II in der dritten Version als Testbatterie und nicht mehr als Stufenleiterverfahren vor (BSID-III; Bayley 2006). Eine deutsche Bearbeitung, jedoch ohne deutsche Normierung, liegt für die BSID-II vor (BayleyII; Reuner et al. 2007). Mit den Bayley-II Skalen können bei Kindern im Alter von 0;1 bis 3;6 Jahren die kognitive und motorische Entwicklung eingeschätzt werden. Zur Verhaltensbeurteilung ist der Anwender auf die englischsprachige »Behavior Rating Scale« angewiesen. Im deutschen Sprachraum wurden neben den GES weitere Verfahren entwickelt. Die Stufenleiterverfahren »Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik« für das 1. sowie für das 2. und 3. Lebensjahr zogen zur Konstruktion u. a. die oben beschriebenen historischen Verfahren bei (MFED 1; Hellbrügge et al. 2001; MFED 2–3; Hellbrügge 1994). Sie schätzen im 1. Lebensjahr die Bereiche Krabbeln, Sitzen, Laufen, Greifen, Perzeption, Sprechen, Sprachverständnis und Sozialverhalten ein. Im 2. und 3. Lebensjahr werden die Statomotorik, Handmotorik, Wahrnehmungsverarbeitung, Sprechen, Sprachverständnis, Selbstständigkeit und Sozialverhalten untersucht.
Das »Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten« (DESK 3–6; Tröster et al. 2004) hat die Früherkennung von Entwicklungsgefährdungen bei 3- bis 6-Jährigen in der Fein- und Grobmotorik, Sprache, Kognition und sozialen Entwicklung zum Ziel. Die »Erweiterte Vorsorgeuntersuchung« (EVU; Melchers et al. 2003) ermöglicht die Ergänzung der kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchung vom 3./4. bis zum 60./64. Lebensmonat in den Bereichen Motorik, Sprache und Kognition. Das »Neuropsychologische Entwicklungsscreening« (NES; Petermann u. Renziehausen 2005) erlaubt die Erfassung von Auffälligkeiten bei Kindern von 3 bis 24 Monaten in den Bereichen Haltungs- und Bewegungssteuerung, Fein- und Visuomotorik, visuelle Wahrnehmung, Explorationsverhalten, rezeptive und expressive Sprache sowie kognitive Leistungen. Die im vorliegenden Kapitel beschriebenen aktuellen Entwicklungstests und Screenings sind mit Angaben zu den Entwicklungsbereichen und der Zielpopulation in . Tab. 9.1 zusammengefasst. Die Tabelle enthält Angaben zu Reliabilität, Validität, Umfang sowie Aktualität der Normen. Insbesondere zeigt die Spalte »Differenzierung«, für welche klinischen Gruppen das Verfahren indikativ ist.
Funktionsbereiche
Alter
2;6–7;11
Gesamt-IQ Profil
Gesamt-IQ Profil
SON-R 2½-7 (Tellegen et al. 2007)
SON-R 5.5-17 (Snijders et al. 1997)
Kognition Motorik Soziales
Kognition Motorik Sprache Soziales Emotion
Bayley II (Reuner et al. 2007)
ET 6–6 (Petermann et al. 2006)
Allgemeine Entwicklungstests
2;6–12;5
Gesamt-IQ Profil
K-ABC (Melchers u. Preuss 2006)
30–60
10–60
0;6–6;0
Ca. 90
Ca. 50
40–90
60–90
30–75
Dauer [min]
0;1–3;6
5;6–17;0
6;0–16;11
Gesamt-IQ Profil
HAWIK-IV (Petermann u. Petermann 2007)
6;0–15;11
Gesamt-IQ Profil
AID 2 (Kubinger u. Wurst 2001)
Spezifische Entwicklungstests: Intelligenz
Verfahren
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 Hörbeeinträchtigung 4 Intelligenzminderung 4 Störungen der allgemeinen Entwicklung, Aufmerksamkeit, Motorik, Sprachentwicklung 4 4 4 4
4 Split-half 4 Stabilität
4 Split-half 4 Stabilität
4 Konsistenz 4 Stabilität
4 Konsistenzb
4 4 4 4 4
4 Konsistenz für Kognition
Asthma-Erkrankung Externalisierte Verhaltensstörung Frühgeburt Genetisches Syndrom Herzerkrankung
4 Einzelfälle Frühgeborene, HIV-Positive, Asphyxie, Drogenexposition, Otitis media, Down-Syndrom, Entwicklungsstörung2
4 Konsistenzb 4 Stabilitätb
Gehörloseb Geschlechtsdifferenzenb Schultypenb Soziale Herkunftb
Begabungb Geistige Retardierungb Hörbehinderungb Körperliche Behinderungb Lernbehinderungb Verhaltensstörungb
ADHS Hochbegabung Intelligenzminderung Lese-Rechtschreib-Störung
4 Kinder mit »Spitzenbegabungen«a 4 Sonderschülera
Differenzierung
Validität
4 Konsistenz Raschhomogen 4 Split-half 4 Stabilität
Reliabilität
Gütekriterien
AID BTS CPM/SPM HAWIK-R HAWIVA Lehrerurteile
4 4 4 4
4 4 4 4 4
4 4 4 4 4
BSID-II K-ABC SETK-2 SETK 3–5
DASb Denver-IIb MCSAb PLSb WPPSI-Rb
Lehrerurteileb Schulkarriereb Schulleistungstestb Schulnotenb SON-Testsb
4 K-ABC 4 SSV 4 Zahlreiche Untersuchungen in AUS, GB, NL, USA
4 4 4 4 4 4
4 HAWIK-III
4 CFT 20 4 Zahlreiche Untersuchungen mit dem AID
Kriterium
. Tab. 9.1. Ausgewählte deutschsprachige spezifische und allgemeine Entwicklungstests sowie Entwicklungsscreeningverfahren
4 Alterstrends 4 Skalenkorrelationen 4 Entwicklungsverläufe
4 Alterstrends 4 Skalenkorrelationen
4 Alterstrends 4 Faktorenanalyseb
4 Alterstrends 4 Skalenkorrelationen 4 Faktorenanalyse
4 Alterstrends 4 Skalenkorrelationen 4 Faktorenanalyse
4 Alterstrends 4 Skalenkorrelationen 4 Faktorenanalyse
4 Alterstrends 4 Faktorenanalyse
Konstrukt
D (1999/2000): n=950
USA (2004): n=1700
NL (1984/85): n=1350 für 6 bis 14 Jahre; Extrapolation für 5.5–17 Jahre
D (2005): n=1027
A/CH/D/I (1986-89): n=3098
A/CH/D (2005/06): n=1650
A/D (1995-97): n=977 A/BRD (1982-83): n=2144
Normierung
9.3 · Übersicht zu Entwicklungstests 153
9
Kognition Motorik Sprache Soziales
Kognition Motorik Sprache Mathematik Soziales Emotion Motivation
Kognition Motorik Sprache Soziales Emotion
GES (Brandt u. Sticker 2001)
IDS (Grob et al. 2009)
WET (Kastner-Koller u. Deimann 2002)
Kognition Motorik Sprache
Kognition Motorik Sprache Soziales Emotion
NES (Petermann & Renziehausen 2005)
EVU (Melchers et al. 2003)
k. A.
10–15
10–12
0;3–2;0
0;3–5;4
75–90
3;0–5;11
3;0–6;11
90–120
5;0–10;11
Validität
4 4 4 4 4
4 Autismus 4 Down-Syndrom 4 Frühgeburt
4 Konsistenz
4 Konsistenz 4 Split-half
4 4 4 4 4 Klinische Stichproben (in Vorb.)
4 Entwicklungsauffälligkeit
4 Konsistenz
4 Konsistenz
4 Konsistenz
Einschulungsempfehlung Entwicklungsauffälligkeit Schulärztliche Befunde Zusätzlicher Förderbedarf
Aggressiv-Verhaltensauffällige ADHS Asperger-Syndrom Hochbegabung Lernbehinderung
4 Down-Syndrom, Phenylketonurie, Stoffwechselstörungen, Hör-/Sehbehinderungen, Zerebralparesen
Differenzierung 4 Stabilität
Reliabilität
Gütekriterien
4 Bayley II 4 GES
k. A.
4 WET
4 K-ABC
4 HAWIK-IV 4 WET 4 Fragebögen
k. A.
Kriterium
Alterstrends Skalenkorrelationen Faktorenanalyse Entwicklungsverläufe
4 Alterstrends 4 Skalenkorrelationen
4 Alterstrends
4 z. T. Alterstrends
4 4 4 4
4 Alterstrends 4 Skalenkorrelationen 4 Faktorenanalyse
4 Alterstrends
Konstrukt
D (2000/2001): n=1743
D (2004): n=677
D (k.A.): n=1492
A (1996): n=274 D (2001): n=971
A/CH/D (2007/08) n=1479
D (1968): n=102, 1750 Testungen
Normierung
AID Adaptives Intelligenz Diagnostikum; BSID Bayley Scales of Infant Development; BT Bildertest; BTS Begabungstestsystem; CFT Grundintelligenztest; CPM Coloured Progressive Matrices; DAS Differential Ability Scale; Denver Denver Developmental Screening Tests; DESK Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten; ET 6–6 Entwicklungstest 6 Monate bis 6 Jahre; EVU Erweiterte Vorsorgeuntersuchung; GES Griffiths Entwicklungsskalen; HAWIKHamburg Wechsler Intelligenztest für Kinder; HAWIVA Hannover Wechsler Intelligenztest für das Vorschulalter; IDS Intelligence and Development Scales; K-ABC Kaufman Assessment Battery for Children; MCSA McCarthy Scales of Childrens Abilities; NES Neuropsychologisches Entwicklungsscreening; PLS Pre-School Language Scale; PMA Primary Mental Abilities; PPVT-R Peabody Picture Vocabulary Test Revised; SETK Sprachentwicklungstest; SON-R Snijders-Oomen non-verbaler Intelligenztest; SPM Standard Progressive Matrices; SSV Sprachscreening für das Vorschulalter; WET Wiener Entwicklungstest; WPPSI Wechsler Preschool & Primary Scale; k. A. keine Angaben. a Angaben nicht auf neuester deutschsprachiger Version basierend. b Angaben nicht auf deutschsprachiger Normierung basierend.
Kognition Motorik Sprache Soziales
DESK 3–6 (Tröster et al. 2004)
30–60
Dauer [min]
0;1–1;11
Alter
9
Screenings
Funktionsbereiche
Verfahren
. Tab. 9.1 (Fortsetzung)
154 Kapitel 9 · Entwicklungsdiagnostik
155 9.3 · Übersicht zu Entwicklungstests
Fallbeispiel Theo, 9 Jahre; 11 Monate: Entwicklungsstandprofil und verhaltenstherapeutische Indikation Anmeldegrund. Die Eltern von Theo kommen auf Anraten der Lehrpersonen in eine psychologische Beratung. Theo zeigt sowohl in der Schule als auch zu Hause aggressive Verhaltensweisen. Theos schulische Leistungen bereiteten bisher keinen Anlass zur Sorge. Die Hausaufgabensituation hingegen stellt eine große Belastung dar: Versteht Theo die Aufgaben nicht auf Anhieb, rastet er aus oder bricht in Tränen aus. Der Leidensdruck ist in der letzten Zeit sowohl in der Schule als auch zu Hause massiv gewachsen. Familiärer Hintergrund. Theos Eltern sind Akademiker; der Vater hält sich oft berufsbedingt im Ausland auf. Die Mutter arbeitet teilzeit. Beide Eltern sind sehr engagiert und besorgt. Theo ist der jüngere von zwei Brüdern. Der ältere Bruder gilt als hochbegabtes Kind und hat eine Klasse übersprungen. Theo begibt sich immer wieder mit seinem Bruder in Wettstreit. Solche Konkurrenzsituationen arten fast täglich in Handgreiflichkeiten aus. Vorgehen der Abklärung. Erhebung der Anamnesedaten; eingehende Problembeschreibung durch Lehrpersonen und Familie. Durchführung eines allgemeinen Entwicklungstests. Da Theos Bruder als hochbegabt gilt, stellt sich für die Eltern auch die Frage nach Theos intellektuellem Potenzial. Gleichzeitig werden die Hintergründe für Theos Verhaltensauffälligkeiten untersucht. Es werden die IDS eingesetzt. Arbeitsverhalten bei der Testung. Theo arbeitet motiviert, konzentriert und ist kommunikativ. Es ist ihm ein wichtiges Anliegen, gute Leistungen zu erbringen. Er versteht die Testanweisungen problemlos. Testprofil IDS (. Abb. 9.1) Kognitive Entwicklung. Theos kognitive Leistungen liegen gesamthaft im Normbereich seiner Altersgruppe. In einigen Leistungsbereichen erzielt er überdurchschnittliche Werte: Seine Leistungen im phonologischen Arbeitsgedächtnis sind weit überdurchschnittlich. Im bildlichen Denken erreicht er ebenfalls überdurchschnittlich hohe Werte. Unterdurchschnittliche Werte liegen in keinem Bereich vor. Allgemeine Entwicklung 4 Sprache: Werte im Normbereich. 4 Mathematisches Verständnis: Der Wert liegt beinahe im Deckenbereich.
6
4 Motorik: Große Unterschiede in den einzelnen Subtests; im Bereich Grobmotorik überdurchschnittlicher Wert, im Bereich Feinmotorik Wert im Altersdurchschnitt und im Bereich Visuomotorik Wert im unterdurchschnittlichen Bereich. 4 Sozial-emotionale Kompetenz: Werte in den Bereichen »Emotionen erkennen« und »soziale Emotionen verstehen« der Altersnorm entsprechend; Werte in den Bereichen »Emotionen regulieren« und »Soziale Situationen regulieren« im weit unterdurchschnittlichen Bereich. 4 Leistungsmotivation: Die Werte zur Leistungsmotivation sowohl bezüglich »Beharrlichkeit« als auch bezüglich »Freude« liegen im Normbereich. Interpretation und Indikation. Theos kognitive Leistungsprofil weist darauf hin, dass Theo ein durchschnittlich intelligentes Kind mit einer speziellen Begabung im mathematischen Denken ist. Dazu dienen ihm sein gutes Arbeitsgedächtnis sowie seine überdurchschnittlich ausgeprägten Fähigkeiten im bildlichen Denken. Betrachtet man die weiteren Entwicklungsbereiche, sind ebenso klare Stärken wie Schwächen ersichtlich. Theo ist ein leistungsorientiertes Kind mit durchschnittlich ausgeprägten sprachlichen und motorischen Fähigkeiten. Seine sozial-emotionalen Kompetenzen hingegen weisen Entwicklungsdefizite auf. Obschon Theo in der Lage ist, Emotionen zu erkennen und soziale Situationen zu verstehen, ist er nicht in der Lage, adäquat darauf zu reagieren. Er reguliert seine Emotionen sowie auch soziale Situationen nicht altersentsprechend. Der Leidensdruck, der sich sowohl in der Schule als auch in der Familie aufgebaut hat, hängt möglicherweise zu einem beachtlichen Teil mit Theos Unfähigkeit zusammen, seine Emotionen zu kontrollieren und altersentsprechend zu regulieren. Aus den Schilderungen der Familieninteraktionen durch die Eltern kann man schließen, dass ein hohes Maß an Leistungsorientierung eine Selbstverständlichkeit ist. Theo hat den Leistungsdruck internalisiert. Er misst sich unentwegt mit anderen, insbesondere mit seinem Bruder. So gerät er immer wieder in Situationen emotionaler Anspannung, die er nicht mit einem positiven Ausgang meistern kann. Theo muss lernen, sich besser von anderen insbesondere von seinem Bruder abzugrenzen, seine Emotionen zu regulieren und zumindest anfänglich, soziale Situationen, die ihn zu stark herausfordern, zu vermeiden. Dies kann vor dem Hintergrund erfolgen, dass Theo lernt, soziale Situationen zu analysieren. Neu muss er unter Anleitung eines Therapeuten Strategien erlernen, die sozial verträglich sind, und dabei besonders auf jene Signale bei sich selber und in der Umwelt achten, die sein Verhalten entgleisen lassen.
9
156
Kapitel 9 · Entwicklungsdiagnostik
9
. Abb. 9.1. Theos IDS-Testprofil. (Aus Grob et al. 2009; © 2009 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern. Alle Rechte vorbehalten.
Jegliche Art der Vervielfältigung verboten. www.testzentrale.de. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hans Huber)
157 Zusammenfassung
9.4
Ausblick
Es liegt gegenwärtig im deutschsprachigen Raum eine beträchtliche Anzahl allgemeiner und spezifischer entwicklungsdiagnostischer Verfahren vor. Eine Mehrheit dieser Verfahren verpflichtet sich einem modernen Entwicklungsverständnis sowohl in der Konstruktion der Verfahren wie der Interpretation des individuellen Entwicklungsstandes. Einen Handlungsbedarf orten wir in der geringen Anzahl entwicklungsdiagnostischer Verfahren, die gleichzeitig verschiedene Entwicklungsbereiche – psychomotorische, kognitive, sprachliche und numerische, sozial-emotionale und motivationale Funktionen – erfassen, so dass der Entwicklungsstand des Kindes respektive des Jugendlichen in den relevanten Dimensionen zueinander in Beziehung gestellt werden kann. Ein zweiter Handlungsbedarf besteht für Forschung an der Schnittstelle zwischen Entwicklungsstanddiagnostik und prozessorientierter Erfassung von Entwicklungsverläufen unter Berücksichtigung von biopsychosozialen Risiko- und Schutzfaktoren. Diese Forschung ist zur Beantwortung der Frage bedeutsam, wie viel Toleranz im individuellen Entwicklungsstand gegenüber der Abweichung zu einer Entwicklungsnorm in einem einzigen spezifischen Funktionsbereich respektive im Zusammenspiel der Funktionsbereiche akzeptiert werden kann, ohne dass dem Kind bei Nicht-Intervention langfristig Nachteile erwachsen, und ab welchen Schwellenwerten und Profilen Fördermaßnahmen angezeigt sind. Dieses Wissen kann nur in prospektiven Längsschnittstudien generiert werden, die zu biografisch frühen Zeitpunkten in vergleichsweise großen Stichproben wiederholt zum einen standardisierte entwicklungsdiagnostische Verfahren einsetzen und zum anderen den Lebenskontext des Kindes erfassen. Derart kann die entwicklungsrelevante Wechselwirkung zwischen Individum und Kontext in einem umfassenden biopsychosozialen Verständnis geklärt werden und die Faktoren, die zur Stabilisierung und Veränderung in der individuellen Entwicklung beitragen, identifiziert werden. Diese Art Forschung ist in finanzieller und personeller Hinsicht außerordentlich ressourcenintensiv; wenige Forschungsprojekte existieren hierzu. Schließlich wäre es wünschenswert, wenn die Manuale entwicklungsdiagnostischer Verfahren konkrete Angaben enthielten, wie die Ergebnisse zum Entwicklungsstand und der individuelle Profilverlauf interpretiert werden sollen. Dabei sollten die identifizierten absoluten – im interindividuellen Vergleich – sowie die relativen – im intraindividuellen Vergleich – Stärken und Schwächen des Kindes und des Jugendlichen in Hinweise für konkrete Fördermaßnahmen münden.
Zusammenfassung Entwicklungsdiagnostische Verfahren sind in einem weiten Sinne leistungsdiagnostische Verfahren, die bereichsspezifisch und altersangepasst den Leistungsstand von Kindern und Jugendlichen zu erfassen vermögen. Sie stehen im Dienste der Gesundheitsförderung und Prävention. Hierzu versuchen sie im Kindes- und Jugendalter eine differenzierte Standortbestimmung zu einer entwicklungspsychologisch relevanten Fragestellung vorzunehmen mit dem Ziel, bei Entwicklungsdefiziten niederschwellige Interventionen und bei bedeutsamen Entwicklungsabweichungen eine Therapie vorzuschlagen. Entwicklungsdiagnostik beschreibt einen Entwicklungszustand respektive bei mehrmaliger Messung einen Entwicklungsverlauf, um Förderprogramme auf den individuellen Entwicklungsprozess abzustimmen. Dabei bezieht sich Entwicklungsdiagnostik auf Entwicklungsnormativität. Entwicklungsnormativität in einem modernen Verständnis weist eine beträchtliche Toleranz gegenüber interindividuell bereichsspezifischer und intraindividuell bereichsübergreifender Varianz auf. Mögliche Defizite und Stärken von Kindern und Jugendlichen lassen sich auf der Grundlage der Entwicklungsnormativität in Entwicklungsstandprofilen abbilden. Das Kapitel fokussiert auf standardisierten Entwicklungstests, in denen entwicklungsbezogene Leistungsdaten erhoben und die individuellen Daten in Beziehung zur Merkmalsverteilung in der Population gestellt werden. Es wurden die Konstruktionsmerkmale entwicklungsdiagnostischer Verfahren bezeichnet und drei Verfahrenstypen differenziert: spezifische Entwicklungstests, allgemeine Entwicklungstests und Screeningverfahren. Welche Verfahren im Individualfall für die Entwicklungsdiagnostik eingesetzt werden, hängt vom Inhalt der Fragestellung, den zu untersuchenden Entwicklungsbereichen, dem Alter des Kindes, der zur Verfügung stehenden Zeit und der Fallgeschichte ab. Relevant für die Wahl eines spezifischen Verfahrens ist das Vorliegen befriedigender psychometrischer Eigenschaften. Hervorgehoben wurde schließlich, dass die Terminologie Entwicklungsverzögerung bzw. -vorsprung veraltet, in der Tradition von Stufenleitertests verankert und einem Reifungsmodell verpflichtet ist. Die modernen Verfahren hingegen sind in ihrer Anordnung und im Aussagebereich auf einen dynamischen Entwicklungsbegriff bezogen, welcher Plastizität, Selektion, Optimierung und Kompensation in den Entwicklungsprozessen annimmt und damit eine Schnittstelle zu verhaltenstherapeutischen Förder- und Therapiemaßnahmen bietet.
9
158
Kapitel 9 · Entwicklungsdiagnostik
Literatur
9
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Weiterführende Literatur Holling, H., Preckel, F., Vock, H. (2004). Intelligenzdiagnostik. Göttingen: Hogrefe. Petermann, F. & Macha, T. (2008). Entwicklungsdiagnostik. In: Petermann, F. & Schneider, S. (Hrsg.). Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 7. Angewandte Entwicklungspsychologie. Göttingen: Hogrefe. pp. 19–38.
10
10 Psychotherapieforschung Manfred Döpfner
10.1
Einleitung
– 160
10.2
Konzeptionelle Fragen der Psychotherapieforschung mit Kindern und Jugendlichen – 161
10.3
Methodische Fragen der Psychotherapieforschung
10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4
Überblick – 163 Problem der Stichprobenselektion – 166 Problem der Erfolgskriterien – 166 Problem der Erfolgsmaße – 167
10.4
Ergebnisse der Psychotherapieforschung – 168
10.4.1 10.4.2 10.4.3
Metaanalysen – 168 Evidenzbasierte Therapien – 172 Behandlungsleitlinien – 175
10.5
Ausblick
– 175
Zusammenfassung Literatur
– 176
– 176
Weiterführende Literatur
– 179
– 163
160
Kapitel 10 · Psychotherapieforschung
10.1
Einleitung
Ein Gedankenexperiment…
10
Stellen Sie sich vor, eine Mutter kommt mit ihrem 8-jährigen Sohn zu einem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, berichtet von Problemen im Verhalten und in der Schule und klagt über aggressives, unruhiges und unkonzentriertes Verhalten ihres Sohnes, sie berichtet zudem von Phasen großer Traurigkeit und Apathie. Schließlich fragt sie den Therapeuten: »Welche Hilfen für mein Kind sind wirkungsvoll und welche Methode ist die beste?« Natürlich kann der Therapeut darauf antworten, dass die Dinge sehr komplex sind und man nie genau im Voraus weiß, was wirklich hilft. Damit hat man immer Recht und lässt die Mutter mit der Frage allein. Er könnte aber auch sagen, dass er eine von mehreren möglichen Therapiemethoden beherrscht und dass diese Methode seiner Erfahrung nach bei Kindern mit ähnlichen Problemen durchaus hilfreich ist (wenn er die Erfahrung gemacht hat). Vielleicht setzt er auch noch hinzu, dass dies natürlich seine subjektive Beurteilung ist, dass es noch andere therapeutische Zugänge gibt (die er dann genauer beschreiben würde) und dass vermutlich manche anderen Experten zu anderen Einschätzungen kommen würden. Das wäre ehrlich und würde der Mutter helfen, ihre Entscheidung zu fällen. Sie könnte aber auch weiter insistieren und fragen, ob es über diese subjektive Einschätzung hinaus auch noch Informationen aus wissenschaftlichen Untersuchungen gibt, die helfen können, diese Frage zu beantworten. Ich finde ein solches Anliegen angemessen und gut nachvollziehbar. Diese Argumentation wurde vom Autor in einer aktuellen Diskussion über die Wirksamkeit von Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen vorgebracht (Döpfner 2004a), um in der immer wieder aufgebrachten Frage nach dem Sinn empirischer Psychotherapieforschung das wohl schlagkräftigste Argument ins Felde zu führen – das Recht unserer Patienten auf eine möglichst gut fundierte Psychotherapie. Der Mutter in unserem Beispiel eine möglichst fundierte Antwort geben zu können, das ist die zentrale Funktion der Psychotherapieforschung, deren zentrale Frage in der bis heute gültigen Form von Paul (1967, S. 111) vor mehr als 40 Jahren wie folgt formuliert wurde: Welche Behandlung, durch wen, ist die effektivste für dieses Individuum mit diesem spezifischen Problem unter welchen Bedingungen? (Paul 1967, p. 11, Übersetzung und Hervorhebungen durch den Autor)
Eine Vielzahl von Mythen, Halbwahrheiten und Therapieklischees stellen jedoch die Nützlichkeit und Relevanz von Therapieforschung immer wieder in Frage. Vorstellungen, wie »Therapie ist zu komplex«, »Therapie ist eine Kunst« und »jeder ist ein einmaliges Individuum« helfen nicht
weiter und verstellen den Blick auf Ergebnisse von Therapieevaluation, die einen erheblichen Einfluss auf die Praxis haben müssten (vgl. Kazdin 1988) Das Nichtzurkenntnisnehmen des Ergebnisstandes der Psychotherapieforschung hat in weiten Teilen der Psychotherapieszene gegenwärtig noch nicht einmal den Charakter eines Kavaliersdeliktes. Es gilt vielmehr geradezu als Praktiker-Tugend, die Verbundenheitsgefühle stiftet gegenüber Forschern und universitären Theoretikern, denen pauschal Realitätsferne unterstellt wird. Die Irrelevanz der Psychotherapieforschung für die Psychotherapiepraxis ist eines der bestgepflegten Stereotype der Psychotherapieszene. (Grawe 1992, S. 135 f.)
Diese von Grawe (1992) für den Bereich der Psychotherapie von Erwachsenen konstatierte Situation lässt sich ohne Abstriche auf die Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen übertragen. Die Diskussion über die Wirksamkeit von verschiedenen Formen der Psychotherapie bei Erwachsenen, die in Deutschland durch die Publikationen der Arbeitsgruppe um Grawe (Grawe et al. 1990, 1994; Grawe 1992) ausgelöst wurde, ist mittlerweile auch für den Bereich der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen aufgenommen worden (Döpfner 2003, 2004a; Döpfner u. Lehmkuhl 2002). Doch Psychotherapieforschung ist nicht nur ein spannendes, sondern auch ein mühsames Geschäft, ein Unterfangen, das Kazdin (1988) zu einem Rückgriff auf die griechische Mythologie veranlasst hat: Angesichts der Vielzahl der Interventionstechniken, die es bei den unterschiedlichen Diagnosegruppen mit mehreren relevanten Erfolgsmaßen zu prüfen gilt, muss man von einer Herkules-Arbeit sprechen, die zum größten Teil noch vor uns liegt. In seinem wegweisenden Buch über Forschung in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zählt Kazdin (2000) mehr als 500 Interventionsmethoden. Bedenkt man dann noch, dass verschiedene Erfolgsmaße allein in einer einzigen Studie zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen können, dann kann man Kazdin nur zustimmen, dass Sysiphus wohl der passendere griechische Mythos ist. Häufig ist jedoch auch die Komplexität des Forschungsgegenstandes eine beliebte Waffe, die gegen jede Form empirischer Psychotherapieforschung ins Feld geführt wird. Psychotherapeutische Versorgung allein genügt jedoch nicht; es kommt darauf an, angemessen und effektiv zu behandeln. Alle, die Therapie betreiben, müssen sich die Frage gefallen lassen, wie wirksam ihre Behandlungsmethode ist, wie ihre Wirksamkeit im Vergleich zu anderen Methoden ist, bei welcher Indikation sie am besten eingesetzt wird und unter welchen Bedingungen sie weniger zu empfehlen, unökonomisch oder gar unwirksam ist. Wer (zu Recht) hohe Anforderungen an die Erprobung von Psychopharmaka stellt, muss dies in gleichem Maße auch bei der Einführung von Psychotherapiemethoden tun.
161 10.2 · Konzeptionelle Fragen der Psychotherapieforschung mit Kindern und Jugendlichen
Dabei stellen sich folgende drei Themenbereiche zur Psychotherapieforschung mit Kindern- und Jugendlichen, die im Folgenden behandelt werden sollen: 4 konzeptionelle Fragen, 4 methodische Fragen, 4 Ergebnisse.
10.2
Konzeptionelle Fragen der Psychotherapieforschung mit Kindern und Jugendlichen
Wie die Psychotherapie im Erwachsenenalter, ist auch die Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie im vergangenen Jahrhundert vor allem durch verschiedene Therapieschulen dominiert worden. Diese Therapieschulen basieren auf unterschiedlichen Grundannahmen, Menschenbildern und theoretischen Konzeptionen. In Deutschland wurde mit dem Psychotherapeutengesetz der(die) approbierte Kinderund Jugendlichenpsychotherapeut(in) als anerkannter Heilberuf geschaffen, und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sowie Verhaltenstherapie wurden für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen als wissenschaftlich fundiert anerkannt. Dadurch ist die klassische an Schulen orientierte Ausrichtung der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie auch gesetzlich festgeschrieben, und der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (http://www. wbpsychotherapie.de) prüft kontinuierlich weitere Psychotherapieverfahren auf ihre empirische Fundierung. Zunehmend setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass unabhängig von den Therapieschulen eine allgemeine Konzeption von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie entwickelt werden sollte. In einem solchen Rahmen kann dann die empirische Fundierung einzelner psychotherapeutischer Methoden oder allgemeiner Wirkprinzipien bei der Therapie der verschiedenen psychischen Auffälligkeiten überprüft werden. Der Weg, der eingeschlagen werden muss, wurde von Grawe et al. (1994) für die Erwachsenenpsychotherapie programmatisch als eine Wende weg von der Konfession hin zur Profession beschrieben. Von mehreren deutschsprachigen Autoren wurde in der letzten Zeit der Versuch unternommen, vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse Ansätze einer allgemeinen Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie zu skizzieren (Lehmkuhl et al. 1992; Schmidtchen 2001; Mattejat 2003). Grawe (1995) hat für das Erwachsenenalter ein Modell einer allgemeinen Psychotherapie vorgelegt, das konzeptionell am weitesten entwickelt ist. Das Konzept der »multimodalen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie« greift die Überlegungen von Grawe auf und versucht, Grundlinien einer allgemeinen Psychotherapie für Kinder und Jugendliche zu formulieren (Döpfner 2008) dar. Die multimodale Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie baut wesentlich auf den verhaltenstherapeutischen Prinzipien auf und lässt sich als eine problemorientierte, individualisierte, sequenzielle und adaptive,
entwicklungs- und ergebnisorientierte Therapie charakterisieren, die auf der Grundlage allgemeiner Wirkprinzipien evidenzbasierte Interventionsmethoden anwendet, dabei den spezifischen Kontext berücksichtigt, in dem die Probleme auftreten und mehrere Interventionsebenen integriert.
Sieben Prinzipien der multimodalen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (nach Döpfner 2008) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Problemorientierte Therapie Kontextorientierte und multimodale Therapie Entwicklungsorientierte Therapie Ergebnisorientierte Therapie Evidenzbasierte Therapie Individualisierte, sequenzielle und adaptive Therapie An Wirkprinzipien orientierte Therapie
Diese Prinzipien haben Auswirkungen auf die Konzeption von Therapieforschung, die im Folgenden kurz diskutiert werden. Problemorientierte Therapie. Die multimodale Kinderund Jugendlichenpsychotherapie orientiert sich an den konkreten Problemen des Kindes oder Jugendlichen auf kognitiver, emotionaler und Verhaltensebene und an den damit in Verbindung stehenden Problemen seiner Familie sowie des weiteren Umfeldes. Die Therapieforschung hat daher zu prüfen, in welchem Umfang sich konkrete Probleme auf den verschiedenen Ebenen vermindern lassen. Da meist mehrere Probleme auf mehreren Ebenen auftreten, sollten diese spezifisch erfasst werden. Kontextorientierte und multimodale Therapie. Psychische Probleme manifestieren sich in aller Regel in verschieden Lebenskontexten und auf mehreren Ebenen – beim Patienten selbst, in der Familie, im Kindergarten, in der Schule oder im Freizeitbereich bzw. in der Gleichaltrigengruppe. Eine multimodale Intervention, die auf den verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichen Lebensbereichen ansetzt, in denen die Probleme auftreten, ist daher meist notwendig; auch wenn sich die Probleme in den einzelnen Lebensbereichen gegenseitig beeinflussen und Interventionen in einem Lebensbereich gewisse Auswirkungen auf andere Lebensbereiche haben können (. Abb. 10.1). Die Psychotherapieforschung liefert viele Hinweise darauf, dass die Erfolgschancen einer Intervention dann am größten sind, wenn sie auf der Ebene oder in dem Kontext ansetzt, in dem die Problematik auftritt (Kazdin 2000). So lassen sich durch familienzentrierte Interventionen Probleme des Kindes in der Familie, aber nicht automatisch auch in der Schule vermindern. Die Psychotherapieforschung muss daher prüfen, in welchem Kontext – Familie, Schule, Kindergarten, Freizeitbereich – sich Probleme vermindern lassen (7 Abschn. 10.3.2).
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162
Kapitel 10 · Psychotherapieforschung
. Abb. 10.1. Problembereiche und Interventionsebenen in der multimodalen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. (Aus Döpfner 2007a)
Entwicklungsorientierte Therapie. Die multimodale Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie muss ein extrem weites Entwicklungsspektrum berücksichtigen, indem sie spielerische Methoden, kognitive und verbale Techniken sowie übende Verfahren integriert. Die Psychotherapieforschung muss daher das Alter der Patienten berücksichtigen und prüfen, welchen Einfluss das Alter auf den Therapieerfolg hat. Ergebnisorientierte Therapie. Multimodale Kinder- und
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Jugendlichenpsychotherapie vereinbart zu Beginn der Therapie die konkreten Probleme, die verändert werden sollen, mit allen Beteiligten und überprüft diese Problemdefinition und die davon abgeleitete Zieldefinition kontinuierlich im Verlaufe der Therapie. Solche Probleme können auf kognitiver, emotionaler oder Verhaltensebene beim Patienten oder seinen Bezugspersonen oder auf der Interaktions- und Beziehungsebene zwischen dem Patienten und den Bezugspersonen lokalisiert werden. Hauptzielkriterium für die Beurteilung der Wirksamkeit einer psychotherapeutischen Intervention sollte daher die Verminderung der spezifischen, individuellen Probleme des Patienten und seiner Bezugspersonen sein. Evidenzbasierte Therapie. Die multimodale Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie wendet empirisch bewährte Interventionsmethoden an. Die empirische Therapieforschung hat die Wirksamkeit verschiedener Methoden in den letzten Jahrzehnten in einer Vielzahl von empirischen Studien untersucht. Obwohl die Therapieforschung noch erhebliche Lücken aufweist, haben sich doch verschiedene Interventionsmethoden für spezifische Störungsbilder als wirkungsvoll erwiesen (7 Abschn. 10.4). Individualisierte, sequenzielle und adaptive Therapie.
Therapeutische Interventionen müssen individuell und maßgeschneidert an die jeweiligen Problem- und Bedingungskonstellationen angepasst werden. Standardisierte Trainingsprogramme können als Grundlage individuali-
sierter Interventionen dienen, müssen aber an die jeweiligen Konstellationen adaptiert werden. Zudem kann eine generelle Orientierung an Wirkprinzipien (s. unten) hilfreich sein, die sich empirisch als wirkungsvoll erwiesen haben und die für den einzelnen Patienten individuell angepasst werden müssen. Da häufig mehrere Interventionsebenen und Problembereiche zu berücksichtigen sind, ist meist eine sequenzielle Strategie sinnvoll, die sich zunächst auf eine oder zwei Interventionsebenen und Problembereiche konzentriert und dann das weitere therapeutische Vorgehen entsprechend dem Verlauf der Therapie adaptiert (Stepped-care-Modelle). Sequenzielle Strategien sind in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie so gut wie gar nicht untersucht. Sie werden in den letzen Jahren im Rahmen der Überprüfung kombinierter psycho- und pharmakotherapeutischer Behandlungsformen zumindest ansatzweise untersucht (z. B. Döpfner et al. 2004). Aber auch innerhalb der psychotherapeutischen Interventionen stellt sich diese Frage – beispielsweise: 4 In welcher Abfolge sollen patienten- und familienzentrierte Interventionen kombiniert werden? 4 Welche Störungen sollen bei multiplen psychischen Auffälligkeiten zuerst behandelt werden? An Wirkprinzipien orientierte Therapie. Aus den Ergebnissen der Therapieforschung lassen sich störungsübergreifende allgemeine Wirkprinzipien ableiten, mit denen auch eine von Therapieschulen unabhängige Konzeption der multimodalen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie möglich erscheint. Für die Psychotherapie von Erwachsenen hat Grawe (1995) ein Modell einer allgemeinen Psychotherapie vorgelegt, in dem er vier generelle therapeutische Wirkprinzipien als gesicherte Bestandteile einer allgemeinen psychotherapeutischen Veränderungstheorie definierte, die Grundlage einer allgemeinen von Therapieschulen unabhängigen Psychotherapie sein könnten: Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, aktive Hilfe zur Problembewältigung und die Klärungsperspektive. Diese Prinzipien lassen sich auch in der multimodalen Kinderund Jugendlichenpsychotherapie anwenden. Im Unterschied zur Erwachsenenpsychotherapie müssen diese Prinzipien jedoch nicht nur in der Arbeit mit dem Patienten realisiert werden, sie spielen ebenso in der Arbeit mit seinen Bezugspersonen – den Eltern, den Lehrern und anderen – eine wichtige Rolle (vgl. Döpfner 2008):
Wirkprinzipien in der multimodalen Kinderund Jugendlichenpsychotherapie in Anlehnung an Grawe (1995) 4 4 4 4
Ressourcenaktivierung Problemaktualisierung Kognitiv-affektive Klärung Hilfe zur Problembewältigung
163 10.3 · Methodische Fragen der Psychotherapieforschung
. Abb. 10.2. Modell der multimodalen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. (Aus Döpfner 2007a)
Die hauptsächlich verhaltenstherapeutisch basierte Forschung hat das Prinzip der aktiven Hilfe zur Problembewältigung auch bei Kindern und Jugendlichen relativ gut untersucht. Die Bedeutung kognitiver Interventionen ist bei den verschiedenen Störungsbildern jedoch weiterhin umstritten und in ihrer Beziehung zu anderen Wirkfaktoren wenig untersucht – z. B. bei Angststörungen (Schneider u. Döpfner 2004) oder auch bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (Pelham u. Fabiano 2008). Die Bedeutung von Ressourcenaktivierung – z. B. über die therapeutische Beziehung – ist lange Zeit vernachlässigt worden. . Abb. 10.2 zeigt zusammenfassend das Modell der multimodalen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie mit den Wirkprinzipien, die auf den Patienten, aber auch seine Bezugsperson angewendet werden. ! Zentrales Ziel der multimodalen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist die erfolgreiche Bewältigung von bislang nicht bewältigten Problemen im Alltag, d. h. in der Familie, in der Schule und bei Gleichaltrigen oder im Freizeitbereich.
Diese Problembewältigung wird vom Therapeuten aktiv unterstützt. Dem Ziel der aktiven Problembewältigung dienen die weiteren Wirkprinzipien der Ressourcenaktivierung, der Problemfokussierung und der kognitiv-affektiven Klärung beim Patienten und seinen Bezugspersonen. Diese Wirkfaktoren beeinflussen sich gegenseitig. Eine erfolgreiche Problembewältigung wird unmittelbar vor allem durch die Stärkung der Kompetenzen sowie des Kompetenzvertrauens und der Erfolgserwartungen des Patienten und seiner Bezugspersonen hinsichtlich der Problembewältigung unterstützt. Erste Erfolge bei der Problembewältigung steigern ihrerseits nicht nur die Kompetenzen, das
Kompetenzvertrauen und die Erfolgserwartungen des Kindes oder Jugendlichen, sie stärken auch seine weitere Änderungs- und Therapiemotivation und die therapeutische Beziehung, und sie wirken damit auch ressourcenaktivierend. In Abhängigkeit vom Umfeld, in dem die Probleme auftreten, werden patientenzentrierte Interventionen durch familien-, kindergarten-, schul- oder auch gleichaltrigenzentrierte Interventionen flankiert, indem die entsprechenden Bezugspersonen in die Therapie einbezogen werden. In Abhängigkeit von den individuellen Problemkonstellationen oder auch der Behandlungsphase können patienten-, familien- kindergarten-, schul- oder gleichaltrigenzentrierte Interventionen auch im Zentrum der therapeutischen Gesamtstrategie stehen. Die meisten der in diesem heuristischen Modell angesprochenen Wirkfaktoren und ihre Beziehungen untereinander sind bislang kaum untersucht worden.
10.3
Methodische Fragen der Psychotherapieforschung
10.3.1 Überblick
Die Evaluation einer solchen multimodalen Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie wirft natürlich erhebliche methodische Probleme auf, die noch über das hinausgehen, was bislang in der Therapieforschungen an grundlegenden Fragen und Schwierigkeiten fokussiert worden ist. Die Probleme, die sich in der Therapieforschung ergeben, sind vielfältig, vor allem wenn man differenzierter nachfragen will, wie dies exemplarisch in einer groß angelegten US-amerikanischen multizentrischen Therapiestudie zur multimodalen Behandlung von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-/
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Kapitel 10 · Psychotherapieforschung
Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) (Richters et al. 1995) formuliert wurde: 4 Unter welchen Bedingungen (z. B. komorbiden Auffälligkeiten, Alter, Geschlecht, familiären Bedingungen) 4 haben welche Behandlungskombinationen (medikamentöse Therapie, Verhaltenstherapie, Elterntraining, schulzentrierte Interventionen) 4 welche Effekte (Verbesserung, Stabilisierung, Verschlechterung) 4 auf welche Funktionsbereiche des Kindes (kognitive Funktionen, Schulleistungen, Verhalten, körperliche Funktionen, Gleichaltrigenbeziehungen, Familienbeziehungen) 4 für wie lange (kurzzeitig, langfristig) 4 in welchem Ausmaß (Effektstärke, Anteil der Kinder im unauffälligen versus pathologischen Bereich) 4 und warum? (Therapieprozess). In Anlehnung an Kazdin (2000) lassen sich 8 Fragen formulieren, welche die Psychotherapieforschung leiten sollten:
Zentrale Fragen der Psychotherapieforschung (nach Kazdin 2000)
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1. Wie wirksam ist die Therapie im Vergleich zur Nichtbehandlung? 2. Wie wirkungsvoll ist die Therapie im Vergleich zu einer anderen Behandlung? 3. Welche Therapiekomponenten tragen zum Behandlungserfolg bei? 4. Welche Behandlungskomponenten können hinzugefügt werden, um den Therapieerfolg zu optimieren? 5. Welche weiteren Parameter können variiert werden, um den Behandlungserfolg zu verbessern? 6. Welche Merkmale des Kindes, der Eltern, der Familie und des weiteren Umfeldes (Moderatoren) beeinflussen den Behandlungserfolg? 7. Welche Prozesse (Mediatoren) während der Behandlung beeinflussen den Behandlungserfolg? 8. In welchem Umfang sind die Behandlungseffekte auf andere Problembereiche, andere Lebensbereiche oder andere Behandlungssettings übertragbar?
Behandlung – Nichtbehandlung. Die erste Frage zur Wirksamkeit einer Therapie im Vergleich zur Nichtbehandlung steht am Anfang jeder Therapieforschung. Tatsächlich widmen sich die meisten Psychotherapiestudien dieser ersten Frage. Für die meisten untersuchten Therapiemethoden wissen wir also im besten Fall, dass diese besser sind als nichts zu tun. Wir wissen jedoch häufig nicht, ob eine Therapiemethode wirklich spezifisch ist, d. h. ob sie besser ist als eine alternative Intervention. Dieses lässt sich nur da-
durch prüfen, dass man eine Therapie mit einer anderen Behandlung vergleicht. Die alternative Therapie kann entweder eine Placebo-Therapie sein (mit einem medikamentösen Placebo oder mit Aufmerksamkeit und Zuwendung als »sozialem Placebo«) oder eine andere aktive Behandlung. Bei der Bewertung von Psychotherapiestudien im Vergleich zu Pharmakotherapiestudien muss man beachten, dass Pharmakotherapiestudien in der Regel verblindet und im Vergleich zu einem Placebo getestet werden, während Psychotherapiestudien häufig nicht zu verblinden sind (d. h. die Beurteiler wissen, dass eine aktive Therapie durchgeführt wurde) und in der Regel mit Nichtbehandlung verglichen werden. Bedeutung einzelner Behandlungskomponenten und -parameter. Häufig werden nicht einzelne Therapietech-
niken, sondern ganze Behandlungspakete untersucht und am Ende einer empirischen Studie weiß man, ob das Behandlungspaket als Ganzes wirkungsvoll war; man kennt jedoch nicht die relevanten Komponenten des Behandlungspaketes. Weitere Studien sind daher notwendig, um die Fragen 3–5 beantworten zu können – z. B.: Ist eine Entspannungskomponente bei einer Angstbehandlung tatsächlich wichtig? Welche Behandlungskomponenten können hinzugefügt werden, um den Therapieerfolg zu optimieren? Lassen sich bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) durch die Kombination von Elterntraining und Selbstinstruktionstraining höhere Behandlungserfolge erzielen als durch ein Elterntraining allein? Welche weiteren Parameter – z. B. Behandlungsdauer, Abfolge oder Dichte der Behandlungsschritte – können variiert werden, um den Behandlungserfolg zu verbessern? Moderatoren. Nach der Klärung der grundsätzlichen Wirksamkeit einer Therapie und ihrer möglichen Optimierung stellen sich Fragen nach den differenziellen Therapieeffekten, also nach den Merkmalen des Kindes, der Eltern, der Familie und des weiteren Umfeldes (Moderatoren), die den Behandlungserfolg beeinflussen können, z. B.: Sind die Effekte einer Depressionstherapie bei Jungen und bei Mädchen gleich? Hat die Intelligenz von Kindern einen Einfluss auf die Wirksamkeit von Autismustherapien? Mediatoren. Schließlich stellen sich Fragen nach den Mediatoren, d. h. nach den Prozessen während der Behandlung, die letztendlich den Therapieerfolg bewirken: Lässt sich die Veränderung der aggressiven Symptomatik bei Kindern im Rahmen eines Elterntrainings tatsächlich durch die Veränderung des Erziehungsverhaltens der Eltern erklären? Ist für den Effekt der Angstbehandlung tatsächlich die Verminderung der Angst während der Expositionsübungen entscheidend? Diese Fragen der Therapieprozessforschung vertiefen unser Verständnis von dem, was in der Therapie passiert, und erlauben es uns, effektivere Therapiemethoden zu entwickeln.
165 10.3 · Methodische Fragen der Psychotherapieforschung
Übertragbarkeit. Ganz entscheidend für die therapeutische Versorgung ist die letzte Frage. Psychotherapiestudien werden in der Regel unter hochgradig kontrollierten Bedingungen durchgeführt, die es uns erlauben, Veränderungen, die wir im Verlauf der Studie feststellen, tatsächlich auf die Intervention und nicht auf andere Faktoren zurückzuführen. Eine hohe interne Validität einer Studie ist also notwendig, um aus der Studie hinreichend sichere Schlussfolgerungen ziehen zu können. Dies ist die Aufgabe der klassischen Wirksamkeitsstudien (»efficacy studies«). Die hohe experimentelle Kontrolle, die dazu notwendig ist, hat jedoch zur Folge, dass die externe Validität solcher Studien, also die Möglichkeit, die Studienergebnisse auf den therapeutischen Alltag zu übertragen, eingeschränkt ist. Patienten, die an einer klassischen Wirksamkeitsstudie teilnehmen, müssen beispielsweise eine Zufallszuteilung zu den verschiedenen Therapiegruppen akzeptieren, sie müssen eine Vielzahl von Messungen über sich ergehen lassen, sie werden in der Regel von gut trainierten Therapeuten behandelt und teilweise auch für die Teilnahme an der Behandlung bezahlt. Diese Bedingungen führen dazu, dass klassische Wirksamkeitsstudien häufig an einem hochgradig selektierten Patientengut durchgeführt werden, wodurch die Übertragung der Ergebnisse auf die klinische Routineversorgung deutlich eingeschränkt ist. Daher sind nach der Durchführung von klassischen Wirksamkeitsstudien in einem zweiten Schritt Untersuchungen zur Alltagswirksamkeit notwendig, die bei reduzierten experimentellen Anforderungen die Wirksamkeit einer Behandlung unter alltagsnahen Bedingungen überprüft. . Abb. 10.3 fasst die verschiedenen Schritte in der Psychotherapieforschung noch einmal zusammen: Zunächst wird die Effektivität einer Behandlung im Vergleich zu Nichtbehandlung oder noch besser zu einer alternativen Therapie im Rahmen von klassischen Wirksamkeitsstudien belegt. Dann können anhand von Mediator- und Modera. Abb. 10.3. Stufen der Psychotherapieforschung
Efficacy und Effectiveness So wurde beispielsweise die Wirksamkeit des »Präventionsprogramms für Expansives Problemverhalten« (PEP; Plück et al. 2006) zunächst in einer randomisierten Kontrollgruppenstudie untersucht (Hanisch et al. 2006), bei der festgestellt wurde, dass durch die Intervention expansives Problemverhalten bei einer durch Ein- und Ausschlusskriterien klar definierten Gruppe von Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren im Vergleich zu einer Nichtbehandlung wirkungsvoll vermindert werden kann. In einer nachfolgenden Studie zur Alltagswirksamkeit wurde dann untersucht, ob das Präventionsprogramm auch unter den Alltagsbedingungen von Erziehungsberatungsstellen bei einer nicht weiter selektierten Gruppe von Kindern mit expansiven Verhaltensproblemen (im Vergleich zu einer unbehandelten Wartezeit) effektiv ist (Hautmann et al. 2008).
toranalysen Untersuchungen darüber angestellt werden, welche Prozesse zu den gefundenen Effekten beitragen und welche Merkmale der Patienten, der Bezugspersonen und der Umgebung die Effekte beeinflussen. Danach kann die Therapie unter Alltagsbedingungen und bei geringerem experimentellem Aufwand auf ihre Alltagswirksamkeit geprüft werden. Bei der Durchführung dieser Studien wird die Therapieforschung mit einer Vielzahl an methodischen Problemen konfrontiert, von denen drei herausgegriffen werden sollen:
Methodische Probleme 1. Stichprobenselektion 2. Erfolgskriterien 3. Erfolgsmaße
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Kapitel 10 · Psychotherapieforschung
10.3.2 Problem der Stichprobenselektion
Wenn Psychotherapieforschung eine Auswirkung auf die klinische Praxis haben soll, dann sollte sie überwiegend auch an klinischen Stichproben durchgeführt werden, und genau hier liegt das erste Problem. Bei drei Viertel aller beispielsweise von Kazdin und Mitarbeitern (1990) untersuchten Studien werden die Kinder oder Jugendlichen nicht aus einer klinischen Inanspruchnahmestichprobe gezogen, sondern gezielt für die Studie eingeworben, beispielsweise über ein Screening oder per Zeitungsannoncen. Die Strategie ist verständlich, da es schwierig ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine hinreichend große homogene Stichprobe aus einer Inanspruchnahmepopulation zu ziehen, doch können sich beide Gruppen hinsichtlich vielfältiger relevanter Merkmale unterscheiden, z. B. hinsichtlich der Therapiemotivation, dem Schweregrad der Störung oder der Komorbidität. Deshalb sind vor allem Studien an klinischen Stichproben notwendig, auch wenn die vorliegenden metaanalytischen Vergleiche zwischen Studien an Inanspruchnahmestichproben und an eingeworbenen Stichpro-
ben bisher keine Unterschiede zwischen beiden Gruppen erkennen lassen (vgl. Weiss u.Weisz 1990). Allerdings konnten Weisz und Weiss (1989) in einer Studie über die Wirksamkeit von Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen, die in klinischen Ambulanzen behandelt wurden, keine Therapieeffekte feststellen. Der Therapiealltag unterscheidet sich doch wohl erheblich von Therapien, wie sie im Rahmen von wissenschaftlichen Studien durchgeführt werden. Bei der Stichprobenselektion müssen außerdem die Ein- und Ausschlusskriterien operationalisiert werden und die Anzahl sowie die Merkmale jener Patienten, die das Behandlungsangebot nicht angenommen oder vorzeitig abgebrochen haben, müssen dokumentiert werden. Welche Patienten innerhalb einer Inanspruchnahmepopulation mit Therapieangeboten erreicht und nicht erreicht und vor allem welche Interventionen zum Aufbau einer Behandlungsmotivation hilfreich sind bzw. ob sich verschiedene Interventionsformen in ihrer Akzeptanzrate unterscheiden, das sind Fragestellungen, denen sich die Psychotherapieforschung insgesamt bisher kaum zugewandt hat.
Stichprobenselektion
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So zeigen mehrere Studien, dass ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Eltern von Kindern mit oppositionellen und aggressiven Verhaltensstörungen sich durch mangelnde Kooperation während der Therapie auszeichnet und die Behandlung vorzeitig beendet. Kazdin (1990b) berichtet von einer Abbruchquote von 25% bei kindzentrierten und familienzentrierten Interventionen für aggressiv auffällige Kinder. Die Abbrecher sind im Vergleich zu den Patienten, welche die Behandlung beenden, eher stärker aggressiv und dissozial gestört, ihre Mütter klagen stärker über Stress in der Beziehung zum
Der Analyse von Therapiemisserfolgen und von mangelnder Compliance der Patienten oder der Bezugspersonen kommt deshalb zukünftig eine besondere Bedeutung zu. Eine weitere methodische Antwort auf das Problem der Therapieabbrüche sind sog. Intention-to-treat-Analysen, die mittlerweile Standard in der Psychotherapieforschung sind. Dabei bleiben auch jene Patienten in die Analyse einbezogen, welche die Therapie abgebrochen haben, indem der bei Therapiebeginn gemessene Wert auf dem Erfolgsparameter auch bei Behandlungsende angenommen wird (»last observation carried forward«, LOCF) und somit keine Veränderung unter der Therapie für diesen Fall angenommen wird. Zusätzlich zu solchen Intention-to-treat Analysen können dann Analysen zur Intensität von Psychotherapie durchgeführt werden: Zeigen jene Patienten, die eine Therapie vollständig durchgeführt haben und bei jeder oder fast jeder Sitzung anwesend waren, höhere Effekte als jene, die gar nicht oder selten anwesend waren?
Kind, aber auch hinsichtlich der eigenen Rolle und allgemeiner Lebensereignisse, und sie beschreiben sich selbst als stärker psychisch auffällig. Außerdem stammen die Abbrecher häufiger aus sozial benachteiligten Familien. Alleinerziehende Eltern mit geringem Bildungsgrad haben die größten Schwierigkeiten bei der Durchführung verhaltenstherapeutischer Interventionen (vgl. Döpfner et al. 2007). Damit besteht die Gefahr, dass jene Patientengruppen mit dem höchsten Chronifizierungsrisiko durch die Therapien am wenigsten erreicht werden.
10.3.3 Problem der Erfolgskriterien
Bei der Beurteilung des Therapieerfolges können verschiedene Erfolgskriterien herangezogen werden, die unterschiedliche Funktionsbereiche erfassen. Wichtigstes Kriterium ist in der Regel die Symptomminderung, also dass die psychischen Auffälligkeiten des Kindes oder Jugendlichen, derentwegen eine Behandlung begonnen wurde, nach der Behandlung weniger stark ausgeprägt sind als vorher. Das Konzept der multimodalen Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie betont, dass psychische Störungen sich auf der kognitiven, der affektiven und der Verhaltensebene manifestieren können, meist auf allen dreien. Diese Ebenen kovariieren allerdings nicht so eng miteinander, wie dies gelegentlich angenommen wird, und deshalb ändern sie sich auch nicht unbedingt gleichsinnig.
167 10.3 · Methodische Fragen der Psychotherapieforschung
Unterschiedliche Effekte bei verschiedenen Kriterien Zu den recht durchgängigen Ergebnissen verhaltenstherapeutischer Therapieevaluation zählt, dass sich primär jene Ebene der Psychopathologie beeinflussen lässt, auf die eine Intervention abzielt: Problemösetrainings mit aggressiven Kindern verändern in erster Linie Problemlösefähigkeiten, aber nicht unbedingt auch das aggressive Verhalten. Ähnliches ist von Depressionsbehandlungen bekannt oder aus Therapiestudien mit Anorexie-Patientinnen: Körpergewicht, Essverhalten und Einstellung gegenüber dem Essen verändern sich in der Regel nicht gleichförmig. Man könnte meinen, dies sei ein Problem des eng symptomorientierten Vorgehens in der Verhaltenstherapie. Das scheint aber zumindest nicht ganz zu stimmen, da bei den meisten Studien, die verhaltenstherapeutische Interventionen mit stärker verbal orientierten Verfahren verglichen, Ähnliches zutage trat. Tiefenpsychologisch oder nondirektiv orientierte Interventionen sind bei Veränderungen auf der affektiven Ebene gelegentlich ebenso effektiv wie Verhaltenstherapie, aber bei der Veränderung von beobachtbarem Verhalten häufig weniger wirkungsvoll. So konnte beispielsweise in einer Therapievergleichsstudie zur Wirksamkeit von sozialem Kompetenztraining und nondirektiver Spieltherapie bei sozial ängstlichen Kindern gezeigt werden, dass durch beide Interventionen die subjektive soziale Angst in gleicher Weise vermindert wurde, das Interaktionsverhalten aber nur durch das soziale Kompetenztraining (Döpfner et al. 1981).
Therapieerfolge können jedoch nicht nur nach der Symptomminderung bemessen werden. Am Ende einer Therapie sollten nicht nur Symptome verringert sein, wichtiger ist, dass die Einschränkungen des Patienten und seiner Bezugspersonen im Alltag, die durch die Symptomatik erfahren werden, und das allgemeine Wohlbefinden der Beteiligten sich nachhaltig bessern. Damit kommen neben der Symptomminderung auch die Verbesserung des eingeschränkten Funktionsniveaus – in der Familie, in der Schule und im Freizeitbereich – und schließlich die Lebensqualität, das Wohlbefinden in den Fokus der Therapieforschung. In den vorliegenden Psychotherapiestudien wurden solche Erfolgsparameter leider relativ selten erhoben wurden. Das Konzept der multimodalen Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie weist außerdem darauf hin, dass nicht nur der Patient, sondern auch seine Bezugspersonen und das weitere soziale Umfeld zu berücksichtigen sind. Erst in den letzten Jahren werden die Auswirkungen psychotherapeutischer Interventionen auf andere Familienmitglieder und auf familiäre Beziehungen untersucht. So verglichen Wells und Egan (1988) die Effekte von Elterntrainings und
von systemischer Familientherapie bei oppositionell aggressiven Kindern. Sie fanden beide Therapieformen bei der Veränderung von psychischen Störungen der Mütter und bei der Verminderung von Partnerschaftskonflikten als gleichermaßen wirkungsvoll. Das Elterntraining erwies sich darüber hinaus bei der Veränderung des Erziehungsverhaltens der Eltern und der Verhaltensauffälligkeiten der Kinder als die wirkungsvollere Methode.
10.3.4 Problem der Erfolgsmaße
Die einzelnen Erfolgskriterien können über verschiedene Erfolgsmaße erfasst werden. Dabei können verschiedene Methoden zur Anwendung kommen, vor allem direkte Beobachtungen, Fragebogen oder Interviews oder direkte Testleistungen (z. B. Konzentrationstestverfahren). Jede dieser Methoden hat spezifische Vorteile und spezifische Fehlerquellen, und – wiederum – sie kovariieren nicht sehr eng miteinander. So konnten beispielsweise Forehand und Mitarbeiter (1980) bei der Überprüfung der Wirksamkeit ihres Elterntrainings bei oppositionell-aggressiven auffälligen Kindern zeigen, dass die bei Behandlungsende per Verhaltensbeobachtung erfassten Verhaltensänderungen in der Familie stärker waren als die von der Mutter im Fragebogen berichteten. Zwei Monate später entsprachen sich jedoch Verhaltensbeobachtung und Elternbeurteilung – die Mütter brauchten etwas länger, um die tatsächlichen Verhaltensänderungen auch wahrnehmen zu können. Beurteilungen in Fragebögen und auch Verhaltensbeobachtungen können über verschiedene Informanten erfolgen (7 Kap. III/8). Unglücklicherweise ergibt sich auch hier die gleiche Situation: die verschiedenen Beurteiler stimmen, wenn sie das Gleiche gefragt werden, relativ wenig miteinander überein. Dabei spielen Reliabilitätsprobleme eine Rolle, die jedoch längst nicht alles erklären können; auch Validitätsprobleme sind im Spiel – z. B. Dissimulationstendenzen der Jugendlichen. Aber Vieles spricht dafür, dass sich ein erheblicher Anteil der nicht aufgeklärten Varianz durch die Situationsspezifität von Verhalten erklären lässt: Kinder und Jugendliche verhalten sich in der Familie, in der Schule und gegenüber Gleichaltrigen unterschiedlich. In der multimodalen Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie muss also auch eine multimodale Diagnostik und Verlaufskontrolle durchgeführt werden (vgl. Döpfner u. Petermann 2008). Dabei werden psychische Auffälligkeiten auf mehreren Ebenen (der kognitiven, der affektiven und der Verhaltensebene) erfasst und auch das allgemeine Funktionsniveau (in der Schule, in der Familie, im Freizeitbereich) sowie die Lebensqualität unter Anwendung mehrerer Erfassungsmethoden (Selbsturteil, Elternurteil, Verhaltensbeobachtung, Testleistung) erhoben. Dabei müssen Veränderungen in verschiedenen Lebensbereichen – in der Familie, der Schule und in der Gleichaltrigengruppe – erfasst werden und auch eine Kon-
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168
Kapitel 10 · Psychotherapieforschung
trolle der Veränderung der individuellen Probleme, wie sie der Patient, die Eltern oder Lehrer beschreiben, ist notwendig, weil sich die individuellen Schwierigkeiten mitunter nur unvollständig in standardisierten Messinstrumenten widerspiegeln.
10.4
Ergebnisse der Psychotherapieforschung
Die multimodale Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie orientiert sich bei der Auswahl der Interventionen an den Ergebnissen empirischer Studien und ist damit eine evidenzbasierte Psychotherapie. In den letzten Jahren haben sich international drei Verfahrensweisen etabliert, mit denen die Evidenzbasierung einer Psychotherapie dokumentiert werden kann: 4 Metaanalysen, anhand derer die Ergebnisse verschiedener empirischer Studien statistisch integriert werden; 4 Definition von Evidenzbasierung an Therapien anhand von Kriterien über die Anzahl und Art der einer Evidenzbasierung zugrunde liegenden Studien; 4 Entwicklung von Leitlinien zur Durchführung von Psychotherapie in der Praxis.
10.4.1 Metaanalysen
10
In den letzten beiden Jahrzehnten wurden international vier große Metaanalysen durchgeführt, welche die generelle Wirksamkeit von Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen untersuchten (. Tab. 10.1). In diesen Analysen werden für jede einzelne Studie Effektstärken berechnet, welche die Mittelwertdifferenzen zwischen Therapieund Kontrollgruppe bei Behandlungsende in Beziehung
. Tab. 10.1. Übersicht über Metaanalysen zur Wirksamkeit von Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. (Aus Döpfner 2007b) Autoren
Altersbereich [Jahre]
Anzahl der Therapiegruppen
Publikationszeitraum
Effektstärke
Casey u. Berman 1985
3–12
64
1952–1983
0.71
Weisz et al. 1987
4–18
163
1958–1984
0.79
Kazdin et al. 1990
4–18
223
1970–1988
0.88a
Weisz et al. 1995
1,5–17,6
a
b
0.77b 244
1967–1993
0.71
Effektstärke beim Vergleich von Therapiegruppe mit unbehandelter Kontrollgruppe. Effektstärke beim Vergleich von Therapiegruppe mit aktiver Kontrollgruppe (Diskussionsgruppe, Aufmerksamkeits-Placebogruppe).
zur Standardabweichung setzt. Eine Effektstärke von 0.5 besagt also, dass sich die Therapiegruppe bei Behandlungsende von der Kontrollgruppe im Mittelwert um eine halbe Standardabweichungseinheit unterscheidet. Diese Effektstärken werden über die verschiedenen Studien hinweg zusammengefasst (gemittelt). . Tab. 10.1 zeigt, dass sich die vier bislang publizierten Studien im untersuchten Altersbereich, im Publikationszeitraum der analysierten Studien und in der Anzahl der analysierten Therapiegruppenvergleiche unterscheiden. Die Metaanalysen von Casey und Berman (1985), von Weisz und Mitarbeitern (1987) und von Kazdin und Mitarbeitern (1990) überlappen sich hinsichtlich der analysierten Studien, während in der neuesten Analyse von Weisz et al. (1995) nur Studien aufgenommen wurden, die nicht bereits in den Arbeiten von Weisz et al. (1987) und Casey und Berman (1985) analysiert wurden. In dieser jüngsten globalen Metaanalyse werden 150 Studien untersucht, in denen insgesamt 244 Therapiegruppen verglichen wurden. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Studien, die zwischen 1983 bis 1993 publiziert wurden. Kazdin und Mitarbeiter (1990) berechneten lediglich Effektstärken für alle Psychotherapieformen insgesamt, während die anderen Metaanalysen spezifischere Berechnungen für einzelne Therapieformen und für verschiedene Störungsbilder durchführten. Wie . Tab. 10.2 zeigt, liegen die mittleren (ungewichteten) Effektstärken über alle Therapieformen hinweg mit Werten zwischen 0.71 und 0.88 sehr nahe beieinander. Beelmann und Schneider (2003) publizierten eine Metaanalyse deutschsprachiger Studien zur Wirksamkeit von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Sie konnten 47 Vergleiche zwischen Behandlungs- und Kontrollgruppen einschließen und errechneten eine durchschnittlich Effektstärke von 0.54 über alle Therapiestudien. Diese Effektstärke entspricht der von Weisz und Mitarbeitern (1995) ermittelten, wenn man die gleiche Methode der Effektstärkenberechnung anlegt. Aus diesen Analysen lassen sich global für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie folgende Schlussfolgerungen ziehen: 1. Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen ist wirkungsvoll. Entsprechend der Klassifikation von Cohen
(1988) werden Effektstärken zwischen 0.20 und 0.50 als gering, zwischen 0.50 und 0.80 als moderat und über 0.80 als groß eingeschätzt. Danach liegen die ermittelten Effektstärken mit rund 0.80 an der Grenze von mittleren zu starken Effekten. Eine Effektstärke von 0.80 besagt, dass die behandelten Patienten bei Behandlungsende im Durchschnitt weniger auffällig sind als 79% der Patienten aus der unbehandelten Kontrollgruppe. 2. Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen ist ähnlich wirkungsvoll wie die Psychotherapie mit Erwachsenen.
Vergleicht man diese Werte mit jenen Effektstärken, die in den Metaanalysen über Psychotherapie bei Erwachsenen ermittelt wurden (Smith u. Glass 1977; Smith et al. 1980:
169 10.4 · Ergebnisse der Psychotherapieforschung
. Tab. 10.2. Ergebnisse der Metaanalysen zur Wirksamkeit einzelner Therapieverfahren bei Kindern und Jugendlichen. (Aus Döpfner 2007b) Therapiemethoden
Behavioral
Casey u. Berman 1985
Weisz et al. 1987
Effektstärke
Nvergleiche
Effektstärke
Nvergleiche
Effektstärke
Nvergleiche
0.91
(37)
0.88
(126)
0.76
(197)
0.78
(39)
1.69
(19)
Operante Methoden
Weisz et al. 1995
Respondente Methoden
0.75
(17)
0.70
(31)
ModellLernen
1.19
(25)
0.73
(12)
0.90
(5)
0.37
(23)
0.68
(10)
0.67
(38)
0.56
(36)
1.04
(10)
0.86
(35)
Soziales Kompetenztraining Kognitiv-behaviorale Verfahren
0.81
(14)
Elterntraining Methodenkombinationen Andere
0.38
(3)
0.40
(29)
0.42
(28)
0.35
(27)
Klientenzentriert
0.49
(20)
0.56
(20)
0.15
(6)
Einsichtsorientiert
0.21
(5)
Nichtbehavioral
Diskussionsgruppen Andere Kombinierte Verfahren
Effektstärken zwischen 0.68 und 0.84), so lässt sich global feststellen, dass die Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen ebenso wirkungsvoll ist wie die Psychotherapie mit Erwachsenen. 3. Durch verhaltenstherapeutische Verfahren lassen sich bei Kindern und Jugendlichen mittlere bis starke Effekte erzielen. Wie . Tab. 10.2 zeigt, liegen die Effektstärken für
behaviorale Interventionen zwischen 0.76 und 0.91. Sie sind damit vergleichbar zu den Effekten von Verhaltenstherapie, die in den Metaanalysen über Psychotherapie bei Erwachsenen ermittelt wurden (Smith u. Glass 1977; Smith et al. 1980). In der Schlussfolgerung stimmen diese Ergebnisse auch mit der Analyse von Grawe et al. (1994) bei Erwachsenen überein. Zwischen den einzelnen verhaltenstherapeutischen Interventionsverfahren lassen sich Unterschiede in den Effektstärken erkennen, die jedoch insgesamt schwer interpretierbar sind. Diese Analysen erlauben jedoch nur sehr globale Aussagen, weil die Effekte von Studien einfach zusammengezählt und miteinander verglichen werden, die zwar möglicherweise vergleichbare Methoden angewandt haben, dies aber in unterschiedlicher Intensität und vor allem in sehr differierenden Patientenpopulationen. Die in . Tab. 10.2 dargestellten hohen Effekte von Modelllernen in der Analyse von Weisz et al. (1987) basieren, um nur ein Beispiel zu nennen, hauptsächlich auf den von O’Connor (1969, 1972) durchgeführten Studien über die Auswirkungen eines 23-minütigen Modellfilmes auf sozial unsichere Kindergartenkinder, während die Studien über operante Verfahren auch Untersuchungen zur Wirkung von Verstärkersystemen bei schwer retardierten autoaggressiven Kindern und Jugendlichen enthalten.
0.01
(3)
0.31
(9)
0.18
(4)
0.48
(10)
0.38
(2)
0.55
(20)
4. Durch nichtbehaviorale Verfahren lassen sich bei Kindern und Jugendlichen generell geringe bis mittlere Effekte erzielen. Die Effektstärken liegt fast durchweg unter
0.50 (. Tab. 10.2), was nach Cohen (1988) überwiegend auf geringe Effekte hinweist. Diese Werte liegen damit eher unter den Effekten von nicht behavioralen Verfahren, die in den Metaanalysen über Psychotherapie bei Erwachsenen ermittelt wurden (Smith u. Glass 1977; Smith et al. 1980). Die Frage, ob die behavioralen Verfahren den nichtbehavioralen Methoden überlegen sind oder nicht, war Gegenstand heftiger Kontroversen (vgl. Shirk u. Russel 1992). Casey und Berman (1985) zeigten in ihrer Metaanalyse zunächst, dass behaviorale Methoden den nichtbehavioralen überlegen sind. Wenn jedoch Studien ausgeschlossen wurden, bei denen sich die Erfolgsmaße mit den Therapieinhalten sehr stark überschnitten (beispielsweise bei einem Selbstinstruktionstraining an Materialien, die auch zur Therapiekontrolle eingesetzt wurden), dann reduzierte sich der Unterschied zwischen behavioralen und nichtbehavioralen Verfahren auf ein Minimum. Bei Anwendung der gleichen Methode konnten Weisz und Mitarbeiter in ihren beiden Metaanalysen (1987, 1995) jedoch weiterhin deutliche Unterschiede zwischen behavioralen und nichtbehavioralen Verfahren nachweisen. Auch bei der Berücksichtigung von Nachuntersuchungen blieb dieser Unterschied bestehen, d. h. behaviorale und nichtbehaviorale Verfahren unterschieden sich nicht in der Stabilität der Ergebnisse (Weisz et al. 1995). Beelmann und Schneider (2003) fanden in ihrer Analyse deutschsprachiger Studien zwischen behavioralen und nichtbehavioralen Verfahren keinen signifikanten Unterschied, wobei zu berücksichtigen ist, dass nichtbehaviorale Verfahren nur in wenigen Studien geprüft wurden. In
10
170
Kapitel 10 · Psychotherapieforschung
Studien, die behaviorale und nichtbehaviorale Methoden direkt miteinander verglichen, erwiesen sich die behavioralen Methoden als tendenziell überlegen. 5. Therapieeffekte stabilisieren sich. Leider wurden in vielen Studien die Stabilität von Therapieeffekten gar nicht oder nur über einen kurzen Zeitraum hinweg untersucht. Über einen Zeitraum von durchschnittlich 6 Monaten bleiben die Effekte stabil (Weisz et al. 1987, 1995). 6. Therapieeffekte sind spezifisch. Bei jenen Problemen,
deren Veränderung Hauptziel der Behandlungen war, sind die Effekte etwa doppelt so hoch wie bei anderen Problemen, auf die sich die Therapie nicht fokussierte (Weisz et al. 1995). Interessanter als ein Vergleich der Wirksamkeit verschiedener verhaltenstherapeutischer Methoden ist der Vergleich der Effekte von Verhaltenstherapie bei verschiedenen Störungen. . Tab. 10.3 gibt eine Übersicht über die Ergebnisse der beiden Metaanalysen der Arbeitsgruppe um Weisz (1987, 1995) hinsichtlich der Wirksamkeit von Psychotherapie bei verschiedenen Störungsbildern (ungewichtete Effektstärken). Da in die Metaanalysen vor allem Studien zur Wirksamkeit von Verhaltenstherapie eingehen, spiegeln die Ergebnisse hauptsächlich die Effekte von Verhaltenstherapie wider. In beiden Metaanalysen wurden
keine bedeutsamen Unterschiede in der Wirksamkeit von Psychotherapie bei internalen und bei externalen Störungen festgestellt. Das überrascht, da externale Störungen generell als schwerer zu behandeln gelten. Unter den externalen Störungen lassen sich bei oppositionellen Verhaltensstörungen nach der Metaanalyse von Weisz et al. (1987) die stärksten Effekte erzielen. Dies entspricht auch klinischem Konsens; allerdings wurde dieses Ergebnis in der neueren Metaanalyse nicht repliziert. Auch in Metaanalysen können Moderatoreffekte untersucht werden. So fanden Weisz et al. (1995) bei älteren Mädchen deutlich stärkere Effekte als bei jüngeren Kindern und bei gleichaltrigen männlichen Jugendlichen (. Abb. 10.4). Weisz et al. (1995) konnten auch Interaktionseffekte zwischen der Art der behandelten psychischen Störung und den Erfolgsmaßen nachweisen, wie . Abb. 10.5 zeigt. Danach lassen sich positive Behandlungseffekte bei internalen Störungen im Wesentlichen durch Selbsturteile der Kinder oder Jugendlichen und durch die Einschätzungen von Gleichaltrigen nachweisen, während die Effekte bei externalen Störungen in erster Linie durch die Beurteilungen von Lehrern, durch Beobachter oder durch Verhaltenstests belegt werden. Weitere Erkenntnisse, die über die globalen Feststellungen zur Wirksamkeit von psychotherapeutischen Verfahren hinausgehen, können in Metaanlysen gewonnen
10 . Tab. 10.3. Ergebnisse der Metaanalysen zur Wirksamkeit von Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Störungsbildern. (Aus Döpfner 2007b) Therapiemethoden
Weisz et al. 1987
Weisz et al. 1995
Effektstärke
Nvergleiche
Effektstärke
Nvergleiche
0.79
(76)
0.62
(59)
Delinquenz
0.66
(19)
0.42
(7)
Oppositionelles Verhalten
1.33
(9)
0.42
(4)
Hyperaktivität/Impulsivität
0.75
(31)
0.87
(18)
Aggression
0.75
(17)
0.34
(11)
0.67
(19)
Externale Störungen
Multipel external Internale Störungen
0.88
(67)
0.69
(40)
Phobie/Angst
0.74
(39)
0.57
(16)
Sozialer Rückzug
1.07
(28)
0.71
(4)
Depression
0.67
(6)
Multipel internal
0.40
(1)
Somatisch (Kopfschmerz)
0.86
(13)
Andere Parameter Leistung
0.43
(9)
0.22
Akzeptanz durch Gleichaltrige
1.03
(4)
Soziale Beziehungen
1.12
(11)
Persönlichkeit
0.53
(5)
Zusätzliche andere Parameter
1.18
(12)
Multiple andere Parameter
0.66
(23)
171 10.4 · Ergebnisse der Psychotherapieforschung
. Abb. 10.5. Einfluss der Art der Störung und des Erfolgsmaßes auf die Effekte von Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. Weiße Balken: internale Störungen, graue Balken: externale Störungen. (Nach Weisz et al. 1995; aus Döpfner 2007b)
. Abb. 10.4. Alters- und Geschlechtseffekte in der Wirksamkeit von Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. (Nach Weisz et al. 1995; aus Döpfner 2007b)
werden, bei denen Patientenpopulationen besser vergleichbar sind oder einzelne Methoden genauer analysiert werden, wie folgende Beispiele zeigen: Metaanalyse zur kognitiven Verhaltenstherapie. Die Metaanalyse von Durlak und Mitarbeitern (1991) an 64 Studien zur Wirksamkeit kognitiver Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen zeigt, dass diese Methode vor allem bei Kindern im Alter von 11 bis 13 Jahren wirkungsvoll ist und dass bei jüngeren Kindern (vermutlich aufgrund des niedrigeren kognitiven Entwicklungsniveaus) deutlich geringere Effekte erzielt werden. Dieses Ergebnis wurde durch eine Metaanalyse von McCart et al. (2006) bestätigt, welche die Effekte von Elterntraining und patientenzentrierten kognitiven Interventionen bei aggressiv auffälligen Kindern und Jugendlichen verglichen. Danach sind Elterntrainings bei Kindern wirkungsvoller (Effektstärke 0.45) als kognitiv-behaviorale patientenzentrierte Interventionen (Effektstärke 0.23). Letztere zeigten jedoch bei Jugendlichen stärkere Effekte als bei Kindern. Metaanalysen zu Psychotherapie bei Angststörungen. In-
Albon und Schneider (2007) bezogen in ihre Metaanalyse zu Psychotherapiestudien bei Angststörungen insgesamt 25 der bis 2005 veröffentlichten Primärstudien ein. Es wurden
ausschließlich randomisierte, kontrollierte Therapiestudien berücksichtigt, und die Kinder, die in diese Studien aufgenommen wurden, mussten die Kriterien einer ICD- bzw. DSM-Angstdiagnose erfüllen. Die durchschnittliche Effektstärke hinsichtlich der in allen Studien durchgeführten kognitiv-behavioralen Interventionen lag bei 0.86. Erwartungsgemäß konnte kein Effekt der Wartezeit auf die Angstsymptome der Kinder beobachtet werden: die durchschnittliche Prä-post-Effektstärke für die Wartelistenkontrollgruppe betrug 0.13. Die Stabilität der Behandlungserfolge wurde überprüft, indem die Daten der Erfolgsmessungen nach Therapieende (durchschnittliche Zeitspanne: 10 Monate) analysiert wurden. Die Prä-Follow-up-Effektstärke ergab auch hier mit einer durchschnittlichen Effektstärke von 1.36 einen großen Effekt. Die langfristige Stabilität der Therapieerfolge zeigte sich darüber hinaus in Katamnesestudien. Diesen Studien zufolge bleiben die Behandlungserfolge bis zu 7 Jahre nach Therapieende bestehen. Die Behandlungserfolge waren dabei nicht nur auf die Angstsymptomatik beschränkt, sondern äußerten sich auch in der Reduktion der depressiven Symptomatik. Weitere Analysen zeigten, dass Gruppenbehandlungen vergleichbar erfolgreich mit Individualtherapie waren. Auch zeigten sich keine Unterschiede in der Wirksamkeit von kind- vs. familienzentrierter Angstbehandlung. Metaanalysen zu Depressionstherapien. Weisz et al.
(2006b) untersuchten die Wirksamkeit von Depressionstherapien bei Kindern und Jugendlichen und fanden bei der Analyse der 35 Studien geringere Effekte als frühere Studien (Effektstärke 0.34), die auch deutlich unter den Effekten lagen, die bei anderen Störungen gefunden wurden. Diese Effekte stabilisierten sich in Nachuntersuchungen, wobei jedoch Nachuntersuchungen von länger als einem Jahr
10
172
Kapitel 10 · Psychotherapieforschung
keine essenziellen Behandlungseffekte mehr zeigten. Depressivität wurde stärker reduziert als komorbide expansive Symptome oder Angstsymptome. Es gab keinen Unterschied in den Effektstärken zwischen Studien, die Inanspruchnahmestichproben im Vergleich zu eingeworbenen Stichproben untersuchten. Das Alter und das Geschlecht der Patienten hatten keinen Einfluss auf den Behandlungserfolg, auch nicht auf die Behandlungsdauer. In einer Folgeanalyse führten McCarty und Weisz (2007) eine Profilanalyse bei den besonders wirkungsvollen Depressionstherapien durch und konnten dadurch mehrere gemeinsame Therapiekomponenten identifizieren: Interventionen zur Steigerung der sozialen Kompetenzen, zur Verbesserung von Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeiten, Problemlösetechniken, Modifikation unrealistischer Kognitionen und Verhaltensaktivierungstechniken. Metaanalyse zu evidenzbasierten Interventionen. Weisz
et al. (2006a) konnten in einer Metaanalyse von 32 randomisierten Studien zeigen, dass durch evidenzbasierte Interventionen höhere Effekte zu erzielen sind als durch die übliche klinische Routinebehandlung. Metanalyse zur Bedeutung der therapeutischen Beziehung. Shirk und Karver (2003) führten eine Metaanalyse
10
von 23 Studien durch, in der sie untersuchten, in welchem Umfang der Behandlungserfolg in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie durch die therapeutische Beziehung vorhergesagt werden kann. Die Beziehung zwischen diesen Parametern lag im mittleren Bereich. Damit konnte ein Element des Prinzips der Ressourcenaktivierung aus der multimodalen Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie bestätigt werden. In weitergehenden Moderatoranalysen konnte gezeigt werden, dass dieser Zusammenhang in Therapiestudien mit expansiv auffälligen Kindern stärker ausgeprägt war als in Studien mit internal auffälligen Kindern. Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung für den Therapieerfolg war sowohl bei behavioralen als auch nichtbehavioralen Verfahren in gleicher Weise vorhanden. Das generell positive Bild der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapieforschung wird dadurch getrübt, dass sich die unterschiedlichen klassischen Therapierichtungen nicht gleichermaßen an der empirischen Prüfung ihrer Effektivität beteiligen. Während für kognitiv-behaviorale Verfahren eine Vielzahl auch methodisch zufriedenstellender Untersuchungen vorliegt, trifft dies für alle anderen Therapierichtungen – für die psychoanalytisch, die psychodynamisch, die non-direktiv und auch die familientherapeutisch-systemisch orientierten Verfahren – nicht zu. Bezüglich tiefenpsychologisch-psychodynamischer Verfahren kommt die Arbeitsgruppe um Fonagy (der selbst analytisch orientiert ist) zu dem Schluss, dass es wenig Evidenz weder für noch gegen psychodynamische Therapien gibt, dass allerdings einzelne Hinweise dafür existieren, dass diese Therapieformen nützlich sein könnten (Fonagy et al. 2002,
S. 388). Auch für andere Psychotherapieschulen muss die empirische Evidenz weiterhin als ungenügend betrachtet werden. So weisen z. B. Cottrell und Boston (2002) in ihrer Übersicht über die Wirksamkeit von Familientherapien darauf hin, dass kaum gute randomisierte Kontrollgruppenstudien vorliegen, dass kleine Stichproben untersucht wurden und dass häufig zuverlässige nicht oder alternativ behandelte Kontrollgruppen fehlen. Dies ist auch der Grund dafür, dass in Deutschland der wissenschaftliche Beirat Psychotherapie bezogen auf Kinder und Jugendliche die Anträge, systemische Therapie, Gesprächspsychotherapie, Hypnotherapie, neuropsychologische Psychotherapie und Psychodramatherapie als wissenschaftlich fundierte Psychotherapieformen anzuerkennen, nicht befürworten konnte. Für die interpersonelle Psychotherapie im Bereich Kinderund Jugendlichenpsychotherapie identifiziert der Beirat zwei anerkannte Studien mit begründeten Hinweisen für die Wirksamkeit der interpersonellen Psychotherapie bei Jugendlichen mit einer depressiven Störung.
10.4.2 Evidenzbasierte Therapien
Metaanalysen können inhaltliche Übersichten und Zusammenfassungen von Therapiestudien nicht ersetzen, in denen Gewichtungen vorgenommen und klinische Aspekte besser herausgearbeitet werden können. Außerdem gehen in die meisten Metaanalysen ausschließlich Kontrollgruppenstudien ein, während Verlaufsanalysen und Einzelfallstudien, die häufig klinisch bedeutsame Ergebnisse erbringen, so gut wie immer ausgeschlossen bleiben. Daher wurden zunächst im angloamerikanischen Sprachraum Kriterien für die empirische Evidenz von Psychotherapien entwickelt. Dieser Prozess wurde vor allem von der American Psychological Association vorangetrieben. In einem vielbeachteten Artikel schlagen Chambless und Hollon (1998) Kriterien für eine inhaltliche Bewertung des Grades der empirischen Bewährung einer Therapie vor. Danach muss die Wirksamkeit der Therapie im Vergleich zu keiner Behandlung, einer Placebotherapie oder einer alternativen Behandlung in einem randomisierten Kontrollgruppendesign, in einer Einzelfallstudie oder in einer Zeitreihenanalyse statistisch signifikant belegt sein. Die Studien müssen in einer Stichprobe von Patienten mit eindeutig definierten und reliabel erfassten Störungen durchgeführt werden. Die Interventionen müssen durch ein Therapiemanual oder durch eine äquivalente Form spezifiziert sein, und es müssen reliable und valide Erfolgsmaße eingesetzt werden. Die einzelnen Grade der empirischen Bewährung wie folgt definiert.
173 10.4 · Ergebnisse der Psychotherapieforschung
Grade der empirischen Bewährung nach Chambless und Hollon (1998) 4 Eine Intervention wird als vermutlich effektiv beurteilt, wenn sie sich zumindest in einer Studie (bei Einzelfallstudien in einer Stichprobe von mindestens n=3) als wirkungsvoll erwiesen hat und wenn keine widersprüchlichen Studien vorliegen. 4 Eine Intervention wird als effektiv beurteilt, wenn sie sich in mindestens zwei von unabhängigen Forschungsgruppen durchgeführten Studien (bei Einzelfallstudien in einer Stichprobe von mindestens n=3 pro Studie) gegenüber einer unbehandelten Kontrollgruppe als wirkungsvoll erwiesen hat. Wenn widersprüchliche Ergebnisse vorliegen, müssen die besser kontrollierten Studien die Wirksamkeit unterstützen.
Im Jahr 1998 publizierten Lonigan et al. (1998) im Journal of Clinical Child Psychology ein Themenheft im Auftrag der American Psychological Association, in dem für die wichtigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter die Evidenzbasierung der Psychotherapien nach den Kriterien von Chambless und Hollon (1998) bewertet wurden. Zehn Jahre später ist ein Update dieses Themenheftes erschienen (Silverman u. Hinshaw 2008). . Tab. 10.4 gibt eine Übersicht über Therapiemethoden für introversive Stö-
Eine Intervention wird auch dann als effektiv beurteilt, wenn die Kriterien für eine spezifisch effektive Klassifikation nur von einer Studie erfüllt werden. 4 Eine Intervention wird als spezifisch effektiv beurteilt, wenn sie sich in mindestens zwei von unabhängigen Forschungsgruppen durchgeführten Studien (bei Einzelfallstudien in einer Stichprobe von mindestens n=3 pro Studie) im Vergleich zu medikamentöser oder psychologischer Placebobehandlung oder zur einer Alternativtherapie als wirkungsvoll erwiesen hat. Wenn widersprüchliche Ergebnisse vorliegen, müssen die besser kontrollierten Studien die spezifische Wirksamkeit unterstützen.
rungen und Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen, die nach den Kriterien für evidenzbasierte Psychotherapieverfahren von Chambless und Hollon (1998) in den Übersichtsarbeiten dieses Themenheftes als spezifisch effektiv oder effektiv beurteilt wurden. Dabei fällt auf, dass Interventionen, die nach diesen Kriterien als evidenzbasiert gelten dürfen, fast ausschließlich aus dem verhaltenstherapeutischen Spektrum stammen.
. Tab. 10.4. Spezifisch effektive und allgemein effektive Therapiemethoden nach den Kriterien für evidenzbasierte Psychotherapieverfahren für introversive Störungen und Essstörungen Störung (Übersichtsarbeit)
Behandlung (exemplarische Referenz)
Qualifikation
Phobische Störungen und Angststörungen (Silverman et al. 2008a)
Kognitive Verhaltenstherapie – Einzeltherapie (Flannery-Schroeder u. Kendall 2000)
Effektiv
Kognitive Verhaltenstherapie – Gruppentherapie (Rapee et al. 2006)
Effektiv
Kognitive Verhaltenstherapie – Gruppentherapie mit Eltern (Spence et al. 2006)
Effektiv
Kognitive Verhaltenstherapie – Gruppentherapie für soziale Phobie (Gallagher et al. 2003)
Effektiv
Social-Effectiveness-Training für soziale Phobie (Beidel et al. 2000)
Effektiv
Posttraumatische Belastungsstörungen (Silverman et al. 2008b) Depressive Störungen und Symptome (David-Ferdon u. Kaslow 2008)
Trauma-fokussierte kognitive Verhaltenstherapie (Cohen et al. 2005)
Spezifisch effektiv
Schulzentrierte Kognitive Verhaltenstherapie – Gruppentherapie (Kataoka et al. 2003)
Effektiv
Kognitive Verhaltenstherapie insgesamt (Clarke et al. 1999)
Spezifisch effektiv
Kognitive Verhaltenstherapie – Gruppentherapie (Roberts et al. 2003)
Spezifisch effektiv
Kognitive Verhaltenstherapie – Gruppentherapie plus elternzentrierte Intervention (Asarnow et al. 2002)
Spezifisch effektiv
Kognitive Verhaltenstherapie – Einzeltherapie (Wood et al. 1996)
Effektiv
Kognitive Verhaltenstherapie – Einzeltherapie plus elternzentrierte Intervention (TADS Team 2004)
Effektiv
Interpersonelle Psychotherapie (insgesamt) (Mufson et al. 1999)
Spezifisch effektiv
Interpersonelle Psychotherapie – Einzeltherapie (Mufson et al. 2004)
Spezifisch effektiv
Interpersonelle Psychotherapie – Gruppentherapie (Young et al. 2006a)
Effektiv
Zwangsstörungen (Barrett et al. 2008)
Kognitive Verhaltenstherapie – Einzeltherapie (POTS Study Group 2004)
Effektiv
Essstörungen (Keel u. Haedt 2008)
Verhaltenstherapeutisch-systemische Familientherapie für Anorexia nervosa (Robin et al. 1999)
Spezifisch effektiv
10
174
10
Kapitel 10 · Psychotherapieforschung
4 Für die Behandlung von phobischen und von Angststörungen können danach verschiedene kognitivverhaltenstherapeutische Verfahren in Einzel- oder Gruppentherapie, die Expositionstherapie und soziale Kompetenztrainings einschließen, als effektiv bewertet werden, d. h. sie haben sich in mindestens zwei von unabhängigen Forschungsgruppen durchgeführten Studien gegenüber einer unbehandelten Kontrollgruppen als wirkungsvoll erwiesen. Allerdings wird kein einziges Verfahren als spezifisch effektiv eingeschätzt, weil nicht genügend Studien vorliegen, welche die Wirksamkeit dieser Verfahren im Vergleich zu Placebobehandlungen oder zu alternativen Therapien untersucht hätten. 4 Für die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen haben sich traumafokussierte kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren mit dem Patienten als spezifisch effektiv und schulzentrierte Interventionen als effektiv erwiesen. 4 Für die Therapie depressiver Störungen und Symptome haben sich die kognitive Verhaltenstherapie und auch die interpersonelle Psychotherapie insgesamt als spezifisch effektiv erwiesen. 4 Bei der Behandlung von Zwangsstörungen wird die kognitive Verhaltenstherapie als einzelpsychotherapeutisches Verfahren als effektiv eingestuft. 4 In der Therapie von Anorexia nervosa hat sich eine verhaltenstherapeutisch-systemische Familientherapie als spezifisch effektiv erwiesen.
. Tab. 10.5 gibt eine Übersicht über Therapiemethoden für expansive Störungen und Substanzmissbrauch, die nach den Kriterien für evidenzbasierte Psychotherapieverfahren als spezifisch effektiv oder effektiv beurteilt wurden. Auch hierbei stammen fast alle Interventionen, die nach diesen Kriterien als evidenzbasiert gelten dürfen, fast ausschließlich aus dem verhaltenstherapeutischen und verhaltenstherapeutisch-familientherapeutischen Spektrum. Während bei den introversiven Störungen patientenzentrierte Interventionen dominierten, liegt bei diesen Störungsbildern der Schwerpunkt auf eltern- und familienzentrierten Verfahren:
4 Für die Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen haben sich verhaltenstherapeutische Elterntrainings und schulzentrierte Interventionen sowie die Kombination von sozialem Kompetenztraining und Kontingenzmanagement im Rahmen von Ferienfreizeitprogrammen (und nicht im klinischen Setting) als spezifisch effektiv erwiesen. 4 In der Therapie oppositionell-aggressiver Verhaltensstörungen haben sich ebenfalls Elterntrainings als spezifisch effektiv erwiesen, während patientenzentrierte soziale Kompetenztrainings als effektiv eingeschätzt werden. Im Jugendalter wurden umfassende multimodale Therapieprogramme, die patienten-, familienund schulzentrierte verhaltenstherapeutische Interventionen einschließen – die multidimensionale Behandlung in Pflegefamilien und die multisystemische Therapie – als effektiv klassifiziert.
. Tab. 10.5. Spezifisch effektive und allgemein effektive Therapiemethoden nach den Kriterien für evidenzbasierte Psychotherapieverfahren für expansive Störungen und Substanzmissbrauch Störung (Übersichtsarbeit) Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung (Pelham u. Fabiano 2008)
Oppositionell-aggressive Verhaltensstörungen (Eyberg et al. 2008)
Substanzmissbrauch (Waldron u. Turner 2008)
Behandlung (exemplarische Referenz)
Qualifikation
Elterntraining (Sonuga-Barke et al. 2001)
Spezifisch effektiv
Schulzentrierte verhaltenstherapeutische Interventionen (Evans et al. 2007)
Spezifisch effektiv
Soziales Kompetenztraining und Kontingenzmanagement (während »summer treatment programs«) (Pelham et al. 2000)
Spezifisch effektiv
Elterntrainings nach verschiedenen Modellen (Oregon-Modell; Parent-Child Interaction Therapy, Forehand u. McMahon, Incredible Years, Positive Parenting Program – Triple P) (Hughes u. Wilson 1988)
Spezifisch effektiv
Soziales Kompetenztraining nach verschiedenen Modellen (Anger Control Training, Gruppenselbstbehauptungstraining, Incredible Years, Problem Solving Skills Training) (Robinson et al. 2002; Kazdin et al. 1989)
Effektiv
Multidimensionale Behandlung in Pflegefamilien (Leve et al. 2005)
Effektiv
Multisystemische Therapie für dissoziale Jugendliche (Henggeler et al. 1997)
Effektiv
Verhaltenstherapeutisch-strategische Familientherapie (Szapocznik et al. 1986)
Effektiv
Verhaltenstherapeutische Familientherapie (Azrin et al. 2001)
Effektiv
Multidimensionale Familientherapie (Liddle et al. 2004)
Spezifisch effektiv
Funktionelle Familientherapie (Waldron et al. 2007)
Spezifisch effektiv
Multisystemische Therapie (Henggeler et al. 2002)
Spezifisch effektiv
Kognitive Verhaltenstherapie – Einzeltherapie (Dennis al. 2004)
Spezifisch effektiv
Kognitive Verhaltenstherapie – Gruppentherapie (Dennis et al. 2004)
Spezifisch effektiv
175 10.5 · Ausblick
4 Zur Behandlung von Substanzmissbrauch im Jugendalter wurden in den letzten Jahren mehrere sehr umfangreicher Therapieprogramme in einer Vielzahl von methodisch anspruchsvollen Studien untersucht, die häufig auch eine alternative Therapie oder Routinetherapie (»treatment as usual«, TAU) einschlossen. Daher konnten hier relativ viele Programme als spezifisch effektiv eingeschätzt werden – auch hier sind es wieder Therapieprogramme, die entweder einen kognitiv-verhaltenstherapeutischen oder einen verhaltenstherapeutisch-familientherapeutischen Hintergrund haben.
10.4.3 Behandlungsleitlinien
Metaanalysen und Klassifikationen von Evidenzgraden von psychotherapeutischen Verfahren für spezifische Störungen fassen den Stand der empirischen Therapieforschung übersichtlich zusammen, sie genügen jedoch noch nicht für eine Umsetzung dieser Erkenntnisse in die klinische Praxis. Hierbei haben sich evidenzbasierte Behandlungsleitlinien für einzelne Störungen als sehr hilfreich erwiesen, weil sie empirisches Wissen und klinische Erfahrungen in konkrete Handlungsempfehlungen für die klinische Praxis transformieren. Diese Handlungsempfehlungen orientieren sich an den Problemstellungen der klinischen Praxis und können abhängig vom Stand des empirischen Wissens im Grad ihrer empirischen Evidenz variieren von Empfehlungen für empirisch gut bewährte Strategien bis hin zu Empfehlungen auf der Basis klinischer Erfahrungen, über die unter Experten mehr oder weniger Konsens hergestellt werden konnte. Evidenzbasierte Leitlinien für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter wurden zunächst innerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie thematisiert (vgl. Döpfner u. Lehmkuhl 1993) und von den kinderpsychiatrischen Fachgesellschaften entworfen, die mittlerweile für fast alle Störungsbilder entsprechende Leitlinien vorgelegt haben (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2007). In der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist die Notwendigkeit zur Entwicklung von Leitlinien zur Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen erst seit Kurzem thematisiert worden (Döpfner u. Esser 2004) und Vorschläge für Leitlinien zu Angststörungen (Schneider u. Döpfner 2004), aggressiven Verhaltensstörungen (Döpfner u. Petermann 2004) und depressiven Störungen (Ihle et al. 2004) im Kindes- und Jugendalter liegen mittlerweile vor. Die Entwicklung von Leitlinien ist ein komplexer mehrstufiger Prozess, für dessen Gestaltung im Bereich der Psychotherapie die langjährigen Erfahrungen aus der Medizin genutzt werden können. Für den deutschen Sprachraum werden diese Abläufe am besten im Leitlinien-Manual der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und Ärztlichen Zentral-
stelle für Qualitätssicherung »äzq« (2001) beschrieben. Leitlinien sollen demnach einfach, aber auch umfassend sein. Sie sollen die Diagnostik, Indikation, Gegenindikation, Therapie einschließlich adjuvanter Maßnahmen und Nachbehandlung enthalten. Bei der Therapie kann abgestuft werden. Es sollen die Bedingungen, unter denen eine Therapie empfehlenswert oder auch nicht empfehlenswert ist, genannt werden. Außerdem wurden für verschiedene Störungsbilder umfassendere Leitfäden für die Kinder- und Jugendpsychotherapie auf der Grundlage von nationalen oder internationalen Behandlungsleitlinien entwickelt. Gegenwärtig liegen solche Leitfäden vor u. a. für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (Döpfner et al. 2009), aggressiv-dissoziale Störungen (Petermann et al. 2007), Autismus (Poustka et al. 2004), Anorexia nervosa (Steinhausen 2005) und Ticstörungen (Döpfner et al. 2008).
10.5
Ausblick
Psychotherapieforschung ist ein spannendes, aber auch ein mühsames Geschäft, wie eingangs betont wurde. International haben sich die Forschungsbemühungen in diesem Bereich in den letzten Jahrzehnten deutlich ausgeweitet. Im deutschen Sprachraum ist dieser Forschungszweig kaum entwickelt, und trotz der Forderungen des wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie gingen die Forschungsinvestitionen bislang nahezu ausschließlich in den Bereich der Erwachsenenpsychotherapie. Wegen der Vielzahl an spezifischen Verfahren, die es potenziell zu überprüfen gilt, wäre die Erforschung allgemeiner Wirkprinzipien, wie sie exemplarisch in der multimodalen Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie formuliert worden sind, vielleicht erfolgversprechender. Glücklicherweise werden in neuerer Zeit Psychotherapieverfahren im Vergleich zu Placebotherapien (reine Aufmerksamkeit) oder alternativen Psychotherapieverfahren oder auch Pharmakotherapieverfahren geprüft. Wissen wir heute für viele Verfahren bestenfalls, dass die Therapie besser ist als Nichtstun, so kann sich mit solchen Studien unser Erkenntnisstand gegenüber dem heutigen doch deutlich erweitern. Ein Vergleich verschiedener Psychotherapiemethoden könnte auch dazu beitragen, die anachronistische Orientierung an Psychotherapieschulen zu überwinden. Die Auseinandersetzung mit Pharmakotherapie ist besonders spannend, wobei Vergleichsstudien, welche die Frage nach der relativen Wirksamkeit von Pharmako-, Psycho- und kombinierter Therapie untersuchen, nur den ersten Schritt darstellen. Für die praktische Versorgung wesentlich spannender als solche »horse-race-studies«, die prüfen, wer zuerst im Ziel ankommt, sind Studien zur adaptiven Therapie: Was bringt ein Wechsel von Therapie A zu Therapie B oder die Kombination von A und B, wenn Therapie A nicht hinreichend erfolgreich war? Solche Studien wurden beispielsweise für
10
176
Kapitel 10 · Psychotherapieforschung
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen bereits durchgeführt (Döpfner et al. 2004). Neben der unmittelbaren Wirksamkeit sind die Fragen nach den Langzeiteffekten sehr dringlich, die in vielen Studien bislang nicht beantwortet werden. Schließlich gebieten ökonomische Zwänge, dass nicht nur die Wirksamkeit eine Therapie im hochkontrollierten Forschungskontext und danach unter alltäglichen Routinebedingungen belegt sein muss, sondern dass die Kosten in Relation zum Nutzen einer Therapie gebracht werden. Wenn Psychotherapie ihre Kosteneffektivität belegen kann – wie dies exemplarisch von Sheidow et al. (2004) für die multisystemische Therapie gemacht worden ist – dann können auch politisch Verantwortliche eher dazu bewogen werden, die therapeutische Versorgungssituation zu verbessern.
Zusammenfassung
10
Eine erfolgreiche empirische Erforschung der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen setzt die Klärung konzeptioneller Fragen der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie voraus. Dazu wurde das Konzeptes einer multimodalen Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie vorgestellt, die sich als eine problem-, kontext-, entwicklungs-, ergebnisorientierte, evidenzbasierte, individualisierte, sequenzielle und adaptive Therapie beschreiben lässt und sich dabei an allgemeinen Wirkprinzipien orientiert. Hauptaufgabengebiete der Psychotherapieforschung sind die Durchführung von Wirksamkeitsstudien unter gut kontrollierten Bedingungen (»efficacy studies«) sowie von Studien zur Alltagswirksamkeit (»effectiveness studies«). In beiden Studienformen können Mediator- und Moderatoranalysen durchgeführt werden, welche die Prozesse untersuchen, die zu den gefundenen Effekten beitragen, und die Merkmale der Patienten, der Bezugspersonen und der Umgebung, welche die Effekte beeinflussen. Dabei lassen sich vielfältige methodische Probleme identifizieren, die u. a. die Stichprobenselektion sowie die Wahl der Erfolgskriterien und der Erfolgsmaße betreffen. Globale Metaanalysen zeigen, dass Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen etwa genauso wirkungsvoll ist wie die Psychotherapie mit Erwachsenen. Dabei wurden allerdings bislang schwerpunktmäßig verhaltenstherapeutische Verfahren untersucht. Durch nichtbehaviorale Verfahren lassen sich bei Kindern und Jugendlichen eher geringere Effekte erzielen. Für die wichtigsten Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter können einzelne Therapiemethoden auf der Grundlage der Kriterien der American Psychological Association für evidenzbasierte Therapien als effektiv oder als spezifisch effektiv klassifiziert werden. Evidenzbasierte Behandlungsleitlinien für einzelne Störungen transformieren das empirische Wissen und die klinischen Erfahrungen in konkrete Handlungsempfehlungen für die klinische Praxis. Die Entwicklung von Behandlungsleitlinien stellt einen wei-
teren wichtigen Schritt zu einer evidenzbasierten multimodalen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie dar, deren konkrete Ausgestaltung noch vieler Forschungsanstrengungen bedarf.
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Kapitel 10 · Psychotherapieforschung
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10
II
II
Verfahren
11
Erstkontakt und Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen – 183 Michael Borg-Laufs
12
Psychoedukation
– 193
Franz Petermann, Judith Bahmer
13
Operante Methoden
– 209
Friedrich Linderkamp
14
Kognitive Verfahren
– 221
Gerhard W. Lauth, Katja Mackowiak
15
Computerspiele in der Verhaltenstherapie mit Kindern – 233 Veronika Brezinka
16
Entspannungsverfahren
– 243
Ulrike Petermann, Johanna Pätel
17
Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz – 255 Nina Heinrichs, Kurt Hahlweg
18
Familienintervention – 277 Fritz Mattejat
11
11 Erstkontakt und Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen Michael Borg-Laufs
11.1
Einleitung
– 184
11.2
Theoretische Grundlagen
11.3
Praktische Voraussetzungen und Diagnostik – 185
11.3.1 11.3.2 11.3.3
Rahmenbedingungen für den Erstkontakt – 185 Diagnostik: Einschätzverfahren und Screenings – 185 Diagnostik: Plananalyse – 187
11.4
Darstellung des Verfahrens
11.4.1 11.4.2
Rollenstrukturierung – 188 Beziehungsgestaltung entsprechend den interaktionellen Zielen des Kindes/Jugendlichen – 190
11.5
Indikation und Kontraindikation – 190
11.6
Empirie: Wirkmechanismen und Effekt
11.7
Ausblick
– 188
– 191
Zusammenfassung Literatur
– 184
– 191
– 192
Weiterführende Literatur
– 192
– 190
184
Kapitel 11 · Erstkontakt und Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen
11.1
Einleitung
Im Folgenden soll erarbeitet werden, wie eine Beziehung vom Erstkontakt an aufgebaut werden kann, um dieses Ergebnis zu ermöglichen.
Beispiel
11
Susanna drückt sich in den Stuhl hinein, scheint sich ganz klein zu machen. Ihr Blick wandert im Raum umher, gelegentlich streift er kurz den Therapeuten. Ihre Finger klackern nervös auf den Armlehnen. »Susanna, was denkst Du denn, warum Du heute hierhin kommen solltest?«, fragt der Therapeut die Zehnjährige freundlich. Sie weiß nicht, was sie antworten soll. »Was geht den das denn an?«, fragt sie sich. Ihre Eltern und ihre Lehrer haben doch auch schon mit ihr geschimpft, weil sie in letzter Zeit überhaupt nicht mehr im Unterricht mitmacht. Und jetzt haben sie den noch geholt, wahrscheinlich soll der ihr auch nochmal sagen, dass sie sich mehr melden soll. Das haben sich ihre Eltern ja toll ausgedacht! Aber was sie dem wohl erzählt haben und was er wohl genau von ihr will? »Deine Eltern haben mir erzählt, dass Du eine gute Schülerin bist und sie und deine Lehrer sich wundern, dass Du Dich gar nicht mehr meldest, und dass ihr deswegen zu Hause auch schon Krach hattet«, hört sie nun. Aha! Der weiß also Bescheid, na aber zumindest ist er ehrlich und tut nicht so, als wär’ nichts. Sie schaut den Therapeuten etwas länger an: So ärgerlich wie die Lehrer oder so verständnislos wie Mama und Papa guckt er eigentlich nicht. »Naja«, hört sie ihn jetzt sagen, »so einfach ist das ja auch nicht, immer was zu sagen, das kenn ich von mir selber.« Erstaunt blickt Susanna den Mann an. Der traut sich auch nicht immer? Sie richtet sich etwas auf. »Und wenn man dann noch Ärger deswegen bekommt, das ist ja vielleicht ein Mist!« – »Ja!«, ergänzt Susanna, »genau, und ungerecht finde ich das!« Sie setzt sich nun aufrecht hin und guckt den Therapeuten an. »Und wissen Sie was ...?«, setzt sie das Gespräch fort...
Susanna hat etwas Vertrauen zum Therapeuten gewonnen und unterhält sich nun mit ihm über ihr Problem. Es ist ihm gelungen, sich ihr als jemand zu präsentieren, der – obwohl erwachsen – Verständnis für ihre Situation hat. Das ist aus Sicht der Kinder nicht selbstverständlich, wenn sie von ihren Eltern einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin vorgestellt werden. Sie befinden sich in einer unbekannten Situation mit einem fremden Erwachsenen, den die Eltern, mit denen das Kind möglicherweise einen Konflikt erlebt, zu Hilfe gerufen haben. Daher liegt für die Kinder zunächst einmal der Verdacht nahe, dass dieser Fremde eher die Eltern unterstützt als die Kinder. Es muss im Laufe der Zeit gelingen, eine tragfähige Beziehung aufzubauen, damit das Kind auch über peinliche oder tabuisierte Inhalte sprechen kann. Gleichzeitig unterscheidet sich diese Beziehung in einigen Punkten von anderen engen Beziehungen (zu Verwandten oder Freunden).
11.2
Theoretische Grundlagen
»Wenn es etwas gibt, ...«, so Borg-Laufs und Hungerige (2005, S. 53), »... über das in allen Psychotherapieschulen Einigkeit besteht, dann dies: Keine gute Therapie ohne gute therapeutische Beziehung!« Das Modell der therapeutischen Wirkfaktoren nach Grawe (2002) dürfte die diesbezüglich bekannteste Grundlagenschilderung zum Thema Beziehung als Wirkfaktor in der Psychotherapie sein. Aber auch andere Autoren stellen vor dem Hintergrund empirischer Untersuchungen die Wichtigkeit der therapeutischen Beziehung für erfolgreiche psychotherapeutische Prozesse heraus (z. B. Asay u. Lambert 2001; Orlinsky et al. 1994). In der Wirkfaktorenforschung (s. im Überblick Grawe 2004) konnte herausgearbeitet werden, dass die prozessuale Aktivierung von Erleben und Verhalten in der Psychotherapie, also die emotionale Beteiligung in der therapeutischen Situation, zu besonders wirksamen Veränderungen bei den Patienten führt. Therapeutische Prozesse sind dann besonders wirksam, wenn in der therapeutischen Situation in Bezug auf die psychologischen Grundbedürfnisse nach Bindung, Orientierung/Kontrolle, Selbstwerterhöhung und Lustgewinn (vgl. Borg-Laufs 2004; 2005) viele bedürfnisbefriedigende Erfahrungen gemacht werden konnten. Die Wirkung eines vom Patienten als befriedigend wahrgenommenen beziehungsrelevanten Therapeutenverhaltens lässt sich nicht nur am Ergebnis des gesamten therapeutischen Prozesses ablesen, sondern auch bereits an den Ergebnissen einzelner Therapiestunden (Smith et al. 1999). Allein die Induktion von Hoffnung auf Veränderung bewirkt bei den häufig resignierten Patienten zu Beginn der Therapie eine Verbesserung des Wohlbefindens (Grawe 2002), und diese Hoffnung wird natürlich durch einen Therapeuten geweckt, der kompetent, glaubwürdig, engagiert und professionell wirkt und der von den Patienten als wertschätzend erlebt wird. Leider gibt es im Bereich der Kinderpsychotherapie keine vergleichbar eindeutige Befundlage, vielmehr ist die Zahl der zu diesem Thema veröffentlichten Arbeiten überraschend gering. Bislang müssen im Wesentlichen die Ergebnisse der Psychotherapieprozessforschung im Erwachsenenbereich auf die Arbeit mit Kindern übertragen werden, weitere Forschungsarbeiten zu diesem Thema sind dringend erforderlich. In einer ersten Metaanalyse (Shirk u. Karver 2003) zeigte sich ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Beziehung und Therapieergebnis wie in der Erwachsenenpsychotherapie. Es gibt keinen plausiblen Grund, an der Bedeutung des Beziehungsaufbaus auch in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zu zweifeln. »Der Therapeut muss den Kontakt zum
185 11.3 · Praktische Voraussetzungen und Diagnostik
Kind herstellen, es einbinden und sein Vertrauen erlangen, wenn die Behandlung erfolgreich sein soll« (Knell 1993, p. 46, Übersetzung durch den Autor). Von besonderer Wichtigkeit dürfte allerdings sein, dass in der Kinderpsychotherapie üblicherweise sowohl mit dem Kind als auch mit den Eltern und ggf. auch mit weiteren relevanten Personen eine therapeutische Beziehung aufgebaut wird und dass diese Beziehungen sich gegenseitig beeinflussen (Borg-Laufs u. Hungerige 2005, 2007). ! Für den Beziehungsaufbau mit dem Kind ist es förderlich, wenn es mitbekommt, dass auch die Beziehung zwischen dem Therapeuten und den Eltern gut ist. Gleichzeitig liegt hier aber auch die Gefahr, dass der Therapeut als Verbündeter der Eltern gegen das Kind wahrgenommen wird.
Nicht selten können solche ungünstigen Eindrücke auch durch das Verhalten der Beteiligten außerhalb der Therapiestunde entstehen, wenn etwa die Eltern dem Kind zu Hause sagen, dass sie dieses oder jenes Fehlverhalten bei nächster Gelegenheit dem Therapeuten erzählen werden. Insgesamt ist es hier wichtig, dass der Therapeut durch sein Handeln und im Rahmen des Zielklärungsprozesses deutlich macht, dass er allparteilich ist und nicht »einer Seite« zur Durchsetzung ihrer Ziele verhilft.
11.3
Praktische Voraussetzungen und Diagnostik
11.3.1 Rahmenbedingungen für den Erstkontakt
Um für den Erstkontakt und damit die initiale therapeutische Begegnung günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, muss bereits das Setting vertrauenerweckend wirken. Dazu sollte die Atmosphäre zwar einerseits professionell sein (und nicht z. B. eine Wohnzimmerpraxis), aber andererseits Kinder und Jugendliche auch durch die Räumlichkeiten, die Möbel, die Bilder und die Ausstattung (Spielzeug, Kinder- und Jugendbücher) erkennen lassen, dass sie willkommen sind und es sich eben nicht um einen Ort nur für Erwachsene handelt. In kinder- und jugendpsychotherapeutischen Praxen, in Erziehungsberatungsstellen und in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken dürfte das der allgemeine Standard sein. Psychologische Psychotherapeuten, die auch mit Kindern und/oder Jugendlichen arbeiten wollen, sollten dies bei der Gestaltung ihrer Praxisräume allerdings mitbedenken. Da Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Altersstufen sich von unterschiedlichen Ausstattungsmerkmalen ansprechen lassen, erfordert eine entsprechende Praxiseinrichtung einiges Geschick. Eine weitere Frage bezüglich der Rahmenbedingungen des Erstkontaktes in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie betrifft die Anwesenden beim Erstgespräch. Hier sind verschiedene Varianten möglich. Häufig wird der Erstkontakt so gehandhabt, dass ein gemeinsames Ge-
spräch mit Eltern und Kind bzw. Jugendlichem geführt wird. Dies mag aus diagnostischer Perspektive (Verhaltensbeobachtung der Familieninteraktion) sinnvoll sein, ist in Bezug auf die Beziehungsgestaltung aber nicht unproblematisch. So fand etwa Lenz (2001), dass Kinder sich in einem familientherapeutischen Setting häufig nicht wohlfühlen, z. T. überfordert sind, häufig zu wenig einbezogen werden und sich mehr als Zuhörer/Zuschauer denn als aktiv Beteiligte sehen. Darüber hinaus besteht in diesem Setting auch die Gefahr, dass die Eltern vor den Augen und Ohren des Kindes dessen Probleme lang und breit dem Therapeuten erläutern, mithin »kein gutes Haar an ihm lassen«. Dies ist kein guter Einstieg in eine therapeutische Beziehung, denn möglicherweise schämt sich nun das Kind vor dem Therapeuten und erlebt ihn gleichzeitig (wenn auch möglicherweise nicht zu Recht) als Verbündeten der Eltern – allein schon dadurch, dass Eltern und Therapeut auf einer Ebene zu stehen scheinen. Gelegentlich lernen Therapeuten das Kind auch zunächst bei der Durchführung eines oder mehrerer Tests kennen. Auch dies kann sich als ungünstige Ausgangsbedingung für die Bildung einer guten Therapiebeziehung erweisen, etwa wenn ein leistungsschwaches Kind mit hoher Misserfolgserwartung bei einem differenzierten Intelligenztest nun gezwungen ist, sich dem Therapeuten als erstes mit seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten zu präsentieren. ! Es soll hier daher empfohlen werden, den Erstkontakt (in der Regel nach einem Elterngespräch in Abwesenheit des Kindes) mit dem Kind oder Jugendlichen allein durchzuführen und dabei normale Gesprächs- und Spielsituationen herzustellen (7 Abschn. 11.4). > Fazit Die äußeren Rahmenbedingungen des Erstkontaktes wie Raumausstattung, Gesprächsteilnehmer und initiale Interaktionssituation sollten kindgemäß, angenehm und nicht selbstwertgefährdend für die Kinder und Jugendlichen sein.
11.3.2 Diagnostik: Einschätzverfahren
und Screenings Obwohl die Wichtigkeit der Therapeut-Patient-Beziehung auch in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie unumstritten ist, gibt es kaum standardisierte Verfahren, mit denen die therapeutische Beziehung eingeschätzt werden kann. Kronmüller und Mitarbeiter (2003) legen mit dem »Fragebogen zur Therapeutischen Beziehung für Kinder und Jugendliche (FTB-KJ)« eine adaptierte Version eines amerikanischen Verfahrens (Shirk u. Saiz 1992) vor. Der Fragebogen umfasst eine Version für Therapeuten und
11
186
11
Kapitel 11 · Erstkontakt und Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen
eine Kinderversion. Beide enthalten 12 Items, die sich zu den drei Faktoren »Arbeitsbeziehung« sowie »positive Aspekte der emotionalen Beziehung« und »negative Aspekte der emotionalen Beziehung« zusammenfassen lassen. Die Items (z. B. »Ich freue mich auf die Stunden mit meinem Therapeuten«, »Ich spreche mit meinem Therapeuten über meine Gefühle«, »Ich wünschte, mein Therapeut würde mich in Ruhe lassen«) sind zwar im Anhang des genannten Artikels zu finden, allerdings gibt es keine Auswertungshinweise, weshalb die Items nur eine Orientierungshilfe darstellen. Aufbauend auf Vorschlägen von Schulte (1995) für die Erwachsenentherapie verfolgen Borg-Laufs und Hungerige (2005) sowie Borg-Laufs (2006) in der Diagnostik das Konzept der Basisverhaltensweisen auch bei Kindern und Jugendlichen. Diese Basisverhaltensweisen der Patienten sind Offenheit, Mitarbeit, Therapienachfrage und Ausprobieren. Bei Borg-Laufs (2006, S. 87ff.) sind diese Variablen folgendermaßen operationalisiert: 4 Offenheit: Kind/Jugendlicher erzählt von sich aus wichtige, peinliche, tabuisierte Inhalte; Kind/Jugendlicher bringt persönliche Sachen mit und zeigt sie; Kind/ Jugendlicher zeigt sich überwiegend freundlich, nett, zugewandt; Kind/Jugendlicher sagt, dass er sich verstanden fühlt. 4 Mitarbeit: Kind/Jugendlicher lässt sich auf vorgegebene Themen ein; Kind/Jugendlicher hört aktiv zu; Kind/Jugendlicher verfolgt Hinweise des Therapeuten in und außerhalb der Therapiestunde weiter. 4 Therapienachfrage: Kind/Jugendlicher sagt, dass er gerne wiederkommen möchte; Kind/Jugendlicher ist pünktlich und zuverlässig, Therapietermine haben hohe Priorität. . Abb. 11.1. Stundenbeurteilungsbogen für Kinder von 12–14 Jahren. (Aus Borg-Laufs u. Hungerige 2005)
4 Ausprobieren: Kind/Jugendlicher macht bei therapeutischen Übungen (Rollenspiel) mit und erledigt die therapeutischen Hausaufgaben; Kind/Jugendlicher entwickelt eigene therapiebezogene Aktivitäten. Für die Einschätzung der vier genannten Variablen steht jeweils eine siebenstufige Skala (von –3 bis +3) zur Verfügung. Auf diesem Weg soll es dem Therapeuten ermöglicht werden, sich zu Beginn und im Verlauf der Therapie einen Überblick über den Stand der therapeutischen Beziehung und der Therapiemotivation des Kindes zu verschaffen (Borg-Laufs 2006). Borg-Laufs und Hungerige (2005) schlagen darüber hinaus vor, den Kindern und Jugendlichen altersentsprechend unterschiedliche bildunterstützte Fragebögen zur Einschätzung von Therapiestunden vorzulegen, die Auskunft über die therapeutische Beziehung geben können. So können Kinder bis zum Alter von 8 Jahren auf einer dreistufigen Skala eine einfache Einschätzung zu der Frage vornehmen, ob ihnen die Therapiestunde »eher nicht gut« oder »eher gut« gefallen habe. Die 8- bis 12-jährigen Kinder sollen bereits drei Items beantworten, und zwar »Die Therapeutin/der Therapeut hilft mir«, »Ich freue mich auf die nächste Stunde« und »Die Therapeutin/der Therapeut mag mich«. Noch deutlicher beziehungsorientiert sind die Items bei den 12- bis 14-Jährigen (. Abb. 11.1). Kinder und Jugendliche sind in der Regel direkter in ihrem Verhalten und weniger stark normorientiert und um passendes Benehmen bemüht als Erwachsene. Durch ihr Interaktionsverhalten kann – auch ohne weitere diagnostische Verfahren – häufig recht gut erkannt werden, ob man sie für sich interessieren kann oder ob sie gelangweilt sind
187 11.3 · Praktische Voraussetzungen und Diagnostik
(Holtz u. Mrochen 2005). Diese nonverbalen Hinweise (z. B. ein erfreutes Lächeln und/oder aufmerksam-gespannte Körperhaltung als positive Anzeichen bzw. gelangweiltes Herumschauen als negativer Hinweis) sollen eine gesichertere Diagnostik nicht ersetzen, können aber bei der Ad-hoc-Einschätzung der therapeutischen Beziehung sehr hilfreich sein.
11.3.3 Diagnostik: Plananalyse
Eine differenziertere Diagnostik, die für die Gestaltung der therapeutischen Beziehung hilfreich ist, ergibt sich aus einer Plananalyse des Patientenverhaltens (Caspar 1996; Klemenz 1999). Bei diesem Analyseverfahren wird aus dem Verhalten in Situationen auf übergeordnete Verhaltenspläne und -ziele geschlossen, die für jede Interaktion des Patienten – und somit auch für die therapeutische Situation – handlungsleitend sind. Bei den Interaktionsbeobachtungen in Gespräch, Spiel und Leistungssituationen sowie bei den Explorationsgesprächen können die wichtigen Verhaltensweisen des Patienten in- und außerhalb der Therapiestunde gesammelt werden. Interessante Verhaltensweisen für die Plananalyse sind insbesondere solche, die bei dem Untersu-
cher oder den Berichterstattern (Eltern, Lehrer) Handlungsimpulse auslösen. Diese Wirkungen von Verhaltensweisen werden dann genauer analysiert, indem etwa folgende Fragen beantwortet werden (Borg-Laufs 2006, S. 66):
4 Welche Gefühle und/oder Handlungsimpulse werden durch das Kind/den Jugendlichen bei mir ausgelöst? Was erreicht das Kind durch seine »Art« bei mir? 4 Welche Selbstdarstellung lässt sich aus dem Verhalten ableiten? 4 Welcher Appell lässt sich aus dem Verhalten ableiten? 4 Welches Verhalten von mir würde überhaupt nicht zum Verhalten des Kindes passen? Was würde ihm hingegen »so richtig gut tun«?
Mit diesen Leitfragen kann erarbeitet werden, welchen übergeordneten Zielen das Verhalten der Patienten dient. Verschiedene Verhaltensweisen können in der Regel einem Verhaltensplan zugeordnet werden, und aus den Verhaltensplänen lassen sich weitere übergeordnete Verhaltensziele ableiten.
Beispiel . Abb. 11.2 zeigt die Plananalyse eines Patienten, der zunächst durch besonders aggressives Verhalten imponiert hat. Zu sehen ist hier, dass der massiv aggressive Patient viele Verhaltensweisen zeigt, die dazu dienen, weitere Verletzungen seiner Bedürfnisse nach Selbstwerterhöhung und nach Bindung zu vermeiden. Die Durchführung einer Plananalyse kann der Therapeutin helfen, ihr Beziehungsverhalten dem Patienten ge. Abb. 11.2. Plananalyse mit den Materialien aus Borg-Laufs (2006)
genüber zu gestalten, indem sie seine Verhaltensziele berücksichtigt und ihm durch die Gestaltung der therapeutischen Beziehung bezüglich seiner übergeordneten Verhaltensziele befriedigende Erfahrungen ermöglicht. In diesem Fall etwa muss die Therapeutin besonders daraufachten, in ihrem Interaktionsverhalten möglichst selbstwertbestätigend und beziehungsstiftend zu agieren (7 Abschn. 11.4).
11
188
Kapitel 11 · Erstkontakt und Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen
In dem »Störungsübergreifenden Diagnostik-System für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (SDS-KJ)« (Borg-Laufs 2006) finden sich Hilfestellungen für die Erstellung einer Plananlyse mit Kindern und Jugendlichen, eine ausführliche Anleitung bietet Klemenz (1999). Eine Einschätzung der übergeordneten Interaktionsziele der Patienten sollte möglichst kontinuierlich über den Therapieprozess erfolgen, da sich diese Interaktionsziele im Verlauf der Behandlung auch ändern können.
11.4
Darstellung des Verfahrens
Kontaktaufbau und Beziehungsgestaltung sind keine manualisiert beschreibbaren »Verfahren«, dennoch können einige allgemeingültige Hinweise dazu gegeben werden, wie die Beziehungsgestaltung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie angegangen werden sollte (vgl. Mackowiak 2007; Borg-Laufs u. Hungerige 2005).
11.4.1 Rollenstrukturierung
11
Um eine hilfreiche therapeutische Beziehung zu ermöglichen, sollte der Therapeut sich zunächst darum bemühen, in seinen Handlungen die Merkmale einer Therapeutenrolle zu verwirklichen und die Einnahme der Patientenrolle durch Kinder und Eltern zu verstärken. Die Therapeutenrolle kann so beschrieben werden, dass der Therapeut ein professioneller Helfer zur Selbsthilfe ist, der – entsprechend dem Prinzip der minimalen Intervention nach Kanfer et al. (2006) – dem Kind und der Familie nur soviel Hilfe gibt, wie diese benötigen, um wieder ohne ihn ihr Leben führen zu können. Wichtig ist dabei der Aspekt der Nähe-DistanzRegulierung, denn der Therapeut muss einerseits große Nähe herstellen, um als vertrauenswürdiger Partner und Helfer anerkannt zu werden, andererseits aber auch genügend Distanz wahren, um auch weiterhin als Außenstehender gelten zu können, der an einer Interaktion beteiligt ist, die sich durch ihre Art von der Rolle eines Freundes oder Verwandten unterscheidet und die auch nicht auf Dauer angelegt ist. Hier stellen sich einige konkret-praktische Fragen, die letztlich immer im Einzelfall beantwortet werden müssen, für die aber allgemeine Leitlinien gelten können: Form der Anrede. Therapeuten sollten mit den Eltern als Anredeform »Sie« wählen und sich auch in der Regel von den Kindern mit Nachnahmen anreden lassen, wobei bei jüngeren Kindern das »Du« akzeptabel ist, sofern es nicht mit der Ansprache mit dem Vornamen verbunden ist. Auf diese Weise wird schon durch die Anrede deutlich, dass der Therapeut nicht Freund der Familie oder Verwandter ist. Umgang mit privaten Kontakten. In der Regel sollten pri-
vate Kontakte aller Art vermieden werden und entspre-
chende Einladungen seitens der Eltern oder des Kindes abgelehnt werden (z. B. Einladungen zu Geburtstag, Kommunion, Konfirmation). Preisgabe privater Informationen. Nicht selten werden
Therapeuten gerade von Kindern oder Jugendlichen auch nach privaten Informationen gefragt, etwa nach eigenen Kindern und anderen Aspekten des Privatlebens. Um die therapeutische Rolle zu wahren, sollte der Therapeut zurückhaltend mit Informationen aus seinem Privatleben umgehen, ohne allerdings ein Geheimnis daraus zu machen. So kann die bereitwillig gegebene Information, ob man eigene Kinder hat und wie alt diese gegebenenfalls sind, sicher keinen Schaden anrichten, während eine offen geäußerte (»Das darf ich Dir nicht sagen«) oder verdeckt durch Nicht-Beantworten und Stellen einer Gegenfrage erfolgte Geheimhaltung eher Befremden auslöst. Auch andere Fragen nach privaten Vorlieben, Hobbys oder Urlaubspräferenzen können beantwortet werden. Allerdings sollte der Therapeut stets darauf achten, keine längeren Erzählungen aus dem eigenen Leben anzubieten oder sich in entsprechende Gespräche verstricken zu lassen, denn dies würde die Therapeutenrolle unschärfer und unklarer machen: Von ihrem Privatleben erzählen nämlich Freunde und Verwandte, nicht aber professionelle Helfer. Verstärkung erwünschten Verhaltens. Ein wichtiger Baustein der Rollenstrukturierung ist es, die Patienten von Anfang an dafür zu verstärken, wenn sie angemessenes Basisverhalten zeigen. Dazu zählt, dass sie pünktlich erscheinen, offen und ehrlich mit dem Therapeuten sprechen, therapeutische Hausaufgaben erledigen und sich auf vom Therapeuten vorgeschlagene Themen und Übungen einlassen. Diese Erwartungen können und sollen nicht vorab geklärt werden, vielmehr müssen sie aus den Handlungen und Reaktionen des Therapeuten im Laufe des therapeutischen Prozesses ableitbar sein. Demnach sollte ein Therapeut z. B. angemessenes Verhalten in dem genannten Sinne (Übungen mitmachen, therapeutische Hausaufgaben erledigen, über schwierige Themen sprechen, Situationen detailliert beschreiben) loben und verstärken. Durch einen Gesprächsstil, bei dem detailliert nachgefragt wird, vorschnelle Lösungen nicht akzeptiert werden, Patienten mit Widersprüchen konfrontiert werden und wie beschrieben im Sinne des Therapieprozesses sinnvolle Äußerungen verstärkt werden, kann ein solches Patientenverhalten aufgebaut werden. ! Das vom Patienten erwartete Basisverhalten wird nicht verbal ausführlich dargelegt, sondern durch die Beziehungsgestaltung und Interaktionen des Therapeuten initiiert und verstärkt. Ansprechen des Vorstellungsanlasses im Erstkontakt. Um die Rollenstruktur im therapeutischen Prozess von Beginn an deutlich werden zu lassen, sollten die Treffen einem be-
189 11.4 · Darstellung des Verfahrens
stimmten Schema folgen. So sollte auch mit Kindern im Erstkontakt zunächst zumindest kurz über den Vorstellungsanlass gesprochen werden, bevor die Stärken und Hobbys des Kindes thematisiert werden und bevor mit dem Kind gespielt wird. Auch dadurch wird dem Kind die Besonderheit des therapeutischen Settings deutlich, und es kann sich an Setting und Struktur eines therapeutischen Prozesses gewöhnen. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die problemzentrierte Phase des Einstiegs in Abhängigkeit von Alter, Störungsbild und individuellen Besonderheiten unterschiedlich lang sein sollte. Manche Kinder und Jugendliche geben gerne über ihre Schwierigkeiten Auskunft und sind problemlos in der Lage, auch längere Gesprächssituationen zu bewältigen. Andere können oder wollen dies nicht (z. B. hyperaktive Kinder, Kinder mit starker Selbstwertproblematik). In diesen Fällen kann der Therapeut den problembezogenen Einstieg bereits nach kürzester Zeit wieder beenden, indem er deutlich macht, dass er zunächst genug darüber erfahren hat und jetzt bereit ist, über angenehme Dinge zu sprechen oder miteinander zu spielen. Auf diese Weise kann das Kind in der Interaktion bedürfnisbefriedigende Erfahrungen machen und lernt trotzdem, dass diese neue Beziehung zum Therapeuten anders ist als bisherige Beziehungen. Interesse an der Person des Patienten. Dass der Therapeut
im Kontakt mit den Patienten grundsätzlich freundlich, offen und interessiert sein sollte, ist eine Selbstverständlichkeit und braucht sicher nicht weiter ausgeführt zu werden. Gerade Kinder und Jugendliche suchen eine Person, zu der sie Vertrauen haben können und die sich für sie, ihre Sicht der Dinge und ihre Bedürfnisse interessiert. Es versteht sich daher von selbst, dass der Therapeut stets Interesse dafür zeigt, wie das Kind Probleme und Situationen versteht, beschreibt und bewertet, dass er dies auch immer wieder deutlich macht und dem Kind bei entsprechenden Schilderungen und Erzählungen aufmerksam zuhört. Kinder machen häufig die Erfahrung, dass ihnen Interpretationen ihres Verhaltens und Sichtweisen von Problemen von Erwachsenen aufgedrängt werden, ohne dass sich genauer für die Sichtweise des Kindes interessiert würde. Hier hat der Therapeut die Möglichkeit, sich durch sein immer wieder deutlich werdendes Interesse an der Person des Kindes und an dessen Sicht der Dinge auf grundsätzlich andere Art zu präsentieren und damit das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. ! Zeige deutlich dein Interesse an der Person des Kindes und an seiner Sicht der Dinge!
Allerdings ist bei der Arbeit mit Jugendlichen, die entwicklungspsychologisch eher mit Ablösung und Selbstständigkeit beschäftigt sind und daher Erwachsenen, die ihnen »gute Ratschläge« geben wollen, zunächst skeptisch gegenüberstehen, Vorsicht geboten. Werden sie zu freundlich angesprochen, ständig angelächelt und mit Blickkontakt bedacht, so empfinden sie dies häufig als aufdringlich und
unangenehm. Die Position des Therapeuten sollte daher zunächst nicht zu freundlich, wohlwollend und nah sein, sondern eher freundlich-distanziert. Sprachliche Aspekte der Gesprächsführung. Ein Gespräch
mit Kindern sollte so geführt werden, dass es angenehm und verständlich ist. Insbesondere muss darauf geachtet werden, dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechend zu formulieren (vgl. z. B. Delfos 2004). Dies betrifft sowohl die Wortwahl als auch die Grammatik und die Länge der Formulierungen. Wenn der Therapeut sich nicht so ausdrücken kann, dass das Kind ihn versteht, wird auch die Qualität der Beziehung darunter leiden. Aber auch die Verwendung von Materialien, Spielen und Rollenspielen oder das Malen-Lassen von Ereignissen und Personen können im Rahmen des Erstkontaktes und auch der weiteren Therapie beziehungsstiftend sein, da diese Tätigkeiten dem Kind vertraute Dinge und Tätigkeiten aufgreifen, ihm Spaß machen und angenehme und für das Kind interessante Interaktionen mit dem Therapeuten ermöglicht. Ressourceninterviews. Schließlich sollte Wert darauf gelegt werden, dass das Kind bereits im Erstkontakt (und später immer wieder) Gelegenheit erhält, sich im Rahmen von Ressourceninterviews und Gesprächen über seine Vorlieben und Hobbys mit seinen Stärken und Interessen zu präsentieren. Neben den inhaltlich interessanten Informationen, die auf diesem Wege gewonnen werden können, kann auch hierbei davon ausgegangen werden, dass das Kind angenehme und selbstwertdientliche Erfahrungen im Zusammensein mit dem Therapeuten macht, was sich positiv auf die Beziehung auswirkt. Damit dies so ist, sollte die Situation im Ressourceninterview angenehm und entspannt sein und weniger einem Abfragen ähneln.
Beispiel Dazu kann es hilfreich sein, bestimmte Aspekte gemeinsam aufzuzeichnen, z. B. beliebte Aktivitäten oder soziale Beziehungen im Rahmen einer Abbildung zu erfassen, die gemeinsam ausgefüllt wird. Dazu werden auf einem Blatt Papier drei ineinanderliegende Kreise gemalt. In den kleinsten Kreis in der Mitte wird der Name des Kindes geschrieben. In den nächstgrößeren Kreis werden nun bei einer Netzwerkbetrachtung die engsten Freunde und Bezugspersonen eingetragen, im äußeren Kreis solche Freunde und Verwandte, die als weniger nah empfunden werden. Ähnlich kann auch bei der Erfassung von Interessen und Hobbys vorgegangen werden (vgl. die Materialien zur Ressourcendiagnostik in Borg-Laufs 2006). Durch diese Art des gemeinsamen Aufschreibens kann das Gespräch viel einfacher flüssig und angenehm gestaltet werden als bei rein verbaler Abfrage.
11
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Kapitel 11 · Erstkontakt und Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen
Herstellung einer transparenten Therapiesituation. Im
Erstkontakt ist es besonders wichtig, dem Kind Sicherheit zu geben und die Therapiesituation transparent zu gestalten. Es empfiehlt sich daher, dem Kind die Räumlichkeiten der Institution oder Praxis zu zeigen, auf die Spielmöglichkeiten hinzuweisen und den Ablauf der Stunde zu erklären
Beispiel »Hier ist jetzt mein Zimmer, da unterhalten wir uns ein wenig darüber, warum Du hierhin gekommen bist und was wir da machen können. Nachher können wir gerne noch ein bisschen spielen, wenn Du Lust dazu hast. Das Spielzimmer haben wir uns ja gerade angesehen.«
11.4.2 Beziehungsgestaltung entsprechend den
interaktionellen Zielen des Kindes/ Jugendlichen
11
Die Gestaltung der therapeutischen Beziehung sollte im Verlauf der Therapie u. a. auch den Ergebnissen der Plananalyse (7 Abschn. 11.3) entsprechend gestaltet werden. Häufig ergeben sich aus einer Plananalyse übergeordnete Verhaltensziele des Kindes, die mit dem Erreichen psychologischer Grundbedürfnisse (Bindung, Selbstwerterhöhung, Kontrolle/Orientierung, Lustgewinn) oder mit der Vermeidung weiterer Verletzungen dieser Grundbedürfnisse verbunden sind. Für die therapeutische Interaktion ergibt sich daraus, dass der Therapeut in hohem Maße darauf Wert legen sollte, dass der Patient in der therapeutischen Situation Erfahrungen macht, die seinen Bedürfnissen entsprechen. Dadurch kann vermieden werden, dass der Patient übermäßig Energie darauf verwendet, seine übergeordneten Verhaltensziele zu verwirklichen, was die Energie von der sinnvollen Arbeit an den therapeutischen Zielen ablenken würde, und es kann erreicht werden, dass er sich in der Interaktion mit dem Therapeuten wohlfühlt. Dies bedeutet z. B. (vgl. Borg-Laufs 2006): 4 Wenn die Vermeidung von Kontrollverlust ein übergeordnetes Verhaltensziel des Patienten ist, sollte der Therapeut den Patienten (noch mehr als in anderen Fällen) in alle Entscheidungen einbeziehen, ihn stets nach seiner Meinung zu geplanten Interventionen fragen, die Therapie in besonders hohem Maße transparent und nachvollziehbar gestalten. 4 Bei Verhaltenszielen, die sich auf die Vermeidung von Beziehungsverletzungen beziehen, muss der Therapeut auf »Beziehungstests« des Kindes oder Jugendlichen gefasst sein und sich z. B. auch dann als verlässlicher Partner zeigen, der die Beziehung nicht abbricht, wenn das Kind sich unangemessen verhält. 4 Wenn die obersten Verhaltensziele des Patienten darin bestehen, Selbstwertsteigerung zu erreichen, so sollten
möglichst viele selbstwertdienliche Erfahrungen vermittelt werden (einfache Aufgaben, die der Patient gut bewältigen kann, besonders viel Lob und Ermutigung, Betonung der Ressourcen des Patienten) und Konfrontationen mit Fehlverhalten o. Ä. sollten nur äußerst sparsam und behutsam eingesetzt werden.
11.5
Indikation und Kontraindikation
Der Aufbau einer therapeutischen Beziehung, wie er hier beschrieben wurde, ist in allen Fällen indiziert, in denen das Alter der Kinder und Jugenlichen es zulässt. Im Rahmen der Behandlung von Kleinstkindern steht der Beziehungsaufbau mit den Eltern im Vordergrund, da die Therapie sich in aller Regel darauf bezieht, die Eltern zu anderem Verhalten dem Kind gegenüber anzuleiten. Insbesondere bei Kindern, die im Laufe ihres Lebens bereits Beziehungsabbrüche zu wichtigen Bezugspersonen erleben mussten, ist von besonderer Bedeutung, dass die Beziehung so gestaltet wird, dass der vorübergehende und der besondere (professionelle) Charakter der Beziehung von Anfang an deutlich wird, damit die Kinder nicht erneut einen traumatischen Abbruch einer wichtigen Beziehung erleben. Dies ist aber keine Kontraindikation für das hier empfohlene Vorgehen, sondern vielmehr ein Hinweis auf die besondere Wichtigkeit der Nähe-Distanz-Regulation.
11.6
Empirie: Wirkmechanismen und Effekt
Wie bereits beschrieben, ist die Befundlage zur Wirkung der therapeutischen Beziehung in der Kinderpsychotherapie eher schmal. Aus den Arbeiten zur Bedeutung der therapeutischen Beziehung in der Erwachsenentherapie lässt sich allerdings auch auf die Wichtigkeit der Therapiebeziehung für die Kindertherapie schließen. Umfassende empirische Arbeiten zur Rolle der therapeutischen Beziehung in der Psychotherapie mit Erwachsenen stammen etwa von Orlinsky et al. (1994) oder von Asay und Lambert (2001). In einzelnen Untersuchungen zeigte sich ein starker Zusammenhang zwischen der Qualität der therapeutischen Beziehung und dem Therapieergebnis (Eltz et al. 1995; Kazdin et al. 2006), in anderen zeigte sich dieser Zusammenhang nicht (Kendall 1994) oder sogar in Bezug auf spezifische Einzelfälle mit umgekehrten Vorzeichen: Bei besonders stark antisozialen Jugendlichen zeigte sich ein negativer Zusammenhang zwischen den frühen Einschätzungen der therapeutischen Beziehung und dem späteren Therapieergebnis (Florsheim et al. 2000). In einer Metaanalyse von Shirk und Karver (2003), die sich allerdings auf eher wenige und z. T. mit methodischen Problemen behaftete Studien bezieht, zeigte sich ein insgesamt moderater, aber konsistenter Effekt der therapeutischen Beziehung in der Kindertherapie auf das Therapieergebnis.
191 Zusammenfassung
Eine aktuelle Studie von Kronmüller et al. (2003) beschäftigt sich ebenfalls mit der therapeutischen Beziehung bei Kindern und Jugendlichen. Es wurden 80 Patienten von 6 bis 18 Jahren mit unterschiedlichen Störungen, die sich in kinderanalytischer Behandlung befanden, in die Untersuchung einbezogen. Die Ergebnisse der Untersuchung waren durchaus interessant. Es zeigte sich u. a., dass die Qualität der Arbeitsbeziehung mit steigendem Alter der Patienten besser wurde, dass hingegen die emotionale Qualität der Beziehung bei den jüngeren Patienten besser war. Mädchen schätzten die therapeutische Beziehung besser ein als Jungen. Bei den Jungen führte eine schwerere Störung dazu, dass die Therapiebeziehung ungünstiger beurteilt wurde. Der Zusammenhang mit dem Therapieerfolg wurde in dieser Studie nicht untersucht. Ob diese Ergebnisse auch in größeren Stichproben und in einem anderen Setting (Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie) repliziert werden können, muss erst noch untersucht werden. Möglicherweise führt die unterschiedliche therapeutische Orientierung auch zu Ergebnissen, die deutlich von den dargestellten Befunden abweichen. Zumindest wird durch diese Untersuchung aber angerissen, wie vielfältig die Fragestellungen sind, die durch weitere Forschung in diesem Bereich sinnvoll bearbeitet werden können (z. B. Qualität der therapeutischen Beziehung in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter und Störungsbild der Patienten; Zusammenhang zwischen Qualität der therapeutischen Beziehung und Therapieergebnis etc.).
11.7
Ausblick
Insbesondere im letzten Abschnitt wurde deutlich, dass dringend weitere Forschungsarbeiten zur therapeutischen Beziehung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie vonnöten sind. Auf Dauer ist es unbefriedigend, die Befundlage aus der Erwachsenenpsychotherapie auf die Arbeit mit Kindern zu übertragen, zumal entwicklungspsychologische Besonderheiten bezüglich Beziehungsaufbau und -gestaltung hoch plausibel sind und sich in den wenigen vorliegenden Befunden bereits andeuten. Sicherlich spielt die therapeutische Beziehung auch in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie eine herausragende Rolle, aber viele Fragen in diesem Zusammenhang sind noch völlig offen und bedürfen dringender Klärung, wenn die kinderpsychotherapeutische Arbeit weiter optimiert werden soll. Nur wenn hier weitere Forschungsanstrengungen unternommen werden, kann in der Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen der Sprung von der intuitiven und subjektiv-plausiblen Art der Beziehungsgestaltung zur empirisch fundierten Beziehungsarbeit geschafft werden. Dies bedeutet natürlich nicht,
dass der Therapeut als Person in der therapeutischen Interaktion dann nicht mehr erkennbar wäre. Dies ist weder wünschenswert noch machbar. Letztlich gehört über die Persönlichkeitsvariablen hinaus aber zu einer angemessenen Beziehungsgestaltung, diese so weit wie möglich auf die speziellen Bedürfnisse des Einzelfalles abzustimmen. Und um dies bestmöglich tun zu können, müssen noch viele Fragen beantwortet werden. Zu nennen wäre hier etwa: 4 Wie sollte die Beziehung in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand und/oder vom Störungsbild bzw. der jeweils vorliegenden Problemkonstellation konkret gestaltet werden? 4 Welchen Einfluss haben Therapeutenvariablen auf die Beziehungsqualität in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unterschiedlichen Alters und Geschlechts? 4 Welche Teilaspekte der Beziehungsqualität können in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie sinnvoll unterschieden werden, und wie sind diese gegebenenfalls unterschiedlich zu gestalten? 4 Wie sehen die Wechselwirkungen zwischen der Therapeut-Patient-Beziehung einerseits und der Beziehung zwischen Therapeut und Bezugspersonen andererseits aus?
Zusammenfassung Die Gestaltung des Erstkontaktes und der therapeutischen Beziehung ist auch in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie von besonderer Bedeutung. Allerdings ist die Befundlage zu diesem Gebiet noch ausgesprochen schmal, und auch diagnostische Hilfestellungen sind erst wenige vorhanden. Dennoch können auf der Grundlage einfacher diagnostischer Einschätzungen und vor dem Hintergrund einer Plananalyse einige Hinweise für die Beziehungsgestaltung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie gegeben werden. Der Therapeut muss in entwicklungsangepasster Weise und unter Berücksichtigung der übergeordneten interaktionellen Ziele der Kinder bzw. Jugendlichen die Beziehung so gestalten, dass eine angemessene Nähe-Distanz-Regulation erfolgt und dass die Kinder bzw. Jugendlichen sich verstanden und angenommen fühlen. Die Rollenstrukturierung erfolgt durch die Spezifika der Gesprächsführung, das eigene therapeutische Handeln und die Verstärkung erwünschten Patientenverhaltens. Insgesamt steckt die Psychotherapieprozessforschung im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie erst in ihren Anfängen, und es besteht dringender Bedarf für weitere differenzierte Forschungsarbeiten gerade zum Thema therapeutische Beziehung in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.
11
192
Kapitel 11 · Erstkontakt und Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen
Literatur
11
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12
12 Psychoedukation Franz Petermann, Judith Bahmer
12.1
Einleitung
12.2
Theoretische Grundlagen
12.2.1 12.2.2
Pychoedukation: Begriffsentstehung und -entwicklung Ziele der Psychoedukation – 194
12.3
Praktische Voraussetzungen
12.4
Darstellung des Verfahrens
12.4.1 12.4.2
Präventive Psychoedukation bei Kindern und Jugendlichen – 198 Psychoedukation bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen – 200 Patientenschulung bei chronisch körperlich kranken Kindern und Jugendlichen – 202
12.4.3
– 194 – 194
– 197 – 198
12.5
Indikation und Kontraindikation – 205
12.6
Empirie: Wirkmechanismen und Effektivität
12.7
Ausblick
– 206
Zusammenfassung Literatur
– 206
– 207
Weiterführende Literatur
– 194
– 207
– 205
194
Kapitel 12 · Psychoedukation
12.1
12
Einleitung
Patientenedukation ist aufgrund einer immer größer werdenden Zahl von Patienten mit chronischen psychischen oder körperlichen Erkrankungen ein wichtiges Thema für Psychotherapeuten und Ärzte. Besonders erkrankte Kinder und Jugendliche stellen Ärzte und Psychotherapeuten vor große Herausforderungen, da Kinder und Jugendliche oftmals eine geringere Krankheitseinsicht und Therapiemotivation aufweisen und auf die Unterstützung durch ihre Eltern bei der Krankheitsbewältigung angewiesen sind. Um die aktive Mitarbeit des jungen Patienten und seiner Angehörigen zu gewinnen, ist es nötig, differenziertes Wissen über die Erkrankung sowie Verhaltenskompetenz im Umgang mit der Erkrankung weiterzugeben. Der Lernprozess muss dabei auf zwei Seiten erfolgen: seitens des Patienten und seiner Angehörigen, die mit der Erkrankung akzeptierend und eigenverantwortlich umgehen müssen, und seitens der Professionellen (Pädiater, Kinderpsychologen und Kinder- und Jugendpsychotherapeuten), die im Rahmen einer interdisziplinären Versorgung Wissen und Kompetenz patientengerecht und empathisch weitergeben sollen. Hier ist es besonders wichtig, den jungen Patienten Wissen so weiterzugeben, dass sie es verstehen und Handlungshinweise im Alltag umsetzen können. Bei der Psychoedukation handelt es sich nicht um ein umschriebenes Therapieverfahren, sondern um eine Behandlungskomponente in einem übergeordneten Interventionskonzept. Dieses Kapitel stellt Konzepte zur Psychoedukation bei psychischen und körperlichen Erkrankungen dar und fokussiert dabei auf Kinder, Jugendliche und deren Eltern. Psychoedukation soll dabei im Kontext einer präventiven Psychoedukation bei gesunden Kindern und deren Eltern (z. B. Anti-Stress-Training) sowie als Psychoedukation bei psychologischen Störungen (z. B. Training mit sozial unsicheren Kindern) und bei chronischen, körperlichen Erkrankungen (z. B. Neurodermitis, Asthma) betrachtet werden.
12.2
Theoretische Grundlagen
der Psychoedukation fand seinen Niederschlag in der Gründung der Arbeitsgruppe zur Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen. Dreizehn Kliniken beteiligten sich damals an einem Konsensuspapier zur Psychoedukation bei schizophrenen Erkrankungen. ! Der Begriff der Psychoedukation wird durch die Arbeitsgruppe definiert als eine systematische, didaktisch-psychotherapeutisch aufbereitete Maßnahme, die dazu geeignet ist, Patienten und deren Angehörige über ihre Erkrankung und mögliche Behandlungsformen zu informieren. Psychoedukation soll dabei die Krankheitseinsicht sowie einen selbstverständlichen Umgang mit der Erkrankung fördern und die Krankheitsbewältigung unterstützen.
Eine genaue Abgrenzung des Begriffs Psychoedukation von weiteren Maßnahmen der Informationsvermittlung, wie dem Aufklärungsgespräch, der Beratung, Patiententrainings oder der Patientenschulung, gelingt heute eher nicht. Im engeren Sinne ist Psychoedukation (lediglich) die Wissensvermittlung (von einigen Autoren auf den Bereich psychischer Störungen eingegrenzt), die Patientenschulung versteht sich dagegen eher als eine systematische Informations- und Kompetenzvermittlung mit umschriebenen Zielen, spezifischen Inhalten und standardisierten Methoden, die eine Veränderung im Wissen, der Einstellung und im Verhalten von Patienten erzielen und ihren eigenverantwortlichen Umgang mit der Erkrankung stärken soll. Häufig wird der Begriff Patientenschulung im Zusammenhang mit der Behandlung chronischer körperlicher Erkrankungen gebraucht. Das heutige Verständnis von Patientenschulung legt den Schwerpunkt verstärkt auf die verhaltenspsychologische Komponente und integriert systematisch Wissens- und Kompetenzvermittlung, Verhaltens- und Fertigkeitstrainings. Langfristig werden, neben einer Verbesserung der Lebensqualität des Patienten und dem Erhalt bzw. Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit, gesundheitsökonomische Effekte, wie die Senkung der allgemeinen Behandlungskosten und Vermeidung von Ausfallzeiten in Schule und Beruf, angestrebt.
12.2.1 Pychoedukation: Begriffsentstehung
und -entwicklung Der Begriff der Psychoedukation wurde erstmals 1980 von Anderson in den USA im Rahmen eines neuen therapeutischen Konzeptes für Patienten mit Schizophrenie geprägt. Psycho-»Edukation« (lat. »educare« = unterrichten) sollte im Sinne eines psychologisch fundierten Patientenunterrichts Defizite im Wissen des Patienten oder der Angehörigen über die Erkrankung ausgleichen und die Krankheitsbewältigung, soziale Kompetenz und insbesondere die Compliance des Erkrankten fördern. In Deutschland wurde der Begriff 1996 verstärkt aufgegriffen, und der Gedanke
12.2.2 Ziele der Psychoedukation
Die Wurzeln der Psychoedukation liegen in der Lernpsychologie und Verhaltenstherapie, jedoch werden auch Elemente der Gesprächspsychotherapie in unterschiedlicher Gewichtung integriert. Maßnahmen zur Psychoedukation sind mittlerweile fest in der Verhaltenstherapie verankert. Im Rahmen einer Psychotherapie bezeichnet Psychoedukation den Bestandteil der Behandlung, bei dem die aktive Vermittlung von Information, der Austausch unter Betroffenen sowie die Behandlung allgemeiner Krankheitsaspekte im Vordergrund stehen (Wiedemann et al. 2003).
195 12.2 · Theoretische Grundlagen
! Zu den wichtigsten Zielen der Psychoedukation zählen die Vermittlung von Störungs- und Therapieinformation, die Förderung von Selbstmanagementkompetenzen, die Rückfallprophylaxe und die Sicherstellung einer ausreichenden Therapiecompliance (Petermann 1997).
Vermittlung eines angemessenen Störungsmodells
Zu Beginn einer Behandlung ist es daher unabdingbar, dass dem Patienten strukturiert störungsspezifisches Wissen über das Störungsmodell vermittelt wird, aus dem sich die einzelnen Therapieelemente für ihn plausibel und nachvollziehbar ableiten lassen. Einige Beispiele für geeignete Materialen zur Psychoedukation für Kinder und Eltern sind in . Tab. 12.1 aufgeführt.
Vermittlung von Therapieinformation
Informationsdefizite oder Fehlinformation über Krankheit und Behandlung, nicht selten vermittelt über Massenmedien oder das soziale Umfeld, können die Therapiemitarbeit gefährden. Patienten entwickeln häufig eigene Vorstellungen und Erklärungsmodelle über ihre Krankheit, etwa bezüglich Ursache, Prognose, Beeinflussbarkeit sowie über Behandlungsformen (Zweckmäßigkeit, Effektivität, Konsequenzen). Diese individuellen Krankheitstheorien sind für den Patienten plausibel und haben häufig eine entlastende und kognitiv wie emotional regulierende Funktion zur Bewältigung der Erkrankung (Umgang mit Bedrohlichkeit, Kontrollierbarkeit). Manchmal sind die subjektiven Annahmen und Einstellungen des Patienten jedoch inkompatibel mit wissenschaftlichen Erklärungsmodellen und den rational begründeten Therapiezielen. Sollten die subjektiven Krankheitstheorien des Patienten und die wissenschaftliche Lehrmeinung nicht vereinbar sein oder sich sogar widersprechen, kann diese Situation eine ernsthafte Barriere für die Therapiemitarbeit darstellen. Eine ausreichende Therapiemitarbeit kann nur dann erwartet werden, wenn der Patient über die Wirksamkeit und Erfolgsaussichten der Behandlung überzeugt ist.
Neben der Vermittlung eines angemessenen Störungsmodells ist die Information über den theoretischen Hintergrund und die konkret geplanten Elemente der Intervention wichtig. Hierzu gehört die Begründung der Verfahren und die Erläuterung von Sinn und Zweck der Vorgehensweise. Diese Information dient dazu, weitestgehende Transparenz herzustellen und damit grundlegende Therapiemotivation beim Patienten zu erreichen. Um die Therapiemotivation dauerhaft zu sichern, sollten in diesem Kontext Informationen über Ziele und Wirkungen der Behandlung sowie eventuelle Risiken thematisiert und ein Einverständnis mit dem Patienten angestrebt werden (»informed consent«). Eine Psychoedukation liefert oft Grundlagen für eine gemeinsame, kooperative Entscheidung von Therapeut und Patient für eine Behandlungsform. Am Beispiel der Schizophrenie im Jugendalter kann die Bedeutung einer Beteiligung des Patienten an Planung und Durchführung therapeutischer Maßnahmen (»shared decision making«) illustriert werden. Eine Entscheidung für eine Therapie, die im Einvernehmen von Arzt bzw. Therapeut und Patient getroffen wird, besitzt größere Erfolgschancen, da sie vom Patienten mitgetragen und motivierter und langfristig konsequenter im Alltag umgesetzt wird.
. Tab. 12.1. Beispiele für Materialien zur deutschsprachigen Psychoedukation für Kinder und Eltern Störungsbild
Wer wird angesprochen?
Broschüre
Angststörung
Kinder
Schneider, S. & Borer, S. (2007). Nur keine Panik. Was Kids über Angst wissen sollten (2. Aufl.). Basel: Karger.
ADHS
Eltern
Trott, G. E. & Bandura, F. (ohne Jahr). ADHS: Das »Zappelphillipp«-Syndrom. Iserlohn: Medice.
Schulkinder
Knölker, U. (ohne Jahr). Ich habe ein ADHS – und nun? Iserlohn: Medice.
Kinder und Eltern
Korsten-Reck, U. (2001). Nina macht Mut. Erfolgreich gegen Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen. Berlin: Ullstein.
Eltern
Boggio, V. (2004). Übergewicht bei Kindern. Eltern können helfen. Weinheim: Beltz. Petermann, F. & de Vries, U. (2007). Übergewichtige Kinder – Hilfen für Eltern. Weinheim: Beltz.
Essprobleme
Eltern
Kast-Zahn, A. & Morgenroth, H. (2007). Jedes Kind kann richtig essen (2. Aufl.). München: Gräfe & Unzer.
Selbstverletzendes Verhalten
Eltern und Jugendliche
Smith, G., Cox, D. & Saradijan, J. (2001). Selbstverletzung (3. Aufl.). Stuttgart: Kreuz.
Sucht
Eltern
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). (2008). Alkohol – reden wir darüber. Ein Ratgeber für Eltern zum möglichen Alkoholkonsum ihrer heranwachsenden Kinder. (http:// www.bzga.de)
Adipositas
12
196
Kapitel 12 · Psychoedukation
Fallbeispiel Tom E. ist 19 Jahre alt und leidet seit einem Jahr an einer hebephrenen Schizophrenie. Nach Expertenmeinung zählt Tom damit zu den Patienten, die am häufigsten unter Einschränkungen durch ihre psychische Erkrankung im Alltag leiden. Das ist sehr abstrakt für Tom, denn die alltägliche Belastung, die er durch seine Erkrankung erlebt, ist enorm: Er musste wegen seiner wahnhaften Symptomatik sein Studium unterbrechen, um sich stationär behandeln zu lassen. Die Erkrankung führt immer wieder zu schweren Krisen in der Beziehung zu seiner Freundin, die sich nur schwer mit Toms Wesensveränderung abfinden kann. Tom hat Probleme, ein normales Leben zu führen, da sich immer mehr seiner Freunde von ihm distanzieren. Sie empfinden ihn zeitweise als »verrückt«, »merkwürdig« und glauben, dass er »nicht zurechnungsfähig« ist. In Phasen, in denen Tom nicht in seine Wahngedanken verstrickt ist, merkt er, dass sich seine kognitive Leistungsfähigkeit verschlechtert hat. Für Experten ist das, was Tom bemerkt, eine häufige Komplikation schizophrener Psychosen: eine Veränderung der Hirnfunktion, die im ungünstigsten Fall zu einer morphologischen Veränderung des Hirngewebes führt. Die Rezidive, die auch bei Tom bereits zweimal aufgetreten sind, verschlechtern Toms Prognose im Hinblick auf ein beschwerdefreies Leben. Der Psychotherapeut, mit dem
Selbstmanagementkompetenzen
12
Um die in der Therapie erzielten Ergebnisse auch in den Alltag des Patienten umsetzen zu können, ist die Vermittlung von spezifischen Selbstmanagementkompetenzen erforderlich, beispielsweise die Tagesstrukturierung, Planung von Aktivitäten, Durchführung neuer Verhaltensweisen oder das frühzeitige Erkennen von Rückfällen. Diese Kompetenzen dienen im Verlauf und nach Abschluss der Therapie der Transferabsicherung und unterliegen Generalisierungseffekten.
Förderung der Therapiecompliance Neben der Förderung der Selbstmanagementkompetenzen (Petermann, 1998) sowie der Wissensvermittlung erscheint die Förderung der Therapiemitarbeit (Compliance) bei allen psychoedukativen Maßnahmen als ein wichtiges Ziel (vgl. . Abb. 12.1). Insbesondere chronische psychische oder körperliche Erkrankungen mit langfristigen und komplexen Therapieplänen erfordern eine kontinuierliche und aktive Beteiligung des Patienten an der Therapieentscheidung und Therapiedurchführung. Im Gesundheitswesen wird eine mangelnde Therapiemitarbeit von Patienten jedoch zunehmend beklagt (Petermann u. Mühlig 1998). Der Begriff der Non-Compliance wird für fehlende Krankheits- oder Therapieeinsicht, für Therapieverweigerung, mangelnde Medikationsdisziplin sowie für Defizite
Tom zusammenarbeitet, betont daher, dass es besonders wichtig für Tom wäre, Rezidive anhand von Prodromen (Vorläufersymptome, die vor dem eigentlichen psychotischen Schub auftreten) zu erkennen. In Zusammenarbeit mit einem Psychiater versucht Tom, die geeignete medikamentöse Therapie für seine Erkrankung zu finden. Es wird ihm beispielsweise ein Depotneuroleptikum angeboten, das nur einmal pro Monat appliziert werden muss. Eine Alternative ist ein Neuroleptikum in Form von Tabletten, das Tom regelmäßig selbst einnehmen müsste. Da beide Therapievarianten sich durch unterschiedliche Wirkungs-Nebenwirkungs-Profile auszeichnen und Tom lernen muss, die für ihn optimale Therapie zu finden, schlägt ihm sein Psychotherapeut die Teilnahme an einer Psychoedukation vor. Hier soll Tom das Wissen erwerben, das ihm eine eigenständige Entscheidung für eine Therapie ermöglicht und ihn befähigt, auch im Alltag mit seiner Erkrankung umzugehen. Zunächst ist Tom skeptisch, weil von einer Gruppenschulung die Rede war. Viele Ängste beschäftigen ihn, da er sich schon lange nicht mit anderen Menschen intensiv auseinandergesetzt hat. Aber Tom spürt, dass er mit mehr Wissen über seine Erkrankung, einem gestärkten Selbstwertgefühl und der Überzeugung, etwas für sich und gegen seine Erkrankung tun zu können, wieder mehr Elan und Lebensmut entwickeln kann.
im Wissen oder im Umgang mit der Erkrankung verwendet. Die Non-Compliance kann eine Vielzahl von Erscheinungsformen haben, und auch die Bedingungsfaktoren und Ursachen sind vielfältig. Es können intentionale (z. B. absichtliches Weglassen der Medikamente, Therapieabbruch) aber auch non-intentionale Gründe für Non-Compliance vorliegen (z. B. bei einem Informationsdefizit oder kognitiven Grenzen). Bei den meisten chronischen Erkrankungen erscheint die Bereitschaft zur Therapiemitarbeit gering bis mittelstark. Dies ist besonders für chronische Erkrankungen mit einem unregelmäßigen Verlauf und wechselnder Befindlichkeit der Fall. Die höchsten Non-Compliance-Raten zeigen Patienten mit Asthma, Diabetes, Hypertonie und Rheuma. ! Die Compliance-Rate bei chronisch Kranken ist dann besonders gering, wenn die persönlichen und individuellen Konzepte und Vorstellungen über Entstehung, Verlauf, Prognose und Behandlung der Erkrankung deutlich von den medizinisch-naturwissenschaftlichen Krankheitsmodellen abweichen und wenn der Patient die Risiken der Therapie höher einschätzt als ihren Nutzen (z. B. Gabe von Kortison oder Psychopharmaka).
Eine Verbesserung der Compliance bedeutet daher in erster Linie den Aufbau sowie die Aufrechterhaltung einer ange-
197 12.3 · Praktische Voraussetzungen
. Abb. 12.1. Behandlungsbegleitende Therapieförderung. (Aus Petermann 1998, S. 15)
messenen Therapiemotivation. Hierzu gehören neben der konsequenten Teilnahme am therapeutischen Prozess die Einhaltung von Untersuchungs- und Nachsorgeterminen, die korrekte Medikamenteneinnahme, die aktive Veränderung des Lebensstils (z. B. gesunde Ernährung, Bewegung,
Stressabbau) sowie der Abbau von Gesundheitsrisiken (z. B. Rauchen, Alkohol- und Drogeneinnahme). Diese Ziele lassen sich insbesondere im Rahmen von Patientenschulungen und verhaltensmedizinischen Maßnahmen erfolgreich realisieren.
Ziele von Psychoedukation 4 Aufklärung über Diagnose, Ursachen und notwendige Behandlungsschritte 4 Aufbau eines angemessenen Störungsmodells 4 Fallbezogene Aufbereitung und Vermittlung krankheits- und behandlungsbezogenen Wissens (Aufgaben des Kindes, Rehabilitation der Eltern, Einbeziehen der Schule, Transfer in den Alltag) 4 Sensibilisierung der Körperwahrnehmung mit dem Ziel der Rezidivprophylaxe (z. B. Warnsignale, Prodromalsymptome oder Überlastungsanzeichen erkennen)
12.3
Praktische Voraussetzungen
Psychoedukation findet in verschiedenen Settings, etwa im Einzel- oder Gruppengespräch, statt und umfasst eine Mischung unterschiedlicher methodisch-didaktischer Mittel. Die Gruppenpsychoedukation hat gegenüber der Einzelberatung einige Vorteile, da die Betroffenen (bzw. ihre Angehörigen) nicht nur mit dem Therapeuten, sondern auch mit
4 Anleitung und Unterstützung des Kindes und der Eltern beim Aufbau von spezifischen und allgemeinen Fertigkeiten zum eigenverantwortlichen Selbstmanagement 4 Aufbau einer allgemein gesundheitsförderlichen Lebensweise (z. B. sportliche Aktivität, gesunde Ernährung, Vermeidung von Stress) 4 Erwerb sozialer Kompetenzen (z. B. Selbstbehauptung und Kommunikationskompetenz) und Mobilisierung sozialer Unterstützungsressourcen (Angehörige, Freunde) 4 Aufbau einer langfristigen Therapiemotivation und Compliance
anderen Mitbetroffenen und Angehörigen Erfahrungen austauschen können. Gleichzeitig können im Rahmen der Gruppenedukation alltagsnahe Rollenspiele durchgeführt werden, die den Bezug zum Alltag der Betroffenen herstellen. Die Erfahrung, mit der Erkrankung nicht allein zu sein, kann die Akzeptanz der Erkrankung fördern und die Motivation steigern, sich aktiv in den Therapieprozess einzubringen. Innerhalb einer Gruppe können Betroffene mit
12
198
Kapitel 12 · Psychoedukation
positivem Krankheitsverlauf oder optimistischer Grundhaltung als positives Modell fungieren und auf Patienten mit kritisch-pessimistischer Grundhaltung oder progredientem Krankheitsverlauf als Motivatoren wirken. Die Gruppenpsychoedukation ist jedoch nicht für jeden Patienten geeignet. Die Zielgruppen der Psychoedukation sind betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Erwachsene, Angehörige und Eltern. Zu den methodisch-didaktischen Vermittlungsformen zählen der Vortrag, die Gruppendiskussion, Dialog, Demonstration, Verhaltensübungen oder Rollenspiele. Zusätzlich kommt neben verbalen Vermittlungsformen häufig schriftliches Informationsmaterial wie weiterführende Literatur, Broschüren, Videos oder ergänzendes Anschauungsmaterial (z. B. graphische Darstellungen, Schaubilder) zum Einsatz. Besonders bei Kindern und Jugendlichen hat sich die Verwendung von Fallbeispielen oder Kurzgeschichten als hilfreich erwiesen. In den letzten Jahren hat sich die Bibliotherapie, z. B. in Form von Selbsthilfemanualen, weiter etabliert. Diese Selbsthilfebücher (z. B. Petermann u. de Vries 2007) für Betroffene, Angehörige oder Eltern lassen sich den hier genannten psychoedukativen Prinzipien zuordnen. > Fazit
12
Psychoedukation findet als Einzelgespräch (z. B. im Rahmen einer ärztlichen Aufklärung) oder im Rahmen psychoedukativer Gruppenschulungen unter Verwendung unterschiedlicher methodisch-didaktischer Vermittlungsformen statt. Die Vorteile der Gruppenschulung liegen in: 4 einer effektiven Wissensvermittlung, 4 der Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch unter Betroffenen, 4 der Möglichkeit, alltagsnahe Rollenspiele und Übungen durchzuführen, 4 der Möglichkeit, einzelne Patienten als »positives Modell« zu nutzen.
12.4
Darstellung des Verfahrens
12.4.1 Präventive Psychoedukation bei Kindern
und Jugendlichen Präventive Psychoedukation bei Kindern und Jugendlichen möchte in erster Linie Stress vermindern und den Umgang mit Belastungen und Risikobedingungen verbessern. Schon Kinder erleben in einem hohen Ausmaß Stress und weisen psychische und körperliche Belastungssymptome auf. Sie fühlen sich angespannt, nervös, unruhig, unwohl und ängstlich, haben Bauch- und Kopfschmerzen oder leiden unter Ein- und Durchschlafstörungen. In einer Studie von Hampel (2001) geben nur 36% von 1000 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 8 und 14 Jahren
an, sie könnten ohne Schwierigkeiten durchschlafen. Viele Kinder berichten dagegen von besorgniserregenden Grübelgedanken und von somatischen Beschwerden. Bei Dritt- und Viertklässlern leiden annähernd 40% an Erschöpfung, und beinahe der gleiche Prozentsatz Kinder klagt über Einschlafschwierigkeiten. Längsschnittstudien (Compas et al. 1989) sprechen davon, dass die Beschwerden der Kinder und Jugendlichen mit Stressereignissen korrelieren und dass hier besonders Alltagsbelastungen (»daily hassles«) eine wichtige Rolle spielen. Bringt man die Belastungssituationen von Kindern und Jugendlichen in eine Rangreihe, so werden am häufigsten schulbezogene Belastungsmomente (Klassenarbeit, Angst vor Durchfallen, Gefühle der Unfähigkeit bei Klassen- oder Hausarbeiten, Wunsch nach guten Noten) genannt. Ebenfalls häufig sind Sorgen und Ängste im Zusammenhang mit dem Elternhaus sowie mit Geschwistern und Gleichaltrigen (soziale Stressoren). Bei Jugendlichen beeinflussen vor allem familiäre Risikofaktoren (z. B. mangelnde Aufsicht oder Desinteresse der Eltern, Eheprobleme, psychische Erkrankung eines Elternteils, finanzielle Probleme der Familie) die Entstehung psychischer Erkrankungen. Der Begriff des Stressors wird dabei meist unspezifisch verwendet und bezieht sich auf schädliche externale Reize, körperliche Anstrengungen und Belastungen, subjektive Bedrohungen, physiologische Reaktionsmuster oder psychische Zustände. Psychische Beanspruchung kann dabei verstanden werden als individuelle, zeitlich begrenzte Auswirkung der psychischen Belastung in Abhängigkeit von Stressbewältigungskompetenzen und dem aktuellen physischen und psychischen Zustand (Petermann u. Schmidt 2006). Die Begriffe Ressourcen, Resilienz, Schutz- und Kompensationsfaktoren werden in der klinischen Kinderpsychologie und Kinderpsychotherapie häufig synonym verwendet. Sie beschreiben entwicklungsfördernde und gesunderhaltende Merkmale oder Mechanismen (Petermann u. Schmidt 2006, 7 Kap. III/2). Risiko- und Schutzfaktoren können auf Seiten der Person (des Kindes) und der Umgebung betrachtet werden. Da das Kind sehr stark in sein soziales Netzwerk eingebunden ist, ist eine Einbindung der Eltern, Geschwister und des primären sozialen Umfeldes stets sinnvoll. Die personenbezogenen Aspekte stehen dennoch im Mittelpunkt des Anti-Stress-Trainings. Insgesamt verfügen Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer geringen Lebenserfahrung über eher unausgereifte Stressbewältigungskompetenzen. Ein Viertel der Kinder im Grundschulalter fühlt sich beispielsweise völlig hilflos belastenden Situationen ausgesetzt (Lohaus u. Klein-Heßling 2001). Auch im Alter zwischen 12 und 18 Jahren kann lediglich ein Sechstel der Befragten Bewältigungsmaßnahmen gegen Stress nennen. Zusätzlich zeigt sich in vielen Studien ein Geschlechtereffekt. Mädchen neigen demnach dazu, passive Strategien der Stressbewältigung einzusetzen (z. B. Emotionsregulati-
199 12.4 · Darstellung des Verfahrens
on, Bagatellisieren, Medikamenteneinnahme), während Jungen auf aktive Strategien wie aktives Problemlösen zurückgreifen und ihre Emotionen weniger stark regulieren. Alter und Geschlecht haben demnach einen wichtigen Einfluss auf die Stressbewältigungskompetenz allgemein und auf die Art der Bewältigung. Ein Anti-Stress-Training kann als Präventionsmaßnahme helfen, Kinder und Jugendliche gegenüber stressbedingten Beschwerden und Erkrankungen weniger vulnerabel zu machen.
Alle Trainings beginnen mit einer Wissensvermittlung und Wahrnehmungsschulung. Anschließend lernen die Kinder neun günstige Stressbewältigungsformen kennen, die in den zeitintensiven Varianten AST_6 und AST_8 eingehend mit den Kindern eingeübt werden. Mit den Kindern werden persönliche Stressoren und ungünstige Verhaltensweisen identifiziert. Ziel ist es, dass die Kinder lernen, Stressoren als lösbare Probleme zu definieren.
Anti-Stress-Training
Kontraindikationen und Indikationsbegrenzungen
Bei dem Anti-Stress-Training (AST) für Kinder von Hampel und Petermann (2003) handelt es sich um ein kognitivbehaviorales Trainingsprogramm, mit dem aktuelle psychische Belastungen reduziert und die Stressbewältigungskompetenz gesteigert werden können. Auf diese Weise kann der langfristige Umgang mit Belastungen verbessert werden. Ziel eines Stressbewältigungstrainings für Kinder und Jugendliche sollte sein, persönliche Risikofaktoren zu minimieren und Schutzfaktoren zu stärken. Nach Petermann (2000) steht dabei die Förderung kindlicher Schutzund Widerstandsfaktoren im Zentrum des Engagements. Im Rahmen eines Stressbewältigungstrainings können die Bewältigungsressourcen von Kind und Familie gestärkt werden, und es werden anhaltende Beeinträchtigungen durch chronische Stressreaktionen gemindert und dysfunktionale psychische und behaviorale Entwicklungen vermieden.
Das Anti-Stress-Training sollte bei Kindern mit massiven körperlichen (z. B. neurologischen Erkrankungen) oder psychischen Beeinträchtigungen (massiven Verhaltensstörungen, Lernbehinderungen, geistigen Behinderungen) nicht eingesetzt werden. Bei Kindern und Jugendlichen, die unter einer diagnostizierten psychischen Störung oder einer Störung des Sozialverhaltens leiden, sind psychiatrische und/ oder (verhaltens-)therapeutische Interventionen indiziert. Eine rein stressreduzierende Maßnahme erscheint bei schweren Störungen nicht ausreichend. Bei Kindern mit einer geistigen Behinderung oder Lernbehinderung erscheinen gezielte Fördermaßnahmen indiziert, da diese basale kognitiv-behaviorale Fertigkeiten in den Fokus der Intervention stellen.
Varianten. Das Anti-Stress-Training von Hampel und Pe-
termann (2003) liegt in drei Varianten vor, die sich bezüglich ihrer Intensität und Dauer unterscheiden und in verschiedenen Präventionskontexten zum Einsatz gebracht werden können: 4 Anti-Stress-Training-4 (AST_4): Die vierstündige Primärprävention zielt auf gesunde Kinder ab, die bereits leichte Anzeichen von Überbeanspruchung zeigen (z. B. Nervosität, Unlust, Schlafschwierigkeiten). 4 Anti-Stress-Training-6 und Anti-Stress-Training-8: Intensivprogramme von 6 und 8 Stunden Dauer zum Einsatz bei Kindern, die bereits stressbedingte Erkrankungen (z. B. Anpassungsstörungen; reaktive, affektive Störungen) zeigen. Im Rahmen einer Sekundär- und Tertiärprävention soll einer Chronifizierung der Beschwerden vorgebeugt und Folgeerkrankungen (Komorbiditäten) verhindert werden. 4 Ergänzungsbaustein (AST_2): Zusätzlich zu den Grundmodulen liegt ein zweistündiger Ergänzungsbaustein vor, der in andere Patientenschulungsprogramme (z. B. Neurodermitistraining, Asthmatraining) integriert werden kann. Das Modul kann alternativ auch im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsförderung (Primärprävention), beispielsweise im Schulkontext, eingesetzt werden.
Ziele. Die psychische und körperliche Belastung der Kinder und Jugendlichen durch Stress soll durch das Training reduziert werden. Im Vordergrund stehen dabei die Stressreduktion, im Sinne einer besseren Wahrnehmung und Kontrollierbarkeit von Stressoren, sowie das Stressmanagement durch Aufbau günstiger Stressverarbeitungsfertigkeiten. Bei den beiden Kurzversionen (AST_2 und AST_4) liegt der Schwerpunkt auf einer Stressreduktion über Entspannung, während bei den intensiven Programmen Verhaltensstrategien zum Umgang mit Belastungsmomenten eingeübt werden. Ziele des Anti-StressTrainings sind eine verbesserte Wahrnehmung von Stressoren, eine angemessene Bewertung des Stressgeschehens (kognitive Umbewertung) sowie eine Veränderung des Verhaltens. So sollen ungünstige, Stress fördernde Verhaltensweisen und Kognitionen ab- und gleichzeitig günstige Bewältigungsstrategien und Kognitionen aufgebaut werden. Methoden. Das Anti-Stress-Training umfasst dabei verschiedene verhaltenstherapeutische Methoden. Die verschiedenen Trainingselemente sollten dabei so kombiniert werden, dass sie flexibel auch im Alltag des Kindes Anwendung finden können.
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200
Kapitel 12 · Psychoedukation
Elemente der Verhaltenstherapie, die im Anti-Stress-Training zum Einsatz kommen
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4 Vertrag: Zwischen Trainer und Kind wird ein Vertrag geschlossen, um die Verbindlichkeit für die Kinder zu schaffen. Auch für Kinder gelten hier bereits klare Regeln, die im Training eingehalten werden müssen. 4 Wissensvermittlung: Durch Illustrationen wird deutlich, dass verschiedene Aspekte des Stressgeschehens unterscheidbar sind. Bei Stressoren wird zwischen inneren und äußeren Anforderungen unterschieden, bei der Stressantwort zwischen der körperlichen, emotionalen und kognitiven Ebene. Wichtig ist eine altersgerechte Aufbereitung der Wissensinhalte. 4 Diskriminationslernen: Die Kinder lernen, Stressoren auf der emotionalen und körperlichen Ebene zu unterscheiden und ihre Schwere einzuschätzen. Die Wahrnehmungsschulung sollte dabei am Anfang des Trainings stehen, um die Kinder für ihre Lebensumwelt und mögliche Stressoren zu sensibilisieren. 4 Selbstbeobachtung: Im Rahmen von Hausaufgaben lernen die Kinder, Stressmomente im Alltag besser zu erkennen und Zusammenhänge zwischen den Belastungssituationen und den Beanspruchungssymptomen (z. B. Kopfschmerz, Bauchschmerz, Unzufriedenheit) herzustellen. Die Kinder lernen, welche Situationen sie als entspannend erleben. 4 Kognitive Umstrukturierung: Das Stressgeschehen soll neu bewertet werden. Das Kind lernt, dass Stressoren Herausforderungen darstellen und mit passenden Bewältigungsmethoden (z. B. Ablenkung, Suche nach sozialer Unterstützung) bewältigt werden können.
Das Anti-Stress-Training (AST) ist als Gruppentrainingsprogramm für Kinder im Alter zwischen acht und 13 Jahren konzipiert worden. Eine Gruppengröße von sechs Kindern hat sich als geeignet erwiesen. Bei der Gruppenzusammensetzung sollte auf Homogenität von Alter und Geschlecht der Kinder geachtet werden. Auch die Art, Dauer und Intensität der Belastung der einzelnen Kinder sollte vergleichbar sein. Trainingsmaterial. In den vier Trainings stehen insgesamt schulische Belastungssituationen im Vordergrund. Die Rollenspiele und Gesprächsbausteine erlauben jedoch auch eine Zentrierung auf andere Problembereiche. Die Utensilien, die für das Training nötig sind, sind Schreibmaterialien (Schreibkarten, Folien) sowie Spielmaterialien.
4 Erholungsverhalten: Den Kindern wird die Bedeutung von Pausen und Erholung verdeutlicht. Die Eltern werden eingebunden, damit gemeinsame Erholungsaktivitäten eingeführt werden können. 4 Positive Selbstinstruktionen: Den Kindern werden in Gesprächen und im Rahmen einer kindgerechten Entspannungsübung (vgl. etwa die Kapitän-Nemo-Geschichten, s. Petermann 2009) positive Selbstinstruktionsformeln vermittelt. Die positiven Selbstinstruktionen (z. B. »Nur ruhig Blut, dann geht alles gut!«) werden in Rollenspielen eingeübt. 4 Modelllernen: Den Kindern wird über Videosequenzen oder im Rahmen von Rollenspielen angemessenes Verhalten vorgelebt. Dabei ist es wichtig, Material mit altersangemessenen und für das Kind attraktiven Modellen zu wählen. 4 Transfer in den Alltag: Die Kinder werden instruiert, die Entspannungsübungen sowie die positiven Selbstinstruktionen fest in den Alltag zu integrieren. Wichtig ist auch, die Erholungsphasen fest in den Alltag der Kinder zu übernehmen. 4 Beteiligung der Eltern: Das Einbeziehen der Eltern stellt sicher, dass das neu erlernte Verhalten der Kinder in der Familie akzeptiert und unterstützt wird. Wichtig ist zudem, innerfamiliäre Stressoren zu erkennen und diese mit Hilfe der Eltern zu minimieren. Die Eltern lernen das Stressniveau und das Stressverhalten ihres Kindes kennen und entwickeln ein Verständnis für die spezielle Problemlage des Kindes.
12.4.2 Psychoedukation bei Kindern
und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen Soziale Angst und soziale Phobie Sozial unsichere Kinder fallen im sozialen Kontakt weniger auf als Kinder mit hyperkinetischen Störungen, und ihr Leiden bleibt nicht selten unerkannt, weil sie ihren Eltern und Betreuern pflegeleicht, ruhig und überlegt vorkommen. Sie sind im Umgang mit anderen Personen schüchtern und ängstlich und vermeiden Situationen, in denen sie sich beobachtet und sozial exponiert fühlen. Der fehlende Sozialkontakt dieser Kinder wird von einigen Betroffenen als eine gewollte Isolation beschrieben, andere betroffene Kinder leiden unter ihrem Einzelgängertum. Insgesamt zeigen sozial unsichere Kinder Defizite im Umgang mit anderen Menschen, die sich in einer reduzierten Sprachfülle, Gestik und Mimik zeigen. Hintergrund dieser Unsicherheit in sozialen Situationen sind kindliche Trennungs-, Kontakt- oder soziale Ängste.
201 12.4 · Darstellung des Verfahrens
. Tab. 12.2. Überblick über den Aufbau des Trainings für sozial unsichere Kinder von Petermann und Petermann (2006); hervorgehoben alle Trainingseinheiten mit psychoedukativen Anteilen Zielgruppe
Diagnostik Indikationsstellung
Trainingsvorbereitung
Einzeltraining
Kennenlernphase
Gruppentraining
Schulkind
2 Sitzungen
1 Sitzung
4 Sitzungen à 100 min oder 8 Sitzungen à 50 min
2 Sitzungen à 50 min in der Kindergruppe
6 Sitzungen à 100 min oder 12 Sitzungen à 50 min
Kindergartenkind
2 Sitzungen
1 Sitzung
6 Sitzungen à 50 min
2 Sitzungen à 50 min in der Kindergruppe
6 Sitzungen à 100 min oder 12 Sitzungen à 50 min
Eltern
1 Sitzung à 50 min
5 Sitzungen à 50 min (mindestens) mit den Eltern
Lehrer
1 Sitzung à 100 min
Ängste mit irrationalen Erwartungen sowie tatsächliche Defizite im Sozialverhalten können sozial unsicheres Verhalten begründen. Durch ein Vermeiden kritischer, angstauslösender Situationen wird jedoch wie in einem Teufelskreis das defizitäre Verhalten verstärkt, und es kommt in Folge zu einer Angstverstärkung, die wiederum das Vermeidungsverhalten verstärkt. Therapieziele. Das Oberziel eines Trainings mit sozial unsicheren Kindern besteht darin, sozial kompetentes Verhalten aufzubauen (Petermann u. Petermann 2006). Die Voraussetzungen für sozial kompetentes Verhalten sind dabei relative Angstfreiheit, ein stabiles und positives Selbstkonzept sowie Selbstvertrauen und Selbstsicherheit. Differenzierte soziale Fertigkeiten umfassen dabei die Fähigkeit, soziale Situationen adäquat wahrnehmen und soziale Rollen übernehmen zu können. Wichtig ist dabei, dass das Kind lernt, sich in sozialen Interaktionen sicher zu fühlen und sich gegenüber anderen Interaktionspartnern in sozial angemessener Weise behaupten zu können. Theoretische Grundlagen des Trainings. Das Training für sozial unsichere Kinder ist ein multimodales, multimethodal angelegtes kognitiv-behaviorales Trainingsprogramm, das von Elternarbeit begleitet wird. Das Programm ist theoretisch an das Konzept der »erlernten Hilflosigkeit« angelehnt. Bei sozial unsicheren Kindern spielt die spezifische Hilflosigkeit, die sich in einer mangelnden Reaktionsbereitschaft und der Erwartung sozialen Misserfolgs äußert, eine wichtige Rolle. Daher ist ein Ziel des Trainings, die Erwartungen der Kinder zu verändern, um so ihre Reaktionsbereitschaft zu
Nachgespräch: 1 Sitzung à 100 min
erhöhen. Positive Erwartungen sind jedoch Resultat positiver Erfahrungen, so dass das Kind zu einer Reaktion gebracht werden muss, über die es positive Erfahrungen machen kann. Das Kind muss erleben, dass die Situationen, in die es gerät, von ihm selbst beeinflusst werden können. Da man davon ausgehen kann, dass sich Elternverhalten und das Verhalten der Kinder wechselseitig beeinflussen, ist ein zweigleisiges Vorgehen angebracht. Im Rahmen des Trainings für sozial unsichere Kinder werden einerseits die Kinder in ihrer Handlungsfähigkeit und sozialen Kompetenz geschult, andererseits werden die Eltern bezüglich ihres Interaktionsstils beraten. Die psychoedukativen Anteile des Trainings finden sich in erster Linie in der Elternschulung sowie in einzelnen Modulen, die mit dem Kind erarbeitet werden. . Tab. 12.2 zeigt beispielhaft den Aufbau eines solchen Trainings. Den Gruppentrainingssitzungen sind dabei Einzeltrainingssitzungen vorgeschaltet, damit die ersten Ängste im Rahmen der Einzelintervention abgebaut und Grundfertigkeiten sozialer Kompetenz eingeübt werden können. Das Elterntraining sowie einzelne Module des Einzeltrainings der Kinder erfüllen die Kriterien der Psychoedukation. Die Gruppenintervention sollte dagegen eher in den Bereich der Kinderpsychotherapie eingeordnet werden. Im Rahmen der psychoedukativen Einzeltrainings erlernen die Kinder Grundtechniken der Selbstbeobachtung und Selbstinstruktion. Da die Erstmanifestation der Angststörung in verschiedenen Altersstufen auftritt, ist eine Unterteilung in Kindergarten- und Schulkinder sinnvoll. Im Rahmen des altersangepassten Vorgehens kann der kognitive und emotionale Entwicklungsstand der Kinder berücksichtigt werden.
Beispiel »Wovor haben Superman und Micky Maus Angst?« – 3. Einzeltrainingsmodul Kinderschulung Ziel der Sitzung ist es, den Kindern eine realistische Einschätzung ihrer Angst zu vermitteln und ihnen zu zeigen, dass auch stark erscheinende Personen Angst haben kön6
nen. Anhand von Techniken des Diskriminationslernens und der Selbstbeobachtung werden die Erwartungen der Kinder an fremdes und eigenes Verhalten reflektiert, und es
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202
Kapitel 12 · Psychoedukation
werden kleinschrittig negative Selbsteinschätzungen hinterfragt und korrigiert. Hierzu werden die Papier- und Bleistiftspiele »Wovor hat Superman Angst?« (alternativ: »Wovor hat Micky Maus Angst?«) sowie der Arbeitsbogen »Wovor habe ich Angst?« eingesetzt. Das Selbstvertrauen der Kinder wird gestärkt, indem ihnen gezeigt wird, dass auch stark erscheinende Personen Angst haben können und dass man trotz Angst erfolgreich sein kann. Durch die Identifikation mit dem starken Modell fällt es dem Kind meist leichter, über seine eigenen Ängste zu reden. Wichtig ist, dass der Therapeut betont, dass das Gefühl, vor etwas Angst zu haben, das eigene Verhalten und die eigenen Gedanken beeinflusst. Zum Beispiel führt die Angst vor anderen dazu, dass man ihnen nicht in die Augen schauen kann, dass man keine Freude oder Trauer zeigen möchte oder dass man aus Nervosität an den Nägeln kaut
Therapeutische Elemente der Module. Um die Kinder in
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den Bereichen der sozialen Wahrnehmung, des Selbstbewusstseins und Selbstvertrauens sowie des selbstsicheren Sozialverhaltens zu schulen, werden verschiedene Materialen wie Videosequenzen, Fotogeschichten, schematische Bilder, Comics, Selbstinstruktionskarten, symbolische Figuren (Micky Maus, Superman) sowie Rollenspiele eingesetzt (s. Beispiel). Durch die Arbeit mit visuellen Arbeitsmaterialien können die Informationen kindgerecht vermittelt werden. Zusätzlich wird die Fähigkeit des Kindes gefördert, die Bedeutung von Gestik und Mimik in der Interaktion mit anderen Kindern und Erwachsenen zu erarbeiten. Eine intensive Selbstbeobachtung im Rahmen der Bearbeitung der »Detektivbögen« ermöglicht es dem Kind, Situationen zu erkennen und zu bewerten, in denen es Angst hat. Schrittweise wird das Erleben über die Förderung sozialer Kompetenzen auf Erfolgserlebnisse gelenkt, so dass sich das Kind im sozialen Kontakt kompetenter und weniger ängstlich-unsicher fühlt. Das Training arbeitet dabei mit wiederkehrenden Elementen, die im Sinne von Ritualen das Vorgehen für die Kinder nachvollziehbar, vorhersagbar und transparent machen. Eine Ritualisierung des Vorgehens vermittelt den Kindern die Sicherheit, die für den Erwerb neuer Kompetenzen essenziell wichtig ist.
12.4.3 Patientenschulung bei chronisch
körperlich kranken Kindern und Jugendlichen Die genaue Abschätzung der Häufigkeit chronischer Erkrankungen erfordert breit angelegte epidemiologische Studien, die bisher jedoch vorwiegend in den USA durchgeführt wurden. Schätzungen der Prävalenz chronischer Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren
oder mit einem Stift herumspielt. Das Kind wird befragt, welche Verhaltensweisen ihm an sich auffallen, wenn es Angst hat. Es wird eine Liste erstellt, in der alle abzubauenden und zu erlernenden Verhaltensweisen gegenübergestellt werden. Verlernen sollen die Kinder dabei alle angstbedingten Verhaltensweisen (z. B. Wegsehen, Nägelkauen, undeutliche Aussprache), während sie gleichzeitig Alternativver haltensweisenund positive Kognitionen und Selbstinstruktionen erlernen sollen. Danach werden mit dem Kind Vorschläge erarbeitet, wie das erwünschte Verhalten (aus der Erlern-Liste) erprobt werden kann. Ein oder zwei sozial sichere Verhaltensweisen werden mit dem Kind zusammen ausgewählt und in den Hausaufgabenbogen (Detektivbogen) eingetragen. Bis zur Folgesitzung hat das Kind den Auftrag, wie ein Detektiv zu notieren, wann es die beiden vereinbarten Verhaltensweisen gezeigt hat.
schwanken zwischen 10% und 31%. Bringt man die chronischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters in eine Rangreihe, so treten am häufigsten Asthma (bis 10%), respiratorische Allergien (9,7%) und Neurodermitis (4,1%) auf (Noeker u. Petermann 2008). Kinder und Jugendliche sind aufgrund ihrer Erkrankung bereits früh und in einer Zeit der psychosozialen Vulnerabilität mit multiplen Belastungsfaktoren konfrontiert. Chronische Erkrankungen gewinnen in den letzten Jahren immer stärker an Bedeutung, da viele Erkrankungen, die früher tödlich verliefen, heute durch moderne Therapien behandelt werden können und sich die Lebenserwartung dieser Patienten dadurch deutlich verbessert hat. Bedingt durch die enormen sozioökonomischen Kosten, die aus der Langzeittherapie chronisch kranker Menschen entstehen, rücken die psychosozialen Faktoren, die die Bereitschaft des jungen Patienten und seiner Eltern beeinflussen, ins Zentrum des Interesses. Gerade bei chronisch körperlich kranken Jugendlichen besteht ein Missverhältnis zwischen der Schulungsbedürftigkeit (aufgrund mangelnden Krankheits- und Behandlungswissens) einerseits und einer geringen Schulungsbereitschaft andererseits. Im Kindesund Jugendalter können daher krankheitsbedingte und entwicklungsbedingte Probleme in ungünstiger Weise verknüpft sein und Entwicklung und Krankheitsprozess negativ beeinflussen. An dieser Stelle sollen Patientenschulungsmaßnahmen den Umgang des Betroffenen und seiner Familie mit der Erkrankung verbessern und über eine Minderung der individuellen Belastung hinaus eine Grundlage für eine gesunde Entwicklung schaffen (Petermann 2003, 2008).
Besonderheiten von Patientenschulungen für Kinder und Jugendliche Jedes zehnte Kind in Deutschland leidet an einer chronischen, körperlichen Erkrankung. Unabhängig von der
203 12.4 · Darstellung des Verfahrens
Schwere der Erkrankung oder ihrer Prognose beeinflusst diese Krankheit nachhaltig das Leben des Kindes und seiner Familie. Die klinische Kinderpsychologie befasst sich seit Jahren intensiv mit den Folgen psychosozialer Belastungen, die im Rahmen chronischer Erkrankungen auftreten (Noeker u. Petermann 2008). Chronisch kranke Kinder sind meist in ihrer Alltagsaktivität und in ihren sozialen Rollen eingeschränkt, und sie sind kontinuierlich auf medizinische Hilfe angewiesen. Für die subjektive Bewertung der eigenen Lebensqualität sind dabei die Sekundärbeeinträchtigungen in Form von Einschränkungen in Schule und Freizeit schwerwiegender als die Erkrankung selbst. Chronisch kranke Kinder müssen daher eine doppelte Anpassungsleistung erbringen, da sie neben der Bewältigung ihrer Erkrankung auch die alterstypischen und normativen Entwicklungstransitionen bewältigen müssen. Die spezifische Anpassung an die Erkrankung zieht meist die Adaptation an altersgemäße Entwicklungsaufgaben in Mitleidenschaft und erhöht das Risiko für komorbide psychische Störungen um das Doppelte. Verhaltenspsychologische Programme erscheinen geeignet, um direkte, krankheitsbezogene und indirekte, psychosoziale Beeinträchtigungen über die Vermittlung krankheitsspezifischen Wissens und Krankheitsbewältigungskompetenzen zu mindern. Heute gibt es Patientenschulungsprogramme für Kinder, Jugendliche und Eltern für verschiedenste chronische Erkrankungen. Da sich die Programme in ihrem Aufbau stark ähneln, sollen hier die Trainingskonzepte für Kinder mit Asthma bronchiale sowie für Kinder und Jugendliche mit Neurodermitis exemplarisch dargestellt werden. Analog gestaltete Eltern-KindTrainings liegen für Adipositas (Petermann u. Pudel 2003) sowie für Diabetes mellitus Typ I (Noeker u. Petermann 2008) vor.
Patientenschulung bei Kindern und Jugendlichen mit Asthma bronchiale Das Asthma-Verhaltenstraining – einschließlich der assoziierten Elternschulung – verfolgt als Grobziele die Verbesserung der familiären Unterstützungsmöglichkeiten, die Stärkung der Eigenverantwortung im Umgang mit dem Asthma sowie die Förderung der sozialen Integration des Asthmatikers (7 Kap. III/45). Aus diesen Zielen lassen sich folgende Teilziele ableiten: 4 Wissensvermittlung und Wahrnehmungsschulung, 4 Verbesserung der emotionalen und kognitiven Krankheitsverarbeitung, 4 Stärkung der Selbstkontrolle, 4 Erlernen sozialer Fertigkeiten, 4 Bewältigung familiärer Belastungen. In früheren Konzepten war die Wissensvermittlung der wichtigste und umfangreichste Teil der Patientenschulung. Heute geht man davon aus, dass Wissenserwerb nicht zwingend eine Verhaltensänderung bewirkt. Dies hatte zur Fol-
ge, dass man sich darum bemüht, praktische Bewältigungsfertigkeiten einzuüben. Die praktischen Kompetenzen umfassen Atem- und Körperwahrnehmungsschulung, Fertigkeiten des Notfallmanagements, Entspannungstechniken, Emotionsregulationstechniken bei Panik und Erstickungsangst sowie sozial-kommunikative Fertigkeiten. Weitere Ziele sind die Stärkung von Behandlungsmotivation, Compliance und Selbstwirksamkeitserwartung. Damit stabile Selbstwirksamkeitserwartungen aufgebaut werden, müssen die Inhalte der Patientenschulung an die verfügbaren Ressourcen des Kindes angepasst werden. In der klinischen Praxis sollte die Abfolge der Module an die individuellen Lernfortschritte des Kindes adaptiert werden. Wichtig ist dabei auch die didaktisch sinnvolle und kindgerechte Gestaltung der Arbeitsmaterialien, die einen Transfer des Gelernten in den Alltag des Kindes und seiner Familie ermöglichen soll. Praxis des Asthma-Verhaltenstrainings (AVT). Das Asthma-Verhaltenstraining ist für das stationäre und ambulante Setting geeignet und liegt für Vorschulkinder, Schulkinder und Jugendliche ab 15 Jahren vor (Schauerte et al. 2007). Die Gruppenschulungen der Kinder werden durch Elternschulungen begleitet. Die Gruppen werden von einem interdisziplinären Team aus Ärzten, Kinderpsychologen und Sporttherapeuten geschult. Die Schulung besteht aus maximal acht Sitzungen von 90 Minuten Dauer plus drei Elterngespräche von 2 Stunden Dauer. Die Schulungssitzungen finden ein- bis maximal zweimal wöchentlich statt. Die Inhalte der Gruppensitzung reichen von der Wissensvermittlung und Wahrnehmungsschulung über Techniken emotionaler und kognitiver Krankheitsverarbeitung bis zu Asthmamanagement-Techniken (s. Box). Die Eltern werden mit eingebunden und ebenfalls intensiv geschult, da nur durch eine gezielte und strukturierte Unterstützung des Kindes durch die Eltern ein eigenverantwortlicher, kompetenter Umgang mit der Erkrankung im Alltag erlernt werden kann. In der Elternschulung soll auf Erziehungsfragen sowie auf Fragen zum Asthma und zu familiären Problemen eingegangen werden. So können allgemeine und spezifische Ängste, Unsicherheiten und Bewältigungsprobleme sowie Zukunftsperspektiven für das erkrankte Kind thematisiert werden. Den Eltern werden praktische Bewältigungsstrategien aufgezeigt, so dass sie in der Lage sind, ihrem Kind optimale familiäre Unterstützung zu bieten. Das Asthma-Verhaltenstraining wurde in verschiedenen Settings (Langzeitrehabilitation, Sommer-Camps) evaluiert (Petermann 1997). Es konnten Verbesserungen in der asthmaspezifischen Selbstwirksamkeit sowie im Wissen über die Erkrankung und verschiedene Therapiemaßnahmen festgestellt werden. Ergebnisse zu Effektstärken liegen bislang noch nicht vor.
12
204
Kapitel 12 · Psychoedukation
Inhalte und Themen des Asthma-Verhaltenstrainings 4 Wissensvermittlung: 4 Selbstkontrolle und Asthma-Management: – Anatomie und Physiologie – Management der Dauertherapie – Pathophysiologie des Asthmas – Management akuter Krisen (Notfallplan) – Klinik des Asthmas – Tägliche Einschätzung asthmatischer Situationen – Diagnostik – Sportelemente und Erlernen von Atem- und Hilfs– Auslöser techniken (z. B. Lippenbremse, atemerleichternde Körperstellung) – Medikamente und deren Einnahme (z. B. Dosieraerosole, Kortison) – Entspannungstechniken 4 Soziale Fertigkeiten: – Prognose und Verlauf 4 Wahrnehmungsschulung: – Arztbesuch (Rollenspiel) – Wahrnehmung spezifischer Auslöser (z. B. Allergene, – Asthma und Schule (Rollenspiele) Infekte, unspezifische Reize, Rauchen, Sport) – Asthma und Freizeit (Rollenspiele) – Berufswahl – Frühzeitige Wahrnehmung von Atemnot und Asthma-Anfall – Asthma und Rauchen – Abgrenzung von 4 Emotionale und kognitive Krankheitsverarbeitung: Gleichaltrigen – Emotionaler Umgang mit der Abhängigkeit von Kortison – Asthma und Schule – Asthma und Freizeit – Ängste beim Arztbesuch – Erstickungsängste
Neurodermitis-Schulung (atopische Dermatitis)
12
Die familiäre Belastung, die aus der Neurodermitiserkrankung eines Kindes resultiert, ist aufgrund der Chronizität sowie der quälenden Juckreizsymptomatik besonders hoch. Viele Eltern von an Neurodermitis erkrankten Kindern nutzen jedes ihnen angebotene Heilverfahren in der Hoffnung, Linderung zu erzielen (7 Kap. III/43). Entscheidend für den Therapieerfolg bei der Neurodermitis ist jedoch das umfassende Wissen über die Erkrankung, ein sinnvolles Krankheitsmodell sowie die Fähigkeit, die Erkrankung zu akzeptieren und konsequent zu behandeln. Analog zu dem oben dargestellten Asthma-Training zielt auch die Neurodermitis-Schulung auf das Empowerment des Patienten, die Vermittlung krankheitsspezifischen Wissens sowie der Erwerb von Krankheitsbewältigungskompetenz ab. Ziele und Schulungseinheiten. Bei der NeurodermitisSchulung sollen primär positive und gesundheitsförderliche Lernerfahrungen vermittelt werden. Die konkreten Inhalte des Schulungsprogramms werden in Anlehnung an die heute bekannten Prädispositions-, Auslöse- und Aufrechterhaltungsfaktoren konzipiert. Als Oberziele können daher die Kratzreduktion, Juckreizreduktion, Allergenund Auslöservermeidung sowie die Steigerung der Compliance abgeleitet werden. Die Patienten und/oder deren Eltern werden in Gruppen von 4–8 Personen geschult. Das Trainerteam ist interdisziplinär zusammengesetzt und umfasst meist einen Kinderarzt oder Dermatologen, einen Psychologen sowie einen
Ökotrophologen für eine individuelle Ernährungsberatung bei allergischer Disposition. Bei ambulanten Schulungen werden die Eltern/Kinder in 6–10 Sitzungen umfassend geschult. Eine weitere Möglichkeit stellt die Patientenschulung im Rahmen eines stationären Aufenthaltes des Kindes dar. . Tab. 12.3 zeigt die Feinziele und Inhalte von Patientenschulungen mit atopischer Dermatitis. »Bremer Neurodermitis Training für Eltern«. Die Neurodermitis-Schulung liegt, ebenso wie die Schulung für Kinder und Jugendliche mit Asthma für verschiedene Ziel- und Altersgruppen (Kinder, Jugendliche, Eltern) vor (Petermann u. Warschburger 1999). Für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gibt es spezielle, kindgerechte Materialien, die dem jeweiligen Entwicklungsstand angepasst sind. Zentrales Element aller Schulungen ist der Abbau von Kratzverhalten, da nur dadurch eine langfristige Schädigung der Haut und Narbenbildungen verhindert werden können. In Bremen wurde das »Bremer Neurodermitis Training für Eltern« entwickelt (Petermann u. Warschburger 1999, 7 Kap. III/45vgl), das sich zum Ziel gesetzt hat, Eltern von Kleinkindern mit Neurodermitis zu unterstützen. Hierbei stehen die konkrete Hilfestellung im Alltag bei der Gestaltung eines optimalen Wohn- und Lebensumfeldes sowie die emotionale Entlastung der Eltern im Vordergrund. Die theoretischen Schulungseinheiten, die Wissen über Krankheitsbild, Auslöser, Juckreiz und Kratzen, Hautpflege und Stressbewältigung vermitteln, werden durch praktische Übungen (z. B. Rollenspiele, Eincremeübungen) ergänzt. Die Wissensvermittlung ist dabei am
205 12.6 · Empirie: Wirkmechanismen und Effektivität
. Tab. 12.3. Feinziele und Inhalte der Neurodermitis-Schulung Ziele
Vorgehensweisen
Konkrete Inhalte und Beispiele
Vermittlung krankheitsspezifischen Wissens
Wissensvermittlung
Ätiologie, Hautfunktionen, Therapie
Meiden problematischer Situationen (Auslöser, Allergene, Stress)
Selbstbeobachtung Wissensvermittlung
Tagebuch, Wochenbögen, Tagesprotokolle, Pollenflugkalender
Psychosoziale Belastungen reduzieren (Stressreduktion, Schulung der Kommunikationsfertigkeiten, Abbau von Stigmatisierungsangst)
Entspannungsverfahren Wissensvermittlung Soziales Verhaltenstraining
Progressive Muskelrelaxation Autogenes Training Problemlösestrategien Kognitives Refraiming Rollenspiele
Abbau des Kratzverhaltens, Aufbau von Alternativverhalten zum Kratzen
Wissensvermittlung Kratzkontrolltechniken Entspannungstechniken Autosuggestion
Information, Schulung von Kind und Eltern (operante Konditionierung) Kratz-Stopp-Übung, Habit Reversal, Ablenkung, Kühlesuggestion
Juckreizwahrnehmung beeinflussen und verändern
Selbstbeobachtung Entspannungsverfahren Kognitive Umlenkung
Tagebücher, Wochenbögen, Tagesprotokolle Progressive Muskelentspannung Autogenes Training
Compliance fördern (regelmäßige Hautpflege, Meidung von Allergenen und Irritanzien)
Wissensvermittlung
Wirkung und Anwendung von Medikamenten und Hautpflegeprodukten
Vorwissen der Eltern orientiert und soll den Austausch der Eltern in der Gruppe fördern. Ein Tagebuch zur regelmäßigen Dokumentation des Hautzustandes des Kindes wird eingeführt, und es werden Reaktionsalternativen auf das Kratzen des Kindes eingeübt.
12.5
Indikation und Kontraindikation
Maßnahmen zur Patientenedukation im Rahmen von Patientenschulungen oder -trainings sind zum einen im Bereich chronischer organmedizinischer Erkrankungen in den jeweiligen Therapierichtlinien als integraler Bestandteil fest etabliert. Zu den wichtigsten verhaltensmedizinischen Indikationen der Kinder- und Jugendmedizin zählen 4 Stoffwechselerkrankungen (Diabetes mellitus), 4 Atemwegserkrankungen (Asthma bronchiale), 4 atopische Erkrankungen (Neurodermatitis, Psoriasis), 4 rheumatische Erkrankungen, 4 neurologische Erkrankungen (Epilepsie), 4 onkologische Erkrankungen. Für diese Indikationsbereiche liegen mittlerweile evaluierte und strukturierte Schulungsprogramme vor, deren Effektivität geprüft wurde (Barlow u. Ellard 2004; Erssner et al. 2007; Guevera et al. 2003; Murphy et al. 2006). Durch die Schulungsmaßnahme konnten sowohl positive Effekte auf medizinischer (Symptomatik, Schweregrad, Funktionsstatus) und psychologischer Ebene (Lebensqualität, Wissen, Compliance, Krankheitsmanagement) erzielt werden. Zusätzlich können diese Schulungsinterventionen auch auf gesundheitsökonomischer Ebene zu deutlichen Kosteneinsparungen (Ausfallzeiten in Schule und Beruf, Verrentungsverzögerung, Arzneimitttelkosten, Hospitalisationen) beitragen.
Bei der Behandlung psychischer Störungen sind psychoedukative Interventionen ebenfalls gut etabliert (Überblick bei Dixon et al. 2001). Insbesondere bei der Behandlung schizophrener Störungen (Berendt 2004), aber auch bei Angststörungen und Depressionen zählen psychoedukative Therapieelemente mittlerweile zum Standard. Weiterhin sind psychoedukative Elemente häufig wichtige Komponenten in Therapiemanualen für Kinder und Jugendliche etwa für die Behandlung von ADHS, Ticstörungen und Enuresis.
12.6
Empirie: Wirkmechanismen und Effektivität
Aus heutiger Sicht werden drei Wirkmechanismen der Psychoedukation angenommen: Zum einen kann Psychoedukation dazu führen, dass Fehlinformation, Missverständnisse oder ungünstige Einstellungen hinsichtlich der Krankheit ab- und eine Krankheitseinsicht aufgebaut werden. Zum anderen kann angenommen werden, dass eine sachliche Information Ängste beim Patienten und/oder Angehörigen mindert und entlastend wirkt. Auf diese Weise können die Therapiemotivation und der Behandlungsoptimismus beim Patienten verstärkt, aber auch krankheitsspezifische Belastungen, wie etwa Scham, Selbstabwertung oder Stigmatisierungsängste, abgebaut werden. Zusätzlich können psychoedukative Maßnahmen dem Patienten konkrete Handlungsoptionen vermitteln, z. B. Problemlösefertigkeiten, die sowohl in spezifischen Situationen als auch allgemein bei der Alltagsbewältigung unterstützend sein können. Diese letztgenannten Kompetenzen haben nicht nur im Verlauf, sondern auch nach Abschluss der Therapie eine besondere Bedeutung, da sie vom Patienten gezielt zur Rückfallprävention eingesetzt werden können.
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206
Kapitel 12 · Psychoedukation
Die differenzielle Wirksamkeit der Patientenedukation kann aufgrund mangelnder Forschung in diesem Bereich nicht eindeutig geklärt werden. Nur vereinzelt liegen Ergebnisse vor, die die Evidenz der Psychoedukation (als reine Informationsvermittlung) prüften. Eine Übersichtsarbeit von Rabovsky und Stoppe (2006) zeigt, dass Psychoedukation ein nachweislich effektives Verfahren zur Steigerung der Therapiecompliance ist und Rezidive und Klinikeinweisungen reduziert. Da Psychoedukation jedoch meist nur ein Teilelement der Behandlung darstellt, beispielsweise im Rahmen einer ambulanten Verhaltenstherapie oder Patientenschulung, lässt sich ihr isolierter Effekt kaum ermitteln.
12.7
12
Ausblick
Das wachsende Interesse an Patientenschulungen bei Kindern und Jugendlichen zeigt sich in einer steigenden Zahl an Publikationen zum Thema sowie an zahlreichen publizierten Patiententrainings. Die betroffenen Kinder und Jugendliche sowie ihre Eltern profitieren dabei in unterschiedlichem Maße von den angebotenen Trainings. Wichtig wäre für die Zukunft, diejenigen Patienten frühzeitig zu identifizieren, die eher von einer Einzeltherapie profitieren als von einer Patientenschulung. Für diese Identifikation von Hochrisikogruppen oder Patienten, die die Schulungsmaßnahme wahrscheinlich nicht beenden werden, fehlen bisher geeignete Erhebungsinstrumente. Für eine stärkere Individualisierung von Schulungsmaßnahmen spricht auch die Tatsache, dass ein Teil der Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern gut mit der Erkrankung zurechtkommen, sich nicht beeinträchtigt fühlen oder lange rezidivfreie Phasen genießen. Hier sollten sich Patientenschulungen und klassische psychoedukative Maßnahmen in Art, Umfang und Gestaltung am Vorwissen sowie an den Bewältigungsfertigkeiten des Individuums orientieren. Eine ausschließliche Wissensvermittlung ist jedoch nicht zu empfehlen, da sie den Anforderungen an eine Patientenschulung nicht gerecht würde. Wissen ist zwar für den Umgang mit jeder chronischen Erkrankung essenziell, jedoch reicht Wissen theoretisch nicht aus. Generell sollte darauf geachtet werden, dass nicht einseitig ein Abbau von Risikofaktoren und Problemverhaltensweisen forciert wird, sondern dass parallel Schutzfaktoren und alternative, adaptive Verhaltensweisen erlernt werden. Der Transfer der Inhalte in den Alltag der betroffenen Kinder, Jugendlichen und deren Familien ließe sich durch eine engere Vernetzung der stationären und ambulanten Betreuung chronisch Kranker verbessern. Hier könnte man sich niedergelassene Fachärzte und Eltern als Multiplikatoren in einem Selbsthilfenetzwerk vorstellen. Um das Verständnis des sozialen Umfeldes für die Betroffenen zu fördern, scheint eine intensive Aufklärung des sozialen Umfeldes (Kindergarten, Schule, Ausbildungsplatz etc.) über das Krankheitsbild des Kindes notwendig. Dies könnte beispielsweise durch Informationsmaterialien oder
im Rahmen von Lehrgängen geschehen. Eine Zusammenarbeit mit niedergelassenen Fachärzten könnte zudem den Einsatz von Patienteninformationsbroschüren fördern, um grundlegendes Wissen über häufige chronische Erkrankungen zu transportieren. Wichtig erscheint heute die zielgruppenorientierte Differenzierung von Schulungsinhalten. Besonders in der Rehabilitation von Jugendlichen zeigen sich Defizite in der Gestaltung relevanter Module. Da die Rehabilitation insgesamt einen umfassenden Versorgungsauftrag besitzt, müssen Angebote entwickelt werden, die spezifische Probleme des Jugendalters aufgreifen. Hier spielt besonders der Bereich Berufsfindung, Ausbildung, Studium und Karriereplanung eine wichtige Rolle, da chronisch kranke Jugendliche in der Wahl ihrer späteren Berufstätigkeit oftmals deutlich eingeschränkt und auf fachliche Beratung angewiesen sind. Geht man davon aus, dass ein erfolgreiches Krankheitsmanagement vielfältige und langfristige Anpassungsleistungen des Patienten erfordert, so müssen (psycho-) edukative Angebote für Jugendliche langfristig angelegt sein, und sie müssen flexibel, bedarfsgerecht und modular verfügbar sein. Neben spezifischen Modulen für Jugendliche mangelt es vielen Patientenschulungsprogrammen an Leitlinien und Qualitätsstandards. Die Programme für Kinder und Jugendliche müssen im Hinblick auf Effektivität und Akzeptanz untersucht werden, um ihren Nutzen als Basis einer optimalen Versorgung zu belegen. Bisher standen für die Bewertung der Effektivität und Effizienz von Patientenschulungsmaßnahmen quantitative Outcomes wie der Gesundheitszustand im Vordergrund. Zunehmend wird die Qualität von Patientenschulungsmaßnahmen jedoch an gesundheitsökonomischen Outcomes (z. B. direkte und indirekte Krankheitskosten) sowie an patientenbezogenen Outcomes (z. B. Lebensqualität) gemessen. Ziel einer umfassenden Evaluation von Patientenschulungsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche sollte eine bedarfsgerechte, individuelle Gestaltung von Trainingsmaßnahmen sein, die Langzeiteffekte erzielen und dem betroffenen Kind oder Jugendlichen, wie auch seinen Eltern, eine maximale Erleichterung und Zufriedenheit bieten können.
Zusammenfassung Psychoedukation dient der Aufklärung des Patienten und seiner Angehörigen, im Rahmen der Kinderpsychotherapie wären dies vor allem die Eltern. Hierbei soll ein angemessenes Störungsmodell und Therapieinformationen vermittelt werden. Im Kontext der Krankheitsbewältigung erlernen die Patienten Selbstmanagementkompetenzen. Solche Kompetenzen sind nötig, um die Compliance zu fördern. Das Kapitel zeigt am Beispiel der präventiven Psychoedukation (z. B. Stressmanagement) und am Beispiel der Behandlung der sozialen Angst/sozialen Phobie die Bedeutung der Psychoedukation im Kontext der Kinderverhal-
207 Weiterführende Literatur
tenstherapie. Abschließend wird die Bedeutung der Psychoedukation im Rahmen der Bewältigung einer chronischen Krankheit (z. B. Asthma bronchiale, Neurodermitis) erläutert. Auf Aspekte der Indikation und Kontraindikation sowie Wirkmechanismen und Effekte wird kurz eingegangen.
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12
13
13 Operante Methoden Friedrich Linderkamp
13.1
Einleitung
– 210
13.2
Theoretische Grundlagen
13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4 13.2.5 13.2.6
Die Wichtigkeit der Verhaltenspräzisierung Das S-R-S-Paradigma – 210 Primäre und sekundäre Verstärker – 210 Belohnung und Bestrafung – 211 Verstärkerarten – 211 Der Prozess der Verstärkung – 212
13.3
Praktische Voraussetzungen und Diagnostik – 212
13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.3.4
Problem- und Verhaltensanalyse – 212 Verhaltensbeobachtung und Beobachtungsprotokolle Funktionale Verhaltensanalyse – 213 Ableiten therapeutischer Ziele – 214
13.4
Darstellung des Verfahrens
13.4.1 13.4.2
Die therapeutischen Techniken – 214 Verstärkerpläne – 215
13.5
Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen (Indikation und Kontraindikation) – 218
13.6
Empirie: Wirkmechanismen und Effektivität
13.7
Ausblick
– 210
– 219
– 220
Weiterführende Literatur
– 213
– 214
Zusammenfassung – 219 Literatur
– 210
– 220
– 219
210
Kapitel 13 · Operante Methoden
13.1
Einleitung
Operante Methoden gehen zurück auf das Paradigma der operanten Konditionierung von Skinner (1904–1990). Im Unterschied zur klassischen Konditionierung, die reaktive Verhaltensprozesse beschreibt, setzt die operante Konditionierung ein aktives Verhalten einer Person voraus, das Umweltreaktionen auslöst, die auf das Verhalten der Person zurückwirken. Die Lernforschung hat diese Prozesse bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts empirisch überprüft. Sie haben die Qualität von Lerngesetzen, d. h., die Prozesse operanter Konditionierung stellen empirisch belegte Sachverhalte dar, die übergreifend gültig sind und zwar sowohl für Störungs- als auch für angemessenes Verhalten. Insofern kommt operanten Methoden im Vergleich zu den vielen, empirisch nicht derart abgesicherten klinischen Interventionsverfahren, ein herausragender Stellenwert zu. Die aktuell (wieder) wachsende Bedeutung operanter Verfahren ergibt sich aus den lerntheoretischen Grundpositionen des eindeutigen Theoriebezugs, der empirischen Überprüfung von Wirkprozessen und der Konzentration auf die therapeutisch relevante Zielgröße, nämlich auf die problematischen Verhaltensäußerungen von Patienten – allesamt zentral bedeutsame Parameter aktueller Wirksamkeitsforschung.
13.2
Theoretische Grundlagen
13.2.1 Die Wichtigkeit der Verhaltenspräzisierung
13
Im Paradigma des operanten Konditionierens wird instrumentelles Lernen beschrieben, d. h. Lernprozesse, die aufgrund von Konsequenzen für gezeigtes Verhalten entstehen. Begriffe über (gestörtes) Verhalten stehen nicht nur im Alltag, sondern auch im professionellen Kontext zumeist für eine relativ grobe Beschreibung von vielfältigen Verhaltensproblemen. »Das Mädchen verhält sich sozial ängstlich« vermittelt entsprechend zwar ein ungefähres Bild vom Verhalten des Mädchens. Jedoch könnten mit dieser Aussage strukturelle Persönlichkeitsmerkmale gemeint sein oder sie könnte sich auf eine situative Verhaltensäußerung beziehen. In jedem Fall wäre das Verhalten des Mädchens jedoch nicht eindeutig beschrieben. Eine relevante lerntheoretische Analyseeinheit wären erst weitere Verhaltenskonkretisierungen, also z. B. »geht nicht auf andere Kinder zu« – »meldet sich nicht im Unterricht« u. Ä. Erst diese Präzisierungen erlauben in der Folge eine Quantifizierung des Verhaltens, die für eine systematische Verstärkung bzw. für den Nachweis der Konditionierungseffekte zentral bedeutsam sind (Kazdin 2001).
13.2.2 Das S-R-S-Paradigma
Der Kontext, in dem das Verhalten sich verändert, besteht einerseits aus Umwelt- oder Umgebungsfaktoren, die für ein konkretes Verhalten irrelevant sind, da sie keinen Einfluss auf das konkrete Verhalten nehmen und andererseits aus wirksamen Umweltfaktoren, die im Zusammenhang mit dem konkreten Verhalten stehen. So nimmt z. B. das Pop-Band-Poster an der Wand keinen Einfluss auf das Rückzugsverhalten eines sozial ängstlichen Mädchens. Die Blicke anderer Mädchen dürften jedoch durchaus Einfluss auf das Rückzugsverhalten des Mädchens nehmen. Im lerntheoretischen Paradigma können Umweltfaktoren auch Personen bezogene Merkmale sein. Wenn das ängstliche Mädchen z. B. in bestimmten Stresssituationen mit Spannungskopfschmerz reagiert, kann dies ein aversiver Umweltreiz sein. Präziser lässt sich daher der Terminus des »Stimulus« verwenden, der einem Verhalten (R) voran geht (diskriminativer Stimulus, SD) oder folgt (SR). Im operanten Paradigma folgt also einem diskriminativen Stimulus SD das konkrete Verhalten R, gefolgt von einer bestimmten Reaktion SR (7 Beispiel »Marie«):
Beispiel SD
R
SR
Der sozial ängstlichen Marie kommen auf dem Pausenhof zwei Mädchen entgegen, was ihr Angst macht
→ Marie senkt den Blick und geht den Mädchen aus dem Weg
→ Marie hat keine Angst mehr
! Die Konsequenzen auf gezeigtes Verhalten lassen sich als Verstärker operationalisieren, die zur Erhöhung oder Verminderung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines gezeigten Verhaltens führen.
13.2.3 Primäre und sekundäre Verstärker
Es lassen sich primäre und sekundäre Verstärker unterscheiden. Primäre Verstärker sind grundsätzlich wirksame Verstärker, da sie biologische Grundbedürfnisse befriedigen. Hierzu gehören z. B. Nahrung und Schlaf. Die Wirksamkeit dieser Verstärker variiert naturgemäß mit der aktuellen Bedürfnissituation des individuellen Organismus. Sekundäre Verstärker sind gelernte Verstärker und variieren Interessen gebunden.
211 13.2 · Theoretische Grundlagen
Primäre Verstärker wirken naturgemäß bei allen Menschen jeden Alters. Hierzu zählen z. B. Nahrung und körperliche Zuwendung. Sekundäre Verstärker entstehen über Lernerfahrungen. Eine Geldmünze ist grundsätzlich ein neutraler Reiz und erlangt erst verstärkende Wirkung über Lernerfahrungen, die ihre Attraktivität bewirken.
13.2.4 Belohnung und Bestrafung
Als Verstärker können sowohl Belohnungen als auch Bestrafungen wirksam sein, indem sie dem Verhalten einer Person folgen bzw. dargeboten oder entzogen werden. . Tab. 13.1 stellt die verschiedenen Verstärker in systematischer Ordnung dar. Eine Belohnung geschieht, wenn eine angenehme Konsequenz (positive Verstärkung) auf das Verhalten erfolgt. Der Wegfall eines unangenehmen Reizes wirkt ebenfalls als Belohnung (negative Verstärkung, 7 Beispiel »Marie«).
Beispiel Ein Kind, das einer schimpfenden Mutter gegenüber unflätig trotzt, mit dem Effekt, dass die Mutter die Situation verlässt, wird in seinem Verhalten negativ verstärkt, da sein Verhalten durch den Wegfall des aversiven Schimpfens der Mutter belohnt wurde.
Bestrafungen verringern die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens. Dies gilt sowohl für die direkte Darbietung einer Strafe (direkte Bestrafung) wie auch für den Entzug eines positiven Verstärkers (indirekte Bestrafung). Zwischenzeitlich gilt es als empirisch belegt, dass Bestrafungen hinsichtlich einer dauerhaften Unterdrückung von unerwünschtem Verhalten in gleichem Maße wirken wie positive Verstärkungen hinsichtlich des Aufrechterhaltens von erwünschtem Verhalten (Mazur 2004). Im Unterschied zur positiven Verstärkung kann mittels Bestrafung jedoch naturgemäß kein alternatives (z. B. prosoziales) Verhalten aufgebaut werden. Häufige und andauernde Strafmaßnahmen begünstigen zudem Flucht- und Vermeidungsverhalten 4 sie verursachen Ärgerreaktionen, die aggressives Verhalten begünstigen, . Tab. 13.1. Formen der Verstärkung beim operanten Lernen Positiver Reiz
Aversiver Reiz
Dargeboten
Positive Verstärkung → Belohnung C+
Direkte Bestrafung → Bestrafung C–
Entfernt
Indirekte Bestrafung → Bestrafung C/+
Negative Verstärkung → Belohnung C/–
4 sie beeinträchtigen langfristig das Selbstkonzept, 4 sie schaden bei häufiger Anwendung der TherapeutenPatienten-Beziehung (Schermer 2005). ! Verhaltensaufbau kann keinesfalls mittels Bestrafung gelingen, sondern ausschließlich über systematische Belohnungen.
Diese Aspekte sind neben ethischen Bedenken hinsichtlich des systematischen Einsatzes von Bestrafungen stets mit zu berücksichtigen. Reinecker (1999, S. 217) empfiehlt vor diesem Hintergrund, Bestrafungen »nur in Verbindung mit der differenziellen positiven Verstärkung von Alternativverhalten« durchzuführen.
13.2.5 Verstärkerarten
Verstärkungen können mittels unterschiedlicher Verstärkerarten erfolgen: 4 Materielle Verstärker sind konkrete Dinge wie Süßigkeiten und Spielsachen, 4 soziale Verstärker sind soziale Handlungen wie etwa verbales Lob oder nonverbale Gesten (Nicken, Lächeln) und ggf. Körperkontakt, 4 Handlungsverstärker stellen bestimmte (gemeinsame) Tätigkeiten dar wie z. B. Spielen, Basteln oder ins Kino gehen. Der Wert materieller Verstärker ergibt sich über die individuelle und situationsabhängige Bedeutung des Gegenstandes und nicht über den tatsächlichen Wert. Die Belohnung eines Zielverhaltens mit materiellen Dingen stellt in aller Regel einen wenig natürlichen Prozess dar. Daher wird therapeutisch angestrebt, letztlich von materiellen auf soziale Verstärker zu wechseln. ! Soziale Verstärker haben die Vorteile, dass sie natürlich sind und damit bereits eng an den angestrebten Verhaltensprozessen orientiert.
Sie sind sehr ökonomisch, denn sie sind kostenlos und immer verfügbar. Zudem wird bei sozialen Verstärkern kaum Sättigung erreicht. Insbesondere soziale Verstärker erzielen neben spezifischen auch unspezifische Wirkungen, denn z. B. Lob und Zuwendungen wirken meistens und führen zu positiven Verhaltensäußerungen des Patienten, welche die Verhaltensbeobachtungen zur Kontrolle der Verstärkungseffekte überlagern können. Sehr genau ist hier das Augenmerk auf die Effekte der angestrebten Verhaltensmodifikation zu lenken. Handlungsverstärker werden je nach aktueller Interessenlage des Patienen (Hobbys, aktuell populäre PC-Spiele) ausgewählt. Entsprechend nimmt die Attraktivität von Handlungsverstärkern mit der Zeit ab, so dass stets auf deren aktuellen Wert zu achten ist.
13
212
Kapitel 13 · Operante Methoden
Eine spezielle Variante sozialer Verstärkung stellt das sog. Premack-Prinzip dar.
Beim Premack-Prinzip werden Verhaltensweisen mit hoher Auftretenshäufigkeit eingesetzt, um ein Zielverhalten mit niedriger Auftretenshäufigkeit zu verstärken und damit dessen Auftretenshäufigkeit zu erhöhen.
Das Premack-Prinzip findet häufig im Schulalltag Anwendung und eignet sich gut für die Verhaltensmodifikation in Gruppen. So z. B. wird das Lösen eines Päckchens mit Rechenaufgaben durch ein darauffolgendes beliebtes Bewegungsspiel sozial verstärkt.
13.2.6 Der Prozess der Verstärkung
Verstärkungsprozesse sind Alltagsphänomene und vollziehen sich zumeist unkontrolliert in jeglichen sozialen Interaktionen. Um diese Effekte professionell bzw. systematisch zu nutzen, sind einige Bedingungsmomente zwingend zu berücksichtigen. ! Verstärkung erfolgt, wenn ein enger kausaler Zusammenhang zwischen operantem Verhalten und der folgenden Konsequenz besteht.
13
Dies bedeutet auch, dass eine Reaktion inhaltlich (der Bedürfnislage des Kindes entsprechend und zwar hinsichtlich positiver wie aversiver Reize) wie auch von der Intensität her angemessen (d. h. wohl dosiert) erfolgen sollte. Verstärkung hat zeitlich unmittelbar zu geschehen, indem eine verlässliche, sofortige Reaktion auf das gezeigte Verhalten erfolgt. ! Eine verzögerte (positive) Verstärkung kann nur dann gelingen, wenn das Kind in der Lage ist, eine »kognitive Brücke« zwischen dem zurückliegenden Ereignis und der aktuellen Belohnung herzustellen.
Zudem hat eine konkrete Verstärkung stets in Form eines eindeutigen Verstärkungsverhaltens auf vorher festgelegtes und für das Kind tatsächlich erreichbares Zielverhalten zu erfolgen – und zwar ausschließlich auf dieses Verhalten. Auf diese Weise wird Diskriminationslernen gewährleistet, d. h. ein Verhalten wird kontext- bzw. situationsabhängig gelernt. So z. B. unterscheidet sich das Kommunikationsverhalten eines Schülers gegenüber seinem Lehrer in der Regel deutlich von seinem Kommunikationsverhalten gegenüber Gleichaltrigen. ! Diskriminationslernen beschreibt den Lernprozess auf Grundlage einer spezifischen Reiz-Reaktionskopplung.
Diskriminationslernen geschieht zum einen stets zu Beginn operanten Lernens. Häufig werden im therapeutischen Prozess darauf aufbauend weitere Verhaltensgeneralisierungen gewünscht. Allerdings ist Diskriminationslernen auch insofern von Bedeutung, da im therapeutischen Prozess nicht immer Verhaltensgeneralisierungen angestrebt werden. So lässt sich mittels Diskriminationslernen z. B. ein kreativ-impulsives Verhalten beim Bewegungsspiel mittels positiver Verstärkung aufbauen, ohne dass ein Anstieg dieses Verhaltens im Schulleistungskontext zu erwarten ist. Sofern Generalisierungen angestrebt sind (z. B. Aufbau positiven Sozialverhaltens), sollte das zu verstärkende Verhalten in verschiedenen Situationen und Kontexten eingeübt werden. ! Verstärkungseffekte werden durch Wiederholungen erreicht.
Verstärkungseffekte bleiben aus, wenn keine Verstärker mehr dargeboten werden. ! Ein Verhalten, auf das keine positive Reaktion erfolgt, wird letztlich gelöscht (Extinktion).
Auch dieser Effekt ist therapeutisch nutzbar: Ein häufiges Problem bei aggressivem Verhalten im Kindesalter ist die (ungewollte) positive Verstärkung des Problemverhaltens durch Aufmerksamkeitszuwendung. Angepasstes kindliches Verhalten ist in aller Regel wenig externalisierend und zieht daher in Schule und Familie seltener eine Reaktion nach sich als störendes Verhalten. Obschon die Reaktionen von Lehrern und Eltern durchaus aversiven Inhalts sein mögen, werden damit dem Kind häufig auch Aufmerksamkeit und Zuwendung zuteil – in der Unterrichtssituation möglicherweise ergänzt durch positive soziale Verstärkungen seitens der Mitschüler, die dem frechen Kind Achtung zollen. Sofern die Qualität und Intensität des Störverhaltens nicht nach direkter Bestrafung verlangt, ist daher zum Abbau von unerwünschtem Verhalten ein konsequentes Ignorieren hilfreich. Der Entzug bzw. das Vorenthalten von Verstärkern sollte allerdings systematisch im Rahmen eines Verstärkerplans erfolgen (s. unten).
13.3
Praktische Voraussetzungen und Diagnostik
13.3.1 Problem- und Verhaltensanalyse
Zur Planung operant fundierter Interventionen ist eine differenzierte Diagnostik unerlässlich, die das Ziel hat, jene Bedingungsfaktoren zu identifizieren, die kausale Relevanz besitzen oder als aufrechterhaltende Faktoren dazu beitragen, die Problematik zu stabilisieren sowie festzustellen, welche Einflussgrößen fehlen, damit angemessenes Verhalten gelingen kann. Die zur Vorbereitung operanter Interventionen erforderliche spezifische Diagnostik erfolgt in Form einer Prob-
13
213 13.3 · Praktische Voraussetzungen und Diagnostik
lem- und Verhaltensanalyse mit den Bezugspersonen (vor allem Eltern und Lehrern) sowie – bei ausreichender kognitiver Reife (ca. ab dem 8. Lebensjahr) – mit dem Kind selbst. Methodisch kommen strukturierte Interviews und Verhaltensbeobachtungen zum Einsatz. Interviewleitfragen zur Problem- und Verhaltensanalyse sind in der folgenden Übersicht angeführt.
Diagnostische Leitfragen zur Problemund Verhaltensanalyse bei der Vorbereitung operanter Interventionen 4 4 4 4
4 4 4 4 4
Wie äußern sich die Probleme verhaltensbezogen? In welchen Situationen zeigt sich die Problematik? Seit wann gibt es die Probleme? Sind Auslösebedingungen dafür bekannt (kritische Lebensereignisse, psychosoziale Probleme der Familie)? Wie reagiert das Kind in den problematischen Situationen? Wie reagiert das soziale Umfeld (Gleichaltrige, Lehrer) auf das Verhalten des Kindes? Gibt es Situationen, in denen die Probleme nicht bestehen? Welche Vorlieben und Stärken hat das Kind? Welche Interaktionsverläufe sind in kritischen Situationen zu beobachten (z. B. Vater kündigt nach Störverhalten Sanktionen an → Störverhalten bleibt → Vaters Sanktionen bleiben aus = negative Verstärkung)?
. Abb. 13.1. Kontingenz und Kontiguität, die Abfolge zwischen Verhalten und Konsequenz
bestimmtes Verhalten (z. B. Aufstehen vom Platz, Tagträumen, konzentriert Schulaufgaben erledigen) andauert. Intervallprotokolle lassen sowohl die Häufigkeit als auch die Dauer eines Verhaltens erkennen (Schneider 2001). Praktisch ist erforderlich 4 ein bestimmtes Problemverhalten zu fokussieren sowie 4 das Registrieren der zeitlichen Abfolge von Verhaltensäußerungen der beteiligten Interaktionspartner (z. B. Patient, Geschwister, Mutter).
13.3.3 Funktionale Verhaltensanalyse
Die Auswertung der Interview- und Beobachtungsergebnisse erfolgt mittels einer funktionalen Verhaltensanalyse. ! Bei der funktionalen Verhaltensanalyse werden die Zusammenhänge zwischen Verhalten und unmittelbaren Konsequenzen erfasst – bei anschließender funktionaler Interpretation des Geschehens als Abfolge konkreter Stimuli und Reaktionen.
13.3.2 Verhaltensbeobachtung
und Beobachtungsprotokolle Zur direkten Erfassung von Verstärkerkontingenzen sowie zur Verifizierung der Interviewergebnisse erfolgen (verdeckte) strukturierte Verhaltensbeobachtungen des kritischen Verhaltens in den Anforderungssituationen (z. B. in der Familie bei Tisch, in der Schule auf dem Pausenhof). Die Zusammenhänge zwischen Verhalten und Konsequenzen können zweifach analysiert werden (. Abb. 13.1): 1. durch die Feststellung der raumzeitlichen Nähe zweier Reize (Kontiguität) und 2. durch die Feststellung der direkten zeitlichen Abfolge bzw. Kopplung zweier Reize (Kontingenz).
. Tab. 13.2. Häufigkeitsprotokoll mit zwei kritischen Verhaltensweisen Name: Pascal, Tag: 17.11.
Situation: Deutschunterricht
Zeit
Zielverhalten
Problemverhalten
Problemstärke
Beteiligungen
Störungen
1–3*
8.20
II
3,1
8.25
II
1,1
8.30
I
1
II
2,2
II
1,3
8.15
8.35 8.40
Dabei können unterschiedliche Typen von Beobachtungsprotokollen zum Einsatz kommen. Häufigkeitsprotokolle registrieren, wie häufig ein bestimmtes Verhalten innerhalb einer bestimmten Zeitspanne auftritt (gut geeignet für Beobachtung kurzfristiger Verhaltensweisen wie Hauen, Beteiligung am Unterricht, Hilfsangebote an Gleichaltrige; . Tab. 13.2). Dauerprotokolle halten fest, wie lange ein
8.45 8.50 8.55
I
9.00 *1 wenig problematisch; 2 ziemlich problematisch; 3 sehr problematisch.
214
Kapitel 13 · Operante Methoden
Im Ergebnis werden Erkenntnisse darüber gewonnen, welches Verhalten welche Art (belohnende oder aversive) Verstärkung erfährt. Somit werden schließlich typische ungünstige Verstärkungsmuster (z. B. positive Verstärkung von Störverhalten durch spontane Aufmerksamkeitszuwendung) identifiziert.
13.3.4 Ableiten therapeutischer Ziele
Auf Grundlage der gewonnenen diagnostischen Befunde werden mit den Bezugspersonen (Eltern, Lehrer) die Konsequenzen aus den Ergebnissen der Problem- und Verhaltensanalyse reflektiert. Darauf aufbauend werden Ziele expliziert, die zur Veränderung der Situation erreicht werden sollen. Hierbei ist es wichtig, die individuellen Wünsche und Bedürfnisse des Kindes oder Jugendlichen mit jenen der Eltern und Lehrer in konstruktiver Weise abzugleichen. Ferner wird festgelegt, wie das Zielverhalten registriert wird: Von wem wird es wann festgehalten (z. B. Lehrer immer nach dem Unterricht; Mutter nach den Hausaufgaben)? Wie wird es vermerkt (z. B. auf einem eigens erstellten Formular – ggf. mit Prozentangaben bezüglich gelingenden Verhaltens)? Bei den Zielformulierungen ist sehr darauf zu achten, dass nicht etwa die Vermeidung von Situationen, sondern positive Ziele vereinbart werden, die auch vom Kind als sinnvoll und erreichbar betrachtet werden. Die Ziele sollten zudem eindeutig und sehr konkret (verhaltensbezogen) sowie spezifisch sein. Dabei ist eine Orientierung am Verhalten des Kindes wichtig und nicht in erster Linie am Ergebnis (Kowalczyk 2008).
13
13.4
Darstellung des Verfahrens
13.4.1 Die therapeutischen Techniken
Es ist zu empfehlen, die therapeutischen Ziele mit dem Kind sehr konkret verhaltensbezogen sowie im Konsens zu vereinbaren. Dabei ist darauf zu achten, dass bereits gelungene Verhaltensteile verstärkt werden sollten.
Beispiel Ein Kind begibt sich immerhin selbstständig in die Rollenspielsituation beim Sozialtraining und es gelingt ihm 1. seine Impulsivität zu kontrollieren und sich sozialen Hinweisreizen zuzuwenden. 2. Obschon dem Kind in der Folge keine angemessene Kontaktaufnahme gelingt, können die vorherigen gelungenen Verhaltensteile (Impulskontrolle und Aufmerksamkeitslenkung bezüglich sozialer Hinweisreize) durch positives Verhaltensfeedback sozial verstärkt werden.
Chaining Bei diesem »Chaining« werden gelungene Verhaltensteile, die aufeinander aufbauend im Zusammenhang stehen, verstärkt. Dabei werden einzelne Verhaltensteile unter Umständen durchaus schon beherrscht, es kommt also vor allem auf das Erreichen der Verkettung an. Wichtig ist, dass die einzelnen Verhaltensteile während der Übungsbehandlung unmittelbar nacheinander ausgeführt werden. Im Idealfall ist jede einzelne Reaktion dabei zugleich ein konditionierter Verstärker des vorherigen Verhaltens und stellt zudem einen diskriminativen Stimulus für die folgende Reaktion dar. Es könnte z. B. ein Selbstständigkeitstraining bei einem geistig behinderten Kind die Zubereitung von Speisen beinhalten, die mittels Chaining aufgebaut wird (. Tab. 13.3): Für einen wirksamen Verlauf des Chaining ist Folgendes zu gewährleisten: 4 Analyse der Aufgabe bzw. des Zielverhaltens hinsichtlich seiner aufeinander aufbauenden Verhaltensglieder. 4 Abgleich mit den bestehenden Fertigkeiten des Patienten (Überprüfen des Beherrschens der Einzelreaktionen). 4 Durchführung des Chainings a) durch Ausführung der kompletten Verhaltenskette (bei wenigen Teilschritten) mit anschließender Verstärkung, b) durch Ausführung des ersten Teils der Verhaltenskette mit anschließender Verstärkung; Übergang zum nächsten Schritt mit Hilfestellung (7 »Prompting«). Chaining wird zumeist beginnend mit dem ersten Teilschritt einer Verhaltenskette durchgeführt (»forward chain. Tab. 13.3. Beispielhafte inhaltliche und formale Abfolge beim (»forward«) Chaining 1.
Brate dir ein Spiegelei
SD
2.
Platzieren der Pfanne auf der großen Herdplatte
R1
3.
Pfanne ist auf der großen Herdplatte
SR+K
4.
Pfanne ist auf der großen Herdplatte
SD
5.
Gießen von etwas Öl in die Pfanne
R2
6.
Etwas Öl ist in der Pfanne
SR+K
7.
Etwas Öl ist in der Pfanne
SD
8.
Betätigung des Drehknopfes zur Erhitzung der Pfanne; eine Stufe nach rechts
R3
9.
Drehknopf zur Erhitzung der Pfanne ist gedreht
SR+K
10.
Drehknopf zur Erhitzung der Pfanne ist gedreht
SD
11.
Betätigung des Drehknopfes zur Erhitzung der Pfanne; 1 Stufe nach rechts
R4
12.
Drehknopf zur Erhitzung der Pfanne ist gedreht
SR+K
13.
Drehknopf zur Erhitzung der Pfanne ist gedreht
SD
14.
Aufschlagen des Eis an der Pfanne …
R5
15.
Etc.
Etc.
215 13.4 · Darstellung des Verfahrens
ing«). Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, mit dem letzten Glied der Verhaltenskette zu beginnen und davon ausgehend auf das Vorläuferverhalten überzugehen (»backward chaining«).
Shaping Eine weitere operante Technik stellt das »Shaping« dar. Beim Shaping wird ein Kind für ein ähnliches bzw. dem Lernziel allmählich immer näher kommendes Verhalten verstärkt. Es erfolgt also eine sukzessive Annäherung an das Zielverhalten bei differenzieller Verstärkung. Es wird jeweils nur das letzte, dem Zielverhalten ähnlichste Verhalten verstärkt. Entsprechend ist es erforderlich, dass das Zielverhalten sehr genau in Approximationsstufen untergliedert und deren Erreichen genau registriert wird.
Prompting Der Fortgang des Chaining – wie des Shapingprozesses – lässt sich sehr gut mittels »Prompting« unterstützen. Das Prompting stellt eine Hilfestellung dar, welches kontingentes Lob für das Kind bei Annäherungen an das Zielverhalten ermöglicht.
Fading Im Unterschied dazu führt das »Fading« zur schrittweisen Reduktion von Hilfestellungen bei der Verhaltensannäherung bzw. bei wachsender Aktivität und Kompetenz des Kindes.
lemverhalten danach weiter auf, kann das Time-out verlängert werden, jedoch nicht länger als ca. 30 Minuten (Hall u. Hall 1998). Schermer (2005) schlägt folgende Time-out-Regeln vor: 4 Maßnahme sollte unmittelbar nach Beginn des problematischen Verhaltens einsetzen, 4 Problemverhalten sollte dem Kind gegenüber genau, sachbezogen und emotionsneutral benannt werden, 4 keine Vorwürfe, sondern konsequentes Handeln, 4 Ignorieren protestierender Äußerungen des Kindes, 4 verlässliche Zeitkontrolle. Bei der Anwendung operanter Methoden sollte grundsätzlich ein Belohnungssystem eingeführt werden, auf dessen Grundlage systematisch verstärkt wird. Je nach Alter und Interessenlage des Kindes bieten sich sowohl materielle, soziale als auch Handlungsverstärker an. Bei der Auswahl der Verstärker werden die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes berücksichtigt (für kleine Kinder Nahrungsverstärker, z. B. ein Eis; für größere Aktivitätsverstärker, z. B. Besuch der Skaterbahn). Ferner gilt es, eine angemessene Dosierung der Verstärkungsintensität zu finden; dies gilt sowohl für soziale Verstärkung wie explizites Lob, das zugewandt und freundlich aber nicht überschwänglich zu erfolgen hat als auch für materielle Verstärker, die attraktiv sein müssen (vom Fußball-WM-Radiergummi bis zur Kinoeintrittskarte) jedoch nicht von unangemessen hohem materiellen Wert sein dürfen.
Time-out Insbesondere im Zusammenhang mit externalisierenden Verhaltensstörungen im Kindesalter finden Time-out-Verfahren Anwendung. Beim Time-out erfährt das Kind eine indirekte Bestrafung seines Verhaltens durch einen vorübergehenden Entzug positiver Verstärker. Dies kann über eine systematische Nichtbeachtung bzw. über einen Entzug von Zuwendung und Ansprache erfolgen oder durch den Entzug konkreter positiver Verstärker; z. B.: Beim Schmieren mit dem Essen, wird dem Kind der Teller für 3 Minuten weggenommen. Praktisch erfolgt das Time-out häufig durch örtliche Trennung von den an einem Konflikt beteiligten Personen. Das Kind wird z. B. aus dem aktuellen sozialen Konfliktgeschehen heraus genommen, indem es in einen anderen Raum verwiesen wird. Im Time-out-Raum sollten entsprechend keine Möglichkeiten der Verstärkung (z. B. Fernsehen oder PC-Spielmöglichkeit im Kinderzimmer) gegeben sein. Zudem sollte das Time-out nicht Angst auslösend sein, indem ein Kind z. B. in einen dunklen Raum befördert wird. Grundsätzlich ist es wichtig, dass ein anstehendes Time-out dem Kind gegenüber sachlich begründet und angekündigt wird und sich somit keine Gefühle der ungerechten Behandlung einstellen. Die Dauer des Time-out sollte für das Kind überschaubar und damit relativ kurz gehalten sein. 2–5 Minuten reichen häufig; tritt das Prob-
13.4.2 Verstärkerpläne
Den systematischen Einsatz operanter Verstärkungen gewährleisten Verstärkerpläne (7 Übersicht »Komponenten von Verstärkerplänen«). Dabei ist zu beachten, dass eine eingangs hohe Attraktivität eines Verstärkers mit der Zeit abnehmen kann bzw. andere Verstärker an Attraktivität gewinnen. Daher ist stets auf den Sättigungsgrad der eingesetzten Verstärker zu achten, so dass Modifikationen vorgenommen bzw. neue attraktive Verstärker mit dem Kind »ausgehandelt« werden können. ! Materielle und soziale Verstärker verändern im Laufe des therapeutischen Prozesses ihre Wirksamkeit. Sie sind stets daraufhin zu überprüfen und aktuell sowie individuell (im Dialog mit dem Kind) anzupassen.
Die Kontrolle der Verstärkerwirksamkeiten ist sowohl für die Gewährleistung der Effekte direkter Belohnungen als auch (in)direkter Bestrafungen unverzichtbar. Es lohnt sich daher, im Vorfeld Listen möglicher materieller und Handlungsverstärker bereit zu halten, deren Beliebtheit bei der Interventionsplanung und im weiteren Verlauf wiederholt durch das Kind selbst eingeschätzt werden kann. Eine umfangreiche Liste solcher Verstärker findet sich bei Petermann u. Petermann (2001).
13
216
Kapitel 13 · Operante Methoden
Komponenten von Verstärkerplänen 4 Spezifisches Zielverhalten (z. B. angemessene Kontaktaufnahme im Gruppenkontext) 4 Verlaufs- und Zeitplanung (z. B. zu Beginn massierter und breiter Verstärkereinsatz bei ungefährem Zielverhalten, nach 3 Wochen Spezifizierung des Zielverhaltens, danach langsame Ausblendung) 4 Form der Verstärkung (z. B. kontinuierlich oder intermittierend) 4 Verstärkungsrate (unsystematisch, gemäß Zeitintervall, gemäß Anzahl gezeigten Zielverhaltens) 4 Inhalte der Konsequenzen (z. B. soziale Verstärkung im Verhaltensfeedback nach gelungener Situation; Token-Vergabe).
Verstärkerpläne lassen sich sowohl eindimensional konzipieren, indem ein bestimmter Verstärker auf speziell ein Verhalten hin vergeben wird oder sie werden mehrdimensional angelegt, indem zunächst ein Zielverhalten (Beteiligung im Unterricht) und darauf folgend ein anderes (Impulskontrolle bei Konflikten) exklusiv fokussiert wird (sequenzieller Plan), der Fokus z. B. in Wochenfrist wechselt (alternierender Plan) oder beide Zielverhalten gleichzeitig angegangen werden (paralleler Plan).
Selbstverstärkung
13
Im Zuge sich einstellender Lernfortschritte wird letztlich angestrebt, die externen Verstärker durch Selbstverstärkung abzulösen. Selbstverstärkungen sind für die Verfestigung erlernten Verhaltens von entscheidender Bedeutung. Sie basieren auf der erlebten Zufriedenheit und Freude für gelungenes Verhalten, die somit Selbstlob ermöglichen. ! Selbstverstärkung ist die wirksamste operante Technik der Verhaltenstherapie (Weisz et al. 1995)
Kontinuierliche und intermittierende Verstärkung Verstärkerpläne sehen kontinuierliche oder intermittierende Verstärkung vor. Eine kontinuierliche Verstärkung erfolgt stets nach gezeigtem Zielverhalten. Dies bedeutet einen entsprechend hohen Aufwand, auch aufgrund der nötigen permanenten Verhaltensbeobachtungen. Allerdings stellen sich über kontinuierliche Verstärkungen schnelle Verhaltensänderungen ein; sie werden häufig zu Beginn der Therapie eingesetzt und sind zum Aufbau neuen Verhaltens unverzichtbar. Im weiteren Verlauf einer Therapie wird eine Stabilisierung der angestrebten Verhaltensweisen angestrebt; mithin eine weitreichende Unabhängigkeit des Verhaltens von stetiger Verstärkung. Dies wird über intermittierende Verstärkung erreicht.
! Bei der intermittierenden Verstärkung wird bereits vorhandenes bzw. aufgebautes Verhalten lediglich partiell verstärkt, um es zu stabilisieren und möglicher Löschung entgegen zu wirken.
Intermittierende Verstärkung erfolgt nicht stetig, sondern entweder reaktionsorientiert oder gemäß bestimmter Zeitintervalle (Martin u. Pear 2007).
Verhältnispläne Es können auch Verhältnispläne eingesetzt werden, indem z. B. jedes fünfte Mal (20%-Plan) oder jedes zweite Mal (50%-Plan) eine Verstärkung erfolgt. Solche Verhältnispläne werden häufig variabel gehandhabt, so dass die Verstärkungsquote nicht stets präzise, sondern im Durchschnitt angestrebt wird. Verhältnispläne müssen jeweils individuell und situationsangemessen austariert werden (Linderkamp 2004). Ein fixierter Quotenplan sieht eine Verstärkervergabe nach einer gewissen Anzahl des vereinbarten Zielverhaltens vor. So z. B. könnte ein Quotenplan für einen leistungsängstlichen Schüler darin bestehen, dass er eine Verstärkung nach drei Unterrichtsmeldungen erhält. Ja nach Fortschritt würde sich dann die Quote vergrößern, was mit einer weiteren Stabilisierung des Verhaltens einherginge. Beim variablen Quotenplan ist zwar die durchschnittliche Verstärkungsquote festgelegt, der Zeitpunkt der Verstärkervergabe allerdings nicht. Variable Quotenpläne folgen häufig fixierten Plänen. Mit ihnen wird eine weitere Verhaltensstabilisierung erreicht. Die Verstärkung erfolgt stets systematisch; z.T. empfehlen sich Verstärkungssysteme wie das Token-System.
Token-System ! Beim Token-System wird gewünschtes Verhalten nicht unmittelbar, sondern mit Punkten, »Smileys« oder Münzen belohnt. Erst ab einer gewissen Anzahl erworbener »Token« lassen sich diese generalisierten Verstärker in primäre, nämlich materielle, soziale oder Handlungsverstärker eintauschen.
Grundlage dieser »Münzverstärkung« ist eine zuvor erzielte verbindliche Vereinbarung mit dem Kind, die sehr gut mittels eines kindgerechten schriftlichen »Vertrages« dokumentiert werden kann (. Abb. 13.2). Die Laufzeiten solcher Verträge sollten im Übrigen überschaubar sein, damit im Interventionsverlauf notwendige Modifizierungen – stets in Absprache mit dem Kind – vorgenommen werden können. Token-Systeme tragen zur Strukturierung bzw. Kontrolle schwieriger Situationen bei, insbesondere wenn sie zu einem Response-Cost-System erweitert werden.
217 13.4 · Darstellung des Verfahrens
. Abb. 13.2. Therapievertrag bei Rechenstörung (F81.2)
Response-Cost-Verfahren ! Beim Response-Cost-Verfahren werden Token nicht nur vergeben, sondern können auch aufgrund von vorher vereinbartem Fehlverhalten wieder entzogen werden.
Response-Cost-Verfahren wirken also auch strafend, bieten dabei allerdings den Vorteil, dass negative Auswirkungen auf die Beziehung zum Kind weitestgehend ausgeschlossen werden können (7 Beispiel »Durchführung eines ResponseCost-Systems«). Voraussetzung ist, dass zwischen Therapeut
und Patient zuvor im Konsens nichtakzeptables Verhalten erörtert und als solches (z. B. auf einem Poster im Therapieraum) festgehalten wird. Somit reicht im Konfliktfall der Verweis auf die Vereinbarung, um den Entzug von Token zu begründen – persönliche Verletzungen des Therapeuten – z. B. aufgrund verbaler Beleidigungen – bleiben außen vor. ! Response-Cost-Verfahren sind vor allem zur Kontrolle der Therapiesituationen mit jüngeren, aggressiven oder hyperaktiven Kindern angezeigt.
Beispiel Beispiel der Durchführung eines Response-Cost-Systems beim Sozialtraining für Kinder mit oppositionellem Trotzverhalten 1. Festlegung des therapeutischen Zielverhaltens bzw. der Komponenten gelungenen Verhaltens sowie des unerwünschten, sanktionsgebundenen Verhaltens – im Konsens mit dem Kind und vertraglich fixiert. 2. Auf Grundlage der getroffenen Übereinkunft wird das Zielverhalten reaktionskontingent und wie vereinbart verstärkt bzw. bestraft durch: – soziale Verstärkung in Form positiver Zuwendung mittels vereinbarter Zeichen (z. B. Zunicken, Daumen hoch) bei prosozialen Verhaltensteilen des
Kindes (z. B. Aufmerksamkeitslenkung, angemessene Kontaktaufnahme, konstruktiver Dialog), – materielle Verstärkung nach Beendigung der erfolgreichen Verhaltensübungen durch Vergabe von Token beim Verhaltensfeedback (z. B. Sternchen oder Smileyaufkleber ins Heft), – Ignorieren kleinerer Störungen (Löschung; Extinktion), – Bestrafung bei größeren Störungen gemäß Vereinbarungen (z. B. Provokationen, Beleidigungen) durch Entzug von Token im Rahmen des Verhaltensfeedbacks; entfernen eines Sternchens oder Smileys aus dem Heft.
13
218
Kapitel 13 · Operante Methoden
Prinzipien des operanten Lernens sind sowohl im therapeutischen Setting als auch in den realen Kontexten eines Kindes und seiner Bezugspersonen (Familie/Eltern, Schule/Lehrer) problemlos anwendbar.
Fallbeispiel
13
Der 11-jährige Pascal ist ein durchschnittlicher Schüler, der allerdings durch soziale Unsicherheiten im Kontakt mit anderen auffällt. Aktuell ist er in der 5. Klasse einer Gesamtschule und im Klassenverband weitreichend sozial isoliert. Die Eltern machen sich nun große Sorgen um Pascal und auch um sein weiteres Fortkommen in der Schule, zumal seine Klassenlehrerin eine immer größere Lustlosigkeit und Passivität innerhalb und außerhalb des Unterrichts beklagt. Pascal lässt jedes Interesse an Gruppenaktivitäten mit Gleichaltrigen vermissen. Der Junge wird in einer psychologischen Praxis vorgestellt, wo eine Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F93.2) diagnostiziert wird. Im Gespräch werden zunächst alle bestehenden Probleme und Unzufriedenheiten und danach die Wünsche und Ziele Pascals und seiner Eltern thematisiert und (auf Karten notiert) im Konsens nach Wichtigkeit geordnet. Auf dieser Grundlage wird vertraglich vereinbart, dass Pascal in der psychologischen Praxis an einem Training sozialer Kompetenzen teilnimmt und die Eltern an begleitenden Beratungen. Pascal erklärt sich darüber hinaus damit einverstanden, sich in jeder Unterrichtsstunde zunächst einmal mündlich zu beteiligen und in der Schule täglich einmal an Gruppenaktivitäten (z. B. Fußballspielen auf dem Pausenhof ) mitzuwirken. Pascal dokumentiert selbst, inwieweit ihm die Vorhaben gelungen sind (. Abb. 13.3). Nach Unterrichtsschluss trifft sich Pascal kurz mit seiner Klassenlehrerin und reflektiert mit ihr seine (Teil-)Erfolge. Seine Klassenlehrerin reflektiert ihrerseits die Situationen mit Pascal zweimal wöchentlich telefonisch mit Pascals Psychotherapeuten. Es werden Belohnungen vereinbart. So erhält Pascal nach einer Woche vereinbarter Beteiligung im Unterricht und an Gruppenaktivitäten eine Eintrittskarte für die Eislaufbahn. Nach vier Wochen werden neue Vereinbarungen für einen Anschlussvertrag (Erhöhung der Häufigkeit der Beteiligungen) erörtert und beschlossen. Bereits nach den ersten beiden Wochen zeigt Pascal deutlich abnehmende Angst. Eltern und Pascal sind guter Dinge, dass sich weitere positive Lernerfahrungen einstellen, so dass Pascal sich hoffentlich immer mehr selbst zutrauen wird.
Auch der Intervention in vivo geht eine sorgfältige Verhaltensanalyse voraus. Dabei wird die Intensität bzw. Häufig-
keit und/oder Dauer des »kritischen« Verhaltens durch wiederholte Messungen festgestellt und auf dieser Grundlage die Modifikationsziele bestimmt. Im Falle Pascals soll z. B. die Häufigkeit der Beteiligung im Unterricht und bei Gruppenaktivitäten erhöht werden. Es folgt die Auswahl geeigneter Verstärker, die in einen spezifischen Verstärkerplan Eingang finden. Bei Pascal empfiehlt sich z. B. ein paralleler Verstärkerplan: Beim Aufzeigen im Unterricht erhält er soziale Verstärkung durch verbales Lehrerlob; nach der Stunde und nach der sozial aktiven Pause erfolgt in Gegenwart Pascals die Vergabe jeweils eines Token durch Eintrag von zwei roten Sternchen ins Heft; nach zehn Token werden diese am Ende der Woche gegen einen Brief an die Mutter eingelöst, die daraufhin und auf Grundlage von Pascals Einträgen in seinen Selbstbeobachtungsbogen einen Besuch der Eislaufbahn finanziert. Über eine stetige Registrierung des gelungenen oder weniger gelungenen Zielverhaltens erfolgt eine genaue Wirksamkeitskontrolle der Intervention und zwar über die beteiligten Bezugspersonen (in der Regel die Eltern oder die Mutter und über den Lehrer, z. B. direkt nach jeder Stunde) sowie durch das Kind selbst mittels Selbstbeobachtungsbögen (. Abb. 13.3). Die protokollierten Ergebnisse gelungenen Verhaltens werden in überschaubaren Zeitabständen in Ergebniskonferenzen thematisiert und mittels verhaltensbezogenem Feedback durch die Bezugspersonen und durch (Ermutigungen zur) Selbstbekräftigung des Kindes (»Das habe ich gut hin bekommen«) sozial sowie über das Eintauschen der Token materiell verstärkt. Sofern es schließlich gelungen ist das Zielverhalten aufzubauen, empfiehlt sich zur weiteren Verstärkung der Einsatz von Intervallplänen, die in solchen zeitlichen Abständen wirksam werden, dass das Verhalten zwar aufrecht erhalten, seine Häufigkeit jedoch nicht weiter erhöht wird. Im Zuge der erreichten Lernfortschritte können die externen Verstärker ggf. durch Selbstverstärkung in Form einer Zuteilung von Token (gemäß vereinbartem Modus) durch das Kind selbst abgelöst werden, um sie schließlich durch Selbstbekräftigungen zu ersetzen.
13.5
Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen (Indikation und Kontraindikation)
Operante Methoden sind störungsübergreifend überall dort anwendbar und auch indiziert, wo es im Rahmen einer Psychotherapie um Kompetenzaufbau geht; mithin in den meisten Feldern der Verhaltenstherapie. Die Wirksamkeit operanter Methoden hängt naturgemäß nicht von kognitiven Kompetenzen ab, so dass sich ihr Einsatz insbesondere auch bei Säuglingen (z. B. mit Fütterstörungen), Kleinkindern und jungen Grundschulkindern sowie bei Kindern und Jugendlichen mit mentaler Retardierung empfiehlt (z. B. im Zusammenhang mit Selbstständigkeitstrainings).
219 Zusammenfassung
. Abb. 13.3. Selbstbeobachtungsbogen
13.6 Empirie: Wirkmechanismen und Effektivität Behaviorale Therapiemethoden sind zweifelsohne wirksam (Werry u. Wollersheim 1989). Metaanalysen von Weisz et al. (1995) stellen diesbezüglich unter Berücksichtigung von 150 Studien mit insgesamt 244 Interventionsgruppen eine Effektstärke von 0,76 fest. Höhere Effektstärken (0,86) wurden mittels der Kombination verschiedener behavioraler Verfahren erzielt, wohingegen sich die mit Abstand höchste Effektstärke über die Anwendung operanter Methoden (1,69) zeigte. Im Vergleich der Verstärkungsarten gibt es Hinweise auf eine besonders hohe Effektivität von Selbstverstärkung. Operante Methoden stellen evidenzbasierte Interventionstechniken dar (Chambless u. Hollon 1998) und gelten insofern als Basiskompetenzen der Verhaltenstherapie.
13.7
Ausblick
In der Verhaltensmodifikation wurde bereits früh und konsequent versucht, konkretes Verhalten durch eine gezielte operante Verstärkung auszubilden. Grundlage bildeten hier die lerntheoretischen Erkenntnisse aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Im Zuge der kognitiven Wende der folgenden 1970er und 1980er Jahre erfolgte eine beträchtliche Erweiterung der
Lernprinzipien, der schließlich die Öffnung der Verhaltenstherapie z. B. bezüglich systemischer Aspekte folgte (z. B. strukturelle Familientherapie). Im Zuge dessen und über vermehrte Publikationen von stark kognitiv geprägten Therapiemanualen gerieten die grundlegenden operanten Techniken der Verhaltenstherapie, wie sie auch im Kontingenzmanagement Anwendung finden, geradezu »aus der Mode«. Die aktuell wachsende Bedeutung der Wirksamkeitsforschung hat derzeit wieder die Aufmerksamkeit auf operante Therapiemethoden gelenkt, denn Sie erweisen sich als hochwirksam in den verschiedenen Feldern der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.
Zusammenfassung Operante Methoden basieren auf empirisch fundierten Lerngesetzen und stellen insofern hoch bedeutsame klinische Interventionsverfahren dar. Operante Methoden werden zum Zweck des Kompetenzaufbaus in unterschiedlichen Settings und störungsübergreifend eingesetzt. Dabei werden in systematischer Weise Verstärkungsprozesse initiiert, bei denen verschiedene soziale und materielle Verstärkerarten zum Einsatz kommen. Zur Vorbereitung operanter Interventionen ist eine spezifische Diagnostik erforderlich, die unter Nutzung strukturierter Interviews und Verhaltensbeobachtungen Verhal-
13
220
Kapitel 13 · Operante Methoden
tensanalysen und somit Ansatzpunkte für operante Interventionen ermöglicht. Auf Grundlage eines Therapievertrags mit dem Kind finden sowohl spezifische therapeutische Techniken des Chaining, Shaping, Prompting, Fading und des Time-out als auch Belohnungssysteme (Token-System, ResponseCost-System) Anwendung auf deren Grundlage systematisch Verstärkung erfolgt. Aufgrund der Unabhängigkeit der Effekte operanter Methoden von kognitiven Kompetenzen, ermöglichen operante Methoden einen wirksamen Zugang bei der Therapie mit Säuglingen, kleinen Kindern sowie bei mentaler Retardierung. Wie Metaanalysen belegen, sind behaviorale Therapiemethoden jedoch auch übergreifend hochwirksam, werden international als evidenzbasierte Interventionstechniken eingestuft und nehmen insofern einen (wieder) wachsenden Stellenwert in den verschiedenen Feldern der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ein.
Martin, G. & Pear, J. (2007) Behavior modification. What it is and how to do it. Upper Saddle River, N. J.: Prentice Hall, 8th ed. Mazur, J. E. (2004). Lernen und Gedächtnis. München: Pearson Education. Reinecker, H. (1999). Methoden der Verhaltenstherapie. In H. Reinecker (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie (S. 147–333). Tübingen: dgvt. Petermann, F. & Petermann, U. (2001). Training mit aggressiven Kindern. 10., vollständig überarbeitete Aufl. Weinheim: Beltz, PVU. Schermer, F. J. (2005). Operante Methoden. In F. J. Schermer, A. Weber, A. Drinkmann & G. Jungnitsch (2005). Methoden der Verhaltensänderung: Basisstrategien (S. 50–95). Stuttgart: Kohlhammer. Schneider, W. (2001). Pädagogische Psychologie I. Anwendungsperspektiven: Verhaltensmodifikation in Erziehung und Unterricht. Skript zur Vorlesung, Universität Würzburg Verfügbar unter: http://www. psychologie.uni-wuerzburg.de/i4pages/Skripten/Paedagogische/ ws01/01.29.02-druck.pdf. Weisz, J. R., Weiss, B., Han, S. S., Granger, D. A. & Morton, T. (1995). Effects of psychotherapy with children and adolescents revisited: A metaanalysis of treatment outcome studies. Psychological Bulletin, 117, 450–468. Werry, J. S. & Wollersheim, J. P. (1989). Behavior therapy with children and adolescents: A twenty-year overview. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 28, 1–18.
Literatur Weiterführende Literatur Chambless, D. L. & Hollon, S. D. (1998). Defining empirically supported therapies. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 66, 7–18. Hall, R. V. & Hall, M. L. (1998). How to use time-out, 2nd ed. Austin: Pro-ed. Kazdin, A. E. (2001). Behavior modification in applied settings. Belmont, CA: Wadsworth/Thompson Learning. Kowalczyk, W. (2008). Zielsetzung und Motivation. In G. W. Lauth, F. Linderkamp, S. Schneider & U. Brack (Hrsg.), Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen (S. 645–654). 2., vollständig überarbeitete Aufl. Weinheim: Beltz, PVU Linderkamp, F. (2004). Motivierung durch operante Verstärkung. In G. W. Lauth, M. Grünke & J. C. Brunstein (Hrsg.). Interventionen bei Lernstörungen (S. 124–134). Göttingen: Hogrefe.
13
Angermeier, M. F., Bednorz, P. & Hursh, S. R. (1994). Operantes Lernen – Methoden, Ergebnisse, anwendung – Ein Handbuch. München: Reinhardt. Edelmann, W. (2000). Lernpsychologie. (6., vollständige überarbeitete Aufl.). Weinheim: Beltz, PVU. Lauth, G. W., Linderkamp, F., Schneider, S. & Brack, U. (Hrsg.). (2008). Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen. (2. überarbeitete und erweiterte Aufl.). Weinheim: Beltz, PVU.
14
14 Kognitive Verfahren Gerhard W. Lauth, Katja Mackowiak
14.1
Einleitung
– 222
14.2
Theoretische Grundlagen
14.2.1 14.2.2
Interventionen – 223 Gemeinsamkeiten kognitiver Verfahren
14.3
Praktische Voraussetzungen und Diagnostik – 224
14.4
Darstellung des Verfahrens
14.4.1 14.4.2 14.4.3
Selbstbeobachtungs- und Selbstkontrolltechniken Selbstinstruktionstrainings – 227 Problemlösetraining – 227
14.5
Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen – 228
14.6
Empirie: Wirkmechanismen und Effektivität
14.7
Ausblick
– 231
– 231
Weiterführende Literatur
– 223
– 225
– 230
Zusammenfassung Literatur
– 223
– 232
– 225
– 229
222
Kapitel 14 · Kognitive Verfahren
14.1
Einleitung
Beispiel 4 Jonas (9 Jahre) ist sehr jähzornig. Wenn ihn jemand stört, ermahnt oder scheinbar ungerecht behandelt, rastet er schnell aus; er fängt an zu schreien, zu toben und wird manchmal sogar handgreiflich. 4 Katrin (14 Jahre) ist ein sehr schüchternes Mädchen. Im Kontakt mit Gleichaltrigen oder Fremden macht sie von sich aus kaum den Mund auf, wird auf Ansprache häufig rot und gibt einsilbige oder keine Antworten. 4 Das Lernen hat Michael (10 Jahre) noch nie sonderlichen Spaß gemacht, jetzt aber verweigert er sich fast vollständig. Er macht kaum noch Hausaufgaben und meldet sich im Unterricht überhaupt nicht mehr. 4 Kevin (14 Jahre) war in der Realschule ein recht beliebter Schüler, in seinem Fußballverein war er anerkannt und zeigte vielversprechende Leistungen. Seit etwa 3 Monaten hat er neue Freunde gefunden, mit denen er die Schule schwänzt, kleinere Diebstähle verübt und ohne Führerschein Motorrad oder Auto fährt. Mit seinem Fußballverein hat er sich überworfen, mit seinen Eltern gibt es kein Gespräch mehr. Zuletzt war er fast eine Woche weg, ohne dass die Eltern wussten, wo er sich aufhielt.
Welche Probleme zeigen sich in den genannten Beispielen? Was haben Kinder mit diesen Schwierigkeiten gemeinsam? Wo muss man ansetzen, um diese Probleme zu beseitigen? Die Wahrnehmungen bzw. Abbilder, die Wünsche, Ziele, Erwartungen und Bewertungen von Ereignissen, kurz: die kognitiven Prozesse, die unser Verhalten und Erleben maßgeblich beeinflussen, sind bei diesen Kindern beeinträchtigt. Fragt man die Kinder, welche Gedanken sie haben, so äußern sie: 4 »Ich sehe einfach rot, kann gar nichts denken, bin total wütend.« (Jonas) 4 »Ich traue mich nicht, etwas zu sagen, die anderen lachen mich sowieso nur aus, ich weiß schon vorher, dass ich rot werde.« (Katrin) 4 »Lohnt sich doch eh nicht, sich anzustrengen, ich schaffe das sowieso nicht, Schule ist blöd.« (Michael) 4 »Ich weiß alleine, was ich will. Meine Eltern wollen mir nur immer wieder reinreden.« (Kevin) Kein Wunder, dass sich derartige Gedanken nicht gerade positiv auf das Handeln auswirken. Ein wesentlicher Ansatzpunkt liegt somit in der Veränderung dieser ungünstigen Kognitionen, damit in der Folge funktionale und entwicklungsangemessene Handlungen vollzogen und möglichst auch positiv erlebt werden können. Genau darum geht es beim Einsatz kognitiver Verfahren. Kognitive Methoden sind weit verbreitet, gehen auf philosophische Grundgedanken zurück und werden spätestens seit den 1970er Jahren in der klinischen Psychologie gepflegt und zu praktikablen Therapiebausteinen (fort)entwickelt. Exkurs
14
Seit dem Auftauchen der Schriftsprache in der Weltliteratur lassen sich »Spruchweisheiten« in Form von »goldenen Regeln«, Epigrammen, Sentenzen oder Aphorismen finden, die einen ähnlichen handlungsplanenden bzw. -steuernden und/ oder emotionsregulierenden Charakter haben wie die heute therapeutisch genutzten kognitiven Verfahren. Als frühe Beispiele seien das bekannte »Carpe diem!« aus den Oden des Horaz (Oden I 11, 8; 30–23 v. Chr.) oder die Aussprüche Epikurs (3. Jh. v. Chr.), Epiktets, Senecas und Marc Aurels (1.–2. Jh. n. Chr.) genannt. Die erste explizite Anleitung zur Selbstverbalisierung ist in Ovids Ars amatoria (Die Liebeskunst; 25 v. Chr. erschienen) nachzulesen. In der modernen Kinder- und Jugendliteratur finden sich ebenfalls derartige »kognitive Ansätze«, u. a. Comics (z. B. Peanuts; Calvin und Hobbes; vgl. auch 7 Abschn. 14.7). 9 Mit freundlicher Genehmigung von Jennifer Loehr. © Copyright 1999 Jenny Loehr M. A. CCC-SLP. All rights reserved. (http://www.thepractice-cartoon.com/cartoon03.html)
223 14.2 · Theoretische Grundlagen
14.2
Theoretische Grundlagen
14.2.1 Interventionen
Unter dem Begriff der kognitiven Verfahren fasst man zahlreiche Interventionen zusammen, die seit Langem zum festen Grundbestand der klinisch-therapeutischen Praxis gehören, z. B.: Selbstbeobachtungs- und Selbstkontrollverfahren. Hier
werden abträgliche Verhaltensweisen (z. B. den Unterricht stören) durch den Klienten selbst in ihrem Auftreten und ihren Auftretensbedingungen zunächst beobachtet und registriert. Gleichzeitig können Beobachtungsaufgaben aber auch mit dem Zweck der Verhaltensänderung und Selbstkontrolle eingesetzt werden, indem nach einer Reflexion der Beobachtungsergebnisse Ziele abgeleitet und operationalisiert sowie in einer therapeutischen Begleitung vom Klienten umgesetzt werden. Selbstinstruktionstrainings (Meichenbaum u. Goodman 1971). Selbstanweisungen und Vorstellungsbilder haben zweifellos eine verhaltenssteuernde Funktion, was man bereits bei Kleinkindern beobachten kann, die ihr Handeln spontan durch sprachliche Selbstanweisungen anleiten und dadurch ungleich komplexere Handlungen vollbringen können, als wenn sie es unterlassen. Diese Beobachtung macht man sich im Selbstinstruktionstraining zu Nutze, indem man geeignete Selbstanweisungen für schwierige Situationen ausarbeitet, diese mit den jeweiligen Verhaltensweisen verbindet und die Klienten anleitet, ihr Handeln durch an sich selbst gerichtete Aussagen zu steuern. Problemlösetrainings (D’Zurrila u. Goldfried 1971). Sie bieten einen Lösungsalgorithmus an, mit dem komplexe und wenig durchschaubare Probleme in bearbeitbare Teile zerlegt werden können. Dieses Vorgehen lässt sich auf eine Vielzahl von sozialen Situationen und Aufgaben übertragen.
Diese Methoden werden gleichermaßen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen angewandt. Traditionell erfreuen sie sich großer Beliebtheit. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe: 1. Die Verfahren lassen sich durch die empirische Grundlagenforschung im Bereich der Entwicklungspsychologie und der allgemeinen Psychologie gut begründen. 2. Das Vorgehen ist unmittelbar einleuchtend und pragmatisch. 3. Der Klient erhält eine aktive Rolle und löst seine Probleme – mit Unterstützung des Therapeuten – weitgehend selbst, während der Therapeut die Aufgabe hat, zu strukturieren, anzuregen und Impulse zu geben. 4. Kognitive Verfahren haben sich in der empirischen Evaluationsforschung als wirksam erwiesen und bewährt.
14.2.2 Gemeinsamkeiten kognitiver Verfahren Grundstruktur. Die Einzelverfahren sind zwar durchaus unterschiedlich, haben aber eine gemeinsame Grundstruktur, die mindestens drei Schritte enthält: 1. Dysfunktionales Denken und Handeln sollen identifiziert werden. 2. Angemessene Zielvorstellungen und eine Konkretisierung des gewünschten Zielzustandes werden entwickelt. 3. Mittel und Wege sind zu erarbeiten, um den Zielzustand zu errreichen.
Diese Schritte entsprechen dem bekannten allgemeinen Problemlöseschema: Was ist das Problem, und warum wird etwas zum Problem? Was wäre wünschenswert? Wie kann es erreicht werden? Und woran würde ich sehen, dass der Zielzustand erreicht ist? Dieses Denken wurde von Dewey (1910) in die Pädagogik und Psychologie eingebracht und ist für zahlreiche Forscher zum Ausgangspunkt von pädagogischen Unterweisungen, Selbständerungsprogrammen und Therapiekonzepten geworden. Änderung der Wirklichkeitswahrnehmung. Kognitive Verfahren haben noch einen zweiten gemeinsamen Kern: die Vorstellung, was den Menschen handlungsfähig macht. ! Die Grundannahme kognitiv orientierter Ansätze besteht darin, dass Wirklichkeitswahrnehmungen (Abbilder), Wünsche, Überzeugungen und Ziele des Menschen ausschlaggebend für sein Handeln sind. Kognitive Prozesse wirken in vielfältiger Weise auf das Verhalten. Verhaltensprobleme und Störungen entstehen beispielsweise durch ungeeignete Wirklichkeitswahrnehmungen, ungeeignete Selbstgespräche, in denen unangemessene Verallgemeinerungen oder Überzeugungen geäußert werden, bzw. durch ungünstige Ziele oder ein unzureichendes Wissen.
Vor diesem Hintergrund werden Verhaltensstörungen als zwar aktive, aber fehlgeschlagene Problemlösungen gesehen. Würde der Klient bessere Lösungen kennen, könnte er sie auch anwenden. Infolgedessen ist es nur logisch, wenn die gedanklichen Anteile einer Störung nicht nur beachtet, sondern aktiv zugunsten angemessenerer Wahrnehmungen, Ziele, Handlungssteuerungen sowie eines verbesserten und realitätsnahen Wissens verändert werden. Selbstregulation und Selbstkontrolle. Hiermit ist die Fähigkeit des Menschen gemeint, sein eigenes Verhalten im Hinblick auf selbst gesetzte Ziele zu steuern. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen: Entweder das Verhalten selbst kann verändert werden (z. B. weniger essen) und/oder die Bedingungen, die das Verhalten aufrechterhalten, können modifiziert werden (z. B. alle Süßigkeiten aus der Wohnung entfernen).
14
224
Kapitel 14 · Kognitive Verfahren
Selbstregulation wird nach Kanfer und Mitarbeitern (Kanfer et al. 2000) immer dann notwendig, wenn gewohnte Handlungsmuster unterbrochen werden (z. B. wenn eine Zielerreichung blockiert ist bzw. notwendige Kompetenzen fehlen oder wenn es einen Konflikt zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten gibt). In diesen Fällen werden automatisierte Abläufe, die wenig Aufmerksamkeit und Energie erfordern und eine parallele Beschäftigung mit unterschiedlichen Aktivitäten ermöglichen, gestoppt. Stattdessen wird ein kontrollierter Informationsverarbeitungsprozess in Gang gesetzt, der einerseits mehr Kapazität (im Hinblick auf Zeit, Mühe, Aufmerksamkeit etc.) erfordert, andererseits aber auch bewusster abläuft und eine Reflexion des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns ermöglicht. In der kognitiven Verhaltenstherapie ist dies eine wesentliche Voraussetzung für die Veränderung problematischer Gedanken und Verhaltensweisen (vgl. etwa die Selbstmanagementtherapie von Kanfer et al. 2000). BorgLaufs und Hungerige (2005) haben diesen Ansatz auf die Therapie mit Kindern und Jugendlichen übertragen. Kognitive Verfahren bedienen sich dieses sehr aktiven Menschenbildes und versuchen, diese selbstregulatorischen Kompetenzen zu aktivieren bzw. zu stärken, also Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.
14.3
Praktische Voraussetzungen und Diagnostik
Der Einsatz kognitiver Verfahren ist an bestimmte Voraussetzungen auf Seiten der Klienten geknüpft (7Abschn. 14.5). Außerdem sind gewisse Rahmenbedingungen bei der Umsetzung hilfreich (vgl. etwa Fliegel et al. 1998):
14
4 Wichtig ist eine angstfreie, vertrauensvolle und ermutigende Atmosphäre, in der der Therapeut verständnisvoll und zugewandt reagiert und die Bedürfnisse des Kindes ernst nimmt. 4 Bei allen Übungen sollte den Kindern das Ziel verständlich und erstrebenswert sein. Nur wenn problematische Verhaltensweisen vom Kind als unangemessen erkannt und alternative Verhaltensweisen als hilfreich erachtet werden, kann die Mitarbeit sichergestellt werden. 4 Die Therapie beginnt mit leichteren Übungen und Alltagsaufgaben, die weniger belastend und erfolgreich zu bewältigen sind. Erst nach und nach werden zunehmend schwierigere Aufgaben ausgewählt. 4 Die einzusetzenden kognitiven Methoden sind individuell auf die Kompetenzen, Ressourcen und Bedürfnisse des Kindes abzustimmen.
Da es beim Einsatz kognitiver Verfahren vor allem um die Veränderung dysfunktionaler Gedanken und unangemes-
sener Problemlösestrategien geht, empfiehlt sich vorab eine systematische kognitive Analyse. Zwei Vorgehensweisen haben sich dabei als hilfreich erwiesen: die Methode des lauten Denkens und metakognitive Interviews. Methode des lauten Denkens. Hierbei werden die Ideen,
Pläne und Gedanken im Zusammenhang mit einer problematischen Situation sprachlich mitgeteilt, um so die Struktur kognitiver Prozesse sichtbar zu machen. Dies kann sowohl direkt in der Situation (z. B. bei der Bearbeitung eines Problems) als auch in der Vorstellung geschehen. Unrealistische Erwartungen, irrationale Überzeugungen und übertriebene Befürchtungen werden dabei ebenso aufgedeckt wie falsche oder in diesem Kontext unpassende Bewältigungsstrategien. Viele Kinder (gerade im Grundschulalter) zeigen spontane Selbstverbalisationen beim Lösen von Aufgaben und Problemen; andere nutzen diese Strategie der Handlungsregulation nicht oder nur unzureichend. Bei diesen Kindern muss das laute Denken durch wiederholte Fragen (z. B. »Und was denkst du jetzt?«; »Was würdest du jetzt tun?«; »Wie fühlst du dich in dieser Situation?«) angeregt und unterstützt werden. Metakognitive Interviews. Diese Interviews stellen eine weitere Möglichkeit dar, Informationen über Planungs- und Steuerungsprozesse in Problemlösesituationen zu erhalten. Beim metakognitiven Interview wird das Kind im Anschluss gefragt, wie es bei der Bewältigung der Situation vorgegangen ist. Hierzu stellt der Therapeut strukturierende Fragen, mit deren Hilfe Problemlösebemühungen rekonstruiert werden sollen. Die Fragen beziehen sich auf folgende Aspekte des Problemlöseprozesses (vgl. etwa Brunsting-Müller 1997): 4 Problem- und Zieldefinition (»Was war das Problem?«; »Was wolltest du erreichen?«); 4 Strategien (»Wie bist du vorgegangen?«; »Was hast du gemacht?; »Wie hast du herausgefunden, was du tun musst?«); 4 Handlungsroutinen (»Welche einzelnen Schritte hast du unternommen?«; »Was hast du alles gemacht?«); 4 Kontrollprozeduren (»Wie hast du herausgefunden, ob du etwas richtig gemacht hast?«); 4 Korrekturprozeduren (»Wie hast du dich korrigiert, wenn du etwas falsch gemacht hast?«); 4 Bewertung des Problems [»War dieses Problem schwierig für dich?«; »Wie schwierig (von 1-10)?«].
Darüber hinaus werden Fragen gestellt zum: 4 Erworbenen Wissen (»Was hast du bei diesem Problem gelernt?«) und zur 4 Generalisierbarkeit dieses Wissens (»Wo kannst du das Gelernte sonst noch nutzen?«) . 4 Hinweise auf subjektive Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und Erklärungen für Erfolg und Misserfolg (Kausalattributionen) können ebenfalls vor, während
225 14.4 · Darstellung des Verfahrens
. Abb. 14.1. Das ABC-Schema. (Aus Lauth u. Heubeck 2006)
oder nach der Bearbeitung eines Problems erfragt werden (»Glaubst du, du wirst dieses Problem erfolgreich lösen?«; »Wie schlimm ist es, wenn du es nicht schaffst?«; »Wie erklärst du dir deinen Erfolg/Misserfolg?«). 4 Auch spontane Äußerungen, die das Kind zu positiven und negativen Ergebnissen formuliert, können aufgegriffen und näher exploriert werden (z. B. »Warum glaubst du, kannst du das nicht?«; »Warum hältst du dich für dumm?«).
tan?«) erfragt. Auslösende Bedingungen in der Situation (A=Auslöser), begleitende Gedanken (B=Bewertung) sowie die emotionalen und behavioralen Folgen (C=Konsequenz) werden anschließend in einer Tabelle zusammengestellt (. Abb. 14.1, linke Spalte).
14.4
Darstellung des Verfahrens
14.4.1 Selbstbeobachtungs-
Eine solche Befragung stellt für jüngere Kinder eine ungewohnte Anforderung dar und ist in der Regel erst gegen Ende der Grundschulzeit Erfolg versprechend. Auch lässt die Mitarbeit der Kinder bei diesem sehr anspruchvollen Vorgehen manchmal nach (das Kind schweigt, gibt einsilbige Antworten oder erfasst nicht das Wesentliche). In diesem Fall kann es hilfreich sein, stellvertretend die Verhaltensprobleme anderer Pesonen (z. B. in Filmen, Bildergeschichten oder Comics) zu analysieren. Hier werden schwierige Situationen beispielhaft dargestellt. Das Kind soll sich in die Lage des Protagonisten versetzen und seine Gedanken sowie mögliche Ausgänge der Geschichte entwickeln. Auch die dabei geäußerten Kognitionen und Bewältigungsversuche können diagnostisch genutzt werden. Bei Jugendlichen können darüber hinaus auch vereinfachte Methoden aus der kognitiven Therapie mit Erwachsenen Anwendung finden. Beispielsweise können mit dem ABC-Modell problematische Situationen daraufhin analysiert werden, welche ungünstigen Gedanken auftreten und welche emotionalen Reaktionen hervorgerufen werden. Der Jugendliche wird gebeten, eine typische Problemsituation zu beschreiben. Dabei werden immer wieder seine Gedanken (»Was hast du dabei gedacht?«) und deren Konsequenzen (»Wie hast du dich gefühlt?«; »Was hast du ge-
und Selbstkontrolltechniken Um ein problematisches Verhalten sowie seine vorausgehenden und folgenden Bedingungen verändern zu können, müssen diese in einem ersten Schritt genau analysiert werden. Hierzu sind gezielte Beobachtungen im Alltag unverzichtbar. Beobachtungen können dabei sowohl diagnostischen (z. B. wie oft meldet sich ein sozial ängstliches Mädchen derzeit im Unterricht?) als auch therapeutischen Zwecken (z.B. erreicht das Mädchen das vereinbarte Ziel, sich pro Tag dreimal im Unterricht zu melden?) dienen. Sie können von den betroffenen Kindern und Jugendlichen selbst oder von deren Bezugspersonen, manchmal auch vom Therapeuten (z. B. im Rahmen einer Unterrichtsbeobachtung oder einer Verhaltensübung) durchgeführt werden. ! Führt der Betroffene selbst die Beobachtung durch, so hat dies oft schon erste Änderungen seines problematischen Verhaltens zur Folge, weil er dadurch für die Wahrnehmung des Problems und seiner Umstände sensibilisiert wird und die kindliche Reflexion angeregt und erste Änderungsbemühungen initiiert werden.
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226
Kapitel 14 · Kognitive Verfahren
In diesem Sinne kann die Selbstbeobachtung den kognitiven Verfahren zugeordnet werden. Als therapeutische Methode geht die Selbstbeobachtung i.d.R. mit gezielten Änderungsabsichten einher. So wird mit dem Kind bzw. Jugendlichen gemeinsam erarbeitet, welche Zielverhaltensweisen realisierbar sind. Mittels Selbstbeobachtung sollen dann die im Alltag erreichten Fortschritte protokolliert und somit bewusst gemacht werden. Zusätzlich hat diese Methode den Vorteil, dass das Kind bzw. der Jugendliche die erzielten Erfolge unmittelbar wahrnehmen kann und damit sein Erleben von Selbstwirksamkeit gestärkt wird. In der Literatur lassen sich folgende wichtige Hinweise zur Gestaltung einer Selbstbeobachtung in Form einer Hausaufgabe für Kinder finden (vgl. im Überblick Bellingrath 2001): 4 Das Kind sollte verstehen und akzeptieren, warum ein bestimmtes Zielverhalten angestrebt wird; hierzu kann es hilfreich sein, eigene Ideen und Vorschläge des Kindes zu berücksichtigen (z. B. »Wie kannst du dazu beitragen, dass es morgens weniger Streit mit deiner Mutter gibt?«). 4 Das vereinbarte Zielverhalten sollte möglichst konkret und für das Kind verständlich formuliert werden (z. B. am Abend vereinbaren, was morgens angezogen wird und gemeinsam die Schultasche packen; zu einer verabredeten Zeit aufstehen; sich die Hausaufgaben merken). 4 Das Zielverhalten muss genau operationalisiert werden (z. B. hinsichtlich Zeit, Häufigkeit, Dauer, Intensität, Qualität). 4 Die Registrierung des Zielverhaltens sollte möglichst genau vereinbart werden; hilfreich sind hierbei gemeinsam entwickelte oder vorgefertigte Protokollbögen. Diese sollten leicht anwendbar und mit einer unmittel-
baren Rückmeldung über den Erfolg bzw. Misserfolg verbunden sein (. Abb. 14.2). 4 Die regelmäßige Durchführung der Selbstbeobachtung sollte zudem kontingent verstärkt und in jeder Therapiestunde besprochen werden. Selbstbeobachtungsaufgaben können bei Kindern und Jugendlichen also eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit gezielt auf das Problemverhalten zu lenken und erste Selbstregulationsprozesse in Gang zu setzen. Bei Jugendlichen kann das ABC-Modell nicht nur – wie in 7 Abschn. 14.3 beschrieben – zu diagnostischen Zwecken, sondern auch zur Veränderung dysfunktionaler Gedanken und Bewältigungsstrategien genutzt werden. Ziel ist hierbei, den Einfluss ungünstiger Gedanken auf das Verhalten und Erleben zu verdeutlichen und einen günstigeren Verlauf bisher problematischer Situationen zu erarbeiten. Was hätte der Jugendliche anders machen können? Welche Reaktionen wären günstiger gewesen? Zunächst werden alternative Verhaltensweisen entwickelt und daraufhin analysiert, ob sie auch angenehmere emotionale Reaktionen zur Folge (C) hätten (z. B. »Was wäre zu erwarten, wenn du so handelst?«). Gegebenenfalls hilft der Therapeut bei der Suche nach wünschenswerten Reaktionsalternativen. Die Ergebnisse werden in die rechte Spalte des ABC-Modells eingetragen (. Abb. 14.2, Zeile C=Konsequenzen). Anschließend geht es um die Erarbeitung von Bewertungen, die für solche günstigen Reaktionen notwendig sind. Sie stehen zwischen der auslösenden Situation und den emotionalen und behavioralen Konsequenzen. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, diesen Prozess durch Fragen zu unterstützen (z. B. »Wie müsstest du über die Situation denken, um so zu fühlen und zu handeln?«). Die Antworten werden gemeinsam in Form alternativer
14
. Abb. 14.2. Beispiel für eine Liste zur Aufzeichnung einer Selbstbeobachtung. (In Anlehnung an Petermann u. Petermann 2003)
227 14.4 · Darstellung des Verfahrens
Gedanken bzw. Bewertungen (B) formuliert und in das Schema eingetragen. Voraussetzung ist, dass der Jugendliche die vorgeschlagenen Bewertungen auch als akzeptabel, glaubhaft oder umsetzbar bewertet.
14.4.2 Selbstinstruktionstrainings
Selbstinstruktionsverfahren erfreuen sich seit den 1970er Jahren zunehmend großer Beliebtheit, wenn es um das Erlernen einer angemessenen Selbstregulation bzw. -steuerung geht. ! Den verschiedenen Ansätzen ist gemeinsam, dass sprachliche, an sich selbst gerichtete Äußerungen genutzt werden, um das eigene Denken, Fühlen und Handeln zu beeinflussen. Es geht also darum, ein günstiges Zusammenspiel zwischen Kognitionen, Emotionen und Verhalten zu erreichen.
Meichenbaum und Goodman (1971) entwickelten die bis heute bekannteste Form des Selbstinstruktionstrainings. Sie gingen bei der Konzeption von entwicklungspsycholo-
gischen Beobachtungen zur Selbststeuerung von Kindern aus. Inspiriert wurden sie vor allem durch Befunde aus der russischen Psychologie, die belegten, dass Kinder in schwierigen Situationen ihr Handeln durch Selbstanweisungen steuern. Dies ermöglicht ihnen, planvoll vorzugehen und ungleich komplexere Handlungen zu vollziehen. In Mannheim griff Otto Selz (1935) diese These auf und entwickelte daraus eine Art Therapietechnik, die Meichenbaum und Goodman nochmals formalisierten. Das Selbstinstruktionstraining hat die Verinnerlichung handlungssteuernder Dialoge zum Ziel. Dabei werden angemessene Selbstanweisungen erarbeitet und über fünf Übergangsstufen bis zum »inneren Sprechen« eingeübt (Meichenbaum u. Goodman 1971, s. Übersicht). Es wird in der Regel dann zur nächsten Stufe übergegangen, wenn die vorausgehende ausreichend beherrscht wird. Jedoch ist die Einhaltung dieser Abfolge keine zwingende Notwendigkeit; oft werden auch die Stufen 4 und 5 verkürzt oder können sogar entfallen. Mit Hilfe des Selbstinstruktionstrainings kann ein vergleichsweise fehlerfreies Lernen (»Erfolgstherapie«) verwirklicht werden.
Das Selbstinstruktionstraining in fünf Schritten nach Meichenbaum und Goodman (1971) 1. Kognitives Modellieren: Der Therapeut demonstriert die Nutzung von Selbstanweisungen bei der Bearbeitung einer Aufgabe. 2. Externe Verhaltenssteuerung: Das Kind bearbeitet eine Aufgabe und wird dabei durch Anweisungen des Therapeuten angeleitet.
Die erarbeiteten Selbstinstruktionen werden gemeinsam mit dem Kind/Jugendlichen auf die Lösung der Aufgabe bzw. Situation zugeschnitten und folgen einem allgemeinen Problemlöseprozess. Entsprechend lassen sich Überschneidungen und Kombinationsmöglichkeiten mit einer weiteren kognitiven Technik, dem Problemlösetraining, finden.
14.4.3 Problemlösetraining
Problemlösetrainings gibt es inzwischen in vielen Variationen; allen gemeinsam ist eine Grundstruktur, die sich dadurch kennzeichnen lässt, dass ein Problem und das anzustrebende Ziel definiert, Lösungsalternativen gesammelt und auf ihre Brauchbarkeit überdacht werden, die erfolgversprechendste Alternative ausgewählt und realisiert wird. Dabei ist immer wieder zu überprüfen, ob die gewählten Lösungsschritte zielführend sind. D’Zurilla und Goldfried (1971) liefern ein Beispiel für ein allgemeines Problemlöseschema (s. Übersicht).
3. Offene Selbstinstruktionen: Das Kind lenkt sein Verhalten durch laut geäußerte eigene Selbstanweisungen. 4. Abgeschwächte Selbstinstruktionen: Das Kind flüstert die Selbstanweisungen, während es die Aufgabe löst. 5. Verdeckte Selbstinstruktionen: Das Kind lernt, sein Verhalten durch verinnerlichte Selbstverbalisierungen (Denken) zu steuern.
In fünf Schritten zur Lösung – Problemlösen nach D’Zurilla und Goldfried (1971) 1. Eine allgemein förderliche Haltung zum anstehenden Problem einnehmen (etwa ein Problem akzeptieren; Probleme für lösbar halten; Problemsituationen nicht übergehen; nicht vorschnell handeln bzw. nichts tun) 2. Das vorliegende Problem verhaltensorientiert bestimmen (etwa das Problem genau benennen; die verschiedenen Anteile eines Problems formulieren; sich wichtige Ziele und Konflikte deutlich machen) 3. Viele alternative Lösungen entwickeln (Brainstorming) 4. Die bestmögliche Lösung herausfinden (also die Folgen durchspielen; eigene Bedürfnisse berücksichtigen) 5. Die Lösungshandlung wirklich ausführen.
14
228
Kapitel 14 · Kognitive Verfahren
Die Realisierung dieser Problemlöseschritte sowie die dazu notwendigen Problemlösefertigkeiten lassen sich sowohl einzeln als auch in Gruppen vermitteln. Exemplarisch soll im Folgenden das Vorgehen bei der Vermittlung von Problemlösekompetenzen vorgestellt werden (vgl. Lauth 2001): Ausbildung einer angemessenen »Problemlösehaltung«.
14
Das erste Ziel des Trainings besteht darin, impulsives Handeln zu verhindern und stattdessen ein reflexives Vorgehen zu initiieren. Dazu werden die Kinder aufgefordert, für kurze Zeit innezuhalten (Reaktionsverzögerung), zusätzliche Informationen einzuholen und auf die Regeln des Problemlösens (z. B. planen, schrittweise vorgehen) zu achten. Erst wenn automatisierte Handlungsabläufe unterbrochen werden, ergibt sich die Chance zum differenzierten Handeln. Um das zu erreichen, werden verschiedene therapeutische Techniken eingesetzt, z. B.: 4 Reaktionsstopp nach dem Muster von »Stop! Look, listen and think!« Zumeist wird dies an Aufgaben, bei denen sich schnell Fehler einschleichen (z. B. Labyrinthaufgaben, Zahlenverbinden), erprobt und eingeübt. Anschließend wird in der Gruppe diskutiert, in welchen Situationen sich ein planvolles Vorgehen noch lohnen könnte (z. B. bei extremer Wut oder wenn man für ein Problem keine Lösung weiß). Stoppsignale werden zumeist bildlich illustriert (z. B. eine Comicfigur mit einem Stoppschild) und in verschiedenen Situationen eingeübt. 4 Sich selbst Hinweisreize geben (z. B. ein Gummiband, das um das Handgelenk getragen wird, zuschnappen lassen), um eskalierende und unangemessene Verhaltenstendenzen zu unterbrechen. 4 Vorstellungsbilder aktualisieren: Hilfreiche Bilder (z. B. sich wie eine Schildkröte in seinen Panzer zurückziehen) sollen genutzt werden, wenn die Gefahr besteht, in einer Situation die Kontrolle zu verlieren. 4 Nutzung von allgemeinen Regeln im Umgang mit schwierigen Situationen (z. B. »Handele nicht voreilig! Verschaffe Dir einen Überblick über die Situation und nutze alle vorhandenen Informationen! Wie könnte dein Gegenüber das Problem sehen?«). Einübung von Problemlösekompetenzen. Hier wird das sequenzielle Vorgehen beim Problemlösen erst an einfachen, überschaubaren Materialien (etwa Zuordnungsaufgaben), später im Rahmen von Rollenspielen an komplexeren und alltagsnahen Problemen eingeübt (z. B. einen Konflikt lösen, ein Referat vorbereiten). Die einzelnen Problemlöseschritte werden dabei systematisch in der Gruppendiskussion und im Rollenspiel auf das anstehende Problem angewandt: a) Das vorliegende Problem wird mit seinen verschiedenen Aspekten genau beschrieben. b) Zielvorstellungen und die damit verbundenen Vor- und Nachteile werden diskutiert.
c) Mittels Brainstorming werden möglichst viele Lösungswege entwickelt und auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft. Hierzu sind auch Kriterien für die Bewertung möglicher Lösungen zu erarbeiten (z. B. Erfolgswahrscheinlichkeit, Fairness). d) Erprobung des gewählten Lösungsweges im Rollenspiel und anschließende Diskussion, ob die Kriterien einer »guten Lösung« erfüllt sind. e) Transfer auf den Alltag. Das in der Gruppe eingeübte Problemlöseschema wird nach und nach auch im Alltag erprobt und in der Gruppe reflektiert sowie ggf. korrigiert. Der Therapeut moderiert diesen Ablauf durch direkte Anweisungen, strukturierende Fragen, Ermutigung und verbale Hinweise, genaues, verhaltensmodellierendes Feedback zu den Rollenspielen, Demonstration sozial kompetenten Verhaltens, Abrufen von Diskussionsbeiträgen und das Zusammenfassen von Diskussionsergebnissen. Am Ende eines solchen Trainings, das in der Regel über einen Zeitraum von 10 bis 14 Wochen konzipiert ist, sollen die Kinder in der Lage sein, eine Vielzahl von Alltagsproblemen nach den allgemeinen Problemlöseprinzipien zu bewältigen. Hilfreich bei der Realisierung dieses Vorgehens sind gemeinsam formulierte Selbstinstruktionen, die den Problemlöseprozess widerspiegeln (vgl. etwa Lauth u. Schlottke 2002). Problemlösetrainings können auch über Mediatoren realisiert werden. In diesem Fall arbeitet man nicht direkt mit den Kindern, sondern über den Weg der Eltern oder anderer Bezugspersonen. Diese werden im (sozialen) Problemlösen angeleitet und lernen, wie sie im Alltag die Problemlösefertigkeiten ihrer Kinder fördern können. Vorteil eines solchen Vorgehens ist, dass damit auch sehr junge Kinder einbezogen werden können und der Transfer auf den Alltag unmittelbar angestrebt wird; Shure und Spivack (1981) haben beispielsweise ein solches Programm für Mütter von Vorschulkindern entwickelt.
14.5
Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen
Kognitive Verfahren können für eine Vielzahl von Problemen und Störungen eingesetzt werden und gehören zum festen Bestandteil vieler Therapieprogramme. Mögliche Einsatzbereiche sind: 4 aggressives und oppositionelles Verhalten, 4 Angststörungen, Phobien, sozial-unsicheres Verhalten, 4 Zwänge und Tics, 4 hyperkinetische Störungen, 4 depressive Störungen, 4 Essstörungen, 4 Lernstörungen.
229 14.6 · Empirie: Wirkmechanismen und Effektivität
Kognitive Interventionen werden oft mit weiteren Therapiemaßnahmen (etwa Training sozialer Fertigkeiten, Elterntraining, operanten Methoden, Gestaltung von Abläufen und Situationsumständen; Beratung von Lehreren und Erziehern in Verhaltensmanagement) kombiniert. Sie sind zu einer Behandlungsroutine für viele Störungen im Kindes- und Jugendalter geworden. Gleichwohl sind sie teilweise der direkten Beeinflussung des kindlichen Verhaltens durch operante Methoden unterlegen (etwa bei hyperkinetischen oder oppositionellen Störungen). Insofern sollten sie mit anderen Behandlungsmethoden kombiniert oder bevorzugt bei solchen Verhaltensweisen eingesetzt werden, die weniger der Fremd- als vielmehr der Selbststeuerung des Kindes unterliegen (etwa: Peer-Kontakte, Lernverhalten).
Voraussetzungen Der Einsatz kognitiver Verfahren setzt auf Seiten des Klienten bestimmte Ressourcen und Kompetenzen voraus. Bei Kindern und Jugendlichen stellt sich insbesondere unter einer entwicklungspsychologischen Perspektive die Frage, ob sie über diese Fähigkeiten verfügen. In der Literatur werden verschiedene entwicklungsbedingte Voraussetzungen diskutiert (vgl. etwa Borg-Laufs u. Trautner 1999; Borg-Laufs u. Hungerige 2005). So setzen Verfahren der Selbstkontrolle und Selbststeuerung bestimmte kognitive Kompetenzen voraus, die zum überwiegenden Teil erst mit Beginn des Grundschulalters erworben werden. Hier erreichen die Kinder in der Regel das Niveau der konkreten Intelligenz nach Piaget. Ihr Denken wird reversibel und ist nicht mehr auf einen einzelnen Sachverhalt zentriert. Kinder können sich nun gleichzeitig vorstellen, wie eine Situation jetzt ist, wie sie vorher war und wie sie sein könnte; beobachtete Abläufe können gedanklich rückgängig gemacht werden. Auch erste metakognitive Fähigkeiten zeigen sich, z. B. die bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Kognitionen oder das Erkennen von Widersprüchen im eigenen Denken und Verhalten. Allerdings beziehen sich diese Denkprozesse noch auf konkret-anschauliche Sachverhalte. Ein abstraktes, hypothetisches und formal-logisches Denken (Stadium der formalen Operationen nach Piaget) wird erst mit etwa 11–12 Jahren möglich. Die Fähigkeit zur (sozialen) Perspektivenübernahme ist eine weitere wesentliche Voraussetzung für das Verstehen und Verändern von vor allem sozialen Problemen. Kinder müssen in der Lage sein, sich in die Lage eines anderen zu versetzen, um eine Situation aus dessen Perspektive zu betrachten. Nur so können sie verstehen, wie ihr Verhalten auf andere wirkt oder wie das eigene Verhalten und Reaktionen der Umwelt sich wechselseitig beeinflussen. Hierzu gehört auch, sein eigenes und das Handeln anderer nach moralischen Kriterien zu bewerten (z. B. was ist erlaubt, was ist fair?). Auch diese Fähigkeiten entwickeln sich vor allem im Verlauf des Schulalters.
Selbstkontrolltechniken stellen außerdem hohe Anforderungen an die Aufmerksamkeit, Selbststeuerungsfähigkeit und Motivation der Klienten. Kinder und Jugendliche müssen in der Lage sein, das eigene Denken, Fühlen und Handeln zum Gegenstand der Betrachtung zu machen und gezielt zu verändern. Diese Fähigkeit entwickelt sich ebenfalls ab einem Alter von etwa 6–8 Jahren. Die Aufmerksamkeit kann gezielt gelenkt, das eigene Handeln durch verdeckte Selbstanweisungen bewusst gesteuert werden. Darüber hinaus muss eine gewisse Einsicht in das problematische Verhalten bestehen (Störungsbewusstsein), damit das Kind überhaupt motiviert ist, sein Verhalten zu beobachten und zu verändern. Hierzu gehören u. a. die Bereitschaft, sich anzustrengen und Misserfolge auszuhalten, die Ausdauer bei der Problembewältigung oder die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub. Kindern mit externalisierenden Verhaltensstörungen fällt dies oft schwer. Hier empfiehlt sich, die Sitzungen hochstrukturiert durchzuführen, sehr klare Verhaltensregeln einzuführen sowie mit operanten Methoden zu arbeiten.
14.6
Empirie: Wirkmechanismen und Effektivität
Kognitive Verfahren sind nicht nur sehr beliebt, ihre Wirksamkeit konnte auch in einer Reihe von Studien nachgewiesen werden. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass sie in der Regel nicht als einzelne Methode, sondern in Kombination mit anderen verhaltenstherapeutischen Interventionen eingesetzt werden. Durlak et al. (1991) untersuchten in einer Metaanalyse die Wirksamkeit kognitiver Verfahren; sie konnten eine moderate, aber substanzielle Verbesserung klinischer Verhaltensauffälligkeiten sowohl direkt nach der Therapie (d=0.56) als auch im kurzfristigen (bis zu 4 Monate) Follow-up (d=0.50) nachweisen. In einer neueren Metaanalyse untersuchten Purdie et al. (2002) kognitive Methoden in Kombination mit anderen Interventionen insbesondere bei hyperkinetischen Störungen. In insgesamt 74 Interventionsstudien mit 2193 Personen wurde die Wirksamkeit dieser Methoden im Vergleich zu Medikation, Elterntraining, schulbasierten und außerschulischen Interventionen analysiert. Die Ergebnisse belegen, dass die multimodale Behandlung hauptsächlich die Verhaltenssymptomatik (vor allem die Hyperaktivität) und das soziale Verhalten verbessert (d=0.5 bzw. d=0.6), weniger jedoch emotionale Aspekte und kognitive Leistungen (z. B. Schulleistung). Die Wirksamkeit steht einer pharmakologischen Behandlung nicht nach; in einzelnen Studien werden bei kognitiv-behavioralen Interventionen sogar stabilere Effekte erreicht. Chambless und Ollendick (2001) konnten die Wirksamkeit kognitiver Interventionsverfahren besonders in der Therapie von Ängsten und bei der Bewältigung von
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230
14
Kapitel 14 · Kognitive Verfahren
medizinischen Eingriffen nachweisen. Chorpita et al. (2002) kommen in einer umfassenden metaanalytischen Bewertung unterschiedlicher Verfahren ebenfalls zu dem Ergebnis, dass sich kognitiv-behaviorale Verfahren bei der Behandlung kindlicher Ängste und Depressivität eignen und im Alltag bewähren (»effectiveness«). Hier rangieren sie nach den Kriterien der »Task Force on Empirically Supported Psychosocial Intervention« der American Psychological Association (vgl. Chambless u. Hollon 1998) auf Ebene 1 (»well established psychosocial interventions«), was bedeutet, dass mindestens zwei qualitativ hochwertige Gruppenstudien vorliegen und die Ergebnisse im Vergleich zu einer Kontrollgruppe besser bzw. im Vergleich zu einer empirisch validierten Intervention gleich gut ausfallen. Bei der Behandlung von expansiven Verhaltensstörungen (etwa oppositionellem Trotzverhalten) lassen sich kognitive Verfahren auf Ebene 2 (»probably efficacious psychosocial interventions«) einstufen, was voraussetzt, dass in zwei kontrollierten Gruppenstudien bessere Ergebnisse erzielt werden als in einer unbehandelten Kontrollgruppe. Eine Analyse der Therapiestudien in Deutschland schließt sich diesen Einschätzungen weitgehend an (Beelmann u. Schneider 2003). Hier zeigt sich die Wirksamkeit kognitiv-behavioraler Verfahren insbesondere bei Angststörungen, aber auch bei Lernstörungen und mentaler Retardierung. Bei Kindern mit aggressivem und oppositionellem Verhalten werden vor allem sozial-kognitive Problemlösetrainings eingesetzt. Auch hier zeigen sich positive Effekte, in der Weise, dass sich durch die Trainings aggressive und antisoziale Probleme in verschiedenen Kontexten (z. B. Familie, Schule, Freizeit) verringern (vgl. Bear u. Nietzel 1991; Durlak et al. 1991; Bennett u. Gibson 2000). Ältere Kinder, die bereits die Stufe der formalen Intelligenz erreicht haben (11–13 Jahre), scheinen dabei mehr vom Einsatz kognitiver Verfahren zu profitieren als jüngere Kinder (5–7 Jahre). Kinder mit Mehrfachdiagnosen (z. B. aggressiv-dissoziale und hyperkinetische Störungen) oder mit Entwicklungsund Lernstörungen sprechen ebenfalls weniger gut auf die Behandlung an. Außerdem bleiben viele Kinder trotz signifikanter Verbesserungen der Verhaltensprobleme weiterhin im klinischen Bereich (Kazdin et al. 1992). Einige Metaanalysen zeigen zudem, dass die unmittelbaren Effekte von kognitiv-behavioralen Verfahren zwar deutlich ausfallen, aber im Langzeitverlauf auch wieder rückläufig sind (vgl. Lösel u. Beelmann 2003). In neueren Untersuchungen werden kognitiv-behaviorale Programme zunehmend auch zur Prävention von Verhaltensstörungen (z. B. von aggressivem und antisozialem Verhalten) eingesetzt (Lösel u. Beelmann 2003). Hier schneiden sie im Vergleich zu anderen Verfahren am besten ab und erweisen sich auch in Follow-up-Untersuchungen als wirksam.
> Fazit Folglich gelten kognitive Verfahren als vielversprechende Behandlungsform im Kindes- und Jugendalter (Brestan u. Eyberg 1998). Bei externalisierenden Störungen empfiehlt sich auf Grund der derzeitigen Befundlage eine Kombination mit Elterntrainings (Kazdin et al. 1992; Webster-Stratton u. Hammond 1997). Für die Behandlung von hyperkinetischen Störungen wird darüber hinaus der zusätzliche Einsatz von operanten Verfahren und/ oder Interventionen über die Eltern oder Lehrer empfohlen (Pelham et al. 1998).
14.7
Ausblick
Die hier behandelten Verfahren spielen in der Therapie von Kindern und Jugendlichen ebenso wie in der Therapie mit Erwachsenen eine bedeutende Rolle und werden – in Kombination mit anderen Verfahren – bei einer Vielzahl von Störungen eingesetzt. ! Sie sind immer dann indiziert, wenn einerseits das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewertung, Zielsetzung und Handlung gestört ist und andererseits die Kinder selbst aktiv werden können und wollen. Im Prinzip sind kognitive Interventionen eine Hilfe zur Selbsthilfe, der Therapeut nutzt sie, um dem Betroffenen einen Weg aus den Schwierigkeiten zu weisen. Das Kind bzw. der Jugendliche ist maßgeblich selbst an der Lösungssuche beteiligt und wird in die Lage versetzt, auch zukünftig mit schwierigen Situationen umgehen zu können.
Hier wird deutlich, dass diese Verfahren einen engen Bezug zur Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen haben. Selbstregulation, Selbstreflexivität oder Problemlösefähigkeit sind unter einer entwicklungspsychologischen Perspektive wesentliche Fähigkeiten, deren Grundzüge ein Kind bereits relativ früh erwerben sollte. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass es immer wieder Versuche gibt, kognitive Interventionsansätze auch auf Erziehung und Unterricht zu übertragen. Beispielsweise wurden bereits in den 1970er Jahren Unterrichtsformen erprobt, in denen die Schüler rational-emotives Denken und Problemlösen lernten. Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie waren und sind oft genug auch Bestandteil von Psychologie-, Ethik- oder mathematisch-naturwissenschaftlichem Unterricht. Neuerdings kommen diese Methoden wieder unter den Stichworten »meta-cognitive teaching« oder »self-directed learning« auf.
231 Literatur
Exkurs Die Sokratische Methode im Unterricht Die Sokratische Methode der Gesprächsführung wurde seit dem 18. Jahrhundert zum Vorbild einer Unterrichtsmethode genommen, die Erotematik genannt wurde, heute zumeist als fragend-entwickelnd bezeichnet wird und insbesondere den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht nachhaltig geprägt hat. Der Mathematiker Karl Weierstraß schrieb einen Aufsatz über die Sokratische Methode [Mathematische Werke, Berlin, 1903, III, Appendix, 315–329]; der Fachdidaktiker Martin Wagenschein nannte seinen Ansatz sokratisch. Leonard Nelson propagierte die Sokratische Methode (auch neosokratisch genannt) sowohl als Unterrichtsmethode als auch als Ansatz für eine Wiederbelebung der Philosophie. Leonard Nelson propagierte die Sokratische Methode als Sokratisches Gespräch (auch nesosokratisch genannt) sowohl als Unterrichtsmethode als auch als Ansatz für eine Wiederbelebung der Philosophie. (www.wikipedia.de 2008)
eher selten frühzeitig und im Lebensalltag angegangen werden, sondern sich stattdessen zu umfangreicheren und später weit schwieriger zu verändernden Problemen aufschaukeln. Hier wäre die Verbreitung kognitiver Interventionsverfahren in der Öffentlichkeit nicht zuletzt wegen des Geburtenrückganges in unserer Gesellschaft sowie des hohen Leistungsund Optimierungsdrucks wünschenswert. Erste Ansätze sind in der aktuellen Forschung in Form von universellen Präventionsansätzen zu finden (vgl. Beelmann 2006). Hier werden Kindern z. T. schon sehr früh (im Kindergarten) soziale Problemlösestrategien vermittelt, allerdings bisher häufig noch mit dem Ziel, einer Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten vorzubeugen, und nicht um generell Problemlösekompetenzen zu stärken. Und auch in verschiedenen Elterntrainings wird das sachlogische und »kühle« Durchdenken von Alltagsproblemen ein zunehmend wichtiges Thema (vgl. etwa Lauth u. Heubeck 2006). Die Ausweitung und Verallgemeinerung solcher kognitiven Interventionen kann hier alltagsnahe Verbesserungen im Sinne einer psychologischen Didaktik bringen.
Zusammenfassung Ferner gibt es Kinderbücher, die das angemessene Denken, sachrichtige Problemlösen oder das Selbstmanagement mehr oder weniger explizit zum Thema machen [vgl. z. B. Virginia Walters (2003) Fritzchen Flunder und Nora Nachtigall]. Exkurs In den Geschichten von Virginia Waters (2003) geht es um die Themen Angst, Ärger, Frustrationen, Problemlösen sowie Selbstakzeptanz und um die Kraft des rationalen (Nach-)Denkens. Sie dienen als Grundlage für anregende Gespräche zwischen Kindern und Erwachsenen. Zu jeder Geschichte gibt es einen ausführlichen Leitfaden für Erwachsene, der von erfahrenen Diplompsychologen und Psychotherapeuten entwickelt wurde. Dieser soll helfen, die Gespräche zwischen Eltern/ Betreuern und Kind so zu gestalten, dass die Kinder daraus eine Art psychologisches »Rüstzeug fürs Leben« gewinnen können. Hintergrund dieses Geschichtenbuches ist die rational-emotive Psychotherapie von Albert Ellis.
Kognitive Interventionsformen sind vergleichsweise alltagsnah und pragmatisch. Sie könnten also auch in einer präventiven Ausrichtung von Bezugspersonen »vor Ort« angewandt werden. Wie für viele andere Therapieverfahren gilt aber auch für kognitive Interventionsformen, dass sie in der Gesellschaft sowie bei Eltern, Erziehern und Lehrern oft nur wenig bekannt sind. Die Folge besteht oft darin, dass anfängliche Verhaltensprobleme bei Kindern und Jugendlichen
Kognitive Verfahren gehören inzwischen zum festen Bestand in der Therapie von Kindern und Jugendlichen. Sie werden zur Förderung der Selbstregulation und Selbstkontrolle, zur Planung und Strukturierung von Denk- und Handlungsabläufen eingesetzt. Kognitive Verfahren finden bei einer Vielzahl von Störungen Anwendung, bei denen das Zusammenspiel von Kognitionen, Emotionen und Handeln beeinträchtigt ist. Dies ist beispielsweise der Fall bei Störungen des Sozialverhaltens, kyperkinetischen Störungen, (sozialer) Ängstlichkeit, Lernstörungen und depressiven Störungen. Die Therapie greift auf elaborierte diagnostische Verfahren (etwa Selbstbeobachtung, lautes Denken, metakognitive Interviews) zurück. Häufig angewandte Verfahren sind Selbstkontrolltechniken, Selbstinstruktionsverfahren und Problemlösetrainings. Ihre kurzfristige Wirksamkeit konnte in einer Reihe von Metaanalysen nachgewiesen werden. Allerdings werden kognitive Techniken nicht isoliert angewandt, sondern sind eingebettet in ein Repertoire kognitiv-behavioraler Interventionen. Um langfristige Erfolge zu erzielen, ist insbesondere bei externalisierenden Störungen der Einbezug der Eltern (z. B. in Form von Elterntrainings) angezeigt.
Literatur Bear, R. A. & Nietzel, M. T. (1991). Cognitive and behavioral treatment of impulsivity in children: A meta-analytic review of the outcome-literature. Journal of Clinical Child Psychology, 20, 400–412. Beelmann, A. (2006). Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen bei Kindern und Jugendlichen. Ergebnisse und Implikation der integrativen Erfolgsforschung. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 35, 141–152.
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Kapitel 14 · Kognitive Verfahren
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14
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Weiterführende Literatur Walters, V. (2003). Fritzchen Flunder und Nora Nachtigall. Bern: Huber.
15
15 Computerspiele in der Verhaltenstherapie mit Kindern Veronika Brezinka
15.1
Einleitung
– 234
15.2
Theoretische Grundlagen
15.2.1 15.2.2
Die negative Publizität rund um Computerspiele – 234 Das innovative Potenzial von Computerspielen – 235
15.3
Praktische Voraussetzungen des therapeutischen Computerspiels »Schatzsuche« – 236
15.4
Darstellung des therapeutischen Computerspiels »Schatzsuche« – 237
15.5
Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen – 238
15.6
Empirie
15.7
Ausblick
– 239 – 239
Zusammenfassung Literatur
– 234
– 240
– 240
Weiterführende Literatur
– 241
234
Kapitel 15 · Computerspiele in der Verhaltenstherapie mit Kindern
15.1
Einleitung
»Was haben Computerspiele denn mit einer Kindertherapie zu tun?« »Die Kinder von heute spielen doch sowieso schon viel zu oft Computer!« »Treibt man da nicht den Teufel mit dem Beelzebub aus?« Diese und ähnliche Kommentare sind oft die erste Reaktion auf die im Titel angesprochene Thematik. Vielen Erwachsenen ist noch nicht bewusst, wie selbstverständlich die Verwendung von Computer und Internet für Kinder und Jugendliche inzwischen ist. Jährlich nutzen etwa 30 Millionen Kinder das Internet, mehr als jede andere Altersgruppe (Bremer 2005); tägliches Computerspielen ist inzwischen für Kleinkinder (Jordan u. Woodard 2001), Schulkinder (Livingstone u. Bovill 2001) und Jugendliche (Annenberg Public Policy Center 2000) normal. Die Begeisterung der heranwachsenden Generation für Computer und Internet wurde bereits vor etlichen Jahren als »passionate love affair« bezeichnet (Papert 1996). Auch haben Kinder und Jugendliche einen technologischen Vorsprung gegenüber vielen Erwachsenen, da sie als sog. »native speakers« mit den neuen Medien aufgewachsen sind, während auch die computerversiertesten Erwachsenen in der Terminologie von Prensky (2001) »digital immigrants« bleiben.
Homo ludens – der spielende Mensch
15
Spielen ist eines der ältesten Phänomene menschlicher Kultur (Suter 2007). Kinder erwerben in ihren ersten Lebensjahren viele ihrer Fertigkeiten durch Spielen. Der niederländische Philosoph Johan Huizinga beschäftigte sich mit der Bedeutung des Spiels in unserer Kultur und definierte den Menschen als »Homo ludens« (Huizinga 1994). Nach seiner Definition hat Spielen folgende Merkmale: 4 Spielen ist eine interaktive Handlung oder Beschäftigung, 4 Spielen erfolgt innerhalb festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum, 4 Spielen findet nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln statt, 4 Spielen hat sein Ziel in sich selber, 4 Spielen wird begleitet von einem Gefühl der Spannung und Freude sowie einem Bewusstsein der Andersartigkeit im Vergleich zum »gewöhnlichen Leben«. Spiel ist eine grundlegende menschliche Aktivität. Der Homo ludens entwickelt sich durch seine spielerischen Erfahrungen, da Spielen freies Handeln und eigenständiges Denken voraussetzt.
15.2
Theoretische Grundlagen
15.2.1 Die negative Publizität rund
um Computerspiele Trotz oder wegen ihrer weiten Verbreitung sind Computerspiele sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch in der Tagespresse vor allem durch negative Publizität bekannt (7 Kap. III/6). Nach einem Übergriff oder Attentat auf Lehrer oder Mitschüler oder anderen Formen von Gewalt durch Jugendliche erfolgt meistens eine Mitteilung darüber, welche Computerspiele mit gewalttätigem Inhalt bei den Tätern gefunden wurden, sowie Spekulationen zur Frage, ob nicht gerade diese Computerspiele die Jugendlichen zu ihren Vergehen angeregt haben (Anderson et al. 2004). Bisher liegt auch in der wissenschaftlichen Forschung zu Video- und Computerspielen der Schwerpunkt auf ihren (tatsächlichen oder bloβ vermuteten) negativen Auswirkungen (Colwell u. Payne 2000). Nachdem schon bezüglich des Mediums Fernsehen ein Zusammenhang zwischen intensivem Fernsehkonsum in der Kindheit und Jugend und aggressivem Verhalten im jungen Erwachsenenalter nachgewiesen werden konnte (Johnson et al. 2002; Huesmann et al. 2003), liegt die Vermutung natürlich nahe, dass häufiges Spielen gewalttätiger Computerspiele ähnliche Auswirkungen zeigen könnte. Viele Untersuchungen beschränken sich daher von vornherein auf Computerspiele mit gewalttätigen Inhalten (Anderson 2004; Funk et al. 2004; Gentile et al. 2004; Krahe u. Möller 2004; Uhlmann u. Swanson 2004; Browne u. Hamilton-Giachritsis 2005). Weil aggressive Handlungen in Computerspielen oft direkt belohnt werden, indem der Spieler dafür Punkte erhält oder in den nächst höheren Level kommt, nimmt man an, dass die Effekte gewalttätiger Computerspiele gröβer sind als die gewalttätiger Szenen in Fernsehen oder Film (Carnagey u. Anderson 2005). Der schlechte Ruf von Computerspielen hängt aber auch damit zusammen, dass häufiges Computerspielen mit einer Reihe von anderen Verhaltensweisen einhergeht. Schüler, die regelmäßig gewalttätige Computerspiele spielen, haben auch öfter Streit mit ihren Lehrern, körperliche Auseinandersetzungen mit Gleichaltrigen sowie Leistungsprobleme in der Schule (Gentile et al. 2004). Schlieβlich wurde in mehreren Studien untersucht, ob das häufige Spielen gewalttätiger Computerspiele zu einer emotionalen Abstumpfung gegenüber Gewalt und einem Mangel an Empathie führt (Funk 2004; Uhlmann u. Swanson 2004; Carnagey u. Anderson 2005; Funk 2005). Tatsächlich zeigte sich bei Kindern (Funk et al. 2004) und Jugendlichen (Krahe u. Möller 2004), dass regelmäβiges Spielen gewalttätiger Computerspiele mit niedrigen Empathiewerten und einer positiveren Haltung gegenüber Gewalt im Allgemeinen einherging. Einschränkend muss gesagt werden, dass es sich bei beiden Studien um Korre-
235 15.2 · Theoretische Grundlagen
lationen und nicht um Kausalitäten handelt. Allerdings bestätigen zwei neuere Metaanalysen, dass häufiges Spielen gewalttätiger Computerspiele bei Kindern und Jugendlichen auch in ursächlichem Zusammenhang mit einer Zunahme an aggressivem Verhalten, aggressiven Gedanken, aggressiven Gefühlen und vegetativer Erregtheit steht sowie mit abnehmender Hilfsbereitschaft (Anderson u. Bushman 2001; Anderson 2004). Diese Zusammenhänge sind in methodologisch hochwertigen Studien stärker als in methodologisch schwächeren Arbeiten, so dass die befürchteten negativen Auswirkungen gewalttätiger Computerspiele gröβer zu sein scheinen als ursprünglich angenommen (Anderson et al. 2004).
15.2.2 Das innovative Potenzial von
Computerspielen Verglichen mit den zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen zu negativen Konsequenzen von Computerspielen beschäftigen sich nur wenige Arbeiten mit ihrem innovativen Potenzial und möglichen positiven Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche (Griffiths 2003; Gelfond u. Salonius-Pasternak 2005). So berichten Anderson et al. (2004), dass nach ihrem »call for papers« für eine Sondernummer des Journal of Adolescence zum Thema »video games and public health« ausschlieβlich Studien zu negativen Auswirkungen von Computerspielen eingereicht wurden. Dennoch gibt es verschiedene Berichte über positive Aspekte der neuen Medien.
Digitale Lernspiele und »edutainment« Die Idee, Lernziele in unterhaltsame Spiele einzuarbeiten, ist nicht neu. Ein Beispiel dafür sind Verkehrserziehungsspiele, die es seit etwa 50 Jahren gibt, sowie Spiele, die das Lesen und Rechnen erleichtern sollen (Suter 2007). Auch eines der berühmtesten Kinderbücher, Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen von Selma Lagerlöf, kann als Lernspiel oder »Lernbuch« aufgefasst werden. Die Autorin erhielt nämlich 1906 vom schwedischen Volksschullehrerverband den Auftrag, ein Buch zu schreiben, das schwedische Kinder »spielerisch« mit der Geographie ihres Heimatlandes vertraut machen sollte. Mit der zunehmenden Verbreitung von Computern entstanden
Innovativer Einsatz herkömmlicher Computerspiele Untersuchungen zum Einfluss von herkömmlichen Computerspielen auf kognitive Fertigkeiten wie räumliches Vorstellungsvermögen und die Verarbeitung visueller Informationen zeigen, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die häufig Computer spielen, in diesen Fertigkeiten bessere Resultate erreichen (zusammenfassend Subrahmanyam et al. 2001). Dies scheint besonders für sog. »First Person Shooter« zu gelten (Bavelier et al. 2006). Auch in der Schule können Computerspiele innovativ eingesetzt werden (Jayakanthan 2002). Vor allem in den angelsächsischen Ländern gibt es Initiativen, herkömmliche Computerspiele im Unterricht zu verwenden (McFarlane et al. 2002; Gee 2003; Kirriemuir u. McFarlane 2004). Die Ver-
ab etwa 1980 die ersten digitalen Lernspiele, oft in einer Kooperation von Schulbuchverlagen und der Spiele-Industrie (Suter 2007). In einer sprachlichen Verbindung aus »education« und »entertainment« werden diese Spiele auch als »edutainment« bezeichnet – sie sollen Spaβ machen und sind so entworfen, dass das Kind nach Möglichkeit »gar nicht merkt«, dass es während des Spielens etwas lernt. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Lernen nur erfreulich ist, wenn es unbewusst geschieht, weshalb die Lerninhalte in einem Computerspiel »versteckt« werden müssen. Fraglich ist allerdings, ob diese Voraussetzung stimmt bzw. für die weitere Entwicklung digitaler Lernspiele sinnvoll ist.
treter »neuer« Unterrichtsformen sehen im Computer das ideale Medium, um neue Lernansätze in den Unterricht zu integrieren (Prensky 2001). Die Literatur zum Einsatz von Computerspielen in der Schule ist allerdings gekennzeichnet durch eine polarisierte Gegenüberstellung von »spielerischem« Lernen durch Computerspiele und »traditionellem« (sprich langweiligem) Lernen in der Schule, wobei die z. T. fantastisch anmutenden Versprechungen des neuen oder »digitalen Lernens« erst eingelöst werden müssen. Für den Gesundheitsbereich gibt es ebenfalls Berichte über den innovativen Einsatz von Computerspielen. So führte bei Kindern mit Krebserkrankungen der Einsatz herkömmlicher Computerspiele zu weniger Übelkeit, geringeren Schmerzen und einem niedrigeren Konsum von Schmerzmitteln (Redd et al. 1987; Vasterling et al.1993).
Digitale Lernspiele und Serious Games Serious Games« »Serious Games« möchten sich nicht als traditionelle Lernspiele verstanden wissen. Sie haben ihren Ursprung in amerikanischen Entwicklungen für militärische Zwecke, 6
Sicherheitstrainings und Verteidigung, wo Simulationen besonders wichtig sind. Daraus entstand z. B. das (kostenlose) Computerspiel »America’s Army«, welches junge Ame-
15
236
Kapitel 15 · Computerspiele in der Verhaltenstherapie mit Kindern
rikaner motivieren soll, der Armee beizutreten (http//: www.americasarmy.com). Inzwischen entwickeln auch Organisationen wie die UNO oder die Federation of American Scientists FAS Serious Games zu Themen wie drohenden Hunger- und Naturkatastrophen (http//:www. stopdisastersgame.org bzw. http://www.food-force.com) oder das Immunsystem des menschlichen Körpers (http://
Wie die beiden Kästen zeigen, kann man zwischen digitalen Lernspielen, die in erster Linie schulischen Lernstoff zum Inhalt haben, und Serious Games unterscheiden. Ein typisches Beispiel für ein digitales Lernspiel ist »Ten Hours Left«, das Kindern und Jugendlichen Technikwissen vermitteln soll (s. hierzu Götz 2007). Eines der ersten Serious Games für Kinder war das Nintendo-Spiel »Bronkie the Bronchiosaurus«, das von der amerikanischen Psychologin Debra Lieberman für Kinder mit Asthma entwickelt wurde; die gleiche Forschergruppe entwarf später »Packy and Marlon«, ein Spiel für Kinder mit Diabetes (Brown et al. 1997). Beide Spiele führten nach 6 Monaten zu mehr gesundheitsbezogenem Verhalten und signifikant selteneren Arztbesuchen als bei den Kindern der Kontrollgruppe, die ein kommerzielles Spiel erhalten hatten (Lieberman 2001). Exkurs
15
Nanoswarm und Escape from Diab Das National Institute of Health (NIH) finanziert die Entwicklung zweier Serious Games, die helfen sollen, die rasante Zunahme an Diabetes II bei amerikanischen Jugendlichen zu verringern. Mit der Realisierung der Spiele wurde Archimage beauftragt, eine der teuersten und bekanntesten Game-Design-Firmen. Das Budget beträgt zwischen 8 und 10 Mio. US-Dollar. Wie die beiden Computerspiele das Diabetesrisiko verringern sollen, ist vorerst nicht bekannt. Auf jeden Fall werden Kinder das Spiel nur innerhalb gewisser zeitlicher Grenzen verwenden dürfen; zudem müssen sie, um im Spiel voranzukommen, bestimmte Diät- und Bewegungsziele erreichen. Beide Spiele werden im Prototyp getestet und sollen in Kürze auf den Markt kommen (http:// www.archimageonline.com/nanoswarm.cfm).
Psychotherapie am Computer? In der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern finden Computerspiele bisher kaum Anwendung (Griffiths 2003), obwohl einige Autoren den Einsatz kommerzieller Computerspiele in der Psychotherapie seit Längerem befürworten (Gardner 1991; Olsen-Rando 1994). Eine Ausnahme ist das israelische Computerspiel »Earthquake in Zipland«, das auf systemisch-familientherapeutischer Basis
www.fas.org/immuneattack) sowie zum Konflikt zwischen Israel und Palästina (http://www.globalconflicts.eu). Unter der Adresse http://www.socialimpactgames.com findet sich eine Rubrik »Health and Wellness Games«, die allerdings nicht mehr ganz aktuell ist. Die amerikanische Serious Games Initiative fördert in den USA seit 2004 die Entwicklung von Spielen, die der Gesundheit förderlich sind (http://www.gamesforhealth.org).
entwickelt wurde, um Kinder nach einer Scheidung der Eltern zu unterstützen (http://www.zi-ltd.com). Im Gegensatz dazu werden in der Psychotherapie Erwachsener Computer und Internet immer häufiger zur Unterstützung kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlungsprogramme eingesetzt (7 Kap. I/24 und I/49). Diese Programme bestehen häufig aus einer Kombination von direktem Kontakt mit dem Therapeuten und einem computerunterstützten Selbsthilfeprogramm. Im Unterschied zur Behandlung Erwachsener ist für Kinder jedoch der Spielaspekt zentral; für ein psychotherapeutisches Computerspiel müssen die therapeutischen Erkenntnisse daher umgesetzt werden in ein attraktives Serious Game. In der Kindertherapie kann gerade für die psychoedukativen Teile einer Behandlung der Einsatz passender Computerspiele ein willkommenes Mittel sein, neues Wissen auf angenehme Weise zu erwerben und zu trainieren, ohne dass dadurch die Person des Therapeuten überflüssig wird. Entgegen der üblichen Auffassung von Lernspielen sollte in psychotherapeutischen Computerspielen dem Kind von Anfang an mitgeteilt werden, dass es in diesem Spiel Wichtiges über sich selbst und andere Menschen lernen wird.
15.3
Praktische Voraussetzungen des therapeutischen Computerspiels »Schatzsuche«
Am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich wurde mit »Schatzsuche« das weltweit erste professionelle Computerspiel für den Einsatz in einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung entwickelt (Brezinka 2007). »Schatzsuche« ist auf lerntheoretischen Grundlagen aufgebaut und soll Verhaltenstherapeuten in ihrer Arbeit mit 9- bis 13-jährigen Kindern unterstützen. Derzeit steht »Schatzsuche« auf Deutsch, Englisch und Niederländisch zur Verfügung. Es ist nicht im Handel und nur für Fachleute (approbierte oder in Ausbildung befindliche Psychotherapeuten bzw. Kinder- und Jugendpsychiater) erhältlich. Diese müssen sich auf der Webseite http:// www.treasurehunt.uzh.ch anmelden und erklären, dass sie »Schatzsuche« nur im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung oder Ausbildung verwenden sowie keine Kopien an Dritte (d. h. auch nicht an Eltern oder Kinder) wei-
237 15.4 · Darstellung des therapeutischen Computerspiels »Schatzsuche«
tergeben werden. Nach der Akkreditierung kann das Spiel kostenlos heruntergeladen werden. Im Gegenzug wird um Spenden gebeten, um die Webseite, den Support sowie Weiterentwicklungen des Spiels finanzieren zu können. Von der Spielmechanik her ist »Schatzsuche« relativ einfach; unbedingt erforderlich sind jedoch ein Computer mit Lautsprecher, um die Stimmen und die Musik hören zu können, sowie eine konventionelle Maus, da die Bearbeitung mancher Level (vor allem 2 und 5) mit einem Touch-Screen schwieriger ist. »Schatzsuche« sollte mehrmals vom Therapeuten allein durchgespielt werden, bevor es in einer Behandlung verwendet wird. Nur dann kennt der Therapeut das Spiel gut genug, um zu entscheiden, wann er welchen Level mit dem Kind spielen möchte. Die – denkbar einfache – Spielanleitung befindet sich auf der Homepage unter den »technischen FAQs«. Es ist unbedingt zu empfehlen, sich diese durchzulesen, da man sonst im Spiel nicht weiter kommt – für die Level 2–6 sind nämlich Losungsworte erforderlich. »Schatzsuche« soll nur in der Therapiesitzung und unter Begleitung des Therapeuten gespielt werden. Es soll den Therapeuten ja nicht ersetzen, sondern die Behandlung durch attraktive elektronische Aufgaben unterstützen. Es ist kein Selbsthilfespiel – die Erarbeitung der verhaltenstherapeutischen Konzepte, die dem Spiel zugrunde liegen, muss weiterhin in erster Linie durch den Therapeuten erfolgen, und zwar unter Verwendung »traditioneller« therapeutischer Methoden wie Rollenspiele, Zeichnungen, Gespräche, Schreibaufträge etc.
15.4
Darstellung des therapeutischen Computerspiels »Schatzsuche«
Den theoretischen Hintergrund von »Schatzsuche« bilden klassische kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramme für Kinder wie »Coping Cat« (Kendall 19901), »Friends« (Barrett et al. 2000), »Think good – feel good« (Stallard 2003) und »Keeping your cool« (Nelson u. Finch 1996). Anhand unterschiedlicher Metaphern, Szenen und Aufgaben wird das psychoedukative Grundgerüst der kognitiven Verhaltenstherapie, das für eine ganze Reihe von Störungen bedeutsam ist, erklärt, eingeübt und wiederholt. »Schatzsuche« findet auf einem alten Segelboot statt. Der Kapitän des Schiffes braucht das Kind, um eine Schatzkarte zu entziffern. Dazu muss es verschiedene Aufgaben im Schiff lösen. Sind jeweils alle Aufgaben einer Gruppe gelöst, gewinnt das Kind einen Seestern, den es in der Schatzkarte einsetzen kann. Dadurch wird diese lesbar, und Kind und Kapitän erhalten weitere Anweisungen, wo sie nach dem Schatz suchen müssen. Der Kapitän führt das Kind wie ein Therapeut durch das Spiel – bewusst wurde
1
Zu beziehen über P.C. Kendall, Department of Psychology, Temple University, Philadelphia, PA 19122.
dafür die Figur eines Mannes und eine Männerstimme gewählt, um den Mangel an männlichen Therapeuten wenigstens virtuell etwas zu kompensieren. Der Schiffspapagei verkörpert das Hilfe-Menü und wird von einer Frauenstimme gesprochen. Die Aufgaben aus Level 2–6 sprechen zwei Jungen und zwei Mädchen – im Sinne des Modelllernens soll damit der Lerneffekt für das Kind maximal werden. »Schatzsuche« besteht aus einer Einleitung und 6 Levels, in denen die folgenden Themen behandelt werden: 4 Level 1: die Unterteilung der Persönlichkeit in Gedanken, Gefühle und Verhalten; 4 Level 2: der Einfluss von Gedanken auf Gefühle; 4 Level 3: das Erkennen verschiedener Gefühle an Haltung und Gesichtsausdruck einer Person; 4 Level 4: der Unterschied zwischen hilfreichen und wenig hilfreichen (automatischen) Gedanken; 4 Level 5: die »Jagd« auf wenig hilfreiche Gedanken, welche anschlieβend durch hilfreiche Gedanken ersetzt werden sollen (. Abb. 15.1). 4 Level 6: Hat das Kind alle Aufgaben gelöst, werden die wichtigsten Inhalte des Spiels wiederholt. 4 Schlieβlich erhält das Kind eine Urkunde, in der alles zusammengefasst ist, was im Spiel gelernt wurde. Diese Urkunde soll (am besten auf einem Farbdrucker) ausgedruckt und vom Therapeuten unterzeichnet werden. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, »Schatzsuche« in einer Therapie einzusetzen. Entweder verwendet der Therapeut einen Level des Spiels, um anhand der darin enthaltenen Aufgaben das dahinter liegende therapeutische Konzept zu erklären (z. B. »Was ist der Einfluss von Gedanken auf unsere Gefühle?«). In diesem Fall ist es sinnvoll, nicht erst gegen Ende der Therapiesitzung mit dem Spielen zu beginnen. Alternativ erarbeitet der Therapeut
. Abb. 15.1. Im fünften Level von »Schatzsuche« wird das Prinzip eines First Person Shooters eingesetzt: das Kind soll wenig hilfreiche (automatische) Gedanken, die als fliegende Fische erscheinen, abschießen
15
238
Kapitel 15 · Computerspiele in der Verhaltenstherapie mit Kindern
das zugrunde liegende Konzept erst mit anderen Mitteln und spielt danach mit dem Kind den entsprechenden Level zur Wiederholung bzw. Erläuterung. So kann er zu Beginn der Sitzung sagen »Wenn du jetzt gut mitmachst, spielen wir die letzten 15 Minuten am Computer«, womit »Schatzsuche« automatisch eine Verstärkerfunktion erhält. Die Bearbeitung eines Levels dauert maximal 20 Minuten. Zwar ist die Reihenfolge der sechs Level von der Spielmechanik her nicht zwingend vorgegeben, sie folgt aber einer inneren Logik und sollte deshalb eingehalten werden. ! Es soll noch einmal betont werden, dass »Schatzsuche« allein für die erfolgreiche Durchführung einer Therapie nicht ausreicht. Das Spiel kann nicht mehr sein als ein unterstützendes Werkzeug für Verhaltenstherapeuten – es erspart ihnen nicht die individuelle Planung und Durchführung einer Behandlung.
15.5
Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen
Indikationen für »Schatzsuche« Das Drehbuch für »Schatzsuche« wurde bewusst nicht nur in Anlehnung an Therapieprogramme für ängstliche bzw. depressive Kinder, sondern auch für Kinder mit aggressivem Verhalten entwickelt (Brezinka 2008). Schließlich ist der Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten universal und für Kinder mit Verhaltensproblemen ebenso relevant wie für Kinder mit internalisierenden Störungen. Insofern kann es sowohl für ängstliche und depressive als auch für aggressive Kinder sinnvoll sein, im Rahmen einer Therapie mit »Schatzsuche« zu arbeiten. Letztlich liegt die Entscheidung, für welche Indikationen es verwendet wird, beim Therapeuten.
Vorteile des Einsatzes von Computerspielen in der Therapie
15
Der Einsatz von Computerspielen in der Psychotherapie kann in mehrerer Hinsicht nützlich sein. 4 Es ist zu erwarten, dass Kinder aufgrund der Faszination, die Computerspiele auf sie ausüben, motivierter sind, als wenn sie die gleiche Aufgabenstellung in Papier-Bleistift-Format erhalten. 4 Ein psychotherapeutisches Computerspiel kann Therapeuten helfen, den Ablauf einer Therapie zu planen und zu strukturieren. 4 Das innovative Potenzial psychotherapeutischer Computerspiele liegt auch darin begründet, dass sie relativ einfach in andere Sprachen übersetzt werden können. Somit können Gruppen angesprochen werden, die man mit traditionellen Angeboten nur ungenügend erreicht, wie z. B. Kinder, welche die Landessprache nicht sprechen. Auch für die Eltern oder Geschwister dieser Kin-
der könnte das Spielen eines therapeutischen Computerspiels in der eigenen Sprache einen neuen Zugang zu oder mehr Interesse an der Behandlung eröffnen. Wenn es zudem gelänge, für die Psychotherapie entwickelte Computerspiele mit einem Gütesiegel für Therapeuten zu versehen, das die wissenschaftliche Grundlage des Spiels angibt (z. B. »ist auf lerntheoretischer Grundlage aufgebaut«, oder »vermittelt Verfahren des sozial-kognitiven Problemlösens«), könnten Therapeuten in einigen Jahren auf eine Reihe psychotherapeutischer Computerspiele zurückgreifen, die sie bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen unterstützen.
Grenzen der Anwendung von Computerspielen Die Anwendung therapeutischer Computerspiele hat aber auch ihre Grenzen. So können therapeutische Computerspiele ohne begleitende Psychotherapie kein ausreichendes Mittel sein, eine kindliche Störung zu beheben. Auch kommt der Mehrwert eines psychotherapeutischen Computerspiels nur zum Tragen, wenn es von einer Fachperson eingesetzt wird – »Zauberei« in Form eines therapeutischen Computerspiels, das kindliche Probleme einfach so zum Verschwinden bringt, gibt es nicht. Die Frage, ob therapeutische Computerspiele ähnlich wie psychologische Tests nur an Fachleute abgegeben oder einfach am freien Markt erhältlich sein werden, ist noch ungeklärt. Therapeutische Computerspiele sind auch für Verlage so neu, dass diesbezüglich erst eine Politik entwickelt werden muss. So haben zwei renommierte Fachverlage den Vertrieb von »Schatzsuche« abgelehnt mit dem Argument, das Medium sei zu neu. Zudem konnten sie sich mit der Einschränkung des Nutzerkreises auf Fachleute nicht anfreunden. Andererseits kann ein freier Verkauf therapeutischer Computerspiele rasch dazu führen, dass ein Therapeut, der dem Kind eine »coole« elektronische Aufgabe geben will, zu hören bekommt: »Ach, dieses doofe Spiel! Das hat mir die Oma zu Weihnachten geschenkt…«, womit der Überraschungseffekt weg ist und ein therapeutisches Computerspiel nicht mehr optimal eingesetzt werden kann. Zudem besteht die Gefahr, dass therapeutische Computerspiele als »Therapieausbildung im Taschenformat« betrachtet werden. So beantragen neben Psychotherapeuten und Kinderpsychiatern auch zahlreiche andere Berufsgruppen den Zugang zu »Schatzsuche« – vor allem Lehrer, Ergotherapeuten, Lerntherapeuten, Heilpädagogen, Heilpraktiker sowie Ärzte verschiedenster Fachrichtungen. Da »Schatzsuche« jedoch keine jahrelange Ausbildung zum Psychotherapeuten oder Kinderpsychiater ersetzen kann und eine Inflation der darin verwendeten Konzepte im Sinne einer »Verhaltenstherapie light« verhindert werden soll, bleibt der Zugang der Fachgemeinschaft vorbehalten.
239 15.7 · Ausblick
15.6
Empirie
Die Entwicklung psychotherapeutischer Computerspiele steht international erst am Anfang, daher ist über ihre empirische Evaluation noch wenig bekannt. Auch für »Schatzsuche« können – auβer den üblichen Playability-Tests, die bei Computerspielen routinemäβig durchgeführt werden – noch keine Angaben zur Evaluation gemacht werden (Brezinka u. Hovestadt 2007). Allerdings berichten Therapeuten im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Kantons Zürich, die mit dem Spiel arbeiten, von sehr positiven Reaktionen der Kinder. Entgegen unseren Erwartungen wird der Einsatz von »Schatzsuche« auch von älteren Kindern (also über 14 Jahre) durchaus geschätzt. Natürlich können solche Piloturteile eine gründliche Evaluation nicht ersetzen. Diese kann aber erst erfolgen, wenn »Schatzsuche« bei größeren Gruppen eingesetzt wird. Es ist zu erwarten, dass »Schatzsuche« und eventuell auch andere therapeutische Computerspiele, die in nächster Zeit entwickelt werden, unter bestimmten »Kinderkrankheiten« leiden werden. Das Medium ist vergleichsweise noch so neu, dass erst Erfahrungswerte beim Einsatz in der Psychotherapie gesammelt werden müssen, um ein
optimales Spiel anbieten zu können. Zudem ist ein gewisses Maß an Realismus bezüglich der technologischen Möglichkeiten eines therapeutischen Computerspiels angebracht. Möchte man ein solches Spiel nur für kleine Benutzergruppen mit speziellen Bedürfnissen entwickeln (wie z. B. Kinder in psychotherapeutischer Behandlung), dann lässt sich damit kaum Geld verdienen – im Gegenteil, es kann extrem schwierig sein, ausreichende Geldmittel aufzutreiben. Zudem sind Programmierer in fast allen Bereichen von Wissenschaft und Wirtschaft sehr gesuchte und gut bezahlte Fachkräfte, während die Entwicklung eines Spiels wesentlich abhängig ist von ihrem Einsatz. Ohne sich bewusst zu machen, welche Millioneninvestitionen hinter kommerziellen Computerspielen stehen, beeinflusst deren graphischer und technologischer Standard auch die Erwartungen an kleine Spiele wie »Schatzsuche«. Trotzdem ist im Hinblick auf das Budget bei der Entwicklung therapeutischer Computerspiele anzuraten, sich auf die absolut notwendige Technik zu beschränken – aufwendige 3D-Umgebungen oder Animationen mögen zwar attraktiv sein, sind aber für die Vermittlung der therapeutischen Inhalte nicht wirklich notwendig, während sie das Budget extrem belasten.
Exkurs Game Engines und MODS Das Programmieren therapeutischer Computerspiele kann mit verschiedenen Entwicklungstools erfolgen (Bauer 2007). Die Wahl einer Game Engine ist u. a. abhängig davon, ob das Spiel in einer 2D- oder 3D-Umgebung stattfinden soll. Zu 2D-Tools gehören »GameMaker«, »Torque 2D«, »XNA« und »Adventure Game Studio«. Für dreidimensionale Spiele gibt es 3D-Engines wie »Torque« und »Unity« oder Open Source Engines wie »Ogre« und »Cristal Space 3D«. MODS sind Modifikationen bestehender Spiele, wobei die Game Engine des ursprünglichen Spiels bereits für
15.7
Ausblick
Die Entwicklung therapeutischer Computerspiele steht – auch international – erst am Anfang. Doch kann der Einsatz passender Computerspiele gerade für die psychoedukativen Teile einer Kindertherapie ein willkommenes Mittel sein, neues Wissen auf angenehme Weise zu erwerben und zu
bestimmte Anforderungen optimiert ist. Der Prototyp »Insel der Wölfe« (Bachmann et al. 2007) ist ein MOD der »Neverwinter Nights 2« (NWN2) Engine von Obsidian. Diese Engine ist für Rollenspiele optimiert, erlaubt einen modularen Aufbau der Geschichte und bietet die Möglichkeit zu interaktiven Dialogen in mehreren Sprachen. Allerdings setzt die Nutzung eines MODS immer den Besitz des entsprechenden Spiels voraus; zudem erfordert sie Lizenzabsprachen mit dem Herausgeber des ursprünglichen Spiels, die sich, wenn überhaupt Lizenzen erhältlich sind, über Jahre hinziehen können.
trainieren, ohne dass dadurch die Person des Therapeuten überflüssig wird. Es ist zu erwarten, dass in den nächsten Jahren mehrere therapeutische Computerspiele entwickelt werden; vermutlich wird es auch nicht lange dauern, bevor entsprechende Gütesiegel für Therapeuten entstehen, welche die theoretische Grundlage des Spiels, die indizierte Altersgruppe etc. angeben.
Therapeutische Computerspiele für Jugendliche Für ältere Jugendliche, die viel und gerne Computer spielen, ist die Entwicklung therapeutischer Spiele nicht sinnvoll, weil diese aus finanziellen Gründen nie mit der avan6
cierten Graphik und Technologie der neuesten Games konkurrieren können. Daher soll hier eine Lanze gebrochen werden für den Einsatz »konventioneller« Computerspiele
15
240
Kapitel 15 · Computerspiele in der Verhaltenstherapie mit Kindern
in der Psychotherapie mit Jugendlichen. Gelfond und Salonius-Pasternak (2005), die sich mit herkömmlichen Computerspielen auseinandersetzen, betonen, dass Computer die Spielmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen bereichern, indem sie ihnen entwicklungspsychologisch notwendige Erfahrungen wie Fantasiespiele, Unterhandeln oder den Umgang mit Aggression in einem sicheren Kontext ermöglichen. Auch der Umgang mit sozialen Regeln bzw. die Möglichkeiten, diese innerhalb von Computerspielen bewusst zu brechen (wie in dem berüchtigten Spiel »Grand Theft Auto III/IV«) kann entwicklungspsychologisch sinnvoll sein; im Sinne des So-Tunals-ob können Jugendliche verschiedene Möglichkeiten der realen und sozialen Welt erproben und deren Konsequenzen einschätzen (Gelfond u. Salonius-Pasternak
Zusammenfassung
15
Computer und Internet sind für Millionen von Kindern ein selbstverständlicher Teil des Lebens geworden. Allerdings sind Computerspiele vor allem durch negative Publizität bekannt; auch der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Forschung liegt auf ihren (vermuteten) negativen Auswirkungen. Dennoch gibt es Berichte sowohl über den innovativen Einsatz herkömmlicher Computerspiele als auch sog. Serious Games. Die Entwicklung psychotherapeutischer Computerspiele steht noch ganz am Anfang – »Schatzsuche« ist weltweit das erste verhaltenstherapeutische Computerspiel. Es soll den Therapeuten nicht ersetzen, sondern die Behandlung unterstützen, indem Kinder das psychoedukative Grundgerüst der kognitiven Verhaltenstherapie, das für eine ganze Reihe von Störungen bedeutsam ist, spielerisch erlernen und einüben können. Zudem kann »Schatzsuche« helfen, den Ablauf der Therapie zu planen und zu strukturieren. Therapeutische Computerspiele sind relativ einfach in andere Sprachen zu übersetzen, womit man potenziell Gruppen ansprechen kann, die mit traditionellen Angeboten nur ungenügend erreicht werden. Der Mehrwert eines therapeutischen Computerspiels kommt jedoch nur dann zum Tragen, wenn es von einer Fachperson eingesetzt wird.
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2005). So gesehen kann man Computerspiele mit gewalttätigen Inhalten auch als eine adäquate Möglichkeit für Jugendliche interpretieren, sich mit den komplexen Themen Krieg, Gewalt und Tod auseinanderzusetzen (Bensley u. Van Eenwyk 2001). Jugendliche, die gerne und oft Computer spielen, sollte der Therapeut auffordern, ihre Lieblingsspiele in die Therapie mitzubringen; anhand geschickter Fragen, warum und was ihnen an bestimmten Spielen so gut gefällt, ergeben sich für jeden Therapeuten diagnostische und therapeutische Möglichkeiten für die weitere Behandlung. Diesbezüglich kann man Verhaltenstherapeuten, die regelmäßig mit Jugendlichen arbeiten, nur ermutigen, ihre Praxis mit einem modernen Computer auszustatten und bezüglich neuer Computerspiele möglichst up to date zu bleiben.
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15
16
16 Entspannungsverfahren Ulrike Petermann, Johanna Pätel
16.1
Einleitung
– 244
16.2
Theoretische Grundlagen von Entspannungsverfahren – 244
16.2.1 16.2.2 16.2.3
Entspannungsverfahren im Überblick – 244 Angemessenheit der Verfahren für Kinder und Jugendliche Physiologische und psychologische Wirkungen – 245
16.3
Praktische Voraussetzungen – Anwendungsspezifika und Durchführungsbedingungen – 246
16.4
Darstellung der Verfahren – 246
16.4.1 16.4.2 16.4.3 16.4.4
Sensorische Verfahren – 246 Imaginative Verfahren – 247 Kognitive Verfahren – 248 Kombinierte Verfahren – 248
16.5
Indikationen und Kontraindikationen – Möglichkeiten und Grenzen – 250
16.6
Empirie
16.7
Ausblick
– 251 – 251
Zusammenfassung Literatur
– 253
– 253
Weiterführende Literatur
– 254
– 244
244
Kapitel 16 · Entspannungsverfahren
16.1
Einleitung
Entspannung äußert sich im subjektiven Gefühl von körperlichem und psychischem Wohlbefinden und Ruhe. Darüber hinaus können unterschiedliche physiologische Wirkungen auftreten, die zu typischen Körperempfindungen (= Körpersensationen) führen und messbar sind, wie z. B. Schwere- und Wärmeempfindungen in den Armen und Beinen, Kribbeln und Kitzeln in Fingern und Füßen oder auch »hörbare« MagenDarm-Aktivitäten.
16
Entspannungsverfahren haben ein weites Anwendungsfeld im häuslichen und schulischen Bereich sowie im psychotherapeutischen Setting. Sie kommen dabei sowohl präventiv als auch im therapeutischen Kontext zur Anwendung. In der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sind Entspannungsmethoden bei einer Vielzahl von Indikationsfeldern wie Angststörungen, Depressionen, chronischen Schmerzen, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und posttraumatischer Belastungsstörung Bausteine der Behandlungsprogramme. Es ist jedoch zu beachten, dass Entspannungsverfahren eine weitgehend symptomunspezifische Wirkung zeigen; das heißt, durch den Einsatz einer Entspannungsmethode – ohne eine weitere Maßnahme – kann keine Symptomverbesserung erwartet werden. Das bedeutsame Anwendungsfeld der Entspannungsverfahren liegt vielmehr in der Vorbereitung, Begleitung oder Unterstützung einer Therapie oder anderer Maßnahmen. Aufgrund der vielfältigen Anwendungs- und Indikationsfelder gehören solide Kenntnisse über Grundlagen und Methoden von Entspannungsverfahren für Kinder und Jugendliche zum zentralen Kompetenzbereich von Kinderpsychotherapeuten und Pädagogen. Um Entspannungsübungen kompetent anwenden zu können, sollte sich der Therapeut darüber hinaus Wissen über die Durchführungsbedingungen aneignen. Dieses Kapitel möchte daher, neben der Vorstellung gängiger und für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen geeigneter Entspannungsmethoden, einen Überblick über deren psychophysiologischen Wirkungen und Indikationsbereiche liefern. Darüber hinaus sollen konkrete Hinweise zur Durchführung von Entspannungsübungen an die Hand gegeben werden. Die vorgestellten Methoden werden dabei im Kontext beispielhaft ausgewählter psychischer und Verhaltensstörungen vorgestellt.
16.2
Theoretische Grundlagen von Entspannungsverfahren
Entspannungsverfahren sind aufgrund ihrer symptomunspezifischen Wirkung nicht als alleinige Behandlungsmaßnahme geeignet. Als Therapie-Baustein kommen sie jedoch
in zahlreichen Behandlungsprogrammen bzw. in multimethodalen Trainings erfolgreich zum Einsatz (Petermann u. Petermann 2006, 2007; Saile 2009). In solch einem Rahmen übernehmen Entspannungsverfahren vier Funktionen: 1. Eine Entspannungsübung kann eine zusätzliche Begleitmaßnahme darstellen, die das Ziel verfolgt, den Behandlungserfolg zu optimieren oder den Transfer in den Alltag zu erleichtern, z. B. bei der Anwendung zur allgemeinen Stressreduktion oder bei medizinischen Eingriffen. 2. Als vorbereitende Maßnahme ist sie zu verstehen, wenn sie vor Beginn der eigentlichen Therapie bzw. zu Beginn einer Therapiesitzung eingesetzt wird, um z. B. bei lern- oder verhaltensgestörten Kindern die Aufmerksamkeitsleistung zu steigern. 3. Eine therapieunterstützende Wirkung kann aufgrund der Selbstbeeinflussungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen erfolgen, die eine Person während der Entspannungsübungen erlebt, da diese den Aufbau von Selbstinstruktions- und Selbstkontrolltechniken begünstigen. 4. Schließlich können Entspannungsübungen neben anderen verhaltenstherapeutischen Maßnahmen und in Abhängigkeit der psychischen Störung auch eine zentrale (wenn auch nicht alleinige) Behandlungsmethode sein.
16.2.1 Entspannungsverfahren im Überblick
Entspannungsmethoden können aufgrund ihrer verschiedenen Wirkungszugänge differenziert werden. Je nachdem, wie die Methode umgesetzt wird, kann sie den sensorischen, den imaginativen oder den kognitiven Verfahren zugeordnet werden. Einige Verfahren kombinieren zwei oder alle drei Wirkungszugänge und bilden daher eine eigene Gruppe, die kombinierten Verfahren. . Tab. 16.1 ordnet die gängigsten Verfahren in Abhängigkeit der Wirkungszugänge der jeweiligen Gruppe zu.
16.2.2 Angemessenheit der Verfahren für Kinder
und Jugendliche Bei der Frage nach angemessenen Verfahren für Kinder und Jugendliche ist insbesondere zu beachten, dass die Übungsanforderungen nicht zu anspruchsvoll sind und dass die kognitive Entwicklung des Kindes berücksichtigt wird. Instruktionen sollten mühelos und ohne größere Anforderungen an die Konzentration verstanden und befolgt werden können. Dagegen dürfen die Übungen weder langweilig sein, noch zu schnell zu Sättigungseffekten führen. Von Vorteil ist, wenn sie den kindlichen Eigenheiten entgegenkommen, wie etwa dem Bewegungsdrang (bei sensorischen Verfahren) oder der Tendenz zur Tagträumerei (bei
245 16.2 · Theoretische Grundlagen von Entspannungsverfahren
. Tab. 16.1. Wirkungszugänge und Standardentspannungsverfahren Sensorische Verfahren
Imaginative Verfahren
Kognitive Verfahren
Kombinierte Verfahren
Progressive Muskelentspannung
Hypnose
Autogenes Training
Kapitän-Nemo-Geschichten (imaginativ plus kognitiv)
Biofeedback
Imaginative Methoden
Meditative Verfahren
Schildkröten-Fantasie-Verfahren (sensorisch, imaginativ plus kognitiv)
imaginativen Verfahren). Von diesen Überlegungen ausgehend, ist von der Anwendung rein kognitiver Verfahren bei Kindern abzusehen. Bei Jugendlichen ist in Abhängigkeit von Geschlecht, Intelligenz und Symptomatik zu entscheiden, ob Verfahren mit vorrangig kognitiven Elementen zur Anwendung kommen können. Verfahren mit sensorischen, imaginativen oder kombinierten Wirkungszugängen sind dagegen nicht nur in ihrer Wirkung effektiv (7 Abschn. 16.6), sondern werden insbesondere von Kindern gut akzeptiert. Jugendliche dagegen haben deutlich mehr Probleme, Entspannungsverfahren positiv zu bewerten und mit Überzeugung zu üben (Petermann u. Petermann 2007). Gerade bei männlichen Jugendlichen stehen das Selbstbild, nämlich cool, überlegen und körperlich fit sein zu wollen sowie die mit Entspannung assoziierten Merkmale, wie sich schwach, hilflos und ausgeliefert fühlen, im Widerspruch zueinander. Eine andere Problematik besteht darin, dass einige Jugendliche zwar positiv auf Entspannungsübungen reagieren, diese jedoch vorrangig als Flucht- und Vermeidungsritual verwenden, um Alltagsproblemen auf diese Weise aus dem Weg zu gehen. Und schließlich haben Jugendliche eine höhere Selbstaufmerksamkeit als Kinder, was dazu führt, dass sie leichter Schamgefühle entwickeln. So kann eine für sie unangenehme Gruppensituation oder eine ungünstige Körperposition schnell dazu führen, dass sich Jugendliche weigern an den Entspannungsübungen teilzunehmen. Dies muss bei der Planung und Durchführung von Entspannungsverfahren in Gruppen berücksichtigt werden.
16.2.3 Physiologische und psychologische
Wirkungen Trotz ihrer Verschiedenheit sind die unterschiedlichen Verfahren durch ähnliche physiologische und psychologische Entspannungsreaktionen gekennzeichnet. Die entspannte Person erlebt dabei einen Zustand subjektiven Wohlbefindens, das Gefühl innerer Ruhe und typische Körpersensa-
tionen wie Schwere und Wärme in den Körperextremitäten oder etwa Kribbeln in Fingern und Füßen. Die physiologischen Veränderungen kommen zustande durch: 4 neuromuskuläre Prozesse (z. B. nimmt die Spannung in der Skelettmuskulatur ab), 4 kardiovaskuläre Prozesse (z. B. bewirken periphere Gefäßerweiterungen eine Erwärmung der Hautoberfläche sowie ein Wärmeempfinden in Armen und Beinen), 4 respiratorische Prozesse (z. B. nimmt die Atemfrequenz ab, das Ein- und Ausatmen wird gleichmäßiger und das Atemzugvolumen wird geringer), 4 elektrodermale Prozesse (z. B. verringert sich die Hautleitfähigkeit aufgrund reduzierter Schweißdrüsensekretion) und 4 zentralnervöse Prozesse (z. B. nehmen Alphawellen und kombinierte Alpha-Thetawellen zu). Als geeignete Messmethoden zur Erfassung der Entspannungsreaktionen kommen z. B. das EMG (Elektromyogramm) zur Messung der Muskelanspannung, Puls- und Blutdruckmessgeräte sowie Temperaturfühler zur Erhebung kardiovaskulärer Veränderungen, das Galvanometer für die Kontrolle der Hautleitfähigkeit und das EEG (Elektroenzephalogramm) zur Messung hirnelektrischer Aktivitäten zum Einsatz. Die durch Entspannung hervorgerufenen psychologischen Veränderungen finden auf emotionaler, kognitiver und Verhaltensebene statt (. Tab. 16.2) und tragen zur Effektivität einer Psychotherapie bei. Die psychologischen Effekte stehen sowohl untereinander als auch mit einzelnen physiologischen Veränderungen in Wechselwirkung. So stehen z. B. kognitive Veränderungen mit der Zunahme der Alphawellen in Verbindung, sie werden aber auch durch emotionale Veränderungen hervorgerufen, indem der Abbau innerer Erregung die Konzentrationsfähigkeit verbessert.
. Tab. 16.2. Wichtige Veränderungen bei gelungener Entspannung. Emotionale Ebene
Kognitive Ebene
Verhaltensebene
Abbau innerer Erregung Verringerung von innerer Anspannung Intensivierung angenehmer Gefühle, z. B. innere Ruhe
Erhöhung der Wahrnehmungsschwelle für Außenreize, z. B. Lärm, Licht, Temperatur, Berührung Verbesserung der selektiven Aufmerksamkeit Verbesserte Konzentrationsfähigkeit, Informationsverarbeitung und Gedächtnisprozesse
Verringerung des allgemeinen Aktivitätsniveaus Erhöhung der motorischen Ruhe Geringere Hyperaktivität
16
246
Kapitel 16 · Entspannungsverfahren
16.3
Praktische Voraussetzungen – Anwendungsspezifika und Durchführungsbedingungen
Für die Wahl eines geeigneten Entspannungsverfahrens sollten insbesondere das Alter und der kognitive Entwicklungsstand des Kindes oder Jugendlichen Beachtung finden. So kann z. B. für einen lernbehinderten Jugendlichen eine Entspannungsmethode für Kinder das Verfahren erster Wahl sein. Weitere Überlegungen sollten dahin gehend erfolgen, ob die Entspannungsübungen in Einzel- oder Gruppensitzungen durchgeführt werden sollen). Vor der ersten Durchführung ist das Kind oder der Jugendliche über den Ablauf des Entspannungsverfahrens sowie über die zu erwartenden Körpersensationen während der Entspannungsübung zu informieren. Ein derart transparentes Vorgehen kann Vorbehalte und Ängste reduzieren und die Motivation, das Entspannungsverfahren kennenzulernen, erhöhen. Gleichzeitig sollte darauf geachtet werden, dass das Kind oder der Jugendliche eine realistische Erwartungshaltung einnimmt und nicht etwa eine »Zauberwirkung« erwartet. Das durchschaubare und zuverlässige Vorgehen des Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen wirkt darüber hinaus vertrauensfördernd. Die Umgebungsbedingungen müssen störungsfrei und reizarm gestaltet werden. Durch das Ausschalten akustischer, visueller, taktiler und olfaktorischer Einflüsse, wird das Aktivierungsniveau körperinterner Reize gesenkt. Diese und eine Reihe weiterer Bedingungen (7 Box) können die psychophysiologische Beruhigung begünstigen. Für Hinweise zu einer angenehmen und korrekten Körperhaltung während der Entspannungsübung sei auf Petermann (2007) verwiesen.
16
4 Umgebung: Lärm und Außengeräusche vermeiden, Temperatur angenehm warm halten und den Raum weder zu hell noch zu finster beleuchten; eventuell Kissen und Decken als Unterlage anbieten; 4 Kleidung: bequeme, nicht einengende Kleidung, z. B. Hosenknopf öffnen oder engen Gürtel lockern; 4 körperliche Bedingungen: vor der Übung auf die Toilette gehen; nach der systematischen Entspannung eines Körperteils, diesen nicht mehr bewegen, um eine Unterbrechung des Entspannungsgeschehens zu vermeiden; akuter Juckreiz stört die Entspannung; 4 Augen: möglichst schließen oder zumindest den Blick senken, z. B. auf die Knie (im Sitzen) oder auf die Nasenspitze (im Liegen) schauen; 4 Position im Raum: Distanz zur Person, die Entspannungsinstruktionen vermittelt, bei Kindern nicht zu groß, bei Jugendlichen nicht zu nah gestalten; den Kindern und Jugendlichen stets die Möglichkeit zum Sichtkontakt geben.
Um den gewünschten Erfolg einer Entspannung zu erzielen, ist es wichtig, dass die Entspannungsübungen regelmäßig und nach einem festen Ritual erfolgen. Das bedeutet, dass die Situations-, Umgebungs- und Durchführungsbedingungen möglichst konstant gehalten werden müssen. > Fazit Bevor das erste Mal eine Entspannung durchgeführt wird, muss es eine Phase der Vorbereitung geben, in der Informationen vermittelt werden. Während der Durchführung sollten die äußeren Umgebungsbedingungen möglichst günstig gestaltet werden. In der Folge laufen die Entspannungsübungen stets nach einem festgelegten Ritual ab.
16.4
Darstellung der Verfahren
16.4.1 Sensorische Verfahren
Progressive Muskelentspannung Die Methode der progressiven Muskelentspannung (auch progressive Muskelrelaxation oder Tiefenmuskelentspannung genannt) geht auf den amerikanischen Arzt und Physiologen Jacobson zurück, der das Verfahren 1929 erstmals beschrieb. Im Sinne einer wechselseitigen Beeinflussung zentralnervöser, mentaler Prozesse und peripherer, muskulärer Veränderungen nimmt Jacobson (1938) an, dass Entspannung einerseits am deutlichsten an der Reduktion des neuromuskulären Tonus zu erkennen ist und dass andererseits durch die Reduktion der muskulären Verspannung die Aktivität im zentralen Nervensystem herabgesetzt wird. Als zentrales Ziel dieses Entspannungsverfahrens kann die willentlich gesteuerte Spannungsreduktion verschiedener Muskelpartien des Bewegungsapparates bezeichnet werden; Kernelement ist dabei das Kontrasterleben von aktiv herbeigeführter Anspannung und bewusst wahrgenommener Entspannung dieser Muskelgruppen, worauf gezielt die Aufmerksamkeit gelenkt wird. In der Standardversion nach Jacobson soll die übende Person nacheinander und in festgelegter Reihenfolge bestimmte Muskeln für 1–2 Minuten kontrahieren und anschließend abrupt loslassen, um sich für die Dauer von 3–4 Minuten auf den erlebten Kontrasteffekt zu konzentrieren. Der gewünschte Lerneffekt besteht darin, den Unterschied zwischen an- und entspannter Muskulatur bewusst wahrzunehmen. Im Sinne einer Transferleistung auf Alltagssituationen soll die Person in der Lage sein, ungewollt angespannte Muskelpartien zu erkennen und aktiv zu entspannen. Da die progressive Muskelentspannung ein aktives, körperbezogenes Verfahren darstellt und nicht suggestiv Entspannung »einredet«, ist sie für die Anwendung bei Jugendlichen in besonderem Maße geeignet. Petermann (2007) beschreibt eine Kurzform der progressiven Muskelentspannung: In stets gleicher Reihenfolge werden nacheinander die Muskelgruppen Arme, Augenregion, Schul-
247 16.4 · Darstellung der Verfahren
tern, Rumpf und Beine angespannt und wieder entspannt. Die Entspannungsübung wird für jede Muskelgruppe zunächst kurz beschrieben und dann auf ein Signal hin (z. B. das Wort »jetzt!«) ausgeführt. Die Anspannung dauert 5–7 Sekunden. Ein weiteres Signal (»nun loslassen!«) gibt den Jugendlichen das Zeichen, die Muskeln abrupt und vollständig zu lockern sowie den betreffenden Körperteil in seine Ausgangslage zu bringen. Während der Entspannung wird der Jugendliche instruiert, sich auf die Reaktionen in diesem Körperteil zu konzentrieren und den Kontrast zwischen Anspannungs- und Entspannungsempfindungen wahrzunehmen; diese Phase dauert 30–40 Sekunden. Gerade in der Anwendung bei älteren Kindern oder jungen Jugendlichen kann es sinnvoll sein, sogenannte Assoziationshilfen zu geben, um die Durchführung der Übungen zu erleichtern (7 Box). ! Suggestive Aussagen wie »Deine Muskeln sind ganz entspannt. Fühle die Wärme in deinen Armen!« sind falsch und müssen unbedingt vermieden werden (Petermann u. Petermann 2007)
nellen Störungen (z. B. Spannungskopfschmerzen und Rückenstörungen) und bei psychischen Störungen (z. B. ADHS) zum Einsatz. Folgende Systeme und ihre jeweiligen Rückmeldesignale sind im Zusammenhang mit körperlicher Entspannung von Bedeutung: das zentralnervöse System (EEG-Neurofeedback), das neuromuskuläre System (EMG-Feedback) und die autonomen oder vegetativen Systeme (vor allem Feedback bezüglich Vasomotorik, Herztätigkeit, Hauttemperatur, Atemfunktion und elektrodermaler Aktivität). Besondere Bedeutung hat Neurofeedback in den letzten Jahren bei der Behandlung von Kindern mit ADHS erlangt (Saile 2009). Die Feedback-Methode wird dabei in einigen Fällen durch den Einsatz anderer Techniken, wie etwa Selbstinstruktionsaufgaben, dem Einsatz von Token-Systemen oder Imaginationsübungen unterstützt (Strehl et al. 2006; Strehl et al. 2004; Omizo u. Michael 1982).
16.4.2 Imaginative Verfahren
Hypnose Instruktion während der Anspannungsphase: »Achte darauf, wie es in den Muskeln zieht, wie sie hart und fest werden!« Instruktion während der Entspannungsphase: »Konzentriere dich darauf, was du jetzt in deinen Muskeln spürst. Achte auf den Unterschied von An- und Entspannung. Konzentriere dich auf den Gegensatz von An- und Entspannung!« Assoziationsbeispiele für Arme (Hände) und Stirn: »Stelle dir vor, du drückst einen nassen Schwamm aus.« »Runzele die Stirn, als ob du über etwas nachdenkst; lasse die Stirn wie in dem Moment wieder los, wenn dir etwas einfällt.«
Die Entspannungsübung wird mit der typischen Rückholung beendet, indem der Jugendliche aufgefordert wird: 4 »Atme dreimal tief und hörbar ein und aus!« 4 »Strecke und recke deine Arme und Beine!« 4 »Öffne deine Augen wieder!«
Biofeedback Biofeedback ist ein Sammelbegriff für verschiedene therapeutische Maßnahmen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dem Individuum anhand von akustischen oder visuellen Signalen Rückmeldung über normalerweise nicht wahrnehmbare physiologische Prozesse in seinem Körper zu geben. Das Ziel besteht darin, die Steuerung dieser Prozesse zu erlernen, um Selbstkontrolle über körperliche Vorgänge zu erlangen. Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kommt Biofeedback bei somatischen Störungen (z. B. Epilepsie oder Bluthochdruck), bei funktio-
Aufgrund des Einsatzes visueller, akustischer oder motorischer Bilder (z. B. Lieblingsort bzw. Lieblingslied oder fliegender Teppich) oder ganzer Bildergeschichten für die Induktion der Hypnose kann dieses Verfahren zu den imaginativen Entspannungszugängen gezählt werden. Die kognitive, emotionale und physiologische Wahrnehmungsund Erlebnisverarbeitung soll durch den Einsatz dieser Induktionsmethoden ermöglicht bzw. unterstützt werden. Voraussetzung für die erfolgreiche Anwendung der Hypnose ist die Suggestibilität einer Person, die bei Kindern stärker gegeben ist als bei Erwachsenen. Außerdem bedarf es einer von Vertrauen geprägten Beziehung zwischen Kind und Therapeut, damit das Kind seine passive Rolle annehmen und die lenkende Rolle des Therapeuten akzeptieren kann.
Imaginative Methoden Imaginative Verfahren basieren auf einzelnen Vorstellungsbildern oder zusammenhängenden Geschichten, die vom Therapeuten beschrieben und in der Fantasie visualisiert werden. Diese Imaginationen sind als Ruhebilder zu verstehen. Dabei soll sich eine Person vorstellen, an einem Sandstrand zu liegen und die warme Sonne zu spüren, in einem Wald zu spazieren oder an einem Kaminfeuer zu sitzen. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen werden häufig ganze Geschichten vom Therapeuten erzählt, z. B. Fantasiereisen ins Weltall, in fremde Länder oder in eine Fantasiewelt. Sehr häufig stellen Imaginationen einen Bestandteil komplexerer Entspannungstrainings dar. So werden bei der Stereo-Tiefensuggestion nach Stein (o. J.) Instruktionen, die angenehme Vorstellungsbilder hervorrufen, mit einer speziell für das Entspannungsgeschehen komponierten Musik kombiniert.
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248
Kapitel 16 · Entspannungsverfahren
Der Nutzen von Imaginationen liegt in der Induktion eines allgemeinen Ruhezustandes sowie der Initiierung einer Entspannungsreaktion. Imaginative Entspannungsverfahren haben den großen Vorteil, dass sie bei der entspannenden Person keine besonderen Konzentrationsleistungen erfordern und sie daher auch von jüngeren Kindern unter zehn Jahren ohne Anstrengung ausgeführt werden können. Jedoch mangelt es ihnen nicht selten an einem kriteriengeleiteten, systematischen Aufbau.
16.4.3 Kognitive Verfahren
grund ihrer historischen Wurzeln im religiösen Bereich stellen meditative Verfahren einen Sonderfall dar. Üblicherweise wird Meditation im Sitzen praktiziert, z. B. Zen-Meditation, Achtsamkeitsmeditation (auch Vipassana genannt) und transzendentale Meditation; es existieren allerdings auch Meditationsformen, die Bewegung beinhalten, wie z. B. Tai Chi oder Qigong. Ebenfalls bedeutende Meditationsformen sind Yoga und die autogene Meditation, die die Oberstufe des autogenen Trainings darstellt. Hinsichtlich der Anwendung und Wirksamkeit meditativer Verfahren bei Kindern und Jugendlichen besteht noch großer Forschungsbedarf.
Autogenes Training
16
Das autogene Training hatte seinen Ursprung in der Hypnose und wurde von Schultz in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt. Da bei dieser Methode eine Person sich selbst instruiert und dadurch eine »konzentrative Selbstentspannung« herbeigeführt wird, kann diese Methode auch als eine Art Selbsthypnose bezeichnet werden. Zwar wird das Verfahren anfangs mit der Hilfe eines Therapeuten erlernt, doch das Ziel liegt darin, dass der Patient die Übungen später auch im Alltag ohne Anleitung und Kontrolle durch einen Therapeuten durchführen kann. Durch regelmäßige Wiederholungen über einen langen Zeitraum sollen die Anwendungen perfektioniert werden. Es werden drei Übungsstufen unterschieden: psychophysiologische Standardübungen (Unterstufe), meditative Übungen (Oberstufe) und spezielle Übungen (z. B. organspezifische Formeln). Ab einem Alter von etwa neun Jahren erzielen Kinder und Jugendliche in der Regel ähnlich gute Effekte wie Erwachsene. Bei jüngeren Kindern sind die Standardübungen ungeeignet, wobei zu beachten ist, dass es sich dabei um eine relative Angabe handelt, die in jedem Einzelfall zu überprüfen ist. Entscheidend ist nicht das Alter, sondern die individuelle Entwicklung des Kindes hinsichtlich seiner Ablenkbarkeit, der Ängstlichkeit vor dem, was das Kind mit sich selbst macht, der Anfälligkeit für Heterosuggestion und der Entwicklung des Körperschemas (Krampen 1998). Modifikationen des autogenen Trainings für Kinder liegen z. B. darin, diese in der Rückenlage in die Übungen einzuführen oder das autogene Training mit anderen Methoden, wie etwa dem Biofeedback oder imaginativen Elementen, zu kombinieren (Petermann u. Petermann 2008). Bis heute existieren jedoch keine systematischen Untersuchungen, die diese Varianten des autogenen Trainings mit dem Standardvorgehen hinsichtlich der Wirksamkeit vergleichen.
Meditative Verfahren Unter meditativen Verfahren wird eine Vielzahl verschiedener Methoden zusammengefasst, die primär der Bewusstseinserweiterung im Sinne einer spirituellen Entwicklung und tiefgreifenden Selbsterkenntnis bis hin zur Erleuchtung dienen. Hervorgerufene Entspannungsreaktionen werden eher als Nebeneffekte gewertet. Deshalb und auf-
16.4.4 Kombinierte Verfahren
Kapitän-Nemo-Geschichten Die Kapitän-Nemo-Geschichten wurden entworfen, um die Therapie von Kindern mit psychischen und Verhaltensstörungen möglichst wirksam zu gestalten. Zu Beginn einer jeden Therapiesitzung wird zu diesem Zweck eine der 14 Unterwassergeschichten von Kapitän Nemo erzählt. Aufgrund wiederkehrender Leitmotive, wie die Figur des »Kapitän Nemo«, sein Unterwasserboot Nautilus oder die Unterwasserausflüge sowie einer systematischen gleichbleibenden Struktur mit Einstiegsbildern (z. B. Imagination von Nautilus und Anziehen des Taucheranzuges) und Erlebnisbildern (inhaltlich variierende Unterwasserausflüge) ist dieses Verfahren besonders geeignet, den Kindern während der Entspannungsübung ein ausreichendes Maß an Orientierung und Sicherheit zu geben. Die Unterwasserwelt mit ihren Pflanzen und Tieren bietet den Kindern geeignete Assoziationsmöglichkeiten hinsichtlich eigener Badewannen-, Schwimmbad- oder Strandurlaubserlebnisse. Die Imaginationen des warmen Wassers oder eines andersartigen Körpergefühles, nämlich auf besondere Art im Wasser schwer zu sein, sind mit dem physiologischen Entspannungsgefühl kompatibel. Die kriteriengeleitete Integration von Ruheinstruktionen (»Für den Unterwasserausflug ziehst du einen speziellen Taucheranzug an. Er hat eine besondere Wirkung auf dich. Du merkst schon beim Anziehen, dass du vollkommen ruhig wirst.«), Entspannungsinstruktionen in Form von Schwere- und Wärmeübungen, angelehnt an das autogene Training (»Meine beiden Arme und Beine sind auf besondere Art im Wasser schwer und angenehm warm.«) und Selbstinstruktionen (»Nur ruhig Blut, dann geht alles gut!«) lösen ein vertieftes Entspannungserleben mit den entsprechenden psychophysiologischen Reaktionen aus. ! Angstauslösende Imaginationen, wie kalte, dunkle Spalten, Labyrinthhöhlen oder gefährliche Tiere, müssen ebenso vermieden werden wie zu dramatische Ausgestaltungen der Unterwassermotive.
6
249 16.4 · Darstellung der Verfahren
Geeignete Bilder sind z. B. ein Delfinritt, eine Muschelsuche, Erkundungen eines versunkenen Piratenschiffes oder die Beobachtung einer Seepferdchenherde in einer als hell und sonnendurchflutet beschriebenen Unterwasserwelt.
Beispiel Auszug aus einer Kapitän-Nemo-Geschichte (Petermann 2009, S. 87) »Stelle dir vor, du bist von Kapitän Nemo in sein Unterwasserboot Nautilus eingeladen worden. Ihr fahrt gemeinsam durch alle Weltmeere und seht viele wunderschöne Dinge unter Wasser. Die schönsten Stunden sind immer die, wenn Kapitän Nemo dich auf seine Unterwasserausflüge mitnimmt. Dazu ziehst du einen speziellen Taucheranzug an. Er hat eine besondere Wirkung auf dich. Du merkst schon beim Anziehen, dass du vollkommen ruhig wirst. Zuerst steigst du mit einem Bein in den Taucheranzug. Du merkst und sagst zu dir: Mein Bein ist ganz ruhig. … Kapitän Nemo hat heute vor, mit dir Riesenschildkröten zu suchen. Es sind Unterwasserschildkröten, die sehr groß sind und sehr alt werden können. … Du selbst gleitest wie die Fische ruhig und durch den Taucheranzug sicher durch das warme, helle, sonnige Wasser. Du spürst, seitdem du mit Kapitän Nemo regelmäßig auf Unterwasserausflüge gehst, sehr schnell die besondere Wirkung des Wassers. Du sagst zu dir: Meine beiden Arme sind auf besondere Art im Wasser schwer! Meine beiden Arme sind auf besondere Art schwer! Auch deine Beine werden jetzt schnell auf besondere Art im Wasser schwer. … Sehr bald erkennst du, dass hier einige Riesenschildkröten in der Sonne liegen und sich ihren Panzer aufwärmen. Kapitän Nemo gibt dir das Zeichen, langsam und vorsichtîg an die Schildkröten heranzuschwimmen. Du schaust nach Kapitän Nemo und machst es ihm nach. Dabei denkst du: ›Nur ruhig Blut, dann geht alles gut!‹ … Die Sonne scheint auf euch nieder und wärmt dir zusätzlich Arme und Beine. Während du so langsam hin- und hergeschaukelt wirst, sagst du zu dir: Ich bin ganz ruhig, fühle mich wohl und sicher in meinem Taucheranzug! Meine Arme und Beine sind auf besondere Art im Wasser schwer und warm! … Dann macht ihr euch, von einigen Fischen durch das helle, warme Wasser begleitet, auf den Rückweg. Ruhig und sicher, vom Taucheranzug gut eingehüllt und geschützt, schwimmst du mit Kapitän Nemo durch den Unterwasserwald zum Unterwasserboot Nautilus zurück. Nach einer Weile taucht es vor euch auf, und ihr schwimmt geradewegs darauf zu. Am Unterwasserboot Nautilus angekommen, steigst du durch die Luke in das Unterwasserboot hinein. …«
Am Ende einer Kapitän-Nemo-Erzählung wird das Kind entweder in Form einer üblichen Rückholung zum Tiefluft-
holen, Strecken und Beugen der Arme sowie zum Öffnen der Augen oder aber zum Einschlafen angeleitet.
Schildkröten-Fantasie-Verfahren Das Schildkröten-Fantasie-Verfahren (»turtle technique«) wurde von Schneider u. Robin (1979) zunächst für Kinder mit impulsivem Verhalten bis zum Alter von neun Jahren entwickelt und angewendet (Robin et al. 1976). Ziel ist, dass Kinder Strategien erlernen, auch ohne Hilfe der Lehrer ein gewisses Maß an Selbstkontrolle auszuüben, um Wut- und Trotzanfälle ebenso wie sozial störende und impulsive Verhaltensweisen besser bewältigen zu können. Petermann (1996) beschreibt eine Modifikation der »turtle technique«, die bei aggressiven Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter zur Anwendung kommt (Petermann u. Petermann 2008). Im Mittelpunkt dieses Verfahrens steht die Schildkröte, die mit ihren charakteristischen Besonderheiten Schlüsselreize bietet, mit denen Entspannung erzeugt wird. Da die Methode sensorische Anteile (langsame, schildkrötenähnliche Bewegungen; sich in den Panzer zurückziehen), imaginative Anteile (die Kinder hören eine Geschichte von einer Schildkröte und sollen sich in ihre Lage versetzen) und kognitive Anteile (Instruktionen, wie etwa: »Ich bin so leise wie eine Schildkröte.«) enthält, ist sie in die Gruppe der kombinierten Verfahren einzuordnen. Die Methode wird außer in Therapiesituationen auch in pädagogischen Kontexten, z. B. der Durchführung von Verhaltenstrainings in Schulklassen oder Kindergartengruppen, eingesetzt. Das praktische Vorgehen gliedert sich in drei Schritte. Zunächst lernen die Kinder die Eigenarten einer Schildkröte (langsam, leise, natürlicher Schutzmechanismus) kennen. Hierzu können Bilder dieses Tieres, aber auch das Beobachten von Schildkröten in natura (z. B. im Zoo) hilfreich sein. In einem zweiten Schritt lernen die Kinder, die Bewegungen von Schildkröten zu imitieren. Während dieses Bewegungsspiels erhalten sie fortlaufend Instruktionen, die ihnen helfen, sich wie eine Schildkröte zu verhalten (7 Beispiel). Schließlich wird mit den Kindern eine wichtige Regel vereinbart: Berühre ich jemanden, werde ich von jemandem geschubst oder stoße ich an einen Gegenstand, dann ziehe ich mich wie eine Schildkröte in meinen Panzer zurück. Wenn der Pädagoge den Kindern nach etwa 30, maximal nach 60 Sekunden über den Rücken streichelt, signalisiert das den Kindern, dass sie wieder aus ihrem Panzer heraus kommen dürfen.
Beispiel Hilfreiche Instruktionen während des Bewegungsspiels: 4 Ich gehe so langsam wie eine Schildkröte. 4 Ich bin so leise wie eine Schildkröte. 4 Wenn ich jemanden berühre, ziehe ich mich wie eine Schildkröte in meinen Panzer zurück. 4 Wenn mich jemand stupst, krieche ich in meinen Panzer zurück.
16
250
Kapitel 16 · Entspannungsverfahren
Die Übung nimmt etwa 5–10 Minuten in Anspruch. Sie muss täglich zu einer festen Zeit in den Tagesablauf eingebaut sein und über mehrere Wochen erfolgen. In der ersten Woche erfolgen die Übungen in einem freien Raum ohne Hindernisse, in der zweiten Woche dagegen bleiben Tische und Stühle im Raum stehen, so dass leise und langsame Bewegungen erschwert werden. In der dritten Woche wird den Kindern eine Geschichte vorgelesen, die alltagsnahe Probleme behandelt, mit denen die Kinder sich leicht identifizieren können, wie z. B. eine Ärger- oder Streitsituation (7 Beispiel »Schildkrötengeschichte«). Während des anschließenden Bewegungsspiels sollen die Kinder sich nun vorstellen, sie seien in der Situation der kleinen Schildkröte, hätten sich also geärgert und ziehen sich daraufhin in ihren Panzer zurück. Die Kinder bestimmen nun aber selbst, wann sie wieder herauskommen. Ganz nach dem Modell der kleinen Schildkröte in der Geschichte tun sie dies dann, wenn sich nämlich in ihrer Vorstellung der Ärger gelegt hat. Für das Zurückziehen im richtigen Moment im Alltag werden die Kinder vom Pädagogen gelobt, sie sollen sich aber auch untereinander für ruhiges und besonnenes Verhalten loben. Bevor Sättigungseffekte auftreten, können die Übungen mit einem anderen geeigneten Tier fortgeführt werden (z. B. Igel, Schnecke, Katze). Oder das Schildkröten-Fantasie-Verfahren wird langsam ausgeblendet, wobei für die Kinder die Aufgabe bestehen bleibt, sich bei Wut oder Angst in den Schutzpanzer zurückzuziehen, bis sie beruhigt sind. Stichwortartige Erinnerungen oder Reime, wie »Hast du Nöte, denk’ an die Schildkröte!«, helfen den Kindern, ihren Schutzpanzer in der passenden Situation als Möglichkeit zur Emotionsbewältigung einzusetzen.
Beispiel Auszug aus der Schildkrötengeschichte (Petermann 2007, S. 95)
16
»Eine kleine Schildkröte ging in die Schildkrötenschule. Seit einigen Tagen besuchte sie die Schule nicht mehr gerne. Die kleine Schildkröte hatte nämlich öfter Streit mit einer anderen Schildkröte, die sie öfter anstieß, ihre Sachen wegnahm oder sich mit ihr prügelte. Oft wurde dann die Schildkröte von der Lehrerin geschimpft. Dabei fühlte sich die Schildkröte nicht wohl und am liebsten hätte sie die Schule geschwänzt. … Immer wenn die kleine Schildkröte in Not war, nicht mehr weiter wusste und sich ganz und gar nicht wohl fühlte, ging sie zu der Riesenschildkröte und holte sich Rat. … Die Schildkröten-Oma sagte: ›Weißt du, wenn ich mich ärgere oder wenn ich Angst habe, dann ziehe ich mich einfach für einen Moment in meinen Panzer zurück, bis mein Ärgergefühl oder meine Angst verschwunden sind. Danach komme ich aus meinem Panzer wieder raus und schaffe es, z. B. nicht wütend loszubrüllen, sondern
6
ruhig zu sagen, was mich ärgert oder was ich möchte.‹… Am nächsten Morgen in der Schule probierte sie den Tipp der Riesenschildkröte gleich aus. Als der Schildkröten-Banknachbar der kleinen Schildkröte aus Versehen das Buch vom Tisch warf und in der kleinen Schildkröte sofort Wut aufstieg und sich das erste Schimpfwort schon auf den Lippen befand, erinnerte sie sich an den Rat der Riesenschildkröte und verkroch sich in ihren Panzer, bis das meiste Wutgefühl vorüber war. Als sie wieder aus ihrem Panzer herauskam, stand die Lehrerin mit lachendem Gesicht vor der kleinen Schildkröte und lobte sie dafür, dass sie nicht sofort losgeschimpft und losgehauen hatte. Das machte die kleine Schildkröte sehr zufrieden und stolz, sie probierte den Trick mit dem Schutzpanzer noch öfter erfolgreich aus.«
16.5
Indikationen und Kontraindikationen – Möglichkeiten und Grenzen
Wie bereits erwähnt, ist die Wirkung von Entspannungsverfahren symptomunspezifisch. Es kann daher nicht erwartet werden, dass der Einsatz von Entspannungsübungen die Symptomatik eines Kindes mit einer emotionalen oder Verhaltensstörung nachhaltig verbessert. Ebenso wenig wird durch Entspannung ein Kind mit einer chronischen Erkrankung wie Asthma bronchiale gesund. Dennoch sind Entspannungsverfahren aufgrund der psychophysiologischen Reaktionen, die sie hervorrufen, als zusätzliche Begleit- oder Vorbereitungsmaßnahme für die eigentliche (z. B. medikamentöse oder verhaltenstherapeutische) Behandlung von grundlegender Bedeutung. Die in 7 Abschn. 16.2.3 beschriebenen Veränderungen physiologischer und psychologischer Art stellen eine äußerst günstige Bedingung für erfolgreiche Lern- und Bewältigungsprozesse bei einer körperlich chronischen Krankheit oder in der Therapie psychischer Störungen dar. Indikation
Ab einem Alter von ca. fünf Jahren können Entspannungsübungen bei Kindern eingesetzt werden. Die Indikationsbereiche werden je nach Wirkungsebene in drei Gruppen systematisiert. Auf somatischer Ebene sind dies z. B. Asthma bronchiale, Neurodermitis sowie akute und chronische Schmerzen (Kopf- und Krebsschmerzen, Migräne). Aggressives Verhalten, oppositionelles Trotzverhalten und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung stehen für Indikationsbereiche auf der Verhaltensebene. Zur kognitiv-affektiven Ebene schließlich gehören die Indikationsfelder Ängste und Zwänge (Störungen mit Trennungsangst, soziale Angst und soziale Unsicherheit, Schulangst und Prüfungsangst) sowie Lern-, Teilleistungs- und Konzentrationsstörungen.
251 16.7 · Ausblick
! Entspannungsverfahren sind typischerweise indiziert bei Schmerzen, aggressivem Verhalten, ADHS, Ängsten und Konzentrationsstörungen. Kontraindikationen
Eine Kontraindikation besteht, wenn durch die Anwendung von Entspannungsübungen Symptomverschlimmerungen oder andere unerwünschte Effekte auftreten. Dies kann sowohl bei körperlichen als auch bei psychischen Erkrankungen der Fall sein. Hierbei dürfen Entspannungsübungen gar nicht oder aber nur mit hoher Sachkompetenz und unter ärztlicher Aufsicht eingesetzt werden. Bei den nachfolgend aufgelisteten Störungen sind Entspannungsverfahren kontraindiziert: 4 Anfallserkrankungen (Epilepsie), 4 Herz-Kreislauf-Erkrankungen (angeborener Herzfehler, massive Kreislaufschwäche mit extrem niedrigem Blutdruck), 4 gastrointestinale Erkrankungen im akuten Stadium (Magengeschwür, Colitis usw.), 4 Small-Airway-Asthma und während eines Asthmaanfalls, 4 hyperkinetische Störungen, wenn sie überwiegend neuronaler Unterstimulation bedingt sind, insbesondere bei fehlender Medikation; die Kinder reagieren paradox mit zunehmender Hyperaktivität, 4 Dissoziationsstörungen, 4 Major Depression und dysthyme Störung in der depressiven Phase, 4 Psychosen im akuten Stadium. Möglich ist auch das Auftreten von Nebenwirkungen in Form paradoxer Reaktionen. Dabei handelt es sich um einen gegenteiligen Effekt im Vergleich zu dem sonst bei Entspannung zu erwartendem. Der Grund dafür ist häufig eine mangelnde Aufklärung desjenigen, der Entspannung erleben soll und daraus folgende falsche Interpretationen der Veränderungen während der Entspannung. So können z. B. durch Entspannung hervorgerufene Ängste (genannt RIA: »Relaxation Induced Anxiety«), ein Taubheitsgefühl beim Erleben der Schwere- und Wärmesensationen oder ein Anstieg der Muskelspannung sowie auch der Herzfrequenz auftreten. ! Paradoxe Reaktionen können in Form von Ängsten oder Taubheitsgefühl auftreten. Auch ein Anstieg des Muskeltonus und der Herzfrequenz ist möglich.
16.6
Empirie
In Anbetracht des weiten Einsatzfeldes von Entspannungsverfahren im Kindes- und Jugendalter sind verhältnismäßig wenige aussagekräftige Studien über die Wirksamkeit von Entspannungsverfahren bei Kindern und Jugendlichen
dokumentiert. Übersichtsarbeiten zu einzelnen Entspannungsmethoden oder zum Vergleich verschiedener Methoden bei bestimmten Störungsbildern liegen nur vereinzelt vor: Saile (1996) vergleicht in seiner Meta-Analyse zur Behandlung von ADHS-Kindern Entspannungsverfahren sowie verschiedene Kontrollbedingungen und kann einen mittelgroßen Effekt ermitteln. Die Meta-Analyse von Hermann et al. (1995) belegt, dass verhaltensmedizinische Verfahren, die eine Form von Entspannungstraining (progressive Muskelentspannung, Biofeedback) beinhalten, in der Behandlung von Migräne bei Kindern größere Effekte haben als eine medikamentöse Prophylaxe. Die Ergebnisse der Meta-Analyse von Eppley et al. (1989) sind dagegen weniger eindeutig. Zwar kann für die transzendentale Meditation ein Effekt bei der Behandlung von Ängsten nachgewiesen werden; die progressive Muskelentspannung jedoch reduziert die Angst nicht mehr als eine Placebo-Intervention. Für weitere störungsspezifische Wirksamkeitsangaben sei auf Petermann u. Vaitl (2009 7 weiterführende Literatur; Teil IV Anwendungsbereiche bei Kindern und Jugendlichen) verwiesen. . Tab. 16.3 gibt einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand der vorgestellten Verfahren. Die ausgewählten Studien veranschaulichen beispielhaft, in welchen Indikationsbereichen das jeweilige Verfahren eine positive Wirkung erzielen konnte.
16.7
Ausblick
Aufgrund der häufigen Anwendung von Entspannungsübungen in psychotherapeutischen, pädagogischen und medizinischen Settings ist eine interdisziplinäre Forschungsbemühung von Nöten, die einen Transfer von wissenschaftlichen Befunden in die Praxis ebenso erlaubt wie eine Evaluation des Einsatzes von Entspannungsmethoden in der Praxis. Zukünftige Aufgaben der Forschung bestehen in der Durchführung kontrollierter Wirksamkeitsvergleiche der Verfahren untereinander, zu alternativen Behandlungen (z. B. Medikamente, Verhaltenstherapie, Placebo) und zu Wartekontrollgruppen. Besonders die auf Kinder oder Jugendlichen abgestimmten Varianten gängiger Methoden müssen systematisch untersucht werden. Hierbei ist auch präziser als bisher geschehen zu prüfen, welcher Entspannungszugang für welche Kinder und Jugendlichen indiziert ist, und zwar in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Intelligenz, Symptomatik bzw. Störungsbild, aber auch von sozialem und familiärem Hintergrund, Anwendungsfeld (Therapie, Schule, Klinik etc.) und damit Settingbedingungen.
16
252
Kapitel 16 · Entspannungsverfahren
. Tab. 16.3. Wirkungsbereiche der Standardentspannungsverfahren Publikationen
Indikation
Progressive Muskelentspannung Nickel et al. 2005a
Asthma (Blutdruck, Lungenparameter, Herzrate)
Nickel et al. 2005b
Aggressives Verhalten, Ärger
Nakaya et al. 2004
Delinquentes Verhalten
Lopata 2003
Aggressives Verhalten aufgrund von Emotions- und Verhaltensstörungen
Biofeedback Strehl et al. 2006
ADHS
Hirshberg 2006
Depression
Masters 2006
Rekurrierender Bauchschmerz
Li u. Yu-Feng 2005
ADHS mit komorbider Tic-Störung
Trudeau 2005
Substanzmissbrauch
Hammond 2005
Angst, posttraumatische Belastungsstörung, Zwangsstörung und Depression
Yagci et al. 2005)
Blasenfunktionsstörung
Nanke u. Rief 2004
Somatoforme Störungen, spezieller Spannungskopfschmerz
Hypnose Aviv 2006
Schulverweigerung, Angst
Wood et al. 2006
Schmerz, schmerzhafte Untersuchungen
Calipel et al. 2005
Operativer Eingriff
Butler et al. 2005
Schmerzhafte und beängstigende Untersuchungen
Liossi 2003
Pädiatrische Onkologie: Übelkeit und Erbrechen durch Chemotherapie, Schmerzen
Hawkins u. Polemikos 2002
Schlafprobleme aufgrund traumatischer Verlusterfahrung
Imaginative Methoden Dobson et al. 2005
Asthma (Verbesserung der »trait anxiety«)
Ball et al. 2003
Rekurrierender Bauchschmerz
Lohaus et al. 2001
Unruhiges und störendes Schülerverhalten
Autogenes Training Goldbeck u. Schmid 2003
Verhaltens- und emotionale Probleme
Heinrichs u. Neidhardt 1998
Prüfungsangst
Kröner u. Steinacker 1980
Neurotizismus, manifeste Angst, Prüfungsangst
Meditation
16
Rosaen u. Benn 2006
Erhöhte Wachsamkeit und emotionale Intelligenz
Haffner et al. 2006
ADHS
Peck et al. 2005
Aufmerksamkeitsprobleme
Stueck u. Gloeckner 2005
Emotionale Instabilität, Ängste, Aggression, Hilflosigkeitsgefühle
Harrison et al. 2004
ADHS, Erhöhung des Selbstwertgefühls, Schlafprobleme, Angst, Konzentration
Barnes et al. 2004
Systolischer und diastolischer Bluthochdruck
Kapitän-Nemo-Geschichten Saile u. Klüsche 1994
Hyperaktives Verhalten
Petermann u. Petermann 2008
Störungen des Sozialverhaltens, oppositionelles Trotzverhalten
Schildkröten-Fantasie-Verfahren Heffner et al. 2003
Vermuteter Indikationsbereich: internalisierende (Angst) und externalisierende Störungen (ADHS)
Becker u. Petermann 1996
Aggressives und schulverweigerndes Verhalten
Robin et. al. 1976
Impulsives Verhalten bei emotionaler Störung
253 Literatur
Zusammenfassung Die Verschiedenheit der einzelnen Entspannungsverfahren ermöglicht deren vielseitigen und individuell abgestimmten Einsatz. Je nach Alter, Geschlecht, Störung und persönlicher Vorliebe kann zwischen Entspannungsverfahren mit sensorischen, imaginativen, kognitiven oder kombinierten Elementen ausgewählt werden; die Durchführung kann im Einzelkontakt oder in Gruppen sowie im Sitzen oder im Liegen erfolgen. Sensorische und imaginative Entspannungsverfahren stellen ebenso wie kombinierte Methoden bedeutsame Behandlungsmethoden bei körperlicher oder psychischer Störung im Kindes- und Jugendalter dar. Kognitive Verfahren bedürfen einer größeren Anstrengung und werden daher eher bei älteren Jugendlichen oder in modifizierten Varianten angewandt. Prinzipiell sprechen Kinder sehr gut auf die Anwendung von Entspannungsverfahren an; bei Jugendlichen ist mit Widerstand aufgrund von Vorbehalten zu rechnen. Entsprechend ist von Bedeutung, dass vor dem ersten Einsatz einer Entspannungsmethode ein vertrauensvolles Verhältnis zu dem Kind bzw. Jugendlichen aufgebaut sowie altersangemessen über das Vorgehen informiert wurde. Im Zusammenhang mit psychischen Störungen (z. B. Ängste, ADHS), Verhaltensauffälligkeiten (z. B. aggressives Verhalten) und körperlichen Leiden (z. B. Asthma, Schmerz) sind hinsichtlich einzelner Entspannungsmethoden bereits bedeutende Wirksamkeitsnachweise erbracht worden. Überblickarbeiten, die die Effektstärken verschiedener Entspannungsverfahren indikationsspezifisch untereinander und zu alternativen Behandlungsmethoden systematisch untersuchen, sind jedoch weiterhin erforderlich.
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254
Kapitel 16 · Entspannungsverfahren
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17
17 Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz Nina Heinrichs, Kurt Hahlweg
17.1
Einleitung und theoretische Grundlagen
17.1.1
17.1.3
Die gesellschaftlichen Relevanz von Erziehungsproblemen und ihr Zusammenhang zu kindlichen Verhaltensproblemen – 257 Risiko- und Schutzfaktoren einer gesunden psychischen Entwicklung von Kindern – 260 Vorliegende nationale und internationale Elterntrainingsprogramme – 261
17.2
Praktische Voraussetzungen und Diagnostik – 261
17.2.1 17.2.2
Diagnostische Überlegungen – 261 Praktische Voraussetzungen – 263
17.3
Darstellung von Elterntrainings: Durchführung und Inhalte – 264
17.3.1
Triple P als Beispiel für ein typisches kognitiv-verhaltenstherapeutisches Elterntraining – 264
17.4
Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen von Elterntrainings – 269
17.4.1 17.4.2
Anwendungsbereiche von Elterntrainings Grenzen von Elterntrainings – 269
17.5
Empirische Befunde zu Elterntrainings
17.5.1 17.5.2
Globale Wirksamkeit von Elterntrainings – 271 Spezifische Moderatorvariablen der Wirksamkeit von Elterntrainings – 272
17.6
Ausblick
17.1.2
– 273
Zusammenfassung Literatur
– 273
– 274
Weiterführende Literatur
– 291
– 256
– 269
– 271
256
Kapitel 17 · Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz
17.1
Einleitung und theoretische Grundlagen
Erziehung ist in den letzten Jahren immer häufiger Mittelpunkt in den Medien, meist werden Eltern als »inkompetent« (Gaschke 2001) oder als »Versager« (Neumann 2002) dargestellt, Kinder als »außer Rand und Band«. Auch die
Fernsehserie »Die Super-Nanny« hat ihren Beitrag dazu geleistet, da in dieser RTL-Serie meist Familien vorgestellt werden, die mit extremen (Erziehungs-) Problemen konfrontiert sind wie in dem Beispiel von Lukas und seiner Familie (7 Fallbeispiel »Lukas und seine Familie«).
Fallbeispiel Lukas und seine Familie Lukas ist 5 Jahre alt. Seine Eltern und er machen bei der Sendung »Die Super-Nanny« mit. Folgender Ausschnitt wurde von uns aus der Sendung transkribiert: Mutter verlässt mit »Super-Nanny« das Kinderzimmer. Lukas rennt hinter ihr her und schubst sie. 4 Lukas: »Du Schlampe« 4 Mutter (geht schnell auf ihn zu, er weicht zurück, sie sagt mit wütender Stimme): »Lukas, es wird nicht gehauen.« Beide verschwinden aus dem Bild, man hört Lukas keuchen und schluchzen. Die »Super-Nanny« fordert die Mutter auf, wieder zur Tür zu kommen. Die Mutter kommt wieder ins Bild, Lukas rennt hinter ihr her und schubst sie vorwärts in Richtung Tür. Die Mutter steht jetzt in der Tür und wischt sich über die Augen. Die »Super-Nanny« rät, den Jungen nicht aus dem Zimmer zu lassen und ihn zurück auf den stillen Stuhl zu schicken. 4 Mutter (zeigt mit Arm auf den Hocker und sagt): »Lukas, geh’ bitte auf deinen Hocker zurück.« (Kind hüpft erst vor ihr hin und her, springt dann auf das Bett und tanzt; Mutter erhebt die Stimme): »Ich möchte, dass Du …« 4 Lukas (springt auf sie zu, ist durch das Bett fast auf Augenhöhe und ruft laut): »Fotze« 4 Mutter: »Ich möchte, dass Du auf den Hocker zurückgehst.«
17
Selten erfolgt eine ausgewogene Darstellung von Erziehung, die vor allem die transaktionale Natur der interpersonellen Prozesse zwischen Eltern und Kind berücksichtigt (Patterson 1982). Das Beispiel von Lukas und seiner Familie macht dies deutlich: In Familien mit aggressiven Kindern (so wie Lukas) ist oft die primäre Form, Kontrolle auszuüben, die Nötigung. Dieses kontrollierende Verhalten wird von beiden Seiten – den Eltern und den Kindern – ausgeübt. Im Beispiel oben findet man zum einen den auch in weniger belasteten Familien typischen Teufelskreis von lauter werdenden Stimmen, der erst dann zu einer Lösung führt, wenn einer von beiden Interaktionspartnern das gegenwärtige Verhalten des anderen nicht mehr tolerieren kann und es dann durch eine dysfunktionale Handlung »abstellt«. In der Familie von Lukas z. B. beendet die Mutter die unangenehme Interaktion mit dem Kind, indem sie das Kinderzimmer verlässt, weil sie die Beschimpfungen nicht mehr
4 Lukas (hüpfend auf dem Bett, singt mit rhythmischem Ton): »Fotze, Fotze …, Fotze, Fotze, Fotze …, Fotze, Fotze, Eier …« 4 Mutter (mit etwas ruhigerer Stimme): »Ich möchte, dass Du auf Deinen Hocker zurück gehst.« 4 Lukas: »Fotze« 4 Mutter: »Die Schimpfwörter gibt es nicht.« 4 Lukas: »Fotze, Fotze …, kleene Fotze …, kleene Fotze …, kleene Fotze …, kleene Fotze …, kleene Fotze« 4 Mutter: »Du darfst keine schlimmen Schimpfwörter benutzen.« 4 Lukas (erhebt seine Stimme): »Kleene Fotze« 4 Mutter (erhebt Stimme): »Keine …« Lukas tritt die Mutter. 4 Mutter (wird lauter): »Und nicht schlagen …« Lukas tritt erneut nach seiner Mutter und sagt etwas. 4 Mutter: »Und keine bösen Wörter …« 4 Lukas: »Halt die Fresse, alte Schlampe.« 4 Mutter: »Setz Dich bitte hin.« (Arm zeigt auf den Hocker) Lukas tritt gegen die Wand am Bett. 4 »Super-Nanny« (spricht Mutter vor): »Ich möchte, dass Du Dich da hinsetzt.« Mutter wiederholt den Satz. Lukas schreit laut und macht seiner Mutter gegenüber eine unanständige Geste. Mutter wendet sich abrupt ab und verlässt weinend das Kinderzimmer. Das Kind hüpft weiter auf dem Bett.
ertragen kann. Sie entscheidet sich für die Flucht aus der Situation. In einer anderen Filmsequenz ist die Mutter bzw. der Vater aufgrund der vorangegangenen Eskalationen so wütend, dass sie bzw. er Lukas schlägt, woraufhin dieser mit seinen Beschimpfungen aufhört und zu weinen beginnt. Aus lerntheoretischer Sicht lernen aber sowohl Eltern als auch Kinder in solchen transaktionalen Prozessen nicht nur die Wirkung ihres eigenen Verhaltens kennen (»anschreien oder schlagen hilft« und »wenn ich nicht höre, kann ich machen, was ich will«), sondern sie entwickeln auch ein Bild von sich selbst, das ihre Identität determiniert. Die Mutter von Lukas fühlt sich vermutlich hilflos und überfordert, möglicherweise auch schwach und ohne Einfluss auf das, was ihr eigenes Kind mit ihr macht. Sie versteht nicht, warum es so ist, wie es ist und sie leidet unter dem Kind und unter dem Bild von sich selbst. Ihre Identität als Mutter ist im Kern getroffen. Das Kind wiederum, ob-
257 17.1 · Einleitung und theoretische Grundlagen
wohl im Beispiel oben aktiv und provozierend, fühlt sich die meiste Zeit vermutlich auch nicht glücklich. Das Gefühl der Stärke, die eine solche Situation wie oben hervorrufen kann, überdeckt nur kurzfristig die eigentlich relevanten Probleme: Die Schwierigkeiten, die Lukas hat, seine eigenen Gefühle zu kontrollieren, die Schwierigkeiten, die er im Umgang mit seiner Familie hat, die kontinuierlichen nonverbalen und verbalen Rückmeldungen, dass er ein schlechter Mensch sei – all dies wirkt sich langfristig auf seinen Selbstwert aus. In seiner Identität stabilisiert sich ein Bild, das ihn für eine Vielzahl psychischer Störungen, nicht nur im Kindesalter, sondern gerade auch im Erwachsenenalter anfällig macht. Ein Vorteil der Fernsehserien über Erziehung und Erziehungsprobleme ist, dass sie die Sensibilität der Gesellschaft für das Thema Erziehung und den familiären Umgang erhöhen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass der mediale Kontext einen erheblichen Einfluss auf die Darstellung hat. Wenn man die Zitate der »Super-Nanny« auf der RTL-Homepage nachliest, findet man viele relevante Hinweise für die angemessene Stärkung von Erziehungskompetenzen (z. B. der deutliche Hinweis von Katharina Saalfrank auf die Selbstregulation und Eigenverantwortlichkeit von Eltern im Kontext von Erziehung), die in der Sendung wenig Ausdruck finden. Den meisten Zuschauern bleibt möglicherweise durch die extreme Darstellung oft verschlossen, welche Relevanz dieses Thema für jede einzelne Familie besitzt. In der chinesischen Kultur wurde die Bedeutung von Erziehung und Kindern für die Zukunft bzw. das Fortbestehen einer Gesellschaft bereits frühzeitig erkannt. Ein altes chinesisches Sprichwort sagt: Wenn Du für das nächste Jahr sorgen willst, pflanze Weizen an Wenn Du für 10 Jahre sorgen willst, pflanze einen Baum, Wenn Du für 100 Jahre, also die Zukunft, sorgen willst, erziehe Deine Kinder gut!
Die Erziehung von heute schafft die Erwachsenen von morgen. Und die Erwachsenen von morgen schaffen die Kinder von übermorgen. Die Stärkung von Erziehungskompetenzen kann daher sowohl als Vorbeugung und Verhütung von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen benutzt werden als auch zur Prävention solcher Erkrankungen im Erwachsenenalter beitragen (In-Albon u. Schneider 2006). Elterntrainings sind in ihrem Kern Verfahren zur Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung. Durch eine solche Verbesserung können sich Eltern kompetenter fühlen und die Liebe zu ihrem Kind (erneut) aufbauen und spüren. Vielen Eltern, die mit aggressiven Kindern leben, ist dieses liebende Gefühl irgendwo und irgendwann auf dem gemeinsamen Weg mit dem Kind verloren gegangen und es fällt ihnen schwer, positive Seiten an ihrem Kind zu entdecken. Aus der Sicht des Kindes lassen sich psychische Stö-
rungen auch als Versuch interpretieren, sich an die (familiären) Umgebungsbedingungen anzupassen, stellt also eine kindliche Adaptationsleistung dar. Beide Sichtweisen verdeutlichen die Indikation von Elterntrainings bei Kindern mit psychischen Störungen. Um das Verfahren »Elterntraining« genauer kennenzulernen, sollte man sich drei komplexen Fragen zuwenden: 1. Zunächst sollte man sich überlegen, ob solche emotionalen und Verhaltensstörungen von Kindern überhaupt eine gesellschaftliche Bedeutung haben. Damit einhergehend stellt sich natürlich auch die Frage, ob und inwiefern die Reaktion von Eltern auf ihre Kinder, aber auch die Aktion der Eltern bezüglich ihrer Kinder, also die Erziehung, ein Problem darstellt. 2. Eine wichtige Voraussetzung für effektive elternbasierte Verfahren ist, dass man Wissen über Faktoren hat, die die Entwicklung eines Kindes positiv oder negativ beeinflussen – bei einem negativen Einfluss kann man von Risikofaktoren sprechen, bei einem positiven Einfluss von Schutzfaktoren. Ein solcher Faktor, der die kindliche Entwicklung sowohl positiv als auch negativ beeinflussen kann, ist die Erziehung. 3. Als dritte Frage ergibt sich, welche Elterntrainingsprogramme bereits vorliegen, die das Wissen über Risiko und Schutzfaktoren umsetzen und Hilfestellungen geben, damit solchen ungünstigen Entwicklungsverläufen wie bei Lukas vorgebeugt werden kann. Also z. B. Programme für Eltern, die diesen die Möglichkeit geben, ihre Ressourcen zu nutzen und ihre Kompetenzen zu erweitern, ihre Erziehungsstrategien zu hinterfragen und durch eine Optimierung der Eltern-Kind-Beziehung eine gesunde psychische Entwicklung des Kindes zu fördern. Diesen drei Fragen werden wir uns im Folgenden zuwenden.
17.1.1 Die gesellschaftlichen Relevanz von
Erziehungsproblemenund ihr Zusammenhang zu kindlichen Verhaltensproblemen Erziehung und psychische Störungen von Kindern Etwa jede dritte Familie wird damit konfrontiert sein, ein Kind zu erziehen, das ausgeprägtere Formen kindlichen Verhaltens entweder in den Emotionen, im Verhalten oder in beidem zeigt (7 Kap. III/2). Etwa 15–20% unserer Kinder und Jugendlichen weisen deutliche psychische Auffälligkeiten auf. Eine neuere Studie, die diese Befunde sehr gut widerspiegelt, ist die BELLA-Studie vom Robert-Koch-Institut (RKI; Ravens-Sieberer et al. 2006). In dieser Untersuchung wurden fast 2900 Eltern hinsichtlich der seelischen Gesundheit ihrer Kinder mit dem »Strength and Difficulties Questionnaire« (SDQ; Goodman 1997) befragt. Insgesamt waren 22% der Kinder im Alter von 7–17 Jahren in
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258
17
Kapitel 17 · Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz
ihrem Erleben und Verhalten auffällig. Bei jüngeren Kindern (3–5 Jahre) liegt die Rate mit 15% etwas niedriger (Barkmann u. Schulte-Markwort 2004; Kuschel et al. 2004). Nicht immer beinhalten diese dimensionalen, mit Hilfe von Fragebögen erfassten Prävalenzzahlen den jeweiligen Grenzwertbereich, also den Bereich, in dem Auffälligkeiten auftreten, die aber (noch) nicht ein klinisches Ausmaß erreicht haben. Für Erziehungsprozesse und ihre Auswirkung auf die Kompetenzerwartung und Selbstwirksamkeit von Eltern und Kindern spielt dieser Bereich aber vermutlich ebenfalls eine Rolle, so dass die Schätzung von einem Drittel realistisch sein dürfte. Wie bereits in der Einleitung dargestellt, sind die Zusammenhänge zwischen Erziehung und kindlichen Entwicklungsauffälligkeiten nicht unidirektional, sondern transaktional. Eltern und Kinder beeinflussen sich gegenseitig. Eine unidirektionale Interpretation, wie z. B. Eltern könnten nicht erziehen und deswegen gäbe es so viele psychische Störungen bei Kindern, ist falsch. Sie impliziert eine unangemessene Schuldzuweisung, denn sie berücksichtigt nicht, dass Kinder bereits von ihrem ersten Lebenstag an verschieden sind. Unterschiedliche Kinder stellen unterschiedliche Anforderungen an ihre Eltern und unterschiedliche Eltern verfügen über unterschiedliche Ressourcen, um diesen Anforderungen (und Herausforderungen) zu begegnen.
seitige Abhängigkeit von Stimmung und Verhalten zu veranschaulichen. Es bildet dort das Rational für die therapeutische Strategie des Aktivitätenmanagements. Eine Analogie für die Veränderung von Erziehungsstrategien ist hier denkbar.
! Es ist die essenzielle Natur von Elterntrainings, allen Eltern – angepasst an ihre individuellen Voraussetzungen – Unterstützung in der Erziehung anzubieten und zwar in dem Ausmaß, wie es von Eltern selbst erwünscht wird. Aufgrund der großen Varianz in der Elternschaft und in den individuellen Merkmalen der Kinder muss ein Unterstützungssystem für Eltern ein entsprechendes Angebotssystem schaffen, das diesen interindividuellen Differenzen gerecht wird.
Erziehung ist in Deutschland eine von der Öffentlichkeit wenig geschätzte Aufgabe. Obgleich von einem Erziehungsberechtigten gewöhnlich verlangt wird, den Beruf für einen Zeitraum von bis zu 3 Jahren aufzugeben und auch Mütter meist diese Anforderung an sich selbst stellen, ist dies in anderen Ländern ganz anders geregelt und subjektiv verankert (z. B. in den USA, wo sechs Wochen nach der Geburt eines Kindes ein zumindest partieller Wiedereinstieg in das Arbeitsleben erwartet wird). Die kulturelle und politische Umgebung, in die Erziehung eingebettet ist, spielt vermutlich eine wichtige Rolle, vor allem in dem Selbstbild von Eltern, in ihrer Identität als Mutter oder Vater. Wie wenig geschätzt diese Arbeit jedoch ist, zeigt sich vor allem im familiären Alltag in der Öffentlichkeit, z. B. an den kritisch-prüfenden oder auch mitleidigen Blicken, wenn Kinder auf dem Spielplatz oder im Supermarkt ein sozial nicht akzeptiertes Verhalten zeigen und die öffentliche Aufmerksamkeit auf dem Erziehungsverhalten der Eltern liegt (»Was macht sie jetzt?«, »Wie geht sie damit um?«). Wie bei anderen Gegebenheiten auch, erhöht eine Fokussierung der öffentlichen Aufmerksamkeit selbstwertrelevante Aspekte, besonders bei Frauen (Mor u. Winquist 2006) und bedroht die Identität von Eltern in erster Linie, wenn sie nicht umgehend das Kind dazu motivieren können, sein Verhalten zu ändern und in sozial verträglichere Verhaltensweisen einzulenken.
Der Erziehungsprozess ist nur einer von vielen Faktoren, die für die Entwicklung eines Kindes verantwortlich sind. Neben der Transaktionalität spielt also auch die Diversität von Einflüssen eine Rolle bei der Beurteilung der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen (Koenen et al. 2006). Erziehung besitzt einen prädiktiven Wert für die zukünftige Entwicklung des Kindes und zwar nicht nur bei psychisch gesunden, sondern auch bei psychisch kranken Kindern. Sie hat damit einen universellen Einfluss, auch wenn dieser nicht immer gleich stark sein muss. Durch eine Veränderung von Erziehungsprozessen kann man daher Einfluss auf die Entwicklung des Kindes nehmen. Durch die Transaktionalität kann eben diese veränderte Entwicklung des Kindes auch die Erziehungsprozesse der Eltern verändern. Dieses Muster, das man bildlich auch als »spiralenförmige Abhängigkeit« bezeichnen kann, findet man z. B. ebenfalls bei depressiven Störungen, um die wechsel-
! Fazit Etwa 15% der Kinder im Vorschulalter und 20% der Kinder im Grundschulalter weisen psychische Störungen auf. Somit ist ca. jede fünfte Familie damit konfrontiert, ein Kind zu erziehen, das besondere Auffälligkeiten in den Emotionen und dem Verhalten zeigt – über 2 Mio. Kinder und Jugendliche sind in Deutschland betroffen. Erziehungsverhalten spielt in diesem Zusammenhang eine 4-fache Rolle: 4 es trägt zu der Entstehung und Aufrechterhaltung dieser psychischen Störungen bei Kindern als eine von mehreren Variablen bei, 4 es wird durch das Verhalten und die Persönlichkeit des Kindes mitbestimmt, 4 es verändert sich, wenn sich das kindliche Verhalten ändert, 4 wenn sich das Erziehungsverhalten ändert, dann ändert sich auch das kindliche Verhalten.
Erziehung und ihre gesellschaftliche Relevanz
259 17.1 · Einleitung und theoretische Grundlagen
»Bewerbung erwünscht« Paar gesucht, zum Auf- und Erziehen eines Kindes. Keine Vorerfahrung notwendig. Bewerber müssen 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche zur Verfügung stehen und Nahrung, Unterkunft, Kleidung und Beaufsichtigung bieten. Keine Bezahlung – Bewerber haben in den nächsten 18 Jahren etwa 180.000 € zu zahlen. Fortbildung wird nicht angeboten. Alleinstehende können sich bewerben, müssen aber auf die doppelte Arbeit gefasst sein.
Psychische Auffälligkeiten von Kindern sind aber nur ein Aspekt der Beurteilung für die gesellschaftliche Relevanz von Erziehung. Wie Eltern mit ihren Kindern umgehen, kann man auch an den von Eltern oder Kindern berichteten Erziehungsstrategien sehen. Wie häufig kommen extreme, dysfunktionale Erziehungsstrategien vor, wie die, die die 3-jährige Karolina ertragen musste, bevor sie im Januar 2004 verstarb (7 Fallbeipiel »Karolina«)?
Fallbeispiel Karolina Von den Eltern (Mutter und deren Partner) berichtete Erziehungsmaßnahmen zum Umgang mit Karolina, wenn diese nicht zuhörte (z. B. nicht essen oder nicht schlafen wollte): 4 dauerhafter Hausarrest, 4 In einer kalten Kammer bei Minusgraden und offenem Fenster mehrere Stunden auf einem Bein mit dem Gesicht zur Wand stehen, 4 in Büscheln die Haare ausreißen, 4 mit Stöcken auf die Hände schlagen, 4 nachts auf einem hohen Schrank bleiben, 4 mit Gürtel auspeitschen, 4 in heißes Wasser tauchen, 4 mit dem Kopf an Wände und Möbel schlagen, 4 nachts nackt auf die Terrasse stellen, 4 Finger mit einem Feuerzeug verbrennen, 4 Gesäß und Beine mit glühenden Plastikschraubverschlüssen verschmoren. Eine psychische Begutachtung der Eltern von Karolina ergab nach Zeitungsberichten, dass der Partner der Mutter unter mehreren schweren Persönlichkeitsstörungen (i. S. der schweren seelischen Abartigkeit) litt, wohingegen der leiblichen Mutter psychische Gesundheit attestiert wurde. Hieran kann man erkennen, dass die körperliche Misshandlung von Kindern durchaus mit psychischen Störungen der Eltern einhergehen kann, aber nicht muss.
Körperlich misshandelt werden etwa 10–15% der Kinder in Deutschland (7 Kap. III/48). Es wurden allerdings nur etwa 4600 Fälle einer Misshandlung Schutzbefohlener im Jahr 2005 polizeilich registriert, in 77% war der Täter ein Verwandter des Opfers (Polizeiliche Kriminalstatistik 2005). Bei diesen Misshandlungstaten findet sich ein interessantes und bisher kaum berücksichtigtes Phänomen: während aggressiv getönte Straftaten zu ca. 85% von Männern begangen werden, findet sich bei der Misshandlung von Kindern dagegen ein Überwiegen weiblicher Tatverdächtiger (ca. 50%). Die Tatsache, dass Frauen im Umgang mit anderen Menschen im Vergleich zu Männern in den meisten Fällen nicht aggressiv auffällig werden, sich dieses Muster allerdings deutlich verändert, wenn es sich bei den anderen Menschen um Kinder handelt, ist bisher in der Diskussion um Erziehung und Elterntrainings kaum berücksichtigt worden. Man könnte sogar meinen, dass der Sachverhalt, dass Mütter ihre Kinder vermutlich mehr und öfter misshandeln als Väter, totgeschwiegen wird. Etwa 6-7% der Kinder werden sexuell missbraucht, die Täter kommen dabei ebenfalls häufig aus dem familiären Umfeld und sind meist neue Partner der Mutter. Verlässliche Daten für das Phänomen der psychischen Vernachlässigung (z. B. Mangel an Zuneigung, Zärtlichkeit, Ermutigung) gibt es nicht. Auch die Arbeitsgruppe des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens (KFN) (7 Kap. III/6) berichtet ähnliche Zahlen, wenn die Kinder selbst befragt werden. Schüler der 9. und 10. Klasse gaben an, ob und wie sehr sie von ihren Eltern körperlich gezüchtigt bis hin zu körperlich misshandelt wurden (Pfeiffer et al. 1999). Hierbei gaben 10% an im Kindesalter körperlich misshandelt und weitere 17% schwer gezüchtigt zu werden. Dies beinhaltet nicht den Klaps auf den Po oder die Ohrfeige, sondern verprügeln oder mit Gegenständen schlagen. Darüber hinaus zeigen die KFN-Daten, dass es Gruppen von Kindern gibt, die noch mehr Misshandlung ertragen müssen, nämlich bis zu 35% der türkischstämmigen Ausländer. Die ethnische Herkunft spielt also auch eine Rolle. Migration und Adaptation müssen daher im Rahmen von Elterntrainings besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Wenn man schaut, wie häufig Eltern leichtere körperliche Gewalt bei 3- bis 6-jährigen Kindern anwenden (z. B. als »Klaps« auf den Po oder die Hand, festes Zerren am Arm eines Kindes etc.), dann geben ca. 75% der Mütter (60% der Väter) im nichtanonymisierten Selbstbericht an, diese Strategie zu nutzen (Hahlweg et al. 2008). Interessanterweise findet sich hier kein Unterschied hinsichtlich des sozialen Status. Mütter aus sozial begünstigten Verhältnissen geben einen mindestens einmaligen Einsatz ähnlich häufig an wie Mütter aus sozial benachteiligten Verhältnissen. Die soziale Schicht hat allerdings einen deutlichen Einfluss darauf, wie häufig körperliche Gewalt angewendet wird: 29% der sozial benachteiligten Mütter gaben an oft bzw. sehr oft körperlich zu strafen, im Gegensatz zu 2% von Müttern aus sozial be-
17
260
Kapitel 17 · Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz
günstigten Verhältnissen. Diese Daten aus Deutschland sind gut zu vergleichen mit einer Studie aus der Forschungsgruppe um O’Leary, die in ihrer Befragung von Eltern 3- bis 6-jähriger Kinder fast genau dieselben Zahlen für die Anwendung von körperlicher Züchtigung als Erziehungsstrategie in den USA fand (74% der Eltern geben an, ihre Kinder körperlich zu züchtigen; Smith Slep u. O’Leary 2005). > Fazit Wenn man bedenkt, dass einige Kinder leider sowohl sexuell als auch körperlich missbraucht werden (und man daher diese Zahlen nicht einfach so addieren kann), darf man wohl davon ausgehen, dass mindestens 20% der Kinder von ihren Eltern misshandelt und damit eindeutig nicht angemessen oder entwicklungsfördernd erzogen werden. Im Gegensatz zu strafbaren gewalttätigen Ausbrüchen in anderen sozialen Situationen sind es im Umgang mit Kindern häufiger weibliche Verwandte (vermutlich die Mütter), die das Kind misshandeln. Körperliche Bestrafung in einer erweiterten Definition (Klaps auf den Po, mit der Hand auf die Hand des Kindes schlagen) kommt vor allem bei Kindern im Vorschulalter häufig vor. Etwa 75% der Eltern berichten, diese Maßnahmen einmal- oder häufiger angewendet zu haben.
17.1.2 Risiko- und Schutzfaktoren einer gesunden
psychischen Entwicklung von Kindern Im ersten Abschnitt wurde bereits verdeutlicht, dass Erziehung sowohl ein Risiko- als auch ein Schutzfaktor sein kann. In diesem Kapitel soll nur eine kurze Zusammenfassung von Risiko- und Schutzfaktoren benannt werden (7 Kap. III/2). Es gibt biologische Ursachen für z. B. das Entstehen von aggressivem Verhalten oder von hyperkinetischen Problemen, die mit dem Verhalten der Eltern während der Schwangerschaft zusammenhängen können. Wenn die Mutter z. B. während der Schwangerschaft raucht oder Alkohol trinkt, ist das ein Risikofaktor für die Entwicklung des Kindes (pränatale Risiken). Dann gibt es Faktoren, die im Kind begründet liegen, wie z. B. genetische Faktoren oder das Geschlecht des Kindes. Es gibt auch Kleinkinder mit schwierigem Temperament, d. h. Kinder, die impulsiv
sind, schlecht schlafen oder exzessiv schreien. Diese Unterschiede sind teilweise bereits vom ersten Tag der Geburt an da, ohne dass Eltern bewusst Einfluss im Sinn von Erziehung genommen haben. Etwa 10–15% der Säuglinge schreien exzessiv – d. h. täglich mehrere Stunden über mindestens drei Wochen, ohne dass sie sich beruhigen lassen. Diese Schrei-Babys sind für Eltern eine besondere körperliche (mangelnde Ruhe), aber vor allem emotionale Belastung, da sie immer wieder die Erfahrung machen, dass sie ihr Kind nicht beruhigen können (7 Kap. III/19). Solche Interaktionen, obwohl von allen unverschuldet, haben erhebliche Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung und erfordern seitens der Eltern eine besondere Kraftanstrengung. Je nachdem, wie gut ihnen das Aufbringen der notwendigen Energie und Akzeptanz gelingt, gestaltet sich dann auch unter Umständen die spätere emotionale Beziehung zu dem Kind. Diese Eltern-Kind-Beziehung ist ein übergeordneter Begriff für einen Bereich von Risikofaktoren, zu dem z. B. auch Erziehungsprozesse oder Bindungsaspekte zählen. Ein weiterer relevanter Bereich liegt in den persönlichen Erfahrungen der Eltern begründet: Ihre eigenen Familienerlebnisse – möglicherweise Gewalterfahrungen in ihrer Ursprungsfamilie, chronische Beziehungskonflikte der Eltern oder Scheidung der Eltern spielen eine bedeutsame Rolle. Die Scheidungsrate beträgt im Augenblick ca. 35%, in Großstädten liegt sie sogar bei ca. 50%. Jungen aus geschiedenen Familien haben ein 4-fach höheres Risiko, später in der eigenen Beziehung zu scheitern als Jungen, die aus nicht geschiedenen Familien kommen (Diekmann u. Engelhardt 1995). Bei Mädchen ist die Rate etwas geringer. Scheidung wird somit auch »sozial vererbt« (Amato 1996). Auch psychische Auffälligkeiten der Eltern haben einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes. So ist z. B. eine depressive Erkrankung der Mutter ein ganz bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (Hammen u. Brennan 2001) ebenso wie aggressives Verhalten der Eltern (Hops et al. 2003; Kaczynski et al. 2006; 7 Kap. III/46). Schließlich gibt es noch sozioökonomische Risikofaktoren. Darunter fallen Armut, ungünstige Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, schlechte Schulen, schlechte Wohnumgebung oder Migration.
Faktoren, die die Entwicklung eines Kindes in der Familie beeinflussen
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1. Biologische / organische Faktoren 4 Prä- und perinatale Risiken (Geburtskomplikationen, niedriges Geburtsgewicht) 4 Alkohol, Drogen, Nikotin während Schwangerschaft 4 Genetik/Temperament 4 Geschlecht 6
4 Lernbehinderungen/Wahrnehmungsstörungen 4 Unzureichende Impulskontrolle, Emotionsregulation 2. Eltern-Kind-Beziehungsfaktoren 4 Mangel an liebevoller Zuwendung und Bindung 4 Inkonsistentes Erziehungsverhalten 4 Harte Bestrafungen (z. B. körperliche Gewalt)
261 17.2 · Praktische Voraussetzungen und Diagnostik
3. Individuelle/partnerschaftliche Faktoren 4 Depression der Mutter 4 Konflikte zwischen den Eltern 4 Kriminalität der Eltern 4 Hoher familiärer Stress
Insbesondere individuelle und partnerschaftliche Faktoren der Eltern sowie Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung sind einer Veränderung zugänglich. Somit bieten Elterntrainings einen Königsweg zur Prävention und Intervention psychischer Störungen bei Kindern.
4. Soziale Faktoren 4 Mangel an sozialer, finanzieller Unterstützung 4 Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse 4 Niedriger sozioökonomischer Status 4 Migration
vor allem das »Incredible Years Program« von WebsterStratton (2006) und das Training von McMahon u. Forehand (2003) eine Rolle. Da sie aber in deutscher Sprache nicht vorliegen, werden sie hier nicht weiter diskutiert.
Typische Inhalte kognitiv-behavioraler Elterntrainings (. Tab. 17.1)
17.1.3 Vorliegende nationale und internationale
Elterntrainingsprogramme Es existiert gegenwärtig in Deutschland eine Reihe von Elternkursen, die allerdings in den wenigsten Fällen für die Behandlung von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen entwickelt wurden. Bei manchen ist auch nachgewiesen, dass sie dafür explizit nicht geeignet sind (z. B. das Gordon-Elterntraining, 7 Abschn. 17.5.1). In . Tab. 17.1 sind einige prominente Vertreter aufgeführt, ihre theoretische Ausrichtung, ihre Inhalte und Dauer sowie ihre potenzielle Eignung zum Umgang mit psychisch kranken Kindern. Wir werden uns im Folgenden auf das Elterntraining Triple P (Sanders 1999) konzentrieren. Es steht hier als Vertreter verhaltenstherapeutisch orientierter Elterntrainings (z. B. THOP; Döpfner et al. 2002) oder Selbsthilfebücher wie Wackelpeter & Trotzkopf (Döpfner et al. 2000). Das THOP beinhaltet familien- und kindzentrierte Interventionen, wobei die Arbeit mit Eltern im Vordergrund steht. In den USA spielen neben Triple P darüber hinaus
4 Aufbau einer positiven Eltern-Kind-Beziehung durch vermehrte positive Interaktionen zwischen Eltern und Kind 4 Förderung angemessenen Verhaltens des Kindes und der Eltern 4 Erlernen neuer Fertigkeiten und Verhaltensweisen des Kindes und der Eltern 4 Umgang mit unangemessenem Verhalten des Kindes und der Eltern
17.2
Praktische Voraussetzungen und Diagnostik
17.2.1 Diagnostische Überlegungen
Um Elterntrainings angemessen durchzuführen, braucht es ein gewisses Ausmaß an Diagnostik, die in Abhängigkeit vom Umfang der Probleme, die Eltern und Kinder in ihrer
. Tab. 17.1. Prominente Elterntrainings zur Förderung der Erziehungskompetenz Name des Programms
Autor(en)
Inhalte
Theoretische Ausrichtung
Dauer und Setting
Eignung für Eltern von Kindern mit ICD10-Diagnosen*
Triple P
Sanders
Stärkung der Eltern-Kind-Beziehung Erhöhung positiver Erziehungsstrategen (z. B. loben, Zuneigung zeigen) Verminderung negativer Erziehungsstrategien (z. B. hauen, anschreien, das Kind entwerten) durch Familienregeln, logische Konsequenzen, Auszeit
Verhaltenstherapeutisch
In Abhängigkeit von der jeweiligen Ebene (1–5) von wenigen Minuten bis zu 12+ Stunden Einzeln Gruppe Selbsthilfe
Ja
THOP
Döpfner
Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung und Reduktion oppositionell-aggressiver Verhaltensweisen durch 4 Spaß und Spielzeit (positive Aufmerksamkeit) 4 Familienregeln, wirkungsvolle Aufforderungen, natürliche Konsequenzen 4 Punktepläne und Auszeit
Verhaltenstherapeutisch
20 Therapiebausteine Einzel: Eltern + Kind
Ja
6
17
262
Kapitel 17 · Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz
. Tab. 17.1 (Fortsetzung) Name des Programms
Autor(en)
Inhalte
Theoretische Ausrichtung
Dauer und Setting
Eignung für Eltern von Kindern mit ICD10-Diagnosen*
KES
Lauth
Vorgespräch: Diagnostik und Indikationsklärung Sitzungen: Veränderungsbewusstsein und Einführung der positiven Spielzeit Familiäre Stresssituationen: Wahrnehmung eigener Gefühle und Änderung dysfunktionaler Abläufe Verstärkung: konsequentes Erziehen und effektive Aufforderungen stellen
Verhaltenstherapeutisch
6 Sitzungen (+ Vorgespräch und Auffrischungssitzung) Gruppe
Ja
The Incredible Years
WebsterStratton
Drei Programme: BASIC ADVANCED ACADEMIC Im BASIC-Programm: Förderung positiver Interaktionen (wie man mit Kindern spielen kann, effektives Loben) Bewältigung negativer Interaktionen durch logische und natürliche Konsequenzen, Auszeit und Punktepläne (angelehnt an »Patterson’s Parent Management Training«; (dt. s. auch Lösel et al. 2006) Im ADVANCED-Programm u. a.: Bewältigung von Depression und Ärger Kommunikationstraining
Verhaltenstherapeutisch
BASIC: 12- bis 14-mal 2 h/Woche Gruppe ADVANCED: 6- bis 10-mal 2 h als Supplement zum BASIC-Programm
Ja
Helping the Noncompliant Child
McMahon u. Forehand
Loben Ignorieren von leichtem Problemverhalten Klare Anweisungen Konsequenter Umgang mit schwerem Problemverhalten durch Grenzen setzen
Verhaltenstherapeutisch
10-mal 90 min Einzel
Ja
STEP
Dinkmeyer
Gleichstellung und -behandlung aller Familienmitglieder: Wahlmöglichkeiten geben, Kind bei Entscheidungsfindung einbeziehen Konfliktlösung (Familienkonferenzen halten) Stärkung des kindlichen Selbstvertrauens (Kind ermutigen und loben) Verbesserung der Kommunikation (aktives Zuhören, Ich-Botschaften) Verbesserung von Problemverhalten (z. B. durch konsequentes Verhalten, logische Konsequenzen, Grenzen setzen)
Individualpsychologisch (Adler u. Dreikurs)
10-mal 2 h/Woche Gruppe
Nein
GordonElterntraining
Gordon
Kommunikation verändern durch vermehrtes aktives Zuhören und Ich-Botschaften Die niederlagelose Methode (6 Schritte zur Erarbeitung einer gemeinsamen Lösung bei ElternKind-Bedürfnis-Konflikten)
Klientenzentriert Gesprächspsychotherapeutisch
30 h (z. B. in 3 Wochenenden je 10 h oder 10 Abende je 3 h) Gruppe
Nein
Starke Eltern – Starke Kinder
HonkanenSchoberth
Reflexion der Werte in der Familie Kindern Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht geben »anleitender Erziehungsstil« (weder antiautoritär noch autoritär)
Eklektisch
12-mal 2–3 h (Kursabende mit 12–15 Teilnehmer) Gruppe
Nein
17 * empirisch nachgewiesen
263 17.2 · Praktische Voraussetzungen und Diagnostik
Familie wahrnehmen, festgelegt werden sollte. Wenn Elterntrainings im Rahmen von Kinderpsychotherapien durchgeführt werden (z. B. als begleitende Maßnahme), dann sollte zusätzlich zu den gängigen Verfahren unbedingt das Erziehungsverhalten der Eltern mit erfasst werden. Dafür eignen sich die im Kasten aufgeführten Instrumente. Besonders günstig kann auch eine Verhaltens-
beobachtung unter standardisierten Bedingungen sein, die über verschiedene Situationen (z.B. gemeinsam spielen, aufräumen) jeweils ca. 5 Minuten durchgeführt wird. Spezifische Problemsituationen sollten dabei zusätzlich betrachtet werden (z. B. Verhaltensbeobachtung einer typischen Mittagssituation bei einem Kind, das das Essen verweigert).
Selbstberichtsinstrumente zur Erfassung von elterlichem Erziehungsverhalten1 (s. auch Petermann u. Petermann 2006) Dysfunktionales Erziehungsverhalten Funktionales und dysfunktionales Erziehungsverhalten Parenting Scale (PS; Arnold et al. 1993 – ErziehungsfraHamburger Erziehungsverhaltensliste für Mütter gebogen, EFB; dt. Miller 2001). In 35 Items wird elterliches Erziehungsverhalten bei problematischem Kindverhalten zweipolig (effektiv vs. ineffektiv) beschrieben. Das eigene Verhalten soll bezüglich der letzten 2 Monate auf einer 7-stufigen Antwortskala zwischen den beiden Verhaltensweisen eingestuft werden. Die Antworten lassen sich zu den 3 Skalen »Überreagieren« (12 Items; α=0,81), »Nachsichtigkeit« (11 Items; α=0,71) und »Weitschweifigkeit« (6 Items; α= 0,64) und zu einem Gesamtwert (α=0,81) zusammenfassen.
Funktionales Erziehungsverhalten Fragebogen zum positiven Erziehungsverhalten (FZEV; angelehnt an Strayhorn u. Weidman 1988). Erfasst insbesondere positives, verstärkendes und förderndes Erziehungsverhalten in 13 Items und soll von den Eltern hinsichtlich seines Vorkommens in den letzten 2 Monaten beurteilt werden (0 = »nie« bis 3 = »sehr oft«). Die Antworten werden zu einem Gesamtwert (α=0,85) zusammengefasst.
Wenn der Elternkurs unabhängig von einer anderen Maßnahme durchgeführt wird, bietet es sich an, in einem Screening das psychische Erleben der Kinder aus Sicht der Eltern (und ab einem entsprechendem Alter auch im Selbstbericht) zu erfassen, z. B. mit dem Fragebogen für Stärken und Schwächen eines Kindes (SDQ; Goodman 1997).
17.2.2 Praktische Voraussetzungen
Zu den praktischen Voraussetzungen gehört vor allem die Möglichkeit zur regelmäßigen Teilnahme. Diese hängt allerdings von dem Setting ab, in dem das Elterntraining durchgeführt wird (z. B., ob das Training im Einzel- oder Gruppensetting stattfindet oder im Rahmen einer Kinderpsychotherapie als Zusatzelement oder als störungsunab-
(HAMEL; Baumgärtel 1979). Erfasst mit 24 Items das konkrete Erziehungsverhalten in den letzten 4 Wochen. Die Items werden zu 3 Skalen (»Strenge«, »Unterstützung« und »Zuwendung« (α=0,85) zusammengefasst.
Elterliche Kompetenzüberzeugung Parenting Sense of Competence Scale (PSOC; Johnston u. Mash 1989). Erfasst die allgemeine Selbstwirksamkeitsüberzeugung der Eltern mit 15 Items. Aussagen und Meinungen über Gefühle und Gedanken als Eltern. Die Zustimmung dazu soll von den Eltern angegeben werden (0 = »trifft nicht zu« bis 3 = »trifft zu«). Die Angaben werden zu einem Gesamtwert zusammengefasst.
Erziehungskonflikte Parent Problem Checklist (PPC; Dadds u. Powell 1991 – Erziehungskonfliktskala, EKS; Köppe 2001). Erfasst 16 Items: Beschreibung von Themen, Bereichen und Verhaltensweisen der Partner bezüglich des Themas Erziehung, die dahingehend beurteilt werden sollen, inwieweit sie für das Paar ein Problem darstellen (1 = »trifft nicht zu« bis 4 = »trifft zu«). Die Angaben werden zu einem Gesamtwert (α=0,84) zusammengefasst.
hängiger Elternkurs im Sinn der universellen Prävention). Die regelmäßige Teilnahme von Eltern ist eine besondere Hürde, die in 7 Abschn. 17.5 noch einmal ausführlicher diskutiert wird. Wichtig ist allerdings die Unterscheidung, ob es sich eher um Beratung oder eher um Therapie handelt (Indikationsfrage). Während die grundsätzlichen Prinzipien einer effektiven Elternberatung sich nicht unterscheiden (7 Box), ist die Abgrenzung zwischen Beratung und Psychotherapie nicht nur theoretisch notwendig, sondern hat auch berufsethische und rechtliche Konsequenzen. 1
Hier werden nur Selbstberichtsverfahren der Eltern berücksichtigt. Die Wahrnehmung der Erziehungsmaßnahmen durch die Kinder kann aber eine ebenso wichtige Variable sein (Krohns u. Schneewind 1979; Krohne u. Pulsack 1990; Reitzle et al. 2001).
17
264
Kapitel 17 · Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz
Prinzipien effektiver Elternberatung Die Beratung sollte 4 die Familien stärken, 4 auf vorhandene Stärken/Ressourcen der Familien aufbauen, 4 für Eltern leicht zugänglich sein, 4 auf den Entwicklungsstand der Kinder abgestimmt sein, 4 die Bedeutung der therapeutischen Beziehung berücksichtigen, 4 wissenschaftlich fundiert sein, 4 kulturspezifische Besonderheiten berücksichtigen.
! Die Ziele einer Beratung sollten relevante Risikofaktoren berücksichtigen.
Was spricht für Beratung?
4 Eltern möchten Informationen zu spezifischen Verhaltens- und/oder Entwicklungsproblemen ihres Kindes, 4 das Problemverhalten ist relativ umgrenzt, 4 es handelt sich um ein geringfügiges bis mittelschweres Problemverhalten, 4 das Problem besteht erst seit kurzem (Beginn innerhalb der letzten 6 Monate), 4 die Familiensituation ist relativ stabil (z. B. kein akuter Trennungs- oder Scheidungsprozess). Was spricht eher für eine Psychotherapie?
4 Eltern leiden unter schwerwiegenden psychischen Störungen wie z. B. Depressionen, 4 das Kind erfüllt die klinischen Kriterien für die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung (z. B. Autismus) oder einer schweren Verhaltensstörung (z. B. Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten), 4 das Problemverhalten ist nicht umgrenzt bzw. tritt in vielen Bereichen auf, 4 das Problemverhalten besteht schon länger (Beginn vor mehr als 6 Monaten), 4 die Familiensituation ist instabil.
17
Wenn Eltern Unterstützung wünschen, was brauchen sie dann? Dies ist eine Frage, die im übergreifenden Kontext von Elterntrainings von großem Interesse ist – unabhängig davon, ob sie Eltern psychisch gestörter Kinder sind oder nicht. Im Kasten sind einige Aspekte aufgeführt, die bei einem solchen übergreifenden Elternunterstützungssystem relevant sind.
! Was brauchen Eltern? 4 Unterschiedlich intensive Interventionsebenen verfügbar zur flexiblen Unterstützung von Eltern/Familien, 4 Unterstützung bei der Früherkennung/Identifizierung von familiären Risiko- und Schutzfaktoren, 4 Wissen über Ursachen für kindliches Problemverhalten, 4 Wissen über Grundprinzipien positiver Erziehung und effektiver Verhaltensänderung, 4 positive Erziehungsstrategien zur Förderung der Entwicklung, der sozialen Kompetenz und der Selbstkontrolle von Kindern, 4 effektive Elternberatung (Training von Fertigkeiten), 4 Indikationsstellung (Notwendigkeit einer intensiveren Intervention? Grenzen Prävention, Beratung, Intervention?).
Neben der Indikationsfrage werden in der Literatur noch weitere Voraussetzungen für eine Intervention mit Eltern diskutiert oder auch impliziert: zum einen die grundsätzliche Motivation von Eltern, über Erziehung zu reflektieren und zum anderen die Bevorzugung von Elterngruppen gegenüber Einzelsitzungen. Keine dieser beiden Voraussetzungen erscheint uns streng genommen eine unabdingbare Voraussetzung zu sein. Es wurde mehrfach gezeigt, dass z. B. Eltern, die nicht freiwillig (sondern z. B. gerichtlich angeordnet) an einem Elterntraining teilnehmen, sehr wohl regelmäßig kommen und auch ein positives Ergebnis erzielen können (Sanders et al. im Druck). Oder auch, dass Eltern eine größere Zufriedenheit berichten und auch ein teilweise besseres Ergebnis erzielen können, wenn sie an einem Einzeltraining im Vergleich zu einem Gruppentraining teilnehmen (Heinrichs et al. 2006; Lundahl et al. 2006b).
17.3
Darstellung von Elterntrainings: Durchführung und Inhalte
17.3.1 Triple P als Beispiel für ein typisches
kognitiv-verhaltenstherapeutisches Elterntraining Inhalte und Aufbau Triple P steht für »Positive Parenting Program« und repräsentiert zum einen ein Elterntraining, zum anderen steht der Begriff gleichzeitig für ein gesamtes System an familiärer Unterstützung. Triple P als System umfasst fünf Ebenen der Intervention, auf denen Eltern sich Unterstützung suchen können. Die Ebenen variieren in ihrer Intensität der Unterstützung, denn eine der Grundannahmen von Triple P ist, dass nicht jede Familie dasselbe Ausmaß an Unterstützungund Beratungsbedarf hat. Daher wird es im englischspra-
265 17.3 · Darstellung von Elterntrainings: Durchführung und Inhalte
. Abb. 17.1. Die fünf Interventionsebenen von Triple P
chigen Raum auch als »multi-level-system« bezeichnet. . Abb. 17.1 illustriert diese Vielschichtigkeit von Triple P. Eltern entscheiden im Triple-P-Modell selber, wann sie sich Unterstützung in der Erziehung in welchem Ausmaß (Ebene 1–5) wünschen (Selbstregulationsprinzip). Sie ordnen sich selbst ein und sie entscheiden, wann sie ausreichend Information oder Beratung erhalten haben. Ein Wechsel von einer Ebene auf eine andere ist in diesem System reibungslos möglich, was die praktische Anwendung in der Elternberatung erheblich erleichtert. Auf allen Ebenen wird auf dieselben Grundprinzipien von Triple P rekurriert. Die Ebene 1 besteht vornehmlich aus Informationskampagnen, in denen möglichst vielen Eltern der Zugang zu gezielten Informationen zu thematisch übergreifenden (z. B. »Wie fördere ich das Selbstwertgefühl meines Kindes?«) und auch spezifischen Inhalten (z. B. »Ängste bei Kindern«) ermöglicht werden soll. Es findet auf dieser Ebene im Unterschied zu den Ebenen 2 und 3 kein direkter Kontakt mit einem Berater oder Therapeuten statt. Auf der
2. und 3. Ebene werden die Erziehungsstrategien besprochen, die benötigt werden, um ein spezifisches Erziehungsproblem zu bewältigen (z. B. das altersunangemessene Daumenlutschen des Kindes). Auf Ebene 4 erlernen die Eltern hingegen durch intensives Training verschiedene hilfreiche Vorgehensweisen. Die Eltern setzen sich mit den möglichen Ursachen schwierigen Verhaltens auseinander, lernen, ihre Kinder genau zu beobachten und setzen sich konkrete Ziele. Schließlich lernen und trainieren sie eine breite Palette an Erziehungsfertigkeiten und üben schließlich, diese Fertigkeiten auf unterschiedlichste Situationen und Verhaltensweisen anzuwenden. Ebene 5 ist schließlich mit einer verhaltenstherapeutischen Familientherapie vergleichbar, wo das Elterntraining mit dem Ziel der Steigerung der Erziehungskompetenzen nur ein Baustein ist und je nach Problemlage der Familie weitere Interventionen hinzukommen (z. B. eine paartherapeutische Intervention für die Eltern oder eine Intervention zur Reduktion depressiver Beschwerden bei der Mutter etc.; 7 Box).
Fertigkeiten, die Eltern im Rahmen des Triple-P-Programms vermittelt werden 4 Positive Beziehung aufbauen – Wertvolle Zeit mit Kindern verbringen (Merkmale: häufige und kurze Kontakte, möglichst durch das Kind initiiert) – Zuneigung zeigen (positive, körperliche Kontakte wie z. B. berühren, umarmen, kuscheln, küssen, massieren oder kitzeln – Merkmale: häufig, variationsreich, auf die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes achten bei Maßgabe von Quantität und Typ der Zärtlichkeit) – Mit dem Kind reden (Regelmäßige kurze Gespräche mit Kindern führen, in denen es um Themen geht, die die Kinder interessieren) 6
4 Wünschenswertes Verhalten fördern – Loben (beschreibend loben – Merkmale: Echtheit, Konkretheit) – Aufmerksamkeit schenken (Zwinkern, Nicken, Schulterklopfen oder »Daumen hoch«-Gesten) 4 Neues Verhalten vermitteln – Lernen am Modell (Gelegenheiten schaffen, in denen die Kinder erwünschtes Verhalten lernen können, indem sie ihre Eltern beobachten) – Beiläufiges Lernen nutzen (Interaktionen, die vom Kind initiiert werden, als Möglichkeit nutzen, um ihm etwas Neues beizubringen – Merkmale: Eltern sollen Kinder unterstützen bei der Lösungsfindung und nicht die Lösung vorgeben)
17
266
Kapitel 17 · Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz
– Fragen-Sagen-Tun (Erlernen komplexer Handlungsabläufe wie z. B. sich anziehen oder Zähne putzen, lange, schwierige Aufgaben in einzelne, kleine Schritte aufteilen, durch verbale Anregungen, kleine Gesten oder Hilfestellungen Schritt für Schritt das Kind beim Lernen unterstützen) – Punktekarten (Belohnungsprinzip, bei dem das Kind bei erwünschtem Verhalten oder der Abwesenheit von Problemverhalten eine besondere Aufmerksamkeit erhält – Merkmale: kurzfristig, gemeinsame Familienaktivitäten als Belohnungen, konkret und mit dem Kind besprochen vor dem Einsatz) 4 Umgang mit Problemverhalten – Familienregeln aufstellen (bereits im Voraus faire, klare und leicht zu befolgende Regeln aufstellen)
Um die aufgeführten Strategien zu vermitteln, bedient sich das Triple-P-Elterntraining verschiedener didaktischer Methoden. So gibt es eine kurze Broschüre zur positiven Erziehung, Arbeitsbücher für Eltern für die verschiedenen Ebenen, »kleine Helfer« für ca. 60 Probleme, die bei Kindern und Jugendlichen auftreten können und Videobänder mit Demonstrationen der verschiedenen Erziehungskompetenzen (7 Übersicht).
Didaktische Methoden im Elterntraining Triple P 4 Einsatz von Medien wie Präsentationsfolien, TV/Video zur Vermittlung von Informationen 4 Rollenspiele zur Einübung von Fertigkeiten 4 »Prompting« (7 unten) 4 Arbeitsbücher für Eltern 4 Hausaufgaben zur Integration in den Alltag und Generalisierung
17
Das Triple-P-System hat zwei weitere Merkmale, die es besonders auszeichnen: zum einen die verschiedenen Zugangswege zu Informationen über Erziehung, und zum anderen die Berücksichtigung der kindlichen kognitiven und emotionalen Entwicklung, die zu verschiedenen Alterstufen natürlich unterschiedlich sind. Es erscheint nicht angemessen, Eltern von Kleinkindern und von Jugendlichen in einer Gruppe zusammen zu fassen, dazu sind die Bedürfnisse, Probleme und Erfahrungen der Eltern zu unterschiedlich. Diese beiden Merkmale sind in . Abb. 17.2 dargestellt. Zur Intervention bei kindlichen psychischen Störungen bietet sich vor allem der Einsatz der Ebenen 4 und 5 an, wohingegen die Ebenen 1–3 besonders für die universelle Prävention geeignet sind. Da alle Ebenen auf die gleichen theoretischen Grundlagen rekurrieren, können auf höheren Ebenen (z. B. 4 und 5) Materialien, die für tiefer liegende
– Absichtliches Ignorieren (bewusstes Nichtbeachten, solange nur geringfügiges Problemverhalten auftritt) – Klare, ruhige Anweisungen (klare und direkte Anweisungen, um mit einer neuen Tätigkeit zu beginnen, oder ein Problemverhalten zu unterbrechen und angemessenes Verhalten zu zeigen) – Logische Konsequenzen (Konsequenz, die der Situation angemessen ist, z. B. Entfernen des Spielzeugs, Unterbrechen der Beschäftigung für eine kurze Zeit) – Auszeit (Kind für eine kurze Zeit in einen anderen Raum bringen) – Problemlösen – Absprachen, Kompromisse
Ebenen (z. B. 1–3) entworfen wurden, ebenfalls sehr gut genutzt werden (z. B. die »kleinen Helfer« oder bestimmte Videosequenzen). Im Folgenden werden wir Ebene 4 aus dem Triple-P-System etwas genauer beschreiben. Darstellung eines Elterntrainings von der ersten bis zur letzten Sitzung: Standard Triple P, Ebene 4, Einzeltraining
Das Standard-Triple-P besteht im Einzelsetting aus 10 Sitzungen, die jeweils zwischen 40–60 min dauern. Die Inhalte der 10 Sitzungen sind in . Tab. 17.2 dargestellt (s. auch Markie-Dadds et al. 2003 zu erhalten bei www.triplep.de; Sanders et al. 2001). In den ersten beiden Sitzungen geht es vor allem um eine Erfassung und Einschätzung des bestehenden Problems. Es sind somit genuine diagnostische Sitzungen, die der Intervention voran gestellt sind. Sie sind vor allem für die Therapieplanung und die Erfassung des Erfolgs des Elterntrainings von großer Bedeutung. Die 3. und 4. Sitzung befasst sich mit der Vermittlung der Palette von Erziehungsfertigkeiten, wie sie oben dargestellt wurden, wobei die 3. Sitzung sich auf die Vermittlung von Strategien konzentriert, die das Kind in seiner Entwicklung fördern und Sitzung 4 verstärkt den Umgang mit problematischen Verhaltensweisen thematisiert. In den drei darauf folgenden Sitzungen wird das Kind aktiv mit einbezogen und die Anwendung bestimmter Strategien wird geübt. Der Therapeut steht als Coach zur Verfügung. In der 8. und 9. Sitzung findet dann eine Einführung in das Aktivitätenmanagement statt, das in der 10. Sitzung gefestigt/überprüft wird. Die 10. Sitzung beendet das Training. Begleitend zu dem Training lesen die Eltern pro Sitzung ein Kapitel aus dem Arbeitsbuch für Eltern (Markie-Dadds et al. 2003), das in der jeweiligen Sitzung bereits gemeinsam begonnen wird. Dort können sich Eltern Notizen machen, Ideen für die Umsetzung bestimmter Strategien sammeln
267 17.3 · Darstellung von Elterntrainings: Durchführung und Inhalte
. Abb. 17.2. Triple-P-Ansatz zu einem umfassenden Unterstützungssystem für Eltern
. Tab. 17.2. Überblick über die Inhalte des Triple-P-Einzeltrainings (Standard Triple P, Ebene 4). Sitzung
Inhalt
Setting
1
Eingangsinterview
Exploration von Typ und Entstehungsgeschichte des Vorstellungsgrunds (Um welches Verhalten handelt es sich? In welcher Intensität und Häufigkeit tritt es auf? In welchem Kontext tritt es auf? Was geschieht vorher? Welche Konsequenzen tragen zum Fortbestehen des Problems bei?) Komorbide Probleme Entwicklungsgeschichte des Kindes und gegenwärtige soziale und familiäre Situation Elterliche Wahrnehmung des Problems Kindliches Verhalten beobachten (Illustration unterschiedlicher Verhaltensbeobachtungsprotokolle)
In der Praxis: Eltern
2
Verhaltensbeobachtung und Besprechen der diagnostischen Ergebnisse
Trainer führt eine Eltern-Kind-Verhaltensbeobachtung durch Diagnostische Ergebnisse mit den Eltern besprechen Ursachen für kindliche Verhaltensprobleme diskutieren Ziele für Veränderungen im eigenen Verhalten und dem des Kindes setzen
In der Praxis: Eltern Kind (außer bei der Verhaltensbeobachtung nicht anwesend)
3
Förderung der kindlichen Entwicklung
Prinzipien positiver Erziehung Eine positive Beziehung zu seinem Kind aufbauen Wünschenswertes Verhalten ermutigen Vermitteln neuer Verhaltensweisen
In der Praxis: Eltern
4
Umgang mit problematischem Verhalten
Strategien zum Umgang mit Problemverhalten Möglichkeiten, Kindern zu helfen, Selbstkontrolle zu erlernen Entwicklung von Erziehungsroutinen zur Vermeidung von Eskalationsfallen (einen Plan entwickeln, wie genau vorgegangen wird in einer bestimmten Situation, in der das Problemverhalten möglicherweise auftritt) Verknüpfung von Strategien zur Förderung angemessenen Verhaltens und zum Umgang mit Problemverhalten Ziele für die Übungssitzungen
In der Praxis: Eltern
6
17
268
Kapitel 17 · Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz
. Tab. 17.2 (Fortsetzung) Sitzung
Inhalt
Setting
5
Übungssitzung 1
Praktische Übung – individuell auf die Familie zugeschnitten (15–20 min) Besprechen der Erziehungsfertigkeiten, die gut klappen oder die noch schwierig sind Ziele für die kommende Woche setzen
Bei der Familie zu Hause (oder in Praxis): Eltern Kind (aktiv in die Sitzung eingebunden)
6
Übungssitzung 2
Praktische Übung – individuell auf die Familie zugeschnitten Besprechen der Erziehungsfertigkeiten, die gut klappen oder die noch schwierig sind Ziele für die kommende Woche setzen
Bei der Familie zu Hause (oder in Praxis): Eltern Kind (aktiv)
7
Übungssitzung 3
Praktische Übung – individuell auf die Familie zugeschnitten (15–20 min) Besprechen der Erziehungsfertigkeiten, die gut klappen oder die noch schwierig sind Ziele für die kommende Woche setzen
Bei der Familie zu Hause (oder in Praxis): Eltern Kind (aktiv)
8
Aktivitätenpläne
Situationen identifizieren, in denen es besonders schwierig für Eltern ist, angemessen auf das Verhalten des Kindes zu reagieren (»Risikosituationen«) Entwicklung eines eigenen Aktivitätenplans zugeschnitten auf eine der individuellen familiären Risikosituationen Veränderungen im Verhalten der Eltern und des Kindes Revue passieren lassen
In der Praxis: Eltern
9
Der Einsatz von Aktivitätenplänen
Ausprobieren eines Aktivitätenplans in der Sitzung unter Berücksichtigung der Erziehungsstrategien zur Förderung der unabhängigen Beschäftigung des Kindes Aufstellen von weiteren Aktivitätenplänen für andere Risikosituationen
In der Praxis: Eltern Kind (aktiv)
Abschlusssitzung
»Überlebenstipps für Familien« kennenlernen Veränderungen wahrnehmen Aufrechterhaltung von Veränderungen besprechen Training beenden
In der Praxis: Eltern
10
und auch Fragen notieren, die zu Hause beim Üben auftauchen können. Wenn die Hausaufgaben in den Sitzungen besprochen werden oder es Ziel ist, Eltern aktiv darin zu unterstützen, bereits besprochene Dinge zu erinnern, ist das »Prompting«, die engmaschige Anleitung des kindlichen Verhaltens durch die Eltern, eine wichtige Methode. Nachfolgend einige Beispiele für Trainerverhalten, das als »prompten« bezeichnet werden kann.
Beispiel »Prompting«
17
4 Was hat gut geklappt? 4 Was lernt Ihr Kind dabei? 4 Welches Verhalten wünschen Sie sich von Ihrem Kind? 4 Erinnern Sie sich an die zugehörige Szene im Video/den entsprechenden Abschnitt im Arbeitsbuch/der Broschüre? 4 Wie haben Sie die Anweisung genau formuliert? 4 Welche Strategie könnten Sie einsetzen, falls Ihr Kind Ihre Anweisung nicht befolgt? 4 Erinnern Sie sich an die Regeln für die Auszeit? 4 Worauf müssen Sie besonders achten?
Typische Fehler im Rahmen von Elterntrainings Elterntrainings sind sehr wirksam (7 Abschn. 17.5), allerdings treten oft zu Beginn der Arbeit mit Eltern typische Fehler auf, die vermieden werden können. So ist z. B. Eltern nicht immer klar, dass Familienregeln für alle Mitglieder der Familie (und nicht nur für das betroffene Kind) gelten. Bei der Besprechung der Familienregeln muss daher darauf geachtet werden, ob diese auch von Eltern einhaltbar sind. Ein anderer typischer Fehler kann im Rahmen des Einsatzes von logischen Konsequenzen auftreten. Eltern wenden diese oft in einem unverhältnismäßigen Maß an, gerade dann, wenn es familiäre Interaktionsstörungen gibt, ohne dass ihnen dies bewusst ist (7 Fallbeispiel).
Fallbeispiel Eine Mutter berichtet in Sitzung 2, dass sie keine Probleme mit dem Sohn gehabt hätte in der letzten Woche, da sie ganz konsequent gewesen sei. Ihr Sohn (9 Jahre) sollte abends um 18 Uhr zu Hause sein (Vereinbarung), er sei dann aber erst um 18.10 Uhr erschienen. Darauf hin habe sie ihn, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen in sein Zimmer geschickt und ihm eine Woche Stubenarrest gegeben. 6
269 17.4 · Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen von Elterntrainings
Auf die Frage, wie sie das Verhältnis von Problemverhalten (Vereinbarung gebrochen durch 10-minütige Verspätung) und Angemessenheit der Konsequenz sehe, sagt sie: »Ich finde das eine ganz logische und angemessene Konsequenz, er sollte um 18 Uhr zu Hause sein und war es nicht. Ich habe mir totale Sorgen gemacht, schließlich war es schon dunkel und dann kommt er einfach um 18.10 Uhr hereinspaziert, so mir nichts dir nichts, als ob nichts wäre.«
Trainer müssen unbedingt genau und konkret explorieren, wie und wann Konsequenzen aus welchen Gründen angewendet werden und was Eltern unter »angemessen« und »logisch« verstehen. Die bisherige Anwendung von Konsequenzen gibt viele Informationen über die Stärken und Schwächen im Erziehungsrepertoire einer Familie (im Beispiel ist es eine Ressource der Mutter, dass sie konsequent sein kann und eine Schwäche, dass sie nicht in der Lage ist, dem Kind ihre Sorgen mitzuteilen und dem Kind nicht die Möglichkeit gibt, seine Sicht der Dinge darzulegen). Auch bei anderen Strategien, vor allem bei der Auszeit, bedarf es einer detaillierten und konkreten Absprache mit den Eltern, um sie möglichst wirkungsvoll einzusetzen. Wofür ist die Auszeit eigentlich gut? Wovon nimmt sich wer eine »Aus«-Zeit? Kinder sollen »aus« der Situation herausgenommen werden, die für sie einen verstärkenden Charakter hat. Auch für Eltern ist eine Auszeit hilfreich, da sie – ebenso wie ihr Kind – erst einmal Zeit haben, ihre eigenen Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen. Weitere typische Fehler im Zusammenhang mit der Auszeit sind die Vernachlässigung der strukturellen Gegebenheiten (heller, gut belüfteter Raum als Auszeitraum, vorherige Absprache über Sinn und Zweck der Auszeit mit dem Kind etc.) oder die Festlegung der Dauer der Auszeit durch das Kind. Die Auszeit wird nicht selten von Kindern selbst als sinnvoll erachtet. So beschreibt ein Junge im Grundschulalter auf die Frage eines Moderators einer TVSendung, wie er das findet, was da mit ihm gemacht wird, schmunzelnd: »Ich musste einmal 15 Minuten in die Auszeit, weil ich immer (Anm.: sucht nach dem richtigen Wort) mich widersetzt habe. Und dann, danach ging’s mir wieder besser und ich konnte wieder klar denken und so.«
17.4
Anwendungsbereiche und mögliche Grenzen von Elterntrainings
17.4.1 Anwendungsbereiche von Elterntrainings
Elterntrainings haben ihre primäre Indikation in Bereichen, die sich auf die Erziehungskompetenz von Eltern auswirken. Darunter fallen daher alle Felder, die die Erziehung betreffen. Dementsprechend breit kann die Indikation für
ein Elterntraining sein. Die folgende Liste stellt potenzielle Anwendungsbereiche dar: 4 Gesunde Eltern und gesunde Kinder mit alltäglichen Erziehungsproblemen (Indikation für Ebene 1–3), 4 psychisch gesunde Eltern mit spezifischen Erziehungsproblemen (Indikation für Ebene 2 und 3), 4 gesunde Eltern mit kranken Kindern oder kranke Eltern mit gesunden Kindern, 4 psychische Störungen bei Kindern (insbesondere externalisierende Verhaltensprobleme, ADHS), 4 psychische Störungen bei Eltern (z. B. Depression der Mutter), 4 Eltern von geistig behinderten Kindern, 4 Eltern von körperlich behinderten Kindern, 4 Eltern von chronisch körperlich kranken Kindern, 4 Kinder von chronisch körperlich kranken Eltern, 4 Partnerschaftskonflikte, die sich auf Erziehungskonflikte begrenzen (sonst Indikation für eine Kombinationsbehandlung aus Partnerschafts- und Elterntraining). Elterntrainings können und sollen den alltäglichen Austausch zwischen Erziehungspartnern in kurzen Gesprächen fördern. Inhalte und Vorteile eines solchen Austausches können sein: 4 Kommunikation über Erziehungsthemen, 4 gegenseitige Ermutigung und Unterstützung, 4 gleicher Informationsstand beider Partner, 4 unmittelbares Angehen auftretender Schwierigkeiten, 4 sensiblere Interaktionen innerhalb der Familie, 4 Gefühl von Verantwortung und Involvierung. Es ist hervorzuheben, dass die Anwendung eines Elterntrainings bei externalisierenden Störungen als definitiv indiziert betrachtet werden kann. Der Einsatz von Elterntrainings im Rahmen internalisierender Störungen bei Kindern ist weitaus unklarer und auch die anderen Indikationsbereiche, die oben aufgelistet wurden, sind nur selten ausreichend empirisch untersucht, um sie als empirisch begründete Indikationsbereiche zu betrachten. Hier ist noch mehr Forschung erforderlich. Die Annahmen über den Einfluss und den Wirkmechanismus von Elterntrainings weisen diese Anwendungsbereiche jedoch als potenzielle Indikationen aus.
17.4.2 Grenzen von Elterntrainings
Elterntrainings sind auf mindestens zwei Arten Grenzen gesetzt: Zum einen durch Prozessprobleme (7 Beispiel »Verhaltensweisen, die auf Prozessprobleme hindeuten«), wenn der Therapeut sich solchen Problemen nicht zuwendet und/oder es nicht schafft, sie zu beseitigen, dann haben diese Probleme u. U. einen negative Auswirkung auf die Effektivität von Elterntrainings. Zum anderen sind Elterntrainings auch ohne Prozessprobleme und bei ausgezeichneter Implementierung nicht für alle Familien effektiv (»Elterntrainings sind keine Allheilmittel«).
17
270
Kapitel 17 · Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz
Prozessprobleme Prozessprobleme in Elterntrainings sind nicht selten.
Beispiel Verhaltensweisen, die auf Prozessprobleme hindeuten: 4 Hausaufgaben werden nicht erledigt 4 Zuspätkommen von Kind/Eltern 4 Kind/Eltern üben unsachliche Kritik (z. B. Berater wird persönlich angegriffen) 4 Kind/Eltern haben übermäßiges Mitteilungsbedürfnis 4 Defensive oder verletzte Eltern 4 Hoffnungslose Eltern (»nichts wird helfen«) 4 Ärgerliche Eltern 4 Eltern, die auf alles eine Antwort wollen 4 Streit zwischen Partnern
Ein Teil solcher Prozessprobleme ist auf Widerstand (entweder vonseiten des Kindes oder der Eltern oder beider) zurückzuführen. Um das Phänomen des Widerstands in Elterntrainings zu verstehen, ist es nötig, sowohl das Verhalten des Trainers zu analysieren als auch die Persönlichkeit und die Erfahrungen der Eltern mit zu berücksichtigen. Widerstand kann entstehen als Resultat von Veränderungen (die z. B. so nicht erwünscht waren), Widerstand in Form von Ablehnung kann aufgrund verschiedener Befürchtungen seitens des Kindes und/oder der Eltern entstehen oder er kann Ausdruck von Vermeidung sein. Mögliche Ursachen, die dem Widerstand zugrunde liegen, können sein: 4 starke negative Emotionen dadurch, dass Niederlagen eine zentrale Erfahrung von Erziehung waren (z. B. bei Lukas’ Mutter), 4 das Erklärungsmodell der Eltern (das nicht mit dem des Therapeuten übereinstimmt), 4 psychopathologische Symptomatik der Eltern, 4 (subjektiv erlebte) soziale Benachteiligung der Familie, 4 Mangel an finanziellen Ressourcen und/oder Mangel an Bildungsmöglichkeiten, 4 als Resultat einer Eifersucht auf eine gute TherapeutKind-Beziehung (im Gegensatz zu einer durch Spannung geprägten Eltern-Kind-Beziehung, wenn eine Kombinationsbehandlung durchgeführt wird).
17
Mit Widerstand in Elterntrainings erfolgreich umzugehen, ist eine essenzielle Voraussetzung für die Wirksamkeit von Elterntrainings. Folgende Vorgehensweisen können dabei behilflich sein: 4 klären, worauf Widerstand der Eltern sich bezieht (z. B.: »Was genau denken Sie, wird nicht funktionieren?«), 4 Sichtweise der Eltern anerkennen und wertschätzen, 4 »prompten« bzw. Frage beantworten oder Erklärung geben (anleitend),
4 Reaktion der Eltern beachten (und ggf. testbare Hypothesen über das Verhalten der Eltern formulieren), 4 keine Verteidigungshaltung einnehmen. Es ist nicht so sehr die Form der Therapie (Kind- oder Elterntraining z. B.), die den Erfolg bestimmt, sondern das Ausmaß, in dem das gewählte Vorgehen (also hier das Elterntraining) an die Erwartungen, Motivationen und Fähigkeiten, also auch die Ressourcen der Eltern anknüpfen (Grawe u. Grawe-Gerber 1999). Bei einer Mutter, die dazu neigt, sich in ihrem Erziehungsverhalten abhängig zu machen vom Trainer, ist ein direktives Vorgehen seitens des Trainers im Sinn einer komplementären Beziehungsgestaltung sinnvoll. Ist eine Mutter hingegen sehr überzeugt von ihren erzieherischen Fertigkeiten und sehr misstrauisch gegenüber einem Elterntraining bzw. dem Trainer, dann sollte mit entsprechender Transparenz über die Vorgänge im Training berichtet werden und die Mutter sollte immer wieder Gelegenheit erhalten, ihre Kompetenzen darzustellen (Grawe u. Grawe-Gerber 1999).
»Natürliche« Begrenzungen von Elterntrainings Elterntrainings sind oft durch logistische Hürden Grenzen gesetzt, die die initiale Teilnahme, aber auch die kontinuierliche Teilnahme von Eltern an Elterntrainings gefährden. Darüber hinaus spielt eine Reihe von weiteren Faktoren in diesem Zusammenhang eine Rolle: 4 Aufsicht/Betreuung für das Kind, während Eltern beim Training sind, 4 Höhe des familiären Stressniveaus und persönliche Probleme der Eltern (spiegelt sich teilweise wider in dem Problem »Zeitmangel«), 4 Stigma, das mit der Inanspruchnahme assoziiert ist, 4 mangelnde Wahrnehmung der Relevanz von Elterntrainings durch Eltern, 4 mangelndes Problembewusstsein seitens der Eltern, 4 Sorge von Eltern/Lehrern, ein Kind zu stigmatisieren, 4 Finanzierung von Elterntrainings, 4 schlechte Erreichbarkeit der Orte, an denen Elterntrainings angeboten werden, 4 mangelnde Zugangswege zu Elterntrainings, 4 mangelnde interdisziplinäre Aus- und Weiterbildung, die eine Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen, die im Sozialgesetzbuch verankert sind, erschwert, 4 keine Dissemination nach empirischen Wirksamkeitskriterien (7 Abschn. 17.5). > Fazit Prozessprobleme können verschiedene Ursachen haben. Eine Reihe von Schwierigkeiten können bereits im Vorfeld vermieden werden, indem die folgenden Punkte während des Elterntrainings beachtet werden: 4 regelmäßiges Überprüfen von Verständnis und Zustimmung der Eltern, 6
271 17.5 · Empirische Befunde zu Elterntrainings
4 Identifizieren möglicher Schwierigkeiten, 4 klare Begründung für den Erziehungsplan geben und den Zusammenhang zu den Zielen der Eltern verdeutlichen. Die wichtigsten Schritte sind: 4 Problem klären, 4 elterliche Sichtweise des Problems anerkennen, 4 sich auf gemeinsame Ziele einigen, 4 Eltern ermutigen, ihre Annahmen (z. B. über das Verhalten des Kindes) zu überprüfen.
17.5
Empirische Befunde zu Elterntrainings
17.5.1 Globale Wirksamkeit von Elterntrainings
Elterntrainings sind vielfältig einsetzbar und ihre Wirksamkeit variiert mit dem Einsatzgebiet. Wenn Elterntrainings im Rahmen von Prävention eingesetzt werden, dann dienen sie der Verhütung der Entstehung von psychischen Störungen bei Kindern, vor allem, wenn sie universell (für alle Eltern) oder selektiv (für Eltern mit bestimmten Risikofaktoren) eingesetzt werden. Bei indizierter Prävention würde man sich auf Eltern konzentrieren, die bereits ein auffälliges Kind haben, aber noch nicht so auffällig, dass es bereits die Kriterien einer psychischen Störung erfüllt. Elterntrainings begleitend zur Psychotherapie eines Kindes einzusetzen, bedeutet hingegen, dass die Kinder nun die Kriterien einer psychischen Störung erfüllen, wenn sie (bzw. ihre Eltern) an einem entsprechenden Training teilnehmen. Wenn eine Familie zu Beginn eines Elterntrainings wenige Probleme in der Erziehung erlebt, dann kann diese Familie auch nach der Intervention nicht von sehr viel weniger Problemen berichten. Daher fallen Effektstärken bei universeller Prävention kleiner aus als bei indizierter Prävention oder Intervention. Kognitiv-behaviorale Elterntrainings für Eltern psychisch kranker Kinder sind in der Regel in ihrer Wirksamkeit gut untersucht. Das trifft insbesondere auf die Trainings zu, die in . Tab. 17.1aufgeführt sind und die in der letzten Spalte als für Eltern von Kindern mit ICD-10-Diagnosen geeignet eingestuft wurden. Neben diesen gibt es viele Elternbildungsangebote, die eher auf die allgemeine Lebensführung abzielen und die entweder keinen Bezug zu der ärztlich-psychotherapeutischen Grundversorgung herstellen (»STEP« oder »Starke Eltern – Starke Kinder«) oder aber bei denen der Einsatz als nicht ausreichend wirksam klassifiziert wurde (»Gordon-Elterntraining«; Cedar u. Levant 1990; Müller et al. 2001). Einen Überblick über die Wirksamkeit dieser Verfahren geben Heinrichs et al. (2007). Am besten empirisch belegt sind das Elterntraining »The Incredible Years« von Webster-Stratton und das »Triple-PProgramm« von Sanders. Diese Einschätzung findet sich auch in vielen internationalen Beurteilungen wieder, unter
anderem werden diese beiden Elterntrainings z. B. explizit in dem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO (Hosman et al. 2005) und dem Bericht des »National Institute of Health and Clinical Excellence« (NICE 2005) als wirksam hervorgehoben. Die Zusammenfassung des NICE beschreibt das Ergebnis ihrer Leitlinienbegutachtung wie folgt: NICE empfiehlt Elterntrainings in Gruppen zum Umgang mit Kindern mit Verhaltensstörungen. Individuelle Elterntrainingsprogramme werden nur empfohlen, wenn die Bedürfnisse der Familie zu komplex für ein Gruppenprogramm sind. Alle Elterntrainings unabhängig davon, ob sie als Einzeloder als Gruppentraining angeboten werden, sollten 4 manualisiert und strukturiert sein, 4 auf den Prinzipien der sozialen Lerntheorie aufbauen, 4 Wege beinhalten, wie man die familiären Beziehungen verbessern kann 4 eine ausreichende Anzahl von Sitzungen (Optimum bei 8–12) beinhalten, 4 Eltern ermöglichen, sich ihre eigenen Erziehungsziele zu setzen, 4 Rollenspiele und Hausaufgaben beinhalten, 4 von ausreichend gut trainierten und supervidierten Fachleuten durchgeführt werden, die Zugang zu weiterer Unterstützung haben, falls dies notwendig sein sollte. Für alle Programme gilt: Es sollte gute unabhängige Evidenz existieren, dass die Trainings wirksam sind. Diejenigen, die Trainings zur Verfügung stellen, sollen sicherstellen, dass Unterstützung für Eltern, die teilnehmen wollen, ermöglicht wird, falls die Familie es sonst schwierig findet teilzunehmen. Diese Empfehlung gilt nur für Kinder mit Verhaltensstörungen bis zu einem Alter von 12 Jahren. (NICE 2005)
Das Ausmaß an empirischer Evidenz für das Triple-P-Programm, das von allen Elterntrainings in den letzten 20 Jahren am umfassendsten untersucht wurde, ist inzwischen als sehr groß zu bezeichnen. In die neuste Metaanalyse zu dem Elterntraining (Nowak u. Heinrichs 2008; . Tab. 17.3) gin-
. Tab. 17.3. Metaanalytische Effektstärken (ES) des Triple-P-Programms (Nowak u. Heinrichs 2008) Zeitraum
Anzahl Studien
Anzahl Familien
ES (kindliches Verhalten) [95% KI]
ES (elterliches Verhalten)
5714 537
0,34 (0,33–0,34) 0,56 (0,53–0,59)
0,36 (0,36–0,37) 0,49 (0,46–0,52)
0,79 (0,76–0,81) 0,75 (0,70–0,80)
0,72 (0,70–0,74) 0,75 (0,70–0,80)
Kurzfristig Ebene 4 Ebene 5
26 4
Langfristig (im Mittel) Ebene 4 Ebene 5
25 6
1974 274
ES Effektstärke; KI Konfidenzintervall; kurzfristige ESzwischen den Gruppen ES; langfristige ESinnerhalb der Gruppen ES.
17
272
Kapitel 17 · Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz
. Tab. 17.4. Wirksamkeit von Elterntrainings in Metaanalysen Trainingstyp (Referenz)
ES (kindliches Verhalten)
ES (elterliches Verhalten)
Parent Effectiveness Training (PET; dt: Gordon Elterntraining; Cedar u. Levant 1990) Keine Unterscheidung der Studien hinsichtlich der Zielgruppe (sowohl universelle und indizierte Präventionsstudien als auch Interventionsstudien wurden einbezogen)
0,03 (kurzfristig)
0,37 (kurzfristig)
Behaviorale Elterntrainings
0,42 (kurzfristig) 0,66 (langfristig)
0,45 (kurzfristig) 0,39 (langfristig)
Non-Behaviorale Elterntrainings (z. B. patientenzentriert, adlerianisch oder ohne spezifische Affiliation; Lundahl et al. 2006b) Keine Unterscheidung der Studien hinsichtlich der Zielgruppe (sowohl universelle und indizierte Präventionsstudien als auch Interventionsstudien wurden einbezogen)
0,44 (kurzfristig) langfristig nicht erfasst
0,66 (kurzfristig) langfristig nicht erfasst
Elterntrainings (Lundahl et al. 2006a) Nur Studien, die sich auf frühe Intervention oder Therapie beziehen
Ziel war hier ausschließlich die Wirksamkeit in Bezug auf kindliche Misshandlungen seitens der Eltern (Elternverhalten)
0,45–0,60 (je nach abhängiger Variable: Erziehungsverhalten, Einstellung der Eltern, tatsächliche Misshandlungsrate, emotionale Anpassung)
ES Effektstärke.
gen mehr als 50 Studien ein, darunter mehr als 30 randomisierte kontrollierte Studien (RTC). Andere Metaanalysen, die in den letzten 20 Jahren veröffentlicht wurden, zeichnen ein ähnliches Bild der Wirksamkeit kognitiv-behavioraler Elterntrainings (. Tab. 17.4). Dabei fällt auf, dass kognitiv-behaviorale Elterntrainings einen umso größeren Stellenwert erhalten, je extremer die Erziehungsprobleme werden. In einer Metaanalyse von Lundahl et al. (2006a) wurden 23 Studien ausgewertet, die die Wirksamkeit von Elterntrainings in Bezug auf »kindliche Misshandlung« untersuchten. Neben der globalen Wirksamkeit erweisen sich behaviorale Verfahren als signifikant effektiver als andere Elterntrainings im Umgang mit solchen Problemen. Darüber hinaus sind Elterntrainings eine wirksame Methode, um Einfluss auf die psychische Gesundheit der Mutter zu nehmen. In 20 Studien, die Depression, Angst/ Stress, Selbstwert, soziale Unterstützung und partnerschaftliche Beziehung als abhängige Variable betrachteten, zeigte sich ein signifikanter Effekt für vier der fünf Bereiche – nur die soziale Unterstützung konnte nicht nachweislich durch die Teilnahme an einem Elterntraining gebessert werden (Barlow et al. 2003).
17 17.5.2 Spezifische Moderatorvariablen
der Wirksamkeit von Elterntrainings Der Ansatz von Webster-Stratton basiert auf den Arbeiten von Patterson vom Oregon Social Learning Center (OSLC). Auf der Webseite des Centers findet man eine Zusammenfassung der empirischen Forschung aus den letzten 30 Jah-
ren zum Elterntraining »Parent Management Training« (PMT). Dort werden folgende Faktoren genannt, die die Wirksamkeit des PMT beeinflussen: 4 Alter des Kindes, 4 Intelligenz bzw. Entwicklungsalter des Kindes, 4 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), 4 Merkmale der Eltern, 4 soziale Isolation der Eltern (je mehr, desto schlechter), 4 Anzahl der teilgenommenen Sitzungen (je weniger, desto schlechter), 4 Merkmale des Therapeuten. Weitere Spezifikationen dieser Merkmale sind nicht mit aufgeführt. In der englischsprachigen Metaanalyse von Lundahl et al..(2006b) werden behaviorale und nichtbehaviorale Elterntrainings in ihrer Effektivität verglichen. Insgesamt wurden 63 randomisierte kontrollierte Studien einbezogen, von denen n=9 (14%) nichtbehavioral waren. Die nichtbehavioralen Elterntrainings, die eine Evaluation mit Hilfe von RCT durchführten, schnitten kurzfristig genauso gut ab wie die behavioralen (Elterntrainingstyp war hier keine Moderatorvariable), längerfristig waren sie jedoch kaum untersucht, so dass hier kein Vergleich mit den Effekten von behavioralen Elterntrainings stattfinden konnte. Es ergaben sich nach dieser Metaanalyse folgende Moderatorvariablen für die Wirksamkeit von kognitiv-behavioralen Elterntrainings: 4 soziale Schicht der Teilnehmer (je niedriger, desto weniger wirksam), 4 initiales Ausmaß an psychopathologischer Auffälligkeit beim Kind (je höher, desto wirksamer),
273 Zusammenfassung
4 allein erziehendes Elternteil (schlechtere Wirksamkeit), 4 Format des Elterntrainings (Einzeltraining wirksamer als Gruppentraining). Auch in der zweiten Metaanalyse von Lundahl et al. (2006a), die sich auf kindliche Misshandlung (und nicht wie die erste auf kindliches Verhalten) konzentrierte, finden sich bedeutsame Moderatorvariablen: 4 Hausbesuche bei den Familien (bessere Wirksamkeit), 4 Trainingssitzungen finden zu Hause bei den Familien und in der Praxis statt (bessere Wirksamkeit), 4 behaviorale Trainingsbestandteile (bessere Wirksamkeit), 4 Einzeltraining (bessere Wirksamkeit). Schließlich fanden wir auch für das Elterntraining Triple P ganz ähnliche Moderatorvariablen für das Erziehungsverhalten und das kindliche Problemverhalten (Nowak u. Heinrichs 2008): 4 Einzeltraining effektiver als Gruppentraining oder Selbsthilfe, 4 Ebene 5 effektiver als die darunter liegenden Ebenen, 4 bei Eltern jüngerer Kinder (<6 Jahre) etwas höhere Effekte als bei Eltern älterer Kinder (6 Jahre und drüber), 4 der Ausgangswert im kindlichen Problemverhalten (je höher, desto wirksamer wird Triple P), 4 Quelle, die befragt wird (Mutter, Vater, Kind, Erzieher; mit den höchsten Effekten bei der mütterlichen Einschätzung), 4 Methode der Datenerhebung (Selbstbericht vs. Verhaltensbeobachtung; mit weniger starken Effekten bei der Verhaltensbeobachtung). An dieser Aufstellung kann man erkennen, dass die bisher identifizierten Moderatorvariablen innerhalb der kognitivbehavioralen Elterntrainings sehr ähnlich und zum Teil sogar identisch sind. Dies deutet möglicherweise daraufhin, dass diese Einflüsse unabhängig vom Setting, von dem spezifischen Elterntraining und der spezifischen abhängigen Variable eine Rolle spielen. Sie geben allen Therapeuten damit einen Hinweis, was sie im Rahmen des Einsatzes eines Elterntrainings bei einer gegebenen Familie erwarten können. > Fazit Chancen von Elterntrainings Elterntrainings können die kindliche Entwicklung nachhaltig positiv beeinflussen, das familiäre Zusammenleben stärken und gesellschaftliche Belastungen durch Gewalt und antisoziale Verhaltensweisen im Jugendalter mindern, indem man Eltern mehr Erziehungskompetenz vermittelt. Elterntrainings können bei spezifischen Problemen innerhalb der Familie und zur Prävention von Erziehungsproblemen eingesetzt werden. 6
Herausforderungen von Elterntrainings Für einen angemessenen Einsatz von Elterntrainings muss eine Umsetzung breitflächig, flexibel und variabel erfolgen, mit politischer und institutionaler Unterstützung und in Zusammenarbeit vieler verschiedener Disziplinen. Die Moderation der Wirksamkeit durch die soziale Schicht impliziert eine verstärkte Zuwendung auf Familien, die sozial benachteiligt sind. Dazu notwendig ist auch eine spezifische Anpassung der Interventionen an die Belange dieser Familien. Zur Motivation für eine frühzeitige und destigmatisierende Inanspruchnahme von Elterntrainings ist neben dem breitflächigen Angebot eines umfassenden Unterstützungssystems vor allem eine Erhöhung der Problemwahrnehmung in der Bevölkerung notwendig.
17.6
Ausblick
Kognitiv-behaviorale Elterntrainings sollten fester Bestandteil in der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendliche werden. Sie sind insbesondere für externalisierende Störungen eine effektive Maßnahme, um das Problemverhalten des Kindes zu reduzieren. Darüber hinaus stärken sie das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit von Eltern und Kindern. Unser Eindruck ist das die gegenwärtige Ausbildungspraxis von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten der Relevanz des Umgangs mit Eltern in der Kinderpsychotherapie wenig Priorität einräumen und bei den zukünftigen Psychotherapeuten diese Kompetenzen dementsprechend auch nicht ausreichend vermitteln. Inwiefern Elterntrainings auch bei internalisierenden Störungen von Kindern relevant sind, ist derzeit noch ungeklärt. Die Zusammenhänge zwischen internalisierenden Problemen und Erziehungsdimensionen sind weniger bedeutsam als bei den externalisierenden Störungen, allerdings lässt sich eine erhebliche Steigerung der Zusammenhänge erreichen, wenn konkrete und detaillierte Verhaltensweisen betrachtet werden (McLeod et al. 2007). Hier wird es in Zukunft sicherlich eine Reihe neuerer Entwicklungen geben, die hoffentlich dazu beitragen, die Rolle von Eltern und Erziehungskompetenzen bei allen psychischen Störungen weiter zu klären.
Zusammenfassung Elterntrainings sind Verfahren zur Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung. Etwa jede dritte Familie wird damit konfrontiert sein, ein Kind zu erziehen, das ausgeprägtere Formen kindlichen Verhaltens entweder in den Emotionen, im Verhalten oder in beidem zeigt. Unterschiedliche Kinder stellen unterschiedliche Anforderungen an ihre Eltern und unterschiedliche Eltern verfügen über unterschiedliche Ressourcen, um diesen Anforderungen (und Herausforderungen) zu begegnen. Es ist daher essenzielle Natur von
17
274
Kapitel 17 · Elterntrainings zur Steigerung der Erziehungskompetenz
Elterntrainings, allen Eltern Unterstützung in der Erziehung anzubieten und zwar in dem Ausmaß, wie es von Eltern selbst erwünscht wird. Darüber hinaus kann bei Kindern mit psychischen Störungen ein die Kinderpsychotherapie begleitendes Elterntraining eine angemessene zusätzliche Intervention darstellen. Allerdings gibt es trotz eines großen Angebots an Elternbildungskursen nur wenige, die empirisch untersucht sind. Als begleitende oder auch alleinige Maßnahme zur Behandlung externalisierender Störungen werden unterschiedliche Trainings vorgestellt. Eines davon wird dann im Verlauf dieses Kapitels ausführlicher in der konkreten Anwendung illustriert.
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17
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17
18
18 Familienintervention Fritz Mattejat
18.1
Einleitung
– 278
18.2
Theoretische Grundlagen
18.3
Zusammenarbeit mit Familien
18.3.1 18.3.2 18.3.3 18.3.4
Prinzipien und Ablauf der Zusammenarbeit – 280 Familiendiagnostisches Interview – 281 Beratungs- und Planungsgespräch – 282 Zwischenbilanz, Abschlussgespräch und katamnestische Kontrolle
18.4
Interventionsmethoden
18.4.1 18.4.2 18.4.3 18.4.4
Übersicht – 282 Verbesserung der Therapievoraussetzungen – 283 Verbesserung des Umgangs mit der psychischen Störung Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion und der Familienbeziehungen – 284
18.5
Anwendungsbereiche und Indikationsstellung – 286
18.6
Effektivität und Wirkmechanismen
18.7
Ausblick
– 289
– 289
Weiterführende Literatur
– 280
– 282
– 288
Zusammenfassung Literatur
– 279
– 291
– 287
– 284
– 282
278
Kapitel 18 · Familienintervention
18.1
Einleitung
Die Zusammenarbeit mit den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen des Kindes oder Jugendlichen ist seit jeher integraler Bestandteil der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen. Schon seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden in den USA die ersten verhaltenstherapeutischen Elterntrainings entwickelt (Patterson u. Guillion 1968; Patterson 1982) und in Deutschland aufgegriffen (Innerhofer 1977). Kindliche Verhaltensauffälligkeiten wurden dabei entsprechend der klassischen funktionalen Bedingungsmodelle (Kanfer et al. 1996) nach dem S-O-R-K-Schema im Kontext ihrer vorausgehenden und nachfolgenden Bedingungen analysiert. Patterson hat in diesem Zusammenhang negative Interaktionszirkel beschrieben, durch die problematisches kindliches Verhalten aufrechterhalten wird. Unter dem Begriff »Familieninterventionen« in der Kinderund Jugendlichenverhaltenstherapie fassen wir im Folgenden alle verhaltenstherapeutischen Arbeitsformen zusammen, die das Ziel verfolgen, die Interaktion in Familien zu verändern (vgl. AWMF 2000; Scheib u. Wirsching 2004). Zu den verhaltenstherapeutischen Familieninterventionen gehören psychoedukative Ansätze, Elterntrainings und kognitiv-behaviorale Familientherapien im engeren Sinne. ! Unter dem Begriff »verhaltenstherapeutische Familieninterventionen« werden alle Konzepte und Methoden zusammengefasst, die sich an den Prinzipien der Verhaltenstherapie orientieren und darauf abzielen, die Interaktion in Familien zu verändern. Zu den kognitiv-behavioralen Familieninterventionen in dieser weiten Wortbedeutung gehören psychoedukative Ansätze, Elterntrainings und Modelle der kognitivbehavioralen Familientherapie im engeren Sinne.
Bei den familienorientierten psychoedukativen Ansätzen steht die Aufklärung über die Erkrankung und die Schulung von Patienten und Angehörigen im Umgang mit der Erkrankung im Vordergrund. Ursprünglich wurden solche
psychoedukativen Ansätze im Anschluss an die »ExpressedEmotions«-Forschung (Falloon 1993) speziell für schizophrene Patienten und ihre Familien entwickelt. Heute aber ist die Psychoedukation ein wesentlicher Bestandteil der Verhaltenstherapie bei allen psychischen Erkrankungen; die meisten störungsspezifischen Behandlungsprogramme beinhalten eine psychoedukative Komponente. Verhaltenstherapeutische Elterntrainings zielen darauf ab, den Eltern positive Verhaltensstrategien zu vermitteln, die sie im Alltag umsetzen können und die dazu führen, dass kindliche Verhaltensauffälligkeiten reduziert und entwicklungsförderliche Eltern-Kind-Interaktionen gestärkt werden. Weiterentwicklungen der verhaltenstherapeutischen Elterntrainings haben in den letzten Jahren eine sehr weite Verbreitung, insbesondere auch im präventiven Bereich gefunden (Markie-Dadds et al. 2003). Diese Trainings sind in der Regel für Eltern von Kindern bis zum Alter von etwa 12 Jahren konzipiert. Für Familien mit Jugendlichen dagegen erscheinen Elterntrainings nur eingeschränkt geeignet. Für die Altersgruppe der Jugendlichen ab etwa 12 Jahren sind in den letzten Jahren familienorientierte Arbeitsmodelle bekannt geworden, in denen verhaltenstherapeutische und systemtheoretische Konzepte miteinander verbunden werden. Zu ihnen zählen insbesondere die funktionale Familientherapie (Sexton u. Alexander 2000) und die behaviorale Familiensystemtherapie (Robin u. Foster 1989), in denen behaviorale, kognitive und systemische Konzepte miteinander verbunden werden. Unabhängig von diesen Ansätzen, die sich explizit auf die verhaltenstherapeutische Tradition beziehen, wurden insbesondere für die Therapie von Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens und Drogenkonsum Behandlungsmodelle entwickelt, in denen ebenfalls kognitiv-behaviorale und systemorientierte Konzepte miteinander verbunden werden (Graham 2005). Diese Ansätze sind kompatibel mit den Grundprinzipien der Verhaltenstherapie; aus diesem Grund können wir sie zu den kognitivbehavioralen Familieninterventionen zählen.
Beispiele für kognitiv-behaviorale Familieninterventionen
18
4 Psychoedukative Ansätze – Arbeitsbuch PsychoEdukation bei Schizophrenie (APES) Bäuml et al. 2005 – Psychoedukative Familienintervention (PEFI) Berger et al. 2004 4 Elterntrainings – Münchner Trainingsmodell (MTM) Innerhofer 1977; Warnke et al. 2001; Beck u. Warnke 2006 – Triple P-Programm Markie-Dadds et al. 2003 6
– The incredible years – parent, teachers, and children training series Webster-Stratton u. Reid 2003: äußerst umfangreiches, gut ausgearbeitetes Programm für Eltern, Lehrer, Kinder – Improving mother/child interaction to promote better psychosocial development in children World Health Organization 1997: WHO-Programm zur Verbesserung der Mutter-Kind-Interaktion (6 Sitzungen) – Defiant children – a clinician’s manual for assessment and parent training Barkley 1997
279 18.2 · Theoretische Grundlagen
– Therapieprogramm für Kinder mit hyperaktivem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) Döpfner et al. 2002 4 Familientherapien – Funktionale Familientherapie (FFT) Sexton u. Alexander 2000; Heekerens 2002, 2006
Wir verfügen somit in der Verhaltenstherapie über ein breites Spektrum von familienbezogenen Behandlungsmodellen und -methoden. Bevor wir die wichtigsten Interventionsmethoden konkret darstellen, werden im Folgenden die verwendeten Begriffe definiert, die gemeinsamen Grundannahmen eines familienorientierten Arbeitsformen dargestellt und die empirischen Befunde zur Wirksamkeit von Familieninterventionen erläutert.
18.2
Theoretische Grundlagen
Grundpostulat 1. Die folgende Aussage, die wir als allgemeines familientherapeutisches Grundpostulat bezeichnen können, ist gemeinsame Grundlage aller familientherapeutischen Ansätze.
Jedes individuelle Verhalten ist Teilaspekt von übergeordneten Systemen (Familie, soziales, ökonomisches und kulturelles Umfeld). Um das Verhalten und Erleben einer Person verstehen und erklären zu können, ist es notwendig, die Lebensumstände dieser Person und insbesondere die Verhaltens- und Erlebensformen ihrer wichtigsten Bezugspersonen mit zu berücksichtigen.
In der wissenschaftlichen Literatur wird dieses Grundpostulat in vielfältiger Weise differenziert und theoretisch ausgeführt (vgl. z. B. Schneewind 2002; Mattejat 2006b). Zu den bekanntesten Formulierungen zählt das ökosystemische Konzept von Bronfenbrenner (1979); zu anderen systemtheoretischen Konzepten siehe z. B. Oerter et al. 1999 und Cicchetti 1999. Eine analoge Perspektive wird auch in der multimodalen und multidimensionalen Orientierung der empirisch fundierten Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters deutlich, bei der Wechselwirkungen verschiedener Systeme auf biologischer, psychologischer und soziokultureller Ebene berücksichtigt werden (biopsychosoziales Modell der Entwicklungspsychopathologie), so wie sich dies auch im multiaxialen Klassifikationsschema psychiatrischer Erkrankungen niederschlägt (Remschmidt et al. 2002). Als heuristisches Rahmenkonzept für eine genauere Ausarbeitung des ersten Grundpostulates eignet sich die Entwick-
– Behaviorale Familiensystemtherapie Robin u. Foster 1989; Barkley et al. 1999; Russel et al. 1987 – Multisystemische Therapie Henggeler et al. 1998 , 2006; Mattejat et al. 2006 – Multidimensionale Familientherapie (MDFT) Liddle 2001
lungspsychopathologie (7 Kap. III/2, vgl. hierzu ausführlich Mattejat 2008).
Entwicklungspsychopathologie als Rahmenkonzeption für die Verhaltenstherapie mit Kindern, Jugendlichen und Familien – einige Grundbegriffe 4 Disponierende, auslösende, verlaufsbestimmende Faktoren 4 Risikofaktoren vs. Schutzfaktoren 4 Vulnerabilität und Resilienz 4 Belastung/Stress und Bewältigung/Coping 4 Entwicklungsaufgaben 4 Selbstorganisation und Selbstregulation (Autopoiesis) 4 Passung, Anpassung 4 Interdependenz, Wechselwirkung 4 Äquifinalität (viele Entwicklungswege können zum gleichen klinischen Erscheinungsbild führen) und Multifinalität (die gleichen externen Bedingungen können – in Abhängigkeit von der individuellen Verarbeitung – zu unterschiedlichen Erscheinungsbildern führen)
Grundpostulat 2. Wenn wir speziell psychische Störungen von Kindern und Jugendlichen in den Blickpunkt stellen, dann können wir das allgemeine Postulat noch spezifizieren:
Individuelle psychische Störungen bei Kindern bzw. Jugendlichen und Familienbeziehungen beeinflussen sich wechselseitig.
Die Zusammenhänge zwischen Merkmalen des Familiensystems und individuellen psychischen Störungen können sich sehr unterschiedlich gestalten: 4 Familiäre Belastungen können Risikofaktoren für die Entstehung von psychischen Störungen darstellen. Das heißt, zumindest manche psychische Störungen können als Folge von ungünstigen familiären Entwicklungsbedingungen (z. B. von chronischen oder aktuellen familiären Belastungen) aufgefasst werden, die der
18
280
Kapitel 18 · Familienintervention
Patient nicht hinreichend bewältigen kann (Psychische Störung als Folge familiärer Bedingungen). 4 Manche psychische Störungen können aber auch als Versuche verstanden werden, familiäre Problemsituationen, z. B. Beziehungskonflikte zu lösen (Funktion der psychischen Störung für das Familiengefüge). 4 Aufgrund von psychischen Störungen bei einem Familienmitglied entstehen für die Familie in der Regel mehr oder weniger starke zusätzliche Belastungen. Das heißt, die psychische Störung kann Auswirkungen auf die Familie zeitigen, durch die die Familiensituation und die Familienbeziehungen negativ beeinflusst werden (Auswirkungen der psychischen Störung auf die Familie). 4 Schließlich führen psychische Störungen bei einem Kind oder Jugendlichen zu Reaktionen und Bewältigungsversuchen in der Familie, durch die die psychische Störung beeinflusst wird. Die weitere Entwicklung der psychischen Störung wird auch von der Qualität dieser Bewältigungsversuche abhängen (Reaktionen der Familie auf die psychische Störung und Bewältigungsversuche). Grundpostulat 3. Für die Therapie ist dabei nicht nur die
Frage von Bedeutung, wie individuelle und familiäre Probleme entstanden sind, noch viel wichtiger ist die Frage, wie das Kind und seine Familie aus diesen Schwierigkeiten wieder herausfinden können und was die Familie zur Lösung bzw. Bewältigung der individuellen psychischen Störung des Kindes bzw. Jugendlichen beitragen kann. Das heißt, die Familie wird nicht nur als »Teil des Problems«, sondern mindestens ebenso als »Teil der Lösung« gesehen. Speziell im Hinblick auf die therapeutische Zusammenarbeit kann somit das dritte Grundpostulat formuliert werden:
Familieninterventionen haben in der Prävention und Therapie deshalb eine hohe Bedeutung, weil die Familie wesentlich zur Bewältigung psychischer Störungen von Kindern und Jugendlichen beitragen kann.
18
Familientherapeutische Arbeitsformen werden auf diese Weise durch eine positive Entwicklungsorientierung begründet: Von der Familie selbst und speziell von den Eltern können die besten und wichtigsten Hilfen für das Kind kommen. Familientherapie ist deshalb indiziert, weil wir in der Familie die Lösungen für die anstehenden Probleme suchen. Aus den angeführten Grundannahmen ergibt sich für die therapeutische Arbeit die Schlussfolgerung, dass bei der Behandlung von psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen immer – unabhängig von der Frage nach der Ätiologie der Störung – die Situation der Familie und des gesamten Umfeldes mitberücksichtigt werden sollte. Ob und in welchem Umfange dabei familientherapeutische Arbeitsformen genutzt werden sollen und können, ist dabei von der jeweiligen individuellen Faktorenkonstellation abhängig.
18.3
Zusammenarbeit mit Familien
18.3.1 Prinzipien und Ablauf der Zusammenarbeit
In diesem Abschnitt wird das »Familien-KooperationsModell« vorgestellt; es handelt sich dabei um ein praktisches Arbeitskonzept der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, das über sehr viele Jahre hinweg vom Autor gemeinsam mit vielen Kollegen im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik konzipiert und erprobt wurde (vgl. Mattejat 2002, 2006b) und das auf die besonderen Rahmenbedingungen von Kinder- und Jugendlichentherapien zugeschnitten ist (vgl. Graham 2005). Hauptcharakteristikum und Fokus des Familien-Kooperations-Modells liegt darin, dass unabhängig davon, welche Art der Therapie durchgeführt wird, immer eine möglichst gute Abstimmung und Zusammenarbeit mit der Familie angestrebt wird. Im Familien-Kooperations-Modell besteht die Grundstruktur des therapeutischen Kontaktes nicht darin, dass ein Therapeut einen Patienten behandelt, sondern vielmehr darin, dass eine Familie (d. h. das vorgestellte Kind und seine Eltern) mit einem Therapeuten zusammenarbeitet, um ein gemeinsam definiertes Problem zu lösen. Familie und Therapeut legen dabei gemeinsam fest, wer welche Teilaufgaben übernimmt. Die Therapie kann dabei sehr unterschiedlich gestaltet sein; sie kann einfache organisatorische Maßnahmen, Medikation, funktionelle Übungsbehandlungen, individuelle Psychotherapie, familienorientierte Interventionen und sonstige umfeldbezogene Maßnahmen umfassen. In . Abb. 18.1 ist der allgemeine Ablauf der Zusammenarbeit mit Eltern und Familien nach dem FamilienKooperations-Modell schematisch dargestellt. Falls überlegt wird, der Familie eine Therapie anzubieten, dann sollte als letzter diagnostischer Termin ein gemeinsames familiendiagnostisches Interview durchgeführt werden. Falls die Kinder noch sehr jung (bis etwa 8 Jahre) oder sehr unruhig sind oder durch ein gemeinsames Familiengespräch überfordert wären (z. B. bei Psychosen), kann das familiendiagnostische Interview durch ein Elterninterview ersetzt werden. Dieses Interview wird dann ausgewertet; mit den gewonnenen Informationen kann das Fallkonzept vom Therapeuten noch ergänzt und präzisiert werden. Hierauf folgt eine Sitzung, in der die Familie bzw. die Eltern beraten werden und Empfehlungen zum weiteren Vorgehen erhalten. Diese Beratungssitzung dient dazu, gemeinsam mit den Eltern bzw. gemeinsam mit der Familie ein Störungs- und Behandlungskonzept zu entwickeln und auf dieser Grundlage mit der Familie die Behandlung zu planen. Familiendiagnostisches Interview und Familienberatungsgespräch sind die Hauptbausteine des Familien-Kooperations-Modells; zusammengenommen bilden sie den Übergang von der Diagnostik zur Therapie. Falls es im Familienberatungsgespräch zu einer Therapievereinbarung kommt, können individuenbezogene, familienorientierte oder andere ergänzende umfeldbezogene
281 18.3 · Zusammenarbeit mit Familien
. Abb. 18.1. Allgemeiner Ablauf der Zusammenarbeit mit Eltern und Familien
Maßnahmen im Vordergrund stehen. Sehr häufig werden mehrere Maßnahmen kombiniert, z. B. Psychotherapie mit Elternarbeit und medikamentöser Behandlung. Familienbezogene Interventionen stellen nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtbereich der Möglichkeiten dar. Die häufigsten Konstellationen im ambulanten Bereich sind 4 vorwiegend individuelle Psychotherapie mit grobmaschig begleitenden Elterngesprächen; 4 individuelle Psychotherapie und Eltern-/Familienarbeit, wobei beide Komponenten etwa gleich häufig und gleich gewichtig sind. Die Komponenten können hintereinander geschaltet sein oder parallel ablaufen; 4 überwiegend Elternarbeit bzw. Familientherapie, wobei keine oder nur sehr wenige Einzeltermine mit dem vorgestellten Patienten stattfinden.
milie haben, um die Probleme, die zur Vorstellung führten, in ihrem Kontext zu verstehen. Zum familiendiagnostischen Interview sollten in der Regel der Patient und die beiden Eltern eingeladen werden. Jüngere Kinder im Vorschul- und Grundschulalter können leicht durch ein längeres gemeinsames Gespräch überfordert sein; in solchen Fällen ist es sinnvoll, das gemeinsame Interview mit dem Kind abzukürzen und die zentralen Fragestellungen allein mit den Eltern zu besprechen. In manchen Fällen kann es auch sinnvoll sein, neben dem Patienten und seinen Eltern weitere Familienmitglieder (z. B. Geschwister) zum Familiengespräch einzuladen. Ob dies im Einzelfall angezeigt ist, kann ggf. im Vorfeld mit den Eltern erörtert werden.
Klärung der Therapievoraussetzungen: Die vier Hauptfragen im familiendiagnostischen Interview 18.3.2 Familiendiagnostisches Interview
Das Hauptziel des familiendiagnostischen Gesprächs besteht darin, herauszufinden welches Anliegen die Familie hat und welche Art der Hilfestellung von ihr angenommen werden kann. Es sollen also die Therapievoraussetzungen mit der Familie abgeklärt werden. Diese diagnostische Abklärung stellt gleichzeitig den Einstieg in die weitere Zusammenarbeit mit der Familie dar. Darüber hinaus kann im Rahmen des familiendiagnostischen Interviews abgeklärt werden, wie die Familie mit den psychischen Problemen umgeht und welche Bedeutung die individuellen psychischen Probleme des vorgestellten Patienten für die Fa-
Im familiendiagnostischen Interview wird jedes Familienmitglied gebeten, zu folgenden Fragen Stellung zu nehmen: 4 Was ist für Dich das Problem? (Kontextklärung und Problemwahrnehmung) 4 Was wünschst du dir, wo siehst du Lösungsmöglichkeiten? (Zielvorstellungen und Lösungsmöglichkeiten) 4 Was wünschst du dir von mir/uns? (Klärung des Therapieauftrages) 4 Wie kannst du uns dabei helfen? (Klärung der Kooperationsvorstellungen)
18
282
Kapitel 18 · Familienintervention
18.3.3 Beratungs- und Planungsgespräch
Typischerweise folgt nach dem familiendiagnostischen Gespräch ein weiterer Termin, der dazu dient, der Familie die Ergebnisse der Diagnostik mitzuteilen und gemeinsam mit ihr zumindest ein grobes Störungs- und Behandlungskonzept zu entwickeln und die nächsten Schritte zu planen. Im Beratungs- und Planungsgespräch sollte außerdem auch darauf geachtet werden, möglichst günstige Bedingungen für die weitere Zusammenarbeit zu schaffen (Beziehungsgestaltung, Ressourcenaktivierung s. unten). Zu Beginn des Gespräches fasst der Therapeut zunächst die Anliegen und Wünsche der Familienmitglieder, die im familiendiagnostischen Interview für ihn deutlich wurden, zusammen und bittet jedes Familienmitglied um Bestätigung bzw. Rückmeldung. Bei seiner Zusammenfassung geht der Therapeut auch auf Diskrepanzen zwischen den Perspektiven der Familienmitglieder ein. Im Anschluss daran informiert er über die diagnostischen Prozeduren und die Ergebnisse der Diagnostik; dabei sollte er die eigene Kompetenz bzw. die Kompetenz der Einrichtung deutlich machen. Die Information sollte sehr knapp und sehr stark verdichtet sein; einzelne Aspekte, deren Behandlung aktuell nicht dringend ist, können zurückgestellt werden. Diskrepanzen zwischen der fachlichen Sichtweise und den Auffassungen der Familienmitglieder sollten deutlich angesprochen werden.
Familienberatung mit Therapieplanung: Thematischer Ablauf 1. Zusammenfassung des Ergebnisses aus dem Familiengespräch 2. Information über die Ergebnisse der Diagnostik und die hieraus zu ziehenden Schlussfolgerungen 3. Gemeinsames Problemkonzept: Vorschlag für ein einfaches gemeinsames aktuelles Problemkonzept mit Diskussion 4. Gemeinsames Therapiekonzept: Vorschlag für ein gemeinsames aktuelles Therapiekonzept mit Diskussion 5. Vereinbarung zum weiteren Vorgehen
18
Im Anschluss daran kann der Therapeut ein einfaches aktuelles Problemkonzept vorschlagen, das fachlich gut vertretbar ist und möglichst weitgehend auch mit den Sichtweisen der Familienmitglieder kompatibel ist. Mit seinem Vorschlag versucht der Therapeut, einen vermittelnden Rahmen anzubieten, in dem sich jedes Familienmitglied aufgehoben fühlen kann und den jeder deshalb akzeptieren kann. Im nächsten Schritt entwirft der Therapeut ein grobes Therapiekonzept, welches dann mit der Familie diskutiert wird. In diesem Gespräch wird das Konzept modifiziert,
differenziert und konkretisiert. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass Vorschläge, die aus der Familie kommen, nach Möglichkeit aufgegriffen werden. Ein Vorschlag, der von der Familie kommt, ist therapeutisch wertvoller als derselbe Vorschlag, wenn er vom Therapeuten suggeriert wird. Das Beratungs- und Planungsgespräch wird abgeschlossen mit einer Festlegung darüber, wie weiter vorgegangen wird.
18.3.4 Zwischenbilanz, Abschlussgespräch und katamnestische Kontrolle Um die Therapie für die Familie möglichst transparent, verständlich und kontrollierbar zu machen, ist es wichtig, sie in überschaubaren Zeiträumen zu planen. Konkrete Ziele können in der Regel für die kommenden 4–8 Wochen festgelegt werden. Nach dieser Zeit sollte in einer »Zwischenbilanz« überprüft werden, ob die Therapie wie gewünscht vorwärts kommt, ob Modifikationen notwendig sind oder ob die Behandlung abgeschlossen werden kann. Auch wenn der Schwerpunkt der Behandlung in der Einzeltherapie des Kindes oder Jugendlichen liegt, ist es sinnvoll, Zwischenbilanzgespräche mit den Eltern bzw. der Familie zu führen, 4 um kontinuierlich sicherzustellen, dass die Abstimmung zwischen Patient, Familie und Therapeut im Verlaufe der Therapie erhalten bleibt, 4 um zu erreichen, dass die durchgeführten Interventionen gleichermaßen von Patienten und Eltern verstanden und mitgetragen werden, 4 um neu auftretende Probleme möglichst schnell zu erkennen und 4 um die Therapieplanung im Sinne einer adaptiven Indikationsstellung zu überprüfen und gegebenfalls zu verändern. Die Kontakte mit den Eltern bzw. der Familie werden durch das Abschlussgespräch bei Therapieende und einen katamnestischen Termin (etwa ein halbes Jahr bis ein Jahr nach Therapieabschluss) abgerundet; diese Gespräche dienen hauptsächlich der Qualitätssicherung (Therapieerfolg, Therapiezufriedenheit). Darüber hinaus können sie auch für die Rückfallphrophylaxe genutzt werden.
18.4
Interventionsmethoden
18.4.1 Übersicht
In vielen Fällen – in denen z. B. die Einzeltherapie im Vordergrund steht – kann sich die Zusammenarbeit mit der Familie auf die beiden Anfangsgespräche (familiendiagnostisches Interview, Familienberatungs- und Planungsgespräch) und auf sehr wenige Kontakte, die in großen Ab-
283 18.4 · Interventionsmethoden
. Tab. 18.1. Interventionsbereiche, Ziele und Therapiebausteine kognitiv-behavioraler Familieninterventionen Interventionsbereich
Ziele
Therapiebausteine
Therapievoraussetzungen
Verbesserung der Voraussetzungen für therapeutische Lernprozesse 4 Entwicklung einer Vertrauensbeziehung 4 Definition einer gemeinsamen Aufgabe 4 Entwicklung von positiven Erwartungen 4 Entwicklung einer positiven Arbeitshaltung 4 Stärkung des Gefühls der Selbstwirksamkeit
Interventionen zur Verbesserung der Motivation und des Engagements der Familie (Beziehungsentwicklung, Ressourcenaktivierung)
Umgang mit der psychischen Störung
4 Besseres Verständnis für die psychische Störung des Kindes 4 Entwicklung von Verhaltensweisen zur Reduktion der Symptomatik und Verbesserung der Zusammenarbeit der Familienmitglieder beim Umgang mit der Symptomatik
Störungsspezifische 4 Psychoedukation 4 Problemlösung
Eltern-KindInteraktion
Kinder bis 12 Jahre: 4 Verbesserung der Erziehungskompetenz 4 Entwicklung von adäquaten und funktionalen Erziehungseinstellungen
Elterntraining für Familien mit Kindern
Jugendliche ab 12 Jahre: 4 Verbesserung der familiären Kommunikation 4 Verbesserung der gemeinsamen Problemlösung 4 Klärung und Korrektur von dysfunktionalen familienbezogenen Kognitionen
Kognitiv-behaviorale Familientherapie 4 Kommunikationstraining 4 Problemlösetraining 4 Kognitive Interventionen
Alle Altersgruppen: Förderung einer funktionalen familiären Beziehungsstruktur durch 4 Erhöhung der positiven Reziprozität 4 Stärkung von familiärer Verbundenheit und individueller Autonomie 4 Stärkung der elterlichen Koalition und generationaler Grenzen 4 Abgrenzung verschiedener Problem- und Konfliktbereiche
Strukturorientierte Interventionen
Verminderung der familialen Problembelastung insbesondere bei mehrfach belasteten Familien
Familienorientiertes Fallmanagement
Andere Familien- und Umfeldprobleme
ständen stattfinden und dem Informationsaustausch dienen, beschränken. In vielen anderen Fällen aber ist eine engere Zusammenarbeit mit der Familie sinnvoll, die unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte und Zielsetzungen haben kann. In . Tab. 18.1 sind die familienbezogenen Interventionsbereiche mit den zugehörigen Zielsetzungen und Methoden aufgeführt.
18.4.2 Verbesserung
der Therapievoraussetzungen Unabhängig vom jeweiligen Störungsbild des in einer Praxis oder Klinik vorgestellten Patienten haben die Familien der Patienten häufig ein gemeinsames Merkmal. Die Familien befinden sich – wenn sie zur Vorstellung kommen – in einem demoralisierten Zustand, d. h. sie sind desorganisiert, überfordert, zermürbt und entmutigt. Ein solcher demoralisierter Zustand ist umso wahrscheinlicher, je gravierender die individuellen Probleme sind (z. B. schwere psychische Störungen wie z. B. Psychosen), je mehr andere Probleme vorhanden sind, mit denen die Familie sich zusätzlich auseinanderzusetzen hat, je länger die vorhandenen Probleme bereits andauern und je mehr erfolglose Bewältigungsversuche bereits unternommen wurden; er
ist somit Folge und Ausdruck von gescheiterten Bewältigungsversuchen. Wenn Familien viele erfolglose Bewältigungsversuche hinter sich haben, sind sie entmutigt, und es ist nicht einfach, eine gute und produktive therapeutische Zusammenarbeit zu etablieren. Bereits die Prinzipien des diagnostischen Gesprächs und des Beratungsgesprächs sind auf eine Verbesserung der Therapievoraussetzungen ausgerichtet. Schon durch die Realisierung der Prinzipien Transparenz, Akzeptanz und Empathie kann das Gefühl der Bedrohung, Angst und Unsicherheit (Befürchtung, dass weitere Verschlechterung droht) abgebaut werden. Darüber hinaus sind weitere Aspekte zu berücksichtigen: 4 Einführung von klaren Verpflichtungen für alle Beteiligten, Schaffung eines gemeinsamen verpflichtenden Handlungskontextes, dadurch Abbau der Befürchtung, zunehmend allein zu stehen, keine Hilfe zu erhalten; 4 Herstellung eines plausiblen Erklärungsmodells für die Störungen und darauf aufbauend eines plausiblen Therapiemodells; 4 Einführung eines klaren, realistischen, überzeugenden und transparenten gegliederten (kurzfristigen) Therapiekonzepts (Zeiträume nicht größer als ca. 1–2 Monate).
18
284
Kapitel 18 · Familienintervention
Als hilfreich haben sich auch solche Interventionen erwiesen, die dazu dienen, dass die Familie eine »Verschnaufpause« gewinnt, und die eine erfahrungsbezogene Einstellung bei den Familienmitgliedern fördern: Das Ziel besteht darin, dass die Familie etwas mehr Beruhigung, Distanzierung und Gelassenheit gewinnt. Eine solche Haltung kann z. B. durch folgende Interventionen gefördert werden: 4 explizites Zurückstellen von Aufgaben die zurzeit nicht lösbar sind; 4 Ermunterung, die Probleme zu zeigen (Symptomverschreibung); 4 Unterlassen von Hilfen und Kämpfen (experimentell); Weglassen von Problemlösungsversuchen (vorübergehend und für den Therapeuten); 4 Formulierung/Definition von lösbaren Aufgaben, insbesondere Formulierung von diagnostischen Aufgaben [Prinzip der kleinen (winzigen) lösbaren Schritte].
18.4.3 Verbesserung des Umgangs mit
der psychischen Störung Kernbereich der kognitiv-behavioralen Familieninterventionen ist die störungsbezogene Psychoedukation und Problemlösung. Auf die Psychoedukation müssen wir hier nicht weiter eingehen, da sie mittlerweile zum Standardrepertoire der Kinder- und Jugendlichentherapie gehört. Exemplarisch ist sie z. B. im Band Wackelpeter und Trotzkopf – Hilfen bei hyperkinetischem und oppositionellem Verhalten (Döpfner et al. 1999) umgesetzt. In der praktischen Zusammenarbeit mit Familien steht die »störungsbezogene Problemlösung« im Vordergrund, d. h. die gemeinsame Beschäftigung mit der Frage, was die Familie tun kann, damit die Probleme gemildert oder gelöst bzw. vom Patienten besser bewältigt werden können oder damit die negativen Folgewirkungen der Erkrankung des Patienten abgemildert werden. Um dies zu erreichen, können eine ganze Reihe von Methoden genutzt werden, die in der Verhaltenstherapie seit Langem bekannt sind.
Abfolge und Methoden bei der störungsbezogenen Problemlösung Voraussetzung ist eine ausführliche Psychoedukation zum vorliegenden Störungsbild, zu den Therapiemöglichkeiten und darüber, was Patienten und Eltern zur Problemlösung beitragen können. 1. Verhaltensbeobachtung und -Beschreibung: Die Familienmitglieder werden angeleitet, die problematischen Verhaltensweisen/Interaktionen genau zu beobachten und konkret zu beschreiben. Als spezielle verhaltensdiagnostische Methoden können hierbei genutzt werden: 4 systematische Beobachtung mit Hilfe von Beobachtungsbögen, die als »Hausaufgabe« mitgegeben werden; 4 Rollenspielübungen mit Videoaufnahmen und Rückmeldung. 2. Verhaltensanalyse: Gemeinsam mit der Familie werden Verhaltensanalysen nach dem S-O-R-C-K-Schema zur Symptomatik und zu den elterlichen Reaktionen hierauf durchgeführt. Sehr hilfreich ist dabei die graphische Veranschaulichung.
18.4.4 Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion
und der Familienbeziehungen
18
Im dritten Arbeitsbereich geht es um den allgemeinen Umgang von Eltern und Kindern miteinander. Hier ist es sinnvoll, zwischen den Altersgruppen zu unterscheiden: 4 Wenn es sich um Kinder – etwa bis zum Alter von 12 Jahren – handelt, steht die Elternarbeit bzw. das Elterntraining im Vordergrund. Hierzu gehört die Ver-
3. Festlegung von neuen Verhaltensalternativen: Gemeinsam mit der Familie werden konkrete Verhaltensaufgaben (Immer wenn Situation S, dann sollte Person A mit Verhalten V reagieren) oder Familienregeln (z. B. beim Essen; bei Gesprächen; morgens vor dem Weggehen) festgelegt und erprobt. Es ist häufig hilfreich, die Verhaltensaufgaben bzw. Familienregeln schriftlich festzulegen und gemeinsam zu unterschreiben (»Verhaltensvertrag«). Dabei sollte auch festgelegt werden, wie die Durchführung bzw. die Einhaltung der Regeln kontrolliert wird. Bei Verhaltensaufgaben/Familienregeln sollte darauf geachtet werden, 4 dass alle Familienmitglieder beteiligt werden, 4 dass neue Zuständigkeiten und Aufgabenverteilungen (z. B. Verantwortungsübernahme durch den Vater) ausprobiert werden. 4. Erprobung der Verhaltensaufgaben/Familienregeln im häuslichen Umfeld. 5. Rückmeldung der Beobachtungen in den nächsten Therapiestunde und Neufestlegung der Schritte (1) bis (4).
besserung der Erziehungskompetenz durch das Kennenlernen und Einüben der Prinzipien der Verhaltenssteuerung und Verhaltensmodifikation. 4 Wenn es sich um Jugendliche – etwa ab 12 Jahren – handelt, ist es sinnvoll, mit Eltern und Jugendlichen gemeinsam an einer Verbesserung der Kommunikation und der gemeinsamen Problemlösung zu arbeiten und dysfunktionale Beziehungseinstellungen und -erwartungen zu klären und zu verändern.
285 18.4 · Interventionsmethoden
. Tab. 18.2. Beispiel für Methoden in Elterntrainings: Belohnungssysteme. (Nach Mattejat u. Ihle 2006) Allgemeine Richtlinien
Konkrete Instruktionen
Stelle dem Kind das Belohnungssystem als Methode dar, ihm zu helfen, erwünschtes Verhalten zu erlernen.
Definiere das Zielverhalten klar.
Alle Erziehungspersonen sollten das Belohnungssystem verstehen und es mittragen.
Entscheiden Sie, wann und wo das »Monitoring« stattfinden soll.
Altersangemessenes Material benutzen (Kinder: lachende Gesichter, Sterne zum Kleben; Jugendliche: Punkte).
Eine Tabelle (Punkte, lachende Gesichter) erstellen.
Punkte unmittelbar nach dem Auftreten des Zielverhaltens vergeben; dies beschleunigt das Lernverhalten.
Dem Kind erklären, dass es Punkte/lachende Gesichter gewinnen kann, wenn es das Zielverhalten zeigt.
Versuche herauszufinden, wie das Belohnungssystem noch genauer eingestellt oder »nachjustiert« werden kann, um die Erfolge zu maximieren.
Bitte das Kind, eine Liste mit »Preisen« zu erstellen, die es mit den gewonnenen Punkten eintauschen kann.
Wenn keine Preise gewonnen werden, so muss das Zielverhalten reduziert oder klarer definiert werden, oder die »Kosten« für den Preis müssen gemindert werden.
Vereinbare, wie viele Punkte für die einzelnen Preise notwendig sind.
Die Zielverhaltensweisen sollten weniger als fünf umfassen.
Kontrolliere die Umsetzung des vereinbarten Plans und prüfe dessen Wirksamkeit.
In manchen Therapieprogrammen werden auch Elterntraining und Familien-Problemlösungstraining kombiniert, etwa indem sie aufeinander aufbauend nacheinander durchgeführt werden (z. B. Barkley et al. 1999).
Elterntrainings für Familien mit Kindern bis 12 Jahren Weersing und Weisz (2002) haben die wichtigsten gemeinsamen Komponenten von Elterntrainings, die sich bei sozial störendem Verhalten von Kindern als wirksam erwiesen haben, zusammengestellt. In den als effektiv bestätigten Elterntrainings erhalten die Eltern Anleitung zur Entwicklung eines effektiven und adäquaten Erziehungsverhaltens. Dies bedeutet konkret, dass sie angeleitet werden 1. klare verhaltensbezogene Ziele zu setzen, 2. das Verhalten des Kindes/Jugendlichen zu beobachten und zu beaufsichtigen, 3. erwünschtes Verhalten zu verstärken, 4. auf störendes Verhalten nicht einzugehen, 5. milde Bestrafungsmethoden einzusetzen, 6. klare Anweisungen und Anforderungen zu geben, 7. einen positiven Kommunikationsstil zu entwickeln. Den Einsatz von Belohnungssystemen illustriert . Tab. 18.2.
Interventionen für Familien mit Jugendlichen ab 12 Jahren Die Methoden, die in Elterntrainings verwendet werden, sind teilweise auch noch im Jugendalter nützlich, dabei müssen sie aber altersentsprechend angepasst werden. In der therapeutischen Arbeit mit Familien von Jugendlichen werden diese Methoden durch Kommunikationstraining, Problemlösetraining und kognitive Interventionen ergänzt. Wenn wir es mit Familien zu tun haben, in denen ein offener Konflikt zwischen Eltern und Jugendlichen besteht, so wie
dies häufig bei extraversiven Symptomen der Fall ist, steht ein strukturiertes Familien-Problemlösetraining im Zentrum der Interventionen. Bei introversiven Störungen (z. B. Angstsymptomen oder depressiven Störungen) gehen die Familienmitglieder manchmal in ängstlicher oder übervorsichtiger Weise miteinander um, und die familiäre Kommunikation und Problemlösung ist eher dadurch blockiert, dass unterschwellige Konflikte nicht offen angesprochen werden können, häufig bleiben dabei auch die wechselseitigen Erwartungen aneinander unklar. Bei der Arbeit mit diesen Familien hat die Therapie eine andere Zielrichtung als bei extraversiven Störungen mit offenen Konflikten. Es geht nicht um die Einübung eines strukturierten und geordneten Umgangs miteinander, sondern darum, die Probleme überhaupt einmal offen anzusprechen. Es stehen somit eher klärungsorientierte Methoden im Vordergrund.
Kognitiv-behaviorale Interventionen für Familien mit Jugendlichen ab 12 Jahren 4 Extraversive Probleme Überwiegend bewältigungsorientierte Methoden; Schwerpunkt Kompetenzerwerb und Verhaltensänderung; hohe Strukturierung durch den Therapeuten 1. Kommunikation: Kommunikationstraining mit Einführung und Einübung von Regeln einer produktiven Kommunikation 2. Problemlösung: Explizites strukturiertes Familien-Problemlösungstraining in einer festgelegten Abfolge, z. B. nach Robin u. Foster 1989 6
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286
Kapitel 18 · Familienintervention
3. Einstellungen: Identifikation, Überprüfung und Veränderung von dysfunktionalen Einstellungen, Erwartungen, Überzeugungen und Zielen durch kognitive Methoden wie z. B. Realitätstestung 4 Introversive Probleme Überwiegend klärungsorientierte Methoden; Schwerpunkt sind Änderungen im kognitiv-motivationalen Bereich; geringere Strukturierung durch den Therapeuten 1. Erläuterung von Regeln einer produktiven Kommunikation; ggf. Einübung von einzelnen Kommunikationsregeln; Ermutigung zum Ausdruck der eigenen Perspektive 2. Austausch der unterschiedlichen Wahrnehmungen, Interpretationen und Bewertungen durch perspektivische Gesprächsführung 3. Infragestellung, Überprüfung der Einstellungen, Erwartungen, Überzeugungen und Ziele durch kognitive Methoden wie sokratische Gesprächsführung, Realitätstesten und systemische Fragen
18.5
Anwendungsbereiche und Indikationsstellung
In der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist es – im Sinne des Familienkooperationsmodells – praktisch immer sinnvoll und wichtig, die Zusammenarbeit und Abstimmung mit den Eltern bzw. den Sorgeberechtigten und sonstigen Bezugspersonen zu suchen. Nur in extremen Ausnahmefällen (z. B. wenn ein Kind wegen akuter Gefahr aus einer Famlie herausgenommen wurde und sein Aufenthaltsort zu seinem Schutz verheimlicht werden muss) muss von dieser Regel abgewichen werden. ! Es ist somit so gut wie immer angezeigt, ein familiendiagnostisches Gespräch durchzuführen, der Familie das Therapiekonzept im Rahmen des Beratungsund Planungsgesprächs zu erläutern und auch im weiteren Verlauf den Informationsaustausch aufrechtzuerhalten.
18
Im Regelfall gelingt es, diese Mindestanforderungen einer guten Zusammenarbeit zu realisieren; allerdings ist es dabei meist leichter, die Mutter für eine enge Kooperation zu gewinnen, während Väter eher dazu neigen, aus diesem Prozess »auszusteigen«. Diagnostik, Beratung, Psychoedukation und eine basale Abstimmung mit der Familie ist somit in praktisch allen Fällen indiziert. Ob weiterführende familienorientierte Interventionen angezeigt sind oder nicht, ist vom Ergebnis der familien- und umfelddiagnostischen Untersuchungen abhängig.
Ausgangspunkt für die Therapieplanung ist zunächst die zentrale Zielsetzung, die in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie im typischen Falle darin besteht, die Symptomatik des Kindes zu reduzieren bzw. seine aktuellen Probleme abzumildern oder zu bewältigen. Diese allgemeine Zielsetzung kann umso besser erreicht werden, 4 wenn die Therapievoraussetzungen bei den Eltern günstig sind, 4 wenn die Eltern die psychische Störung besser verstehen und Strategien lernen, damit besser umzugehen, 4 wenn die Eltern-Kind-Interaktion funktional und altersäquat gestaltet ist und 4 wenn die Familie nicht durch weitere schwere Probleme belastet ist. Wenn umgekehrt in einem dieser vier familienorientierten Interventionsbereiche (7 Abschn. 18.4.1) ernsthafte Probleme bestehen, ist eine ausschließlich individuell orientierte Therapie wahrscheinlich nicht ausreichend, sondern es sind zusätzlich familienorientierte Interventionen angezeigt. Die Therapiebausteine, die dabei in Betracht zu ziehen sind, wurden bereits in 7 Abschn. 18.4 erläutert. Die Indikationsstellung für familienorientierte Interventionen ist somit in erster Linie davon abhängig, welche familiären Probleme bzw. welche Interventionsbereiche im jeweiligen Einzelfall im Vordergrund stehen. Bei der Indikationsstellung für Familieninterventionen ist auch das individuelle Störungsbild und das Alter des Patienten von Relevanz. Zur allgemeinen Orientierung kann man sich diesbezüglich an den folgenden Indikationsregeln orientieren, die durch die vorliegenden empirischen Ergebnisse der Therapieforschung (7 Abschn. 18.6) abgeleitet sind: 4 Bei extraversiven Störungen (Störung des Sozialverhaltens) steht die Eltern-/Familienkomponente meist im Zentrum, sie ist in der Regel unabdingbar. Familienorientierte Interventionen sind hier empirisch klar bestätigt und ausschließlich individuell orientierten Behandlungskonzepten überlegen. 4 Bei manchen introversiven Störungen ist die Elternund Familienkomponente ein wesentlicher Baustein der Behandlung (z. B. bei Schulverweigerung; Trennungsangst); bei anderen introversiven Störungen (z. B. sonstigen Angststörungen) stehen eher patientenorientierte Interventionen im Vordergrund und werden durch familienorientierte Interventionen ergänzt. 4 Die Bedeutung der Eltern- und Familieninterventionen sinkt mit dem Alter der Kinder. Im Vorschul- und Grundschulalter ist die elternbezogene Arbeit bedeutsamer, in der mittleren und späteren Adoleszenz nimmt die Eltern- und Familienkomponente eine vergleichsweise geringere Bedeutung ein.
287 18.6 · Effektivität und Wirkmechanismen
18.6
Effektivität und Wirkmechanismen
Die Befunde zur Wirksamkeit familienorientierter Ansätze sind in einer Reihe von Übersichtsarbeiten dargestellt; zu ihnen zählen insbesondere die Arbeiten von Cotrell und Boston (2002), Fonagy et al. (2002), Sexton et al. (2004) und von Sydow et al. (2006). Die wichtigsten Ergebnisse aus diesen Arbeiten sind bei Mattejat und Ihle (2006), Ihle und Jahnke (2005) und Mattejat et al. (2006) zusammenfassend referiert. Psychoedukative Ansätze. Die Wirksamkeit von psycho-
edukativen Familieninterventionen im beschriebenen Sinne sind bei Erwachsenen klar nachgewiesen (vgl. hierzu Stieglitz 2002): Durch diese Interventionen kann z. B. die Rückfallhäufigkeit (Rehospitalisierung von schizophrenen bzw. depressiven Patienten) deutlich vermindert werden. Kritisch muss hierzu allerdings vermerkt werden, dass bisher kaum Studien vorliegen, in denen solche psychoedukativen Programme speziell bei jugendlichen Patienten mit schizophrenen oder affektiven Störungen überprüft wurden. Elterntrainings. Kognitiv-behaviorale Elterntrainings
(»parent management training«, PMT) wurden besonders häufig bei oppositionellen und aggressiven Verhaltensweisen im Vorschulalter und im Grundschulalter eingesetzt. In diesen Behandlungsmodellen werden Eltern darin trainiert, das Verhalten ihres Kindes im häuslichen Milieu systematisch zu beeinflussen. Kazdin (2003) kommt in seiner Übersichtsarbeit zum Schluss, dass kognitiv-behaviorale Elterntrainings »wahrscheinlich die am besten untersuchte Therapietechnik für Kinder und Jugendliche darstellt«. Elterntrainings wurden in einer großen Zahl von randomisierten kontrollierten Studien bei unterschiedlichen Altersgruppen von Kindern mit oppositionellen und dissozialen Verhaltensproblemen überprüft, wobei die Wirksamkeit klar nachgewiesen werden konnte. Weersing und Weisz (2002) haben die wichtigsten gemeinsamen Komponenten von Elterntrainings, die sich bei sozial störendem Verhalten als wirksam erwiesen haben, zusammengestellt (7 Abschn. 18.4.4). Die einzelnen Elterntrainings unterscheiden sich in der spezifischen Mischung der Fertigkeiten, die gelehrt werden, und darin, wie stark zusätzlich die Entwicklung einer positiven Eltern-Kind-Beziehung betont wird. Familientherapien im engeren Sinne. Familientherapien
im engeren Sinne wurden bisher insbesondere im Hinblick auf extraversive Störungen (insbesondere oppositionelle und dissoziale Störungen), Drogenmissbrauch und Essstörungen (Eisler et al. 2000; Robin u. Siegel 1999; Robin et al. 1999) erfolgreich überprüft. Im Hinblick auf dissoziale Verhaltensstörungen und Delinquenz existieren eine Reihe von Studien, in denen gezeigt wurde, dass die funktionale Familientherapie (Alexander u. Parsons 1982; Heekerens 2006)
und die multisystemische Behandlung (MST) aus der Arbeitsgruppe um Henggeler (Henggeler et al. 2002, Henggeler u. Sheidow 2006) sehr effektive Behandlungsformen für Jugendliche mit dissozialen Störungen darstellen. Auch für Drogenabhängigkeit und Essstörungen liegen Wirksamkeitsnachweise für familienorientierte Verfahren vor. Viele empirische Therapiestudien, die in neuerer Zeit durchgeführt werden, stellen nicht mehr einzelne Methoden in den Vordergrund, sondern überprüfen die Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen, die häufig aus ganz verschiedenen Komponenten bestehen. Wenn wir die einzelnen Komponenten der empirisch validierten störungsspezifischen Therapieprogramme genauer betrachten, wird deutlich, dass in diesen Programmen häufig familienorientierte Interventionen enthalten sind (Carr 2000; Fonagy et al. 2002). Die meisten Programme enthalten z. B. eine störungsspezifische Psychoedukation für die Eltern; in vielen Programmen werden außerdem das Kontingenzmanagement und operante Belohnungspläne genutzt. In . Tab. 18.3 sind die Ergebnisse einer Auswertung von aktuellen ausgewählten Metaanalysen zur Wirksamkeit von psychotherapeutischen Interventionen bei den vier häufigsten Störungen im Kindes- und Jugendalter dargestellt. Sie wurde zusammengestellt auf Basis der Arbeiten von Bachmann et al. (2008a,b). Aus der Tabelle geht hervor, dass bei extraversiven Störungen (ADHS und Störungen des Sozialverhaltens) familienorientierte Interventionen die besten Wirksamkeitsnachweise haben; bei introversiven Störungen (Angststörungen und depressive Störungen) dagegen ist die Frage noch nicht hinreichend geklärt, ob die Effektivität der Therapie durch den Einbezug der Eltern bzw. der Familie deutlich verbessert werden kann. Schließlich liegen uns einige Untersuchungen vor, die uns Hinweise darüber geben, wie (über welche Mechanismen) familienorientierte Interventionen ihre Wirkungen entfalten (Weersing u. Weisz 2002): Die Befunde bei der Therapie von dissozialen Störungen sprechen dafür, dass die symptomatische Verbesserung bei den Jugendlichen (Reduktion der dissozialen Verhaltensweisen) über familiäre Prozessvariablen vermittelt wird. Das heißt, der patientenbezogene Therapieerfolg ist signifikant korreliert mit der Verbesserung der elterlichen Beaufsichtigung des Patienten, mit einer Verbesserung der elterlichen Erziehungspraktiken und einer allgemeinen Verbesserung der Familienfunktionen, die sich in einer Veränderung des affektiven Umgangstons, einer Erhöhung der familiären Kohäsion und einer klareren Abgrenzung der Familiensubsysteme zeigt. Diese Befunde sprechen dafür, dass das familiäre Funktionieren tatsächlich als Mediator im Hinblick auf den Therapieerfolg zu betrachten ist. Hierdurch wiederum wird verständlich, dass familientheoretische Interventionen bei Kindern mit oppositionellen Verhaltensstörungen und bei dissozialen Jugendlichen günstigere längerfristige Effekte aufweisen können als andere Interventionsformen (höhere Stabilität bzw. Nachhaltigkeit der Therapieeffekte).
18
288
Kapitel 18 · Familienintervention
. Tab. 18.3. Wirksamkeit von psychotherapeutischen Interventionen bei den vier häufigsten Störungen im Kindes- und Jugendalter: Auszug aus einer zusammenfassenden Auswertung aktueller Metaanalysena. (Nach Bachmann et al. 2008a,b) Störung
Wirksamkeit
Metaanalysen
Angststörungen
Gut bestätigt: Kognitiv-behaviorale Interventionen mit oder ohne Elterntraining bzw. Familienmanagement: mittlere bis große Effektstärken bei Behandlungsende und beim Follow-up. Erläuterung: Zur Wirksameit des Elterneinbezugs (Elterntraining/Familienmanagement) sind die Ergebnisse divergent; teilweise finden sich Hinweise auf eine Effektverbesserung durch Elterneinbezug, insbesondere bei jüngeren Kindern.
Schneider u. In-Albon, 2006; In-Albon u. Schneider 2007; Beelmann u. Schneider 2003; James et al. 2005
Depressive Störungen
Gut bestätigt: Kognitiv-behaviorale Interventionen für Kinder und Jugendliche mit oder ohne Elterntraining bzw. Familienmanagement: kleine bis mittlere Effektstärken bei großer Bandbreite. Erläuterung: Es ist noch nicht hinreichend geklärt, ob eine Eltern-Kind-Behandlung einer ausschließlich patientenbezogenen Behandlung überlegen ist (wahrscheinlich keine Überlegenheit bei Jugendlichen, möglicherweise aber bei Kindern).
Weisz et al. 2006; Watanabe et al. 2007; Michael u. Crowley 2002; Michael et al. 2005
ADHS
Gut bestätigt: Behaviorale Elterntrainings: kleine bis mittlere Effekte bei großer Bandbreite. Erläuterung: Die Effekte auf ADHS-Kernsymptomatik sind eher gering; die Effekte auf internalisierende Begleitsymptome und oppositionelle Verhaltensauffälligkeiten höher.
Corcoran u. Dattalo 2006; Beelmann u. Schneider 2003; Majewicz-Hefley u. Carlson 2007
Störungen des Sozialverhaltens
Gut bestätigt: a) Mehrdimensionale/multisystemische strukturierte Eltern-Kind- oder Familieninterventionen (z. B. multisystemische Therapie, funktionale Familientherapie): zumeist mittlere Effekte. b) Elterntrainings: kleine bis mittlere Effekte. Erläuterung: Für Kinder sind wahrscheinlich Elterntraining am besten geeignet; bei Jugendlichen sind wahrscheinlich mehrdimensionale Familieninterventionen effektiver.
Curtis et al. 2004; Dretzke et al. 2005; Littell et al. 2005; McCart et al. 2006
a
In die Auswertung gingen die methodisch und inhaltlich am besten qualifizierten Metaanalysen ein, die von 2000 bis 2007 publiziert wurden.
18.7
18
Ausblick
Manchmal werden »Verhaltenstherapie« und »Familientherapie« als unterschiedliche, ja gegensätzliche psychotherapeutische Ansätze kontrastiert. Der Grund für diese Gegenüberstellung liegt darin, dass sich familientherapeutische und systemische Ansätze relativ unabhängig von der Verhaltenstherapie entwickelt haben und sich auch heute als eigenständige psychotherapeutische Tradition verstehen. Dabei wird leicht übersehen, dass eltern-, familien- und umfeldorientierte Interventionen seit jeher einen unverzichtbaren Bestandteil der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen bilden. Elterntrainings und kognitiv-behaviorale Familieninterventionen gehören zu den am besten evaluierten Behandlungsansätzen im Kinder- und Jugendlichenbereich; gerade die familientherapeutischen Ansätze, die explizit verhaltenstherapeutisch konzipiert sind oder die ein klar strukturiertes Vorgehen praktizieren und verhaltenstherapeutische Methoden nutzen, haben die besten Wirksamkeitsnachweise.
In den letzten Jahren haben störungspezifische Therapiemanuale eine wachsende Bedeutung gewonnen; durch sie erhalten Psychotherapeuten eine Fülle von konkreten und hilfreichen Handlungsvorschlägen für die Therapie bei einem bestimmten Störungsbild. Hierbei wird nicht hinreichend berücksichtigt, dass ein sinnvolles Behandlungskonzept mehr berücksichtigen muss als nur die psychiatrische Diagnose. Nur wenn die Therapiemaßnahmen auf die individuellen Lebensbedingungen und die Familiensituation des Kindes bzw. Jugendlichen abgestimmt sind, können sie dem Patienten effektiv helfen. Um dies zu erreichen, ist eine transparente Kooperation mit dem Kind und seinen Eltern bzw. Bezugspersonen notwendig. Für die Zukunft wäre es deshalb wünschenswert, Behandlungskonzepte zu spezifizieren, die nicht nur vom individuellen Störungsbild ausgehen, sondern auch die Kontextvariablen besser berücksichtigen. Die Therapieforschung hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, störungs- und kontextspezifisch abzuklären, welche Kombination von individuellen und famlienorientierten Interventionen die besten Erfolgsaussichten hat.
289 Literatur
Zusammenfassung Die Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie verfügt über ein breites Spektrum von eltern- und familienbezogenen Interventionsmöglichkeiten. Nach einem Überblick über die wichtigsten Interventionsansätze (Psychoedukation, Elterntrainings, kognitiv-behaviorale Familientherapien) werden Prinzipien und Ablauf der Zusammenarbeit mit Eltern und Familien erläutert. Ein wesentliches Ziel besteht dabei darin, in transparenter und gut nachvollziehbarer Weise ein Therapiekonzept zu entwickeln, das von den Eltern bzw. der Familie mitgetragen und unterstützt wird. Ein solches Therapiekonzept kann sowohl individuenzentrierte wie auch familienzentrierte Interventionen umfassen. Familienorientierte Interventionen beziehen sich auf vier Interventionsbereiche: 1. Therapievoraussetzungen, 2. Umgang mit der psychischen Störung, 3. Eltern-Kind-Interaktion und 4. sonstige Familienprobleme. Zu jedem dieser Bereiche werden Interventionsmethoden vorgestellt und exemplarisch erläutert. Abschließend wird aufgezeigt, dass die Effektivität von familienorientierten Interventionen bei extraversiven Störungen gut nachgewiesen ist; bei introversiven Störungen dagegen ist noch nicht hinreichend geklärt, ob und unter welchen Bedingungen die Effektivität durch Familieninterventionen erhöht werden kann.
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18
290
18
Kapitel 18 · Familienintervention
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18
III
III Spezifische Störungen 19
Regulationsstörungen – 295 Dieter Wolke
20
Bindungsstörungen – 313 Ute Ziegenhain
21
Autistische Störungen – 331 Fritz Poustka
22
Intellektuelle Beeinträchtigung – 351 Germain Weber, Johannes Rojahn
23
Stottern – 367 Peter Fiedler
24
Enuresis und Enkopresis
– 381
Susanne Schreiner-Zink, Pia Fuhrmann, Alexander von Gontard
25
Lese-/Rechtschreibstörung – 395 Karin Landerl
26
Aufmerksamkeitsstörung – 411 Peter F. Schlottke, Ute Strehl, Gerhard W. Lauth
27
Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten – 429 Manfred Döpfner
28
Störungen des Sozialverhaltens – 453 Friedrich Lösel, Daniela Runkel
29
Trennungsangst
– 481
Silvia Schneider, Judith Blatter
30
Spezifische Phobien Barbara Schlup, Silvia Schneider
31
Soziale Phobie
– 531
Siebke Melfsen, Andreas Warnke
– 503
32
Selektiver Mutismus – 555 Siebke Melfsen, Andreas Warnke
33
Prüfungsängste – 573 Lydia Suhr-Dachs
34
Generalisierte Angststörung – 593 Tina In-Albon
35
Posttraumatische Belastungsstörung – 609 Markus A. Landolt
36
Zwangsstörung – 629 Michael Simons
37
Ticstörungen – 647 Manfred Döpfner
38
Depression/Suizidalität
– 663
Patrick Pössel
39
Adipositas und Binge Eating Disorder
– 689
Simone Munsch
40
Anorexia nervosa
– 719
Beate Herpertz-Dahlmann, Reinhild Schwarte
41
Schlafstörungen – 739 Leonie Fricke-Oerkermann
42
Substanzmissbrauch und -abhängigkeit Eva Hoch, Roselind Lieb
43
Neurodermitis
– 785
Viktoria Ritter, Ulrich Stangier
44
Chronischer Schmerz
– 803
Birgit Kröner-Herwig
45
Asthma bronchiale Petra Warschburger
– 819
– 763
19
19 Regulationsstörungen Dieter Wolke
19.1
Einleitung
– 296
19.2
Darstellung der Störungen – 296
19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4
Exzessives Schreien – 296 Schlafprobleme – 296 Fütterungs- und Essprobleme – 297 Frühkindliche Regulationsstörung – 297
19.3
Verlauf
19.3.1 19.3.2
Persistenz – 297 Langzeitfolgen – 298
19.4
Kognitiv-verhaltenstheoretisches Störungskonzept – 298
19.5
Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen
19.5.1 19.5.2 19.5.3
Exzessives Schreien und Schlafprobleme – 300 Fütterungs- und Essprobleme – 305 Weitere Probleme des Kleinkindalters: Wutanfälle und Trennungsangst – 307
19.6
Fallbeispiele
19.6.1 19.6.2
Fallbeispiel 1: Schlaf- und Schreiproblem Fallbeispiel 2: Essverweigerung – 308
19.7
Empirische Belege
19.8
Ausblick
– 297
– 308
– 310
Zusammenfassung Literatur
– 309
– 310
– 310
Weiterführende Literatur
– 312
– 308
– 300
296
Kapitel 19 · Regulationsstörungen
19.1
Einleitung
»Du hast alles getan, gefüttert, sie auf den Arm genommen und bist wiegend herumgelaufen, und sie schreit und schreit. Du bist frustriert und schüttelst sie in Erregung und Wut.« Schreien und resultierende Frustration ist der häufigste Grund für das gewaltsame Schütteln von Kleinkindern (Barr et al. 2006) und die Hauptursache der Misshandlung und Tötung von Kleinkindern (Barlow u. Minns 2000; National Center on Shaken Baby Syndrome: http://www. dontshake.org). Kinder, die das Schütteln überleben, haben häufig bleibende neurologische und Lernprobleme (Barlow et al. 2005). Gewaltsames Schütteln steht meist am Ende einer Eskalation von Maßnahmen, die dazu dienen sollen, das Baby »endlich zu beruhigen«. Mehr oder weniger alle Eltern erleben Momente großer Erregung and Frustration, wenn etwa ihr Kind nicht isst oder in der Nacht nicht aufhören will zu schreien. Säuglinge und Kleinkinder mit frühen Regulationsstörungen stellen eine besondere Herausforderung für Eltern dar. Dieses Kapitel gibt einen Überblick über Störungsbild, Entstehungsbedingungen und Langzeitfolgen für die betroffenen Kinder. Dabei werden Diagnostik und Behandlung der drei Regulationsstörungen Schrei-, Schlaf- und Fütterungsprobleme in den ersten beiden Lebensjahren dargestellt. Das vorliegende Kapitel möchte einen Beitrag für die bessere Betreuung von Eltern leisten, die unter den Regulationsproblemen ihrer Kinder leiden. Darüber hinaus soll veranschaulicht werden, wie eine bessere und professionellere Betreuung gestresster Eltern zur Prävention von Kindesmisshandlung und Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter beiträgt.
19.2
Andere klinische Symptome, wie Beine anziehen, Blähungen oder Erbrechen, können, müssen aber nicht auftreten. Etwa 10–20% der Eltern berichten über belastende Schreiprobleme in den ersten Lebensmonaten.
19.2.2 Schlafprobleme
Große Veränderungen in der physiologischen Schlaforganisation, dem zirkadischen (Tag–Nacht) und ultradianen (innerhalb des Tages) Rhythmus und in der Schlafdauer finden im ersten Lebensjahr statt (Wolke 1994b, 2001b). Die zirkadische Schlaf-Wach-Organisation beginnt in den ersten Lebenswochen mit zunehmender Platzierung der längsten Schlafperioden in der Nacht. Die Differenzierung in aktiven (»rapid eye movements«, REM), leichten (»non rapid eye movements«, NREM-Stadium 1,2) und tiefen Schlaf (NREM-Stadium 3,4) vollzieht sich in der ersten Hälfte des ersten Lebensjahres. Mit ca. 6–8 Lebensmonaten ist der Schlaf des Säuglings dem des Erwachsenen strukturell sehr ähnlich, allerdings haben Kleinkinder noch mehrere Schlafphasen während des Tages. Die Schlafdauer reduziert sich von ca. 14–16 Stunden beim Neugeborenen auf ca. 12–13 Stunden beim Zweijährigen. Kleinkinder haben vor allem Ein- und Durchschlafprobleme. Im strengen Sinne sind dies zumeist keine Probleme für die Kleinkinder, sondern Belastungen für die Eltern.
Darstellung der Störungen
19.2.1 Exzessives Schreien
Die Schreidauer zeigt einen charakteristischen Verlauf beim »normalen« Säugling (Wolke 1994a, 2003): 4 Die Schreidauer steigt von ca. 1,75 Stunden pro Tag auf ca. 2,5 Stunden bis zur 6. Lebenswoche an. 4 Sie sinkt auf ca. 1 Stunde bis zum 4. Lebensmonat. 4 Sie stabilisiert sich bis zum Ende des 1. Lebensjahres auf diesem Niveau. 4 Etwa 40% aller Säuglinge schreien während der ersten 3 Lebensmonate am meisten in den Abendstunden zwischen 16.00 und 23.00 Uhr.
19
Schreien und Nörgeln länger als 3 Stunden am Tag an mehr als 3 Tagen pro Woche während der letzten 3 Wochen (Wessel et al. 1954).
Exzessives Schreien, oft auch als Kolikenschreien bezeichnet, ist definiert durch eine erhöhte Dauer des Schreiens. Die am besten akzeptierte Definition ist die sog. DreierRegel:
4 Durchschlafprobleme liegen vor, wenn das Kind älter als 6 Monate ist und an 5 Nächten pro Woche mindestens einmal pro Nacht (zwischen 0 und 5 Uhr) aufwacht. 4 Schwere Durchschlafprobleme liegen vor, wenn es mehrmals pro Nacht aufwacht. 4 Einschlafprobleme liegen vor, wenn das Kind länger als eine Stunde zum Einschlafen braucht.
Die Prävalenz von Durchschlafproblemen liegt bei ca. 20–25% (Wolke 1994a; Wolke et al. 1994a; Stores 2006). Schwere Durchschlafstörungen, bei denen das Kind mehrmals pro Nacht aufwacht, treten bei etwa 10–15% der Kinder im Vorschulalter auf.
297 19.3 · Verlauf
19.2.3 Fütterungs- und Essprobleme
19.2.4 Frühkindliche Regulationsstörung
Alle gesunden Säuglinge nehmen zunächst Flüssigkeit durch Stillen oder die Flasche zu sich. Zwischen dem 3. und 6. Lebensmonat wird feste Nahrung eingeführt, und zwischen dem 9. und 15. Lebensmonat möchte sich das Kind zunehmend selbst, zuerst mit den Händen, dann mit dem Löffel, füttern (Wolke 1994b). Erfolgreiches Füttern (Wolke et al. 2006) setzt voraus: 4 die anatomische Reifung, 4 die Entwicklung angemessener oral-motorischer Fähigkeiten (von Lippenschluss bis Kauen), 4 eine angemessene Positionierung beim Füttern 4 und eine angemessene Eltern-Kind-Interaktion.
Die Forschung der letzten 10 Jahre weist darauf hin, dass bei ca. 2–4% aller Säuglinge im Alter von 4–12 Monaten Schrei-, Schlaf und Fütterungsprobleme gemeinsam auftreten (Wolke et al. 1995a; Papoušek et al. 2008) und die Kernsymptome einer Regulationsstörung darstellen (Wolke 2006).
Etwa 0,4% aller Klinikeinweisungen werden aufgrund von schweren Fütterungsproblemen vorgenommen. Bei etwa 1,4% der Kinder werden schwere Fütterungsprobleme durch niedergelassene Ärzte identifiziert, und ca. 20–25% der Eltern berichten von Fütterungsproblemen in den ersten 2 Lebensjahren (Lindberg et al. 1991). In den ersten 6 Lebensmonaten sind die häufigsten Probleme: 4 tägliches Erbrechen (3–6%), 4 Essverweigerung (2%), 4 Verweigerung jeglicher fester Nahrung (4–5%), 4 geringer Appetit (1–2%), 4 Schluckprobleme (ca. 1%). Bei ca. 5% finden sich Schwierigkeiten beim Abstillen. Leichtere Probleme, wie z.B. vorübergehende Stillschwierigkeiten, sind in diesen Prävalenzangaben nicht berücksichtigt. Nach dem 6. Lebensmonat sind die häufigsten Fütterungsprobleme: 4 Verweigerung jeglicher Nahrung (ca. 3%), 4 Verweigerung fester Nahrung (ca. 4%), 4 geringer Appetit (ca. 3%). Essverweigerer zeigen in über der Hälfte der Fälle eine Wachstumsretardierung, d. h. sie nehmen substanziell weniger zu als Normalesser. Eine weitere Diagnose, die Gedeihstörung (»failure to thrive«), kann, muss aber nicht, mit offensichtlichen Essstörungen assoziiert sein.
Charakteristisch für die Gedeihstörung ist ein Abfall des Gewichts unter 1,88 Standardabweichungen (<3. Gewichtsperzentil) in den ersten 2 Lebensjahren.
Die Prävalenz liegt bei ca. 3% in der Kleinkindpopulation (Wolke et al. 1990; Skuse et al 1994a; Blair et al. 2004).
Unter Regulationsstörung wird eine für das Alter oder den Entwicklungsstand des Säuglings außergewöhnliche Schwierigkeit verstanden, sein Verhalten in einem, häufig aber in mehreren Kontext(en) – Selbstberuhigung, Schreien, Schlafen, Füttern, Aufmerksamkeit – angemessen zu regulieren.
Da die kindliche Verhaltensregulation nur im Kontext der Beziehungsregulation möglich ist, gehen frühkindliche Regulationsstörungen regelhaft mit Belastungen oder Störungen der frühen Eltern-Kind-Beziehungen einher. Regulationsstörungen äußern sich in alters- und entwicklungsphasentypischen kindlichen Symptomen. Diese sind im 1. Lebensjahr in erster Linie exzessives Schreien sowie Schlaf- und Fütterstörungen (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie 2007).
19.3
Verlauf
19.3.1 Persistenz Exzessives Schreien. Exzessives Schreien in den ersten
3 Lebensmonaten (Kolikenschreien) hat keinerlei langfristige nachteilige Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes (Lehtonen 2001). Allerdings ist Kolikenschreien der wichtigste Auslöser fur das Schütteln von Säuglingen und »shaken baby syndrome« (Barr et al. 2006.). Schlafprobleme. Schlafprobleme zeigen eine mittlere Persistenz, so dass Kinder mit Durchschlafproblemen in den ersten 2 Lebensjahren etwa 2- bis 3-mal häufiger Durchschlafprobleme im späteren Vorschulalter aufweisen als Durchschläfer (Wolke et al. 1995b). Fütterungs- und Essprobleme. Fütterungsprobleme, insbesondere Essverweigerung und Gedeihstörung, zeigen eine hohe Kontinuität mit keiner oder nur einer geringen Verbesserung des klinischen Bildes in den ersten Lebensjahren. Über Kontinuität der Diagnose Essverweigerung wird bei bis zu 85% der Kinder über die Vorschuljahre hinweg berichtet (Dahl u. Sundelin 1992; Reilly et al. 2006), wobei sich die Symptome jedoch im Jugendalter verringern (Rydell u. Dahl 2005).
19
298
Kapitel 19 · Regulationsstörungen
19.3.2 Langzeitfolgen
Persistierende Schlaf- und Fütterungsprobleme sind assoziiert (z. B. Thünstrom 2002; Scher et al. 2005) mit: 4 einer Häufung von hyperaktivem Verhalten im Vorschulalter, 4 häufigeren Problemen der Eltern-Kind-Interaktion. Spätere Bindungsstörungen sind bei exzessivem Schreien und Essverweigerung beobachtet worden (Meier et al. 2003; Lindberg 1994). ! Die Symptome sind gehäuft Auslöser für körperliche Misshandlung durch die Eltern, z. B. »Mutter erschlug Kind, weil es zuviel schrie« (Münchner Abendzeitung, 3.7.1995) (Barr et al. 2006).
Die vollständige Essverweigerung und Gedeihstörung 4 ist lebensbedrohlich aufgrund von gesundheitlichen Folgeschäden (Infektionserkrankungen, Durchfälle, Anämien etc.). 4 Eine Häufung von plötzlichem Kindstod ist bei Gedeihstörungskindern beobachtet worden. 4 Der relative Gewichtsverlust bei schwerer Fütterungs- und Gedeihstörung, besonders in der ersten Hälfte des 1. Lebensjahres, führt zu stark erhöhten kognitiven Defiziten im Kleinkind- und Vorschulalter (Wolke 1994b; Skuse et al. 1994b), die allerdings bis zur mittleren Kindheit zumeist aufgeholt werden (Corbett u. Drewett 2004). Konsistent nachteilige Folgen für die kindliche Entwicklung wurden für multiple Regulationsstörungen gefunden (d. h. das gemeinsame Auftreten von Schrei-, Schlaf- oder Fütterungsproblemen nach 3 Monaten Lebensalter). Regulationsgestörte Säuglinge zeigen häufiger Hyperaktivitätsund Beziehungsprobleme mit Gleichaltrigen und kognitive oder Schulleistungsprobleme (Papoušek et al. 2008; Wolke et al. 2002; Rao et al. 2004). Alle Störungen führen zu einer starken Belastung der Eltern, die sich oft in psychosomatischen Störungen, Depressionen und Partnerproblemen zeigen. Circa 10–15% aller Eltern suchen Hilfe, vor allem bei Kinderärzten, für exzessives Schreien, 7–14% für Schlafprobleme und ca. 18–20% für Fütterungsprobleme. Viele der Eltern sind jedoch unzufrieden mit der Hilfe, die sie erhalten (z. B. Lindberg et al. 1991; Wolke et al. 1994b), da sowohl Ärzte als auch Psychologen in der Diagnose und Behandlung früher Regulationsstörungen im Studium nicht ausgebildet werden.
19.4
19
Kognitiv-verhaltenstheoretisches Störungskonzept
Schreien, Schlafen und Essen sind primäre biologische Bedürfnisse. Schreien ist die erste Form kindlicher Kommunikation und ein hoch erregendes Signal, das zu erhöhter
Nähe zu den Eltern (z. B. Auf-den-Arm-Nehmen, Reden zum Kind etc.) bzw. zur Nahrungsgabe führt. Schlafen ist notwendig zur Regeneration des Körpers und des ZNS sowie zur Verarbeitung kognitiver Stimuli. Essen ist die Voraussetzung zur ZNS-Entwicklung und zu körperlichem Wachstum, insbesondere im ersten Lebensjahr, da Wachstum zu dieser Zeit fast ausschließlich durch Nahrungsaufnahme und nicht durch Wachstumshormone reguliert wird (Skuse 1993). ! Exzessives Schreien, Durchschlafprobleme und Fütterungsprobleme in den ersten 4–6 Lebensmonaten deuten auf eine nicht genügend entwickelte eigene Kompetenz des Kindes zur internen Regulation von Verhaltensabläufen hin (Wolke 2003, 2006).
Diese sind teilweise durch individuelle Unterschiede der Verhaltensregulation, dem Temperament der Kinder, erklärbar. Die betroffenen Säuglinge sind schwieriger, d. h. weniger anpassungsfähig und reaktiver auf interne und externe Stimuli (z. B. Wolke et al. 1994b; Halpern et al. 1994; Scher 1992; Lindberg 1994). Exzessives Schreien, Schlafoder Fütterungsprobleme treten gleich häufig bei Erst- und Spätergeborenen auf, d. h. sie sind nicht von der Erziehungserfahrung der Eltern als solcher abhängig. Hinweise auf Familiarität, d. h. auf genetische Faktoren, gibt es für frühe Fütterungsprobleme. Zudem unterscheiden sich Kleinkinder in ihrer Entwicklungsgeschwindigkeit, d. h. manche erwerben bestimmte Kompetenzen später als andere (Reifung; z. B. Lippenschluss, Kaubewegungen usw.). ! Die Probleme werden verstärkt und aufrechterhalten durch die Behinderung oder zu geringe Unterstützung der Entwicklung von interner Kontrolle des Kindes.
Es besteht ein dysfunktionales Zusammenwirken von kindlichen Charakteristiken und elterlichem Erziehungsverhalten. Eltern-Kind-Interaktionsstörungen sind daher häufig vorzufinden.
Klassische lerntheoretische Modelle sind in den ersten Lebensmonaten nur bedingt anwendbar, da sich gerade im Säuglingsalter bestimmte neurologische, physiologische und kognitive Voraussetzungen zum Erkennen von Kontingenzen, der Separation und Erkennen von inneren und äußeren Stimuli (kognitive Fähigkeiten) und affektiver Qualitäten entwickeln.
Exzessives Schreien und Schlafprobleme Mit ca. 3–4 Monaten ist eine erste biobehaviorale Veränderung erkennbar, die sich sowohl physiologisch wie auch in kognitiven Fähigkeiten zeigt (Trevarthen 1987; Wolff 1987). Der Säugling kann zwischen inneren und äußeren Stimuli klar und zuverlässig differenzieren und einfache
299 19.4 · Kognitiv-verhaltenstheoretisches Störungskonzept
kausale Zusammenhänge erkennen (sog. primäre Intersubjektivität). Operante Konditionierung beginnt erst jetzt erfolgreich zu sein.
In den ersten 3 Lebensmonaten führt z. B. Aufmerksamkeitsentzug (operante Konditionierung) bei Schreien zu keiner positiven Veränderung des Schreiverhaltens (z. B. Bell u. Ainsworth 1972; Hubbard u. van Izjendoorn 1991), denn die elterliche Intervention ist biologisch sinnvoll.
Temperamentbedingtes (konstitutionelles) Schreien wird jedoch aufrechterhalten oder verstärkt durch Maßnahmen, die dem Kind keine eigene biologische Verhaltenskontrolle erlauben wie z. B.: 4 Fehlen einer für die Verhaltensregulation unterstützenden Regelmäßigkeit des Tagesablaufs, 4 Übermüdung durch sich dauernd ändernde Aktivitäten, 4 überstimulierende Tätigkeiten wie »CocktailshakerTragen« (kräftiges, schnelles »Wiegen« an der Schulter), 4 Unterstimulation aufgrund der Überschätzung des Schlafbedürfnisses. Hierzu gehört auch das Fehlen von Möglichkeiten für das Kind, eigene Kompetenzen der Selbstberuhigung aufzubauen, da differenzielle Antworten auf unterschiedliche Schreisignale fehlen. Konkret bedeutet dies, dass die Eltern jeweils sofort eingreifen und nicht je nach Signal kurz warten, um zu sehen, ob sich das Kind selbst beruhigen kann (Demos 1986; Larson u. Ayllon 1990). Ähnlich ist eine unterstützende und geregelte Organisation der Umwelt für die Entwicklung regelmäßigen Schlafens notwendig. Die neurologischen Voraussetzungen zur zirkadischen Schlaf-Wach-Regulation sind bei der Geburt angelegt (Shimada et al. 1993; Wolke 2003). Der angeborene interne Zeitgeber hat einen 25-Stunden-Rhythmus, der durch externe Zeitgeber auf einen 24-Stunden-Rhythmus sowie Tag- und Nachtschlaf synchronisiert werden muss durch: 4 vor allem Hell-dunkel-Wechsel, 4 regelmäßige Organisation der Umwelt (Essenszeiten, Bettzeiten, Erziehungsmaßnahmen). Kinder müssen erst lernen, nachts durchzuschlafen. Während es biologisch sinnvoll ist, in den ersten Monaten zur Nahrungsaufnahme nachts aufzuwachen (Wolke 1994b; Skuse et al. 1994a), ist dies nach dem 4.–6. Lebensmonat nicht mehr der Fall. Mit ca. 6–8 Monaten zeigt sich eine zweite biobehaviorale Veränderung (z. B. sind nun die physiologischen Grundstrukturen des Schlafes gelegt) und eine klare interne Reprä-
sentation primärer Bezugspersonen entwickelt sich (Fremdeln, Trennungsängste etc.). Kognitives Verständnis von Ursache und Wirkung sowie ein Verständnis von Intentionen anderer sind nachweisbar (sekundäre Intersubjektivität).
Ab dem 6. Lebensmonat sind Schreianfälle und Schlafprobleme durch klassische und operante Lernmodelle erklärbar. Wutanfälle, begleitet von Schreien oder in einem höheren Lebensalter Sich-auf-den-Boden-Werfen, um bestimmte Ziele zu erreichen (z. B. Aufmerksamkeit), werden eingesetzt. Ähnlich schreit und tobt das Kind nachts, um von den Eltern Aufmerksamkeit zu bekommen (um aus dem Bett genommen zu werden, zu spielen etc.).
Fütterungs- und Essprobleme Frühe Saugprobleme und Erbrechen sind häufig durch kindliche Prädispositionen erklärbar, wobei unangebrachtes Fütterungsverhalten (z. B. falsche Positionierung, laute Geräusche, wechselnde Umgebung) und zunehmende Hektik von Seiten der Mutter die geringe interne Kontrolle des Kindes weiter strapazieren (Wolke et al. 2006; Wolke 1987; Wolke u. Eldridge 1992). Essverweigerung, insbesondere die Verweigerung von fester Nahrung, die häufig ab ca. dem 4. Lebensmonat beobachtet wird, kann mit einer Kombination von biologischen und verhaltenstheoretischen Modellen erklärt werden.
Essverweigerung bei Säuglingen (ab ca. dem 4.–6. Lebensmonat) wird verstärkt und aufrechterhalten durch operante Konditionierung, klassische Reizassoziation und aversive Konditionierung.
Zwischen dem 4. und 6. Lebensmonat zeigt sich eine erhöhte Sensibilisierung für feste Nahrung, was biologisch sinnvoll ist, da Stillen allein nach dem 6. Lebensmonat nicht den Bedarf an Kalorien und Proteinen usw. für ausreichendes körperliches Wachstum aufrechterhalten kann. Es zeigt sich z. B. eine Vorliebe für Sodium, das in der Brustmilch nur in sehr geringen Mengen vorkommt (Harris et al. 1990). Während dieser Phase (4.–8. Monat), in welcher auch die anatomischen (Gaumenentwicklung) und neurologischen Voraussetzungen (Beißen, Zungenbewegung etc.) gelegt werden, ist eine hohe Bereitschaft zur Einführung fester Nahrung gegeben. Wird diese nicht wahrgenommen, z. B. durch verlängertes ausschließliches Stillen, wird es zunehmend schwieriger, feste Nahrung einzuführen (Illingworth u. Lister 1964; Wolke 1994b). Die Säuglinge signalisieren durch Schreien nach dem Stillen (Kind nicht befriedigt) und nächtliches Schreien, dass ein Bedürfnis nach Zufüttern besteht (Harris 1988; Wright 1987).
19
300
Kapitel 19 · Regulationsstörungen
4 Viele Kinder lehnen neue feste Nahrung gelegentlich ab. Entschließen sich die Eltern dann, dem Kind keine weitere feste Nahrung zu geben (weiterhin Stillen, Flaschegeben) oder wird nur eine bestimmte beliebte Nahrung als Anreiz gegeben oder/und wird gleichzeitig dem Ablehnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt, dann wird die Essverweigerung belohnt (operante positive Verstärkung). 4 Gleichzeitig bildet sich oft eine besondere Nervosität der Eltern beim Füttern heraus (denn »man muss ja was in das Kind hineinbekommen«), die im klassischen Konditionierungsmodell als unkonditionierter Stimuli Angst und Anspannung beim Kind hervorruft; dies, kombiniert mit dem konditionierten Stimuli Essen, führt zu unangemessenem kindlichem Essverhalten (Linscheid u. Rasnake 1985).
4 Andererseits haben manche Kinder, die aufgrund ihres Temperaments- und Entwicklungsstandes noch nicht bereit sind, feste Nahrung anzunehmen, häufig aversive Erfahrungen gemacht, wie z. B. Zwangsfütterung, Überstimulation im oralen Bereich durch Löffel (unangebrachte Metallöffel) etc. Dies findet sich oft bei in früher Kindheit erkrankten Kindern, die oro- oder nasogastrisch gefüttert wurden (häufiges Setzen der Sonde) und/oder schlecht schmeckende Medikamente oral verabreicht bekamen, d. h. aversiv konditioniert wurden (DiScipio et al. 1978). In allen Fällen ist Fütterung nicht mehr mit angenehmen Empfindungen und einer ruhigen, sozial verstärkenden Atmosphäre assoziiert.
Exkurs Erwartungen der Eltern Wilberta Donovan und Lewis Leavitt untersuchten in einer Serie origineller Laborexperimente den Einfluss mütterlicher Kontrollerwartungen, Vorerfahrungen mit dem eigenen Kind sowie Vorerfahrungen mit der Kontrolle von Babyschreien auf die Erwartungen und den Umgang mit aktuellem Schreiverhalten. Die Experimente zeigten, dass Mütter mit hohen Kontrollerwartungen über das kindliche Verhalten in Situationen mit einem »schwierigem« Kind eher zur Hilflosigkeit neigten, weniger aufmerksam auf das Babyschreien und weniger sensitiv auf die Kindsignale reagierten (für einen Überblick: Leavitt 1998). Diesen Ergebnissen zufolge scheint eine hohe el-
19.5
Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen
19.5.1 Exzessives Schreien und Schlafprobleme
Diagnostik Das Vorgehen gliedert sich in drei Schritte.
19
Schritt 1. Der 1. Schritt beinhaltet die somatische KindAnamnese und die Erfassung des Schrei-, Schlaf- und Fütterungsverhaltens des Kindes mit einem Tagebuch über eine 7-Tage-Periode. Zuerst sollte immer eine allgemeine pädiatrische Untersuchung erfolgen, um mögliche organische Ursachen auszuschließen. In seltenen Fällen sind die Schrei- oder Schlafprobleme organisch mitverursacht (z. B. Otitis media, Infektionen des urinalen Traktes, schwerer ösophagealer Reflux, chronisch vergrößerte Mandeln). In der ersten Sitzung wird eine Verhaltensanamnese vorgenommen, und die Eltern werden gebeten, ein detailliertes Tagebuch auszufüllen. Hierzu haben wir zwei Versi-
terliche Kontrollerwartung weniger gut geeignet zu sein, adaptiv und adäquat auf die Bedürfnisse des Kleinkindes einzugehen. Für die klinische Praxis betonen diese Befunde, dass es in der Arbeit mit Eltern regulationsgestörter Kinder wichtig ist, realistische Erwartungen aufzubauen und die Eltern zu informieren, dass besonders das Schreien und Essen von Kindern nicht immer durch das elterliche Verhalten kontrollierbar ist. Gerade Eltern, die daran gewöhnt sind, ihr Leben nach dem Kalender genauestens zu planen, empfinden die Abgabe der Kontrolle (der Säugling kennt keinen Kalender und Zeitplan) als schwierig. Dies sollte thematisiert werden.
onen entwickelt, eine für Kinder unter 2 Jahren und eine für ältere Kinder (Wolke et al. 1994b; Wolke 1994a; Stores 2006). Für jedes 15-Minuten-Intervall wird das Verhalten des Säuglings über 7 aufeinanderfolgende Tage markiert (s. auch Fallbeispiel unter 7 Abschn. 19.6.1, . Abb. 19.1). Unterhalb der Intervalle können die Eltern ihre Interventionen bei Wachen oder Schreien beschreiben. Bezüglich des Schreiens werden dem Tagebuch folgende Informationen entnommen: 4 Wie viel schreit das Kind? 4 Gibt es ein Muster des Schreiens und Nörgelns, z. B. tritt das Schreien zu bestimmten Zeiten auf, ist es regelmäßig über die 7-Tage-Periode hinweg? 4 Gibt es ein regelmäßiges Schlaf- und Mahlzeitenmuster (d. h. liegt eine vorhersehbare tägliche Routine vor)? 4 Wie viel soziale Stimulation erhält das Kind: wird regelmäßig zu wenig/zu viel gespielt? 4 Gibt es besondere Strategien, die das Kind besonders effektiv beruhigen? 4 Wie verhält sich das Kind beim Ausgehen, d. h. wenn andere besucht werden?
301 19.5 · Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen
Bei Schlafproblemen wird ähnliche Information extrahiert: 4 Wie viel schläft das Kind nachts, und wie viele Schlafperioden gibt es tagsüber? 4 Gibt es ein regelmäßiges Muster des Schlafens (Nachtund Tagesschlaf, Schwankungen von Tag zu Tag)? 4 Wie lange braucht das Kind zum Einschlafen; wo schläft es ein? 4 Wie häufig wacht es nachts auf, und welche Interventionen werden benutzt? 4 Was tun die Eltern, um das Einschlafen zu unterstützen? Schritt 2. Im nächsten Schritt werden die Familiensituation, Elternpsychopathologie und Kinderfahrungen und -charakteristiken sowie Komorbiditäten abgeklärt. Den Eltern werden zwei Fragebögen (Kind- und Elternfragebogen; Wolke et al. 1994b; Wolke et al. 1994c) vorgegeben. In dem Kindfragebogen werden der Verhaltensstil des Kindes (Temperament), andere Auffälligkeiten (z. B. Füttern) und die Schwangerschafts- und Geburtsgeschichte erfasst. Es wird gefragt, wie die Eltern das Schreien wahrnehmen (z. B. schmerzhaft, abweisend etc.) und welche Gründe sie dem Schreien oder den Schlafproblemen zuschreiben (Attributionen)? Wie häufig lassen sie das Kind ausschreien, wie oft erreichen sie die Grenzen der Verzweiflung? Im Elternfragebogen wird die demographische Familiensituation erfragt (z. B. auch Wohnsituation und Arbeitsroutine, Schichtarbeit des Vaters etc.) und verschiedene Screenings zum seelischen Wohlbefinden der Eltern durchgeführt (mütterliche Depression, Partnerbeziehung, soziale Unterstützungssysteme und Isolation). Diese Bedingungen bestimmen oft mit darüber, welche Behandlungsvorschläge durch die Eltern praktisch umgesetzt werden können. ! Aus der gesamten Information aus Schritt 1 und 2 wird das Problemspektrum deutlich, und erste Hypothesen über die aufrechterhaltenden Bedingungen der Schrei- und Schlafproblematik werden formuliert. Die Wahrscheinlichkeit möglicher Misshandlung sollte immer abgeklärt werden (ggf. ist eine Klinikeinweisung für einige Tage zur Entlastung der Eltern zu veranlassen). Schritt 3. Darauf werden die Hypothesen mit den Eltern besprochen, die Behandlung mit den Eltern geplant (ggf. ein Therapievertrag geschlossen) und durchgeführt. In der ersten Behandlungssitzung werden die Erfahrungen der Eltern mit dem Tagebuch besprochen. Oft haben die Eltern selbst ein klareres Bild über die Art und Schwere der Probleme gewonnen und eigene Hypothesen entwickelt. Die Hypothesen des Therapeuten werden angesprochen und mit denen der Eltern verknüpft und hinterfragt. Da häufig verschiedene Probleme vorliegen, wird eine Hierarchie aufgestellt:
4 Womit soll zuerst begonnen werden? Das gewählte Problem sollte innerhalb von 2 Wochen gelöst oder stark reduziert sein. 4 Eine feste Therapievereinbarung wird getroffen, und es wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Interventionen konsistentes Vorgehen der Eltern verlangen und eine große, oft zuerst belastende Umstellung des Erziehungsverhaltens notwendig sein kann. Falls die Vorschläge nicht akzeptabel sind, ist es oft besser, deren Umsetzung gar nicht erst zu versuchen. 4 Weiterhin werden die Konsequenzen eines Therapieerfolgs eruiert und diskutiert. Durchschlafen bedeutet oft einen Zuwendungsverlust durch die Eltern für das Kind. Dies muss tagsüber ausgeglichen werden, um dem Kind entsprechende Sicherheit zu bieten. Oft hat man durch die Schrei- oder Schlafprobleme etwas, worüber man klagen bzw. mit anderen sprechen kann – dies kann bei Therapieerfolg einen Verlust bedeuten. Oder das Kind »in der Besucherritze« verhindert intime Kontakte zwischen den Eltern. Schläft das Kind im eigenen Bett, so müssen sich die Partner mit der erneuten Möglichkeit zu intimen Kontakten auseinandersetzen, was bei einer problematischen Partnerschaftsbeziehung neues Konfliktpotenzial freisetzen kann.
Konkrete Strategien werden aufgrund folgender Prinzipien ausgewählt: Die Therapie 4 ist individuell auf die Familie zugeschnitten, 4 entspricht dem Entwicklungsstand des Kindes, 4 unterstützt die Entwicklung der internen Verhaltenskontrolle des Kindes.
Letzteres bedeutet insbesondere, dass dem Kind geholfen wird zu lernen, sich zunehmend selbst zu beruhigen und selbst einzuschlafen (Minde et al. 1993; Papousek et al. 2008).
Therapiemaßnahmen bei jungen Säuglingen (<6 Monate) Für die interne Verhaltenskontrolle sollen adaptive Umweltbedingungen durch folgende Maßnahmen geschaffen werden: Information der Eltern. Den Eltern werden Informationen
über die normale Entwicklung des Schreiens und Schlafens gegeben; insbesondere auch zur normalen Variabilität, um realistische Erwartungen aufzubauen. Einführung eines regelmäßigen Tagensablaufs. Kinder, die selbst wenig Verhaltenskontrolle haben, brauchen eine erhöhte Regelmäßigkeit in ihrem Tagesablauf. Strikte Zeiten fürs Füttern, Schlaf- und Spielzeiten, Spaziergänge etc. werden eingeführt. Die Unterschiede im Elternverhalten zwi-
19
302
Kapitel 19 · Regulationsstörungen
schen Tag und Nacht sollen maximiert werden (z. B. nachts nur füttern, wickeln oder zudecken, aber keine Spiele oder Reden beim Füttern usw.). Somit ergibt sich eine Vorhersehbarkeit der täglichen Ereignisse und eine klare TagNacht-Differenzierung für den Säugling. Vermeidung von Überstimulation. Überstimulation, die gerade bei Schreibabys oft gefunden wird durch dauerndes Herumtragen, kräftiges Wiegen (Cocktailshaker-Wiegen) und Schütteln, dauerndes Einreden, immer wechselnde Stimuli, wie Rasseln, Farben etc., sollte reduziert werden. Das Kind hat keine Ruhe und kommt nicht zur Ruhe, es übermüdet und reagiert zunehmend gereizter. Manche Eltern sind in der Interaktion sehr intrusiv, betasten das Kind andauernd usw. Dieses Verhalten kann durch Diskussionen aufgezeichneter Interaktionsspiele in der Praxis modifiziert werden. Feinfühliges Beobachten. Die Eltern müssen das feinfühlige Beobachten ihres Babys lernen. Den Eltern muss vermittelt werden, den Zeichen positiven, aufmerksamen und engagierenden Verhaltens des Babys wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auf diese spielerisch mit positiver Interaktion, z. B. mit Gesichtsmimik und Redespielen (leicht stimulierende Spiele), einzugehen. Viele Eltern haben gelernt, sich nur noch auf das Nörgeln oder Schreien (»negatives Verhalten«) zu konzentrieren und haben eine erhöhte Bereitschaft, nur hierauf zu reagieren, erworben. Ruhige und aufmerksame Phasen des Kindes (»positives Verhalten«), werden dabei zunehmend ignoriert und kurzzeitig zum »Verschnaufen« benutzt.
Keine stimulierenden Spiele vor dem Einschlafen. Stimulierende Spiele eine Stunde vor der Schlafzeit sind verboten. Oft wird abends, wenn der Vater/Mutter nach Hause kommt, noch kräftig interagiert (»ich will soviel für meine Kleine tun wie es geht – sonst sehe ich sie ja nur weinend oder schlafend«), d. h. es wird stimulierend gespielt, mit den Fingern gekitzelt, in die Luft geworfen usw. Es ist schwierig für ein kleines Kind, sich dann auf Kommando zu beruhigen und einzuschlafen. Fokale Fütterung. Nachts kann das Kind lernen, durch fokale Fütterungen längere Schlafzeiten zu entwickeln (Pinilla u. Birch 1993). Der Säugling kann zur Bettzeit der Eltern geweckt und gefüttert werden. Die längste Schlafperiode entwickelt sich zwischen 0 und 5 Uhr, und durch eine Fütterung zwischen 23 und 24 Uhr kann dies unterstützt werden. Langsam werden die Zeiten der nächtlichen Fütterungen zu größeren Intervallen verschoben. Feinfühliges, situationsangemessenes Reagieren. Fein-
fühliges Reagieren auf das Schreien bedeutet nicht, auf jeden »Muckser« sofort, sondern entsprechend den Bedürfnissen des Kindes zu reagieren. Es gibt keine Regel, wie lange man warten sollte, allerdings sollte man situationsadäquat (Hunger, Schmerz, Langeweile) handeln. Eine Wartezeit bis zu 2 Minuten ist unter manchen Umständen angebracht, um zu sehen, ob das Kind sich selbst beruhigt. Oft haben die Eltern bei Schreibabys ihr intuitives »checking« unterschiedlicher verursachender Möglichkeiten verloren und reagieren sofort hektisch mit vielen aufeinanderfolgenden, überstimulierend wirkenden Maßnahmen.
Vermeidung »überlistender« Methoden. Methoden, die
das langsame Erlernen kindeigener Verhaltenskontrolle verhindern, sollen vermieden werden. Hierzu gehören z. B. das »Überlisten« des Kindes zum Schlafen, das nächtliche Autofahren zum Einschlafen, Stillen oder die Flasche geben und das Kind »unbemerkt« ins Bettchen legen oder bei den Eltern auf der Couch vor dem Fernseher einschlafen lassen. Beim Schreien werden durch verzweifelte Eltern auch häufig ausgefallene Methoden angewandt, z. B. das Aufsetzen des Kindes »im Wipper« auf die Wäscheschleuder für intensive vestibulare Stimulation u. Ä. Assoziierung zwischen Umgebung und Aktivität. Eine kla-
re Assoziierung zwischen der Umgebung und verschiedenen Aktivitäten, insbesondere dem Schlafen, sollte aufgebaut werden. Das Kind sollte immer am selben Ort, z. B. im eigenen Bettchen einschlafen. Wiegen oder der Schnuller im Bettchen sind durchaus zulässig, allerdings sollte das Kind nicht bis in den Schlaf »eingelullt« werden.
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Vermitteln von Sicherheit. Das Baby sollte mit der Sicherheit, dass die Eltern in der Nähe sind, einschlafen: »Mama (und Papa) sind da, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«.
Therapiemaßnahmen bei Kindern ab 6 Monaten Einschlaf- und Durchschlafprobleme mit Aufsuchen des Elternbetts (ab 2. Lebensjahr) und Schreien zu unangebrachten Zeiten (z. B. Wutanfälle) sowie Schreien aufgrund extremer Separationsängste sind die häufigsten Formen der Probleme von älteren Säuglingen und Kleinkindern. Bekannte verhaltenstherapeutische Methoden (7 Kap. III/13) wie Extinktion und deren Modifikationen (Checking, Time-out) sowie Shaping (Aufbau von Signalreizen) usw. können in dieser Altersgruppe angewandt werden. Spezifische Maßnahmen bei Ein- und Durchschlafproblemen ! Das oberste Prinzip ist, dass das Kind zum Schlafen müde ist.
Die längste Schlafperiode folgt zumeist der längsten Wachperiode. Fast alle Kinder mit nächtlichem Durchschlafproblem haben unregelmäßige Schlafrhythmen, d. h. sie kompensieren teilweise nächtliches Wachen durch vermehrte, wenn auch oft kurze, Schlafperioden am Tage. Viele dieser Kinder leiden unter Schlafverlust und Übermüdung und sind dann auch während des Tages gereizt und irritierbar (Minde et al.
303 19.5 · Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen
1993). Die Eltern sind zumeist froh, wenn das Baby wenigstens tagsüber etwas schläft. Dies hält jedoch das unangepasste Schlafmuster aufrecht. Die Eltern müssen die Kontrolle über die kindlichen Schlafrhythmen wieder übernehmen. Folgende Maßnahmen sind daher häufig indiziert: Regelmäßigkeit im Tagesablauf. Eine Regelmäßigkeit im
Tagesablauf bezüglich des Essens, der Spiel- und Einschlafzeiten muss neu aufgebaut werden: 4 Angemessene Einschlafzeiten müssen entsprechend dem Lebensrhythmus der Eltern, normalerweise zwischen 19.30 Uhr und 21.30 Uhr, festgelegt werden; 4 Der Tagesschlaf muss reguliert werden. Wenn ein Kind z. B. von 16.00 bis 18.00 Uhr schläft, dann ist es kaum müde, um wieder ab 20.00 Uhr einzuschlafen. In diesen Fällen darf das Kind nicht mehr nach 15.30 Uhr schlafen. Auch sollte ein Kleinkind nicht 4 Stunden am Stück tagsüber schlafen, um das nächtliche Aufwachen zu kompensieren. 4 Das Kind muss tagsüber ausgelastet sein, d. h. es sollte mit Aktivitäten beschäftigt werden, die zur Ermüdung führen. Hierzu gehören tägliche Spaziergänge und das Spielen im Freien, klare Zeiten des ruhigen Spielens, wie Bilderbücher betrachten, mit Bauklötzen bauen usw. Einschlafroutine. Eine klare Einschlafroutine muss geschaffen werden. Ein- und Durchschlafprobleme stehen in einem engen Zusammenhang: Kleinkinder, die nicht gelernt haben, abends alleine einzuschlafen, haben keine Strategien entwickelt, wieder eigenständig in den Schlaf zurückzukehren, wenn sie nachts aufwachen – sie schreien oder rufen nach den Eltern; ältere Vorschulkinder kommen ins Elternbett. Jeden Abend sollte ein klares, dem Kind Sicherheit gebendes Ritual durchgeführt werden, z. B. ins Kinderzimmer gehen, sich ausziehen, waschen oder baden, Zähne putzen (bei den etwas größeren Kleinkindern), im Kinderzimmer Betrachten von Bildern oder andere, nur leicht stimulierende Spiele, das Kind soll wach ins eigene Bett gelegt werden. Nicht das Kind im Arm, auf dem Sofa etc. einschlafen lassen – wenn es im Bett dann nachts aufwacht, ist es desorientiert. Viele Schlafproblemkinder reagieren mit Schreien oder Rufen, wenn die Eltern das Zimmer verlassen. Daher muss eigenes Einschlafen durch Shaping unter dem Gebrauch abgestufter Extinktion (»Checking«) aufgebaut werden.
Checking in der Praxis Die Eltern bleiben die ersten beiden Nächte bis kurz vor dem Einschlafen und kommen beim Schreien des Kindes zurück (z. B. die ersten zwei Nächte nach 5 Minuten; die nächste Nacht nach 10 Minuten, die vierte Nacht nach 15 Minuten usw.), jedoch nehmen es nicht auf den Arm, streicheln es nicht, sondern beruhigen es verbal (Versicherung) und bleiben maximal 2 Minuten.
Das Kind wird nicht sich selbst überlassen, sondern die Eltern kommen (wichtig für die Bindungssicherheit), jedoch werden Verstärker wie das Halten, Streicheln, Aus-demBett-Nehmen usw. entzogen. Keine Überstimulierung. Hoch stimulierende und aufregende Spiele sind abends (1 Stunde vor dem Einschlaftermin) zu vermeiden.
Oft sind es die Mütter, die nachts mit einem häufig aufwachenden Kind umgehen müssen. Sie sind sowohl tagsüber erschöpft als auch stark besorgt um ihr Kind. Es ist oft schwierig für diese Mütter, abends noch klare Regeln umzusetzen, da sie aufgrund eigener Unsicherheiten oder Mitleid mit dem Kind eine starke Involvierung zeigen. Daher sollten die Väter anfangs in der Therapie die Verantwortung für das abendliche Bettritual und Einschlafen nach den genannten Regeln übernehmen. Wichtig ist, dass die Mutter, wenn das Kind schreit (was bei Checking anfangs fast immer der Fall ist), nicht ängstlich »mitinterveniert«. Manchmal bitten wir die Mutter, z. B. eine Freundin zu dieser Zeit zu besuchen – die Mütter sind häufig sehr davon angetan. Weitere Methoden zur Verhaltensmodifikation bei Durchschlafproblemen
Die oben genannten Maßnahmen helfen nicht nur Einschlafprobleme zu beseitigen, sondern verbessern das nächtliche Durchschlafen oft deutlich (Mindell u. Durand 1993). Falls dies nicht ausreicht, steht ein weiteres Repertoire von Verhaltensmodifikationen zur Verfügung. Je nach den individuellen Möglichkeiten der Familie, gibt es drei Methoden, erfolgreiches Durchschlafen zu erreichen: Extinktion. Dies bedeutet, das Kind nachts rufen oder ausschreien lassen. Dies ist eine sehr erfolgreiche Methode, jedoch aufgrund der Ablehnung durch viele Eltern und aufgrund entwicklungspsychologischer Überlegungen (Bindungsverhalten) ist es in den ersten 2 Lebensjahren nicht anzuraten. Checking. Dies ist wie oben beschrieben, eine abgewandelte Form der Extinktion, wobei das Kind zwar eine kurze verbale Versicherung der Eltern erhält (»Mama und Papa sind da, mach dir keine Sorgen, nun schlaf wieder ein«), jedoch andere Verstärker (körperlicher Kontakt, ins Elternbett nehmen, nächtliche Spiele usw.) entzogen werden. Wichtig ist, dass die Eltern dies konsequent anwenden, d. h. intermittierende Verstärkung durch Rückfall in alte Verhaltensweisen aus Mitleid mit dem Kind vermeiden. Es ist wichtig, den Eltern klar zu machen, dass ein Kind, das tagsüber positive und liebevolle Interaktionen mit den Eltern hat, hierunter nicht leidet. Langjährige klinische Erfahrungen und empirische Forschung bestätigen, dass die Beziehung mit den Eltern dadurch keineswegs negativ beeinflusst wird, sondern die ausgeschlafenen Kinder tagsüber
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Kapitel 19 · Regulationsstörungen
sogar viel positivere Interaktionen mit den Eltern haben und dies die Beziehung stärkt (Mindell u. Durand 1993; Minde 1994). Checking, zusammen mit den oben genannten Maßnahmen zum Einschlafen und Tagesablauf, führt zumeist innerhalb von 2 Wochen zum Durchschlafen. Kontrolliertes Aufwecken durch die Eltern. Unter der Voraussetzung, dass das Kind zu regelmäßigen Zeiten jeweils nachts aufwacht (z. B. immer um ca. 23.00 Uhr, 2.00 Uhr und 4.00 Uhr), ist eine dritte Methode, das kontrollierte Aufwecken (»scheduled awakening«) anwendbar. Die Eltern übernehmen dann die Kontrolle des Aufwachens, indem sie das Kind kurz vor der normalen Aufwachzeit wecken und dann wieder einschlafen lassen (z. B. um 22.45 Uhr, 1.45 Uhr und 3.45 Uhr). Die Assoziation zwischen eigenem Aufwachen des Kindes und folgender Verstärkung durch »Eltern kommen ja« wird aufgehoben, das Kind verliert die Kontrolle. Diese Methode empfiehlt sich für Eltern, die das Checking nicht durchführen können, ist
Was in der Nacht genommen wird, muss am Tag gegeben werden Neben einem adäquaten Umgang mit den Regulationsproblemen des Kindes sollen die Eltern gleichzeitig erlernen, dem Kind zu zeigen, dass es geliebt wird und mit all seinen Eigenarten von den Eltern anerkannt wird. Den Eltern sollten daher folgende Instruktionen gegeben werden: 4 Beobachte und achte auf dein Kind, sei mit voller Konzentration dabei. Dazu gehört Aufmerksamkeit, wenn das Kind etwas möchte. Richte spezielle Spielzeiten am Tag ein, die regelmäßig eingehalten werden, auch wenn das Kind z. B. nachts nicht durchgeschlafen hat. Kleine disziplinarische Abweichungen oder Aussetzer sollten nicht gleich geahndet werden. 4 Höre deinem Kind zu – wiederhole, versuche die Kommunikation zum vollen Ausdruck des Kindes zu elaborieren. Antworte nicht häufig: »ja gleich«, »warte«, »ich muss noch dieses fertig machen«. 4 Bezeichne die Handlung, nicht das Kind. Zum Beispiel ist »Ich mag nicht, wenn Du schreist, es tut meinen Ohren weh« eine spezifischere und angebrachtere Rückmeldung als »Du bist ein nerviges Kind«, die das Selbstkonzept des Kindes angreift. 4 Benutze kurze Kommentare und gib dem Kind häufig positive Rückmeldungen, die mit »ich« beginnen sollten (»Ich finde es toll, wie Du die Bauklötze aufbaust«). Eigene Emotionen sollten kongruent und
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erfolgreich, braucht jedoch etwa doppelt so lange wie das Checking, um zum Durchschlafen zu führen (Rickert u. Johnson 1988). Wichtig ist es, die Elterncharakteristiken, partnerschaftliche Unterstützung und Umweltgegebenheiten bei den Interventionen zu berücksichtigen. So führt z. B. Checking in den ersten Nächten zu erhöhter Weigerung (und somit Schreien) des Kindes, und die Eltern müssen darauf vorbereitet sein. Leben die Eltern in einem Einfamilienhaus, werden keine Nachbarn dadurch gestört, anders jedoch, wenn die Familie in einem Mehrfamilienhaus wohnt. Die Nachbarn sollten informiert werden, und als Belohnung kann dann eine »Durchschlafparty« mit den Nachbarn einige Wochen später stattfinden. Oft ergeben sich dann auch erstaunliche Effekte für die soziale Unterstützung der Eltern, denn wie die Prävalenzstudien zeigen, haben viele der Nachbarn auch einmal Probleme mit dem Durchschlafen ihrer Kinder gehabt.
nicht sarkastisch übertragen werden; dazu gehört die Spannbreite von Freude bis Verstimmung. Das Kind lernt, die Gefühle der Eltern zu verstehen. 4 Die Eltern sollen auch lernen, sich bei falschem Verhalten zu entschuldigen. Das Kind lernt, dass seine Gefühle zählen. Die Eltern sollten nicht nur »es tut mir leid« sagen, sondern genau beschreiben, was sie falsch gemacht haben.
Fördere beim Kind das Gefühl, kompetent zu sein 4 Sei ein positives Modell für das Kind, denn eigene Wutausbrüche, Quengeln und eine schlechte Schlafroutine sind schnell erlernte Negativbeispiele. 4 Gib klare Instruktionen. Oft benutzen die Eltern vage Instruktionen wie »Denkst du nicht, es ist Zeit zum Schlafen?«, dies ist nicht dem Entwicklungsstand des Kleinkindes angepasst. Klare Festsetzungen und Instruktionen sind wichtig. Oft benutzen Eltern selbst bei Einjährigen lange rationale Erklärungen ihres Verhaltens, die das Kind überfordern und verwirren. 4 Ermögliche die Rollenübernahme im Spiel. Das Kind lernt Kompetenzen, indem spielerisch und im Dialog (bei älteren Kleinkindern) Verhaltensweisen eingeübt werden, wie z. B. beim Zubettgehen-Üben mit Puppen, Duplo- oder Playmobilfiguren. 4 Belohnung, d. h. positive Verstärkung in verbaler Form und durch körperlichen Kontakt für Zielverhalten ist sofort zu geben.
305 19.5 · Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen
19.5.2 Fütterungs- und Essprobleme
Hinweise auf die Variabilität oder Einschränkung des Nahrungsangebotes.
Diagnostik Während Schrei- und Schlafprobleme häufig sogar durch schriftliche und telefonische Beratung effektiv gelöst werden können (Wolke et al. 1994b; Seymour et al. 1989), ist dies bei Fütterungsproblemen wie Essverweigerung nicht möglich. Hier liegen häufig vielfältige Probleme der ElternKind-Interaktion während des Essens und oft auch außerhalb der Fütterungssituation vor. Weiterhin werden gerade in Kinderkliniken Kinder vorstellig, die zu einem früheren Zeitpunkt organisch bedingt keine Nahrung aufnehmen konnten oder durften, deren organische Probleme jedoch bereits behoben wurden. Folgendes diagnostisches Paket ist bei Essverweigerung indiziert (Wolke et al. 2006; Reilly et al. 2006; Harris 1993): Anamnese. Zunächst sollte eine medizinische und Verhaltensanamnese und die Fütterungsgeschichte seit der Geburt sowie die der ggf. vorhandenen Geschwister erhoben werden. Eine Abklärung organischer Probleme sollte immer erfolgt sein. Hierzu sollte auch eine Blutanalyse gehören, um eine evtl. Anämie zu erkennen, die häufig sowohl physiologische und Verhaltensfolgen hat (z. B. erhöhte kindliche Irritierbarkeit und in extremen Fällen Apathie) und behandelbar ist (Aukett et al. 1986). Gerade bei Erbrechen sollte eine Abklärung bezüglich des Vorliegens eines schweren gastroösophagealen Refluxes erfolgen. Videoaufzeichnung. Eine normale Fütterungssituation (am besten im Haus der Eltern, damit Ort der Fütterung und benutzte Utensilien sowie Nahrungskonsistenz in vivo beurteilt werden können) sollte per Video aufgezeichnet werden. Zudem sollte die Interaktion auch in strukturierten Spielsituationen aufgezeichnet werden, um zu klären, ob sich die Interaktionsprobleme spezifisch auf das Essen beziehen oder generalisiert sind (Feeding-Interaction Scale, Wolke 1986a; Play Observation Scheme and Emotion Rating, Wolke 1986b1, s. Untersuchungen dazu: Skuse et al. 1992; Wolke et al. 1990; Stein et al. 1994; Lindberg 1994). Diättagebuch/Nahrungsfrequenzbogen. Ein 7-tägiges Diättagebuch und/oder ein Nahrungsfrequenzbogen soll von den Eltern ausgefüllt werden. Das Diättagebuch kann durch vorhandene Computerprogramme von einem Ökotrophologen/Diätassistenten nach Kalorienaufnahme, Proteinen usw. ausgewertet werden. Erste Anhaltspunkte auf Unterernährung können sich so manchmal ergeben. Der Nahrungsfrequenzbogen gibt
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Die Manuale zur »Feeding-Interaction Scale (FIS)« und zum »Play Observation Scheme and Emotion Rating (POSER)« sind erhältich über den Autor.
Entwicklungstest. Ein Entwicklungstest sollte durchgeführt werden, um das Entwicklungsalter des Kindes abzuklären (z. B. Bayley Scales or Griffiths Skalen, Bayley 2006; Johnson et al. 2004; Brandt 1983). Dabei wird die Übereinstimmung oder Diskrepanz bezüglich des Entwicklungsund »Essalters« bestimmt. Testverfahren bei oral-motorischen Problemen. Ergibt die
Videoaufnahme Hinweise auf oral-motorische Probleme (z. B. unvollständiges Lippenschließen um den Löffel, Nahrungsverluste, Schluckprobleme, Kaubewegungsprobleme) oder ist nicht klar, ob diese oral-motorische oder aversive Reaktionen darstellen, ist ein standardisiertes Testverfahren oral-motorischer Kompetenz durchzuführen (Mathisen et al. 1989; Reilly et al. 1995; Skuse et al. 1995). Dies kann durch einen in diesem Verfahren ausgebildeten Logopäden gemacht werden. ! Im Idealfall sollte das Behandlungsteam daher aus einem klinischen Entwicklungspsychologen, einem Kinderarzt, einem Logopäden und einem Diätassistenten bestehen.
Therapie Am Beispiel der Essensverweigerung soll die diagnostische Information und deren Implikationen für die Therapie hier dargestellt werden (Reilly et al. 2006; s. auch Fallbeispiel unter 7 19.6.2). Umweltbedingungen. Die richtigen Umweltbedingungen für das Essen müssen geschaffen werden. Essstörungskinder reagieren häufig viel empfindlicher und lassen sich leicht vom Essen ablenken. Daher ist es wichtig, dass die Umgebung so gestaltet ist, dass sie nicht vom Essen ablenkt (kein Radio/Fernsehen oder viele Leute präsent, die nicht auch selbst essen). Oft sind die Eltern dazu übergegangen, dem Entwickungsstand unangemessene Fütterungspositionen einzunehmen (z. B. Füttern eines 15 Monate alten Kindes halbliegend auf dem Schoß), anstelle die Fütterung in einem Hochstuhl durchzuführen, der über gute Seitenstützung und eine Fußauflage für das Kind in aufrechter Position verfügt, die das Schlucken unterstützen. Metallöffel sollten nie benutzt werden, Fingerfütterung ist oft hilfreich. Exposure. Nahrung und unterschiedliche Geschmacksrichtungen müssen angeboten werden (»exposure«). Oft wird die Nahrung von der Mutter vom Kind entfernt gehalten, so dass es »nicht damit herummascht« oder »alles dreckig macht«. Gerade Essverweigerer haben oft aversive Erfahrungen hinter sich, und Nahrung ist somit ein aversiver Reiz geworden, speziell wenn man sie nie be-
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Kapitel 19 · Regulationsstörungen
rühren und explorieren kann. Manche Kinder weisen jegliche Nahrung zurück, andere sämtliche festere Nahrung, d. h. sie akzeptieren nur dünnen Brei oder Getränke. Viele Kinder sind in ihrer Nahrungswahl sehr eingeschränkt. Akzeptanz wird durch »exposure« aufgebaut.
Das Kind bekommt bei jeder Mahlzeit einen neuen Geschmack dargeboten, z. B. durch Aufstreichen einer neuen Nahrung auf die Lippen. Es geht nicht darum, dass das Kind isst, sondern neue Geschmäcker und Konsistenzen (etwas fester etc.) fühlt. Später (s. unten), wenn das Kind zuverlässig Nahrung, wie z. B. dünnen Brei akzeptiert, wird dieser Tag für Tag etwas mehr eingedickt, später werden dann erste kleine feste Stückchen kaum wahrnehmbar eingeführt.
Desensibilisierung. Kindliches Verhalten und oral-moto-
rische Probleme müssen beachtet werden (Desensibilisierung). Dies ist ein weiter Bereich, von dem nur wenige Aspekte hier angesprochen werden können. Ein wesentlicher Aspekt ist häufig die Desensibilisierung im Mundbereich. Bei einigen Kindern mit Essproblemen führt jegliche Berührung im Mundbereich zur Ablehnung. Daher sollte Berührung des Kindes und Gegenberührung der Eltern durch das Kind außerhalb der Fütterungssituation eingeübt werden. Zunächst am Körper, dann an der oberen Gesichtshälfte und dann im Mundbereich, sowohl mit der Hand als auch mit Spielzeug. Hier gibt es z. B. Trainersets zum Zähneputzen (z. B. von NUK), mit denen das Kind lernen kann, den Mund außen und innen zu explorieren. Diese Trainerbürsten können dann später dünn mit Nahrung bestrichen werden (Geschmack). Adaptive Fähigkeiten, wie Stöckchenhalten, Greifen usw., können zur späteren Generalisierung auf das Essen spielerisch geübt werden. Beim Verhalten ist es wichtig zu klären, ob Wutanfälle, Irritierbarkeit oder Überaktivität auch außerhalb des Fütterns vorliegen und angemessene Interventionen benötigen. Eltern-Kind-Interaktion. Eine entspannte Eltern-Kind In-
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teraktion muss geschaffen werden. In seltenen Fällen ist die Essstörung auf schwere mütterliche Psychopathologie zurückzuführen (z. B. schwere postnatale Depression, Psychose oder schwere Lernbehinderung der Mutter), wobei das Kind bei anderen Personen normal isst. Häufiger finden sich reaktive Störungen der Mütter aufgrund der Essprobleme (Selbstzweifel, depressive Symptomatik, Ängste usw.). Oft ist das Verhalten der Mutter, gerade in den Esssituationen, wenig adaptiv oder sehr wechselhaft, von Gewährenlassen (Laissez-faire) bis hin zur Zwangsfütterung mit gewaltsamem Einführen der Nahrung. Zudem sind alle elterlichen Verhaltensweisen auf die Nahrungsaufnahme fixiert, Spaß und Spiel bzw. Essen
als sozialer Kontakt sind somit kein Bestandteil der Mahlzeiten mehr. Die Eltern konzentrieren sich nur noch auf die abweisenden, nicht auf die sozial engagierenden Verhaltensweisen des Kindes. Große Hektik herrscht beim Essen vor, mit ständigem Anbieten und Überlisten des Kindes (z. B. Spielzeug zeigen, wenn das Kind aus Freude den Mund öffnet, schnelles Einführen der Nahrung und Mundzuhalten, Kopf nach hinten zerren zum Erzwingen des Schluckens usw.). »Nahrung in das Kind bekommen« und ängstliche Kontrolle von Gewichtszunahme sind wenig dienliche Primärziele und werden oft fast zwanghaft täglich durchgeführt. Leider wird dies oft durch kinderärztliche Anweisungen und entsprechendes Handeln unterstützt (z. B. jedesmal wiegen, wenn das Kind in die Praxis kommt). Ein zentraler Punkt der Therapie liegt darin, diese Interaktion zu verändern, indem dem Essen eine ganz andere Valenz gegeben wird: Mahlzeiten wieder als eine entspannte soziale Situation zu gestalten. Daher sollte nicht andauernd gewogen und der Nahrungsaufnahme per se in der Intervention zuerst einmal keine wichtige Rolle eingeräumt werden. Das Kind hat seit Monaten nur sehr wenig gegessen, trotz des Aufwandes der Eltern, und ein paar Wochen mehr schaffen da zumeist keinerlei Probleme.
4 Ein- bis zweimal wöchentlich werden in unserem Ansatz Mahlzeiten mit Video aufgezeichnet und dabei besondere Situationen (besonders positive bzw. negative Kindreaktionen) markiert. 4 Diese Situationen werden der Mutter im Videofeedback gezeigt und Erklärungen dazu eingeholt. Die Mutter wird somit als äußerst kompetent behandelt und nicht mit Anweisungen bombardiert. 4 Aufbauend auf dieser Analyse des Verhaltens der Mutter werden dann alternative Verhaltensweisen besprochen, und sie wird gebeten, diese beim nächstenmal auszuführen. 4 Oft wird in den ersten Tagen bei starken Essverweigerern, außer der Geschmacksdesensibilisierung, keine Nahrung aktiv verabreicht, Angebote jedoch gemacht. Das Kind lernt wieder mit dem Löffel, der Schale und der Nahrung zu spielen. Die Mutter wird gebeten, dieses innerlich und später bei Videoansicht zu kommentieren. Jede Annäherung, z. B. Mundberührung der Nahrung, Schlecken etc. wird positiv durch besondere mütterliche Zuwendung verstärkt (Shaping) und Zurückweisung ignoriert.
Wichtig ist zu berücksichtigen, dass, wie unsere und andere Studien zeigen (Skuse et al. 1992; Lindberg 1994), Essverweigerer häufig gut ihre Ablehnung kundtun, jedoch sehr unklar und undeutlich ihre Neigungen mitteilen und diese sowohl für die Eltern als auch einen externen Beobachter
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schwer zu erschließen sind. Besonders feinfühlige Wahrnehmung kleinster Nuancen ist daher notwendig. Änderung der Haushaltsorganisation. Das Kind muss hungrig sein. Bei stark sozial belasteten Familien und solchen mit hohem beruflichen Engagement fehlt z. T. ein geregelter Mahlzeitenplan, Essen wird im Stehen oder vor dem Fernseher eingenommen, die Zeiten für Mahlzeiten variieren stark oder bestehen aus häufigen Snacks.
Beispiel Bei einer Familie, die an drei Orten im Lande ihre Tätigkeit im Filmgeschäft ausübte, beobachteten wir, dass das Kind bei diesen häufigen Reisen bis zu 18 Stunden nichts zu essen angeboten bekam und auch nie Hungergefühle ausdrückte.
Fehlendes Hungergefühl und fehlende Mitteilung von Appetit ist häufig ein charakteristisches Bild. Zeigt das Kind Bereitschaft zum Essen, wird oft erst mit den Essensvorbereitungen begonnen, und das Kind muss warten und verliert schnell das Interesse. Es ist daher notwendig, einen klaren Tagesablauf und feste Mahlzeiten zu planen. Snacks zwischen den Mahlzeiten, die das ohnehin schwache Hungergefühl vor den Mahlzeiten bereits befriedigen, sollten nicht gegeben werden. Schnellkost oder Nahrung aus Gläsern sollte vermieden, selbst zubereitete und ausgewogene Nahrung angeboten werden. Rezepte hierzu können von einer Diätassistentin erstellt werden. Gemeinsame Mahlzeiten mit allen Familienangehörigen sollten mindestens einmal am Tag stattfinden. Wichtig ist es, dass andere mit dem Kind essen und als Modell fungieren. Bei älteren Vorschulkindern stellen insbesondere andere Kinder (z. B. im Kindergarten, in der Klinik) ein wichtiges Modell für den Aufbau von Nahrungsakzeptanz dar (Birch 1980).
19.5.3 Weitere Probleme des Kleinkindalters:
4 Wichtig ist es, Hinweisreize zum bevorstehenden Verstärkerentzug aufzubauen, wie z. B. eine klare Handbewegung oder eine immer nur in diesen Situationen angewandte verbale Äußerung (»Jetzt ist es genug«). 4 Da Wutanfälle eine normale Verhaltenserscheinung sind und ein Austesten neuer Kompetenzen des Kleinkindes darstellen, sollten Auszeiten nur selten und bei gravierenden Anlässen angewandt werden. 4 Besser ist es, Situationen, die häufig zu diesen Anlässen führen, von vornherein so zu strukturieren, dass es nicht zu Wutanfällen kommt.
Unterschiedliche Ängste treten bei einigen Kindern auf, die dann zu Schreianfällen führen (7 Kap. III/29). Dies sind neue soziale Situationen, z. B. von Fremden auf den Arm genommen werden usw. Es ist vollkommen normal, dass Kinder zwischen 6 und 18 Monaten fremdeln, allerdings nicht, dass sie sich über lange Zeit klammernd bei den Eltern festhalten. Initiale Schüchternheit ist eine Temperamentskomponente mit genetischer Prädisposition, dies umfasst jedoch nicht die Unfähigkeit, sich langsam neuen sozialen Partnern zu erschließen (Aufwärmen; Asendorpf 1993). Kleinkinder ab ca. dem 8. Lebensmonat benutzen die Eltern als soziale Referenzbasis, um neue Situationen zu evaluieren (sog. »social referencing«). Das heißt, die Eltern dienen als Modell und deren Handlungen als Referenz, ob von neuen Partnern Gefahr droht. Daher ist es wichtig, den Eltern Kommunikationsfähigkeiten zu vermitteln, die dem Kind die sichere Einschätzung der Situation ermöglichen.
Dies beinhaltet 4 andere vorzustellen, 4 als Modell Kontakt aufzunehmen, 4 dem Kind zuzulächeln, 4 zwischen dem neuen Partner und dem Kind positive Blickkontakte entstehen zu lassen.
Wutanfälle und Trennungsangst Wutanfälle und Trennungsängste treten in mehr oder weniger starkem Ausmaß bei allen Kleinkindern auf. Auch hier sind Eltern oft verunsichert, wie sie mit diesem Phänomen umgehen sollen. Die klassische Auszeit ist bei Kleinkindern nicht anwendbar, da sich zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat die kindliche Bindung an die Eltern ausbildet und festigt. Allerdings ist Entzug der Aufmerksamkeit bei Wutanfällen (z. B. unterbrechen des Spielens, aufhören zu reden etc.) mit Verbleiben der Eltern im gleichen Zimmer im 2. Lebensjahr durchaus angebracht und effektiv.
Die Eltern sollten mit darauf achten, dass andere nicht das Kind physisch berühren, es hochnehmen, auf es einreden, sondern dass das Kleinkind zuerst die Möglichkeit hat, die Situation angstfrei zu beurteilen.
Voraussetzung ist, dass das Kleinkind den Elternteil als sichere Basis, als Bindungsobjekt akzeptiert. Bei unsicherer emotionaler Bindung ist häufig eine umfassende ElternKind-Therapie indiziert.
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Kapitel 19 · Regulationsstörungen
19.6
Fallbeispiele
19.6.1 Fallbeispiel 1: Schlaf- und Schreiproblem Anamnese. Die Mutter wurde aufgrund massiver nächtlicher Durchschlafprobleme ihres Sohnes Mario (9 Monate alt) vorstellig. Sie war völlig übermüdet und verzweifelt, da sie auch tagsüber gegenüber ihrer Tochter (3 Jahre alt) immer gereizter reagierte. Sie war mehrmals beim Kinderarzt gewesen und hatte verschiedene Methoden inklusive Sedativagabe versucht, jeweils ohne Erfolg. Das Schlafmuster vor der Behandlung ist in . Abb. 19.1 dargestellt. Folgendes ergab sich aus dem Tagebuch: 4 Mario schlief weniger (ca. 9 Stunden) als das durchschnittliche 8 Monate alte Kind (12–13 Stunden). 4 Er schrie und nörgelte überdurchschnittlich viel (ca. 4–5 Stunden; durchschnittliches Kind: 1 Stunde). 4 Er schlief kaum in der Nacht, und wenn, wachte er mehr als 9-mal in einer Nacht auf; er hatte längere Schlafphasen am Vormittag. 4 Die Essenszeiten waren relativ regelmäßig.
Insgesamt zeigt sich das Bild eines »Schlafphasenverschiebungssyndroms« in den Tag. Therapeutisches Vorgehen. Folgende Anweisungen wurden gegeben: 4 Mario darf vormittags maximal 2 Stunden schlafen (soll geweckt werden). 4 Mario darf nach 15 Uhr nachmittags unter keinen Umständen schlafen. 4 Am Nachmittag ist regelmäßig ein Spaziergang vorgesehen sowie gemeinsames Spiel.
19 . Abb. 19.1. Schlaf- und Schreiverhalten von Mario vor der Behandlung
4 Die Bettzeit wird auf 20.30 Uhr festgelegt. 4 Keine Spiele mehr vor dem Zubettgehen und eine regelmäßige Routine jeden Abend. 4 Bei nächtlichem Aufwachen wird die Checking-Methode angewandt. Innerhalb von 2 Wochen änderte sich das Schlafverhalten deutlich. Nach 8 Wochen hatte sich das Schlafverhalten stark verbessert (. Abb. 19.2).
19.6.2 Fallbeispiel 2: Essverweigerung Anamnese. Thomas wurde normalgewichtig geboren, entwickelte 10 Tage nach der Geburt Essprobleme mit Erbrechen und Blut im Erbrochenen und im Stuhl. Eine unspezifische Immundefiziterkrankung wurde festgestellt, an der sein Bruder 2 Jahre zuvor nach schwerer Krankheit im Alter von 9 Monaten verstorben war. Ein zentraler Katheter wurde gesetzt, Thomas hospitalisiert und im Zelt isoliert. Eine Knochenmarktransplantion mit der älteren Schwester (5 Jahre) als Spenderin wurde durchgeführt und eine Chemotherapie eingeleitet. Es kam zu häufiger Übelkeit und Erbrechen. Mit 9 Monaten hatte sich die Situation stabilisiert, und mit oraler Nahrungsaufnahme sollte begonnen werden. Allerdings war das Immunsystem weiterhin stark anfällig, da die Transplantation nur geringen Erfolg hatte. Die Mutter war sehr verständnisvoll und feinfühlig, Thomas verweigerte jedoch jegliche orale Nahrung. Er war immer noch hospitalisiert. Oral-motorisch zeigten sich wenige Probleme. Thomas war hypersensibel gegenüber Berührungen im Gesicht und Mundraum.
309 19.7 · Empirische Belege
. Abb. 19.2. Schlaf- und Schreiverhalten von Mario nach der Behandlung
Therapeutisches Vorgehen. Folgende Maßnahmen wur-
den eingeleitet: 4 Geschmackstherapie, indem seine Spielzeuge, die einzigen Dinge, die er spontan zu den Lippen nahm, täglich mit neuen Geschmäckern (süß oder salzig) eingestrichen wurden. 4 Spiel mit Löffeln und Nahrung sowie Bestreichen der Lippen durch die Mutter. 4 Übungen im Sitzen gegen Hypotonie wurden begonnen. 4 Einführung regelmäßiger Betreuung (max. 3 Bezugspersonen). 4 Die Mutter kochte selbst und aß eine Mahlzeit am Tag zusammen mit Thomas, zweimal die Woche war die Schwester zugegen. 4 Videofeedback wurde wöchentlich durchgeführt, um positiv verstärkendes Verhalten mit Thomas beim Essen aufzubauen. 4 Die parenterale Ernährung (Infusion) wurde einem 24Stunden-Rhytmus angepasst, d. h. Zugaben zur Infusion nur im 4-Stunden-Rhythmus nach versuchtem Essen gegeben und nachts stark reduziert (zum Aufbau von Hungergefühlen und Appetit). Einem vollen Verzicht konnte aus medizinischen Gründen nicht zugestimmt werden. 4 Jegliche Medikamentengabe oral wurde verboten (parenteral verabreicht). Langsam akzeptierte Thomas einige Löffel Nahrung und trank etwas aus der Schnabeltasse. Mehrere Infektionen unterbrachen die Behandlung, und die Lage wurde für die Mutter sehr schwierig. Zur Behandlung einer weiteren Infektion wurde entschieden, Kortison zu geben, das auch als
Nebeneffekt oft zu starken Hungergefühlen führt. Die parenterale Ernährung wurde gleichzeitig stark reduziert und daraufhin nahm Thomas das erst Mal einen ganzen Teller Nahrung zu sich. Tagesausflüge nach Hause wurden ermöglicht und nach 2 Wochen konnte er gut essend entlassen werden. Thomas war 13 Monate alt, und mit 18 Monaten aß er noch immer normal und wuchs altersentsprechend.
19.7
Empirische Belege
Drei verschiedene Behandlungsansätze – pharmakologische Therapie, Diätbehandlung und Verhaltensmanagement – sind für exzessives Schreien und Schlafprobleme empirisch evaluiert worden. Verhaltensmanagement hat sich bisher als am erfolgreichsten sowohl zur Behandlung von exzessivem Schreien (z. B. Taubman 1988; Wolke et al. 1994b; für einen Überblick s. Wolke 2001a) als auch von Schlafproblemen (z. B. Richman et al. 1985; Rickert u. Johnson 1988; Seymour et al. 1989; Mindell u. Durand 1993; für einen Überblick: Messer 1993; Ramchandani et al. 2000) erwiesen. In etwa 10% der Fälle von exzessivem Schreien oder Schlafproblematik ist bei fehlender deutlicher Symptomverbesserung durch Verhaltensmanagement als unterstützende Maßnahme eine Diätbehandlung (Schreien/Wachen als allergische Reaktionen) (Forsyth 1989; Kahn et al. 1989) zusätzlich einzuleiten. Kontrollierte Studien zur Behandlung schwerer Essstörungen wie Essverweigerung fehlen. Diese beschränken sich auf die vergleichende Darstellung von Fallserien und Einzelfallverlaufsstudien. Kontrollierte Studien sind auch ethisch schwer vertretbar, da sich in Fallserien und Einzelfallverlaufsstudien die geschilderten verhaltensorien-
19
310
Kapitel 19 · Regulationsstörungen
tierten Maßnahmen als besonders hilfreich erwiesen haben (z. B. Linscheid u. Rasnake 1985; DiScipio et al. 1978; Wolke et al. 2006; Harris 1993; Schadler et al. 2007).
Gesundheitssystem durch die Einsparung späterer Behandlungen zu reduzieren.
Zusammenfassung 19.8 Ausblick
19
Das Interesse an Regulationsstörungen ist in den letzten 10 Jahren rapide angestiegen. Sowohl in der Erforschung der Ursachen und der Langzeitfolgen als auch in der Implementation von Behandlungen konnten signifikante Fortschritte erreicht werden. Aktuell laufende Studien unterstützen die bereits bekannten Befunde kleinerer Untersuchugen, die zeigen konnten, dass multiple Regulationsstörungen im Kleinkindalter Unterregulationsprobleme (insbesondere Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder antisoziales Verhalten) in der späteren Kindheit vorhersagen. Zudem wird der Frage nachgegangen, inwieweit persistierende Regulationsprobleme internalisierende und kognitive Probleme vorhersagen können. Die Aufgabe zukünftiger Forschung besteht darin, zu klären, inwieweit Regulationsprobleme und Langzeitfolgen ggf. auf dritte gemeinsame Faktoren zurückzuführen sind, wie z. B. ähnliche genetische oder neurologische Bedingungen (Becker et al. 2007; Esser et al. 2007) und deren Interaktion mit elterlichen oder familiären Risikofaktoren. Die Behandlungen von Schrei,- Schlaf- und Fütterproblemen sind insbesondere dann effektiv und führen schnell zum Erfolg, wenn diese frühzeitig erkannt werden. Eine Herausforderung zukünftiger Forschung muss daher die Verbreitung dieser Befunde sein, damit möglichst viele Eltern von diesen Interventionen profitieren können. Leider werden Eltern zumeist erst im Kindergarten- oder Schulalter bei Psychotherapeuten vorstellig, wenn die Störungen bereits über längere Zeit persistieren. Eine wichtige Aufgabe ist es daher, dass Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und Psychologen im öffentlichen Gesundheitsbereich Hebammen und Kinderärzte darin schulen, Regulationsprobleme frühzeitig zu erkennen und effektiv zu behandeln. Solche Maßnahmen erfordern wiederum eine sorgfältige Schulung von Psychotherapeuten und die Entwicklung von Materialien für die Schulung von Kinderärzten und Hebammen, die systematisch empirisch evaluiert werden müssen. Neuere Präventionsmaßnahmen, die die schlimmsten Folgen von frühen Regulationsstörungen verhindern wollen – das Schütteln und Töten von Säuglingen mit Schreiproblemen, werden bereits in Kanada und den USA evaluiert (Barr et al., in press). Zu diesen neuen innovativen Anätzen gehören die Telefonberatung, Internetberatung und in Zukunft virtuelles Lernen. In unserer Arbeitsgruppe werden solche Interventionen für unterschiedliche Störungen aktuell entwickelt (siehe z. B. zum Bereich des Mobbing; http://www2. warwick.ac.uk/newsandevents/icast/archive/week26/bully/). Prävention hat das Potenzial, glücklichere Kinder und glücklichere Eltern zu schaffen und zudem Kosten für das
Verhaltensprobleme von Neugeborenen und Kleinkindern können als Störungen der Regulation und Integration biologischer und sozialer Funktionen beschrieben werden. Hierzu gehören vor allem exzessives Schreien, Schlafprobleme und Fütterungs- und Essprobleme mit oder ohne Wachstumsretardierung. Schreien, Schlafen und Essen sind primäre biologische Funktionen, und die Entstehungsbedingungen und Behandlungsmethoden für diese Problembereiche sind je nach Entwicklungsalter unterschiedlich. Klassische Verhaltensmodifikationstechniken sind in den ersten 4–6 Lebensmonaten nur bedingt anwendbar. Maßnahmen bei Säuglingen zielen auf die Unterstützung interner Verhaltenskontrolle durch die Schaffung angemessener Umweltbedingungen. Hierzu gehören die Einführung von Regelmäßigkeiten im Tagesablauf, Reduzierung externer oder multipler Stimulation und Ausbildung positiver Eltern-Kind Interaktionen. In der zweiten Hälfte des 1. Lebensjahres finden klassische verhaltenstherapeutische Techniken Anwendung. Allerdings bedürfen diese spezifischer Abwandlungen, um den Entwickungsaufgaben des Kindes unterschiedlicher Entwicklungsstadien gerecht zu werden. Therapieprogramme müssen individuell auf die Familie zugeschnitten sein.
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Kapitel 19 · Regulationsstörungen
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20
20 Bindungsstörungen Ute Ziegenhain
20.1
Einleitung
– 314
20.2
Klinische Beschreibung und Epidemiologie
20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.2.4 20.2.5 20.2.6 20.2.7 20.2.8
Reaktive Bindungsstörung – 314 Bindungsstörung mit Enthemmung – 316 Unabhängigkeit der beiden Subtypen von Bindungsstörungen – 316 Bindungsstörungen in Abgrenzung von organisierten Bindungsstilen und hochunsicherer Bindung – 317 Alternative Klassifikationen für Bindungsstörungen – 318 Prävalenz – 319 Komorbidität – 319 Prognose – 319
20.3
Ätiologie und Verlauf – 319
20.3.1 20.3.2 20.3.3
Bindungstheoretische Grundannahmen – 319 Hochunsichere Bindung und Bindungsstörungen als Abweichung von theoretisch erwartbarem Bindungsverhalten – 320 Empirische Befunde zu Ätiologie und Verlauf – 321
20.4
Diagnostik – 321
20.5
Therapeutisches Vorgehen – 323
20.5.1 20.5.2 20.5.3
Eltern-Kind-Therapie: Förderung elterlicher Feinfühligkeit Begleitende Elternarbeit – 324 Kooperation der Eltern – 325
20.6
Fallbeispiel
20.7
Empirische Belege zum therapeutischen Vorgehen
20.8
Ausblick
– 324
– 326
– 328
Zusammenfassung Literatur
– 314
– 328
– 329
Weiterführende Literatur
– 330
– 327
314
20
Kapitel 20 · Bindungsstörungen
20.1
Einleitung
Bindung ist ein biologisch angelegtes Motivationssystem. Insbesondere in Situationen von Verunsicherung und Belastung suchen Kleinkinder Nähe und Kontakt zu einer nahestehenden Bezugsperson, um Sicherheit und Trost zu finden. Damit verbunden ist eine innere Erregung beim Kind (Herzfrequenzanstieg), die erst mit Kontakt zur Bindungsperson wieder abklingt.
Fallbeispiele In einem Raum einer kinderpsychiatrischen Ambulanz steht ein 12 Monate altes Mädchen neben dem Stuhl der Mutter, als die Untersucherin hereinkommt und der Mutter gegenüber am Tisch Platz nimmt. Das Mädchen reagiert deutlich verunsichert auf die neue Person, es schaut ängstlich und stößt einen wimmernden Laut aus. Ohne die Mutter anzusehen, geht es mit ängstlichem Gesichtsausdruck von Mutter und Untersucherin weg und lehnt die Stirn an die Wand, die Augen weit aufgerissen. Ein 4-jähriger Junge wird wegen eines Sturzes in die Notaufnahme der Kinderklinik gebracht, dort medizinisch versorgt und zur weiteren Abklärung stationär aufgenommen. Er fügt sich ohne Protest und reagiert nicht auf die Umarmung der Mutter zum Abschied. Auch danach fragt er nicht nach seinen Eltern. Er ist sehr schnell vertraut mit der Krankenschwester, die ihn auf der Station versorgt, umarmt sie und fragt sie, ob sie nun seine Mutter sei.
Beide Kinder zeigen in Ihrem Bindungsverhalten auffällige Verhaltensweisen, die im bindungstheoretischen Modell als gestörtes Bindungsverhalten bezeichnet werden. Sie suchen in einer verunsichernden bzw. belastenden Situation nicht die Nähe und den Trost ihrer Bindungsperson. Das kleine Mädchen wendet sich, trotz offensichtlicher Verunsicherung, nicht an seine Mutter. Der Junge hingegen scheint durch die für andere Kinder dieses Alters belastende Trennung von der Mutter in einer unbekannten Umgebung wenig beeindruckt und verhält sich oberflächlich freundlich und distanzlos gegenüber der fremden Krankenschwester. Die beiden Beispiele illustrieren zwei unterschiedliche Störungsbilder im Bindungsverhalten von Kleinkindern: »Die reaktive Bindungsstörung« und die »Bindungsstörung mit Enthemmung«.
20.2
Klinische Beschreibung und Epidemiologie
Bindungsstörungen sind innerhalb der ICD-10 und dem DSM-IV, relativ ähnlich definiert. In beiden dieser diagnostischen Manuale werden Bindungsstörungen als Verhaltensweisen beschrieben, die in den meisten sozialen Kontexten entwicklungsunangemessen sind. In der ICD-10 werden Bindungsstörungen in sozialen Beziehungen im Zusammenhang mit schwerer elterlicher Vernachlässigung und Misshandlung beschrieben, während sie im DSM-IV mit massiv pathologischer (elterlicher) Betreuungssituation in Zusammenhang gebracht werden. In beiden Manualen wird als klassifikationsrelevant vorausgesetzt, dass die Störung vor dem 5. Lebensjahr des Kindes einsetzt. Sowohl nach der ICD-10 als auch nach dem DSM-IV lassen sich zwei Typen von Bindungsstörungen klassifizieren. Gemäß des ersten Typs, der »reaktiven Bindungsstörung im Kindesalter« (F94.1) nach ICD-10 bzw. des »gehemmten« Typs nach DSM-IV (»inhibited«), werden kindliche Verhaltensweisen entweder als extrem furchtsam oder gehemmt bzw. ambivalent und widersprüchlich definiert. Gemäß des zweiten Typs der »Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung« (F94.2) nach ICD-10 bzw. des »enthemmten« Typs nach DSM-IV (»disinhibited«) werden kindliche Verhaltensweisen als enthemmt und distanzlos gegenüber verschiedensten Bezugspersonen definiert (. Tab. 20.1). Primär organische Ursachen und/oder tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84) sind ausgeschlossen.
20.2.1 Reaktive Bindungsstörung
Reaktive Bindungsstörungen sind neben übermäßig ängstlichem und wachsamem Verhalten durch widersprüchliche oder ambivalente Reaktionen in unterschiedlichen sozialen Situationen gekennzeichnet. Weitere Kriterien sind emotionale Auffälligkeiten, die sich in verminderter Ansprechbarkeit, Furchtsamkeit, Rückzugsverhalten sowie aggressivem Verhalten gegenüber sich selbst oder gegenüber anderen als Reaktion auf das eigene Unglücklichsein beobachten lassen (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2007). Gegenüber Bindungspersonen sind die Symptome ambivalenter Reaktionen z. B. durch wechselnde Nähesuche und Vermeidung von Körperkontakt oder Trostversuchen gekennzeichnet, auch oder insbesondere in für das Kind belastenden Situationen. Kennzeichnend für Kinder mit reaktiver Bindungsstörung ist außerdem ein gleichermaßen aggressives wie stark zurückgenommenes Verhalten gegenüber Bindungspersonen. Dennoch lassen sich in der Interaktion mit adäquat reagierenden Bezugspersonen soziale Gegenseitigkeit und Ansprechbarkeit beobachten. Die Interaktion mit Gleichaltrigen, wie z. B. soziales Spielen, ist eingeschränkt.
315 20.2 · Klinische Beschreibung und Epidemiologie
. Tab. 20.1. Definitionskriterien frühkindlicher Bindungsstörungen nach ICD-10 und DSM-IV. (Mod. nach Minnis et al. 2006) Bindungsstörungen ICD-10
DSM-IV
Entwicklungsunangemessene Verhaltensweisen in sozialen Beziehungen im Zusammenhang mit schwerer elterlicher Vernachlässigung und Misshandlung
Auftreten in sozialen Beziehungen mit massiv pathologischer (elterlicher) Betreuungssituation
Allgemeine Charakteristika Situationen des Auftretens
Beginn der Störung
Beginn in den ersten 5 Lebensjahren
–
Verlauf
Andauernd, aber veränderbar bei Veränderungen in der Beziehungsumgebung
Andauernd, aber Verbesserung möglich bei angemessen unterstützender Umgebung
Störungstyp 1
Reaktive Bindungsstörung
Gehemmte Form der Bindungsstörung (»inhibited«)
1. Ängstlich, übermäßig wachsam (hypervigilant), keine Reaktion auf Trost
1. Exzessiv gehemmt oder hypervigilant in sozialen Situationen
2. Widersprüchliche oder ambivalente soziale Reaktionen, besonders bei Trennung und Wiedervereinigung
2. Ambivalente oder widersprüchliche Reaktionen
3. Kaum soziale Interaktion mit Gleichaltrigen
–
4. Aggressiv gegenüber sich selbst und anderen
–
5. Apathisch, unglücklich
–
6. Ggf. sozialer Minderwuchs
–
Bindungsstörung mit Enthemmung
Ungehemmte Form der Bindungsstörung (»disinhibited«)
1. Diffuse bzw. mangelnde exklusive Bindungen
1. Diffuse Bindungen
2. Wenig modulierte, distanzlose Interaktionen, Aufmerksamkeitssuche
2. Exzessive Vertrautheit mit Fremden
3. Eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen
–
4. Kann mit umschriebenen Entwicklungsstörungen einhergehen
–
Störungstyp 2
Die reaktive Bindungsstörung tritt in der klinischen Praxis nahezu immer bei ausgeprägter Vernachlässigung oder psychischer und körperlicher Misshandlung auf (reaktiv). Jedoch fehlen bisher hinreichende Befunde über den Zusammenhang unzureichenden bzw. grob inadäquaten Elternverhaltens und der reaktiven Bindungsstörung. Insofern ist ein vernachlässigender oder misshandelnder Beziehungskontext keine diagnostische Bedingung. An-
dererseits, so die Leitlinien der ICD-10, sollte die Diagnose einer reaktiven Bindungsstörung ohne Hinweise auf Vernachlässigung oder Misshandlung mit Vorsicht gestellt werden (Dilling et al. 1993). Auch die »American Academy of Child and Adolescent Psychiatry« betont, dass Zeichen von Bindungsstörungen klinisch nie ohne schwerwiegende Vernachlässigung berichtet wurden (AACAP Official Action 2005).
Fallbeispiel Die folgende Fallvignette eines drei Monate alten Säuglings in Interaktion mit der Mutter illustriert, wie sich im Prozess der Etablierung einer Bindungsbeziehung Symptome einer reaktiven Bindungsstörung in Abhängigkeit von kritischem Elternverhalten in alltäglichen Interaktions- und Pflegesituationen früh manifestieren. Die alleinerziehende Mutter in einer psychosozial belasteten Lebenssituation erfüllte die Kriterien einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (F60.30). 6
Im Verlauf mehrerer Hausbesuche, bei denen MutterKind-Interaktionen videographiert wurden, war die Mutter im Umgang mit ihrem drei Monate alten Säugling durchgängig ruppig, bisweilen sogar aggressiv und bezog ihr Verhalten nicht auf die jeweiligen Bedürfnisäußerungen und Signale des Kindes. Auffällig war weiterhin ein durchgängig unbeweglicher und ausdrucksloser Gesichtsausdruck der Mutter. Sie sprach kaum mit dem Kind. Wenn sie es kurz ansprach, waren dies knappe Befehle (»mach dich mal lang«,
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Kapitel 20 · Bindungsstörungen
»stell dich nicht so an«), die sie unmoduliert und laut, häufig auch in einem ärgerlich-aggressiven Tonfall an das Kind richtete. Der Säugling reagierte überwiegend überfordert und belastet. Dies zeigte sich etwa in plötzlichen Tonuswechseln, in Stresszeichen wie plötzlichem Grimassieren oder Herausstrecken der Zunge und zunehmend häufiger in Erstarrung gepaart mit glasigem Blick. So drehte z. B. die Mutter beim Wickeln das Kind sehr schnell und ruppig um, um ihm das Hemdchen anzuziehen. Der Säugling verlor an Tonus und wurde schlaff. Die Mutter zog ihn im selben Tempo und mit heftigen Bewegungen vollständig an, drehte ihn erneut und hielt ihn dicht an ihr Gesicht. Dann küsste sie ihn heftig. Der Säugling wurde erneut schlaff, dann steif und drehte, als Zeichen deutlicher Überstimulation, das Gesicht weg. Oder der Säugling war als Reaktion auf das harsche und unangemessen schnelle Handling der Mutter deutlich hyperton und zitterte stark mit beiden Armen. Als die Mutter ihn
20.2.2 Bindungsstörung mit Enthemmung
Kriterien von Bindungsstörung mit Enthemmung sind diffuse bzw. mangelnde exklusive Bindungen während der ersten fünf Lebensjahre, situationsübergreifend wenig modulierte und distanzlose Interaktionen mit unvertrauten Personen sowie anklammerndes Verhalten oder Suche nach Aufmerksamkeit. Diffuse Bindungen mit Bezugspersonen
sodann mit schnellen und heftigen Bewegungen am ganzen Körper eincremte, überspannte er sich noch stärker und streckte überdies die Zunge heraus. Letzteres Verhalten gilt als deutliches Stresszeichen bei Säuglingen. Die Mutter reagierte nicht auf diese Belastungszeichen des Kindes. Stattdessen brachte sie ihr Gesicht mit bedrohlich aufgerissenen Augen nah an das des Kindes, dass es für dieses nicht möglich war, sie zu fixieren. Die Mutter äffte die herausgestreckte Zunge nach: »Jetzt fängt sie schon wieder an zu schielen«. Das Kind begann zu jammern und dann lauter zu weinen. Die Mutter sagte: »Bist ruhig!«, äffte sein Weinen nach, nahm das Kind hoch und setzte es auf ihren Schoß. Der Säugling verstummte sofort, überstreckte sich und wandte sein Gesicht mit aufgerissenen Augen und herausgestreckter Zunge von der Mutter ab. Er erstarrte, bekam einen glasigen Blick und wirkte für mehrere Minuten wie eingefroren. Erst als die Mutter sich ihm mit ihrem Gesicht sehr dicht näherte, löste sich die Erstarrung und er begann erneut zu weinen.
zeigen sich darin, dass insbesondere Bindungsbedürfnisse, wie Suche nach Trost oder Nähe, unterschiedslos gegenüber Bezugspersonen und unvertrauten Personen gezeigt werden. Auch für den Typ Bindungsstörung mit Enthemmung sind aggressives Verhalten (gegen sich selbst und gegen andere) sowie eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen und eingeschränkt soziales Spiel kennzeichnend.
Fallbeispiel Die folgende Fallvignette illustriert das Verhalten des oben beschriebenen Säuglings mit 20 Monaten. Das Kind war nach Misshandlung durch die leibliche Mutter in einer Pflegefamilie untergebracht worden. Es wurde aufgrund seines auffälligen Verhaltens in einer kinderpsychiatrischen Institutsambulanz vorgestellt. Das Kind reagierte auf Grenzen, die die Pflegeeltern ihm setzten, bockig und verweigernd, indem es sich die Ohren zuhielt. Im sozialen Kontakt war es deutlich distanzgemindert und verhielt sich anderen gegenüber dominant, aggressiv und rivalisierend. Es zeigte keinerlei
20.2.3 Unabhängigkeit der beiden Subtypen
von Bindungsstörungen Die beiden Subtypen der Bindungsstörungen werden in den Klassifikationssystemen des ICD-10 und des DSM-IV als zwei voneinander unabhängige Störungsbilder beschrieben. Allerdings konnte ihre Unabhängigkeit bisher empirisch nicht bestätigt werden. Klinisch lässt sich häufig beobachten, dass sich Bindungsstörungen mit Enthemmung
Ausdauer und Vorsicht in seinem Explorationsverhalten und wenig Gespür für gefährliche Situationen. Dies machte eine kontinuierliche Betreuung und Aufsicht erforderlich. Hinsichtlich der charakteristischen frühkindlichen Entwicklungsphasen zeigte sich eine deutliche Verzögerung in Motorik und Sprache. Das wohlgenährte Kind hatte ein gieriges Essverhalten, das Einschlafen war mit großen Problemen verbunden. Aufgrund der Verhaltensbeobachtungen und Schilderungen wurde eine Bindungsstörung mit Enthemmung diagnostiziert (F94.2).
häufig aus der reaktiven Bindungsstörung, wie sie insbesondere bei jüngeren Kindern diagnostiziert wird, entwickeln (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2007). Neuere Befunde zeigten, dass die beiden Subtypen von Bindungsstörungen auch empirisch gemischt auftraten. Bei einer Gruppe von 30 Monate alten rumänischen Kleinkindern, die in einer Heimeinrichtung lebten (n=61), bestanden bedeutsame Korrelationen zwischen den beiden Sub-
317 20.2 · Klinische Beschreibung und Epidemiologie
typen (R=0,66). In derselben Untersuchung konnte aber clusteranalytisch auch gezeigt werden, dass die beiden Typen unabhängig voneinander auftraten. Unterschieden werden konnten Cluster mit reaktiver Bindungsstörung, mit Bindungsstörung mit Enthemmung, mit gemischten Bindungsstörungen sowie ein Cluster ohne Bindungsstörungen (Smyke et al. 2002). Diese Ergebnisse konnten in einer Untersuchung mit misshandelten Kleinkindern repliziert werden (Zeanah et al. 2004). Diese Befunde lassen vermuten, dass die beiden Störungstypen sich voneinander unterscheiden lassen. Es zeigt sich aber auch ein gemischtes Auftreten von Symptomen reaktiver Bindungsstörung und von Bindungsstörung mit Enthemmung. Derzeit nicht abschließend klären lässt sich, ob es sich dabei um ein eigenständiges Störungsbild handelt oder um das komorbide Auftreten zweier voneinander unabhängiger Störungsbilder (Zeanah et al. 2003).
20.2.4 Bindungsstörungen in Abgrenzung
von organisierten Bindungsstilen und hochunsicherer Bindung Bindungsstörungen, die gemäß der ICD-10 bzw. dem DSM-IV klassifiziert werden, lassen sich von Bindungsstilen, wie sie im Kontext der ethologischen Bindungstheorie entwickelt wurden, abgrenzen. Zu Bindungsstilen gehören als normale Entwicklungsvarianten die sichere und die unsichere Bindung sowie die sog. hochunsichere Bindung, die entwicklungspsychopathologisch interpretierbar ist. Vor dem Hintergrund des Erklärungsmodells der ethologischen Bindungstheorie lassen sich gelingende Beziehungsentwicklungen als auch nicht gelingende Beziehungen sowie Bindungsstörungen einordnen und normale Entwicklungsvarianten von entwicklungspsychopathologisch interpretierbaren Bindungen und Störungsbildern abgrenzen. In jedem Falle geht es per definitionem um beziehungsbezogene Verhaltensweisen und auch Störungen, die sich individuell manifestieren.
Sichere und unsichere Bindung als normale Entwicklungsvarianten Die Stile sicherer und unsicherer Bindung (organisierte Bindungsstile) sind normale Entwicklungsvarianten, die sich im Kontext der »Ainsworth-Fremden-Situation« (Ainsworth et al. 1978; 7 Kap. III/4) als interindividuelle Unterschiede im Verhalten gegenüber der Bindungsperson nach kurzer Trennung zeigen. Sie lassen sich als unterschiedliche (Anpassungs-) Strategien im Umgang mit Belastung und emotionaler Verunsicherung interpretieren. Die Bindungsstile sind: sichere Bindung (Typ B) sowie die beiden Typen unsicherer Bindung, nämlich unsicher-vermeidende Bindung (Typ A) und unsicher-ambivalente Bindung (Typ C).
Sicher gebundene Kinder (Typ B) nutzen ihre Bezugsperson in der »Fremden Situation« als sichere Basis zur Erkundung und suchen verstärkt Nähe und Körperkontakt, wenn sie sich belastet oder verunsichert fühlen. Sie balancieren moduliert und flexibel zwischen Bindungs- und Erkundungsverhalten. In Abhängigkeit davon, wie verunsichert sie durch die Abwesenheit der Mutter im vorgegebenen Ablauf der »Fremden Situation« waren, suchen sie bei deren Rückkehr entweder unmittelbar engen Körperkontakt mit ihr oder aber begrüßen sie offen und freudig. Unsicher gebundene Kinder nutzen hingegen ihre Bindungsperson in der »Fremden Situation« nicht oder nur eingeschränkt als sichere Basis. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder (Typ A) wirken emotional wenig beteiligt. Sie schauen die Bindungsperson nicht an oder vermeiden Körperkontakt mit ihr, wenn sie nach kurzer Abwesenheit zurückkommt. Sie drosseln oder unterdrücken ihr Bindungsverhalten und die damit einhergehenden Gefühle und scheinen ihre Aufmerksamkeit und ihr Interesse verstärkt auf Gegenstände zu konzentrieren. Dennoch weist der Anstieg des Cortisolspiegels bei den Kindern dieser Gruppe darauf hin, dass sie in dieser Situation belastet waren. Sie unterscheiden sich damit von sicher gebundenen Kindern, deren Cortisolspiegel nicht ansteigt (Spangler u. Grossmann 1993). Hinweise auf Gefühlsambivalenz finden sich im Verhalten unsicher-ambivalent gebundener Kinder (Typ C). Sie reagieren in der »Fremden Situation« sehr belastet und suchen bereits vor der kurzen Trennung von der Bindungsperson häufig Körperkontakt mit ihr. Gleichzeitig aber zeigen sie deutlichen Widerstand und Unzufriedenheit mit diesem Kontakt, reagieren ärgerlich und gereizt und lassen sich nur schwer oder gar nicht von der Bindungsperson beruhigen, wenn diese nach der Trennung zurückkommt (Ziegenhain u. Fegert 2004).
Hochunsicher-desorganisierte Bindung als entwicklungspsychopathologisch interpretierbarer Bindungstyp Entwicklungspsychopathologisch interpretierbar sind die Typen der sog. hochunsicheren oder atypischen Bindung (Main u. Solomon 1990; Cassidy u. Marvin 1992; Crittenden 1994; Ziegenhain u. Fegert 2004). Zu dieser gehören als die bekannteste Form die hochunsicher-desorganisierte Bindung (Typ D; Main u. Solomon 1990). Zumindest in der frühen Kindheit ist eines der zentralen Merkmale desorganisierter Bindung, dass die Kinder in Situationen erhöhter Belastung und erhöhter innerer Erregung ihr Verhalten nicht mehr kohärent organisieren können. Sie können bei Aktivierung ihres Bindungssystems und des damit verbundenen Anstiegs ihres Cortisolspiegels nicht auf eine organisierte Verhaltensstrategie zurückgreifen. Diese Kinder zeigen zwar gewöhnlich eine der drei Strategien sicherer bzw. unsicherer Bindung in der »Fremden Situation«, diese sind aber überlagert durch Konfliktverhalten gegenüber der
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Kapitel 20 · Bindungsstörungen
Bindungsperson. Zu diesem Konfliktverhalten gehören bizarr anmutende Verhaltensweisen, wie z. B. starke Gehemmtheit in der Situation, körperliches Erstarren über mehrere Sekunden oder Furchtreaktionen (»freezing«; Main u. Solomon 1990). Bei älteren Kindern zeigt sich hochunsichere Bindung in zwar organisiertem, aber stark auffälligem und unangemessen kontrollierendem Verhalten. Dieses kontrollierende Verhalten wird z. B. deutlich in übertrieben fürsorglichem Verhalten gegenüber der Bindungsperson bis hin zur Rollenumkehr oder auch in bestrafendem oder beschämendem Verhalten ihr gegenüber (Cassidy u. Marvin 1992; Crittenden 1994).
Bindungsstörungen als psychische Störung des Kindesalters Bindungsstörungen beschreiben eine voll ausgebildete psychische Störung des Kindesalters. Sie unterscheiden sich damit von den Konzeptionen sicherer bzw. unsicherer Bindung, die nicht entwicklungspsychopathologisch interpretierbar sind. Die oben beschriebene hochunsichere Bindung und die reaktive Bindungsstörung weisen jedoch eine phänotypische Nähe auf; Kinder mit einer hochunsicherdesorganisierten Bindung zeigen häufig die gleichen Verhaltensweisen wie Kinder mit reaktiver Bindungsstörung (O’Connor u. Zeanah 2003; Minde 2003). So werden Verhaltensweisen wie z. B. »frozen watchfulness« bei bindungsgestörten Kindern bzw. Erstarren oder Einfrieren (»freezing«) bei desorganisierten Kindern in Anwesenheit der Bindungsperson beschrieben (American Psychiatric Association 2000; World Health Organization 1992; Main u. Solomon 1990). Dennoch geht eine hochunsichere Bindung nicht notwendigerweise immer mit Symptomen einer reaktiven Bindungsstörung einher (O’Connor 2002).
20.2.5 Alternative Klassifikationen
für Bindungsstörungen Vor dem Hintergrund der entwicklungspsychologischen und klinischen Bindungstheorie wurden in den vergangenen Jahren alternative Vorschläge zur Klassifikation von Bindungsproblemen und -störungen entwickelt, die über die bestehenden kinderpsychiatrischen Nosologien hinausgehen. Sie wurden aus der bindungstheoretischen Forschung abgeleitet (Zeanah et al. 2000). Innerhalb dieser alternativen Klassifikationen werden Bindungsstörungen mit fehlender Bindung, Störungen der sicheren Basis sowie Bindungsstörungen nach Verlust einer Bindungsperson unterschieden. Ähnlich wie in den Kriterien der ICD-10 und des DSM-IV werden auch in dieser alternativen Klassifikation die Störungstypen danach unterschieden, dass keine Bindung zu einer exklusiven Bindungsperson vorhanden ist. Bindungsstörungen mit fehlender Bindung: Das Störungsbild »fehlende Bindung mit emotionalem Rückzug«
beschreibt emotionale zurückgezogene und nicht gebundene Kinder, das Störungsbild »fehlende Bindung mit distanzlosem sozialem Verhalten« beschreibt Kinder, die Trost von fremden oder wenig vertrauten Menschen suchen, ohne entwicklungsangemessene Unterscheidung zwischen fremden und vertrauten Menschen bzw. Zurückhaltung Fremden gegenüber (Zeanah et al. 2000). Störungen der sicheren Basis sind als Bindungsstörung mit Gehemmtheit, als Bindungsstörung mit Überangepasstheit, als Bindungsstörung mit Selbstgefährdung sowie als Bindungsstörung mit Rollenumkehr definiert (Zeanah et al. 2000). Einige dieser Beziehungsmuster wie das der Überangepasstheit im Misshandlungskontext oder das der Rollenumkehr konnten empirisch belegt werden (Crittenden u. DiLalla 1988; Solomon et al. 1995). Darüber hinaus haben diese Muster Eingang in unterschiedliche Klassifikationssysteme für die Erfassung von Bindungsqualität gefunden (Crittenden 1994, Cassidy u. Marvin 1992). Störungen nach Verlust einer Bindungsperson beschreibt die aus der frühen Bindungsforschung bekannte Abfolge von Protest, Verzweiflung und Ablösung von der Bindungsperson (Robertson u. Robertson 1989). Die traditionellen Diagnosekriterien im DSM-IV oder ICD-10 haben die Therapie von Bindungsstörungen bisher wenig beeinflusst. Die Unterscheidungen nach den alternativen Klassifikationsvorschlägen könnten demgegenüber spezifische klinische Implikationen für das therapeutische Vorgehen ermöglichen. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung von Diagnoseverfahren bzw. die Modifikation von bestehenden Verfahren, die diese Formen von Bindungsstörungen erfassen und aus denen sich spezifisches therapeutisches Vorgehen ableiten lässt (7 Kap. III/4). In den seltenen Fällen der Kinder mit fehlender Bindung – meist Kinder mit häufig wechselnden Bezugspersonen nach schwerer Vernachlässigung, wie einige Pflegekinder oder wie die aus Rumänien adoptierten und massiv deprivierten Kinder – scheinen qualitativ unterschiedliche Erlebensund Verarbeitungsweisen gegenüber Kindern mit einer, auch im Misshandlungskontext, etablierten Bindung vorzuliegen. Dies zeigt sich etwa darin, dass Kinder mit fehlender Bindung nicht oder wenig interessiert an der Pflegeperson sind, während Kinder mit etablierter Bindung Schwierigkeiten haben, die Bezugsperson als sichere Basis zu nutzen. Im ersteren Fall steht die Etablierung einer Bindung zu einer emotional verfügbaren und verlässlichen erwachsenen Bezugsperson in einem stabilen und entwicklungsfördernden Milieu im Vordergrund. Bei Störungen der sicheren Basis geht es darum Verzerrungen in bestehenden Eltern-Kind-Beziehungen auszugleichen, die sich vor dem Konstrukt der sicheren Basis ableiten lassen. Danach liegt ein Schwerpunkt der Eltern-Kind-Therapie bzw. der begleitenden Elternarbeit darin, kritisches Elternverhalten, wie etwa massiv kontrollierendes Verhalten, das z. B. häufig von Eltern von Kindern mit überangepasstem Verhalten gezeigt wird, zu verändern (7 Abschn. 20.5). Bei Bindungs-
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störungen nach Verlust einer Bindungsperson schließlich liegt der Schwerpunkt von Diagnostik und Therapie darin, angemessene Trauerprozesse von zu langer und unangemessener Trauer abzugrenzen und im letzteren Fall therapeutisch zu begleiten.
20.2.6 Prävalenz
Obwohl das klinische Bild von Bindungsstörungen lange bekannt ist, gibt es nach wie vor so gut wie keine empirischen Daten über ihre Auftretenshäufigkeit. Gemäß klinischen Beobachtungen wird sie als sehr gering eingeschätzt (O’Connor 2002). Richter u. Volkmar (1994) extrapolierten auf der Basis von Häufigkeiten von Misshandlung und Vernachlässigung eine Prävalenz von weniger als 1%. Ergebnisse aus der Untersuchung einer Inanspruchnahmepopulation zeigten, dass von Kindern, die bei ihrer leiblichen Mutter aufwuchsen, unter 1% an einer Bindungsstörung nach ICD-10 litten, während mehr als 25% aller Kinder aus Pflegefamilien und über 10% der im Durchschnitt älteren Heimkinder die Kriterien einer der beiden Diagnosen einer Bindungsstörung nach ICD-10 aufwiesen (Fegert 1998). In einer anderen Inanspruchnahmepopulation aus einer kinder- und jugendpsychiatrischen Spezialambulanz wurde etwa ein Drittel der überwiegend wegen Misshandlung vorgestellten Kleinkinder retrospektiv mit einer Bindungsstörung klassifiziert (Boris et al. 1998). Ergebnissen einer weiteren Untersuchung misshandelter Kleinkinder zeigen, dass bei etwa 40% dieser Kinder eine Bindungsstörung diagnostiziert wurde (Zeanah et al. 2004).
20.2.7 Komorbidität
Es existieren wenige empirische Studien zur Komorbidität von Bindungsstörungen. Gemäß klinischer Erfahrung und vorliegender Fallstudien ist altersbedingt von einer Verlaufskomorbidität auszugehen, die sich in Störungen des Sozialverhaltens, emotionalen Störungen, hyperkinetischen Störungen, Angststörungen und Intelligenzminderung äußert (Richters u. Volkmar 1994; Pfeiffer u. Lehmkuhl 2003; Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2007). Das Auftreten aggressiven Verhaltens als komorbide Symptomatik wird kontrovers diskutiert. Aggressives Verhalten zeigte sich bei Kindern mit Bindungsstörungen mit schwerem Misshandlungshintergrund (O’Connor 2002), aber nicht bei Kindern mit Bindungsstörungen, die früh institutionalisiert waren. Diese Kinder zeigten eher passives Verhalten (Tizard u. Hodges 1978; Smyke et al. 2002). Vor dem Hintergrund der wenigen vorliegenden Studien ist die Frage der Abgrenzung von Bindungsstörungen zu anderen Begleitsymptomen nicht eindeutig. Während sich kognitive Verzögerungen selbst bei massiv deprivier-
ten Kindern von Bindungsstörungssymptomen unterscheiden ließen (O’Connor et al. 2000; Smyke et al. 2002; O’Connor 2002), wiesen Verhaltensprobleme wie etwa Aufmerksamkeits- oder Hyperaktivitätsstörungen oder auch sprachliche Verzögerungen nur wenig oder moderate Zusammenhänge mit Bindungsstörungssymptomen auf. Mit der Frage der Abgrenzung zu anderen Störungsbildern ist die mangelnde Diagnosespezifität von Bindungsstörungen verbunden. In der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis werden die beiden Bindungsstörungsdiagnosen fast ausschließlich auf schwer vernachlässigte und früh misshandelte Kinder angewandt. Es geht also um massive Deprivationsfolgen (7 Kap. III/48). Mit der Diagnose von Bindungsstörungen bei misshandelten und vernachlässigten Kindern gehen häufig somatische Erkrankungen und Begleiterscheinungen einher, wie sie bei Misshandlung und Vernachlässigung auftreten können. Dazu gehören die frühkindliche nicht organische Gedeihstörung und der psychosoziale Minderwuchs. ! Bindungsstörungen sind sehr komplexe und damit schwer zu behandelnde Störungsbilder.
20.2.8 Prognose
Kinder mit einer Bindungsstörungsdiagnose haben eine ungünstige Prognose. Dies lässt sich aufgrund der unzureichenden bzw. fehlenden Datenbasis derzeit nur klinisch ableiten. Bei sehr vielen ursprünglich als Bindungsstörung mit Enthemmung diagnostizierten Kindern wird im späten Jugendalter oder jungen Erwachsenenalter die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung gestellt (Ziegenhain u. Fegert 2004).
20.3
Ätiologie und Verlauf
Erklärungen zur Entstehung von Bindungsstörungen lassen sich theoretisch aus einem soziobiologischen-ethologischen Erklärungsmodell ableiten (O’Connor 2002). Danach lassen sich Bindungsstörungen als massive Abweichung biologisch erwartbaren Verhaltens betrachten, wonach Kinder unter Belastung unweigerlich Nähe und Kontakt zu einer Bindungsperson suchen bzw. als Verletzung der grundlegenden Organisation des Bindungssystems.
20.3.1 Bindungstheoretische Grundannahmen
Bindung ist ein biologisch festgelegtes Motivationssystem, das sich beim Säugling und Kleinkind im Verlauf der ersten zwei bis drei Lebensjahre etabliert. Das sog. Bindungssystem beschreibt die Organisation von Verhaltensweisen, über die das Kleinkind unter Stress Nähe und (Körper-)
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Kapitel 20 · Bindungsstörungen
Kontakt zu einer oder mehreren Bindungspersonen herstellt (7 Kap. III/4). Gemäß seiner stammesgeschichtlich begründeten Funktion dient das Bindungssystem dem Überleben. Es wird insbesondere in Situationen von Verunsicherung oder Angst ausgelöst. Die Aktivierung des Bindungssystems lässt sich beim Kind an innerer Erregung (Herzfrequenzanstieg) beobachten, die erst mit Nähe zur bzw. Kontakt mit der Bindungsperson wieder abklingt (Spangler u. Grossmann 1993). In einem weitergehenden entwicklungspsychologischen Verständnis unterstützen Bindungspersonen die physiologische, emotionale und Verhaltensregulation von Kindern. Diese externe Regulationshilfe von Bindungspersonen zeigt sich z. B. darin, dass sie vom Kleinkind als sog. sichere Basis zur unbelasteten und interessierten Erkundung der Umgebung genutzt werden (Ainsworth et al. 1978); das Interesse an Exploration und Erkundung gilt als komplementäres Bedürfnis zum Bindungsbedürfnis. Eine ausgewogene Verwirklichung von Sicherheits- und Bindungsbedürfnissen auf der einen und Erkundungs- bzw. Autonomiebestrebungen auf der anderen Seite lassen sich demnach mit Bindungssicherheit gleichsetzen. Demgegenüber lässt sich ein unausgewogenes Verhältnis bzw. eine Dysregulation zwischen diesen beiden Bedürfnissen als Bindungsunsicherheit charakterisieren (Ziegenhain 2004a). Vor dem Hintergrund interindividueller Unterschiede in der Organisation von Bindung lassen sich der Bindungsstil sicherer (Typ B) und die beiden Bindungsstile unsicherer Bindung (Typ A unsicher-vermeidend, Typ C unsicher-ambivalent) unterscheiden (7 Abschn. »Sichere und unsichere Bindung als normale Entwicklungsvarianten«). Ihre Entwicklung steht in einem zwar mä-
ßigen, aber durchaus robusten empirischem Zusammenhang mit der Qualität elterlichen feinfühligen Verhaltens. Des Weiteren lassen sich aus sicherer Bindung im Kleinkindalter positive sozial-emotionale Kompetenzen im Vorschul- und Schulalter, ebenso wie eine spätere positive Selbstwerteinschätzung voraussagen und von den sozial-emotionalen Kompetenzen bei unsicherer Bindung unterscheiden. ! Eine sichere Bindung lässt sich als Schutzfaktor interpretieren. Unsichere Bindung gilt als Risikofaktor mit belegten Entwicklungsrisiken wie eingeschränkte sozial-emotionale Kompetenzen oder mangelnder Selbstwert, die jedoch nicht immer klinisch relevant sind.
20.3.2 Hochunsichere Bindung und Bindungs-
störungen als Abweichung von theoretisch erwartbarem Bindungsverhalten Hochunsichere Bindungen und Bindungsstörungen lassen sich entwicklungspsychopathologisch interpretieren. Sie sind unterschiedlich konzeptualisiert. Der Typ hochunsicher-desorganisierte Bindung wurde im Kontext entwick-
lungspsychologisch-bindungstheoretischer Forschung definiert. Demgegenüber entstammt das Konzept der Bindungsstörungen der Nosologie psychischer Störungen. Dennoch beziehen sich beide Konzepte auf beziehungsbezogene Störungen, die sich individuell manifestieren. Dabei ähneln sich die Problembeschreibungen von hochunsicherer Bindung und von Bindungsstörungen darin, dass sie Verhaltensweisen von Kindern beschreiben, die in hohem Maße von den Bindungsverhaltensweisen abweichen, wie sie gemäß dem ethologischen Bindungsparadigma erwartet werden. Im Falle hochunsicher gebundener Kinder wird Furcht als übergreifende Beziehungserfahrung postuliert (Main u. Hesse 1990). Angenommen werden zwei Entwicklungsgänge, nämlich die Furcht der Kinder vor der Bindungsperson oder die Furcht der Bindungsperson, wobei sich Ängste der Bindungsperson selbst auf die Kinder auswirken. Danach resultiert die Furcht der Kinder entweder aus der direkten Interaktionserfahrung mit einer aggressiven oder misshandelnden Bindungsperson oder indirekt aus den Auswirkungen (potenziell) traumatischer Beziehungsvorerfahrungen der Bindungsperson, die die aktuelle Beziehung zum Kind beeinflussen (Main u. Hesse 1990). Nach dieser Hypothese ist das Kind in einem unlösbaren Konflikt gefangen. Furcht aktiviert, biologisch vorprogrammiert, das kindliche Bindungssystem. Das Kind muss daher unweigerlich Nähe und Kontakt zur Bindungsperson suchen. Ist aber die Bindungsperson, bei der das Kind Schutz sucht, gleichzeitig diejenige, die seine Furcht verursacht, dann kollabieren seine Verhaltensstrategien und seine Aufmerksamkeit. Sind solche konflikthaften Erfahrungen nachhaltig und/oder stark angstauslösend, beeinträchtigen sie offenbar die Bewältigungskompetenzen des Kindes und seine Fähigkeiten, seine Gefühle flexibel zu regulieren (Ziegenhain u. Fegert 2004). Die Kinder zeigen unter Belastung keine Nähe- und Kontaktsuche zur Bindungsperson bzw. bizarre Verhaltensweisen, z. B. starke Gehemmtheit in der Situation, körperliches Erstarren über mehrere Sekunden oder Furchtreaktionen. Eine solche Hemmung von Bindungsverhalten wird auch bei Kindern mit einer reaktiven Bindungsstörung gemäß ICD-10 oder DSM-IV angenommen. Das Verhalten eines Kindes, das etwa in einer unvertrauten Situation und bei offensichtlicher Belastung oder Angespanntheit die Bindungsperson nicht adressiert, widerspricht der bindungstheoretischen Erwartung. Im Falle der Bindungsstörung mit Enthemmung lässt sich von einer Überaktivität des Bindungssystems ausgehen. Diese lässt sich im Unvermögen des Kindes beobachten, differenziertes und persönlich bezogenes Bindungsverhalten gegenüber einer Bezugsperson zu zeigen. Das Verhalten eines Kleinkindes z. B., das in einer unvertrauten Situation bereitwillig und ohne soziale Rückversicherung bei der Bindungsperson mit einem fremden Menschen mitgeht, widerspricht der bindungstheoretischen Erwartung,
321 20.4 · Diagnostik
nach der das Kind sich bei einer unterstellten Verunsicherung an die Bindungsperson wendet. > Fazit Zusammenfassend wird die Nähe zwischen hochunsicherer Bindung aus dem entwicklungspsychologischen Konzept und den beiden Typen von Bindungsstörungen nach ICD-10 oder DSM-IV unterschiedlich eingeschätzt: Einige Autoren plädieren für die Sichtweise eines Spektrums von Bindungsstörungen. Ein solches dimensionales Modell ließe sich von sicherer Bindung, über die Formen organisierter unsicherer Bindung (vermeidend, ambivalent), über hochunsichere Bindung, über die Störungen der sicheren Basis bis zu Störungen bei fehlender Bindung aufspannen (Minde 2003). Andere Autoren erachten eine Festlegung auf eine dimensionale Betrachtungsweise angesichts fehlender bzw. inkonsistenter empirischer Belege als verfrüht (O’Connor u. Zeanah 2003).
20.3.3 Empirische Befunde zu Ätiologie
und Verlauf Über den Entwicklungsverlauf von Bindungsstörungen ist wenig bekannt. Die empirische Datenbasis bezieht sich auf wenige Längsschnittstudien über Kinder, die in Institutionen aufwuchsen. Wichtige Daten zum Entwicklungsverlauf von Bindungsstörungen wurden von der Arbeitsgruppe um Tizard, Hodges und Rees vorgelegt (Tizard u. Hodges 1978; Tizard u. Rees 1975). Danach wurden von insgesamt 65 Kindern zwischen zwei und vier Jahren 24 adoptiert, 15 kehrten in ihre Herkunftsfamilien zurück und 26 blieben im Heim. Mit vier Jahren hatten lediglich acht Kinder (30,8%) aus der Gruppe der Heimkinder eine exklusive Bindung zu einer Betreuerin entwickelt. Von den anderen Kindern waren acht (30,8%) emotional zurückgezogen, zeigten sozial ungewöhnliches Verhalten und kein exklusives Bindungsverhalten. Weitere zehn Kinder (38,4%) suchten Nähe und Aufmerksamkeit unterschiedslos bei Betreuerinnen oder bei fremden Menschen (Tizard u. Rees 1975). Die Ergebnisse dieser Studie beeinflusste maßgeblich die Klassifikation von Bindungsstörungen, wie sie erstmalig im DSM-III in die kinderpsychiatrische Nosologie aufgenommen wurde. In jüngerer Zeit wurde der Entwicklungsverlauf rumänischer Heimkinder nach der Adoption in englische bzw. kanadische Familien in zwei Längsschnittstudien untersucht (Chisholm 1998: n=76; O’Connor et al. 2000; n=111). Danach fanden sich bei diesen Kindern keine Symptome von reaktiver Bindungsstörung. Bei Kindern mit dem längsten Heimaufenthalt vor der Adoption zeigten sich allerdings nachhaltige Symptome von Bindungsstörung mit Enthemmung (diese Kinder hatten 7 bis 24 Monate Heimerfahrung und wurden mit Kindern verglichen, die weniger
als 4 bzw. 6 Monate Heimerfahrung hatten). Diese Zeichen von Bindungsstörung bestanden auch noch Jahre nach der Adoption; hingegen hatten die Kinder Entwicklungsrückstände im Wachstum, in der Intelligenz oder in schulischen Leistungen aufgeholt. Ebenso hatten sich Verhaltensprobleme gebessert. Inwieweit sich die beiden Typen von Bindungsstörungen auf eine unterschiedliche Entwicklung im Kindesalter zurückführen lassen, ist derzeit empirisch nicht geklärt. Gemäß klinischer Beobachtungen finden sich Symptome der Bindungsstörung mit Enthemmung eher bei Kindern, die massive Deprivationserfahrungen bzw. häufig wechselnde Bindungspersonen hatten, und Symptome der reaktiven Bindungsstörung eher bei Kindern, die massiv misshandelt wurden (O’Connor 2002). Viele Kinder erleben allerdings gleichermaßen häufig wechselnde Bezugspersonen als auch Misshandlung, sodass eine Unterscheidung schwierig ist (7 Abschn. 20.2.3). Das Fehlen einer stabilen und konstanten Bezugsperson scheint hinreichend dafür, dass Kinder Symptome von Bindungsstörung mit Enthemmung entwickeln. In unterschiedlichen Studien bei Heimkindern und im Kontext fehlender Bindungspersonen wurden Symptome wie distanzloses Verhalten gefunden und zwar unabhängig davon, wie gut sie körperlich und medizinisch versorgt wurden bzw. wie schwerwiegend Vernachlässigung und Deprivation waren, wie im Falle der rumänischen Waisenkinder (Tizard u. Reese 1975; O’Connor et al. 2000; O’Connor 2002). Allerdings gilt nicht, dass das Fehlen einer konstanten Bezugsperson zwangsläufig zu Symptomen von Bindungsstörung mit Enthemmung führt. Eine substanzielle Anzahl der nach England adoptierten rumänischen Heimkinder (18%) zeigten zwei Jahre später im Alter von sechs Jahren keine Symptome mehr (O’Connor 2002).
20.4
Diagnostik
Gemäß den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie wird für die Diagnose einer Bindungsstörung der allgemeine Entwicklungsverlauf des betroffenen Kindes, eine genaue Erhebung seines Bindungsverhaltens gegenüber seinen Bezugs- und anderen Kontaktpersonen und eine genaue Erhebung der Betreuungsgeschichte des Kindes erfasst. Dabei wird die Einbeziehung extrafamilialer Quellen bzw. die Befragung Dritter empfohlen, wie z. B. von Erziehern, Lehrern, Sozialarbeitern oder Haus- bzw. Kinderärzten (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2007). Neben der Abklärung von etwaigen Entwicklungsverzögerungen, des Entwicklungsbzw. Intelligenzniveaus (7 Kap. III/9), umschriebenen Entwicklungsstörungen oder körperlichen Erkrankungen werden insbesondere das Vorliegen von Kindeswohlgefährdung und Misshandlung (7 Kap. III/48) sowie von Kontextbedin-
20
322
20
Kapitel 20 · Bindungsstörungen
gungen wie z. B. der Wechsel von Bezugspersonen oder die aktuelle Sorgerechtssituation erfasst. Hinzu kommen Abklärungen zur Komorbidität psychischer Störungen und zur Diagnostik von Begleitstörungen (Störungen des Sozialverhaltens, hyperkinetische Störungen, altersspezifische emotionale Störungen, Angststörungen, Intelligenzminderung) sowie gegebenenfalls weitergehende differenzialdiagnostische Abklärungen (zur Komorbidität einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, organische/neurologischen Primärstörung, posttraumatischen Belastungsstörung; 7 Kap. III/8). Ebenso notwendig ist eine somatische Abklärung, die bei Kleinwuchs auch eine endokrinologische Untersuchung einschließt. Die »Practice Parameter der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry« (2005) empfehlen als
Minimalstandards Verhaltensbeobachtungen des bindungsrelevanten Verhaltens von Kindern. In . Tab. 20.2 sind Indikatoren gestörten und adäquaten Bindungsverhaltens von Kindern gegenübergestellt, die jünger als fünf Jahre sind. Relevante Informationen lassen sich hier gleichermaßen aus dem Verhalten des Kindes in Interaktion mit der Bezugsperson ableiten, als auch aus seinem Verhalten im Umgang mit fremden Personen (O’Connor u. Zeanah 2003). Dabei lassen sich bewährte Verfahren wie das der »Ainsworth-Fremden-Situation« nur begrenzt nutzen (7 Kap. III/4). Sie ist weniger gut validiert für Kinder, die älter als 20 Monate sind. Die »Fremde Situation« erfasst zwar verlässlich die Qualität einer bereits etablierten Bindung, im klinischen Kontext stellt sich aber häufig die Frage,
. Tab. 20.2. Indikatoren gestörter vs. adäquater Bindung bei kleinen Kindern (AACAP »Practice Parameter«. (Mod. nach Zeanah et al. 1993; deutsche Übersetzung der Autorin) Verhaltenskategorien
Anpassung an die Umwelt
Indikatoren gestörter vs. adäquater Bindung
Positiver Affekt
Angepasst
Kind zeigt positiven Affekt in vielfältigen Interaktionskontexten
Fehlangepasst
Kind zeigt Mangel an positivem affektivem Austausch in unterschiedlichen sozialen Settings oder distanzlosen positiven Affekt gegenüber relativ unvertrauten Erwachsenen
Angepasst
Kind sucht Trost bei einem vertrauten Erwachsenen
Fehlangepasst
Kind zeigt mangelnde Trostsuche, wenn verletzt, ängstlich oder krank oder sucht Trost in merkwürdiger oder ambivalenter Weise (z. B. erhöhte Verstörung, wenn das Kind keinen Trost sucht)
Angepasst
Kind sucht bereitwillig Hilfe bei vertrauten Erwachsenen bei schwierigen Problemen, die es nicht alleine lösen kann
Fehlangepasst
Kind ist exzessiv abhängig von der Bezugsperson oder ist unfähig, die unterstützende Anwesenheit der Bindungsperson zu suchen und sie zu nutzen
Trostsuche
Hilfe Suchen
Kooperation
Angepasst
Kind ist überwiegend kooperativ gegenüber der Bezugsperson
Fehlangepasst
Kind ist durchgehend ungehorsam bei Bitten und Forderungen der Bezugsperson (durchgehendes Interaktionsmuster) oder ängstlich überangepasst bei Instruktionen der Bezugsperson (»compulsive compliance«)
Angepasst
Kind nutzt die Bindungsperson als sichere Basis, von der aus es losziehen und Neues erkunden kann
Fehlangepasst
Kind versichert sich nicht rück bei der Bindungsperson, wenn es in unvertrauten Situationen umherstreift oder sich weigert sich beinahe gänzlich von der Bezugsperson zu lösen, um zu erkunden
Kontrollierendes Verhalten
Angepasst
Kind gibt wenig Hinweise für kontrollierendes Verhalten gegenüber der Bezugsperson
Fehlangepasst
Übermäßig besorgtes und/oder altersunangemessenes Fürsorgeverhalten oder extrem dominantes oder bestrafendes Verhalten des Kindes gegenüber der Bezugsperson
Verhalten bei Wiedervereinigung mit der Bezugsperson nach Trennung
Angepasst
Kind sucht Trost bei der Bindungsperson, wenn es verstört ist oder initiiert eine positive emotionale Verbindung durch nonverbale oder verbale Kommunikation positiven Affekts oder dadurch, dass es beschreibt, was es während der Trennung erlebt hat
Fehlangepasst
Kind gelingt es nicht, nach der Trennung einen interaktiven Austausch zu (re-)etablieren, eingeschlossen aktiv ignorierende/vermeidende Verhaltensweisen, intensiver Ärger, offensichtlicher Mangel an positivem Affekt oder Unvermögen, Verstörung aufgrund der Trennung aufzulösen. Hinweise auf desorganisiertes Bindungsverhalten.
Reaktion gegenüber Fremden
Angepasst
Kind zeigt anfänglich zurückhaltendes soziales Engagement, insbesondere in unvertrauten Situationen
Fehlangepasst
Kind ist unmittelbar engagiert ohne anfängliche Vorsicht, nimmt extensiv körperlichen Kontakt ohne Rückversicherung mit der Bezugsperson auf, ist bereit die Bezugsperson ohne Protest zu verlassen (und mit der fremden Person zu gehen)
Explorationsverhalten
323 20.5 · Therapeutisches Vorgehen
inwieweit ein Kind eine Bindung zu einer nahestehenden Bezugsperson überhaupt entwickeln konnte. Hierbei spielt der Umgang mit fremden Menschen eine Rolle. Er ist in der »Fremden Situation« nicht explizit berücksichtigt. Die »Practice Parameter der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry« (AACAP Official Action 2005) empfehlen optional eine modifizierte Version der »Fremden Situation«, die an klinische Alltagsbedingungen angepasst ist und in standardisierter Form gleichermaßen den Umgang des Kindes mit der Bindungsperson als auch mit einer fremden Person berücksichtigt (. Tab. 20.3). > Fazit Zusammenfassend ist es anzustreben, bewährte und erprobte Verfahren mit neueren Verfahren, wie sie etwa im Rahmen von Forschungsprojekten entwickelt wurden, zu verknüpfen und dabei unterschiedliche Informationsquellen und Vorgehensweisen miteinander zu integrieren, wie es auch in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie empfohlen wird. Für Schulkinder ist kritisch anzumerken, dass sich die gegenwärtigen diagnostischen Verfahren und Vorgehensweisen nicht wirklich sinnvoll anwenden lassen (O’Connor u. Zeanah 2003).
20.5
Therapeutisches Vorgehen
Für die Therapie und Behandlung von Kindern mit Bindungsstörungen hat sich bisher kein Verfahren bzw. kein therapeutisches Vorgehen als hinreichend erfolgreich erwiesen (O’Connor u. Zeanah 2003). ! Einigkeit besteht darin, dass eine verlässliche, stabile und vorhersagbare Umwelt für Kinder mit Bindungsstörungen notwendig ist; außerdem ist eine emotional zuverlässige und konstante Bindungsperson von größter Bedeutung.
Der Schwerpunkt therapeutischen Vorgehens liegt in der Verbesserung der Beziehungsqualität zwischen Kind und Bindungspersonen. Die Entwicklung sicherer Bindung vollzieht sich in positiven Interaktionen zwischen Bindungsperson und Kind. Dabei unterstützen Bindungspersonen durch feinfühliges Verhalten die physiologische, emotionale und Verhaltensregulation von Kindern. In gravierenden Fällen kann eine therapeutische Intervention die Herausnahme des Kindes aus der Herkunftsfamilie und die Betreuung in einer Pflegefamilie einschließen (AACAP Official Action 2005; Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. 2007).
. Tab. 20.3. Klinische Beobachtung von Bindungsverhalten für Kinder im Alter zwischen ca. 12 Monaten und 5 Jahren. (AACAP Practice Parameter 2005; mod. nach Boris et al. 2004; deutsche Übersetzung der Autorin) Episode
Dauer
Durchführung
Episode 1
5 Minuten
»Freies Spiel« zwischen Bindungsperson und Kind. (Beobachtung von Vertrautheit, Wohlbefinden und Wärme beim Kind während der Interaktion mit der Bindungsperson)
Episode 2
3 Minuten
Die Untersucherin spricht mit dem Kind, nähert sich und versucht dann mit ihm zu spielen. (Die meisten kleinen Kinder sind besonders anfangs zurückhaltend, sich auf unvertraute Erwachsene einzulassen)
Episode 3
3 Minuten
Die Untersucherin nimmt das Kind auf den Arm und zeigt ihm ein Bild an der Wand oder schaut mit ihm aus dem Fenster. (Der Stress für das Kind wird erhöht. Beobachtung der Befindlichkeit des Kindes und der Vertrautheit mit der fremden Person)
Episode 4
3 Minuten
Die Bindungsperson nimmt das Kind auf den Arm und zeigt ihm ein Bild an der Wand oder schaut mit ihm aus dem Fenster. (Das Kind sollte sich auf dem Arm der Bindungsperson deutlich wohler fühlen als auf dem Arm der fremden Person)
Episode 4a*
1 Minute
Das Kind sitzt zwischen Bindungsperson und einer fremden Person und ein neues (furchterregendes/ aufregendes) Spielzeug mit Fernsteuerung wird eingeführt. (Das Kind sollte vorzugsweise Trost bei der Bindungsperson suchen; wenn es eher interessiert als ängstlich ist, sollte es seinen positiven Affekt mit der Bindungsperson teilen)
Episode 5
3 Minuten
Die Untersucherin verlässt den Raum. (Diese Trennung sollte keine große Reaktion beim Kind hervorrufen)
Episode 6
1 Minute
Die Untersucherin kommt zurück. (Auch hier sollte das Kind von der Rückkehr der fremden Person wenig beeindruckt sein)
Episode 7
3 Minuten
Die Bindungsperson verlässt den Raum. (Das Kind sollte eindeutig beachten, wenn die Bindungsperson geht, auch wenn es nicht notwendigerweise bekümmert ist oder weint. Wenn es bekümmert ist, sollte die Untersucherin es wenig trösten können)
Episode 8
1 Minute
Die Bindungsperson kommt zurück. (Das Verhalten des Kindes auf die Rückkehr sollte kongruent mit seinem Verhalten bei der Trennung sein: Weinende Kinder sollten Trost bei der Bindungsperson suchen, Kinder, die nicht bekümmert sind, sollten den Kontakt mit der Bindungsperson wieder herstellen, indem sie ihr ein Spielzeug zeigen oder mit ihr darüber reden, was während der Trennung passiert ist)
*optionale Episode
20
324
20
Kapitel 20 · Bindungsstörungen
20.5.1 Eltern-Kind-Therapie: Förderung
elterlicher Feinfühligkeit Insbesondere bei jüngeren Kindern ist Eltern-Kind-Therapie zur Förderung elterlichen feinfühligen Verhaltens empfohlener Minimal-Standard (AACAP Official Action 2005; Ziegenhain 2004b). Damit liegt der Fokus der Therapie auf der Eltern-Kind-Beziehung. Klinisch bewährt haben sich standardisierte Therapieprogramme, die in Sitzungseinheiten im Abstand von ein bis zwei Wochen durchgeführt werden und häufig videogestützt sind. Konzeptionell setzen diese Programme entweder auf der Ebene mentaler Bindungsrepräsentation oder auf der Verhaltensebene an bzw. nutzen beide konzeptionellen Ebenen. Auf der Ebene der mentalen Bindungsrepräsentationen wird angenommen, dass Probleme und Störungen in der Eltern-Kind-Beziehung in (Re-)Inszenierungen ungelöster Konflikte aus der Kindheitsgeschichte der Eltern begründet liegen. Es wird versucht, der Bindungsperson die emotionale Erlebens-, Verarbeitungs- und Verhaltensweise des Kindes nahe zu bringen und mit der eigenen emotionalen Erfahrung zu verknüpfen. Bekanntestes Beispiel für diesen Ansatz ist das Säuglings-Eltern-Progamm (Lieberman et al. 2000). Auf der Verhaltensebene wird elterliche Feinfühligkeit im Umgang mit dem Kind unterstützt, häufig durch videogestützte Interventionsansätze und durch die Betonung der Stärken und Ressourcen der Bindungsperson bzw. die Hervorhebung mütterlicher und kindlicher Kompetenzen im Umgang miteinander. Dabei werden bevorzugt Umdeutungstechniken (»Reframing«) in der Interpretation von Eltern-Kind-Interaktionen verwendet. Wenn eine Mutter z. B. über ihr Kleinkind sagt: »Es klebt in fremder Umgebung total an mir, das ist lästig«, wäre eine Antwort, ihr die Perspektive des Kindes rückzumelden: »Es drückt sein Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz deutlich aus und kann sich an Sie wenden«. Ein anderes Beispiel einer Umdeutung aus der Perspektive des Kindes wäre zu sagen: »Es vermisst sie und drückt seinen Kummer deutlich aus« als Reaktion auf die Klage der Mutter: »Es weint immer, wenn ich weggehe, es versucht mich zu erpressen«: Bekanntestes Beispiel für diesen Ansatz ist das Programm »Interaction Guidance« (McDonough 2000). Im deutschsprachigen Raum werden als spezifische Bindungsinterventionen für Familien in Hochrisikosituationen Programme wie STEEP (»Steps Toward Effective and Enjoyable Parenting«; Erickson u. Egeland 2006) oder die »Entwicklungspsychologische Beratung« (Ziegenhain et al. 2004a) eingesetzt. Das letztgenannte Programm wird zunehmend im klinischen Kontext bei frühkindlichen Bindungsstörungen eingesetzt. Die entwicklungspsychologische Beratung verknüpft die Förderung feinfühligen elterlichen Verhaltens mit der spezifischen Vermittlung von Ausdrucks-, Belastungs- und Bewältigungsverhaltensweisen von Säuglingen und Kleinkindern. Das Vorgehen basiert auf Video-Feedback. Die Durchführung der Beratung ist
ressourcenorientiert und erfolgt in Anwesenheit des Säuglings oder Kleinkindes. Auf der Grundlage von kurzen Videoszenen wird Verhalten primär aus der Perspektive des Kindes beschrieben und elterliches Verhalten darauf bezogen. Dabei werden grundsätzlich positive Interaktionen einbezogen und negativen vorangestellt. Für die Rückmeldung an die Eltern wird grundsätzlich eine sog. gelungene Sequenz gewählt, in der eine positive Interaktion stattfindet. Positives elterliches Verhalten wird mit den kindlichen Ansätzen von Selbstregulation und Ansprechbarkeit verknüpft und diese dabei als Folge des adäquaten und feinfühligen mütterlichen Verhaltens interpretiert. Dies kann etwa ein längerer verbaler und nonverbaler Dialog mit Lächeln und Blickaustausch sein, der aufgrund der Initiative der Mutter entstanden ist und durch ihr positiv verstärkendes Verhalten aufrechterhalten wird (Ziegenhain 2007). Erst nachdem die Kompetenzen der Eltern sehr klar herausgehoben wurden, kann eine nicht gelungene Aktion herausgearbeitet werden. Dabei ist es sehr wichtig, nicht zu bewerten und keine negativen oder kritischen Äußerungen vorzunehmen, sondern statt »aber« Umformulierungen zu verwenden, was hätte man auch stattdessen »noch« machen können, was wäre »noch« möglich gewesen. Solche an positive Interaktionssequenzen anschließende nicht gelungene Interaktionsbeispiele werden ausschließlich aus der Perspektive des Säuglings oder Kleinkindes beschrieben. So wird z. B. wird das Abwenden des Kopfes bei Überstimulation als Belastungsund Überforderungszeichen beschrieben und damit von »absichtsvollem« Verhalten unterschieden. Gleichzeitig werden Verhaltensweisen dargestellt, die dem Kind helfen können, sich zu regulieren. Übergreifendes Ziel ist es, die Empathie und Perspektivenübernahme von Eltern zu stärken, ihre Feinfühligkeit zu fördern und ihnen Spaß und Freude an ihrem Kind zu vermitteln. Den aufeinanderfolgenden Beratungen werden jeweils neue Videoaufnahmen zugrunde gelegt (Ziegenhain et al. 2004a).
20.5.2 Begleitende Elternarbeit
Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Therapie von Bindungsstörungen ist die begleitende Elternarbeit. Über die Beratung anhand konkreter Eltern-Kind-Interaktionen hinaus geht es dabei darum, die Bindungsperson durch Gespräche und Verhaltensanleitungen zu unterstützen, das Verhalten des Kindes zu regulieren oder auch die eigenen Gefühle der Bindungspersonen von Angst, Frustration oder Ärger zu bearbeiten. Wenn die Bindungspersonen nicht selbst sehr belastet und hinreichend bereit und emotional in der Lage sind, die Perspektive des Kindes einzunehmen, kann dies ein Weg sein, den feinfühligen Umgang mit dem Kind zu fördern. Dies stärkt den Selbstwert der Bindungspersonen als kompetente Eltern und der Therapeut muss sich nicht als weitere Bindungsperson zur Verfügung stellen (AACAP Official Action 2005).
325 20.5 · Therapeutisches Vorgehen
Bindungstheoretisches und handlungsorientiertes Wissen, das es ermöglicht, die Erlebens-, Verarbeitungs- und Verhaltensweisen von Kindern mit Bindungsstörungen zu interpretieren und Verhaltensstrategien im Umgang mit dem Kind abzuleiten, kann bei Eltern nicht in jedem Fall vorausgesetzt werden. Insofern benötigen sie Unterstützung dabei, das häufig bizarre und aggressive Verhalten des Kindes zu interpretieren und adäquat darauf zu reagieren. Bindungsgestörte Kinder, die ambivalentes Verhalten im Umgang mit Nähe und Distanz zeigen, haben Schwierigkeiten, mit der Nähe anderer Menschen umzugehen und reagieren gewöhnlich mit Abwehr oder aggressiv. Kinder mit Bindungsstörungen zeigen häufig ein unbeteiligtes bzw. zurückweisendes, abwehrendes oder ärgerliches Verhalten, insbesondere dann, wenn sie emotional belastet sind. Deutlich ist ein ausgeprägtes Bedürfnis nach emotionaler und körperlicher Distanz. Versuchen Eltern, Nähe zu »erzwingen«, kommt es häufig zu paradoxen Reaktionen, nämlich Rückzug und Reinszenierung der Beziehungsabbrüche aus der Vorgeschichte der Kinder. Für die Eltern sind solche Verhaltensweisen befremdlich und schwer interpretierbar. Andererseits fordern Kinder mit Bindungsstörungen häufig auch körperliche oder psychische Nähe ein, die sozial adäquate Grenzen überschreitet. Im Alltag mit dem Kind bedeutet dies, eine stringente und verlässliche Beziehungsumwelt für das Kind zu gestalten, beharrlich, auch bei Abwehr immer wieder auf das Kind zuzugehen und Beziehungsangebote zu machen, diese aber in ihrer emotionalen Intensität vorsichtig zu dosieren. Wenn sich das Kind trotz deutlicher Belastung von der Bindungsperson abwendet bzw. sie verbal oder körperlich zurückstößt, gehört es zur therapeutischen Arbeit mit den Eltern, nicht intrusive Wege zu entwickeln, um positive und akzeptierte Nähe und einen Kontakt zum Kind herzustellen. Dies kann z. B. dadurch gelingen, dass die Bindungsperson das Kind zunächst nur leicht an der Schulter berührt, und, wenn dies vom Kind akzeptiert wird, über die Zeit beharrlich und systematisch immer wieder Nähe- und Kontaktangebote initiiert und dabei die Schwelle körperlicher Nähe und psychologischer Intimität zunehmend ausdehnt (Dozier 2003). Minde (2003) verweist auf die therapeutischen Erfahrungen von Freud u. Dann, die eine Gruppe 3-jähriger verwaister Kinder behandelt hatten, die das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hatten. Danach haben sich kontinuierliche, aber vorsichtige und nicht invasive Beziehungsangebote im Umgang mit Nähe und (Körper-) Kontakt als erfolgreich erwiesen. Es hat sich bewährt, Eltern auch auf feine Zeichen von positiven Reaktionen des Kindes hinzuweisen und dies möglichst videogestützt miteinander zu erarbeiten. Tatsächlich zeigt sich in der klinischen Praxis, dass Eltern subtile Zeichen von persönlich und exklusiv auf sie bezogene Verhaltensweisen des Kindes übersehen, wie etwa ein kaum wahrnehmbares Lächeln des Kindes nach kurzer Trennung. Häufig interpretieren sie sogar, dass das Kind ihre An-
wesenheit ignoriert. Durch differenzierte videogestützte Intervention lassen sich hier negative Interaktionsschleifen positiv beeinflussen. Ebenso hilft es Eltern, negative Verhaltensweisen des Kindes wie aggressives Verhalten oder Wutanfälle bindungstheoretisch nachzuvollziehen. Danach lässt sich solches Verhalten als Ausdruck von Angst, verlassen zu werden interpretieren (Lieberman 2003). Adäquate elterliche Verhaltenskonsequenzen sind dann klares Setzen von Grenzen, aber gleichzeitig auch verlässlich-versicherndes Verhalten. Damit wird dem Kind vermittelt, dass einzelne negative Verhaltensweisen sanktioniert werden, es aber nicht in seiner Person in Frage gestellt und zurückgewiesen wird. In der klinischen Praxis bewährt hat sich zudem, dass sich die Bindungspersonen zwar verlässlich und (emotional) zuverlässig verhält, eigene Beziehungswünsche dem Kind gegenüber aber nicht bzw. auf emotionaler Ebene wenig intensiv äußert. Dabei lassen sich verhaltenstherapeutische Belohnungsprogramme gut im Alltag nutzen, um Beziehungen herzustellen und zu gestalten, ohne aber für das Kind emotional bedrohlich zu sein. Motiviert und belohnt werden Verhaltensweisen, die erwünscht sind und die dem, bei aller Ambivalenz vorhandenen, Bedürfnis des Kindes entsprechen, etwas für die Bindungsperson zu tun und sie zufriedenzustellen. Die Anforderungen z. B. mit dem Geschwisterkind zu spielen, ist emotional mäßig anfordernd bzw. wenig bedrohlich und gibt dem Kind das Gefühl, etwas für die Bindungsperson zu tun. Daneben haben sich verhaltenstherapeutische Routinen in der klinischen Praxis bewährt, insbesondere im Umgang mit aggressivem, impulsivem oder regelverletzendem Verhalten von Kindern mit Bindungsstörungen.
20.5.3 Kooperation der Eltern
Eine erfolgreiche Therapie von Bindungsstörungen schließt die Kooperation der Eltern mit ein. Häufig ist es allerdings so, dass sich die Eltern mit dem Kind emotional nicht verbunden fühlen und mit Ärger oder auch Angst reagieren. Dies kann dazu führen, dass sie dem Kind oft übermäßig enge und rigide Grenzen setzen, was wiederum oppositionelles Verhalten beim Kind verstärken kann. In anderen Fällen, in denen bereits eine Vorgeschichte von Vernachlässigung und/oder Misshandlung vorliegt, bestehen gewöhnlich geringe Chancen für eine Kooperation mit den Eltern, insbesondere dann, wenn deren Einsicht in zurückliegendes eigenes Fehlverhalten nicht zu erreichen ist. Es liegt dann in der Entscheidung des Jugendamtes, inwieweit das Kind in der Herkunftsfamilie verbleibt bzw. inwieweit eine Fremdunterbringung in einer Pflegefamilie indiziert ist. Im ersteren Fall ist eine Therapie des Kindes gewöhnlich nur in enger Kooperation mit dem Jugendamt durchzuführen. Eine Therapie ist in diesen Fällen begleitet von weiteren intensiven Jugendhilfemaßnahmen wie etwa einer sozial-
20
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Kapitel 20 · Bindungsstörungen
pädagogischen Familienhilfe und möglichst engmaschigen Hilfeplankonferenzen, die vom Jugendamt organisiert werden und alle professionell Beteiligten, ebenso wie die Familie, mit einbezieht. Im Therapieprozess kann dann eine Abwägung möglicher Kindeswohlgefährdung immer wieder relevant werden. Auch deswegen ist eine enge Kooperation mit dem Jugendamt notwendig. Insofern sind Vertrauen und Kooperation der Eltern schwer herstellbar. Vielmehr überwiegen gewöhnlich Misstrauen und die Sorge, das Kind zu verlieren. In der Zusammenarbeit mit Pflegeeltern oder Adoptiveltern ist häufig zu beobachten, dass die Eltern wegen des befremdlichen, zurückweisenden und auch aggressiven Verhaltens der Kinder stark belastet sind. Neben Gefühlen von Schuld als Eltern zu versagen oder Ärger entstehen auch Gefühle der Überforderung und des Bedauerns, sich auf eine solcherart schwierige Beziehung eingelassen zu haben. Tatsächlich scheitern viele Pflegeverhältnisse, weil die Pflegeeltern gewöhnlich durch Kinder mit schweren Bindungsstörungen überfordert sind. Die damit verbundenen Beziehungsabbrüche können eine Verstärkung der Symptomatik bzw. eine Retraumatisierung des Kindes begünstigen. Lösungsansätze liegen in speziell ausgebildeten Pflegefamilien bzw. in spezialisierten Sonderpflegeverhältnissen. Darüber hinaus wird eine regelmäßige fachliche Supervision für Pflegeeltern empfohlen (Pfeiffer u. Lehmkuhl 2003). Pflegeeltern sind in der Regel nicht auf die befremdlichen Verhaltensweisen von Kindern mit Bindungsstörungen vorbereitet und benötigen neben einer allgemeinen Information über die Besonderheiten dieser Kinder auch Unterstützung im Umgang mit dem individuellen Kind. Insgesamt ist es für eine erfolgreiche Therapie im Alltag notwendig, dass ein »sicheres Umfeld« durch adäquaten Umgang mit den häufig traumatischen Vorerfahrungen (Misshandlung) geschaffen wird. Dabei benötigen Kinder mit Bindungsstörungen in ihrer Beziehungsgestaltung, wie z. B. in der Interaktion mit nahestehenden Bezugspersonen, Unterstützung. Dies kann durch eine Förderung der ElternKind-Interaktion mit standardisierten Programmen und darüber hinaus durch begleitende Elternarbeit erreicht werden. Weitergehende psychotherapeutische Maßnahmen sollten erst dann in Erwägung gezogen werden, wenn eine emotionale Stabilisierung aufgrund der beschriebenen Maßnahmen erreicht ist (Pfeiffer u. Lehmkuhl 2003). Die Behandlung und Therapie bei Kindern mit Bindungsstörungen ist langwierig. Die klinische Praxis zeigt, dass die Entwicklung von Kindern mit Bindungsstörungen immer wieder auch durch institutionell bedingte Beziehungsabbrüche gefährdet wird. Insofern ist es notwendig alle therapeutischen Planungen langfristig anzulegen und abzusichern.
20.6
Fallbeispiel
Das folgende Fallbeispiel beschreibt einen 4-jährigen Jungen, der in einer Pflegefamilie lebt. Er wurde von seiner Pflegemutter in einer kinderpsychiatrischen Institutsambulanz vorgestellt. Die Pflegemutter berichtet, dass der Junge als Frühgeborenes mit einem Drogenentzugssyndrom auf die Welt gekommen sei. Nach der Geburt und einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt habe die damals 17-jährige Mutter mit dem Säugling in einer Mutter-Kind-Einrichtung gelebt. Der Säugling sei häufig von der Mutter »weitergereicht« oder alleine gelassen worden. Die Mutter habe sich insgesamt nicht angemessen um das Kind gekümmert. Versuche, sie in ihrem mangelnden Fürsorgeverhalten zu stärken, seien nicht ausreichend gewesen. Im Alter von 15 Monaten sei der Junge dann in der aktuellen Pflegefamilie untergebracht worden. Das Kind ist motorisch, verbal und kognitiv altersentsprechend entwickelt. Die Pflegemutter berichtet allerdings erhebliche Verhaltensauffälligkeiten in der sozialen und emotionalen Entwicklung des Kindes. Demnach sei der Junge in seinem Verhalten anderen gegenüber ambivalent. Im Beisein der Pflegemutter gehe er offenherzig auf vertraute und fremde Personen zu, begegne ihnen ohne Furcht und halte auch körperlich keinerlei Distanz. Versuche, dem Jungen in seiner Distanzlosigkeit auf sanfte Weise Grenzen zu setzen, mündeten regelmäßig in Tobsuchtsanfällen und großer Verweigerung. Er benötige dann lange, um sich zu regulieren und um sich wieder zu beruhigen. Die Trostangebote und Beruhigungsversuche der Pflegemutter lehne er ab. Andererseits berichtet die Pflegemutter von erheblichen Trennungsproblemen. Bei der Verabschiedung in den Kindergarten klammere er sich täglich heftig an die Pflegemutter und weine und protestiere. Auch die Erzieherinnen im Kindergarten berichteten, so die Pflegemutter, dass der Junge sich dort ebenfalls distanzlos verhalte und ohne jegliche Sensibilität auf die anderen Kinder zugehe. Im Spiel falle er durch eine fehlende Kreativität und bevorzugt grobe und undifferenzierte Spielhandlungen auf. Er werde von den anderen Kindern eher gemieden. Auch mit den Geschwistern in der Familie gebe es aufgrund seines provozierenden Verhaltens häufig heftigen Streit. Weiterhin sorge sich die Pflegemutter wegen des selbstschädigenden Verhaltens des Kindes. Bevorzugt während der Einschlafphase oder in der Folge von für ihn frustrierenden Interaktionen schlage der Junge regelmäßig mit dem Kopf in die Matratze. Dieses tue er sehr ausdauernd, so dass sich die Stirn röte, wenn er nicht unterbrochen werde. Die Pflegemutter berichtet, dass sie mit den häufig emotionalen Schwankungen des Jungen, mit seiner wiederkehrenden verzweifelt anmutenden Stimmung sowie dem selbstschädigenden Verhalten des Jungen große Schwierigkeiten habe. Aufgrund der beschriebenen Symptomatik und nach Abschluss einer diagnostischen Abklärung (Fremdbeurtei-
327 20.7 · Empirische Belege zum therapeutischen Vorgehen
lungsverfahren zur Einschätzung der Symptomatik, Entwicklungsdiagnostik, Interaktions- und Verhaltensbeobachtung) wird die Diagnose einer Bindungsstörung mit Enthemmung (ICD-10: F94.2) gestellt. Der Schwerpunkt der therapeutischen Intervention lag in der Arbeit mit den Pflegeeltern. Neben der Aufklärung über das Störungsbild wurde eine bindungstheoretisch begründete Interpretation über die Entstehung von Bindungsstörungen und über die Erlebens-, Verarbeitungs- und Verhaltensweisen solcher Kinder vermittelt. Im Rahmen von Verhaltensanalysen wurden mit den Eltern problematische Situationen differenziert analysiert, um Aufschluss über mögliche Veränderungsansätze zu erhalten. Darüber hinaus wurde gemeinsam erarbeitet, welche entwicklungsentsprechenden Verhaltensziele im Vordergrund stehen. Maßgebliches Ziel war die Etablierung eines klaren, einheitlichen/stringenten Erziehungsverhaltens, das für das Kind gemäß seinem Entwicklungsalter nachvollziehbar war. Verhaltensweisen, die in ihrem Ansatz sozial angemessen waren, sollten von den Eltern beachtet und positiv bestätigt werden. Um die Beziehungsfähigkeit und das Spielverhalten zu fördern, wurden regelmäßige Beschäftigungszeiten eingeführt. Für den Umgang mit den Tobsuchtsanfällen wurden Strategien erarbeitet, die maßgeblich darauf abzielten, konsequent Grenzen zu setzen und angemessene Hilfestellungen zur Selbstregulation zu bieten, ohne verbal oder körperlich zu bestrafen. Darüber hinaus wurden mit den Pflegeeltern Möglichkeiten der Entlastung zwecks eigener Psychohygiene besprochen. Bezüglich des Kopfschlagens wurde mit den Eltern vereinbart, dieses Verhalten zunächst über einen Zeitraum von zwei Wochen hinweg zu ignorieren. Nach dieser Zeit hatte der Junge das Kopfschlagen um die Hälfte der vorhergehenden Frequenz reduziert. Ebenso zeigten sich erste Erfolge nach der Einführung von Strategien im Umgang mit seinen Wutanfällen. Vereinbart wurde die Einführung einer Ampel, mit der die Eltern das Verhalten des Kindes gemäß der Farben »grün« – positives Verhalten, »gelb« – warnender Hinweis für folgende Sanktion bzw. Grenze, wenn Verhalten nicht abgestellt wird sowie »rot« – Sanktion bzw. Grenze, reguliert und strukturiert wurde. Die Ampel wurde prominent in der Wohnung aufgehängt. Wenn der Junge etwa beim gemeinsamen Essen die Geschwister provozierte und die Essenssituation zu eskalieren drohte, »schalteten« die Eltern die Ampel auf »gelb«, wenn darauf hin keine Verhaltensänderung eintrat, auf »rot« mit der Folge, dass der Junge in sein Zimmer gehen musste. Dieses Ritual etablierte sich relativ schnell und reduzierte, die Wutanfälle und Weigerungen des Kindes Grenzen zu akzeptieren zunehmend. Bald kam er nach kurzer Zeit zurück und »schaltete« die Ampel selbst wieder auf »grün«. Im Verlauf eines Zeitraums von sechs Monaten verbesserte sich das Verhalten des Kindes in diesen Bereichen zusehends, allerdings gab es immer wieder Verhaltensein-
brüche, die gewöhnlich mit Belastungen einhergingen, zu denen selbst kleinere Veränderungen im familiären Alltag oder kurzfristige Überforderungen des Kindes beitrugen. Deutlich schwerer beeinflussbar gestaltete sich der Umgang mit seiner Trennungsangst. Zwar führten auch hier klar verabredete Verhaltensregeln der Mutter und der Erzieherin zu einer zunehmenden Verbesserung seines Klammerns und Protestierens, seine Belastung in solchen Situationen war aber nach wie vor offensichtlich. Dies zeigte sich in seiner deutlich beobachtbaren Angespanntheit und vorübergehenden Zurückgezogenheit in der Kindergartengruppe nach dem Weggang der Mutter, die sich nicht änderte. Solches Verhalten ist angemessen während der Eingewöhnung in eine neue Gruppe, aber nicht nach mehr als einem Jahr in einer vertrauten Umgebung. Obwohl sich das soziale Verhalten des Kindes insbesondere in der Familie verbesserte und seine Kompetenzen in der Regulation und der Steuerung von negativen Emotionen zunahmen, zeigte sich wenig Veränderung in seinem distanzlosen Verhalten gegenüber Fremden. Zwar schwächten sich die heftigen Trotzreaktionen ab, die das Kind zuvor auf Grenzsetzungen der Eltern in solchen Situationen gezeigt hatte, aber seine grundsätzliche Tendenz, fremden Menschen distanzlos zu begegnen, änderte sich im Zeitraum einer sechsmonatigen therapeutischen Begleitung nicht.
20.7
Empirische Belege zum therapeutischen Vorgehen
Aufgrund der fehlenden bzw. spärlichen empirischen Absicherung des Störungsbildes der frühkindlichen Bindungsstörungen sind wissenschaftliche Untersuchungen zum therapeutischen Vorgehen rar. Bisher wurde noch keines der vorliegenden Programme zur bindungsorientierten Eltern-Kind-Therapie bei Kindern mit Bindungsstörungen evaluiert. Allerdings konnte die Wirksamkeit einiger dieser Programme bei Kindern mit Bindungsproblemen und kritischen Eltern-Kind-Interaktionen im klinischen Kontext bei psychosozial hoch belasteten Familien gezeigt werden. Das »Interaction-Guidance«-Programm wurde im Vergleich mit dem Säugling-Eltern-Programm evaluiert (Robert-Tissot et al. 1996). Beide Ansätze führten (bei max. 10 Behandlungsterminen) zu einer Verbesserung der kindlichen Symptome, insbesondere bei Schlaf- und Fütterstörungen. Verbesserungen zeigten sich nach der Intervention mit beiden Ansätzen außerdem in feinfühligerem mütterlichen Verhalten und kooperativerem Verhalten der Kinder. Verbesserungen ließen sich überdies im mütterlichen Selbstwert belegen. In einer Follow-Up-Untersuchung nach sechs Monaten blieben diese Veränderungen stabil (AACAP, Official Action 2005; Ziegenhain 2004b). Das unter 7 Abschn. 20.5.1 erwähnte Programm STEEP wurde in zwei US-amerikanischen Studien evaluiert. Da-
20
328
20
Kapitel 20 · Bindungsstörungen
nach verbesserte sich feinfühliges Verhalten von Müttern im Umgang mit den Säuglingen in beiden Studien im Vergleich zu Müttern der Kontrollgruppe, und positive Veränderungen zeigten sich in der Bindung in einer Studie von Heinicke et al. (1999). Mit entwicklungspsychologischer Beratung verbesserte sich feinfühliges Verhalten jugendlicher Mütter im Umgang mit ihrem Säugling im Vergleich zu Müttern, die reguläre Jugendhilfebetreuung erhalten hatten (max. 7 Sitzungen; Ziegenhain et al. 2004b). Gemäß einer Metaanalyse, in die 70 bindungsorientierte Interventionsprogramme einbezogen wurden, waren insbesondere die Programme am wirksamsten, die zeitlich begrenzt, klar verhaltensbezogen und gezielt auf die Verbesserung des elterlichen feinfühligen Verhaltens ausgerichtet waren (d=0,33; »less is more«, Bakermans-Kranenburg et al. 2003). Etwa die Hälfte dieser Programme bezogen sich auf Untersuchungsgruppen, in denen mindestens zwei Risikofaktoren vorlagen. Wesentlich für den Erfolg war ein klarer Fokus auf das Verhalten der Mutter in den Trainings. Wenn die Feinfühligkeit der Mutter erhöht werden konnte, zeigten sich am Ende des ersten Lebensjahres mehr sichere Bindungen aufseiten der Kleinkinder in der »Fremden Situation«. Insofern spielte mütterliches feinfühliges Verhalten eine ursächliche Rolle bei der Entwicklung der Bindungsqualität. Des Weiteren waren die Programme effektiver, wenn die Kinder zwischen 6 Monaten und 12 Monaten alt waren, und dass sie bei klinischen vorselegierten Gruppen erfolgreicher waren. Ergebnisse einer weiteren Metaanalyse, in der auf der Basis von 15 bisher vorliegenden Studien die Wirkung bindungsorientierter Interventionen hinsichtlich einer Verringerung hochunsicher-desorganisierter Bindung geprüft wurde, wiesen insgesamt keine Abnahme desorganisierter Bindungen auf. Es zeigte sich jedoch, dass die fünf Programme innerhalb der Analyse, die gezielt auf die Förderung elterlicher Feinfühligkeit ausgerichtet waren, statistisch bedeutsam besser abschnitten als kombinierte Programme, die zusätzliche Maßnahmen einbezogen und breiter angelegt waren (d=0,24). Insofern scheint, bei vorsichtiger Interpretation, die Förderung elterlicher Feinfühligkeit tatsächlich auch bei Kindern mit entwicklungspsychopathologisch interpretierbaren Bindungsproblemen ein Erfolg versprechender Weg zu sein, der auch bei Kindern mit Bindungsstörungen systematisch geprüft werden sollte. Folgt man der klinischen Erfahrung, dass eine verlässliche, stabile und vorhersagbare Umwelt für Kinder mit Bindungsstörungen wichtig ist, haben sich insbesondere speziell ausgebildete Pflegefamilien und spezialisierte Sonderpflegeverhältnisse als Erfolg versprechend gezeigt. Gemäß einer Auswertung von 18 Studien zu solchen Sonderpflegeverhältnissen war die Beziehungsstabilität insgesamt positiv zu bewerten. Darüber hinaus ließen sich in manchen Studien Verhaltensverbesserungen wie der Zuerwerb sozialer Fertigkeiten beobachten. Demgegenüber waren die Einschätzungen zum Selbstwert und zum emotionalen Be-
finden der Kinder eher kritisch zu bewerten (Reddy u. Pfeiffer 1997; Ziegenhain u. Fegert 2004).
20.8
Ausblick
Bindungsstörungen sind innerhalb der psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters die empirisch am wenigsten abgesicherten Störungsbilder. Insofern liegen gleichermaßen für Diagnostik und Therapie keine standardisierten bzw. manualisierten Vorgehensweisen vor, die empirisch ausreichend abgesichert sind. Durch die wissenschaftliche Begleitung der rumänischen Heimkinder, die nach dem Zusammenbruch des Ceauşescu-Regimes in Rumänien nach Großbritannien bzw. Kanada gebracht und dort adoptiert wurden, konnten erstmalig systematisch empirisch abgesicherte Informationen gesammelt werden, die im Verlauf gleichermaßen bindungstheoretische und kinderpsychiatrische Konzepte abprüften. So konnte die Ätiologie von Bindungsstörungen mit Enthemmung und Entwicklungsverläufe von Kindern, die unter massiven Deprivationsbedingungen keine Chance hatten, selbst eine kritische Bindung zu etablieren, wissenschaftlich erfasst werden. Die theoretische und klinische Unterscheidung zwischen Bindungsproblemen bzw. -störungen von Kindern mit einer etablierten Bindungsbeziehung und von Kindern ohne Bindungsbeziehung ist eine Herausforderung zukünftiger Forschung.
Zusammenfassung Frühkindliche Bindungsstörungen beschreiben zwei unterschiedliche Störungsbilder im Bindungsverhalten von Kleinkindern. Diese Störungsbilder sind zum einen durch distanzloses und oberflächlich freundliches Verhalten gegenüber fremden Menschen charakterisiert und zum anderen durch schwerwiegende Gehemmtheit und der Abwehr, unter Belastung Nähe und Trost bei einer Bezugsperson zu suchen. Die erste Form ist die der »Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung« (ICD-10: F94.2) bzw. des »enthemmten« Typs (DSM-IV: »disinhibited«). Die zweite Form ist die Form der »reaktiven Bindungsstörung im Kindesalter« (ICD-10: F94.1) bzw. des »gehemmten« Typs (DSM-IV: »inhibited«) und beschreibt enthemmtes und distanzloses Verhalten gegenüber verschiedensten Bezugspersonen. Bindungsstörungen werden in der ICD-10 und dem DSM-IV ähnlich operationalisiert. Die Klassifikation von Bindungsstörungen wurde maßgeblich durch die Beobachtungen der Entwicklung von Kindern in Heimen erstellt und insbesondere durch neuere Untersuchungen bei adoptierten rumänischen Waisenkindern sowie Kleinkindern in rumänischen Waisenhäusern gestützt. Bindungsstörungen lassen sich am umfassendsten vor dem Hintergrund der ethologischen Bindungstheorie konzeptualisieren.
329 Literatur
Literatur Weitere Literaturangaben (insbesondere zu den in diesem Kapitel genannten Studien) können bei der Autorin angefordert werden.
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20
330
20
Kapitel 20 · Bindungsstörungen
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Weiterführende Literatur AACAP Official Action (2005): Practice parameter for the assessment and treatment of children and adolescents with reactive attachment disorder of infancy and early childhood. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 44, 1206–1219. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al. (2007). Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (S. 311–317; 3. überarb. Aufl.). Deutscher-Ärzte-Verlag. O’Connor, T. G. (2002). Attachment disorders in infancy and childhood. In M. Rutter & E. Taylor (Eds.), Child and adolescent psychiatry: Modern approaches (4th ed., pp.776–792). Madden, Ma.: Blackwell. O’Connor, T. G., Marvin, R. S., Rutter, M., Olrick, J., Britner, P. A. & the ERA Study Team (2003). Child-parent attachment following early institutional deprivation. Development and Psychopathology, 15, 19–38. Zeanah, C. H., Smyke, A. T., Koga, S. F., Carlson, E. & The Bucharest Early Intervention Project Core Group (2005). Attachment in institutionalized and community children in Romania. Child Development, 76, 1015–1028.
21
21 Autistische Störungen Fritz Poustka
21.1
Einleitung
– 332
21.2
Darstellung der Störung – 333
21.2.1 21.2.2
Symptomatik und Klassifikation – 333 Epidemiologie, Komorbidität und Differenzialdiagnose
21.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
21.3.1 21.3.2
Neurobiologie und Genetik – 337 Verlauf und Prognose – 337
21.4
Diagnostik – 338
21.4.1 21.4.2
Untersuchungsinstrumente – 338 Neuropsychologie und intellektuelles Verhalten
21.5
Therapeutisches Vorgehen
21.5.1 21.5.2 21.5.3 21.5.4 21.5.5 21.5.6 21.5.7 21.5.8
Grundlagen – 340 Psychoedukatives Vorgehen – 342 Aufbau sozialer Fertigkeiten – 343 Sprachaufbau – 344 Verminderung unerwünschten Verhaltens – 344 Frühe Intervention und Frühförderung – 344 Arbeitseingliederung – 345 Medikamentöse Behandlung – 345
21.6
Fallbeispiel
21.7
Ausblick
Literatur
– 340
– 346
– 348
Zusammenfassung
– 349
– 349
Weiterführende Literatur
– 337
– 350
– 339
– 336
332
Kapitel 21 · Autistische Störungen
21.1
21
Einleitung
Was bedeutet das Wort Autismus? Bekanntlich wurde dieser Begriff, der Selbstbezogenheit (vom griechischen »autos« = selbst) meint, von Eugen Bleuler in Zürich für eine Symptomatik bei schizophrenen Psychosen in die Psychiatrie eingeführt. Bleuler beschrieb damit eine Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Innenlebens. Damit ist dieser Begriff aber weit entfernt von jener Beschreibung einer psychiatrischen Störung, die bei Kindern schon sehr früh auftritt und die unabhängig voneinander 1943 von Leo Kanner (USA) und 1944 von Hans Asperger (Österreich) publiziert wurden. Eine autistische Störung wurde der breiteren Öffentlichkeit durch den Film »Rain Man« etwas populärer, weil der vom damaligen sehr bekannten Autismus-Forscher Bernd Rimland angeleitete Dustin Hoffman eine kongeniale Darstellung eines Erwachsenen mit der einschlägigen Symptomatik verkörperte (und darüber hinaus besondere, sog. Savant-Fähigkeiten zeigte, s. unten). Leo Kanner (1896–1981), aus dem damals österreichischen Galizien stammend, ging in Berlin zur Schule und studierte dort Medizin. Er wanderte in den späteren 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts in die USA aus und wurde einer der Begründer der modernen amerikanischen Kinderpsychiatrie. Er beschrieb erstmals eine »autistische Störungen des affektiven Kontakts«. Seine wesentlichen Beschreibungen sind heute fester Bestandteil der modernen Klassifikation. Unabhängig davon wurde von dem Wiener Pädiater Hans Asperger (1906–1980) »Die autistischen Psychopathen im Kindesalter« beschrieben. Die Schriften von Asperger, die sich auf diese Störung ohne wesentliche Verzögerung der Sprachentwicklung beim Autismus beziehen, wurden im englischsprachigen Sprachraum erst durch die
Publikation von Lorna Wing (1981) einer breiteren Forschungsgemeinde bekannt. Diese späte »Entdeckung«, dass eine bedeutsame Anzahl von Patienten mit Autismus nicht geistig behindert ist, aber durch dieselben tiefgreifenden Entwicklungsdefizite gekennzeichnet ist, hatte deutliche Auswirkungen auf einen darauf folgenden raschen Anstieg der Prävalenzangaben der Autimusforschung (. Abb. 21.1). Der Terminus »high functioning autism« (HFA), der auf die Beobachtung von Lorna Wing in ihrer epidemiologischen Forschung im Süden Londons (Camberwell) aus den 1970er Jahren zurückgeht, nämlich dass es Kinder gibt, die autistisch sind, aber zunächst einen schweren Sprachrückstand aufweisen, dann aber eine formal gute Sprache entwickeln, hat nicht in die Klassifikation Eingang gefunden. Deswegen wird nun oft das »Asperger-Syndrom« als Synonym für nicht durch eine geistige Behinderung gekennzeichnete autistische Störung verwendet.
Heute spricht man von schwerwiegenden autistischen Störungen als »Autismus-Spektrum-Störungen« (ASS) und nimmt dabei Bezug auf die altbekannte Regel, dass Syndrome in dem Schweregrad und der Ausprägung einzelner Symptome immer variieren. ASS sind durch eine behandlungsbedürftige, lebenslang bestehende schwere soziale Kommunikationsstörung charakterisiert und durch den gravierenden Mangel, komplexe, sozial bedeutsame Zusammenhänge zu verstehen und sich entsprechend verhalten oder darauf einstellen zu können. Darüber hinaus gelten heutzutage ASS als Störungen, die neuropsychologisch definiert werden können und die immer deutlicher als zerebral bzw. genetisch verursacht erscheinen.
. Abb. 21.1. Häufigkeitszunahme von ASS-Fällen in 34 Prävalenzstudien per 10.000 Kinder nach Jahr der Erhebung und Jahr der Erstpublikation des Asperger-Syndroms. (Mod. nach Fombonne 2006)
333 21.2 · Darstellung der Störung
21.2
Darstellung der Störung
21.2.1 Symptomatik und Klassifikation
Autistische Störungen sind gekennzeichnet durch erhebliche Auffälligkeiten in der sozial angemessenen Kommunikation und Interaktion mit anderen. Bedeutsam sind die Schwierigkeiten von Menschen mit Autismus, Emotionen und vor allem subtile, durch Körperhaltung, Mimik oder Gestik vermitteltes Ausdrucksverhalten nach dessen sozialer Bedeutung zu erkennen und sich entsprechend darauf einzustellen. Dies bezieht sich auch auf andere Bereiche und Sinnesqualitäten wie den auditiven Bereich (monotone oder der Situation nicht angemessene Intonation, Prosodie), eine häufig unbeholfene/vertrackte Motorik oder eine (oft verminderte) Schmerzempfindung sowie eine Über- oder auch Unterempfindlichkeit gegenüber sensorischen Empfindungen.
Im Einzelnen werden nach den großen Klassifikationssystemen (ICD-10/DSM-IV) folgende drei Störungsbereiche unterschieden (Poustka et al. 2008b): 4 qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion 4 qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation und Sprache, 4 begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten.
Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion Diese betreffen ein gestörtes non-verbales Verhalten (monotone Mimik, Gestik, Tonfall), seltene und abweichende direkte Blickkontakte (. Abb. 21.2) und das Fehlen weiterer . Abb. 21.2. Das Bild zeigt, wie schwierig die Ausrichtung der Blickbewegungen auf die relevanten Ziele für Probanden mit ASS (blaue Linie) gegenüber Gesunden (weiße Linie) ist. (Aus Klin et al. 2002)
interaktiv normalerweise häufig eingesetzter Verhaltensweisen wie soziales Lächeln, subtiles, interaktionsbegleitendes Minenspiel sowie den mimischen Ausdruck von Gefühlen. Dementsprechend ist die Beziehung zu Gleichaltrigen stark beeinträchtigt. Kinder mit Autismus zeigen durchgehend kaum Interesse an anderen Kindern und an Phantasiespielen mit Gleichaltrigen, es fehlen weitgehend die Reaktionen auf Annäherungsversuche anderer, und sie sind unfähig, Freundschaften einzugehen (und leiden unter ihrer Isolation). Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit oder Freude mit anderen (Kindern und Erwachsenen) zu teilen, ist ebenso beeinträchtigt. Schon bei Kleinkindern ist das Unvermögen auffällig, andere nicht auf Dinge lenken zu können, die vom Kind selbst gerade beachtet werden, so dass es nicht gelingt (oder dies auch offensichtlich nicht angestrebt wird) andere dafür zu interessieren; etwas später während der Entwicklung ist es auch nicht möglich, mit anderen gemeinsame Interessen zu teilen oder in einem Dialog Gemeinsamkeiten zu herzustellen. Als Mangel an sozioemotionaler Gegenseitigkeit werden die unangemessenen Annäherungsversuche in sozialen Situationen bezeichnet; sie können andere kaum trösten; andere Personen scheinen mitunter wie Gegenstände benutzt zu werden.
Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation und Sprache Die Sprache ist oft repetitiv und stereotyp. Ein Mangel an Fähigkeit zum abwechslungsreichen, imaginären und imitativen Spielen ist schon im Kleinkindalter deutlich. Es bestehen gravierende Probleme, eine Konversation zu beginnen und aufrechtzuerhalten. Der Mangel, die emotionale Gestimmtheit anderer Leute zu erkennen und sich entsprechend verhalten zu können, führt oft dazu, dass Personen mit Autismus bestimmte Situationen nicht verstehen oder auf eine sehr konkretistische Weise darauf reagieren.
21
334
Kapitel 21 · Autistische Störungen
Fallbeispiel
21
Ein gut sprechender autistischer Junge geht gerne in große Kaufhäuser, er scheint sich dort gut zu entspannen und benutzt sehr gerne dabei die Rolltreppe. Danach kommt er meist gut gelaunt nach Hause. Er verabredet sich dabei auch mit erwachsenen Verwandten. Eines Tages bricht er diese Gewohnheit abrupt ab und ist nicht zu bewegen, weiterhin das Kaufhaus zu besuchen, gibt aber keinen Grund dafür an. Erst nach einiger Zeit entdeckt die detektivisch nachforschende Mutter ein neues Schild am Beginn der ersten Rolltreppe in diesem Kaufhaus, worauf sinngemäß steht, dass die Treppe nur mit Hunden an der Leine betreten werden darf. Der Junge antwortet auf die gezielten Fragen der Mutter, dass er doch keinen Hund habe und deshalb nicht mehr die Rolltreppe begehen dürfe. Ein anderer Junge (8 Jahre alt) steht vor dem Regal mit Waschmitteln in einem Supermarkt und erklärt dort den Einkaufenden detailliert und langatmig Vor- und Nachteile bestimmter Waschmittel. Wenn diese nach kurzer Zeit aber weitergehen wollen, versucht er sie aufzuhalten oder läuft ihnen nach, ohne zu bemerken, dass er auf kein weiteres Verständnis stößt. Falls jemand dann noch dazu das »falsche« Waschmittel nimmt, holt der Junge dies aus dem Einkaufskorb und verweist darauf, was er denn gerade erklärt habe (worauf er wieder einmal von den Verkäufern aus dem Geschäft gewiesen wird).
Etwa ein Drittel der Kinder entwickelt keine oder nur eine unverständliche Sprache, und es kommt zu keiner Kompensation der mangelnden Sprachfähigkeiten durch Mimik oder Gestik. Bei den unter 4-Jährigen (entsprechend dem Entwicklungsalter) fällt besonders stark der Mangel am spontanen Imitieren der Handlungen anderer auf, sie entwickeln kaum phantasievolles (Symbol-)Spielen. Deutlich sind Probleme, ein fehlendes Sprachvermögen durch Mimik oder Gestik zu ersetzen (wie beim elektiven Mutismus). Idiosynkratisches sprachliches Äußerungsvermögen kommt häufiger vor. Bei erheblichen Sprachverzögerungen kommt es zu neologischen Wortbildungen, viel länger als bei normal entwickelten Kindern besteht eine Vertauschung der Personalpronomina und eine verzögerte Echolalie. Ein sprachlicher Austausch im Sinne einer informellen, sozial angemessenen Konversation (Small Talk) entwickelt sich auch bei gut Begabten sehr selten.
Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten Charakteristisch ist das abnormale Festhalten an bestimmten Themen mit einem Haften an nichtfunktionalen Routinen und Ritualen, ferner repetitive, stereotype motorische Manierismen, das abnorme Festhalten an Details statt am
Ganzen und mitunter ein starkes abnormes Interesse an sensorischen Eindrücken. Diese Verhaltensmuster bestehen in ausgedehnten Beschäftigungen mit stereotypen, ungewöhnlichen Handlungen und eng begrenzten Spezialinteressen, einem zwanghaften Festhalten an nichtfunktionalen Handlungen oder Ritualen und oft extrem ängstlichen oder beunruhigten Reaktionen bei Unterbrechen dieser Handlung. Die stereotypen und repetitiven motorischen Manierismen sind Drehen oder Flackern der Finger vor den Augen, Schaukeln, Auf- und Abhüpfen. Die Beschäftigung mit nichtfunktionellen Elementen von Gegenständen zeigt sich durch ein ungewöhnliches Interesse an sensorischen Teilaspekten wie am Anblick, am Berühren, an Geräuschen, am Geschmack oder Geruch von Dingen oder Menschen. Dabei kommen sowohl sensorische Abnormalitäten im Sinne einer Hypooder Hypersenisitivität vor.
Symptomverteilung Der Beginn dieser tiefgreifenden Störung liegt vor dem Ende des 3. Lebensjahres (vor dem 36. Lebensmonat). Ein späterer Beginn ist häufig eine Phänokopie autistischer Symptomatik auf der Grundlage anderer (oft neurodegenerativer) Erkrankungen). Es sollte aber klar sein, dass die einzelnen Phänomene in der Allgemeinbevölkerung wahrscheinlich normal verteilt sind. Man spricht von einer autistischen Störung erst, wenn diese Symptomatik der verschiedenen Bereiche zusammen vorkommt und mit einer intensiven Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit im Alltag und bei Anforderungen einhergeht. Wie bei allen Syndromen ist die Variation in der Vorkommenshäufigkeit von Einzelsymptomen auch bei einem eindeutig diagnostizierten Autismus hoch. Dies veranschaulicht die Häufigkeitsangaben der von uns in Frankfurt untersuchten Personen mit Autismus. Einige der Variationen sind unter dem Gesichtspunkt der Komorbidität unterschiedlichen Ausmaßes von geistiger Behinderung und einer Sprachentwicklungsverzögerung verständlich, andere sind nicht dadurch beeinflusst. . Tab. 21.1 zeigt, aus der Untersuchung an einer größeren, gut dokumentierten Population von autistischen Kindern und Jugendlichen mit einer autistischen Störung, dass die einzelnen Symptome eines Symptombereiches sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können, obwohl die Kriterien in diesen Fällen für ein Vollbild des Autismus erfüllt wurden. Außerdem muss man die häufige Komorbidität (besonders des hyperaktiven Verhaltens, 7 Abschn. 21.2.2) mit anderen Störungen beachten, da sie die Kommunikationsfähigkeit und die Interaktion noch weiter beieinträchtigen.
Subklinische Formen Die einzelnen Symptome autistischer Störungen sind in der Bevölkerung kontinuierlich verteilt (dimensional), wie bei anderen Störungen auch (z. B. Angstkrankheiten, Auf-
21
335 21.2 · Darstellung der Störung
. Tab. 21.1. Symptomverteilung in einem größeren Frankfurter Kollektiv diagnostizierter Personen (Altersbereich 4–49 Jahre, Mittelwert 16 Jahre) mit Autismus Symptom
Ausprägung Unauffällig [%]
Vage [%]
Definitiv [%]
Extrem [%]
Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion N=425 Trost spenden (4–5)
3
13
23
61
Interesse an anderen Kindern (4–5)
4
17
33
46
Bedürfnis Vergnügen zu teilen (4–5)
8
27
48
17
Soziales Lächeln (4–5)
12
22
34
32
Direkter Blickkontakt (4–5)
16
23
39
22
Unangemessenheit des Gesichtsausdrucks (4–5)
18
38
28
14
Benutzung des Körpers anderer zur Kommunikation (jemals)
35
18
19
26
Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation N=425 Phantasievolles Spiel (4–5)
5
10
21
64
Gestik (4–5)
5
15
37
44
Spontane Imitation (4–5)
6
16
13
65
Nicken (4–5)
15
11
71
1
Auf etwas zeigen (4–5)
20
20
16
44
Qualitative Auffälligkeiten der Sprache (nur zum Zeitpunkt der Untersuchung sprechende Probanden) N=168 Stereotype Lautäußerungen und verzögerte Echolalie (jemals)
13
17
39
6
Umkehr von Personalpronomina (jemals)
22
21
19
10
Unpassende Fragen oder Feststellungen (jemals)
19
24
23
1
Neologismen, ideosynkratische Fragen (jemals)
31
33
8
29
Benutzung des Körpers anderer zur Kommunikation (jemals)
35
18
19
26
Hand- und Fingermanierismen (jemals)
27
18
37
18
Repetitiver Gebrauch von Objekten oder Interesse an Details von Objekten (jemals)
18
27
19
25
Zwänge/Rituale
34
27
29
10
Spezialinteressen (jemals)
57
19
17
6
Ungewöhnliches sensorisches Interesse (jemals)
37
54
10
–
Repetitives, restriktives und stereotypes Verhalten N=425
Symptom = Symptom im ADI-R (»Autismus Diagnostisches Interview, revidierte Fassung«); z. B. »Trost spenden« bedeutet, gegenüber einer anderen Person Anteilnahme zeigen zu können, wenn diese offensichtlich traurig verstimmt ist und normalerweise (z. B. Kind gegenüber der Mutter) eine tröstende Anteilnahme gezeigt wird. Ausprägung (Grad): unauffällig: das Kind zeigt normale tröstende Anteilnahme; extrem: das Kind zeigt gar keine Zeichen einer tröstenden Anteilnahme; Ausprägung (Zeitpunkt): (4–5): Ausprägung im 4.–5. Lebensjahr (Rückfragen gemäß Ankererinnerungen, um früheste sichere Ausprägung für verschiedene Personen mit Autismus objektiver vergleichen zu können); (jemals): höchste Ausprägung jemals im Leben. Die Ausprägungen sind hier entsprechend den Schweregraden 0,1,2,3 abgegeben. In der Auswertung des ADI-R werden aber die Stufen 2 und 3 (definitiv und extrem) nur als »2« kodiert.
merksamkeitsdefizitsyndrom oder Zwangsstörungen). Daher ist auch bei den autistischen Störungen die Einführung von bestimmten Cut-off-Werten pro Bereich notwendig, um mit der Summe der Schweregrade der anderen Symptome zusammen in einem Störbereich zur Definition einer eindeutigen Störung zu kommen, die auch im Alltagsgeschehen zu Funktionsstörungen und erheblichen Adaptationsproblemen führt und somit behandlungsbedürftig ist. Die Abgrenzung einer eindeutig behandlungsbedürftigen Störung zu subklinischen Formen orientiert sich nach dem Ausmaß einer ungewöhnlichen Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus im Alltag (in der Familie,
unter Gleichaltrigen, in der Schule und in der Freitzeitgestaltung). Dafür dient die Definition nach der Achse VI der multiaxialen Klassifikation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (»Globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus – Adaptation/Beeinträchtigung«; Remschmidt et al. 2006). Bei schwächeren Symptomausprägungen können demnach auch unterschwellige Angaben erhoben werden, die dann etwa als »autistische Züge« bewertet werden. So wird auch ein niedrigerer Schwellenwerte z. B. im Interview »ADI-R« und insbesondere im Beobachtungsinstrument »ADOS« (Beobachtungsinstrument, Rühl et al. 2004, 7 Ab-
336
Kapitel 21 · Autistische Störungen
schn. 21.4.1) angegeben: Im ADOS wird eine Schweregradeinteilung (Schwellenwert) für Autismus (höher) bzw. für Autismus-Spektrum (etwas niedriger) unterschieden.
21 21.2.2 Epidemiologie, Komorbidität
und Differenzialdiagnose Epidemiologie Die Vorkommenshäufigkeit in epidemiologischen Studien hat seit den 1980er Jahren von ursprünglich 4–5 pro 10.000 um 0,5–1% für die sog. autistische Spektrumstörung zugenommen. (Fombonne 2005; Baird et al. 2006). Dies hängt mit den verbesserten Klassifikationsinstrumenten und mit der Verbreitung der Beschreibungen Aspergers im angelsächsischen Sprachraum zusammen und hat keine anderen Ursachen (. Abb. 21.1).
Komorbidität In früheren Jahrzenten wurden vor allem Kinder mit einem Handicap (mentaler Retardierung, MR) als autistisch diagnostiziert. Dementsprechend ist der relative Anteil komorbider autistischer Störungen mit MR von früher ca. 75% auf 25–50% Häufigkeit zurückgegangen. Die Überschneidung mit anderen Krankheiten (fragiles X-Syndrom, tuberöse Hirnsklerose, andere neurologischen Krankheiten – oft als syndromaler Autismus benannt) nimmt bei schweren MR bis 90% zu, bei leichter MR und einer darüber liegenden intellektuellen Leistungsfähigkeit sind solche Beierkrankungen seltener (10–25%). Mit dem Ausmaß der geistigen Behinderung bzw. des Sprachrückstandes (und nicht mit dem Schweregrad der autistischen Kernsymptomatik) geht auch eine erhöhte komorbide Rate einer begleitenden Epilepsie in 25–30% der Fälle einher (Poustka 2007). Wie bei allen tiefgreifenden bzw. schweren Störungen kommen bei den autistischen Störungen auch andere assoziierte psychische Krankheiten außer MR häufig vor. Simonoff et al. (2008) geben in einer sorgfältigen systematischen Untersuchung eine solche Überschneidung bei 70% der 10bis 14-jährigen Probanden mit wenigstens einer Krankheit an, bei 40% mit zwei oder mehreren. Meist handelt es sich um Angstkrankheiten (insbesondere Sozialphobie, 29%), Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS, 28%) und Störungen des Sozialverhaltens (oppositionelle Störungen, 28%). Besonders häufig kommt es zu einer Überschneidung mit einer weiteren Störung (bei 84%), wenn mit Autismus gleichzeitig eine ADHS vorliegt. Die Angaben variieren in verschiedenen Untersuchungen häufig nach oben. Schon früh wurde auf die Begleitsymptomatik von Ängsten und Depressionen hingewiesen. Eine nicht unbedeutende, aber noch wenig erforschte Begleitsymptomatik beim Autismus, die die Prognose beeinträchtigt, sind anhaltendes aggressives Verhalten, das in 20% der Fälle gra-
vierend ist (Gillberg u. Coleman 1992). Davon sind häufiger männliche Personen mit Asperger-Autismus (AS) betroffen, die oft auch Substanzmissbrauch betreiben. Das Bild gleicht insofern den Gewalttaten ohne ein Asperger-Syndrom. Ein erhöhtes Risiko bei AS ist deshalb umstritten (Långström et al. 2008). Etwa ein Fünftel der jungen Erwachsenen mit Autismus entwickeln neue Störungen wie Zwänge, affektive Störungen oder Angstkrankheiten (Hutton et al. 2008).
Differenzialdiagnose Die Differenzialdiagnose folgt oft denselben Störungsmustern wie die Komorbidität. Entsprechend den Leitlinien der Kinder- und Jugendpsychiatrie (2007) sind das die schwere geistige Behinderung mit einem IQ >35, was überdies eine eindeutige Zuordnung bzw. Differenzierung erschwert. Eine große Bedeutung kommt den Entwicklungsstörungen der Sprache zu. Die Differenzierung zur expressiven (F80.1) und rezeptiven (F80.2) Sprachstörung ist unter Umständen erschwert, da nicht wenige dieser Kinder auch autismusähnliche Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Untypisch sind dabei eine monotone Modulation, Lautstärke, Sprachflüssigkeit, Sprechgeschwindigkeit, Tonfall und Rhythmus. Bei der stereotypen und repetitiven Verwendung der Sprache kann die Abgrenzung zu Artikulationsstörungen (F80.0) und zum Landau-Kleffner-Syndrom (F80.3; Sprachabbau mit epileptischen Anfällen) durch die intakte nonverbale Kommunikation belegt werden. Bei der seltenen »überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien« (F84.4) fehlen die für den Autismus typischen Kommunikations- und Interaktionsstörungen. Schwieriger kann die Differenzierung zu bedeutsamen Bindungsstörungen (F94.1/F94.2) sein. Kinder mit Deprivationssyndromen und/oder Sinnesstörungen zeigen nach einigen Monaten in adäquatem Umfeld deutlich schnellere und bessere sprachliche Funktionen als Kinder mit Autismus. Die sog. quasi-autistischen Störungen (Rutter et al. 2007) in der rumänisch-englischen Adoptionsstudie (ERA) sind mitunter sehr schwerwiegend und nachhaltig und eher quantitativ unterschiedlich als qualitativ. Desintegrative Störungen des Kindesalters (F84.3) bzw. Heller’sche Demenz werden oft bei einem zeitlich unterschiedlichen (späteren) Beginn auffällig und entstehen mitunter als Phänokopien autistischer Störung auf der Basis eines anderen Syndroms, meist neurodegenerativen Leiden. Ein Sonderfall ist das Rett-Syndrom (F84.2). Es tritt fast nur bei Mädchen auf, da betroffene Jungen fast nie überleben. Dabei gehen erworbene Fähigkeiten verloren, und typische psychomotorische Entwicklungsstörungen mit stereotypen wringenden Handbewegungen treten neben anderen neurologischen Störungen auf. Der Verlauf ist oft langwierig langsam (mit Paraplegie und Mikroenzephalie). Eine molekulargenetische Identifikation ist in den meisten Fällen möglich (Mutation des MECP2Gens).
337 21.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Höhere Überschneidungen mit autistischen Verhaltensweisen finden sich beim Fragilen X-Syndrom und bei der tuberösen Hirnsklerose. Die klinischen Symptome und eine molekulargenetische Untersuchung sind oft zielführend zur Diagnose. Bei der Phenylketonurie ist der Nachweis des gestörten Phenylalaninabbaus erforderlich. Bei den sehr seltenen frühkindlichen schizophrenen Psychosen führen Wahnsymptome, Halluzinationen und schubförmige Verschlechterungen des psychopathologischen Bildes zur Differenzialdiagnose. Eine Überlappung von autistischen Störungen (auch bei gutem Sprachvermögen) mit psychotischen Erkrankungen ist selten. Dagegen ist die Differenzialdiagnose zur schizoiden Persönlichkeitsstörung schwieriger. Eine weit in die frühe Kindheit zurückführende klare Anamnese mit Auffälligkeiten entsprechend den Leitlinien autistischer Störungen schließt eine Persönlichkeitsstörung aus. Im Vergleich zum Autismus finden sich bei Mutismus und Angstsyndromen wesentlich bessere soziale Wahrnehmung, Bindungs- und Spielverhalten bzw. deutlich bessere averbale Reaktivitäten von Mimik, Gestik und Blickkontakt. Die Situationen, in denen Auffälligkeiten gezeigt werden, sind selektiv, z. B. unauffälliger Gebrauch der Sprache bei mutistischen Kindern in vertrauter Umgebung. Mitunter ist es schwierig, eine sozialphobische Begleitsymptomatik beim Autismus von einer Sozialphobie bei Intelligenzminderung zu unterscheiden – therapeutisch ist hier auch ein Versuch mit einer Medikation aus der Gruppe der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) empfehlenswert. Pränatalschäden (im Unterschied zu Perinatalschäden) und neurologische Dysfunktion kommen beim Autismus häufiger vor.
21.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
samkeitsleistung für Geräusche und menschliche Stimmen. Dabei kommt es zu einer geringeren Aktivierung bestimmter Gehirnregionen (Broca-Region) im Positronenemissionstomogramm. Das bedeutet, dass die Erfassung von bestimmten sozial relevanten Stimuli in verschiedenen sensorischen Bereichen gestört ist. Verschiedene MRT-Studien brachten damit eine verminderte Konnektivität, d. h. eine Verminderung von Nervenbahnen (weiße Substanz) zwischen verschiedenen Hirnteilen, und auch das weitgehende Fehlen von sog. Spiegelneuronen in Zusammenhang. Dabei kommt es in frühen Lebensjahren zu einem abweichenden Gehirnwachstum. Dieses ist im 2.–3. Lebensjahr exzessiv stark, danach abnormal reduziert und geht öfter mit einem vergrößerten Kopfumfang einher. Umfangreiche genetische Untersuchungen haben gezeigt, dass nach den Ergebnissen der Untersuchungen an Zwillingen und Familien die Konkordanzrate bei eineiigen gegenüber zweieiigen Zwillingen beim breiten Phänotyp etwa 80 zu 10% beträgt und die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung eines Geschwisterkindes eines Kindes mit Autismus etwa 15%. Das ist die höchste Rate an Konkordanzen im Bereich neuropsychiatrischer Erkrankungen. Diese Befunde weisen auf eine Erblichkeit von 90% hin, dies spricht zunächst für eine geringe Bedeutung für Umwelteinwirkungen. Allerdings ist in neueren molekulargenetischen Untersuchungen die Rate von neuen Mutationen im Genom des Betroffenen (also ohne vererbte Mutationen aus der Elterngeneration) mit bis zu 10% sehr hoch, was die hohe Rate von sporadischen Fällen erklärt. Im Übrigen verdichten sich die Hinweise einer genetischen Störung der Synapsenbildung als eine der möglichen Ursachen für die verminderte Konnektivität der nervalen Strukturen im Gehirn beim Autismus (Poustka et al. 2008).
21.3.1 Neurobiologie und Genetik 21.3.2 Verlauf und Prognose
Die Befunde zum Umgang mit Mimik (7 Abschn. 21.4.2) lassen einen Zusammenhang zu anderen Studien erkennen, die die Erfassung des Gesichtsausdrucks durch Personen mit Autismus mit Hilfe der zerebralen Bildgebung (funktionelle Magnetresonanztomographie, fMRT) untersuchten: Spiegelt man Bilder von Gesichtern bzw. im Kontrast dazu solche von Objekten bei Gesunden in das MRT ein, so werden unterschiedliche Gehirnregionen aktiviert, nämlich bei Gesichtern der Gyrus fusiforme facialis im rechten Temporallappen und etwas mehr unterhalb und eng benachbart der Gyrus temporalis inferior bei Gegenständen wie Brillengestell, Häuserfront oder Dreiecken. Beim Autismus ist der Gyrus facialis beim Zeigen von Gesichtern im fMRT deutlich unteraktiviert gegenüber Gesunden, während die Aktivierung bei den eingespiegelten Sachobjekten wie bei Gesunden erfolgt. Auch im auditiven Bereich gibt es Auffälligkeiten wie die problematische differenzielle Aufmerk-
In älteren Untersuchungen, die eine Generation zurückliegen, zeichnete sich ein düsteres Bild ab: 50–75% der Erwachsenen mit Autismus lebten in größeren Institutionen und nur wenige in berufsbezogenen oder sonstigen fördernden Einrichtungen. Ein einigermaßen normales Leben führten nur etwa 5–15% (Lotter 1978). Howlin (2004) fand in einer prospektiven Nachuntersuchung (21–48 Jahre alt, IQ >50), dass 58% ein schlechtes bis sehr schlechtes Verlaufsergebnis in Bezug auf eine Verselbstständigung zeigten. Auch jene 22% mit einem besseren Verlauf oder mit einem mindestens durchschnittlich intellektuellen Leistungsvermögen waren sehr isoliert, abhängig von ihren Familien und selten beschäftigt. Bei allen bestand weiterhin die Kernsymptomatik der autistischen Störung. Ein gutes Imitationsvermögen und umschriebene, herausragende Interessen und Fähigkeiten bei relativ guter Intelligenz waren
21
338
Kapitel 21 · Autistische Störungen
prognostisch günstig. Eine dauernde Unterbringung war aber nur mehr bei 20% notwendig.
21
Wortverständnis und -produktion spätestens um das Alter bei Schulbeginn und ein IQ >50 zeigte eine günstigere Prognose an. Deshalb sind auch die Bedingungen des verbesserten Spracherwerbs von hoher prognostischer Bedeutung. Insbesondere Siller und Sigman (2008) wiesen auf den »kollaborativen Prozess« beim Spracherwerb zwischen Eltern und Kindern mit Autismus hin: Demnach steht der Zuwachs an Sprachvermögen dieser Kinder vom frühen bis zum mittleren Kindesalter in einem direkten Zusammenhang einerseits mit der Reaktivität der Kinder auf Hinweise anderer zu Zielen gemeinsamer Aufmerksamkeit und andererseits mit der elterlichen Reaktion auf das, was die Kinder gerade beachteten oder spielten, unabhängig vom IQ, Entwicklungsalter oder dem initialen Sprachvermögen. Entscheidend ist also offenbar das aktive Zusammenspiel, das Kommentieren und die gemeinsame sprachliche Auseinandersetzung zwischen Eltern und Kindern, besonders bei Kindern mit autistischen Störungen.
21.4
Diagnostik
21.4.1 Untersuchungsinstrumente
Der Goldstandard der Untersuchungsinstrumente sind derzeit: 1. die Anwendung von Fragebögen als Vorschalt-Screenings und 2. das Interview zur Kodierung der Kernsymptome beim Autismus und häufig damit assoziierter Symptomatik: »Diagnostisches Interview für Autismus-Revidiert« (ADI-R) (Poustka et al 1996) und das Beobachtungsinstrument »Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen« (ADOS) (Rühl et al. 2004).
Fragebögen als Screeninginstrumente Fragebogen zur sozialen Kommunikation. Es empfiehlt
sich, zunächst einen Fragebogen als kurzes Screeninginstrument zu verwenden: Das sind derzeit vor allem der aus dem ADI-R entwickelte FSK (»Fragebogen zur sozialen Kommunikation«; Bölte u. Poustka 2006). Er basiert auf dem von Rutter et al. 2001 erstellten »Social Communication Questionnaire« (SCQ). Die 40 Fragen (dichotom skalierte Ja/Nein-Antworten) können in etwa 20 Minuten beantwortet werden. Sie wenden sich an die Bezugperson/Betreuer des Kindes. Ein Cut-off von 17 positiven Kodierungen hat eine Spezifität von 99% und eine Sensitivität von 92%. Bei einem Cut-off von >8 ist das Vorliegen eines Autismus unwahrscheinlich (Poustka et al. 2008).
Soziale Reziprozitätsskala. Ein Fragebogen – unter mehreren –, der sich sehr gut zu einem Screening eignet, ist der SRS (»Soziale Reziprozitätsskala«; Constantino u. Gruber 2005, deutsch von Bölte und Poustka (2007). Er enthält je 65 Fragen für die Fassung für Kinder bzw. Erwachsene (Dauer ca. 20 Minuten). Die interne Konsistenz der Gesamtskala des SRS lag bei rtt=.97 und für die Subskalen zwischen rtt=.75–.92 (p<.0001). Von 107 Probanden lagen Wiederholungsmessungen der Mütter, von 76 Wiederholungsmessungen der Väter vor. Für den SRS der Mutter zeigte sich eine Stabilität von rtt =.80 (p<.0001), für den SRS des Vaters eine Stabilität von rtt =.72 (p<.0001). In der klinischen Stichprobe waren insgesamt 49 Wiederholungsmessungen nach einem Zeitraum von 3–6 Monaten verfügbar. Die Stabilität erreichte hier einen Wert von rtt=.95 (p<.0001). Die Korrelation der Elternurteile lag bei r=.91 (p<.0001). Ein SRS-Gesamtwert von 56 hatte eine Sensitivität für ASS von 90% bei einer Spezifität von 50%. Ein SRS-Gesamtwert von 100 hatte eine Spezifität von 90% bei einer Sensitivität von 56%. Die Ergebnisse zeigen – abgesehen von der insgesamt hohen diskriminatorischen Kraft des SRS – auch deutlich überlappende Verteilungen der SRS-Messwerte zwischen Personen mit ASS und anderen psychischen Störungen innerhalb der klinischen Stichprobe. Dieser Sachverhalt spricht für den primären Einsatz der SRS in ihrem eigentlichen Sinne als dimensionales Verfahren. Für die psychiatrische Klassifikation gibt die SRS in der klinischen Praxis wertvolle, aber nicht hinreichende diagnostische Information (Bölte u. Poustka 2007).
Diagnostisches Interview für Autismus – Revidiert (ADI-R) Das Interview ADI-R wendet sich an die Bezugpersonen (Eltern) und enthält 42 für Autismus spezifische Fragen (semistrukturiert) und insgesamt 93 Items über häufige, mit dem Autismus assoziierte Symptome. Die Fragen sollen zur Beantwortung von jeweils standardisiert vorgegebenen Kodierungen (Schweregrade 0–3) führen. Die Durchführungsdauer schwankt zwischen 1½ und 4 Stunden. Nach einer Faustregel soll es ab einem Entwicklungsalter, in dem ein Kind Treppensteigen kann, verwendet werden können. Bei zu jungen Kindern führt es eher zu einer Überschätzung der autistischen Symptomatik. Die Interrater-Reliabilität des ADI-R ist befriedigend bis sehr gut (für ein N=22, 4 Rater; Poustka et al. 1996): sie beträgt bei den Items zu »soziale Interaktion« rκw=.31–.89 (für die Cut-offs rκw=.75); bei den Items »Kommunikation« rκw=.37–.95 (Cut-offs rκw=.77); bei den Items »stereotypes, restiktives Verhalten« rκw=.58–.92 (Cut-Offs rκw=.80); bei den Items »abnorme Entwicklung« rκw=.69–.95 (Cut-offs rκw=.84).
339 21.4 · Diagnostik
Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen (ADOS)
21.4.2 Neuropsychologie und intellektuelles
Das ADOS wird angewandt, um durch standardisierte Spiele und Interviewteile (bei älteren, sprechenden Probanden) das Ausmaß an Fähigkeit bzw. Mangel an sozialer Interaktion, Kommunikation und repetitives, stereotypes Verhalten (falls Letzteres sichtbar wird) einschätzen zu können. Das ADOS kann in etwa 30 Minuten durchgeführt werden. Es ist in vier Module unterteilt (für Kleinkinder und nicht Sprechende, für Sprechende mit Schwierigkeiten), die zwei weiteren Module eignen sich für flüssig sprechende Jugendliche bzw. Erwachsene. Das ADOS verlangt eine aktive Rolle des Untersuchers mit hohem Aufforderungscharakter. Die Anwendung muss erlernt werden, Kenntnisse der Psychopathologie des Autismus sind erforderlich. Die Diagnose ist dann sicherer, wenn in beiden Instrumenten eine Diagnose gestellt werden kann und eine sog. klinische Meinung Erfahrener damit übereinstimmt. Die konvergente Validität des ADOS (Manuale zum ADOS) mit dem ADI-R (N=159) beträgt für die Diagnose (Cut-offs) 79%; die Korrelation der Summenwerte beträgt für die Skalen »Kommunikation« r=.35, »Soziale Interaktion« r=.45 und »Stereotypes/Repetitives Verhalten« r=.31. Letzterer Symptombereich ist im ADOS während der halben Stunde Untersuchungszeit nicht immer zu sehen und deshalb auch nicht immer kodierbar. Die diagnostische Validität des ADOS zeigte eine Übereinstimmung in 77% der Fälle für Autimus und in 89% für die Autismus-Spektrum-Störungen. Untersucht wurden N=135 Probanden mit Autismus, 27 mit Autismus-Spektrum-Störungen, 13 mit anderen kinderpsychiatrischen Störungen (mit der Diagnose nach ICD-10/DSM-IV). Zur Früherfassung (vor dem 2. Lebensjahr) wird häufig der CHAT (»Checklist for Autism in Toddlers«, Baron-Cohen et al. 1992, deutsch von Kusch und Petermann 2001) verwendet, der zumindest zu Verdachtsmomenten des Vorliegens eines Autismus führt. Es sind einige Modifikationen veröffentlicht worden. Die wesentlichen Items sind dabei u. a. das »So-Tun-als-ob-Spiel« und das soziale Zeigen (Vergewissern, das die Bezugsperson auch auf das selbe Objekt schaut).
! Eine mehr als mittelschwere geistige Behinderung erschwert grundsätzlich eine sichere Diagnose. Nicht testbare Probanden sollten eher mit Hilfe einer Verhaltensbefragung der Bezugspersonen untersucht werden (etwa mit Hilfe der »Vineland Adaptive Behavior Scale 2nd Edition« – Vineland II; Sparrow et al. 2006 ).
! Für eine schnelle Orientierung eignet sich ein Screeninginstrument und – bei erhöhtem Verdacht – die Anwendung des ADOS.
Bei intellektuell gut Begabten eignen sich vor allem die von Baron-Cohen et al. (2005) entwickelten Diagnoseinstrumente »Adult Asperger Assessment« (AAA) oder der »Autism-Spectrum Quotient« (AQ).
Verhalten
Eine Besonderheit stellen herausragende Fähigkeiten dar, die oft bedeutsamen visuellen Gedächtnisleistungen oder mathematischen Sonderleistungen u.a.m. entsprechen können. Bei gut testbaren Probanden sind häufiger charakteristische Leistungsprofile beschrieben worden: relativ gute Leistungen in visuell-räumlichen Fähigkeiten (Mosaiktest) gegenüber solchen mit Anforderungen an die soziale Kognition (Bilderordnen, allgemeines Verständnis). Dies steht mit dem Konstrukt der sog. »schwachen zentralen Kohärenz« im Zusammenhang. Menschen mit Autismus gelingt es eher, Details aus einem Ganzen isoliert zu sehen, im Gegensatz zu »typisch Entwickelten«, die eher globale, zusammenhängende Strukturen erfassen. Exekutive Funktionen bezeichnen Fähigkeiten zur Planung, Vorausschau, Flexibilität und Strategie – etwa gemessen mit dem »Wisconsin-Card-Sorting-Test« (WCST) bzw. dem »Tower of Hanoi« u. a. Beim Autismus bleibt es oft unklar, ob eine häufig komorbid auftretende Impulsivität, Ablenkbarkeit und Konzentration die exekutive Leistungsfähigkeit beeinträchtigt bzw. inwieweit sie spezifisch für autistische Störungen selbst sind. Die am häufigsten untersuchte Besonderheit beim Autismus ist die »Theory of Mind« (ToM). Eine Schwäche der ToM führt zur bedeutsamen Einschränkung, die Affekte und deren soziale und situative Bedeutung zu verstehen, und bedeutet eine Einschränkung der sozialen Kompetenz. Dabei werden Mimik, Gestik, Tonfall und Haltung nicht soweit erkannt, dass eine Einstellung und angemessene Reaktion erfolgen kann (z. B. Absichten, Vorstellungen, Ideen, Gefühle, Gedanken, Wünsche zu erkennen, zu verstehen, zu erklären, vorherzusagen und zu kommunizieren). Früher wurden in den Tests oft sog. »False-Belief-Geschichten« verwendet. Das sind Geschichten, in denen z. B. die erste Peron von zwei »Mitspielern« einen Ball in einen Korb legt und diese erste Person dann den Raum kurz verlässt. Währenddessen legt die zweite Person den Ball aus dem Korb in eine Schachtel. Die Frage an den autistischen Probanden lautet, wo die wieder in den Raum eintretende erste Person den Ball jetzt suchen würde – im Korb oder in der Schachtel? Diese in Bildern erzählten Geschichten sind für Autisten mit gutem intellektuellem Leistungsvermögen meist zu einfach; es sind zwar kompliziertere (Bilder-) Geschichten in Verwendung, aber als Untersuchungswerkzeuge werden jetzt eher Aufgaben verwendet, die den
21
340
21
Kapitel 21 · Autistische Störungen
fazialen Affekt vom ganzen Gesicht oder nur Teile davon (Augenpartie) in Form von basalen Emotionen oder eher subtileren affektiven Gesichtsmienen darstellen (s. Beispiele unter: http://www.kgu.de/zpsy/kinderpsychiatrie/Downloads/Eyes_test_kinder.pdf). Da die Bedeutung der Mimik bei argumentativ interagierenden Personen nicht präzise und schnell genug erfasst wird, irren die Blickbewegungen autistischer Personen oft ab auf irrelevante Stellen (statt zur Augenpartie auf den Körper oder einen Bildhintergrund). Die Untersuchergruppe in Yale um Schulz und Klin (Klin et al. 2000) hatten dies bei Betrachtung von Filmen unter Verwendung von Eyetracking-Systemen gut nachweisen können (. Abb. 21.2).
21.5
Therapeutisches Vorgehen
21.5.1 Grundlagen
Zu Beginn einer Therapie sollten nicht nur 4 die Schweregrade der Kernsymptomatik festgestellt werden, sondern insbesondere 4 das Entwicklungsalter,
4 das sprachliche Niveau (rezeptiv und expressiv) im Verhältnis zum chronologischen Alter, 4 die Komorbididät (Ängste, Selbstverletzungen, Fremdaggressionen, hyperkinetisches Verhalten). Nach dieser erweiterten Diagnose sollten gemeinsam mit den Eltern die Therapieziele festgelegt werden (. Abb. 21.3). Das ist nicht immer einfach, weil Ziele, die von den Eltern angegeben werden, oft weit überhöht sind und gerade beim Autismus oft nicht erreicht werden können. Beispiele dafür sind der Sprachaufbau bei einem 10-Jährigen, der keine Worte sprechen kann bei fehlendem Sprachverständnis, oder die Erwartung eines Schulerfolges in einer Oberstufe, wenn die intellektuelle Leistungsfähigkeit nicht ausreichend ist, oder gar die vollständige Heilung einer schweren Kommunikationsstörung. Da auch in einer Therapie (ambulant oder teilstationär) die erreichten Ziele nicht ohne Weiteres generalisiert werden können, sind aktive Anleitungen auch in verschiedenen Situationen (zu Hause, im Kindergarten, in der Schule) notwendig. Regelmäßige Elterngespräche dienen dazu, die Symptomatik, die Anteile der Genetik und die Vorgehensweisen genau zu erläutern. Gerade Eltern, deren Kinder oft
. Abb. 21.3. Therapeutischer Entscheidungsbaum für tiefgreifende Entwicklungsstörungen aus den Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. (Aus DGKJP et al. 2007, S. 236)
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keine äußeren Stigmata zeigen, aber nicht angemessen kommunizieren können, entwickeln ein besonders großes und oft verzweifeltes Schuldgefühl. Ein Gespräch über die Ursachen, wie oben dargestellt, kann oft dieses Schuldgefühl zugunsten eines konkreten Vorgehens verändern helfen.
Empfehlungen in den Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter Nach dem Abschnitt »Hierarchie der Behandlungsentscheidung und Beratung« werden in den Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (DGKJP et al. 2007) die grundsätzlichen Vorgehensweisen nach dem Grad ihrer Evidenz angegeben:
I. Harte Evidenz beruht auf mindestens einem systematischen Review, das verschiedene gute randomisierte Studien mit gutem Design einschließt. II. Harte Evidenzberuht auf mindestens einer kontrollierten, randomisierten Studie angemessener Größe mit gutem Design. III. Evidenz beruht auf nichtrandomisierten Studien mit gutem Design, einzelnen Gruppen vor/nach Interventionen, Kohortenstudie, Serien in zeitlicher Folge oder Fallkontrollstudien. IV. Evidenz beruht auf nichtexperimentellen Studien und gutem Design und von mehr als einem Zentrum oder mehr als einer Forschergruppe durchgeführt. V. Meinung respektierter Experten, beruhend auf kritischer Evidenz, deskriptiven Studien oder Berichten von Expertenkomitees.
Grundsätzliches Vorgehen bei der Behandlung autistischer Patienten 4 Aufklärung der Eltern über begrenzte Ziele der Behandlung (keine Heilung, aber Verbesserung der Symptomatik erreichbar, keine Verselbstständigung bei geistiger Behinderung, fraglich bei besseren intellektuellen Fähigkeiten) 4 Kognitive Verhaltensmodifikation bei den begabteren autistischen Patienten zur Verbesserung der Selbstkontrolle und der Kontaktfähigkeit (z. B. Therapieprogramme, die auf den Abbau von Theory-ofMind-Defiziten abzielen) (IV) 4 Verhaltenstherapie und Aufbau sozialer Kompetenzen können die Kommunikation verbessern und exzessives, störendes Verhalten abbauen (z. B. Modifikationsprogramme nach Lovaas) (I) 4 Förderung der Selbstständigkeit im lebenspraktischen Alltagsbereich, im Spielverhalten unter Betonung von Interaktionselementen (z. B. Instruktionssysteme wie TEACCH) (II) 4 Verbesserung der sozialen Fertigkeiten und der Kommunikationsfähigkeiten durch Aktivitäten mit »Peers« (Gleichaltrigen) (IV) 4 In der Behandlung sollen nicht mehr als ein oder zwei Ziele gleichzeitig therapeutisch angegangen werden 4 Sprachaufbau: 5 Sprachlicher Aufbau gemäß der Einsicht in die soziale Bedeutung sprachlicher Elemente (Zerlegung in Einzelelemente sozialer Handlung und sprachliches Kommentieren für das Kind im sozialen Kontext) (IV) 5 Förderung des Sprachverständnisses wie auch aktives Sprechen mit Aufforderungen an das autistische Kind, Alltagsaufforderungen auch nachzukommen (IV)
5 Eine Sprachanbahnung nach dem 8. Lebensjahr zu erreichen ist unwahrscheinlich, wenn bis zu diesem Zeitraum keine sinnvollen Wortbildungen erfolgt sind 4 Ergänzende Pharmakotherapie (I/II): Die Behandlung mit Psychopharmaka richtet sich eher nach der Komorbidität (Stimulanzien bei Hyperaktivität und Konzentrationsproblemen, atypische Neuroleptika zur Verminderung der Aggressivität, Serotonin-Wiederaufnahmehemmer zur Verminderung der Impulsivität und von Ritualisierungen, ferner evtl. Stimmungsstabilisatoren zum Stimmungsausgleich/Verminderung von Aggressionszuständen, bei Anfallsleiden Antiepileptika) 5 Ergänzende Maßnahmen: 5 Krankengymnastik zur Behandlung motorischer Defizite (V) 5 Sensorische, (auditive, visuelle) und motorische Integrationsbehandlung zur Besserung der Wahrnehmungsfähigkeit nur in Einzelfällen sinnvoll (allerdings in enger Verbindung mit dem Aufbau von Interaktionen) 5 Bei exzessiven Auto- und Fremdaggressionen kann die Festhaltetherapie in moderater Form sinnvoll sein zur Unterbrechung aggressiven Verhaltens 5 Musiktherapie oder Reittherapie können zur weiteren Kontaktaufnahme eingesetzt werden; sie verbessern die Primärsymptomatik aber nicht
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Kapitel 21 · Autistische Störungen
Ziele
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Es ist wichtig, einzelne Ziele zu definieren und zu erläutern. Die wichtigsten Ziele sind: Psychoedukation, das Training sozialer Fertigkeiten, adäquater Sprachaufbau und die Minderung unerwünschten, störenden Verhaltens. Eine Besonderheit stellt dabei die Frühförderung dar. Insgesamt kann man die Verfahrensweisen, die zum Einsatz kommen, nach Poustka et al. (2008b) wie folgt zusammenfassen:
Techniken, die in der Behandlung des Autismus zum Einsatz kommen 4 Empirisch gut abgesicherte Methoden 5 Frühe intensive globale Verhaltenstherapie (z. B. nach LOVAAS) 5 Verhaltensmodifikation einzelner Symptome mit Verhaltenstherapie 5 Treatment and Education of Autistic and Related Communication Handicapped Children (TEACCH) 4 Empirisch moderat abgesicherte Methoden 5 Training sozialer Fertigkeiten 5 Theory-of-Mind-Training 5 Picture Exchange Communication System (PECS) 4 Schwache Evidenz 5 Massagetherapie 4 Überwiegend negativ evaluierte Methoden 5 Gestützte Kommunikation 5 Sensorische Integration 4 Methoden ohne empirische Absicherung 5 Logopädie 5 Physiotherapie 5 Ergotherapie 5 Floor-Time 4 Umstrittene oder zweifelhafte Methoden: grundsätzlich suspekt, wenn schneller Erfolge versprochen werden ohne methodisch gesicherte Evaluation 5 Festhaltetherapie 5 Reittherapie/Delfintherapie 5 Daily-Life-Therapie 5 Klangtherapie 5 Kraniale Osteopathie 5 Spezialbrillen
21.5.2 Psychoedukatives Vorgehen
Bevor ein strukturiertes Vorgehen mit Hilfe bestimmter Behandlungsweisen beginnen kann, sollte die unmittelbare Umgebung des Kindes darauf untersucht werden, inwieweit es notwendig erscheint, eingreifende, wenn auch manchmal nur simple Veränderungen einzuführen. Gerade für
Kinder, die eine stark verzögerte Gesamtentwicklung zeigen, ist es oft notwendig, den Alltag etwas zu optimieren. Die folgenden Beispiele sollen dies illustrieren.
Fallbeispiel Reduktion stereotyper oder unangemessener Verhaltensweisen im Alltag Die Mutter eines erstgeborenen Kindes mit Autismus tolerierte ohne Weiteres, dass dieses Kind im Alter von 5 Jahren, wenn es »das große Geschäft« in die Hose gemacht hatte, seine Fäkalien aus der Hose poppelte und auf den Kinderschrank warf, weil sie meinte, das würden Kinder in diesem Alter so machen. Als sie das nicht mehr tolerierte, was nach einiger Zeit gelang, verschwanden diese Verhaltensweisen, und es war auch möglich, weitere unangemessene Aktivitäten zu verändern. Eine andere Mutter ging auf das stereotype Hüpfen ihres Jungen im Vorschulalter ein, indem sie ihn an den Händen nahm und mit ihm im Kreis hüpfte, manchmal bis zu ihrer Erschöpfung, weil sie meinte, dass sie ihr Kind nur so beruhigen könne. Natürlich war ihr nicht bewusst, dass sie dieses Verhalten dadurch kräftig verstärkte. Auch bestimmte stereotype Essensgewohnheiten sind oft Quelle bizarrer Vorgänge. Beide Eltern hatten sich bei einem 8-Jährigen darauf eingelassen, ihm Essen zu geben, wenn er einige Male »Kaba, Kaba« rief. Dann musste er angefasst werden und wurde dann gefüttert (beim Versuch, ihm tatsächlich reichlich Kaba zur Verfügung zu stellen, rief er, statt dies auch nur eines Blickes zu würdigen, immer weiter nach Kaba). Hier war das Vorgehen etwas komplexer, weil der Anstoß zum Essen zunächst langsam reduziert werden musste und Essen als Verstärker eingesetzt wurde. Schließlich wurde nur noch durch kurzes Berühren des Ellenbogens der Beginn des eher selbstständigen Essens erreicht, bis letzterer Trigger auch nicht mehr nötig war. Manchmal reicht es aber auch aus, einen wenigstens minimalen Sprachaufbau zu befördern, wenn alles Essbare aus der unmittelbaren Umgebung des Kindes entfernt wird, so dass es gezwungen ist, sich bemerkbar zu machen, wenn es zwischendurch etwas (und auch was?) essen will.
Durch einfache Veränderungen im Alltag können heftige stereotype Verhaltensweisen reduziert werden. Besonders wichtig sind solche Veränderungen in einer offensichtlich zu unterstimulierten Umgebung, oder wenn zu rigide, weit über das kognitive Niveau des Kinds hinausgehende Anforderungen gestellt werden. Durch die Aufklärung und Bereitstellung einfacher, dem Entwicklungsalter angemessener Spiele und Aktivitäten wird häufig schon eine Verminde-
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rung abweichenden, störenden Verhaltens erreicht. Auch rigide Routinen können durch geringfügige Veränderungen der Alltagsroutinen (Waschen, Anziehen, Essen) vermindert und durch das Kind akzeptiert werden. Dafür ist vor Beginn einer Therapie eine genaue funktionelle Analyse und Beobachtung solcher Alltagsroutinen notwendig. Bei Wutausbrüchen sollten schon früh Auszeittechniken eingeführt oder zumindest die häufigsten Auslöser benannt werden (etwa bestimmte Ängste, als Mittel, Bedürfnisse zu artikulieren, die eigentlich erkannt werden können, oder weil sie immer aus typischen unterstimulierten Situationen heraus entstehen). Manchmal ist es aber ergiebiger, Methoden zu diskutieren, die den Stress der Eltern vermindern helfen (mehr Zeit lassen, Babysitter einführen zur eigenen Entlastung, den Tag besser für sich und mit dem Kind strukturieren). Ein heikles Thema ist, inwieweit Eltern in die Behandlung mit dem Kind einbezogen werden sollen. Die meisten Eltern fühlen sich dafür überfordert. Dies steht natürlich im Gegensatz zu den Anforderungen des Applied-BehaviorAnalysis-(ABA-)Trainings nach Lovaas (1973), das zeigt, dass in einer 40-Stunden-Woche der Behandlung zu Hause und mit einem Elternteil als Kotherapeut vor allem eine gute Sprachentwicklung erreicht werden kann (s. aber zu effektiven Alternativmethoden unter 7 Abschn. 21.5.6). Das ABA-Training unterscheidet sich sehr von dem gruppentherapeutischen Vorgehen, den Kindern statt in einer Kindergartengruppe über die Eltern erfolgreiche Strategien beizubringen, die helfen können, störendes Verhalten des Kindes/Jugendlichen zu reduzieren oder neue Verhaltensweisen zu eröffnen, um soziale Fertigkeiten zu stärken, oder durch reichliches, aber einfaches bis elementares Kommentieren den Sprachaufbau zu fördern. Die Mehrzahl der Eltern kann sich eine solche Behandlung zu Hause mangels finanzieller und/oder persönlicher Ressourcen einfach nicht leisten. Dies kann eine wesentliche Beratung und Klarstellung am Beginn jeder Therapie erfordern. Bei einigen Eltern muss auch darüber hinaus auf eine nicht zu unterschätzende depressive Verstimmung mit Schuldgefühlen, Negieren der Probleme, dem drohenden Scheitern der Ehe wegen der Zentrierung eines Elternteils auf das betroffene Kind oder auch mit Problemen der gesunden Geschwister eingegangen werden.
Fallbeispiel Als eine Mutter durch einen Experten über den Autismus des Kindes aufgeklärt wurde, anlässlich eines quälenden Vorfalls durch Mobbing von Gleichaltrigen, erzählte sie diesen von ihren Zukunftsängsten in Bezug auf ihr Kind und drohte dann unvermittelt und heftig mit einem erweiterten Selbstmord, an den sie auch schon früher gedacht habe, so dass sie selbst einer sofortigen Behandlung zugeführt werden musste.
21.5.3 Aufbau sozialer Fertigkeiten
Ein Gruppentraining ist dann besonders effektiv, wenn die Anbahnung von Kontakten in einer Gruppe von autistischen Kindern zusammen mit normalen Kindern (mit sog. typischer Entwicklung) durchgeführt wird. Dies zeigen Metaanalysen (McConnell 2002; Goldstein 2002). Bei diesen gemischten Gruppen kommt es zu deutlicheren Verbesserungen sowohl in der Anbahnung und Aufrechterhaltung von Kontakten in der Gruppe, wenn mindestens drei der Gesunden (am besten auch etwas ältere sog. »typisch Entwickelte«) Kontakte mit den Kindern mit Autismus anbahnten. Allerdings war es notwendig, die Kinder mit autistischen Störungen zuvor individuell Interaktionsspiele, Lieder, Regeln, den Ablauf und die Durchführung verschiedener Spiele wie auch Gruppenregeln lernen und trainieren zu lassen, damit die Gruppe als Ganzes mit den Interaktionsspielen von Anfang an vertraut ist. Herbrecht et al (2008) konnten veranschaulichen, dass solche Effekte auch in Gruppen von Kindern/Jugendlichen mit autistischen Störungen (ohne »typisch Entwickelte«) in einer Grupenbehandlung ebenfalls wirksam war. Hier wurden anfangs mit der Gesamtgruppe Interaktionsspiele, aber auch Gruppenregeln eingeübt. Danach schloss sich immer mehr (bei Beibehaltung einiger Spielsequenzen) ein autismusspezifisches Training an, das zum einen bestimmte Übungen zum Erkennen des Ausdrucksverhaltens von Gesichtern (FEFA, »Frankfurter Test und Training des Erkennens fazialen Effekts«; Bölte et al. 2003) mit einschloss, zum anderen spezifische typische Konfliktsituationen, die einige Gruppenmitglieder nach Aufforderung einbrachten. Wichtig war es dabei, das FEFA mit dem Ausdrucksverhalten in bestimmten realitätsnahen Situationen verbinden zu können und im Nachspielen auch von möglichen Alternativhandlungen Lösungen zu finden – ein Unterfangen, das am schwierigsten zu bewältigen war und auch an Grenzen stieß. Das Erlernen des FEFA musste mitunter, insbesondere in Gruppen mit jüngeren Kindern, individuell vorbereitet und geübt werden. Eine signifikante Verbesserung der Kommunikation und Interaktion war auch außerhalb der Gruppe in der Familie und in der Schule zu erkennen sein (Herbrecht et al. 2008). Positive Effekte zeigen sich auch auf auf Kognition, sprachlichen Fähigkeiten und soziale Fertigkeiten. Biologische Auswirkungen auf diese Trainings zeigen sich ebenfalls: Die mit Hilfe der funktionellen MRT (Magnetresonanztomographie) durchgeführten Untersuchungen zeigen eine mindere Aktivierung im rechten Temporallappen (Gyrus fusiforme) bei der Aufgabe, Emotionen von Gesichtern zu erkennen (Hubl et al. 2003). Nach erfolgreichem Training mit Hilfe der FEFA lässt sich dieser Mangel (im Test mehr als in wiederholten fMRT) kompensieren. Allerdings ist die verstärkte Aktivität im Gyrus fusiforme (Schläfenlappen rechts) im Abstand geringer als die Aktivierung anderer Regionen im Gehirn, die auf die Präsentation von Sachgegenständen aktiviert werden (Bölte et al. 2006).
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Kapitel 21 · Autistische Störungen
21.5.4 Sprachaufbau
21.5.5 Verminderung unerwünschten Verhaltens
Frühere Techniken, die vor allem durch Prompting-Techniken einen schnellen Aufbau von Sprache (Worten) ermöglichten, hatten schon relativ kurzfristig einen nachfolgenden Verlust des Erlernten zur Folge. Deshalb ist es wichtig, Kindern immer nur Worte beizubringen, deren Bedeutung im unmittelbaren Kontext zu erkennen ist. Das heißt, das bestimmte, zu erlernende Wort sollte eine unmittelbare Reaktion der Bezugsperson/des Therapeuten auslösen können und daher sowohl die Bedeutung des Wortes (später des Satzes) als auch den kommunikativen/sozialen Effekt erkennbar machen können. Dies wird eindrucksvoll schon in früheren Beschreibungen belegt (Howlin u. Rutter 1987).
Bei dem am besten evaluierten Programm ABA wird Bestrafung als Therapiemittel eher nicht verwendet, außer durch fehlende Belohnung und durch die konsequente Anwendung einer Auszeit (Time-out), auch nicht um disruptives, schwer störendes Verhalten zu mindern. Unerwünschtes Verhaltens wird ignoriert (Extinktion), aber vor allem bei Ersetzen durch angemessene Verhaltensweisen positiv verstärkt. Auch dies bedarf einer genauen Beobachtung oder Aufzeichnungen, um ein gewisses Muster zu erkennen, um die spezifischen Bedingungen und Umfeldfaktoren zu identifizieren, in denen das unerwünschte Verhalten entsteht.
Fallbeispiel Weiterhin ist es wichtig zu erkennen, ab welchem Alter eine Behandlung der Sprachentwicklung nicht mehr sinnvoll ist. Wenn das Kind nicht wenigstens einige Worte sinnvoll und zumindest für Bezugspersonen verständlich in verschiedenen Situationen sprechen kann (>5 Worte), ist im Alter von 7–8 Jahren keine Sprachentwicklung mehr zu erwarten. Wenn zumindestens mehrere Worte verfügbar sind, ist aber der Aufbau von Sätzen noch möglich – und damit eine zumindest eng begrenzte Sprachfähigkeit, um eine spontane, funktionelle Sprache mit einem kommunikativen Effekt zu erreichen.
Aber auch Studien mit Hilfe des »Picture Exchange Communication System« (PECS, Bondy u. Frost 1998) zeigen, dass die ersten Erfolge rückläufig sind, wenn die Therapie damit beendet wurde. PECS ist eine Kommunikationstechnik, die nonverbale Piktogramme verwendet und so einen quasi verbalen Austausch erreicht. Howlin et al. (2007) wiesen nach, dass die Anwendung des PECS für nicht sprechende Kinder mit Autismus ein verbessertes kommunikatives Verhalten erreichen konnte. Die Motivation, bestimmte erwünschte Dinge zu bekommen und damit passende sprachliche Äußerungen als wertvoll zu erleben, nahm zwar zu, aber der Erfolg und auch eine anfänglich deutlich verbesserte Kommunikation verschwand nach Ende der Therapie wieder. ! Besser ist es, das Erlernte in einem Gruppenkontext oder auch im Alltag zu Hause so lange (zunächst auch nur elementar) zu üben, bis eine komplexe Handlung erlernt und zweckmäßig ausgeführt werden kann.
Ein 5-jähriges Kind spielt unablässig und stereotyp mit einem Schlüssel und dreht ihn immer hin und her. Es freut sich sichtlich am Geklapper und dem Blinken des Schlüssels im Schloss einer Schublade. Dies kann man als positiven Verstäker nutzen, wenn das Kind dazwischen und langsam immer besser versucht, ein Drehen (das anfangs durch den Behandler mit der Hand geführt wird) des Schlüssels im Schloss zu erreichen. Die nächste Stufe wäre, das Schloss zu schließen, dann auch wieder öffnen zu können. Allmählich wird ein Sperren daraus – immer bei der »richtigen« Bewegung darf es auch wieder mit dem Schlüssel klimpern. Das Ziel ist, allmählich, Schritt für Schritt, das Aufsperren, das Herausziehen der Lade und das Wiederschließen zu erreichen. Das Kind wird in dieser ganzen Zeit kommentierend sprachlich begleitet. In der Lade findet sich eine Belohnung, die es findet. Ziel ist es, die Handlung schließlich als Spiel mit Worten ausführen lassen zu können.
Hat dieses Kind einige elementare Handlungen erlernt, kann es dies auch in einen Gruppenkontext mit anderen Kindern zusammen etwa in einem Förderkindergarten ausführen. Auch wenn man sich der stringenten Anweisungen der ABA-Technik bedient, ist zunächst eine genaue Verhaltensanalyse sinnvoll, auch um die am besten aus den Gewohnheiten des Kindes abzuleitenden greifenden Verstärker zu finden.
21.5.6 Frühe Intervention und Frühförderung
Das bekannteste Programm ist das wiederholt methodisch gut gesicherte EIBI-Programm (»Early Intensive Behavioural Interventions«), eine Modifikation des Lovaas-Programms (Lovaas 1987). Kurz zusammengefasst erhalten alle Kinder ein intensives Training zu Hause, für alle Fami-
345 21.5 · Therapeutisches Vorgehen
lien wird ein individuelles Verfahren einer Lerntechnik (Lovaas 2002) erstellt, mit Workshops für Eltern, Berater, Supervisoren und Therapeuten, die mit der Familie arbeiten. Meist wird ein Elternteil als Therapeut des Kindes eingearbeitet. Magiati et al. (2007) verglichen Therapien, die zu Hause mit Hilfe des EIBI-Programmes durchgeführt wurden, mit einem Behandlungsprogramm, das im kommunalen Behandlungsprogramm als Gruppensetting im Vorschulkindergarten (»nursery school«) durchgeführt wurde, beide über einen Zeitraum von 2 Jahren. Die hauptsächlich angewandten Programme in diesen etwa mit integrierten Kindergärten vergleichbaren Institutionen waren auf TEACCH basierende Verfahren (Schopler 1997); PECS (Bondy u. Frost 1994); Makaton (Grove u. Walker 1990 – dabei werden Handzeichen und Graphiksymbole verwendet, um die zwischenmenschliche Kommunikation zu entwickeln) und verschiedene andere. Das Schüler-Lehrer-Verhältnis lag zwischen 1:1 und 3:1 über 6 Stunden pro Woche im 1:1-Unterricht. Das Ausmaß der aufgewendeten wöchentlichen Therapiezeiten schwankten zwischen 90 Minuten und 20–25 Stunden pro Woche). Insgesamt lag der Aufwand im EIBI-Trainingsprogramm wesentlich höher als im Kindergarten-/Schulprogramm (EIBIDurchschnitt = 3,415 Stunden, SD = 444; KindergartenDurchschnitt = 2,266 Stunden, SD = 533; t = –7.54, p<.001). Das Ergebnis in Bezug auf kognitive Fähigkeiten, sprachliche Entwicklung, Spielverhalten, adaptive Verhaltensfertigkeiten und Schweregrad autistischer Symptomatik waren gegenüber dem die Familie wesentlich belastenderen EIBI-Programm nach den 2 Jahren gleich gut, auch was die Verbesserung der autistischen Kernsymptomatik betraf. Die interindividuelle Schwankungsbreite in den kommunalen Kindergartenprogrammen war allerdings breiter gegenüber den autistischen Kindern im EIBIProgramm. Letzteres bedeutet, dass die Kinder in den Kindergärten auch eine realistischere Verteilung Symptomausprägungsvielfalt zeigten, wohingegen im EIBI-Programm im häuslichen Rahmen eher eine gezieltere Auswahl an Kindern einbezogen worden war.
21.5.7 Arbeitseingliederung
Howlin et al (2005) beschreibt gut evaluierte Programme, die weitgehend zu einer permanenten Berufsausübung führen, wenn auch oft in einem mehr oder weniger geschützten Rahmen. Immerhin ist so eine weitgehenden Verselbstständigung zu erreichen. Ein Art Beschäftigung für intellektuell Behinderte kann u. a. mit Hilfe des TEACCH-Programmes (»Treatment and Education of Autistic and Related Communication-Handicapped Children«, Behandlung und Förderung von autistischen Kindern und von Kindern mit verwandten Kommunikationsbehinderungen) erleichtert werden. Das Programm besteht nicht nur aus visuellen Zeichen zur bildlichen Anleitung von bestimmten Alltags- und Arbeitsschritten, sondern aus einem umfassenden pädagogischen Programm in Institutionen oder im privaten Lebensraum unter Einbeziehung der Bezugpersonen (Häußler 2005). Inhaltlich beschränkt sich das Programm nicht mehr auf die engeren Ziele des TEACCH-Programmes, sondern bezieht weitere psychoedukative und Trainingselemente in Bezug auf soziale Fertigkeiten mit ein, wie sie weiter oben aufgeführt wurden.
21.5.8 Medikamentöse Behandlung
Eine Medikation kann sinnvoll sein, um Begleitsymptome zu mindern. Gegen die Kernsymptomatik sind Medikamente nur indirekt wirksam, weil die Therapie z. B. bei einem sehr unruhigen Kind nicht ausreichend anwendbar ist (. Tab. 21.2). Leider werden Kombinationen zwischen einer Verhaltenstherapie und einer Medikation kaum untersucht ebensowenig wie die einer Kombination von Medikamenten. Letzteres kann notwendig sein. Die RUPP-Studien (Units on Pediatric Psychopharmacology) wiesen nach, dass das Stimulanzium Methylphenidat zwar die Konzentration erhöhte, aber gleichzeitig zu vermehrter Irribilität und Gereiztheit führte. Das Neuroleptikum Risperidon hingegen war sowohl gegen aggressives Verhalten beim Autimus als auch gegen einige spezifische Symptome wirk-
. Tab. 21.2. Medikation zur Behandlung autistischer Kinder und Jugendlicher nach Stoffgruppen und Zielsymptomen. (Aus Poustka u. Poustka 2007) Stoffgruppe
Dosierung/Tag
Zielbereich
Unerwünschte Nebenwirkungen
Risperidon
0,25–2 mg
Olanzapin
2,5–5 mg/Tag
Motorische Unruhe, impulsive Aggression, Selbstverletzung, Wutanfälle, repetitives Verhalten
Quentiapin
Start: 25 mg/Tag
Müdigkeit, Gewichtszunahme, sexuelle Dysfunktion, Prolaktinerhöhung, extrapyramidale Symptome, Senkung der Krampfschwelle
Aripiprazol
2,5–5 mg/Tag
Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität, motorische Unruhe, Irritabilität, Übelkeit (Atx)
Dysphorie, Appetitminderung, Bauch- und Kopfschmerzen, Ticszunahme, Einschlafstörung, Hypertonie, Tachykardie
Atypische Antipsychotika
Stimulanzien, Atx Methylphenidat
0,3–1 mg/kg KG
Atomoxetin
0,5-1,2 mg/kg KG
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Kapitel 21 · Autistische Störungen
sam; beide Medikamente wurden aber nur jeweils einzeln in verschiedenen Gruppen von Kindern mit Autismus gegen Placebo getestet (McCracken et al. 2002; McDougle et al. 2005; RUPP Autism Network 2005). In der Praxis werden beide Medikamente gleichzeitig verwendet, was entschieden zu einer besseren Verträglichkeit vor allem beim Austismus führt. Studien zeigen ferner, dass Atomoxetin (ebenfalls wirksam als Stimulanzium mit einer anderen chemischen Eigenschaft – ähnlich antriebsteigernden noradrenergen Antidepressiva) im vergleichbaren Wirkungsbereich wie Methylphenidat liegt, allerdings mit einer meist besseren Vertäglichkeit (Arnold et al. 2006).
21.6
Fallbeispiel
Bernhard, 12 Jahre: Aufnahme zur stationären Therapie Vorstellungsanlass waren häufig tätliche Auseinandersetzungen mit Mitschülern, besonders in Gruppensituationen. Bernhard provozierte durch Verhalten wie Rülpsen, Pupsen und das Verwenden von Schimpfwörtern. Eine adäquate Kontaktaufnahme mit anderen Kindern gelang ihm nicht, er hatte keine Freunde und blieb so in der Schule wie in der Freizeit völlig isoliert. Vorherrschend in seinem Alltagsverhalten waren weitere Probleme wegen seiner hohen Impulsivität, seinem hypermotorischen Verhalten, seinem äußerst rigiden und oppositionellen Verhalten im familiären Rahmen und weiterer Auffälligkeiten wie stereotypen Fragen, Selbstgesprächen, Schimpfen, Fäkalsprache, seinen Aufmerksamkeitsstörungen und schulischen Leistungsdefiziten bei gutem intellektuellem Leistungsvermögen. Er zeigte ein exzessives Interesse an technischen Geräten, Computern und Fahrstühlen. Bernhard war bei der Aufnahme in die Behandlung ein wacher, gut orientierter 12-jähriger Junge ohne inhaltliche und formale Denkstörungen, Ich-Störungen oder Halluzinationen. Er nahm spontan Kontakt auf und antwortete auf die ihm gestellten Fragen. Auffallend war, dass sich Bernhard zu Beginn des Gespräches nach der technischen Ausrüstung (Computer und dessen Speicherkapazität bzw. Programme) im Raum erkundigte und ungefragt über seine Fachkenntnis bezüglich Computern Auskunft erteilte. Im Erstkontakt wirkt er zudem ausgesprochen motorisch unruhig, sein Blickkontakt war deutlich reduziert. Außerdem versuchte er, durch intime Familiengeschichten seine Eltern zu blamieren. Seine Stimmungslage blieb bei diesen Versuchen, wie auch sonst, unauffällig.
Untersuchungsbefunde Im diagnostischen Interview mit dem ADI-R lagen die Werte für soziale Fertigkeiten, Empathiefähigkeit, Kommunikation und Sprache sowie repetitives, restriktives und stereotypes Verhalten deutlich im Autismus-Bereich. In der Testsituation (HAWIK) machte er interessiert mit und er-
reichte ein eher ausgeglichenes durchschnittliches Leistungsvermögen mit Ausnahmen in einigen Subtests: Auffällig sind dabei seine unterdurchschnittliche Ergebnisse im »Zahlen-Symbol-Test« [3 Wertpunkte (WP)], im »Bilderordnen« (5 WP) und im »Figurenlegen« (4 WP). Im Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ) war eine leicht überdurchschnittliche Anzahl depressiver Symptome zu beobachten, insbesondere der Mangel an Sozialkontakten und das Gefühl der Insuffizienz wurden betont. Da der Verdacht autistischer Verhaltensweisen aufgrund einiger Eigenheiten (Blickkontakt, Blamieren der Eltern in einem ungerührten Tonfall, Äußern seiner Vorliebe zu technischen Dingen in einer unangemessenen Form während des Untersuchungsgesprächs) und dem Bericht der Eltern über seinen Mangel an Freundschaften bestand, wurde eine weitergehende Diagnostik durchgeführt: Im »Autism Diagnostik Observation Schedule« (ADOS-G) erreichte er in den Kategorien »soziale Interaktion, Vorstellungsvermögen, stereotype Verhaltensweisen und eingeschränkte Interessen« wie auch für den Bereich der Kommunikation den Cut-off für autistische Spektrumstörungen; im »Youth-Self-Report« (YSR) zeigten sich erhöhte Werte auf den Skalen »Sozialer Rückzug«, »Angst und Depressivität«, »Soziale Probleme«, »Schizoid/zwanghaftes Verhalten«, »Aufmerksamkeitsprobleme«, »Dissoziales Verhalten« und »Aggressives Verhalten«. Die Elternangaben mit Hilfe der »Child Behaviour Checklist« (CBCL) zeigten eine auffällig hohe Ausprägungen auf allen Skalen an. Auch im Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF) war eine überdurchschnittliche Ausprägung hinsichtlich externaler und internaler Probleme angegeben worden. Der »Junior Temperament und Character-Inventory« (JTCI) wies auf eine geringe Ausprägung auf der Skala »Beharrungsvermögen«, geringe intrinsische Motivation und Anstrengungsbereitschaft sowie eine geringe Ausprägung in der Skala »Belohnungsabhängigkeit« hin. Damit bestand eine starke Persönlichkeitsakzentuierung im Sinne einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer und der Kritik durch Mitmenschen, einer starken Tendenz zum Einzelgängerdasein sowie eine hohe Ausprägung in der Skala »Neugierverhalten« mit erhöhter Impulsivität und Freude an waghalsigen Unternehmungen. Die Diagnose eines Autismus sollte nach dem »Multiaxialen Klassifikationssystem« erfolgen: 4 Achse I: Asperger-Syndrom (F 84.5), 4 Achse II: nicht besetzt, 4 Achse III: durchschnittliche Intelligenz, 4 Achse IV: nicht besetzt, 4 Achse V: Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung (1.0), Disharmonie in der Familie zwischen den Erwachsenen (1.1), Sündenbockzuweisung in der Schule (8.2), 4 Achse VI: deutliche soziale Beeinträchtigung im Alltag.
347 21.6 · Fallbeispiel
Verhaltensanalyse: Aggressives Verhalten S (Makrosituation). Kein aggressives Verhalten im fami-
liären Rahmen. In einer Gruppe von Kindern ist Bernhard schnell überfordert und kann sozialen Handlungsabläufen nicht folgen. Dadurch dass er häufig nicht weiß, was um ihn herum passiert oder er die Reaktionen anderer Kinder nicht versteht, ist er schnell gereizt, aufbrausend und reagiert aggressiv. Je größer die Gruppe ist, desto schwerer fällt es ihm, sich adäquat zu verhalten. O (Organismusvariable). Erhöhte Impulsivität, Aufmerksamkeitsproblematik, geringe Frustrationstoleranz, mangelnde Empathiefähigkeit, Defizite bezüglich der Kommunikationsfähigkeit und der sozialen Interaktion. R (Reaktion, Mikrosituation – BASIC). Bernhard fühlt sich
in Gruppensituationen überfordert und ist angespannt. Diese Anspannung ist durch seine Körperhaltung und seinen Bewegungsablauf deutlich zu sehen (S). Er versteht nicht, warum andere Kinder in einer Gruppe z. B. lachen, fühlt sich sofort ungerecht behandelt und bezieht das Lachen auf sich (I). Bernhard wird wütend (A), denkt, sich verteidigen zu müssen (C) und beschimpft andere Kinder oder schlägt sofort zu (B). Aufgrund seiner mangelnden Empathiefähigkeit ist die Situation schwer zu klären, Bernhard wird von den anderen Kindern abgelehnt, wodurch seine Meinung, er sei ein Einzelgänger, bestätigt wird (C). K: Kontingenz. Die Verknüpfung zwischen Reaktion (R) und Konsequenz (C) ist eine stetige und unmittelbare Kontingenz: Bernhard wird von den anderen Kindern abgelehnt, und sie vermeiden den Kontakt mit ihm. Außerdem handelt es sich um eine intermittierende und unmittelbare Kontingenz, da er häufig sozialen Situationen aus dem Weg gehen kann, die ihn überfordern. C: Konsequenzen. Der impulsive Durchbruch des Kindes reduziert dessen Anspannungs- und Erregungszustand, d. h. die ausagierte Aggression wirkt negativ verstärkend. Die Reaktionen der Umwelt wirken positiv verstärkend: Bernhard erhält nach seinem aggressiven Verhalten die Aufmerksamkeit der beteiligten Personen. Außerdem wenden sich die Kinder nach dem Ereignis von ihm ab und er kann Sozialkontakte vermeiden. Allerdings wenden sich die Erwachsenen dem Kind zu. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Erwachsenen gefällt Bernhard. Aufrechterhaltende Faktoren in der Familie. Die Eltern
sind sehr verunsichert, häufig ungeduldig, reagieren impulsiv auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen des Kindes. Dies steht im Zusammenhang mit einem inkonsistenten Erziehungsverhalten, manchmal nachgiebiger, »weil er eben anders ist«, manchmal streng und bestrafend. Die Eltern schienen häufig Witze über stereotypes oder bizarres Verhalten des Kindes zu machen. Wenn Bernhard
beispielsweise mit sich sprach, fragte der Vater: »Na, ist wieder jemand bei dir zu Hause?« Deutlich war auch die Enttäuschung über »die Andersartigkeit« des Kindes.
Therapie Abbau von Problemverhalten, Einführung eines Verstärkersystems und negativen Konsequenzen. Zunächst
wurde hier nur auf zwei Punkte eingegangen: Aufstoßen und Pupsen unterlassen, keine Schimpfwörter benutzen. Bernhard erhielt jeden Morgen zehn Chips. Bei Regelverstoß musste er einen Chip abgeben. Hatte Bernhard abends noch fünf Chips, erhielt er auf einem dafür vorgesehenen Plan einen Stempel. Eine bestimmte Anzahl an Stempeln konnte Bernhard gegen Sticker eintauschen, die in ein Album geklebt wurden. Gesammelte Sticker wurden dann in Einzelaktivitäten, wie Kinobesuch oder Aufzugfahren (Einsetzen von restriktiven Interesssen ins Verstärkersystem) mit einem Betreuer eingetauscht. Die Regeln galten auch für einen Verhaltensplan zu Hause. Am Morgen, nach der Rückkehr auf die teilstationäre Behandlung, erhielt Bernhard Stempel, wenn er sich am Wochenende an die Regeln halten konnte. Später wurden andere Verhaltensweisenweisen miteinbezogen (Bad in angemessenem Zustand verlassen, andere zum Spielen auffordern). Nach Ausschleichen aus diesem schnell wirksamen Plan sollte ein Tagesrückblick mit besonderer Bezugnahme auf den Verhaltensplan bei massiver Aggression/unerwünschtem Verhalten erfolgen. Als negative Folge (Verminderung positiver Verstärker) dienten die Auszeit/KürzungdesWochenendesbzw.dieBeurlaubung/Unterbrechung eines Ausflugs. Verbesserung von sozialen Kompetenzen. Folgende
Punkte wurden dabei durchgeführt und trainiert: 4 Trainig im Erkennen von Gesichtern mit basalen Emotionen (mit Hilfe des FEFA, s. oben); 4 Spielsituationen zu zweit, direkte Rückmeldung über positives und negatives Verhalten; 4 Spielsituation in Gruppen auf der Station in Anlehnung an das KONTAKT-Manual; 4 Instruktionskarten, die Schritte der Selbststeuerung (z. B. »Ich denke nach, bevor ich spreche« oder »Wenn ich schreie, darf ich nicht mitspielen«) und sozial erwünschtes Verhalten zeigten, schrittweise Reduktion der Instruktionskarten; 4 Rollenspiele sozialer Verhaltensweisen mit Videofeedback durch Therapeuten, Wiederholung und mit modifizierten Verhaltensweisen. 4 Anhand von Konfliktsituationen auf Station wurde eingeübt, wie Bernhard sich zum einen selbst beruhigen (»1. Stopp. 2. Höre genau zu. 3. Warum reagiert der andere so? 4. Sprich in einem normalen Ton. 5. Gehe an einen anderen Ort, wenn du dich zu sehr ärgerst.«) und zum anderen sozial kompetent verhalten kann.
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348
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Kapitel 21 · Autistische Störungen
Veränderung familiärer Bedingungen. Am Anfang stand eine intensive Aufklärung über das Störungsbild und die Begleitstörungen. Daraufhin wurden Strategien vermittelt zum Umgang mit Problemverhalten mittels Verstärkerplänen, Auszeit, Stopp-Techniken u. a. und diese im Detail ausgeführt und auch im Verlauf mindestens einmal in der Woche nach Angaben der Eltern überprüft und Modifikationen besprochen. Seitens der Eltern sollten insbesondere provozierende Äußerungen, auch wenn sie noch so gutmütig-ironisierend erfolgen, unterbleiben: kein Lachen über provokante Verhaltensweisen, da auch die damit verbundene Zuwendung inadäquates Verhalten eher verstärkt und da Bernhard Ironie schlicht nicht versteht. Die Alltagsregeln im häuslichen Rahmen wurden auf ihre Verständlichkeit und Angemessenheit überprüft und diskutiert, mit dem Ziel, sie sinnvoll zu gestalten. Gleichzeitig wurden Bernhards Sonderinteressen durch interessiertes Zuhören verstärkt, z. B. wenn er über sein Interesse an technischen Geräten sprach (oder vielmehr gerne dozierte). Das bedeutete, dass dieser Einbau von stereotypen und restriktiven Interessen als Verstärkerplan nach einer sinnvollen Tätigkeit zu Hause (Mithilfe im Haushalt) eingesetzt wurde.
Behandlungsverlauf Für Bernhard kam es zu einer deutlichen Verbesserung der oppositionellen und aggressiven Verhaltensweisen, die Häufigkeit seiner stereotypen Bewegungen hatte drastisch abgenommen, er führte kaum Selbstgespräche mehr, die inadäquaten Verhaltensweisen im familiären Rahmen waren weitgehend vermindert worden. In kleinen Gruppen verbesserte sich seine Sozialkompetenz sichtbar, ohne dass aggressive »Ausraster« erfolgten, vor allem dann, wenn er sich zurückziehen konnte (Auszeit nehmen). Die Übertragung dieser Erfolge zu Hause und in der teilstationären, intensiven Behandlung auf große Gruppen in der Schule oder bei sportlichen Ereignissen (Sportturniere) blieb dennoch schwierig. Allerdings war sein Arbeitsverhalten in der Schule nach Berichten der Lehrer deutlich verbessert, und seine Leistungen lagen im durchschnittlichen Bereich. Bernhard gelangen spärliche soziale Kontakte, und er fand Anschluss an eine Pfadfindergruppe und teilte dort seine neuen Interessen mit zwei Freunden (Computerfreak und Vogelbeobachter).
21.7 Ausblick Die Klassifikation autistischer Störungen gehört zu den ausgereiftesten Diagnosen aller neuropsychiatrischen Störungen. Sie ist auch kompatibel mit den großen, beherrschenden Klassifikationsschemata wie ICD-10 oder DSMIV-TR. Die zur Verfügung stehenden Diagnostikinstrumente, die den erwähnten Goldstandard bilden, sind weit verbreitet und gut evaluiert. Trotzdem gibt es einige diagnostische Schwierigkeiten, was die Früherfassung betrifft.
Die sehr frühe Diagnostik (unter 2 ½ Jahren) ist nicht gesichert, und davor beginnende therapeutische Interventionen sind mangels evaluierbarer Frühdiagnose ebenso ungesichert, was ihre Wirksamkeit betrifft, auch wenn eine therapeutisch gut evaluierte Vorgangsweise gewählt wurde. Dabei wäre es nach Auffassung fast aller Expertisen notwendig, mit einer reich stimulierenden Therapie möglichst früh zu beginnen. Es ist nicht ausgeschlossen, mit Beobachtungen früher Mutter-Kind-Interaktionen hier genauere Erkenntnisse und möglicherweise neue Therapieansätze zu gewinnen, wie sich dies bei Vorläufern von Angstsymptomen und Aggressionspotenzialen abzuzeichnen beginnt. Derzeit ist auch das Zusammenwirken verschiedener Therapieansätze aus verschiedenen Schulrichtungen, wie sie offenbar in vielen Institutionen praktiziert wird, nie evaluiert worden, wie meist auch in Therapiestudien nicht auf die Interaktion zwischen z. B. einer Verhaltensmodifikation und einer medikamentösen Behandlung geachtet wird (und zwar von beiden Seiten). Auch fehlen uns naturalistische Langzeituntersuchungen, die erkennen lassen, wie lange oder wie häufig gerade bei autistischen Störungen eine Fortsetzung einer Intervention notwendig ist. Dies betrifft auch das sog. On-Job-Coaching, also die tägliche, wenn auch kurze Einführung (auch wenn dies immer die gleichen Inhalte betrifft) am Arbeitsplatz gegenüber Mitarbeitern mit Autismus. Wie oft erlebt man hier Abbrüche, die nicht notwendig wären, wenn die Anweisungen an die Beauftragten in einem Betrieb, die Mitarbeiter mit Autismus betreuen sollen, besser supervidiert werden könnten. Zu den weiteren künftigen Herausforderungen zählt auch die Machbarkeit von bezahlbaren Therapien. Ein Ausweg bietet sich an mit einer Verbindung von Einzeltherapie, Familienunterstützung und Gruppentherapie in Kindergarten und Schule. Leider ist der Weg dahin schon deswegen schwierig, weil viel zu viele Experten an der Durchsetzung einer Methode gut verdienen und kein Interesse zu haben scheinen, den Gesamtkontext zu überdenken und Veränderungen zu gestalten. Ein weiteres spannendes Kapitel für die Zukunft ist der sich jetzt abzeichnende Weg der Ursachenforschung. Da autistische Störungen eine eindeutige genetische Ursache haben und die verminderte Konnektivität der verschiedener Gehirnteile bzw. deren Synchronisation offenbar defizitär ist und sich weiter dabei die Störung der Synapsenausgestaltung wie auch -funktion herauskristallisiert, ist man in diesem Bereich zumindest nahe daran, zellbiologische Mechanismen erforschen zu können, die näher am tatsächlichen Verursachungsmodell liegen. Dies könnte, wie dies in manchen wissenschaftlichen Essays diskutiert wird, auch eine Gentherapie nahelegen, die eventuell machbar erscheint. In der Vergangenheit hat der Nachweis genetischer Verursachung manches Leid lindern können, weil Eltern sich nicht unmittelbar durch ihre Handlungsweisen schuldig an
349 Literatur
der schweren Kommunikationsstörung ihrer Kinder mit Autismus fühlen müssen, wie ihnen dies oft durch verschiedene Experten nahegelegt wurde (auch der Nobelpreisträger in Verhaltensbiologie Tinbergen gehörte in den 1970er Jahren dazu). Insgesamt sind die Fortschritte der letzten Jahre zwar langsam, aber stetig und umfassend auf allen Gebieten – von der Genetik bis zu rationalen Therapien – gewachsen. Dies lässt hoffen, aber es ist auch eine Herausforderung, die »multimodale« Welt der Autismusforschung weiter mit Nachdruck zu betreiben und zu beobachten.
Zusammenfassung Seit der kongenialen Erstbeschreibung autistischer Störungen durch Leo Kanner und wenig später von Hans Asperger in den 1940er Jahren, hat sich die Kenntnis über autistische Störungen weltweit stark ausgebreitet und an Genauigkeit der vielfältigen Facetten gewonnen. Damit sind auch die Häufigkeitsangaben von früher 4–5/10.000 auf mehr als 1% der Kinderkohorten gestiegen. Autismus ist damit keine seltene Krankheit. Ebenso ist die Vielschichtigkeit dieses Zustandbildes bekannter geworden. Oft bestimmt die Komorbidität wesentlich mit, welche Therapieschritte notwendig sind, weil eben nicht nur die Kernsymptomatik, sondern auch das Vorliegen einer devianten (und nicht nur einer verzögerten) Entwicklung wesentlich das Gesamtbild beeinflusst. Es ist auch notwendig, sowohl das Vorliegen einer konkomitanten geistigen Behinderung, einer Epilepsie als auch von Ängsten, Tics, ausagierendem Verhalten (hyperkinetischem Syndrom, Impulsivität, Aggressionen), die wie bei allen schwerwiegenden psychischen Erkrankungen oft auftreten, mit einzubeziehen und ebenfalls zu behandeln. Obwohl die Störung einen überragenden Anteil an Erblichkeit aufweist, ist es nicht gleichgültig, in welcher fördernden oder einschränkenden Umgebung das autistische Kind aufwächst und wie man mit der außergewöhnlich häufig zu beobachteten Belastung der Eltern umzugehen imstande ist. Die zur Verfügung stehenden Therapiemittel sind oft nicht genügend gut evaluiert oder die evaluierten nicht kostengünstig einsetzbar, aber die Situation hat sich gegenüber den früheren Jahren vehement und günstig entwickelt. Noch nie war es möglich, so viele Menschen mit Autismus in einem hohen Ausmaß zu verselbstständigen.
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Kapitel 21 · Autistische Störungen
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[email protected]. Poustka, F., Bölte, S., Schmötzer, G. & Feineis-Mathews, S. (2008). Leitfaden über autistische Störungen (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
22
22 Intellektuelle Beeinträchtigung Germain Weber, Johannes Rojahn
22.1
Darstellung der Störung – 352
22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.1.4
Definition der intellektuellen Beeinträchtigung – 352 Diagnostik – 352 Ursachen der intellektuellen Beeinträchtigung – 353 Verhaltensprobleme und psychiatrische Symptome bei intellektueller Beeinträchtigung – 355
22.2
Störungskonzept der Verhaltensprobleme – 355
22.2.1 22.2.2 22.2.3
Lerntheoretische Modelle – 356 Verhaltensprobleme als Symptome allgemeiner Psychopathologie Genetische und biochemische Grundlagen – 357
22.3
Instrumente zur Erfassung von psychischen Störungen bzw. Verhaltensproblemen – 357
22.4
Therapeutisches Vorgehen – 359
22.4.1 22.4.2 22.4.3
Funktionale Problemanalyse – 359 Operante Methoden – 360 Psychopharmakologie – 361
22.5
Fallbeispiel
– 361
Zusammenfassung – 363 Literaturverzeichnis
– 364
Weiterführende Literatur
– 366
– 357
352
Kapitel 22 · Intellektuelle Beeinträchtigung
22.1
Darstellung der Störung
22.1.1 Definition der intellektuellen
Beeinträchtigung
22
Intellektuelle Beeinträchtigung ist von einem Mangel an kognitiven Fähigkeiten sowie von verringertem sozial-adaptiven Handlungsvermögen gekennzeichnet. Um die Erscheinungsformen der intellektuellen Beeinträchtigung von ähnlichen Zustandsbildern, wie z. B. der Altersdemenz oder den Folgen einer traumatischen Gehirnverletzung abzugrenzen, wird dieser Zustand mit Beginn vor dem Erwachsenenalter definiert. Ein signifikant niedriger Intelligenzquotient mit gleichzeitig deutlich verringerten Werten in einem der Verfahren zur Erfassung sozial-adaptiver Kompetenzen sind die operationalen Kriterien der Diagnose »intellektuelle Beeinträchtigung«. Definitionen der intellektuellen Beeinträchtigung variieren von Land zu Land und können selbst innerhalb eines Landes je nach Zweck der Anwendung unterschiedlich sein (z. B. in Bezug auf schulorganisatorische Bestimmungen bzw. auf arbeitsrechtliche Bestimmungen). Für den alltäglichen Umgang mit Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung hat sich in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel durchgesetzt. Anstatt vornehmlich die begrenzten kognitiven Fähigkeiten und Handlungsdefizite zu beachten, richtet man sich nun eher nach einer bedürfnisorientierten Erfassung und Einteilung. Dieser Wende geht eine langjährige Diskussion voraus, in der die Bedeutung der sozial-adaptiven Kompetenz für die Bestimmung der intellektuellen Beeinträchtigung im Vordergrund stand (Greenspan u. Granfield 1992). Der diesbezügliche Durchschlag kam im Jahre 1992 mit dem von der »American Association on Mental Retardation« (AAMR) (seit 2007 auf »American Association on Intellectual and Developmental Disabilities«, AAIDD umgenannt) vorgeschlagenen Definitionsund Klassifikationssystem (Luckasson et al. 1992, 2002). Danach geht intellektuelle Beeinträchtigung mit Einschränkungen im Handlungsvermögen, im Vergleich zur jeweiligen Altersgruppe einher, mit erstmaliger Beobachtung dieses Zustandes vor dem 18. Lebensjahr. Von intellektueller Beeinträchtigung wird erst dann gesprochen, wenn neben einer signifikant niedrigeren Intelligenz (zwei Standardabweichungen unter dem Mittelwert) gleichzeitig auch Mängel in drei sozial-adaptiven Kompetenzbereichen – konzeptionelle, soziale und praktische Fähigkeitsbereiche – beobachtet werden.
22.1.2 Diagnostik
Für die Diagnose »intellektuelle Beeinträchtigung« ist – bezogen auf den Intelligenzbereich – ein individuell erhobener, standardisierter Intelligenztest wie etwa der »Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder III« (HAWIK-III,
Altersbereich 6,0–16,11 Jahre; Tewes et al. 1999), die »Kaufman Assessment Batteries for Children«, Deutsche Version (K-ABC, Altersbereich 2,6–12,5 Jahre; Kaufman et al. 2001), das »Adaptive Intelligenz Diagnostikum« (AID, Altersbereich 6,0–15,11 Jahre; Kubinger u. Wurst 2000) oder der »Intelligenzstrukturtest 2000 R« (IST-2000 R, Altersbereich 15,0–25,11 Jahre; Amthauer et al. 2001) zu verwenden. Der IQ darf, um die Diagnose »intellektuelle Beeinträchtigung» zu stellen, je nach Standardabweichung des betreffenden Tests nicht höher als maximal 65–70 sein, wobei unter Berücksichtigung des Konfidenzintervalls auch IQ-Werte zwischen 71 und 75 IQ-Punkten kritisch zu reflektieren sind (Luckasson et al. 2002). Zur Messung der Intelligenz ist ein altersgemäßer, individuell vorgegebener, standardisierter Intelligenztest anzuwenden. Im sozial-adaptiven Kompetenzbereich kommen spezielle, psychometrisch untermauerte, Ratingskalen zur Anwendung (Fremdeinschätzungen), wie z. B. die »AAMR Adaptive Behavior Scale – Residential and Community« (ABS-RC:2; Nihira et al. 1993), die »AAMR Adaptive Behavior Scale – School« (ABS-S:2; Lambert et al. 1993) oder die »Scales of Independent Behavior – Revised« (SIB-R; Bruininks et al. 1996) oder die »Vineland Adaptive Behavior Scales-II« (VABS-II; Sparrow et al. 2005). Für die ABS-RC:2 liegt eine an den deutschsprachigen Kulturraum adaptierte Übersetzung vor (Weber u. Fritsch 2002). Weitere deutschsprachige Instrumente in diesem Bereich sind das »Heidelberger Kompetenz Inventar für geistig Behinderte« HKI; Holtz et al. 2005) sowie der »Fragebogen zur Erfassung praktischer und sozialer Selbstständigkeit 4- bis 6-jähriger Kinder« (Duhm u. Huss 1979). Das HKI lehnt sich an die Definition sozial adaptiven Verhaltens von Luckasson et al. (2002) an und erfasst praktische, kognitive und soziale Kompetenzbereiche. Es sei bemerkt, dass IQ-Tests und Skalen zum sozialadaptiven Verhalten miteinander hoch korrelieren (Moss u. Hogg 1997). Für die Klassifikation von Gruppen von Individuen sind daher diese beiden Maße relativ redundant. Für den einzelnen Patienten beinhalten aber beide Maße wichtige inhaltliche Informationen, die zur Erstellung individueller Förderungspläne notwendig sind, dies im Sinne eines ressourcenorientierten Unterstützungsbedarfs, gemäß dem Klassifikationsvorschlag der AAIDD (Luckasson et al. 2002). Weiter wird der biologische Hintergrund der Beeinträchtigung, soweit bekannt, mitberücksichtigt. Nach der diagnostischen Abklärung der intellektuellen Beeinträchtigung, die eine phänomenologische Beschreibung eines sozialen Konstruktes darstellt und keine medizinische Diagnose ist, erfolgt eine Analyse des Kontextes (Umwelt und Kultur), der Gesundheit (physische und psychische Gesundheit, samt Ätiologie) sowie der sozialen Teilhabe und der sozialen Rollen der betroffenen Person, dies unter Berücksichtigung ihrer Stärken und Schwächen. Ausgehend von allen erhobenen Aspekten lässt sich in wei-
353 22.1 · Darstellung der Störung
terer Folge Ausmaß und Art des Unterstützungsbedarfs ableiten. Die daraufhin definierten Unterstützungs- und Betreuungsarbeiten haben als Ziel, den Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung so weit wie möglich an jenen gesellschaftlichen Prozessen teilhaben zu lassen, die für seine nicht intellektuell beeinträchtigten Peers typisch sind. Diese systemorientierte Sichtweise führt weg von der, in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts noch überwiegenden defizitorientierten Sichtweise, in der Behinderung vorrangig als Attribut des betroffenen Individuums gesehen wurde. Eine systemorientierte Betrachtung sieht Beeinträchtigung auch immer in einem sozialen Kontext, eine Sichtweise die z. B. die Grundlage der »International Classification of Functioning Disability and Health« (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (2001) darstellt. Zur Identifikation des individuellen Unterstützungsbedarfs liegt die, von der AAIDD entwickelte »Support Intensity Scale« (Thompson et al. 2004) vor. Hat sich eine Unterteilung der intellektuellen Beeinträchtigung nach Intelligenzgraden für die alltägliche Praxis als wenig brauchbar gezeigt, so bleibt das Wissen um den genauen Ausprägungsgrad der Intelligenzminderung für die wissenschaftliche Bearbeitung von vielen psychologischen Fragestellungen auch weiterhin von zentraler Bedeutung. In der Schätzung der intellektuell-kognitiven Leistungen, die im Kontext der Forschung eine wichtige Kovariante darstellen, gehen unter anderem Fähigkeiten der Verbalisation ein. Ist z. B. die Ausdrucksfähigkeit von Emotionen Gegenstand der Untersuchung, so ist für eine wissenschaftlich fundierte Aussage die Bestimmung des Einflusses der allgemeinen Verbalisationsfähigkeit auf die Ausdrucksfähigkeit im emotionalen Bereich unerlässlich. Erst durch die Berücksichtigung des Schweregrades der Beeinträchtigung, nach Intelligenz bzw. sozial-adaptivem Verhalten, lassen sich viele Forschungsergebnisse für die Praxis fruchtbar machen. Demzufolge scheint es nicht überraschend, dass die »American Psychological Association« (APA) im Interesse der Forschung für die Beibehaltung einer Klassifikation nach dem Schweregrad der Intelligenzminderung plädiert (Jacobson u. Mulick 1996; . Tab. 22.1). . Tab. 22.1. Schweregrade intellektueller Beeinträchtigung gemäß APA. (Nach Jacobson u. Mulick 1996) Schweregrade
IQ-Streuungsbereich
IQ-Standardabweichungen [SD] vom Mittelwert (=100)
Ausmaß der sozial-adaptiven Beeinträchtigung
Leicht
55–70
-2
Zwei oder mehr Bereiche
Mittelgradig
35–54
-3
Zwei oder mehr Bereiche
Schwer
20–34
-4
Alle Bereiche
Schwerst
<20
-5
Alle Bereiche
22.1.3 Ursachen der intellektuellen
Beeinträchtigung Intellektuelle Beeinträchtigung wird durch biologische und psychosoziale Faktoren verursacht und beeinflusst, wobei der relative Beitrag dieser beiden Faktoren mit verschiedenen Zustandsbildern variiert. Als Faustregel kann gelten, dass mit der Zunahme des Schweregrades der Beeinträchtigung der Beitrag der biologischen Faktoren ansteigt, und vice versa. . Tab. 22.2 präsentiert verschiedene Arten ätiologischer Faktoren sowie den ontogenetischen Zeitpunkt, an dem diese Faktoren ihren schädigenden Einfluss auf Entwicklung und Reifung des Organismus, hier vor allem des Zentralnervensystems, nehmen. Biologische und psychosoziale Risikofaktoren treten nicht isoliert, sondern immer in Kombination auf. Sie wirken kumulativ und synergetisch und beeinflussen nicht nur das unmittelbar betroffene Individuum, sondern auch die Familie und deren Umfeld, dies zum Teil sogar über Generationen hinaus. Armut, soziale Benachteiligung und mangelnde soziale Unterstützung gelten als massive Bedrohung für alle Kinder, aber besonders für diejenigen, die biologisch bereits gefährdet sind (. Abb. 22.1). Das zunehmende Verständnis der Dynamik zwischen diesen Faktoren führte zur Formulierung des Modells »Neue Gesundheitsbeeinträchtigung« – im Englischen mit »new morbidity« eingeführt (Baumeister et al. 1988). »Gesundheitsbeeinträchtigung«, wie in . Abb. 22.1 dargestellt, umfasst Zustandsbilder mit überwiegend organisch/biologischen Grundlagen (z. B. durch genetische Defekte oder embryonale Insulte), wohingegen das Modell »Neue Gesundheitsbeeinträchtigung« primär psychosozial verursachte Probleme darstellt (z. B. intellektuelle Beeinträchtigung aufgrund extremer sozialer Benachteiligung). Geschädigte Entwicklung kann selbst wiederum Anlass und Ursache von Folgeschäden werden. Zur Veranschaulichung dieser Interdependenz biologischer und umweltbedingter Faktoren kann etwa die Phenylketonurie (PKU) dienen – eine Stoffwechselerkrankung, die bereits bei der Geburt problemlos entdeckt und durch entsprechende Diät des Kindes verhindert werden kann. Die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Prävention degenerativer Gehirnschäden und somit intellektueller Beeinträchtigung bei PKU-Kindern ist in sozial gesicherten Familien mit hohem elterlichem Bildungsniveau um ein Vielfaches höher als bei jenen, die unter ungünstigen sozialen Bedingungen leben. Ob intellektuelle Beeinträchtigung sich prinzipiell im Sinne von überwinden »heilen« lässt, wird debattiert. Dies ist zurzeit vor allem dann möglich, wenn soziale Umstande für die Beeinträchtigung und keine gravierenden biologisch-physiologischen Schädigungen vorliegen. Derzeit bringen primäre und sekundäre Prävention die größten Aussichten auf Erfolg. Wenn die Beeinträchtigung bis zu dem Punkt fortgeschritten ist, ab dem abweichende Intelli-
22
354
Kapitel 22 · Intellektuelle Beeinträchtigung
. Tab. 22.2. Systematik ätiologischer Faktoren, die häufig intellektuelle Beeinträchtigung nach sich ziehen, mit ausgewählten diagnostischen Kategorien und Zustandsbildern; in Anlehnung an AAIDD. (Nach Luckasson et al. 2002)
22
Kategorie schädigender Einflüsse
Zeitpunkt des schädigenden Einflusses Pränatal
Perinatal und neonatal
Postnatal
Infektionen und Vergiftungen
Mütterliche Röteln, HIV, Syphilis, Alkohol
–
Bleivergiftung, Quecksilbervergiftung
Physische Traumata
Traumatische Verletzung des Fötus
Gehirnverletzung während der Geburt, Plazentainsuffizienz, gestörter Geburtsvorgang
Frühkindliches Schädeltrauma
Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen (SWE)
Aminosäure-SWE (z. B. Phenylketonurie), KohlenhydrateSWE (z. B. Galaktosamie), Mukopolysaccarid-SWE (z. B. Hurler-Syndrom), Nukleinsäure-SWE (z. B. Lesch-NyhanSyndrom)
Hyperbilirubinämie, Hypoglykämie, Hypothyroidismus
Dehydrierung, Hypoglykämie, zerebrale Ischämie
Erkrankungen des ZNS
Neurofibromatose, Gehirntumor
–
Demyelinisierungserkrankung, degenerative Erkrankungen, Anfallsleiden
Chromosomale Störungen
Autosomal: Down-Syndrom; gebunden: Fragiles-X, Rett-Syndrom (X-Chromosom, MECP2-Gen)
–
–
Unbekannte somatische Störungen
Meningozele, Hydrozephalus
–
–
Syndromale Erkrankungen
Neurokutane Erkrankungen (z. B. Sturge-Weber-Syndrom), Muskelerkrankungen (z. B. Muskeldystrophien), kraniofaziale Erkrankungen (z. B. Akrozephalie), skelettale Erkrankungen (z. B. Akrodysostose)
–
–
Psychosozial bedingte Faktoren
Unzureichende Ernährung der Mutter, mangelnde ärztliche Betreuung während der Schwangerschaft
–
Soziale Deprivation, intellektuelle Verarmung, Kindesmisshandlung
. Abb. 22.1. Schematische Darstellung der systemischen Wechselwirkung biologischer und psychosozialer Faktoren beim Modell der »neuen Krankhaftigkeit«. (Mod. nach Baumeister et al. 1988)
355 22.2 · Störungskonzept der Verhaltensprobleme
genz und gestörte sozial-adaptive Kompetenz deutlich erkennbar sind, ist eine völlige Wiederherstellung kaum mehr zu erreichen. Mehr Optimismus hingegen besteht bei der Möglichkeit mittels psychologischer und pädagogischer Maßnahmen, die eine Optimierung der gegebenen Veranlagung zum Ziel haben, konkrete Verhaltensaspekte zu beeinflussen. Über solche Trainingsprogramme gibt es reichhaltige Literatur. Diese Programme beruhen weitgehend auf operanter Konditionierung und – etwas weniger verbreitet – auf kognitiven Interventionsstrategien. Aus der großen Anzahl einschlägiger Veröffentlichungen zu diesem Thema seien hier nur ein paar Beispiele angeführt. Hervorzuheben sind etwa Programme zur Behandlung von Autismus (Maurice et al. 1996), zur Verbesserung schulischer Lernstrategien behinderter Kinder (Gable u. Warren 1993), zur Verfeinerung der sozialen Umgangsformen und Kompetenzen (Odom et al. 1992; Goldstein et al. 2001), zur Verbesserung von Hygiene und Gesundheitsvorsorge (Agran et al. 1994) oder zur Vorbereitung des Behinderten auf die Rolle eines Arbeitnehmers (Sowers u. Powers 1991; Martin et al. 2002).
22.1.4 Verhaltensprobleme und psychiatrische
Symptome bei intellektueller Beeinträchtigung Da intellektuelle Beeinträchtigung, wie vorher festgestellt wurde, zurzeit ex post facto nicht direkt überwunden werden kann, zielt die verhaltenstherapeutische Arbeit bei Patienten mit intellektueller Beeinträchtigung vornehmlich auf die Verbesserung der Verhaltensstörungen und andere Psychopathologien ab.
Epidemiologie typischer Verhaltensprobleme und psychischer Störungen bei intellektueller Beeinträchtigung Sensitivität und Spezifizität von Prävalenz- und Inzidenzschätzungen hängen von vielen Faktoren ab, insbesondere von der Objektivität des zu erfassenden Merkmals. Bei extremen Ausprägungsformen ist das Erkennen intellektueller Beeinträchtigung relativ einfach und unumstritten. In Fällen, in denen die Beeinträchtigung jedoch nur geringfügig ausgeprägt ist und bei denen organische Merkmale nicht direkt erkennbar sind, wird die Diagnosestellung problematisch. Dies ist an sich kein unbekanntes Problem der Epidemiologie psychosozialer Phänomene. Was allerdings die Parameterschätzung in dieser Population besonders schwierig macht ist, dass intellektuelle Beeinträchtigung hinsichtlich der Ausprägung des Schweregrades nicht normalverteilt ist, sondern in einer extrem schiefen Verteilung auftritt, in der die relative Häufigkeit der milden Beeinträchtigungsformen um ein Vielfaches höher ist als die der schweren Beeinträchtigung. Da die Mehrzahl der Individuen der Gruppe der Menschen mit leichter Beeinträchtigung
angehören – jene Gruppe also, die die größten Erfassungsschwierigkeiten bereitet – sind genaue Schätzungen sehr schwierig zu erstellen. Für den Zweck dieses Kapitels soll der Hinweis genügen, dass in den meisten Ländern 1,0– 2,5% der Bevölkerung den Kriterien der intellektuellen Beeinträchtigung entsprechen. Menschen mit leichter intellektueller Beeinträchtigung stellen mit 95–98% den überwiegenden Anteil dar. Der Rest verteilt sich in steil abfallender Tendenz auf mittelgradige, schwere und schwerste Formen intellektueller Beeinträchtigung. Da in westlichen Ländern zum Schutz des einzelnen Bürgers keine Statistiken über Beeinträchtigungen geführt werden, beruhen Prävalenzschätzungen entweder auf theoretischen Erwartungswerten oder auf Versorgungsstatistiken, und sind daher immer ungenau. Laut einer epidemiologischen Gesamtpopulationsstudie mit Erwachsenen mit intellektueller Beeinträchtigung aller Schweregrade im Raum Glasgow (Cooper, S.-A. et al. 2007a; Cooper, S.-A. et al. 2007b; Smiley et al. 2007) lag die Punktprävalenz von klassisch psychiatrischen Erkrankungen (Psychosen, Gemütserkrankungen, Angst- und Zwangsstörungen etc.) zwischen 19,6% und 16,3%; die Prävalenz von Verhaltensauffälligkeiten (Selbstverletzungen, aggressives und destruktives Verhalten, Wutausbrüche etc.) variierte zwischen 33,7% und 39,1%. Die Schätzungen schwankten je nachdem, ob sie einem klinisch-psychiatrischen Gutachten oder formalen Klassifikationskriterien des DC-LD (Royal College of Psychiatrists 2001) zugrunde lagen. Während die Prävalenz von Verhaltensstörungen mit zunehmendem Behinderungsgrad anstieg, war die Prävalenz psychiatrischer Erkrankungen vom Behinderungsgrad unabhängig (Cooper, S.-A. et al. 2007b). Allerdings muss man in Rechnung stellen, dass einige psychiatrische Störungen aufgrund der mangelnden Ausdrucksmöglichkeit vor allem bei erhöhter Behinderung vermutlich stark unterdiagnostiziert sind. Es liegen auch zunehmend Berichte vor, die eine relativ starke Beziehung zwischen Verhaltensproblemen und psychischen Störungen hervorheben. Ebenso stellen Rojahn et al. (2004) fest, dass Patienten mit Verhaltensproblemen signifikant höhere Werte in einem psychopathologischen Messinstrument aufweisen als Patienten ohne Verhaltensprobleme. Das Zusammenspiel zwischen Verhaltensproblemen und psychischen Störungen ist Gegenstand aktueller Forschungsbemühungen (Hemmings 2007). Wir werden uns im weiteren Verlauf dieses Kapitels hauptsächlich mit den häufiger vorkommenden Verhaltensproblemen befassen.
22.2
Störungskonzept der Verhaltensprobleme
Es gibt mehrere Ansätze zur Erklärung von Verhaltensstörungen bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. Die drei bedeutsamsten sollen kurz vorgestellt werden. Es sind dies:
22
356
Kapitel 22 · Intellektuelle Beeinträchtigung
4 lerntheoretische Modelle, 4 Verhaltensstörungen als Korrelate psychischer Störungen, im Sinne einer allgemeinen Psychopathologie und 4 biochemische Theorien.
22
22.2.1 Lerntheoretische Modelle
Das für die Verhaltenstherapie vermutlich bedeutendste Modell ist jenes der operanten Konditionierung. Nach operanten Lerntheorien werden Verhaltensstörungen als Varianten gelernten Verhaltens betrachtet, bei denen primär auf die funktionale Verknüpfung von vier Elementen geachtet wird: 4 motivationale Operationen (MO), 4 vorhergehende Reizbedingungen (A – antecedents), 4 kritisches Verhalten (B – behavior), 4 Konsequenzen (C – consequences). Diese vier Elemente und ihr wechselweises Zusammenspiel sind Gegenstand der funktionalen Analyse. MO sind Faktoren, die die Verhaltenskontingenzen (MO-A-B-C) auf zweierlei Art temporär beeinflussen: 1. Sie verändern den Anreiz (oder die Aversivität) von Verstärkern und 2. sie beeinflussen die Auftrittswahrscheinlichkeit des Verhaltens, das in der Vergangenheit jene Verstärker produziert (oder vermieden) hatte (McGill 1999; Iwata et al. 2000). So z. B. sinkt der Anreiz von Speisen unmittelbar nach dem Sattessen. Daher wird die Auftrittswahrscheinlichkeit von Verhaltensproblemen, die durch den Erwerb von Speisen aufrecht erhalten werden, nach ausgiebiger Sättigung mit der bevorzugten Speise zeitweise absinken. Oder: Gereiztheit nach einer schlecht verbrachten Nacht, kann den aversiven Charakter bestimmter Aktivitäten erhöhen und dadurch die Auftrittswahrscheinlichkeit von Verhaltensweisen erhöhen, die durch Flucht oder Vermeidung dieser Aktivitäten verstärkt werden. Als verhaltenspräventiv bietet sich oftmals die Veränderung von antezedenten Umweltbedingungen und motivationalen Operationen an. Im positiven Verstärkermodell wird das Störverhalten als operantes Verhalten betrachtet, das von positiver Verstärkung aufrechterhalten wird. In vielen Fällen nimmt man an, dass es sich um soziale Verstärkung handelt. Dies beruht auf Beobachtungen, bei denen man feststellte, dass soziale Zuwendung von Eltern, Lehrern oder Betreuern vornehmlich im unmittelbaren Anschluss an das Störverhalten auftrat. Ferner konnte man nachweisen, dass soziale Zuwendung die Häufigkeit von Störverhalten, sogar von Selbstverletzungen (Lovaas u. Simmons 1969), erhöhen kann. Dabei ist zu betonen, dass diese Zuwendung im umgangssprachlichen Sinn nicht unbedingt positiven Charakter haben muss, um als Verstärker zu wirken. Für den Kliniker ist es bedeutsam, sich daran zu erinnern, dass es kaum Stimuli gibt, die für jedes Individuum und zu jedem Zeitpunkt Ver-
stärkerwirkung haben. Daher ist es immer ratsam, sich die Mühe zu machen, bei der Verwendung von Verstärkerprogrammen auf empirischem Wege möglichst wirksame Verstärker für das betreffende Individuum zu eruieren. Ein zweites Modell ist das der intrinsischen Verstärkung. Dabei nimmt man an, dass das Störverhalten entweder selbst Empfindungen produziert, die unmittelbar verstärkende Wirkung haben, oder aber dem Ausgleich eines homöostatischen ZNS-Ungleichgewichts dient. Es gibt mehrere Hypothesen darüber, welche zentralen Mechanismen für die Selbststimulation verantwortlich sein könnten. Der zurzeit vielleicht aktuellste Erklärungsversuch ist die Endorphinhypothese. Durch die spezifische, motorische Bewegung des Störverhaltens (z. B. Körperschaukeln oder Kopfschlagen) werden im Gehirn körpereigene Opiate (Endorphine) ausgeschüttet. Dieser biochemische Prozess wird möglicherweise als angenehm empfunden und stellt daher eine potente autonome Verstärkerquelle dar. Zusätzlich können Endorphine nicht nur Euphorie induzieren, sondern auch noch schmerzreduzierende Wirkung haben. Die Endorphinhypothese ist somit vor allem für das scheinbar paradoxe Selbstverletzungsverhalten ein eleganter Erklärungsansatz. Zusätzlich trifft diese Hypothese vermutlich für bestimmte stereotype Verhaltensformen zu (7 Abschn. 22.2.3), ist aber für Fremdaggression weniger bedeutsam. Vom klinischen Standpunkt bedeutsam ist die Tatsache, dass die Endorphinhypothese den rationalen Hintergrund für die in den letzten Jahren populär gewordene Behandlung von Selbstverletzung mit Endorphinantagonisten darstellt, wie dem Naloxon und dem Naltrexon (Aman 1993; Sandman et al. 1998). Ein drittes operantes Verstärkermodell ist das der negativen Verstärkung. Es ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen, dass Störverhalten ein wirksames Vermeidungsverhalten sein kann. Vor allem Selbstverletzungen, Wutanfälle, aggressive Attacken und das Zerstören von Gegenständen werden häufig als für den Patienten funktional wirkungsvoll identifiziert; z. B. um unangenehmen Aufgaben oder gefürchteten Situationen zu entgehen. Eine Variante des Vermeidungsmodells ist die »Hypothese der fehlgeleiteten Kommunikation« (Carr u. Durand 1985). Die mangelnde verbale Kompetenz bei vielen Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung macht diese Strategie – abweichendes Verhalten als kommunikative Valenz – zusätzlich plausibel. Manche Formen der Aggression sind nicht operant gelernt, sondern stellen angeborene Reaktionsmuster dar. Dieses Phänomen ist in der experimentellen Literatur unter anderem unter dem Begriff der »elicited aggression« bekannt (Ulrich u. Azrin 1962). Es konnte in vielen Tierversuchen nachgewiesen werden, dass aggressives Verhalten durch die Verabreichung schmerzhafter Reize ausgelöst werden kann. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass solch ungelernte Reaktionen auf Unbehagen Ursprung mancher Verhaltensstörung bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung sein könnten.
357 22.3 · Instrumente zur Erfassung von psychischen Störungen bzw. Verhaltensproblemen
Verhalten befindet sich stets in einem dynamischen Zustand und kann seine motivationale Struktur über die Zeit durchaus ändern. Im Laufe der Lerngeschichte ist es vorstellbar, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass ein bestimmtes Verhalten im Ursprung auf einen Mechanismus zurückgeht (z. B. auf ein langsames Aufbauen durch unbeabsichtigte soziale Verstärkung oder auf ein angeborenes Reaktionsmuster), dass es aber im Laufe der Zeit zusätzliche Funktionen anzunehmen beginnt. Das heißt, wir müssen als Therapeuten davon ausgehen, dass Störverhalten häufig von mehreren motivationalen Faktoren determiniert wird.
22.2.2 Verhaltensprobleme als Symptome
allgemeiner Psychopathologie In jüngster Zeit gibt es wiederholt Hinweise darauf, dass Verhaltensstörungen gehäuft im Zusammenhang mit psychischen Bedingungen auftreten. Somit kam die Vermutung auf, dass Verhaltensstörungen vielleicht atypische und populationsspezifische Symptome psychischer Erkrankungen sein könnten. So z. B. berichteten Reiss u. Rojahn (1993), dass aggressives Verhalten viermal so häufig bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung mit depressiven Symptomen beobachtet wurde als bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung ohne Depressionen. King (1993) andererseits entwickelte die Hypothese, dass Autoaggressionen Formen von Zwangsverhalten sein könnten. Damit bietet sich die Frage an, ob manche Verhaltensstörungen möglicherweise Symptome oder Folgeerscheinungen psychischer Erkrankungen sein könnten. Während der lerntheoretische Ansatz vor allem für verhaltenstherapeutische Interventionen relevant ist, so sind die psychopathologischen Erklärungsversuche und die biochemischen Theorien zum Verhaltensproblem vornehmlich für die psychopharmakologische Behandlung von Bedeutung. Gleichzeitig soll aber betont werden, dass das eine Vorgehen das andere keineswegs ausschließt, sondern dass beide Methoden kombiniert eingesetzt werden können. Leider gibt es zurzeit nur unzureichende klinischexperimentelle Forschung zu solchen kombinierten Behandlungsprogrammen bei intellektueller Beeinträchtigung. Einen Überblick zu konkurrierenden sowie komplementären theoretischen Konzepten und entsprechenden Interventionen findet sich in Lingg u. Theunissen (2008).
22.2.3 Genetische und biochemische Grundlagen
Ein in den letzten Jahren aktuell gewordener Forschungsansatz ist die Identifikation von Verhaltenseigenheiten, die mit bestimmten genetischen Zustandsbildern korrelieren. Dieser Zusammenhang zwischen Genotyp und charakteristischen Verhaltensmustern ist unter dem Begriff Verhal-
tensphänotyp in der Literatur bekannt (Dykens et al. 2000). Verschiedene Formen des Störverhaltens bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung lassen sich zumindest für Gruppen bestimmter Individuen auf genetisch/biochemische Ursachen zurückführen. So tritt z. B. das Selbstverletzungsverhalten bei mindestens vier organisch verursachten Syndromen auf: 4 Lesch-Nyhan-Syndrom, 4 Cornelia-de-Lange-Syndrom, 4 Smith-Magenis-Syndrom, 4 Prader-Willi-Syndrom. Stereotypes Verhalten in Form von Händeringen tritt als konstituierendes Merkmal beim Rett-Syndrom auf, das wiederum auf eine genetische Abweichung zurückgeführt werden kann (Hagberg et al. 1985; Amir et al. 1999). Leider lässt sich bisher von der Tatsache des symptomalen Charakters mancher Selbstverletzungen praktisch nur relativ wenig für die Behandlung ableiten. In den letzten Jahren wurden große Fortschritte in der neurobiologischen Grundlagenforschung erzielt, vor allem bei Stereotypien und beim Selbstverletzungsverhalten. Dies hat zur Formulierung einiger wichtiger biochemischer Theorien geführt, die für die Entwicklung psychopharmakologischer Behandlungen unabdingbar sind. Die beiden wichtigsten Neurotransmittersysteme, die zurzeit im Zusammenhang mit Selbstverletzungsverhalten bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung diskutiert werden, sind Dopamin und Serotonin. Ein weiteres neurobiologisches Substrat von großer Bedeutung für Stereotypien und Selbstverletzung sind die bereits vorhin erwähnten endogenen Opiate.
22.3
Instrumente zur Erfassung von psychischen Störungen bzw. Verhaltensproblemen
Zur Erfassung von psychischen Störungen bzw. von Verhaltensstörungen sind in den letzten Jahren systematische Vorgehensweisen entwickelt worden, inklusive normierten und hinsichtlich ihrer psychometrischen Gütekriterien überprüfte Verfahren. Überblicke finden sich in Sarimski u. Steinhausen (2007) und Bouras u. Holt (2007). Dabei kann prinzipiell zwischen einem psychiatrischen und einem Verhaltensansatz unterschieden werden, zwei Ansätze, die sich in grundlegenden Aspekten voneinander unterscheiden. Zur ätiologischen Abklärung des Problems wird im Verhaltensansatz vorerst auf akkumulierte Umwelteffekte gesetzt, im psychiatrischen Ansatz dagegen steht die innere Psychodynamik der Person im Vordergrund. Setzt die psychiatrische Vorgehensweise zur Klärung des Problems auf ein Muster von Symptomen, so ist im Verhaltensansatz das Problem häufig mit einem Symptom gleichgestellt. Ähnlich verhält es sich, wenn es um die Bedeutung der Anamnese
22
358
22
Kapitel 22 · Intellektuelle Beeinträchtigung
in Zusammenhang mit der diagnostischen Abklärung geht. Im psychiatrischen Ansatz wird zum Verständnis des aktuellen Verhaltens auf die klinische Geschichte zurückgegriffen, wogegen im Verhaltensansatz aktuelles Geschehen im Vordergrund bleibt. Auch hinsichtlich der diagnostischen Formulierung unterscheiden sich beide Ansätze. Im Verhaltensmodell wird eine funktionale Analyse formuliert, im psychiatrischen Modell dagegen wird ein Störungsbild diagnostiziert, das in Bezug zu den beobachteten Symptomen gesetzt wird. Für beide Ansätze liegen Verfahren vor. Es hat sich gezeigt, dass die Definitionen, Richtlinien und Kriterien wie aus ICD-10 und DSM-IV her bekannt und für die Allgemeinbevölkerung entwickelt, für die Abklärung psychischer Störungen bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung wenig brauchbar sind. Mit dem DM-ID (»Diagnostic Manual – Intellectual Disability«) liegt erstmals ein spezifisches, umfassendes Kompendium vor, das zur Unterstützung der Entscheidungsfindung bei der Diagnose psychischer Störungen bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung nützlich ist (Fletcher et al. (2007) vor. Zur Erfassung von psychischen Störungen liegen eine Reihe von sog. Screening-Verfahren vor. Weite Verbreitung finden der »Reiss-Screen for Maladaptive Behavior« (RSMB) von Reiss (1987) und das »Assessment of Dual Diagnosis« (ADD) von Matson u. Bamburg (1998). Mit dem »Diagnostic Assessment for the Severely Handicapped« (DASH) von Matson et al. (1990) liegt ein Verfahren vor, das spezifisch auf die Erfassung psychopathologischer Symptome bei Menschen mit schwerer und schwerster intellektueller Beeinträchtigung abzielt. Bei all diesen Verfahren handelt es sich um sog. Fremdbeurteilungsverfahren, die in der Regel von Betreuern intellektuell beeinträchtigter Personen nach kurzer Einschulung, verwendet werden können. Sie orientieren sich weitgehend an der Klassifikation und Beschreibung psychischer Erkrankungen nach dem weitverbreiteten DSM-IV (American Psychiatric Association 1994). Speziell für Kinder wären auch noch der »Verhaltensfragebogen für Kinder mit Entwicklungsbeeinträchtigungen« (VFE; Einfeld et al. 2007; Einfeld u. Tonge 2002) und der »Nisonger Beurteilungsbogen für das Verhalten von Kindern mit Beeinträchtigungen« (NCBRF; Aman et al. 1996; dt. Übersetzung in Sarimski u. Steinhausen 2007) zu erwähnen. Zur systematischen Erfassung psychischer Störungen bei erwachsenen Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung kann auf das PAS-ADD-System (»Psychiatric Assessment Schedule for Adults with a Developmental Disability«) zurückgegriffen werden (Moss et al. 1995). Ausgehend von der ICD-10, der Klassifikation für psychische Störungen der WHO (ICD-10; Dilling et al. 1991), wurden Symptome und Kriterien für psychische Störungen spezifisch für die Population von erwachsenen Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung entwickelt. Neben einer Checkliste (Moss 2001a), über die potenzielle Problembereiche in der seeli-
schen Gesundheit aufgedeckt werden können, steht der »Mini-PAS-ADD« zur weiterführenden Diagnostik durch Experten zur Verfügung (Moss 2001b). Die Anwendung der Checkliste erfolgt in der Regel durch Betreuer, jedenfalls setzt sie kein spezielles Fachwissen voraus. Eine sachgerechte Benutzung des Mini-PAS-ADD erfordert profunde Kenntnisse aus klinisch-psychologischer Diagnostik bzw. Psychopathologie und wird in der Regel von Psychiatern oder klinischen Psychologen vorgegeben. Die vom MiniPAS-ADD erfassten Störungsbereiche umfassen Angststörungen, affektive Störungen, psychotische Störungen sowie Autismus und Demenzen. Für die PAS-ADD-Checklist, als auch den Mini-PAS-ADD, liegen erste deutsche Übersetzungen vor (Weber u. Fritsch 2001). Auch stehen erste Ergebnisse zu spezifischen Verfahren für die Abklärung psychischer Störungen bei Kindern mit intellektueller Beeinträchtigung zur Verfügung (Lee et al. 2003). Mit einer in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegenen Lebenserwartung bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung stehen häufig Abklärungen zu alterskorrelierten psychischen Störungen, wie z. B. Demenz an. Vor allem aus dem angloamerikanischen Bereich liegen hier erste Richtlinien zur Abklärung von demenziellen Prozessen bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung vor (Janicki u. Dalton 1999). Zur Erfassung von Verhaltensstörungen kann auf verschiedene Erfassungsbögen, die entweder für spezifische Personengruppen konzipiert sind bzw. spezifische Problembereiche abdecken, verwiesen werden. Für Personen mit schweren Formen intellektueller Beeinträchtigung, die in Einrichtungen leben, liegt die »Aberrant Behavior Checklist« (ABC) von Aman et al. (1985) vor und die »Aberrant Behavior Checklist – Community« (ABC-C) (Marshburn u. Aman 1992) steht für die diagnostische Abklärungen von Erwachsenen mit intellektueller Beeinträchtigung, die gemeindeintegriert leben, zur Verfügung. Bei letztgenannter Skala sind die Items inhaltlich und sprachlich an die Rahmenbedingungen, die für gemeindeintegrierte Wohnformen charakteristisch sind, angepasst und es werden Bereiche wir Irritierbarkeit, Agitiertheit, Non-Compliance, Lethargie, stereotypes Verhalten und Hyperaktivität erfasst. Über das »Behavior Problem Inventory« (BPI; Rojahn et al. 2001) lassen sich vor allem Verhaltensweisen aus dem Formenkreis des Selbstverletzungsverhaltens sowie aggressive und stereotype Verhaltensweisen erfassen. Zum BPI liegen Übersetzungen in deutscher Sprache vor (Sarimski u. Steinhausen 2007; Weber 2001). Zur genaueren Analyse motivationaler Zusammenhänge bei Verhaltensstörungen bzw. affektiven Störungen sind direkte Beobachtungen durch einen geschulten Beobachter von Relevanz. Der große Vorteil von Beobachtungstechniken liegt in der intuitiven Plausibilität der Analyse. Die Ergebnisse aus Beobachtungen sind in der Regel leicht nachvollziehbar und leicht verständlich, da die theoretischen Überlegungen und vor allem die psychometrischen
359 22.4 · Therapeutisches Vorgehen
Grundlagen hierbei im Gegensatz zu Tests und Beurteilungsskalen auf relativ einfachem Niveau sind. Informationen aus systematischen Beobachtungen nehmen eine besonders wichtige Rolle in der Bestimmung der klinischpsychologischen Behandlungsstrategie bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung ein.
22.4
Therapeutisches Vorgehen
Bevor Überlegungen zur Intervention angestellt werden können, sind vorweg einige Fragen zu beantworten. Wie vorhin festgestellt wurde, wird allgemein davon ausgegangen, dass Verhalten das Produkt aus dem Zusammenspiel zwischen biologischen Grundlagen und der individuellen Lerngeschichte ist. Somit ergibt sich als erste abzuklärende Frage, welches die primären Ursachen und aufrechterhaltenden Bedingungen der vorliegenden Verhaltensstörung bei intellektueller Beeinträchtigung sind. Neurologische und molekulargenetische Untersuchungen können über das Vorhandensein von organischen Grundlagen Aufschluss geben.
22.4.1 Funktionale Problemanalyse
Obwohl man im Prinzip Verhalten auch ohne Wissen um dessen motivationalen Hintergründe mit operanten Methoden beeinflussen kann, hat sich auch auf empirischem Wege nachweisen lassen, dass Interventionsverfahren, die auf den tatsächlichen Motivationsstrukturen beruhen, besser und effektiver wirken als solche, die mit der Motivationsstruktur inkonsistent sind (Repp et al. 1988). Daher ist es angebracht, bei der Entwicklung eines Behandlungsprogramms mit einer funktionalen Problemanalyse zu beginnen. Dies dient dazu, Aufschlüsse über die Komponenten »A« und »C« des MO-A-B-C-Schemas zu erhalten. Methoden der Informationserhebung variieren, aber meist stützt man sich zunächst auf Interviews mit Eltern, Lehrern oder anderen, die viel Erfahrung mit dem Patienten haben. Darüber hinaus empfiehlt es sich, zumindest unsystematische Beobachtungen an den Orten und zu den Zeiten anzustellen, an denen das Problem typischerweise auftritt. Dabei hat sich gezeigt, dass Interventionen, welche auf einer funktionalen Analyse beruhen, zu deutlich positiveren Interventionseffekten führen als solche, die nicht Resultat eines funktional-diagnostischen Prozesses waren (Kahng et al. 2002). Darüber hinaus wurden mit zunehmendem Einsatz der funktionalen Erfassung seltener einschränkende und bestrafende Maßnahmen verwendet (Hastings u. Noone 2005). Unterschieden wird zwischen direkten und indirekten Erhebungsmethoden. Direkte Methoden. Die »Experimentelle Funktionale Analyse« (EFA) umfasst die systematische Variation von zwei
oder mehr Testbedingungen zur Überprüfung, der dem Verhalten zugrunde liegenden bzw. aufrechterhaltenden Faktoren. Die EFA besteht in der Regel aus fünf Testbedingungen wobei vier Basishypothesen (Aufmerksamkeitshypothese, Flucht- oder Vermeidungshypothese, Selbststimulationshypothese, Hypothese der Erlangung nichtsozialer Verstärker) und eine Kontrollbedingung überprüft werden (Iwata et al. 1982/1994). Die EFA wird über einen Zeitraum von mehreren Wochen in mehreren täglichen Sitzungen wiederholt bis differenzielle Verhaltenstrends sichtbar werden. Von Interesse ist, in welchen Testbedingungen das selbstverletzende Verhalten (SVV) auftritt und ob dieses durch die positive, negative oder automatische Verstärkung erklärt werden kann. Die Durchführung der experimentellen funktionalen Analyse erweist sich u. a. als zeitintensive Methode und ist aus diesem Grund oftmals nicht praktikabel. Untersuchungen weisen darauf hin, dass die ausführliche und systematische Befragung der unmittelbaren Bezugspersonen zu ähnlichen Ergebnissen gelangt, wie die experimentelle funktionale Analyse (Mace et al. 1991). Die Übereinstimmung zwischen der Nutzung indirekter Methoden und der experimentellen funktionalen Analyse zeigte sich bei hoher Auftretenshäufigkeit des SVV als recht zuverlässig, weniger jedoch bei niedrigfrequentem SVV (Paclawskyj et al. 2001). Neuere Untersuchungen belegen, dass sich die Funktionen des selbstverletzenden Verhaltens im Rahmen der EFA in Anwesenheit bestimmter Personen unterscheiden (English u. Anderson 2004). Direkte motivational-funktionale Erhebungsmethoden.
Diese werden im unmittelbaren und natürlichen Umfeld der Person verwendet. Zentraler Bestandteil ist die Verhaltensbeobachtung, wobei zwischen der freien und systematischen Form unterschieden wird. Während bei der freien Verhaltensbeobachtung die Sammlung von allgemein relevanter Information über das Verhalten unter verschiedenen Bedingungen des Alltags im Vordergrund steht, macht sich die systematische Verhaltensbeobachtung die Verwendung spezieller Techniken zunutze, um konkrete Verhaltensparameter wie Verhaltensfrequenz zu erfassen (weitere Informationen zur Verhaltensbeobachtung in Stahl u. Irblich 2005). Indirekte Methoden. Indirekte motivational-funktionale Erhebungsmethoden umfassen strukturierte Interviews, Checklisten und Ratingskalen. Diese Methoden sind in den meisten Fällen mit relativ wenig Zeitaufwand verbunden. Das wohl bekannteste indirekte motivational-funktionale Verfahren im angloamerikanischen Sprachraum ist die »Motivation Assessment Scale« (MAS; Durand u. Crimmins 1988). Der Fragebogen umfasst 16 Situationsbeschreibungen. Auf einer 6-stufigen Skala (nie – immer) kann der Beurteiler einschätzen, wie häufig das selbstverletzende Verhalten in der beschriebenen Situation auftritt. Subskalen des Fragebogens sind: 1. Sensorische Stimulation, 2. Vermeidung, 3. Aufmerksamkeit erregen und 4. Erhalt eines
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Kapitel 22 · Intellektuelle Beeinträchtigung
gewünschten Objektes durch den Patienten. Bei der Beurteilerübereinstimmung werden Kappa-Werte von 0,89–0,98 berichtet, Ergebnisse, die allerdings in nachfolgenden Untersuchungen nicht mehr repliziert werden konnten. Neuere Studien belegen vielmehr eine geringe interne Konsistenz sowie geringe bis mittelmäßige Reliabilität (Shogren u. Rojahn 2003). Der Fragebogen »Questions About Behavioral Function« (QABF; Matson u. Vollmer 1995) enthält 25 Items, die in fünf Subskalen unterteilt sind. Hierzu gehören Erlangung von Aufmerksamkeit, Vermeidung von Anforderungen, nichtsoziale Faktoren, Erhalt eines beliebten Objektes und physische Faktoren (wie Schmerz). Die Interrater-Reliabilität lag in Untersuchungen für die fünf Subskalen bei akzeptablen 0,79–0,99 (Matson et al. 1999; Paclawskyj et al. 2001). Als Nachteil erweist sich der suggestive Fragestil, der möglicherweise zu Verzerrungen der Antworttendenzen führt.
22.4.2 Operante Methoden
Operante Interventionen (7 Kap. III/13) sind Behandlungsmethoden, die sich im Wesentlichen auf die Grundelemente der operanten Konditionierung stützen. Ein zentrales Merkmal operanter Verfahren ist, dass für jedes Verhalten und für jeden Patienten speziell ein individuelles Behandlungsprogramm entworfen werden muss. Das Behandlungsprogramm soll auf die spezifischen funktionalen Bedingungen des Verhaltens und auf andere Merkmale des Patienten und seiner Umgebung abgestimmt sein. Wenn es gilt, unerwünschtes Verhalten zu reduzieren, stellt die positive Verstärkung eine der wesentlichsten operanten Komponenten dar. Positive Verstärkung wird in der Regel dazu eingesetzt, um zum Problemverhalten alternative Verhaltensweisen aufzubauen und zu stärken. Dies geschieht meist in Form sog. DR-Techniken (»differential reinforcement«), wie die differenzielle Verstärkung anderen Verhaltens (DRO, »differential reinforcement of other behavior«), Verstärkung von Verhalten, das mit dem Problemverhalten unvereinbar ist (DRI, »differential reinforcement of incompatible behavior«), Verstärkung von erwünschtem Verhalten (DRA, »differential reinforcement of appropriate behavior«), Verhalten mit niedriger Auftrittsrate (DRL, »differential reinforcement of low rate behavior«), und Verhalten mit hoher Auftrittsrate (DRH, »differential reinforcement of high rate behavior«). Meist werden diese differenziellen Verstärker in einem zeitlich fixierten Zeitintervallplan (FI, »fixed interval«) verabreicht. Carr u. Durand (1985) entwickelten speziell für die Reduzierung von Problemverhalten ein auf Verstärkermethoden beruhendes Kommunikationstraining, das auf der zuvor erwähnten Kommunikationstheorie aufbaut. Ziel dieser Intervention ist es, die funktional-kommunikative Bedeutung des Störverhaltens auszunutzen und es durch angemessene Formen der Verständigung zu ersetzen.
Dieses therapeutische Prinzip ist unter dem Begriff der funktionalen Äquivalenz (»functional equivalence«) bekannt (Carr 1988). Zu den Bestrafungsverfahren zählt man alle jene verhaltenskontingenten Methoden, die eine Auftrittsverringerung dieses Verhaltens bewirken. Speziell für die Behandlung von extrem destruktiven Problemverhalten gibt es eine Reihe verschiedener Bestrafungsformen, die aber insgesamt nur unter besonderen Bedingungen und nach vorsichtiger Erwägung anderer Interventionsstrategien zur Anwendung kommen sollten. Sie reichen vom Verabreichen konkreter Strafreize bis hin zu komplexeren Verfahren, wie den mannigfachen Varianten der Auszeit (»timeout«) und den Korrekturverfahren (»overcorrection«). Bei der Auswahl von Bestrafungsmethoden soll grundsätzlich die Regel der am wenigsten einschränkenden Variante (»least restrictive alternative«) befolgt werden, die zur Erreichung eines bestimmten Therapiezieles unumgänglich ist (Matson u. DiLorenzo 1984, S. 166). Dies ist ein von vielen psychologischen Berufsverbänden akzeptiertes ethisches Prinzip, an dem sich der Therapeut orientieren muss. Bestrafungsverfahren sollten außerdem nur als zeitlich begrenzte Übergangslösung betrachtet werden und nur gepaart mit positiven Verstärkern für akzeptables Verhalten eingesetzt werden. Über die Ethik der Verwendung von Bestrafungsverfahren bei Patienten mit intellektueller Beeinträchtigung hat es vor allem in den USA erregte Auseinandersetzungen gegeben. Die Autoren dieses Beitrages vertreten die Ansicht, dass eine kategorische Ablehnung einer bestimmten Interventionsmethode a priori nicht im Interesse des Patienten liegt. Es wird vielmehr die Meinung vertreten, dass in Ausnahmefällen und unter Supervision qualifizierter Fachkräfte Bestrafungsverfahren gerechtfertigt sein können. Immerhin hat sich in vielen Fällen herausgestellt, dass Strafverfahren die einzigen verhaltenstherapeutischen Maßnahmen waren, die besonders hartnäckige, chronische Verhaltensprobleme unterbrechen und kontrollieren konnten. Neben den operanten Verfahren, die auf verhaltenskontingentem Wege auf das Verhalten wirken, gibt es operante Methoden, die auf dem Prinzip der Stimuluskontrolle beruhen. Der Schwerpunkt liegt dabei also nicht auf dem »C« (Konsequenzen), sondern auf dem »A« (vorangehende Reizbedingungen) der MO-A-B-C-Formel. Dies sind im Prinzip all jene Stimuli, die die Auftretenswahrscheinlichkeit des Störverhaltens beeinflussen. Unter diesen Reizen unterscheidet man zwischen antezedenten, diskriminativen Reizen (»discriminative stimuli«) und Hintergrundvariablen (»setting events«). Diskriminative Stimuli sind Reize, die unmittelbaren Signalcharakter für das Störverhalten haben, wie z. B. das Erscheinen einer Person, mit der der Patient schlechte Erfahrung gemacht hat, oder die Anforderung eine unangenehme Aufgabe zu erfüllen. Hintergrundvariablen oder MO (Motivationale Operationen) sind anderseits solche, die einen Einfluss auf die relative Wirksam-
361 22.5 · Fallbeispiel
keit bestimmter Konsequenzen haben, z. B. Gereiztheit aufgrund von Schlafmangel oder körperliches Unbehagen durch Krankheit oder Hunger. Viele solcher Stimuli können ggf. in eine Intervention miteinbezogen werden (Horner et al. 1997; Ringdahl et al. 1997). Eines der wesentlichsten Ziele therapeutischer Interventionen ist, dass der Therapiegewinn die akute Therapiephase überdauert und in kritischen Situationen wirksam bleibt. Dies ist im Vokabular der operanten Konditionierung unter den Begriffen der Dauerhaftigkeit (»maintenance«) und Generalisierung (»generalization«) bekannt (Horner et al. 1988). Weder die Dauerhaftigkeit noch die Generalisierung der Behandlungsresultate sind bei operanten Methoden automatisch zu erwarten, sondern sie müssen programmatisch in die Therapieplanung miteinbezogen werden. Zu den wichtigsten Methoden der Programmierung generalisierter Langzeiteffekte bei Störverhalten zählen: 4 langsames Überführen kontinuierlicher Verstärkerpläne in intermittierende Verstärkung, 4 Verzögerung des Intervalls zwischen Verhalten und Verstärker, 4 Ausblenden therapiegebundener (künstlicher) und Ersetzen mit natürlich auftretenden Verstärkern, 4 Ausblenden der in der Therapie bevorzugten, strukturierten und vom Therapeuten kontrollierten Bedingungen und schrittweise Anpassung an die natürliche Umgebung, 4 langsames Einblenden von Bedingungen, die ursprünglich Störverhalten provozierten und 4 Miteinbeziehen von Bezugspersonen als Therapeuten (Elterntraining; Cooper, J. O. et al. 2007).
22.4.3 Psychopharmakologie
Eine umfassende Diskussion zur psychopharmakologischen Behandlung bei vorliegenden psychischen Symptomen bzw. Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung übersteigt natürlich bei Weitem die Grenzen dieses Kapitels. Zumindest aber soll der Leser auf deren Wichtigkeit für das therapeutische Vorgehen hingewiesen werden. Psychopharmaka, vor allem bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung, haben teilweise zu Recht einen schlechten Ruf erlangt. Sie werden in der Praxis oft zu häufig und in zu hohen Dosen verschrieben, und die gleichzeitige Verabreichung mehrerer psychopharmakologischer Präparate ist eher die Regel als die Ausnahme. Die psychopharmakologische Forschung bei intellektueller Beeinträchtigung hat sich aber in den letzten Jahren zunehmend entwickelt, und es sind viele wichtige Einsichten gewonnen worden. Für eine umfassende Diskussion der klinischen Psychopharmakologie in der Behandlung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung sei der Leser auf das Standardwerk von Reiss u. Aman
(1998) verwiesen, das das Ergebnis einer internationalen Expertenkommission ist.
22.5
Fallbeispiel
Die nachfolgende Beschreibung bezieht sich auf die akute Phase einer Intervention für Verhaltensprobleme bei einem 10-jährigen Mädchen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung ätiologisch unspezifischer Form. Es sollen die wesentlichen Entscheidungspunkte hervorgehoben werden, wobei die Falldarstellung in diesem Rahmen nicht umfassend sein kann. Anamnese. Elisabeth, die ausgeprägte autistische Verhaltensweisen hatte, lebte zur Zeit der Behandlung im Elternhaus und besuchte vormittags eine private Schule. Ihre intellektuell-kognitiven Fähigkeiten waren deutlich niedriger als die ihrer Altersgenossen, aber sie waren aufgrund ihres Verhaltens schwierig exakt zu messen. Die sprachlichen Ausdrucksfähigkeiten waren sehr limitiert. Der Hauptgrund für eine psychologische Behandlung war das Vorhandensein schwerer Verhaltensprobleme. Die Patientin attackierte andere Kinder, biss sich wiederholt in den eigenen Handrücken und zerstörte in regelmäßigen Wutanfällen Spielzeug und Arbeitsmaterial. Fremdanamnestische Angaben. Die Lehrerin berichtete, dass Elisabeth nicht in der Lage war, ihre Aufmerksamkeit länger als ein paar Sekunden einer produktiven Tätigkeit zu widmen. Stattdessen waren allerlei stereotype Aktivitäten zu beobachten, wie Schaukeln des Oberkörpers und ImKreis-Herumlaufen. Körperlicher Befund. Medizinisch-neurologische Untersuchungen lieferten keinerlei Hinweise für hirnorganische Schädigungen. Die Überprüfung der Sinnesorgane ergab auch keine auffälligen Befunde. Laut Eltern begannen die aggressiven und stereotypen Verhaltensweisen ca. im Alter von sieben Jahren. Sie berichteten, dass Ihr Kind besonders in der Schule damit auffällig wurde. Funktionale Problemanalyse. Es ist zunächst notwendig,
das zu behandelnde Verhalten (Zielverhalten) zu definieren und einer funktionalen Problemanalyse zu unterziehen (O’Neill et al. 1990). Das Sich-selbst-Beißen, die vor allem in der Schule auftretenden Aggressionen gegen andere Kinder (Umstoßen) und die Wutanfälle mit dem Zerstören von Gegenständen, wurden aufgrund von Häufigkeit, Intensität und Gefährdung als Zielverhaltensweisen identifiziert. Neben der Reduzierung des Zielverhaltens sollte ein weiteres Therapieziel sein, Elisabeths produktive Teilnahme an spielerischen und schulischen Aktivitäten zu verlängern. Zur Durchführung der funktionalen Verhaltensanalyse wurden nach Gesprächen mit Eltern und Lehrern ABC-Beobach-
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Kapitel 22 · Intellektuelle Beeinträchtigung
tungsbögen für Schule und für zu Hause entworfen. In . Abb. 22.2 ist ein Schulbeobachtungsbogen mit beispielhaften Informationen aus einer zweistündigen Beobachtung in Elisabeths Schulklasse dargestellt. Die funktionale Analyse ergab, dass die problematischen Reaktionen unserer Patientin insbesondere dann auftraten, wenn in der Schule verbales Fördertraining durchgeführt wurde. Zielverhalten wurde im Gruppenunterricht und im Einzelunterricht beobachtet. In der Regel reagierte die Lehrerin auf das Umstoßen anderer Kinder mit verbalem Tadel und dem Ausschließen aus der Gruppe. Die Lehrerin nahm Elisabeth an den Schultern und führte sie in eine unbelebte Ecke des Klassenzimmers. Dort musste sie ein paar Minuten verweilen, bevor sie wieder am Gruppengeschehen teilnehmen durfte. Während dieser unbeaufsichtigten Periode geschah es nicht selten, dass stereotypes Körperschaukeln auftrat. Sich-selbst-Beißen wurde von der Lehrerin meist mit kurzem Anhalten der Arme geahndet. Weiter wurde aus den MO-A-B-C-Beobachtungen ersichtlich, dass Elisabeth dazu tendierte, schon beim bloßen Auftauchen des Übungsmaterials für den Sprachunterricht erregt zu werden, andere Kinder zu attackieren oder sich selbst zu beißen. In die-
sen Aufzeichnungen zur funktionalen Problemanalyse waren aber nicht alle wichtigen Aspekte beinhaltet. So z. B. gab es zwei Tage, an denen die Häufigkeit und Heftigkeit der Wutausbrüche deutlich höher lag als an den Tagen davor. Erst ein Gespräch mit den Eltern ergab, dass Elisabeth in den Nächten davor Schwierigkeiten hatte einzuschlafen (biologische Hintergrundvariable). Die problemanalytischen Erhebungen ergaben, dass alle drei Zielverhalten in der Schule vornehmlich in Leistungsanforderungssituationen auftraten. Wir vermuteten, dass das Verbaltraining ein negativer diskriminativer Reiz war, dem Elisabeth gelernt hatte, dadurch zu entfliehen, indem sie durch Sich-selbst-Beißen und Attackieren ihrer Mitschüler einen Ausschluss aus der Gruppe (und somit das Abbrechen der Sprachübungen) provozierte. Die Verhaltensexzesse wurden also vermutlich durch unbeabsichtigte negative Verstärkung motiviert. Mit dem Ausschluss war darüber hinaus noch soziale, manchmal sogar physisch-soziale Zuwendung der Lehrerin verbunden. Das bedeutet, dass die Verhaltensexzesse möglicherweise zusätzlich positiv verstärkt wurden. Weiterhin fiel auf, dass Elisabeth, nach der »strafweisen« Entfernung von der Gruppe, ausführlich
. Abb. 22.2. ABC-Beobachtungsbogen zur funktionalen Problemanalyse
363 Zusammenfassung
Gelegenheit hatte, sich dem stereotypen Schaukeln zu widmen. Wir nahmen an, dass Körperschaukeln für Elisabeth autostimulativ angenehm war, und somit der Ausschluss aus der Gruppe vermutlich gar nicht als unangenehm erlebt wurde. Mit anderen Worten, ihr Störverhalten wurde vielleicht von drei voneinander relativ unabhängigen Quellen verstärkt und somit aufrechterhalten. Fernerhin wurde deutlich, dass sich die Tendenz zu Verhaltensproblemen nach gestörter Nachtruhe verschärfte. Diagnostik. Vor Beginn der Intervention wurden Datenerhebungsverfahren zur Registrierung des Verhaltens bestimmt. Problemverhalten und das zu erweiternde positive Verhalten sollten mittels eines Zeitstichprobeverfahrens mit 15-minütigen Intervallen festgehalten werden. Die Kotherapeuten, Elisabeths Eltern und Lehrer, wurden als Beobachter eingewiesen. Während der geplanten Beobachtungszeiträume sollten sie nach jedem der 15-minütigen Zeitintervalle festhalten, ob eine der Verhaltensweisen auftrat oder nicht. Beobachtungen wurden an allen Dienstagen und Freitagen in der Schule sowie im Elternhaus für jeweils zwei Stunden durchgeführt. Es wurde ferner mit den Kotherapeuten vereinbart, dass der Verlauf der Verhaltensraten wöchentlich in graphischer Form in einem Häufigkeitsdiagramm dargestellt würde, um für alle Beteiligten die Interventionseffekte sichtbar zu machen. Die Aufzeichnungen begannen zwei Wochen vor Interventionsbeginn, um eine Basisrate (»baseline«) festzulegen, und wurden während der gesamten Interventionsdauer fortgesetzt. Behandlung. Operante Interventionen sollten in ihrer Abfolge so angelegt werden, dass sie der Logik eines der vielen Einzelfall-Versuchspläne entsprechen (Kazdin 1982). Diese Versuchspläne setzen sich im Wesentlichen aus einzelnen oder gestaffelten Serien abwechselnder Phasen aktiver Interventionen (»treatment«) und Interventionspausen (»baseline«) zusammen, sog. ABAB-Pläne. Die erste Intervention für Elisabeth bestand aus drei Hauptkomponenten: 1. Reiz-Kontrolle (die Lehrerin wurde angewiesen, Elisabeth nicht mehr direkt in das Sprachtrainingsprogramm einzubeziehen, um die Leistungsanforderung zu verringern), 2. Bestrafung von Aggressionen und Wutanfällen durch ein Auszeitverfahren (»Time-out«), und 3. Ignorieren von Sich-selbst-Beißen. Die Reizkontrolle bestand daraus, Elisabeth zunächst nicht mehr in das Gruppensprachtraining einzubeziehen und sie von anderen Kindern etwas fern zu halten. Weiterhin wurde empfohlen, das Arbeitsmaterial für den Verbalunterricht zu verräumen. Im Gegensatz zum früher praktizierten Ausschließen, setzte das Auszeitverfahren fest, dass Elisabeth nach Auftreten von Aggressionen oder Wutanfällen drei Minuten lang in einer Ecke des Raumes verbringen musste. Elisabeth durfte erst dann die Auszeit beenden, wenn sie während der letzten 30 Sekunden sich weder in den Handrücken biss noch mit dem Körper schaukelte. Solche Entlassungsbedingungen aus dem
»Time-out« dienen dazu, unbeabsichtigte Verstärkung von Problemverhalten zu verhindern. Das Sich-selbst-Beißen sollte ansonsten vorläufig ignoriert werden, da wir hofften, es durch Reduzierung des Anforderungscharakters der Schulsituation auf indirektem Wege zu verringern. Zwischen den Auszeitintervallen wurde intensiv an einfachen spielerischen Aufgaben mit geringem Leistungsdruck gearbeitet, die die Möglichkeit boten, Elisabeth ausführlich zu loben, ihr Erfolgserlebnisse zukommen zu lassen und langsam ihre Aufmerksamkeit an geordneten Aktivitäten zu erweitern. Therapieverlauf. Bereits nach zwei Wochen war im Ver-
gleich zur Baseline-Erhebung eine deutliche Besserung in der Häufigkeit und Intensität aller drei Zielverhalten in der Schule zu beobachten. Stattdessen war zunächst ein leichtes Ansteigen von stereotypem Verhalten im Klassenraum zu vermerken, das aber später ohne zusätzliche Strategien wieder abnahm. Nachdem die Intervention im Großen und Ganzen in der Schule einen sehr günstigen Verlauf nahm, wurde zu diesem Zeitpunkt ein sehr ähnliches Interventionsprogramm zu Hause initiiert. Diesem Therapieabschnitt, der insgesamt vier Monate dauerte und der alle drei Wochen adjustiert wurde, folgten in den nächsten zwei Jahren noch weitere Interventionsabschnitte, die von individuellem Kommunikationstraining unter Verwendung von Symbolen (vorwiegend über operante Techniken wie Verstärkung, Stimuluskontrolle und Verstärkerausblendung) bis hin zum Erwerb von angemessenem Leistungsverhalten (mittels Modell-Lernen und stellvertretender Verstärkung) reichten. Auch in diesem Abschnitt, der den Aufbau und die Stärkung sozialer Kompetenzen zum Gegenstand hatte, konnte das Behandlungsziel in einem befriedigenden Ausmaß erreicht werden.
Zusammenfassung Intellektuelle Beeinträchtigung, ein abweichendes, chronisches Entwicklungsphänomen, das im Kindes- und Jugendalter beginnt, wird durch mangelnde intellektuell-kognitive Kompetenzen und reduzierte sozial-adaptive Fähigkeiten charakterisiert. Intellektuelle Beeinträchtigung wird durch verschiedene biologische und psychosoziale Faktoren verursacht. Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung sind besonders anfällig für verschiedenste Arten von Erkrankungen und Beeinträchtigungen, wie Epilepsien oder Zerebralparese und unter anderem auch für Psychopathologien in Form schwerer Verhaltensauffälligkeiten. Dabei zeigen sich Verhaltensprobleme häufig als die Barriere in Zusammenhang mit Inklusion und Partizipation für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung, Ziele, die sich unsere Gesellschaft für diese Personengruppe gesetzt hat. In diesem Kontext kommt effektiven Behandlungsmaßnahmen für entsprechende Verhaltensprobleme eine spezielle Bedeutung
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Kapitel 22 · Intellektuelle Beeinträchtigung
zu. Angesichts der meist mangelnden verbalen Kommunikationsfähigkeit bei vielen Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung setzen sich verhaltenstherapeutische Interventionen weitgehend aus operanten Komponenten zusammen. Besondere Bedeutung für die Indikation kommt der funktionalen Verhaltensanalyse zu. Andere Formen der Intervention, wie kognitive Methoden und Psychopharmakologie, finden häufig komplementäre Anwendung.
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Kapitel 22 · Intellektuelle Beeinträchtigung
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23
23 Stottern Peter Fiedler
23.1
Einleitung
– 368
23.2
Darstellung der Sprechstörung
23.2.1 23.2.2 23.2.3 23.2.4
Sprechsymptomatik – 368 Begleitsymptomatik – 368 Prävalenz und Verlauf – 369 Die sozial-situative Variabilität des Stotterns
23.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
23.3.1 23.3.2 23.3.3
Das Entwicklungsstottern und die Kontinuitätshypothese Neuropsychologische Determinanten – 370 Sozial-kognitive Determinanten – 370
23.4
Diagnostik – 371
23.5
Therapeutisches Vorgehen
23.5.1 23.5.2 23.5.3
Frühbehandlung des Stotterns im Vorschulalter – 373 Behandlung des Stotterns in den ersten Schuljahren – 374 Behandlung jugendlicher und erwachsener Stotternder – 375
23.6
Fallbeispiel
23.7
Empirische Belege
23.8
Ausblick
– 377 – 379
– 379
– 380
Weiterführende Literatur
– 369
– 369 – 369
– 372
Zusammenfassung – 379 Literatur
– 368
– 380
368
Kapitel 23 · Stottern
23.1
23
Einleitung
Das Stottern hat seinen Mythos verloren. Die vergangenen 30 Jahre gelten, was die Fortschritte in der Erforschung der Sprechstörung und die Entwicklung erfolgreicher Behandlungsansätze angeht, als ausgesprochen produktiv. In dieser Zeit sind die Kenntnisse über Verursachung, Verlauf und Behandlung des Stotterns enorm angewachsen (vgl. ausführlich Fiedler u. Standop 1994; Bossardt 2007). Aufgrund eines inzwischen weltweit akzeptierten biopsychosozialen Ätiologieverständnisses und der sich daraus ergebenden therapeutischen Zielsetzungen erscheinen heute mehrdimensionale Behandlungskonzepte folgerichtig. Diese Entwicklung erscheint vor allem im Hinblick auf Langzeiteffekte erfolgversprechend wie auch für zukünftige Entwicklungen ermutigend. Eine zunehmende Zahl besser kontrollierter Langzeittherapiestudien lassen die Unterschiede zwischen einzelnen Therapieansätzen deutlicher hervortreten und damit die Möglichkeiten für eine sinnvolle Integration unterschiedlicher Behandlungsschwerpunkte genauer bestimmen. Nachfolgend werden diese neueren Entwicklungen überblicksartig dargestellt.
23.2
Darstellung der Sprechstörung
! Stottern ist eine auffallend häufige Unterbrechung des Sprechablaufs. Es ist charakterisiert durch ein plötzliches Stocken vor dem Wort, einer Silbe oder einem Phonem. Es kommt zu Verzögerungen, Dehnungen und Verkürzungen bei der Aussprache einzelner Buchstaben sowie zu Wiederholungen von Wort- und Satzteilen.
23.2.1 Sprechsymptomatik
In Forschung wie Praxis werden je nach Art der Unterbrechungen im Redefluss die Stottersymptome entweder als klonische oder als tonische Störungen bezeichnet. Klonisches Stottern ist charakterisiert durch kürzere, rasch aufeinanderfolgende Kontraktionen der Sprechmuskulatur. Es kommt zu typischen »hämmernden« Wiederholungen von (zumeist) Lauten und Silben sowie (seltener) Wörtern (wie z. B. »k-k-kk-kommen«), denen gelegentlich Wortdehnungen folgen können (wie z. B. »Hand-t-t-t-t-tuuuuch«). Tonisches Stottern ist dagegen gekennzeichnet durch relativ lang andauernde Verkrampfungen der Sprechmuskulatur und z. T. heftigen Pressversuchen in der Absicht, unbedingt das begonnene Wort oder die nächste Silbe herausbringen zu wollen (z. B. »– – Pause«; »Poli – – tik«). Die Verkrampfungen halten oft lange an und werden nur mit großer Anstrengung aufgehoben. Gelegentlich kommen deutlich hörbare Glottisanschläge vor, also ein »knatterndes« Geräusch, das durch das Aufeinanderschlagen der Stimmbänder verursacht wird.
Klonisches und tonisches Stottern können sowohl getrennt als auch kombiniert auftreten. Überwiegt eine der beiden Symptomatiken, spricht man bei vermehrtem klonischen von klonisch-tonischem und bei vermehrtem tonischen von tonisch-klonischem Stottern. Das klonische Stottern gilt als die ursprünglichere Form der Sprechstörung und ähnelt in vielem dem sog. Entwicklungsstottern, das die meisten Kinder in der Zeit des Sprechenlernens zeigen. Das tonische Stottern gilt bereits als fortgeschrittener (früher kurzzeitig erfolgreicher, später zunehmend erfolgloser, wenngleich zunehmend verfestigter) Bewältigungsversuch des klonischen Stotterns.
23.2.2 Begleitsymptomatik
Auch die Begleitsymptomatik tritt erst im Verlauf der Stotterentwicklung zum Symptombild hinzu. Es ist nämlich eine gut beobachtbare Eigenart des Stotterns, dass sich spontane Verbesserungen zeigen, wenn Stotternde auf eine neue, für sie bisher ungewohnte Art sprechen. Das paradoxe Schicksal dieser neuen Sprecheigenarten, die die Stotternden zeitweilig als spontane Sprechhilfen weiterbenutzen, ist es jedoch, dass sie mit zunehmender Routine ihre ursprüngliche Wirksamkeit mehr und mehr einbüßen, ohne dass der Stotternde sie deshalb aufgibt. Zu solcherart Begleitsymptomatik gehören einerseits sog. Mitbewegungen (auch Parakinesen genannt). Es handelt sich dabei um unübliche Bewegungen von Gesichtsund Halsmuskulatur, der Extremitäten oder des ganzen Körpers, die gleichzeitig mit dem Sprechen ausgeführt werden, um das Sprechen zu erleichtern. Aus dem gleichen Grund kann es bei Stotternden auch zum Fehlen einer sprachbegleitenden Mimik, Gestik oder Gebärdensprache kommen. Die von Stotternden häufiger als von Normalsprechenden verwendeten Flicklaute oder Flickwörter (auch Embolophonien oder Embolophrasien genannt), wie z. B. »hmmm«, »also jedenfalls«, »woll’n mal sagen« usw. oder andere eingeschobene Zwischenlaute dienen ebenfalls als Sprech-(Start-)Hilfen und sollen den Eindruck fließenden Sprechens vermitteln. Die Begleitsymptome oder (besser:) Sekundärsymptome treten mehr oder weniger automatisiert auf. Man kann sogar soweit gehen zu sagen, dass sich das ausgeprägte Symptombild eines erwachsenen Stotternden fast ausschließlich aus Begleit- bzw. Sekundärsymptomen zusammensetzen dürfte. Je nach der individuellen Art und Dauer ihrer Entwicklung besitzen die Begleitsymptome eine mehr oder weniger ausgeprägte Änderungsresistenz. Es ist jedoch auch nicht gerade selten beobachtbar, dass Stotternde – wenn sie über die Funktionslosigkeit der Sekundärsymptomatik aufgeklärt werden oder wenn sie sich beim Anschauen ihres Sprechverhaltens in einem Videofilm von der Nutzlosigkeit der Begleitsymptome selbst überzeugen konnten – die gesamte Begleitsymptomatik spontan aufge-
369 23.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
ben und dann zumeist zu einem »reinen« klonischen Stottern zurückkehren.
23.2.3 Prävalenz und Verlauf
Stottern ist eine typische Sprechstörung des Kindesalters, da es nur sehr seltene Fälle gibt, in denen es sich erstmals nach der Pubertät oder im Erwachsenalter manifestiert. In 98% der Fälle beginnt Stottern vor dem 10. Lebensjahr, und die Prävalenzschätzungen für die Häufigkeit des Auftretens in dieser Zeit reichen von 2 bis 4%, mit den höchsten Angaben in den Vorschuljahren. Andererseits bleibt zu beachten, dass auch die Zahl der Remissionen beträchtlich ist: Bis zu 80% der stotternden Kinder verlieren die Störung im Verlauf ihres Lebens vollständig, und bei vielen Betroffenen remittiert das Stottern spontan, meist vor dem 16. Lebensjahr. Mit zunehmendem Alter wird die Wahrscheinlichkeit für eine Spontanremission immer geringer. Die Prävalenz im Erwachsenenalter wird auf 0,6–0,8% geschätzt (Fiedler u. Standop 1994). Eine spontane Besserung scheint von einigen Eigenarten des Symptombildes abzuhängen. So ist die Art der Sprechschwierigkeiten bedeutsam. Reine Silbenwiederholungen (klonisches Symptombild) gelten als prognostisch günstiger als Blockierungen (tonisches Stottern). Weiter haben jene eine günstigere Prognose, die sich nicht mit ihrer Sprechstörung abfinden, sondern aktiv von sich aus etwas dagegen unternehmen. Es gilt inzwischen als sicher, dass die Remissionsrate weiter gesteigert werden könnte, wenn Kinder möglichst frühzeitig und angemessen in diesem Bemühen (therapeutisch) unterstützt würden. Eine genaue Kenntnis der nachfolgend dargestellten Bedingungen für Aufrechterhaltung wie Veränderung des Stotterns kann diesen Prozess erheblich verbessern helfen.
23.2.4 Die sozial-situative Variabilität des Stotterns
Es gibt eine Reihe situativer, vor allem sozialer Bedingungen, bei denen eine erhebliche Verminderung oder sogar das völlige Fehlen von Symptomen beobachtbar ist. Hierzu gehören das Sprechen von Nonsens-Sätzen und sinnlosen Silben, hin und wieder das Zählen oder Buchstabieren, bei fast allen Stotternden auch das Singen oder Sprechen im Chor. Es bereitet den Stotternden im Allgemeinen keine Schwierigkeiten, mit sich selbst zu sprechen sowie sich als Erwachsener mit Kindern oder als Kind bzw. Erwachsener mit Tieren zu unterhalten. Auch die Sprechweise anderer Personen nachzuahmen oder anderen Personen nachzusprechen fällt den Stotternden relativ leicht. ! Allen diesen die Symptomatik mindernden Bedingungen ist eigen, dass die Wichtigkeit der Sprache als Kommunikationsmittel reduziert ist.
Normalerweise steigt die Stotterhäufigkeit mit der selbst eingeschätzten oder erlebten Wichtigkeit oder Schwierigkeit der jeweiligen Situation, in der Stotternde zu sprechen beabsichtigen oder möglichst fehlerfrei sprechen möchten. Besondere Schwierigkeiten bereitet deshalb das Sprechen mit Autoritäten oder vor einer großen Zuhörerzahl. Bloodstein (1987) spricht im Zusammenhang mit diesem Phänomen von subjektiv erlebter kommunikativer Verantwortlichkeit. Er meint damit, dass es für das Auftreten und die Schwere des Stotterns wesentlich ist, wie sich das aktuelle Sprechenwollen oder Sprechenmüssen in seiner Anspruchsetzung und Bedeutung für den Stotternden selbst kognitiv strukturiert, ob sich die soziale Kommunikationssituation subjektiv als leicht oder schwierig, als bekannt oder unbekannt, als wichtig oder unwichtig darstellt. Eng damit zusammen hängt die Beobachtung, dass das Stottern sich in dem Maße zu verfestigen bzw. zu verkomplizieren scheint, wie sich bei den betroffenen Kindern ein Störungsbewusstsein manifestiert.
23.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Die Geschichte der Versuche, das Stottern theoretisch aufzuklären, ist lang und voller Kontroversen. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts gab es zwei große Trendwenden. In den 1930er Jahren standen sprechphysiologische Erklärungen im Vordergrund. Seit Mitte der 1940er Jahre dominierten psychologische, vor allem lerntheoretische Erklärungsansätze. Mit Beginn der 1970er Jahre schlug das Pendel erneut zurück. Verbesserte psychophysiologischer Untersuchungsmethoden führten zu einem neuen Boom neurobiologischer Ursachenkonzepte. Gegenwärtig ist eine Beruhigung eingetreten. Inzwischen spricht vieles für die Richtigkeit beider (der lerntheoretischen wie der neurobiologischen) Positionen, und entsprechend wird das Stottern heute mit Hilfe integrierender biopsychosozialer Perspektiven erklärt. Eine dieser integrativen Erklärungsperspektiven, die mit Blick auf die Behandlung vor allem kognitiv-verhaltenstheoretische Aspekte betont, soll im Folgenden dargestellt werden (vgl. Fiedler 1992, 1993). Es gibt jedoch eine Reihe alternativer Ansätze, die etwas andersgelagerte Schwerpunkte setzen (zusammenfassend: Fiedler u. Standop 1994).
23.3.1 Das Entwicklungsstottern
und die Kontinuitätshypothese Entwicklungsstottern ! Etwa 80% aller Kinder durchlaufen vom 2. bis 4. Lebensjahr eine Phase des auffällig abweichenden Sprechens. Die dabei auftretenden Sprechauffälligkeiten dieser Kinder werden für diese Altersstufe als normal betrachtet und sind vorrangig durch Laut-, Silben- und Wortwiederholungen charakterisiert.
23
370
23
Kapitel 23 · Stottern
Diese altersbedingten Sprechunflüssigkeiten werden üblicherweise als Entwicklungsstottern bezeichnet. Erklärt wird das normale Entwicklungsstottern am besten mit der Annahme einer noch nicht vollständig erreichten Autoregulation des Sprechens (Fiedler 1992). So benötigt das Kind beim Sprechenlernen zunächst akustische Rückmeldungen zur bewussten Einübung und Kontrolle des eigenen Sprechens. Die akustischen Rückmeldungen werden im Verlauf der Sprechentwicklung umso weniger bedeutsam, wie das Sprechvermögen und die Sprechroutine zunehmen. Die spätere Kontrolle des Sprechvorgangs erfolgt dann in aller Regel nicht mehr durch eine bewusste akustische Überwachung, sondern autoregulativ, und zwar durch eine propriozeptive und kinästhetische Regulation der Sprechprozessierung (durch Oberflächen- und Tiefensensibilität aus Berührungs- und Bewegungsempfindungen in den Sprechorganen). Das Entwicklungsstottern wird damit erklärt, dass es in der Zeit des Sprechenlernens zu Irritationen kommt, weil bewusste und autoregulative Kontrollvorgänge interferieren. Es kann heute als weitgehend gesichert gelten, dass das Entwicklungsstottern zurückgeht, wenn die Autoregulation des Sprechvorgangs hergestellt ist.
Kontinuitätshypothese Das pathologisch-symptomatische Stottern beginnt bei den meisten Kindern ebenfalls in dieser Lebensphase, weshalb viele Forscher vermuten, dass sich die Sprechstörung aus dem Entwicklungsstottern heraus entwickelt oder entwickeln kann (sog. Kontinuitätshypothese). Dabei wird das beginnende symptomatische Stottern als ein Versuch des Kindes, das normale Entwicklungsstottern mittels Selbstkontrolle zu überwinden, interpretiert. Der Übergang zum symptomatischen Stottern stelle sich vor allem dadurch ein, dass es zusätzlich zu einem Störungsbewusstsein komme, in dessen Folge die Angst vor Sprechfehlern zunehme und damit die Interferenzen zwischen willentlicher Kontrolle und Autoregulation des Sprechens erhalten blieben. Es ist nach wie vor nicht ganz geklärt, ob diese Perspektive richtig ist. Es gibt jedoch einige eindeutige Merkmale, die zumindest für die teilweise Richtigkeit einer solchen Erklärung sprechen und die zugleich geeignet sind, schon sehr früh die symptomatischen Sprechunflüssigkeiten des Stotterns von normalen Sprechauffälligkeiten des Entwicklungsstotterns zu unterscheiden (Ainsworth 1979; Gregory 1980): 4 Das Alter des Kindes liegt über 4 Jahre; 4 es bestehen Lautveränderungen am Wortanfang; 4 Silbenwiederholungen, die auf einem »dumpfen e« enden, wie z. B. »Be-be-bilderbuch« (Entwicklungsstottern wäre: »Bi-bi-Bilderbuch«); 4 Zittern von Unterkiefer und Lippen; 4 beschämt sein wegen des Stotterns als beginnendes Störungsbewusstsein; 4 Angst vor dem Aussprechen bestimmter Wörter; 4 Vermeidungsverhalten in Gesprächen.
23.3.2 Neuropsychologische Determinanten
Die Kontinuitätshypothese des Stotterns wird heute als nicht hinreichend betrachtet. Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass weitere, vor allem neuropsychologische Faktoren für die Entstehung des Stotterns mitverantwortlich sind. Folgende Befunde sind beachtenswert: Anhand der Untersuchungen aus der Zwillingsforschung und aus dem gehäuften Auftreten der Störung in bestimmten Familiengenerationen sowie auch aufgrund der ungleichen Verteilung unter den Geschlechtern (Jungen stottern etwa viermal so häufig wie Mädchen) lässt sich nicht ausschließen, dass eine erbliche Komponente eine Voraussetzung für das Stottern darstellt (Kidd et al. 1980; Howie 1981). Demnach gibt es Kinder, die mit weniger günstigen Voraussetzungen ausgestattet sind, ihre Sprechfähigkeiten im durchschnittlich gegebenen Ausmaß zu entwickeln. Es gibt offensichtlich sprechphysiologische Kapazitätsmängel, die in besonderer Weise das Stottern begünstigen können. Zum Beispiel fällt die Zeit des Sprechenlernens mit der Zeit der Spezialisierung der Hirnhemisphären für die Sprache zusammen. Dieser Prozess der Übernahme der aktiven Rolle im Sprachproduktionsprozess durch die linke Hemisphäre (nur gelegentlich durch die rechte Hemisphäre) ist nicht vor dem 5. Lebensjahr abgeschlossen. ! Zahlreiche Forschungsbefunde sprechen inzwischen dafür, dass eine nicht vollständig abgeschlossene Lateralisierung (also die nichtgelungene Sprachdominanz einer Hemisphäre) zu den möglichen Verursachungsmomenten des Stotterns zählen kann. Zumindest für eine jeweils größere Untergruppe von Stotternden lässt sich eine sog. Hemisphärenambivalenz für Sprache und Sprechprozessierung eindeutig nachweisen (Moore u. Haynes 1980; zusammenfassend: Fiedler u. Standop 1994). Überhaupt weist die in die Zeit des Spracherwerbs fallende neuronale Entwicklung (Dendritenausbildung; Myelinisation usw.) auf mögliche Wechselbeziehungen zwischen anatomisch-physiologischen Veränderungen und Stottern hin (Adams 1982).
23.3.3 Sozial-kognitive Determinanten
Insgesamt bleibt jedoch zu bedenken: Auch wenn man die neurobiologischen Grundlagen des Stotterns zukünftig weiter aufklären kann, bleibt die Hypothese bedeutsam, dass das Stottern eine psychologische Störung des Sprechens ist. Stotternde Kinder, Jugendliche wie auch Erwachsene können nämlich auch fließend sprechen. Das Stottern schwankt erheblich in Abhängigkeit von den psychosozialen Anforderungen, die im privaten, schulischen oder beruflichen Bereich an das Sprechen gestellt werden (situative Variabilität). Je mehr der Stotternde selbst versucht, seine Sprechmotorik
371 23.4 · Diagnostik
willentlich zu beeinflussen und zu steuern (subjektive Kommunikationsverantwortlichkeit), umso schwieriger gestaltet sich die Aussprache. Vielleicht haben die Kontinuitätstheoretiker dann recht, wenn man in Rechnung stellt, dass es eine besondere neuropsychologische Prädisposition zum Stottern gibt, die die Störungsbereitschaft über die Zeit des normalen Entwicklungsstotterns hinaus virulent hält. Das sichtbare symptomatische Stottern wäre im Sinne dieser Auffassung eine bewusste Störung oder Behinderung der Autoregulation des Sprechens bei gegebener Prädisposition (Diathese-Stress-Modell als Erklärungshintergrund). Offensichtlich setzt flüssiges Sprechen die Autoregulation voraus (Fiedler 1993).
Kapazitätenmodell Den qualitativen »Sprung« vom Entwicklungsstottern zum symptomatischen Stottern und evtl. zum Stottern besonders veranlagter Kinder erklärt sich heute am besten mit dem sog. Kapazitätenmodell (Starkweather 1987). Dieses Modell macht folgende Grundannahmen: 4 Wachsende Fertigkeiten (oder Kapazitäten) eines Kindes, fließend zu sprechen, gehen einher mit äußeren und selbst gesetzten Anforderungen an eben diese Fertigkeiten, fließend zu sprechen. 4 Sind die Sprechfertigkeiten entwicklungsabhängig weiter ausgebildet, als dies die jeweiligen Anforderungen erwarten, dann spricht das Kind fließend. 4 Erfüllen die vorhandenen Sprechkapazitäten nicht die jeweils vorhandenen Ansprüche (evtl. wegen neuropsychologischer Defizite, z. B. Hemisphärenambivalenz für Sprechprozessierung), kommt es zum Stottern. ! Aufgrund recht konvergenter Forschungsergebnisse scheinen es Selbstüberforderungen der eigenen Sprechkapazitäten zu sein, die das symptomatische Stottern mitbedingen.
Der Weg zur Überwindung prädisponierter Sprechunflüssigkeiten wird von den meisten stotternden Kindern wie später auch von den Jugendlichen und Erwachsenen nicht in einer kapazitätsangemessenen Verlangsamung gesucht, sondern in einer Forcierung der Artikulation, was nun gerade eine Überforderung der gegebenen Möglichkeiten beinhaltet (Starkweather 1987). Und genau das ist zugleich auch mit »Störung der Autoregulation« gemeint. Auch die Bedingungen der situativen Variabilität des Stotterns sind inzwischen gut geklärt: Je nach gegebener sozialer Anforderung wechselt der Stotternde zwischen nichtbewusster Autoregulation und bewusster Motorikkontrolle hin und her (vgl. Fiedler u. Standop 1994).
23.4
Diagnostik
Die systematisierten Kriterien des Stotterns im DSM-IVTR (APA 2000), die üblicherweise in der Forschung Ver-
wendung finden, sind in der folgenden Übersicht wiedergegeben. In der ICD-10 (F98.5) wird die Sprechstörung grob folgendermaßen charakterisiert (WHO 1993, S. 322): Stottern ist ein Sprechen, das durch häufige Wiederholung oder Dehnung von Lauten, Silben oder Wörtern, oder durch häufiges Zögern und Innehalten, das den rhythmischen Sprechfluss unterbricht, gekennzeichnet ist.
Diagnostische Kriterien für Stottern im DSM-IV-TR (307.0; APA 2000, S. 102) A. Eine dem Alter der Person unangemessene Störung des normalen Redeflusses und des Zeitmusters beim Sprechen, die durch häufiges Auftreten von mindestens einem der folgenden Kriterien charakterisiert ist: 1. Wiederholungen von Lauten und Silben 2. Lautdehnungen 3. Einschieben von Lauten und Silben 4. Wortunterbrechungen (z. B. Pausen innerhalb eines Wortes) 5. Hörbares oder stummes Blockieren (z. B. ausgefüllte oder unausgefüllte Sprechpausen) 6. Umschreibungen (Wortsubstitutionen, um problematische Wörter zu umgehen) 7. Unter starker physischer Anspannung geäußerte Wörter 8. Wiederholungen einsilbiger ganzer Wörter (z. B. »Ich geh, geh, geh weg«) B. Die Redeflussstörung behindert die schulischen bzw. beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation. C. Liegt ein sprechmotorisches oder sensorisches Defizit vor, sind die Sprechschwierigkeiten wesentlich größer als diejenigen, die gewöhnlich bei diesen Problemen auftreten. Codierhinweis: Liegt ein sprechmotorisches oder sensorisches Defizit oder ein neurologischer Krankheitsfaktor vor, werden diese auf Achse III codiert.
Verlaufs- und Erfolgsdiagnostik: das Balbutiogramm Zur Verlaufs- und Ergebniskontrolle der Behandlung des Stotterns wird insbesondere in der Behandlung älterer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener wiederholt ein sog. Balbutiogramm erhoben. Es sollte Sprechproben aus Situationen enthalten, die einen möglichst großen Bereich alltäglicher Belastungen abdecken. Unterschiedliche Möglichkeiten dazu (einschließlich Fragebögen zur sozialen Kompetenz und Kommunikationsverantwortung in Situationen) sind ausführlicher bei Fiedler und Standop (1994) sowie bei Bossardt (2007) dargestellt. Die standardisierten Aufgaben eines Balbutiogramms bilden üblicherweise eine
23
372
Kapitel 23 · Stottern
Hierarchie ansteigender Schwierigkeit; dabei hat sich zu Vergleichszwecken nachfolgend dargestelltes Vorgehen in Praxis und Forschung etabliert.
23
Automatisches Sprechen. Dieses beinhaltet z. B. die Aufforderung, nacheinander in der üblichen Sprechgeschwindigkeit und Sprechweise die Tage der Woche zu benennen. Entsprechende Instruktionen folgen für die Monate des Jahres und für die Zahlen von 21 bis 40. Beim automatischen Sprechen ist der Planungsaufwand des Stotternden am geringsten, weil stark überlernte Sequenzen gesprochen werden. Dementsprechend indizieren Sprechunflüssigkeiten bei dieser Aufgabe ausgeprägtere Probleme mit der motorischen Koordination von Sprechbewegungen. Die Stotterrate wird in Prozent angegeben (für die Wochentage und Monate = Gesamtzahl Stottern/19×100; für die 20 Zahlen = Gesamtzahl Stottern ×5). Zusätzlich wird die Zeit in Sekunden festgehalten, die der Stotternde benötigt. Sätze nachsprechen. Es werden zehn Sätze, die zehn Worte
enthalten, vorgelesen. Diese sollen in der üblichen Sprechweise und Sprechgeschwindigkeit wiederholt werden. Es sind also Inhalte und Laute vorgegeben, die kognitiv höhere Verarbeitungsanforderungen implizieren. Fällt die Stotterrate höher als beim automatischen Sprechen aus, sind höhere Gedächtnisleistungen durch das Stottern beeinträchtigt. Es wird wiederum die Gesamtzeit dieser Übung festgehalten sowie die Prozentzahl gestotterter Worte ermittelt (= Summe gestotterter Worte). Lesen. Ein vorgegebener Text von ca. 400 Worten soll in normaler Sprechweise und Sprechgeschwindigkeit vorgetragen werden. Der Grad der Informationsverarbeitung ist wiederum höher als beim Nachsprechen (Stotterrate = gestotterte Worte/Gesamtzahl Worte im Text ×100). Freies monologisches Sprechen. Dazu werden üblicherweise zwei Aufgaben vergeben. Zunächst soll eine mindestens 400 Worte umfassende Textstelle frei nacherzählt werden; anschließend soll eine alltägliche vertraute Situation frei geschildert werden. Es werden durchschnittliche Stotterraten pro Zeiteinheit in Minuten geschätzt. Zusätzlich wird eine Schätzung der Dauer der drei längsten Blocks vorgenommen (in Sekunden; durch stilles Mitzählen des Diagnostikers). Mitbewegungen und Grimassen. Auch die Schwere der Parakinesen sollte im Balbutiogramm erfasst werden. Dies geschieht unter vier Aspekten: 4 Geräusche wie Atmungs-, Pfeif-, Blasgeräusche oder hörbare Glottisanschläge; 4 Grimassen im Gesicht als sprunghafte Bewegungen des Kinns, Zunge vorschnellen, Lippen aufeinanderpressen; Anspannung der Kaumuskulatur;
4 auffällige Kopfbewegungen vorwärts, seitwärts, rückwärts; geringer Augenkontakt oder konstantes Herumschauen; 4 Bewegungen der Extremitäten, der Arme, Hände, Beine oder des Rumpfes oder auch rhythmische Hand- und Fußbewegungen. Eingeschätzt wird jeweils nach folgender Skala: 0= fehlen; 1= kaum merklich; 2= erkennbar; 3= deutlich erkennbar; 4= sehr deutlich erkennbar und ablenkend; 5= sehr schwer und quälend anzuschauen. Weitere Aspekte. Es gibt wenige Stotternde, bei denen die
Stotterrate beim Lesen höher als beim freien Sprechen ist. Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass der Sprecher beim freien Sprechen Worte oder Laute vermeidet oder ersetzt und deshalb beim freien Sprechen weniger stottert als beim Lesen. Wenn jedoch umgekehrt die Stotterrate beim freien monologischen Sprechen höher als beim lauten Lesen ist, deutet dies darauf hin, dass das Stottern durch die kognitiven oder motorischen Planungsprozesse beim freien Sprechen beeinflusst wird.
23.5
Therapeutisches Vorgehen
Angesichts der hohen (Spontan-)Remissionsrate im Kindesalter wird schon seit Jahren heftig darüber diskutiert, wann in der (frühen) Kindheit mit einer professionellen Behandlung begonnen werden sollte (vgl. Curlee u. Yairi 1997, die das bis dahin vorhandene empirische Wissen einer kritischen Analyse unterzogen haben). Dabei lassen sich zwei Positionen unterscheiden: a) Nichtbeachten einer Stottersymptomatik in den ersten Jahren nach Störungsbeginn, u. a. weil sich in der Phase des normalen Entwicklungsstotterns und in der Zeit zwischen dem 2. und 6. Lebensjahr selbst bei bereits symptomatischem Stottern die meisten Spontanremissionen beobachten lassen. b) Beginn einer Therapie möglichst unmittelbar nach Störungsbeginn (bemerkbar u. a. am zunehmenden Störungsbewusstsein und beginnender tonischer Stottersymptomatik). Die unmittelbare Frühbehandlung des Stotterns (bereits im Vorschulalter) wurde deshalb vertreten, weil aus therapeutischen Einrichtungen fast ausschließlich positive Wirkungen berichtet wurden (zumeist stichprobenartige Nachbefragungen bei den Eltern). Dennoch war lange Zeit mangels kontrollierter Studien nicht sicher, ob es sich bei den berichteten »Erfolgen« nicht schlicht um Spontanremissionen handelte. Inzwischen liegen einige Prospektivstudien über Entwicklungen früh im Vorschulalter behandelter vs. nicht früh behandelter stotternder Kinder vor (Onslow et al. 1994; Yairi et al. 1993). Die Ergebnisse sind nach wie vor schwer zu interpretieren. Einerseits scheint
373 23.5 · Therapeutisches Vorgehen
sich die Zahl der Spontanremissionen unbehandelter Gruppen und der »dauerhaften« Erfolge in früh behandelten Gruppen in der Schulzeit erneut auszugleichen. Andererseits wurden keine negativen Wirkungen der Frühbehandlung von Vorschulkindern gefunden. Ableiten könnte man aus den Befunden, dass sich erwartbare Spontanremissionen durch eine Frühbehandlung beschleunigen lassen. Dabei scheint es zudem recht unerheblich zu sein, welches Therapiekonzept die Therapeuten ihrer Behandlung zugrunde legen.
23.5.1 Frühbehandlung des Stotterns
im Vorschulalter Hierüber besteht inzwischen Konsens: Die Nichtbeachtung frühkindlichen Stotterns gilt inzwischen ausdrücklich als kontraindiziert. Symptomatisches Stottern führt bei Kindern selbst zu einem Störungsbewusstsein, und das Stö-
rungsbewusstsein gilt, wie dargestellt, als aufrechterhaltende und die Störung chronifizierende Bedingung. Weiter wird es inzwischen als unethisch und unverantwortlich angesehen, die sich im Störungsbewusstsein ausdrückenden Sorgen und Ängste der Kinder nicht zu beachten. Wertschätzung und Respekt gelten schließlich auch gegenüber Sorgen und Befürchtungen, die von Eltern stotternder Kinder vorgetragen werden. Entsprechend dürfte heute die Empfehlung von Starkweather (1997) die meiste Zustimmung finden, bei Leidensdruck der Vorschulkinder und/ oder Behandlungswunsch der Eltern ein Behandlungsangebot selbst dann zu machen, wenn es – etwa angesichts der Auffälligkeiten eines normalen Entwicklungsstotterns – noch nicht zwingend notwendig erscheint. Mit den nachfolgenden Vorschlägen folgen wir Empfehlungen, wie sie sich bei unterschiedlichen Autoren recht übereinstimmend ausgearbeitet finden (z. B. Fiedler u. Standop 1994; Starkweather 1997; Onslow et al. 1994; Guitar 1998).
Behandlung frühkindlichen Stotterns Bereits eine sorgsame Aufklärung der Eltern über Entwicklungsstottern, symptomatisches Stottern, Spontanremissionen usw. kann erheblich zur Entspannung in der Familie und zu einem sicheren Umgang der Eltern mit dem Kind beitragen. Kinder in der Vorschulzeit haben eine Vielfalt von motorischen Handlungen zu erlernen, und es dauert gelegentlich lange, bis diese automatisch ablaufen, wie beispielsweise das Radfahren. Und sie bedürfen dafür tatkräftiger Unterstützung der Eltern. Warum sollte es beim Sprechenlernen anders sein?
Elternberatung. Die therapeutische Arbeit mit den Eltern ist deshalb integraler Bestandteil einer Frühbehandlung des Stotterns. Sie hat das Ziel, die Bedingungen, unter denen das Kind spricht, zu erleichtern und das Verhältnis zwischen dem Kind und den Bezugspersonen insbesondere in der zwischenmenschlichen Kommunikation zu verbessern. Insofern sollten sie an Therapiesitzungen teilnehmen, in denen Therapeuten/Logopäden mit den Kindern flüssiges Sprechen einüben, um die Übungen dann zuhause fortzusetzen und in den Lebensalltag zu übertragen. Inhaltliche Mitteilungen sind wichtiger als richtige Aussprache. Es geht darum, die Aufmerksamkeit von der Selbstkontrolle des Sprechens weg auf die Inhalte zu lenken (Therapeut/Eltern zeigen ein geduldiges Interesse an Inhalten und gehen auf diese inhaltlich ein). Für jede Bezugsperson (Angehörige, Freunde) können wichtige Botschaften ausgedacht und dann mitgeteilt werden. Dabei kann später zusätzlich eingeübt werden, genau darauf zu achten, ob und wie die Botschaften bei anderen ankommen und was genau diese antworten.
Verlangsamung des Sprechens. Viele Kinder stottern, weil sie ihre Botschaften zu schnell und aufgeregt loswerden möchten. Kinder erweisen sich als ausgesprochen kreativ, wenn man mit ihnen gemeinsam überlegt, wie man anstatt »schnell« auf vielfältige andere Weise »langsamer und damit flüssiger« werden kann (z. B. nicht gleich alles erzählen, neugierig machen, rhythmisch oder mit Gestik sprechen, zum Gesprochenen die passende Mimik finden, eventuell zunächst in Pantomime spielerisch einüben usw.). Diese Übungen sollten so beschaffen sein, dass sie die Aufmerksamkeit vom Sprechen weg auf andere Aspekte lenken. Sie sollten zunächst möglichst einfache Aufgaben enthalten, wie z. B. anfangs nur Ein-Wort-Antworten auf Fragen, um erst dann graduiert die Antworten in der Länge und Komplexität auszuweiten. In manchen Familien kann es hilfreich sein, zeitweilig hilfreiche Kommunikationsregeln einzuführen (wie z. B. dass erst geantwortet werden darf, wenn der andere seinen Beitrag vollständig zu Ende gebracht hat). Schüchternheit überwinden. Um ein bereits auffälliges Rückzugsverhalten oder beginnende Schüchternheit in Kommunikationssituationen zu überwinden, hat es sich als besonders hilfreich erwiesen, dem Kind möglichst vielfältige Möglichkeiten zu sprechen einzuräumen. Sprechenlernen soll Freude bereiten, Darstellung und Mitteilung durch Sprache Spaß machen, wozu sich vielfältige Sprechspiele anbieten: Kinderreime, Fingerspiele, Kasperletheater und das Nachspielen von Märchen und Geschichten mit verteilten Rollen. Sie sind ohnehin schon Bestandteile des Kinderspiels und deshalb besonders geeignet, nicht nur die Überwindung von Sprechunflüssigkeiten zu erleichtern, sondern Selbstvertrauen und Selbstsicherheit aufzubauen.
23
374
Kapitel 23 · Stottern
23.5.2 Behandlung des Stotterns in den ersten
Schuljahren
23
Sind bis in das Schulalter hinein keine Spontanremissionen beobachtbar, dann steigt das Risiko der Chronifizierung des Stotterns deutlich an. Therapiestudien mit Kindern in der Zeit bis zum 10./11. Lebensjahr kommen zu recht eindeutigen Befunden: Die Behandlungserfolge liegen deutlich über Spontanremissionsraten und sie bleiben auch auf längere Sicht ausgesprochen stabil, wobei Rückfälle jedoch nicht ausgeschlossen werden können bzw. es bei einigen Stotternden nicht gelingt, das Stottern gänzlich zu überwinden. Im Unterschied zu Vorschulkindern wird in dieser Altersspanne insbesondere bei extremer Stottersymptomatik vermehrt auch der Einsatz von Sprechübungen empfoh-
len, deren Wirksamkeit in einer Reihe von Studien abgesichert werden konnte (vgl. Guitar 1997; 1998). Besondere Beachtung verdient, dass Kinder in schulischen Kontexten bereits ungünstige Stigmatisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben könnten, in deren Folge Schüchternheit und soziale Ängste beobachtbar sind. Entsprechend sollten in der Therapie das Vermeidungsverhalten und Schamgefühle der Kinder in sozialen Situationen zunehmend Beachtung finden. Gelegentlich kann es sinnvoll sein, mit der Schulleitung Kontakt zu suchen, um Maßnahmen anzuregen, mit denen eine weitere Ausgrenzung und Stigmatisierung der Betroffenen verhindert werden können. Nachfolgend sind die Schwerpunkte eines Behandlungsansatzes für Kinder im Alter zwischen 6 und 12 angegeben, wie sie ausführlich von Guitar (1998) beschrieben wurden.
Behandlung stotternder Schulkinder Das jeweilige Alter und die jeweilige Ausprägung der Sprachstörung sind in dieser Zeit die wichtigsten Orientierungspunkte für die individuelle Ausgestaltung des therapeutischen Vorgehens.
Mittelpunkt ist das Kind, nicht das Stottern. Insbesondere zum Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung sollte mit dem Kind zu Beginn der Behandlung über dessen allgemeine Interessen gesprochen werden. Die Sprache sollte nicht immer gleich in den Mittelpunkt rücken. Therapeuten sollten dem stotternden Kind erst einmal eine Zeitlang nur zuhören, um Vertrauen in die eigenen kommunikativen Möglichkeiten zu fördern und zu bekräftigen. Gemeinsame Analyse des Stotterns. Eine gewisse Zeit sollte es weiter darum gehen, mit dem Kind die Geheimnisse des eigenen Stotterns aufzuklären. Dazu könnte es nach den bisherigen Erfahrungen befragt werden, was es erlebt, wenn es steckenbleibt, ob es Unterschiede gibt je nach Situation und Gesprächspartner. Die situative Variabilität des Stotterns erlaubt es, spielerische Übungen zu machen, in denen sich das Stottern vermindert (Rhythmussprechen, gleichzeitiges Lesen von Texten usw.). In dieser Phase sollte deutlich werden, dass Therapie kein Zwangsunternehmen gegen das Stottern ist, sondern dass Therapie Spaß und Freude bereiten kann. Ein ausgiebiges Zuhören durch den Therapeuten impliziert automatisch ein Viel-Sprechen des Kindes, was in der Gesamtbehandlung handlungsleitendes Prinzip werden sollte. Für diese Art Zuhörtherapie (»listening therapy«) wurde übrigens von Starkweather (1994) ein sehr lehrreiches Tutorial ausgearbeitet, dem viele weitere Anregungen entnommen werden können.
Flüssigkeitsübungen. Mit Hilfe von Anlautübungen und einer deutlichen Verlangsamung des Sprechens (Vokalund Konsonantendehnungen) lernt das Kind Wörter und Sätze ohne Anspannung zu sprechen. In spielerisch aufgebauten Übungen können Schwierigkeitssteigerungen erfolgen vom schlichten Antworten auf Fragen bis hin zu ausgedehnten Gesprächen beliebigen Inhalts mit dem Therapeuten. Absichtliches Stottern. Eine weitere Möglichkeit zur Entkrampfung des Stotterns ist das sog. willentliche Stottern: Es werden neue Sprechroutinen eingeübt, indem die Stotternden zum bewussten willentlichen Stottern angeregt werden. Diese Übungen haben zumeist eine recht paradoxe angsthemmende Wirkung, da sie der dem Stottern inhärenten Eigenart, krampfhaft nicht zu stottern, entgegenwirkt – zumeist recht erfolgreich, weil dadurch das Stottern häufig misslingt. Auf diese Weise kann auch eine bessere Wahrnehmung und Kontrolle der Sprechmotorik eingeübt werden. Transfer. Alle Übungen sollten zwecks Generalisierung zwischen den Sitzungen im Lebensumfeld fortgeführt werden: mit Eltern, Geschwistern, Gleichaltrigen usw. Mit Eingeweihten kann zunächst auch das willentliche Stottern als Methode nach dem Motto eingesetzt werden: Lieber stotternd reden, als flüssig zu schweigen. Viele Übungen zielen auf mehr Sicherheit in sozialen Situationen: z. B. die Aufklärung von Klassenkameraden über das Stottern; absichtliches Stottern, um Klassenkameraden in Verlegenheit zu bringen. Insgesamt sollte die Bereitschaft des Kindes maximal gefördert werden, das, was es sagen möchte, auch mitzuteilen, egal ob gestottert wird oder nicht.
375 23.5 · Therapeutisches Vorgehen
23.5.3 Behandlung jugendlicher
und erwachsener Stotternder In Abhängigkeit von dem gegebenen Alter sollten Stotternde über den Ätiologieansatz, der einer Behandlung zugrunde liegt, hinreichend aufgeklärt sein. Im fortgeschrittenen Alter kann sich diese Aufklärung durchaus anspruchsvoll gestalten und bei Interesse mit Lektüre wissenschaftlicher Publikationen angereichert werden. Wichtig dabei ist die Erklärung und Demonstration der Zusammenhänge von situativer Variabilität und subjektiver Kommunikationsverantwortlichkeit. In der Konsequenz bedeutet diese Wechselbeziehung nämlich: Stotternde brauchen flüssiges Sprechen nicht neu zu lernen! Sie beherrschen es. Dies kann man den Stotternden selbst eindrücklich durch einige Übungen belegen, die man in der Eingangsphase der Therapie einsetzen kann.
Ein einfaches Beispiel ist die sog. Sprechmaskierung mit dem weißen Rauschen (durch den Therapeuten leicht mittels Tonbandaufnahme des Senderrauschens von ARD oder ZDF nachts nach Sendeschluss oder durch Abkoppeln der Fernsehantenne herstellbar). Über Kopfhörer möglichst laut mit Kopfhörer auf beide Ohren gegeben, führt es in aller Regel dazu, dass Stotternde fließend sprechen, was man zu Demonstrationszwecken dem Stotternden mittels Tonband- oder Videoaufzeichnung wiedergeben kann. Stotternde sind unter den Bedingungen des weißen Rauschens zur Autoregulation des Sprechens gezwungen, weil so eine willentlich-akustische Sprechkontrolle nicht mehr möglich ist (weitere Demonstrationsübungen s. Fiedler u. Standop 1994).
Sprechübungsbehandlung Das nach wie vor wesentliche Element der Stotterbehandlung ist die Sprechübung. Sie hat nicht das Erlernen fehlerfreien Sprechens zum Ziel, sondern die Einübung in ein autoregulativ gesteuertes Sprechen. Die meisten der heute gebräuchlichen Techniken der Sprechübungsbehandlung arbeiten – wie bereits für die Behandlung von Kindern angedeutet – mit einer Verlangsamung des Sprechens. Sie zielen entweder direkt auf eine kapazitätsangemessene Verlangsamung wie z. B. ein prolongiertes gedehntes Sprechen. Oder sie versuchen die Verlangsamung auf indirektem Weg zu erreichen, wie das verhaltenstherapeutisch häufig genutzte Metronom- oder Rhythmussprechen und die Anlauttechniken (Spannungsauflösung bei tonischem Stottern durch Veränderungen des Stimmeinsatzes bei schwierigen Silben oder Wortanfängen).
Prolongiertes Sprechen Die direkte Verlangsamung des Sprechens zählt heute zu dem effektivsten Verfahren. Ein solches Training beginnt üblicherweise mit einer Sprechrate von 50 Silben pro Minute, die graduell in Schritten von 5 Silben pro Minute dem Normalsprechen angeglichen wird. Diese normale Sprechgeschwindigkeit liegt etwa bei 200±40 Silben pro Minute, wobei mit Blick auf die Selbstüberforderungsneigung für Stotternde eine langsame Sprechvariante von 160 Silben pro Minute als »normale Sprechflüssigkeit« angestrebt werden sollte. Kriterium für einen jeweiligen Tempowechsel in Richtung flüssigeres Sprechen ist fehlerfreies Sprechen unter verschiedenen Anforderungsbedingungen auf der jeweils erreichten Geschwindigkeitsstufe. Treten Sprechfehler auf, wird zeitweilig auf die langsamere Geschwindigkeitsstufe »zurückgeschaltet«, die fehlerfreies Sprechen ermöglicht, um dann durch erneute Übungen größere Sprechsicherheit zu erreichen.
Insgesamt können Tonband- und Videofeedback zu den Sprechübungen den Prozess des Erwerbs einer neuen Sprechroutine erheblich fördern (Kern u. Kern 1993). Dieser Hinweis ist nicht zu unterschätzen: Es wird relativ häufig beobachtet, dass Stotternde bereits nach wenigen Videoanalysen ihrer Sprechgewohnheiten eine deutlich flüssigere Sprechweise erreichen können. Nach aller Erfahrung erreichen die meisten Stotternden bei ganztägiger Übung (etwa in einem Intensivtraining) bereits am Ende der ersten Übungswoche das Zwischenziel des fehlerfreien Sprechens mit 160 Silben pro Minute. Therapeuten und Stotternde sollten sich jedoch durch schnelle Anfangserfolge nicht täuschen lassen. ! Auch wenn beides nur schwer zu diskriminieren ist: Nicht fehlerfreies Sprechen ist das Ziel der Sprechübungsbehandlung, sondern das Erreichen autoregulativ gesteuerten Sprechens.
Nach aller Erfahrung sind dazu 100 Übungsstunden und mehr erforderlich. Fließendes Sprechen darf auf keinen Fall mit autoregulativem Sprechen verwechselt werden! Es ist empirisch gut belegt, dass Sprechübungsbehandlungen umso erfolgreicher sind, je länger sie dauern (Fiedler 1993). Zu diesem Zweck könnten Psychotherapeuten an die Unterstützung durch einen Logopäden denken.
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376
Kapitel 23 · Stottern
Einübung sozialer Fertigkeiten
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Das Ausmaß des Stotterns schwankt in Abhängigkeit von den Anforderungen, die im privaten, schulischen und beruflichen Bereich an fehlerfreies Sprechen gestellt werden. Das Stottern schwankt vor allem in dem Maße, wie der Stotternde selbst versucht, die Sprechmotorik willentlich zu steuern und zu beeinflussen. Als Therapeut sollte man sich deshalb gut mit dem jeweils von Person zu Person unterschiedlich gegebenen Phänomen der subjektiv erlebten Kommunikationsverantwortlichkeit vertraut machen. Das Stottern tritt auf, weil der Stotternde aus höchst plausiblen und nur zu verständlichen Gründen nicht stottern möchte. Da ihn sein Stottern jeweils an diesen (Selbstkontroll-) Wunsch erinnert, ist dieser nicht schlicht durch Überzeugungsarbeit außer Kraft zu setzen. Wie kann man mit diesem Paradox in der Behandlung umgehen? Es bieten sich dazu zwei die Sprechübungsbehandlung zwingend ergänzende Behandlungsperspektiven an, die im Folgenden dargestellt werden. Training sozialer Fertigkeiten. Für Verhaltenstherapeuten ist es inzwischen allgemeine Praxis, in der Stotterbehandlung möglichst frühzeitig und zeitgleich zur Sprechübungsbehandlung mit einem Training sozialer Fertigkeiten zu beginnen. Zumeist werden Rollenspiele zur Einübung sozial relevanter Fertigkeiten empfohlen, um die Selbstsicherheit und das Selbstvertrauen von Stotternden in Sprechsituationen mit hohem Anforderungsgehalt für fließendes Sprechen zu erhöhen (7 Kap. I/36 und I/37; s. auch die konkreten Therapievorschläge für Stotternde bei Fiedler u. Standop 1994). Beim Training sozialer Fertigkeiten haben wiederum Tonband- bzw. Videofeedbackverfahren eine wichtige ergänzende und stützende Funktion. Ziel ist es in jedem Fall, die zunächst im geschützten Rahmen der Therapie erworbenen Sprechtechniken wie auch die ergänzenden neuen sozialen Fertigkeiten unter realen Lebens- und Alltagsbedingungen zu überprüfen (Fallbeispiele: Fiedler 1994; Kuhr 1991). Nichtvermeidungsansatz. Einige Verhaltenstherapeuten versuchen seit Jahren, den Umgang mit dem beschriebenen Behandlungsparadox auf direkte Weise zu ermöglichen. Sie nutzen das Vorgehen der sog. »Nichtvermeidungstherapie« (»non-avoidance approach«; Sheehan 1971; Wendlandt 1984). Auch die Non-Avoidance-Therapeuten arbeiten mit Sprechübungen, deren zentrale Technik das sog. willentliche Stottern ist. Diese Übungen haben – wie bereits erwähnt – zumeist eine recht paradoxe angsthemmende Wirkung. Wichtiger in diesen Therapieansätzen ist jedoch – ähnlich den Zielen des Trainings sozialer Kompetenzen – die Einübung von Mut und Selbstvertrauen, nämlich trotz Stottern jederzeit mitzureden (und nicht, es zu vermeiden). Stotternde lernen systematisch und überall »stotternd« mitzureden, wo immer das sinnvoll und notwendig ist.
Auch auf diese Weise gelingt es überraschend vielen Stotternden, eine neue Sprechroutine zu erwerben. Das bereits erwähnte Ziel, nämlich »lieber stotternd zu reden, als flüssig zu schweigen«, ist inzwischen das Aktionsprinzip vieler Selbsthilfegruppen geworden. Stotternde, die ihre Störung in der Folge einer Mitarbeit in Selbsthilfegruppen öffentlich ohne Scheu präsentieren können und überall mitmischen, sprechen vielfach beeindruckend fließend, auch wenn sie dabei immer noch stottern. ! Man kann es nicht deutlich genug betonen: Wird in einer Stottertherapie lediglich mit Sprechübungen behandelt, wird zumeist unreflektiert übersehen, dass Stotternde fließend sprechen können und dass das Stottern selbst durch kognitiv-psychologische und soziale Faktoren bedingt und aufrechterhalten wird. Sicherlich liegt der Grund für die relativ geringe Spontanremissionsrate erwachsener Stotternder darin, dass diese innerlich zu sehr auf eine Verbesserung der fehlerhaften Aussprache ausgerichtet sind. Diese problematische innere Haltung dürfen Therapeuten nicht mitgehen, indem sie das Stottern vorrangig mit Sprechübungen behandeln. Es werden dabei zwischenmenschliche Aspekte außer Acht gelassen, die letztlich jedoch für das (legitime) Bemühen des Stotternden, fehlerfrei sprechen zu wollen, verantwortlich sind.
Als Therapeut sollte man nicht vergessen, dass es nur wenige der großen Stotterforscher Amerikas, die ja selbst zumeist Betroffene und Stotterer waren, geschafft haben, sich selbst erfolgreich und endgültig von ihrem Stottern zu befreien. Diese »Berufsstotterer« wissen und wussten alle ziemlich genau, was man erfolgreich gegen das Stottern unternehmen kann (nachzulesen ist dies in dem nach wie vor sehr empfehlenswerten Buch An einen Stotterer, Hood 1983). Auf die Frage, warum er selbst denn immer noch stottere, hat Van Riper einmal geantwortet (1982, S. 137): »Ich bin zu wenig motiviert und viel zu vernarrt in meine menschlichen Schwächen«. Diese Bemerkung sollte die Therapeuten gemahnen, die »menschlichen Schwächen« ihrer stotternden Patienten nicht aus den Augen zu verlieren. Nur muss den Therapeuten und mehr noch ihren Patienten dann auch sehr klar sein, dass – wenn die Therapie dem Stotternden (wie gelegentlich auch dem Therapeuten) zu langwierig und zu mühselig wird – am Ende der Behandlung eben nicht zwingend fließendes und fehlerfreies Sprechen herauskommen wird. Ein am Therapieende nicht gänzlich fließend sprechender Stotternder befindet sich mit den amerikanischen »Professoren-Stotterern« jedoch in akzeptabler Gesellschaft.
377 23.6 · Fallbeispiel
23.6
Fallbeispiel
Der Patient R. M. ist 15 Jahre alt und lebt mit seinen Eltern auf einem Weingut in einem kleinen Ort in der Pfalz. Er stottert seit der frühen Kindheit und war wegen der Sprechstörung schon mehrfach in logopädischer Behandlung. Wenn sein Vater in wenigen Jahren die Altersgrenze erreicht, möchte er gern den Hof übernehmen. Dies ist mit ein Grund dafür, erneut eine Therapie zu beginnen, in der Hoffnung, dass sich die Sprechschwierigkeiten bessern könnten. Mit 8 Jahren besuchte er zu sprech- und spieltherapeutischen Übungen eine Kindertherapiegruppe in der nahen Kreisstadt. Mit 10 Jahren folgte ein mehrwöchiger Aufenthalt in einem Sprachheilheim im Schwarzwald. Mit 12 Jahren absolvierte er eine halbjährige Sprechübungsbehandlung bei einer Logopädin. Es habe sich dabei jeweils kurzfristig ein gewisser Erfolg gezeigt, der jedoch nie länger als ein halbes Jahr vorgehalten habe. Das Stottern habe ihm in der Schule keine Nachteile gebracht, eher Vorteile; immerhin sei er zurzeit Klassenbester. Diagnostik Zunächst wird mittels Balbutiogramm die Sprechstörung erfasst (Bestimmung der Basislinie und der Fehlerfrequenzgrundraten des Stotterns durch Aufgaben wie Aufzählungen, das Nachsprechen von Texten, Lesen von Standardtexten und das freie Sprechen). Die Videoaufzeichnung zeigt einen Patienten mit extremen Sprechstörungen. Er stottert annähernd bei jedem Wort zu Wortbeginn. Lediglich kurze Wörter wie »und«, »in«, »der«, »die« usw. bereiten ihm seltener Schwierigkeiten. Der Patient zeigt eine klonisch-tonische Symptomatik, die durch eine extreme sog. »StarthilfeProblematik« überformt ist. Dabei handelt es sich um ein lautes, unangenehm klingendes »Aufheulen« vor Silben, die danach klonisch gestottert werden (»uuuuiiiiiiiiiihh«). Die Starter-Symptomatik ist so extrem, dass sie spontan an eine zusätzliche organische Schädigung denken ließe, wäre diese nicht bereits durch ein neurologisches Gutachten ausgeschlossen worden. Weitere Begleitsymptome zum Stottern, z. B. als Sprechhilfen eingesetzte Embolophonien und Embolophrasien, lassen sich während des freien Sprechens nicht feststellen. Insgesamt zeigt sich der Patient in Mimik und Gestik erheblich eingeschränkt. Parakinesen sind nicht beobachtbar. R. M. hat schon zwei Fachbücher über Stottern gelesen und ist von dem Vorschlag begeistert, zur nächsten Diagnostiksitzung einen Aufsatz vorzubereiten, in dem er Ausführungen zu folgenden Punkten machen soll: (a) die Geschichte der Entwicklung seiner Stottersymptomatik, 6
(b) eine genaue Beschreibung seiner bisherigen Behandlungs- und Selbstkontrollversuche, (c) vermutete Gründe für das Scheitern der bisherigen Behandlungsversuche und (d) Überlegungen dazu, was er selbst glaube, wie sein Stottern erfolgreich behandelt werden könne. Die von Therapeut und Patient in der Folgesitzung gemeinsam simultan durchgeführte Lesung des Manuskriptes zeigt, dass der Patient mit der Sprechhilfe »Simultansprechen« fließend sprechen kann. Darüber ist der Patient selbst überrascht, und er zeigt sich ermutigt, als der Therapeut ihm verdeutlicht, dass sich mit dem fehlerfreien Simultansprechen eine organische Ursache ausschließen lasse und dass sich daraus eine entsprechend günstige Prognose für die Therapie ergebe. Der Patient berichtet in seinem Aufsatz, dass das »Uuiiiihh« vor den Worten ein Überbleibsel aus der logopädischen Therapie mit der Anlauttechnik sei. Es sei eine für ihn nach wie vor notwendige Stütze, um nicht zu stottern. Eine weitere willentliche Handlung, um nicht zu stottern, sei es, möglichst konzentriert zu sprechen. Diese Selbstkontrolltechnik setzt der Patient um, indem er möglichst wenige Bewegungen während des Sprechens ausführt. Die Folge ist das auffällige Fehlen von Mimik und Gestik während des Sprechens. Therapieziele Der Therapeut erklärt dem Patienten die Hypothese, dass sein Stottern teilweise auf eine willentliche Verhinderung der Autoregulation durch unbrauchbare bzw. unbrauchbar gewordene Sprechkontrolltechniken zurückgeführt werden könne. Ziel der Behandlung werde deshalb der Erwerb einer neuen Sprechroutine sein. Voraussetzung dazu sei jedoch, dass der Patient die sein Symptombild beherrschende Starttechnik aufgebe. Auf die Frage, ob er dazu bereit wäre, antwortet der Patient – zur Überraschung des Therapeuten – fließend in einem Satz: »Man könnte es ja mal versuchen …« Während der nun folgenden Gespräche nimmt der Patient von sich aus zunehmend die Anlauttechnik zurück – zugleich tritt sein eigentliches Symptombild (klonischtonisches, jedoch vor allem klonisches Stottern) deutlicher hervor. Als Überleitung zur Therapie wurden folgende Therapieziele begründet: 1. Es habe sich bereits gezeigt, dass der Patient fließend sprechen könne. Er brauche flüssiges Sprechen also nicht neu zu lernen. Dennoch spreche viel für eine erneute systematische Einübung eines neuen Sprechverhaltens, um die bisherigen Routinen der misslungenen Sprachselbstkontrolle durch eine neue Sprechroutine zu ersetzen.
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378
23
Kapitel 23 · Stottern
2. In der zu planenden Therapie werde die situative Variabilität und die damit zusammenhängende subjektive Kommunikationsverantwortlichkeit in den Mittelpunkt rücken. Konkret heiße dies, dass der Therapeut kontinuierlich bemüht sein werde, die Zusammenhänge des Stotterns mit den alltäglichen Anforderungen und Ansprüchen des Patienten an fließendes Sprechen zu thematisieren. 3. Schließlich könne es – angesichts der nicht sehr erfolgreich verlaufenen Vorbehandlungen – für den langfristigen Erfolg der jetzt neu aufgenommenen Therapie wichtig werden, ob der Patient erneut und vor allem klar bereit sei, sich auf eine möglicherweise langwierige »Therapiereise« zu begeben. Insbesondere gehe es darum, Rückfällen vorzubeugen, weshalb die Planung einer sorgsamen Rückfallprophylaxe zentraler Bestandteil der Therapie werde. Sprechübungen Als Sprechtechnik wird das Verfahren des prolongierten Sprechens gewählt. Die systematische Einübung der Sprechtechnik erfolgt über eine Zeit von etwa 5 Wochen, bis sie vom Patienten gut beherrscht wird und er mit ihr recht fließend zu sprechen in der Lage ist. Sie wird zunehmend mehr in ein zeitlich leicht versetzt beginnendes Sozialtraining (s. unten) übernommen und muss vom Patienten damit sehr bald und zeitgleich zu den Sprechübungsstunden unter realen Anforderungsbedingungen erprobt werden. Die Sprechübungsbehandlung wird nach einigen Wochen ergänzt durch den Einsatz von Tonund vor allem Videoaufzeichnungen des Sprechverhaltens während der Sprechübungen. Insbesondere auf den Einsatz der Videorückmeldung kann im Nachhinein der schnell eintretende Erfolg der Sprechübungen zurückgeführt werden. Als der Patient sich das erste Mal selbst stottern sieht, lässt er unmittelbar eine Reihe von bisher nicht entdeckten und bisher verheimlichten Paraphrasien bleiben und stottert – wenn überhaupt noch – vornehmlich klonisch. Sozialtraining Die raschen Erfolge der Sprechtherapie führen zu einem baldigen Konsens, dass Sprechtraining möglichst unmittelbar durch ein Sozialtraining zu ergänzen. R. M. bevorzugt einen Wechsel von Trainingseinheiten im Therapieraum und Übungen, die direkt unter den erschwerten Bedingung der Alltagsrealität durchgeführt werden können. Diese therapeutischen Exkursionen werden ebenfalls mit der Videokamera festgehalten und jeweils anschließend im Therapieraum ausgewertet. Einmal wird eine ganztä-
gige Behandlung im laufenden Wechsel zwischen In-vivoÜbungen und Nachbesprechungen im Therapieraum durchgeführt. Die In-vivo-Übungen des Trainings sozialer Fertigkeiten beinhalten in den folgenden 20 Wochen der Therapie teilweise wiederholt u. a. folgende Übungsschritte (in der Öffentlichkeit jeweils vor laufender Kamera, wodurch die sozialen Anforderungen weiter erhöht wurden): a) Ansprechen einer unbekannten Person auf einer Sportveranstaltung; b) nicht vorbereitete Small Talks mit Studenten; c) Kauf von Turnschuhen in einem Schuhgeschäft; der Patient musste vor dem endgültigen Kauf 5 Paar Schuhe begründet zurückweisen; d) der Einkauf über eine Ladentheke mit genauer Benennung der Waren, die gekauft werden wollten; e) Interviews vor laufender Kamera zur Hauptgeschäftszeit mitten in der Hauptstraße, die ein besonderes Interesse der Passanten auf sich zogen; f ) Übungen, in denen mündliche Prüfungssituationen im schulischen Kontext simuliert wurden; g) Telefongespräche mit bekannten und unbekannten Personen über verschieden schwierige Themenstellungen. Als Stufe mit dem höchsten Schwierigkeitsgrad wird schließlich vereinbart, dass der Patient einen öffentlich im psychologischen Institut angekündigten Vortrag halten soll. Thema: »Wie ich mit meinem Stottern leben lernen kann. Ein Betroffener berichtet.« Dieser Vortrag wird zunächst allein vor dem Therapeuten gehalten, dann vor einer größeren Zahl ausgewählter Studenten, die der Patient bereits während der Therapie als Partner in den Small-Talk-Übungen kennen gelernt hat, schließlich in einem Hörsaal vor größerem Auditorium und laufender Videokamera. Resümee R. M. konnte die Therapie nach 30 Wochen mit recht gutem Erfolg abschließen. Wenn seinem Sprechen auch in vielen bis dahin schwierigen Situationen kaum mehr das Stottern anzumerken war, war die Sprechstörung selbst doch nicht gänzlich behoben. Der Patient hatte während der Therapie jedoch deutlich an Selbstvertrauen gewonnen und – dies vor allem , weil es ein wichtiges implizites Therapieziel war – bestand sein Abitur mit 18 Jahren mit Bravour. Vier Jahre nach Behandlungsabschluss absolvierte R. M. nach Rücksprache mit dem Therapeuten erneut eine Therapie, diesmal bei einem Therapeuten in Hamburg, bei dem er seine inzwischen erreichten Sprechleistungserfolge in einem mehrwöchigen Kompaktseminar zusammen mit Gleichbetroffenen erneut vertiefte und weiter stabilisierte.
379 Zusammenfassung
23.7
Empirische Belege
Wegen des Fehlens sorgfältiger und vergleichender Untersuchungen war es lange Zeit nicht möglich, die unterschiedlichen Therapiebausteine in der Stotterbehandlung etwa hinsichtlich ihrer differenziellen Wirksamkeit zu bewerten. Bis zu Beginn der 1970er Jahre wurde nur selten untersucht, wie sich die empirisch leicht nachweisbaren kurzfristigen Therapieeffekte auf den Lebensalltag der Patienten übertragen ließen, welche Sprechtechnik im Unterschied zu anderen von Stotternden langfristig bevorzugt werden und ob sie tatsächlich in der gelernten Weise beibehalten wurden. Erst in den letzten Jahren zeichnet sich eine Wende in den Forschungsgewohnheiten ab, so dass zwischenzeitlich hinreichend Arbeiten vorliegen, in denen vorrangig die Bedingungen der Stabilität und des Transfers der in der Therapie erreichten Sprechflüssigkeit untersucht wurden (vgl. die Metaanalysen und Reviews bei Andrews et al. 1980; Guitar 1998; Bossardt 2007). Dabei gelten in der Stotterforschung nur Nachuntersuchungen als akzeptabel, die über 2 Jahre hinausreichen. Oder positiv gewendet zeigt die Forschung: Bleiben Therapieerfolge über 2 Jahre hinweg stabil, besteht guter Grund zu der Annahme, dass diese auch weiterhin Bestand haben. > Fazit Die größten Erfolgsaussichten hat eine Behandlung stotternder Kinder, bevor sie in die Pubertät eintreten. Bereits im Vorschulalter genügen häufig ausführliche Aufklärungs- und Beratungsgespräche mit den Eltern, in denen Informationen über die Sprachentwicklung und über die Entwicklung des Stotterns gegeben werden. Die Erfolgsraten gehen mit zunehmendem Alter deutlich zurück, weshalb sich zwingend empfiehlt, mit der Sprechtherapie so früh wie möglich zu beginnen. Insgesamt scheint mit zunehmendem Alter der Stotternden der Erfolg einer Therapie, die sich nur auf die (technische) Verbesserung des Sprechverhaltens ausrichtet, ebenso wenig hinreichend wie eine Therapie zu sein, die vornehmlich oder nur eine Erweiterung der sozialen Kompetenz des Stotternden zum Ziel hat und die Sprechschwierigkeiten ausklammert.
23.8
Ausblick
Bei kritischer Durchsicht der Forschungsarbeiten lassen sich inzwischen folgende Leitlinien für eine Verhaltenstherapie des Stotterns ableiten, die zukünftig der Sprechstörungsbehandlung zwingend zugrunde liegen sollten: 1. Spezifität der Sprechbehandlung. Insgesamt dürften ge-
genwärtig Verfahren, die ein prolongiertes Sprechen implizieren, zu jenen Vorgehensweise in der Sprechbehandlung zählen, die empirisch am besten abgesichert sind und die sich sowohl in Kurzzeit- als auch in Langzeitstudien bewährt haben.
2. Zeitbedarf und Intensität der Behandlung. Soll eine Sprechtechnik langfristig erfolgreich sein, dann bedarf es bei Kindern im fortgeschrittenen Schulalter und spätestens ab Eintritt in die Pubertät einer sehr langen Zeit der systematischen Einübung und Gewöhnung. Aufgrund vorliegender Daten dazu lässt sich folgern, dass die günstigste Zeitspanne für Sprechübungen nicht unter 100 Behandlungsstunden (!) liegen sollte. Ob die Behandlung kompakt (etwa als mehrwöchiger Behandlungsblock) erfolgt oder zeitlich gestreckt (über mehrere Monate verteilt) wird, scheint eher von nebengeordneter Wichtigkeit. 3. Stabilisierung des Behandlungserfolges. Eine Aufrecht-
erhaltung des Behandlungsfortschritts wird durch verschiedene Maßnahmen zu erreichen versucht, wobei der systematische Aufbau des Trainingsprogramms wesentlich scheint (etwa vom langsamen Sprechen mittels Verstärkungsplan über eine sukzessive Annäherung hin zum normalen Sprechen). Die Systematik sollte so gestaltet sein, dass der Klient selbstkontrollierend auf früher erreichte Lernstufen zurückschalten und das entsprechende Zielverhalten erneut ansteuern kann. 4. Generalisierung des Behandlungserfolges. Ein systematischer Transfer des fließenden Sprechens in die Alltagswelt des Patienten durch die Anregung vielfältiger Übungen ist unerlässlicher Bestandteil der Therapie. Die dabei erreichbaren günstigen Wirkungen können therapeutisch verstärkt werden, wenn Angehörige, wie Eltern und Geschwister, aber auch Freunde der Stotternden in die Therapie einbezogen werden. Insofern kann auch ein gut durchdachtes Nachsorgeangebot die Generalisierungsphase entscheidend erleichtern helfen.
Zusammenfassung Die neuropsychologisch-verhaltenstherapeutische Forschung zur Ätiologie und Behandlung des Stotterns stützt die Vermutung, dass die Versuche der Stotternden um eine willentliche Verbesserung ihrer Aussprache deshalb scheitern, weil sie das Stottern selbst durch eine subjektive Überforderung der neuropsychologisch bedingten Sprechfähigkeiten provozieren. Diese Paradoxie gilt es in der verhaltenstherapeutischen Behandlung des Stotterns zu beachten. Aus verhaltenstheoretischer Sicht ist immer die Kombination von Sprechübungsbehandlung und psychologischer Therapie sinnvoll. Erstere ermöglicht ein Sprechenlernen unter Berücksichtigung individueller Sprechfähigkeiten. Letztere zielt auf eine Erhöhung der Selbstsicherheit im Umgang mit selbst- und fremdgesetzten Anforderungen an ein möglichst fehlerfreies Sprechen. Die vorliegende Arbeit informiert über aktuelle Verstehensund Behandlungsansätze des Stotterns von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
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380
Kapitel 23 · Stottern
Literatur
23
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24
24 Enuresis und Enkopresis Susanne Schreiner-Zink, Pia Fuhrmann, Alexander von Gontard
24.1
Einleitung
– 382
24.2
Enuresis und funktionelle Harninkontinenz – 382
24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4
Darstellung der Störung – 382 Modelle zu Ätiologie und Verlauf – 384 Diagnostik – 385 Therapeutisches Vorgehen – 385
24.3
Enkopresis
24.3.1 24.3.2 24.3.3 24.3.4
Darstellung der Störung – 387 Modelle zu Ätiologie und Verlauf – 389 Diagnostik – 390 Therapeutisches Vorgehen – 390
24.4
Fallbeispiel
24.5
Empirische Belege
– 387
– 392
Zusammenfassung Literatur
– 393 – 393
– 393
Weiterführende Literatur
– 394
382
Kapitel 24 · Enuresis und Enkopresis
24.1
Einleitung
Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard wurde 1943 in ein Heim für »schwer erziehbare Kinder« in Thüringen aufgenommen, worauf er mit Einnässen nachts und auch tagsüber reagierte. In seinem Buch Ein Kind beschrieb er
von komorbiden Verhaltenssymptomen mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen erreichbar.
24.2
Enuresis und funktionelle Harninkontinenz
24.2.1 Darstellung der Störung
24
… einem anderen Kind passierte jede Nacht etwas viel Schlimmeres als mir: er beschmutzte sein Bett mit Kot. Ich erinnere mich an dieses Schreckensbild haargenau: im Waschraum unten, wo nur noch die Keller waren, wurde… ihm… das kotbeschmutzte Leinentuch um den Kopf geschlagen, während man mir, neben ihm, die wundgewetzten Oberschenkel an den Hoden mit einem weißen Pulver bearbeitete. (Bernhard 1982)
Auch heute noch sind Ausscheidungsstörungen im Kindesund Jugendalter für die Mehrzahl der betroffenen Familien ein Tabuthema. Die Kinder und Eltern leiden unter der Einnäss- und/oder Einkotsymptomatik und versuchen unter allen Umständen ihr Problem geheim zu halten. Falls sie doch in der Öffentlichkeit durch eine nasse Hose oder Kotgeruch auffallen, drohen Hänseleien und Stigmatisierungen. Die Häufigkeit von Ausscheidungsstörungen wird unterschätzt. Einnässen und Einkoten gehören zu den häufigsten Störungen des Kindesalters. Von den Siebenjährigen nässen 10% regelmäßig nachts und 2–3% tagsüber ein, 1– 3% koten ein. Beim Einnässen wird das nächtliche Einnässen (Enuresis nocturna) und das Einnässen tagsüber (funktionelle Harninkontinenz) unterschieden.
Nach der Definition der International Children’s Continence Society (ICCS) bezeichnet Enuresis (nocturna) jede Form des nächtlichen Einnässens. Der Begriff Enuresis diurna sollte nicht verwendet werden: eine Enuresis bezeichnet eine normale, vollständige Blasenentleerung am falschen Platz zur falschen Zeit, sie tritt überwiegend nachts auf und ist tagsüber sehr selten. Beim Einnässen tagsüber kommt es zu ungewolltem Harnabgang bei strukturell, neurogen oder funktionell bedingter Blasendysfunktion.
Erst eine differenzierte Diagnostik ermöglicht eine spezifische Behandlung. Die effektivste Therapie der Ausscheidungsstörungen ist dann symptomorientiert und kognitivverhaltenstherapeutisch. Zunächst ist eine Psychoedukation und Informationsvermittlung wichtig, ergänzend werden überwiegend operante Verfahren mit positiver Verstärkung, Wahrnehmungstraining und Relaxationsverfahren eingesetzt. Therapieziel ist immer eine komplette Trockenheit/Sauberkeit. Ausscheidungsstörungen können allein oder komorbid auftreten. In der Regel sind eine Steigerung des Selbstwertgefühls und/oder eine Reduktion
Nach ICD-10 (WHO 1993) und DSM-IV (APA 1994) (. Tab. 24.1) wird Enuresis als unwillkürlicher Harnabgang ab einem Alter von 5 Jahren nach Ausschluss organischer Ursachen definiert. Die Symptomatik muss 3 Monate bestanden haben und in einer Häufigkeit von zweimal pro Woche (DSM-IV) bis einmal pro Woche (ICD-10, Kinder älter als 7 Jahre) bestehen. Die Leitlinien der deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie (von Gontard 2007) sowie die ICCS (Néveus et al. 2006) schlagen basierend auf dem aktuellen . Tab. 24.1. Klassifikation der Enuresis nach DSM-IV (APA 1994) und ICD-10 (WHO 1993) DSM-IV
ICD-10 (Forschungskriterien)
Bezeichnung Enuresis 307.6
Enuresis F 98.0
Definition
Wiederholter, willkürlicher und unwillkürlicher Urinabgang
Unwillkürlicher (und willkürlicher) Harnabgang
Alter
Chronologisches und geistiges Intelligenzalter: 5 Jahre
Chronologisches und geistiges Intelligenzalter: 5 Jahre
Häufigkeit
Mindestens 2-mal/Woche oder klinisch relevante Belastung und Einschränkung in sozialen, schulischen und sonstigen Bezügen
2-mal/Monat <7 Jahre 1-mal/Monat >7 Jahre
Dauer
Mindestens 3 konsekutive Monate
3 Monate
Ausschlusskriterien
Körperliche Erkrankung: Diabetes mellitus und insipidus, Spina bifida, zerebrale Anfälle, Harnwegsinfekte, neurogene Blase
Epilepsie, neurologische Inkontinenz, strukturelle Veränderungen des Harntraktes, medizinische Erkrankungen Andere psychiatrische Störungen, die die ICD10-Kriterien erfüllen
Subtypen
Nocturna
Nocturna (F98.00)
Diurna
Diurna (F98.01)
Nocturna et diurna
Nocturna et diurna (F98.02)
Primär
Keine trockene Periode (Dauer nicht angegeben)
Nicht beschrieben
Sekundär
Trockene Periode vorhanden (Dauer nicht angegeben)
Nicht beschrieben
383 24.2 · Enuresis und funktionelle Harninkontinenz
. Tab. 24.2. Formen des nächtlichen Einnässens Enuresis nocturna
Längstes trockenes Intervall <6 Monate: Primäre Enuresis nocturna
Längstes trockenes Intervall >6 Monate: Sekundäre Enuresis nocturna
Keine Blasenfunktionsstörungen tags
Primäre monosymptomatische Enuresis nocturna
Sekundäre monosymptomatische Enuresis nocturna
Blasenfunktionsstörungen tags
Primäre nicht monosymptomatische Enuresis nocturna
Sekundäre nicht monosymptomatische Enuresis nocturna
Forschungsstand neuere Definitionen vor, auf die im Folgenden eingegangen wird.
Nächtliches Einnässen (Enuresis nocturna) Eine primäre Enuresis nocturna liegt vor, wenn ein Kind ab einem Alter von 5 Jahren weniger als 6 Monate hintereinander trocken war. War ein Kind dagegen länger als 6 Monate trocken und hat einen Rückfall erlitten, bezeichnet man die Störung als sekundäre Enuresis nocturna. Bei einem Einnässen nachts ohne zusätzliche Miktionsauffälligkeiten tagsüber liegt eine monosymptomatische Enuresis nocturna vor. Bei der nicht monosymptomatischen Enuresis nocturna finden sich dagegen tagsüber Symptome wie Drang, Miktionsaufschub, Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination, ohne dass es zu einem Einnässen tags kommt. Insgesamt ergeben sich 4 verschiedene Subtypen der Enuresis nocturna (. Tab. 24.2), (von Gontard u. Néveus 2006).
. Abb. 24.1. Haltemanöver
Einnässen tags (funktionelle Harninkontinenz)
Formen des Einnässens tags
Das Einnässen tags wird auch als funktionelle Harninkontinenz bezeichnet, da fast immer eine periphere Störung der Blasenfunktion vorhanden ist (von Gontard 2001; von Gontard u. Néveus 2006). Die idiopathische Dranginkontinenz ist charakterisiert durch eine hohe Miktionsfrequenz von über 7-mal am Tag, plötzliche Drangsymptome, Einsatz von Haltemanövern (. Abb. 24.1) sowie Einnässen von kleinen Urinmengen. Die Harninkontinenz bei Miktionsaufschub ist gekennzeichnet durch seltene Toilettengänge von unter 5-mal pro Tag und einem Aufschieben der Miktion, bis es zum Einnässen kommt. Die Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination ist eine Störung der Blasenentleerung. Die Miktion wird durch Pressen zu Beginn und während des Wasserlassens erzeugt und ist unterbrochen. Seltene Formen sind die Lachinkontinenz mit einer kompletten, reflektorischen Blasenentleerung ausgelöst durch Lachen. Bei der Stressinkontinenz kommt es zum Abgang kleiner Urinmengen, z. B. beim Niesen. Die Detrusordekompensation (Lazy-Bladder-Syndrom) ist durch unterbrochenen Harnfluss bei großen Urinmengen unter Einsatz von Pressen charakterisiert.
4 Idiopathische Dranginkontinenz: – Häufiger Toilettengang >7-mal/Tag – Kleine Mengen – Drangsymptome 4 Harninkontinenz bei Miktionsaufschub: – Seltener Toilettengang <5-mal/Tag – Mit Hinauszögern der Miktion 4 Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination: – Pressen zu Beginn und während des Wasserlassens – Unterbrochener Harnfluss 4 Seltene Formen – Stressinkontinenz: Einnässen beim Husten, Niesen, Anspannen, kleine Mengen – Lachinkontinenz: Einnässen beim Lachen, große Mengen mit kompletter Entleerung – Detrusor-Dekompensation (Lazy-BladderSyndrom): Unterbrochener Harnfluss, Blasenentleerung nur mit Pressen möglich
24
384
Kapitel 24 · Enuresis und Enkopresis
24.2.2 Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Enuresis nocturna
24
Bei der Enuresis nocturna handelt es sich um eine genetisch bedingte Reifungsstörung des zentralen Nervensystems (von Gontard et al. 2001). 60–80% der Kinder haben Verwandte, die ebenfalls eingenässt haben. Das Risiko einzunässen beträgt 44%, wenn ein Elternteil, 77% wenn beide Elternteile eingenässt haben. Eineiige Zwillinge (68%) haben signifikant höhere Konkordanzraten als zweieiige Zwillinge (36%) (Bakwin 1973). Ein autosomal-dominanter Erbgang findet sich bei der Hälfte der Familien. In Kopplungsanalysen wurden mehrere Genorte auf den Chromosomen 12, 13 und 22 identifiziert (von Gontard et al. 1998, 2001).
Die drei wichtigsten Pathomechanismen der monosymptomatischen Enuresis nocturna: 1. eine erhöhte nächtliche Urinbildung bei einem Teil der Kinder (Polyurie), 2. eine fehlende Erweckbarkeit bei voller Blase (Störung des Arousals), 3. eine fehlende Unterdrückung des Entleerungsreflexes im Schlaf (Inhibition des Miktionsreflexes) (von Gontard et al. 2001).
20–40% aller Kinder mit Enuresis nocturna haben eine weitere psychische Störung. Bei sekundärer Form ist die Komorbitditätsrate am höchsten, bei der primären am niedrigsten. Die häufigste Komorbidität ist Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), (Baeyens et al. 2004; Robson et al. 1997). Durch belastende Lebensereignisse und komorbide psychische Störungen kann ein Rückfall ausgelöst werden. Während es sich bei der monosymptomatischen Enuresis nocturna um eine reine Störung des zentralen Nervensystems handelt, liegen bei der nicht monosymptomatischen Enuresis nocturna eine Reifungsstörung des zentralen Nervensystems und eine Störung der Blasenfunktion vor, d. h. es handelt sich im Prinzip um zwei Störungen. Die Enuresis nocturna kann im Sinne des klassischen Konditionierens als ein verzögertes Erlernen eines bedingten Reflexes (Harndrang, Wachwerden, Toilettengang oder Harndrang, Unterdrückung des Entleerungsreflexes, Weiterschlafen) betrachtet werden. Die Entstehungsbedingung kann somit als mangelnde Konditionierung der Blasenfunktion angesehen werden. Es lassen sich keine Zusammenhänge des Einnässens zu körperlichen und psychosozialen Stressoren als mögliche situationsspezifische Auslöser identifizieren. Eine Ausnahme bildet die sekundäre Enuresis nocturna. Hier kann ein Rückfall tatsächlich durch belastende Lebensereignisse ausgelöst werden bei entsprechender Disposition.
Eine verhaltenstherapeutische Bedingungs- und Verhaltensanalyse nach Kanfer und Saslow (7 Kap. I/21) zu einer monosyptomatischen Enuresis nocturna könnte folgendermaßen lauten:
Die Situation (S) beinhaltet eine volle Blase in der Nacht. Die Reaktion (R) zeigt sich auf der Verhaltensebene in der Blasenentleerung (Rmot), welche morgens an dem nassen Bett festgestellt werden kann. Auf der kognitiven Verhaltensebene findet sich eine geringe Selbsteffizienzerwartung bezüglich der Ausscheidungsfunktion (Rkog). Auf der Ebene der Organismusvariablen (O) finden sich bedingt durch die genetische Disposition eine erschwerte Erweckbarkeit, eine erhöhte nächtliche Urinbildung und/ oder eine fehlende Unterdrückung des Entleerungsreflexes im Schlaf. Positiv verstärkt wird das Einnässen durch das Weiterschlafen des Kindes (C+). Negative Konsequenzen sind Schamgefühle, Traurigkeit und Resignation auf Seiten des Kindes (C–). Zunehmender Erwartungsdruck auf das Kind durch die Umwelt und durch das Kind selbst erhöhen die Insuffizienzgefühle und reduzieren damit dessen Selbsteffizienzgefühle und reduzieren damit dessen Selbsteffizienzerwartung und das Selbstwertgefühl (C–) weiter. Im Bereich des operanten Konditionierens wirken die oft kurz andauernden und inkonsistenten Behandlungsversuche der Umgebung (C–) und die positive Verstärkung, dass das Kind durch das Einnässen weiterschläft (C+).
Funktionelle Harninkontinenz Idiopathische Dranginkontinenz. Die idiopathische Dranginkontinenz ist eine genetisch bedingte Störung der Füllungsphase der Blase. Bei geringen Mengen beginnt der Blasenhohlmuskel zu kontrahieren. Dies wird als Drang wahrgenommen und führt zum Einnässen. Psychische Störungen sind bei der idiopathischen Dranginkontinenz selten und treten eher als sekundäre Folge des Einnässens auf. Harninkontinez bei Miktionsaufschub. Die Harninkonti-
nenz bei Miktionsaufschub ist ein erlerntes Verhalten. Die Kinder schieben die Miktion so lange hinaus, bis es schließlich zum Einnässen kommt. Psychische Begleitstörungen sind überwiegend externalisierend (Störung des Sozialverhaltens mit oppositionell verweigerndem Verhalten und hyperkinetische Störung). Zusätzlich treten häufig familiäre Interaktionsstörungen auf. Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination. Bei der DetrusorSphinkter-Dyskoordination handelt es sich ebenfalls um erlerntes Verhalten: sie entsteht aus oben genanntem Miktionsaufschub oder auch einem Miktionsaufschub bei Drangsymptomatik. Statt der Relaxation während der Blasenentleerung kommt es zu einer paradoxen Anspannung
385 24.2 · Enuresis und funktionelle Harninkontinenz
des Beckenbodens. Eine komorbide psychische Symptomatik findet sich selten. Weitere Formen. Die Lachinkontinenz ist eine genetisch bedingte Reflexstörung des zentralen Nervensystems. Stressinkontinenz und Detrusordekompensation haben multiple Ätiologien.
Ätiologie der Enuresis nocturna und des Einnässens tags 4 Subformen mit genetischer Ätiolgie: – Enuresis nocturna – Dranginkontinenz – Lachinkontinenz 4 Subformen mit überwiegend umweltvermittelter Ätiologie – Harninkontinenz bei Miktionsaufschub – Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination
Epidemiologie 10% der 7-Jährigen nässen nachts ein. Die Spontanremission liegt bei 13–15% pro Jahr. Eineinhalb- bis zweimal mehr Jungen nässen nachts ein als Mädchen. Primäre Formen sind häufiger als sekundäre Formen, wobei die Prävalenz im Alter von 7 Jahren identisch ist (Fergusson et al. 1986). Zu den mono- und nicht monosymptomatischen Formen liegen bisher noch keine Daten vor. Der Verlauf der Enuresis nocturna ist prognostisch günstig. So werden 60–70% der Kinder unter spezifischer Therapie trocken (50% langfristig), 1–2% der Jugendlichen nässen jedoch weiterhin noch ein. Eine Nykturie (nächtliches Harnlassen) kann als Restsymptom persistieren. Kinder von Eltern, die als Kinder eingenässt haben, haben ein 8-fach erhöhtes Risiko für Enuresis (Hublin et al. 1999). 2–3% der 7-Jährigen nässen tags ein. Unter 1% der Jugendlichen ist von Einnässen tags betroffen. Die Rate steigt jedoch im Erwachsenenalter wieder an. Die Dranginkontinenz ist die häufigste, die Harninkontinenz bei Miktionsaufschub die zweithäufigste Form, gefolgt von der Dyskoordination. Von den Subformen des Einnässens tags hat die idiopathische Dranginkontinenz die günstigste Prognose. Bei der Harninkontinenz bei Miktionsaufschub reduziert insbesondere das oppositionelle Verhalten der Kinder den Therapieerfolg. Biofeedbackinterventionen sind bei DetrusorSphinkter-Dyskoordination langfristig effektiv.
Schläft das Kind sehr tief? Ist es schwer erweckbar? Schiebt das Kind die Miktion in bestimmten Situationen auf, z. B. beim Spielen oder Fernsehen? Setzt das Kind Haltemanöver ein wie Fersensitz, Beine zusammenpressen oder hin- und herhüpfen? Hat das Kind Drangsymptome? Kommt es zu Pressen zu Beginn der Miktion und Stottern während des Wasserlassens? Gab es Harnwegsinfekte, evtl. sogar fieberhafte? Neigt das Kind zu Verstopfung, kotet es ein? Wie groß ist der Leidensdruck des Kindes und der Eltern? und wie groß ist die Motivation mitzuarbeiten? Sind Verwandte betroffen?). Weitere diagnostische Maßnahmen umfassen: einen Fragebogen zum Einnässen (von Gontard u. Lehmkuhl 2002), ein 48-Stunden-Miktionsprotokoll, eine körperliche Untersuchung, eine Ultraschalluntersuchung der Harnwege (Niere, Harnleiter, Blase, Blasenwanddicke, Resturin) sowie einen Urinstatus. Zusätzlich ist bei tags einnässenden Kindern eine Uroflowmetrie (Harnflussmessung) indiziert. Weitere radiologische und urologische diagnostische Maßnahmen sind nur bei spezieller Indikation erforderlich. Ein generelles Screening für komorbide psychische Symptome und Störungen sollte immer durchgeführt werden (Zink et al. 2008). Eine ausführlichere kinderpsychiatrische/-psychologische Diagnostik empfiehlt sich bei den Risikogruppen sekundäre Enuresis nocturna sowie nicht monosymptomatische Enuresis nocturna.
Diagnostische Maßnahmen bei Enuresis 5 Standarddiagnostik: – Anamnese – 48-Stunden-Miktionsprotokoll – Fragebogen zum Einnässen – Körperliche Untersuchung – Ultraschall – Urinstatus – Screening für psychische Symptome – Detaillierte kinderpsychiatrische und psychologische Diagnostik 4 Erweiterte Diagnostik bei Indikation: – Uroflowmetrie (Harnflussmessung) – Labor – Urinbakteriologie – MRI (Bildgebung)
Differenzialdiagnostisch müssen organische Ursachen der Enuresis (neurogen, strukturell oder allgemein) ausgeschlossen werden.
24.2.3 Diagnostik 24.2.4 Therapeutisches Vorgehen
Die Standarddiagnostik umfasst bei Kindern mit Enuresis eine detaillierte Anamnese (Wie oft nässt das Kind ein? Wie viel? Seit wann? Tags und/oder nachts? Wie lange war es schon trocken? Wie oft geht es tagsüber zum Wasserlassen?
Voraussetzung für eine effektive Therapie ist zunächst eine differenzierte Diagnostik der Subform des Einnässens. An erster Stelle der Behandlung stehen Informationsvermitt-
24
386
24
Kapitel 24 · Enuresis und Enkopresis
lung, Psychoedukation, Entlastung von Schuldgefühlen, Motivationssteigerung und Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung. Die Therapie sollte stets symptomorientiert durchgeführt werden, da kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapien sich als sehr viel effektiver erwiesen haben als andere Psychotherapien (wie personenzentrierte und analytische Psychotherapie). Letztere können dann indiziert sein, wenn komorbide psychische Störungen vorliegen, z. B. depressive Störungen (Evidenzgrad IV–V). Meist kann die Therapie der Enuresis parallel zur Behandlung der komorbiden Störung erfolgen. Die Therapie sollte möglichst ambulant durchgeführt werden. Eine Indikation für eine (teil-)stationäre Therapie liegt nur dann vor, wenn eine gravierende, komorbide Störung vorhanden ist oder bei Therapieresistenz. Zu Beginn der Therapie sollten auch immer alle anderen bisher nicht effektiven Therapieversuche beendet werden. Eine weitere Prämisse der Therapie ist, dass bei multiplen Ausscheidungsstörungen zuerst die Behandlung des Einkotens, dann des Einnässens tags erfolgt. Danach erst wird die Enuresis nocturna behandelt, da die Therapieerfolge der Enuresis nocturna ansonsten viel schlechter sind und da die Gefahr, z. B. von Harnwegsinfekten, größer ist, wenn das Kind tags einnässt.
Behandlungsreihenfolge 4 Einkoten 4 Einnässen tagsüber 4 Einnässen nachts
Klingelgerät kann ab dem Alter von 5 Jahren erfolgen, eine Altersgrenze nach oben gibt es nicht, allerdings werden bei Erwachsenen vorwiegend Bettgeräte verwendet. Wenn die AVT erfolglos ist, kann diese mit weiteren verhaltenstherapeutischen Maßnahmen oder auch mit Pharmakotherapie kombiniert werden. Als Verstärkung kann das Arousal-Training von van Londen et al. (1998) eingesetzt werden. Hierbei sollen die Kinder das Klingelgerät nach dem Einnässen innerhalb von 3 Minuten abstellen, zur Toilette gehen und das Gerät wieder neu anlegen. Dies wird operant mit einem Token (z. B. Aufkleber) verstärkt. Ursprünglich empfohlen von van Londen waren zwei Token bei Erfolg und die Rückgabe von einem Token, falls das Ziel nicht erreicht wurde. Sind bei einer nicht monosymptomatischen Enuresis nocturna Miktionsauffälligkeiten wie Drang, Miktionsaufschub oder Dyskoordination tagsüber vorhanden, müssen diese zuerst behandelt werden (s. unten). Wenn das Gerät mehrmals nachts klingelt, ist dies ein Zeichen für eine Detrusorinstabilität, d. h. vorzeitige Kontraktionen des Blasenhohlmuskels bei nur mäßiggradiger Füllung der Harnblase. Hier ist eine Kombination mit der anticholinergen Medikation Oxybutinin oder Propiverin zu empfehlen, um die Blase über Nacht »ruhigzustellen«. AVT stellt eine operante Konditionierung mit positiver Verstärkung, Lob, Steigerung des Selbstwertgefühls wie auch aversiven Elementen (Aufstehen, Bettabziehen) dar. Es handelt sich nicht um eine klassische Konditionierung, da das Klingeln und das Aufwachen nicht durch den Stimulus »volle Blase« ausgelöst wird, sondern durch das Einnässen.
Therapie der Enuresis nocturna Verhaltenstherapeutische Ansätze sind am wirksamsten bei der Behandlung der Enuresis nocturna. Dabei werden die primäre und sekundäre Enuresis gleich behandelt. Zu Therapiebeginn sollte immer erst eine »Baseline« mit Beratung, positiver Verstärkung, Motivationsaufbau, Entlastung und Kalenderführung (z. B. »Sonne-Wolken-Kalender«) über einen Zeitraum von 4–8 Wochen folgen. Diese unspezifischen Maßnahmen reichen bereits für 15–20% der Kinder aus, um trocken zu werden. Falls diese Interventionen jedoch nicht zum Erfolg führen, ist die apparative Verhaltenstherapie (AVT) das Mittel der ersten Wahl zur Behandlung der monosymptomatischen Enuresis nocturna. Tragbare Geräte, sog. »Klingelhose«, und Bettgeräte, sog. »Klingelmatte«, sind dabei in etwa gleich effektiv. Kinder und Eltern sollte die Wirkungsweise demonstriert werden. Weiterhin sollte das Kind instruiert werden, das Gerät jede Nacht einzusetzen, komplett wach zu werden und die Therapie lange genug fortzusetzen (bis maximal 16 Wochen.). Der gesamte Therapieverlauf sollte von den Eltern dokumentiert werden. Das Therapieziel ist die komplette Trockenheit (mindestens 14 konsekutive trockene Nächte). Bei einem Rückfall (zwei nasse Nächte in einer Woche) wird das Gerät erneut eingesetzt. Die Behandlung mit einem
Therapie der Enuresis nocturna 4 4 4 4
Baseline mit Beobachtung und Kalenderführung Apparative Verhaltenstherapie mit Klingelgerät Arousal-Training Kombination mit Medikamenten
Psychotherapie der funktionellen Harninkontinenz Verhaltenstherapeutische Interventionen bilden auch die Basis der Therapie bei Einnässen tags. Dabei stellt lediglich die Dranginkontinenz eine Ausnahme dar, da hier oft eine medikamentöse Therapie zusätzlich indiziert ist. Idiopathische Dranginkontinenz. Schwerpunkt der Therapie der idiopathischen Dranginkontinenz ist ein kognitivverhaltenstherapeutisches Vorgehen. Das Ziel der symptomorientierten Therapie ist eine zentrale Kontrolle der Drangsymptome ohne Einsatz von Haltemanövern. Die Kinder sollen bei Harndrang sofort auf die Toilette gehen. In einem sog. »Fähnchenplan« werden Miktionen ohne Einnässen als »Fähnchen«, Einnässepisoden als »Wolken« dargestellt. Allein durch dieses Wahrnehmungstraining
387 24.3 · Enkopresis
verbessert sich die Symptomatik bei einem Drittel der Kinder. Bei den restlichen zwei Dritteln ist eine begleitende Pharmakotherapie mit Oxybutinin oder einem anderen Anticholinergikum notwendig.
4 familiäre Umstände, die eine aufwändige Therapie nicht erlauben; 4 vor Schulausflügen oder Urlauben, bei denen eine kurzfristige Trockenheit notwendig ist.
Harninkontinenz mit Miktionsaufschub. Auch bei der Harninkontinenz bei Miktionsaufschub ist das Vorgehen symptomorientiert. Verhaltenstherapeutische Interventionen umfassen eine Kalenderführung mit regelmäßigen »Schickzeiten« zur Toilette 7-mal pro Tag. Dies sollte in einem Plan eingetragen und kann zusätzlich mit einem Tokensystem operant verstärkt werden. Wegen der hohen psychischen Komorbidität (Zink et al. 2008) sind häufig weitergehende kinderpsychiatrische und -psychotherapeutische Maßnamen indiziert.
Dabei gibt es nur zwei Medikamente, die einen eindeutigen antienuretischen Effekt haben: Desmopressin (erste Wahl wegen geringeren Nebenwirkungen) und trizyklische Antidepressiva.
Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination. Bei der DetrusorSphinkter-Dyskoordination wird neben Motivationsaufbau und verhaltenstherapeutischen Elementen ein spezifisches Biofeedbacktraining (Grad der Evidenz III) eingesetzt. Über Klebeelektroden wird die Muskelaktivität des Beckenbodens abgeleitet und über akustische Signale rückgemeldet, die Harnflusskurve wird optisch an einem Computerbildschirm mit Animation dargestellt. Ziel ist, die Blase entspannt in einem Fluss (Glockenkurve) zu entleeren. Weitere Formen. Die Lachinkontinenz kann durch klas-
sisches Konditionieren mit einem aversiven Reiz, der den Miktionsreflex inhibiert (von Gontard 2006), (z. B. Gummiband an Handgelenk bei Lachen zupfen – eigene klinische Erfahrung) oder mit hoch dosiertem Methylphenidat behandelt werden. Bei der Stressinkontinenz ist ein Beckenbodentraining und Imipramin und bei dem Lazy-BladderSyndrom ein intensives Blasentraining wirksam.
Therapie des Einnässens tags Dranginkontinenz
Wahrnehmung der Drangsymptome ohne Einsatz von Haltemanövern
Harninkontinenz bei Miktionsaufschub
Steigerung der Miktionsfrequenz
Detrusor-SphinkterDyskoordination
Biofeedback
Pharmakotherapie bei Einnässen Insgesamt sind verhaltenstherapeutische Interventionen generell wirksamer als eine medikamentöse Therapie. Indikationen für eine Pharmakotherapie beinhalten: 4 Therapieresistenz gegenüber anderen Methoden; 4 fehlende Motivation des Kindes;
Desmopressin. Desmopressin ist ein synthetisches Analogon des antidiuretischen Hormons (ADH). Bei 70% der Patienten kann eine Reduktion der nassen Nächte erreicht werden. Die meisten Kinder erleiden jedoch nach Absetzen des Medikamentes einen Rückfall. Die individuelle Dosierung wird über 4 Wochen austitriert. Bei nachgewiesener Wirkung kann nach spätestens 12 Wochen ein Absetzversuch durchgeführt werden, der jedoch langsam erfolgen sollte. Wenn es dann erneut zu einem Rückfall kommt, kann das Medikament erneut für maximal 12 Wochen verabreicht werden. Nebenwirkungen sind selten und umfassen Reizung der Nasenschleimhaut und Kopfschmerzen. Als seltene, jedoch wichtigste Nebenwirkung kann ein Hirnödem mit Hyponatriämie bis zur Bewusstlosigkeit auftreten. Trizyklische Antidepressiva. Trizyklische Antidepressiva (Imipramin) zeigen ebenfalls einen antidiuretischen Effekt (exakter Wirkmechanismus nicht gesichert). Wegen der möglichen gravierenden kardialen Nebenwirkungen erfordern sie eine intensive Überwachung mit EKG und Blutbildkontrolle.
Medikamentöse Therapie 4 Enuresis nocturna: Nach Indikation: Desmopressin, selten trizyklische Antidepressiva 4 Dranginkontinenz: Oxybutinin oder Propiverin
24.3
Enkopresis
24.3.1 Darstellung der Störung
Enkopresis wird als willkürliches oder unwillkürliches Absetzen von Stuhl an nicht dafür vorgesehenen Stellen ab dem Alter von 4 Jahren definiert. Es handelt sich um eine funktionelle Störung, die nach Ausschluss organischer Ursachen diagnostiziert wird. Das Einkoten muss mindestens einmal im Monat auftreten und während einer Mindestdauer von 3 Monaten nach DSM-IV bzw. 6 Monaten nach ICD-10 bestehen. Nach ICD-10 soll eine Enkopresis bei Vorhandensein von anderen psychischen Störungen nur
24
388
Kapitel 24 · Enuresis und Enkopresis
. Tab. 24.3. Klassifikation der Enkopresis nach DSM-IV (APA 1994) und ICD-10 (WHO 1993) DSM-IV
ICD-10 (Forschungskriterien)
Name
Enkopresis 307.7; 787.6
Enkopresis F98.1
Definition
Wiederholtes unwillkürliches (selten willkürliches) Absetzen von Stuhl an nicht dafür vorgesehenen Stellen
Willkürliches oder unwillkürliches Absetzen von Stuhl an nicht dafür vorgesehenen Stellen
Alter
Chronologisches oder Entwicklungsalter: 4 Jahre
Chronologisches und geistiges Alter: 4 Jahre
Dauer
3 Monate
6 Monate
Ausschlusskriterien
Nicht Folge von Substanzen (wie Laxanzien) oder einer medizinischen Grunderkrankung (Ausnahme: Obstipation)
Keine organische Ursache
Subtypen
24
787.6 mit Obstipation und Überlaufinkontinenz
F98.11 normale Stuhlkonsistenz
307.7 ohne Obstipation und Überlaufinkontinenz
F98.12 überwiegend flüssiger Stuhl
Primär
Beschrieben
F98.10 nie sauber (primär)
Sekundär
Beschrieben
Nicht beschrieben
dann diagnostiziert werden, wenn »sie das dominierende Phänomen darstellt«. Bei der Komorbidität von Enkopresis und Enuresis »soll die Kodierung der Enkopresis Vorrang haben«. Wenn Enkopresis und Obstipation nebeneinander bestehen, ist nur die Enkopresis zu kodieren. Diese Einschränkungen reduzieren die Aussagekraft von komorbiden Diagnosen willkürlich und wenig sinnvoll. Typisch für die Enkopresis ist das gleichzeitige Auftreten mehrerer Störungen, die nicht unbedingt kausal miteinander verknüpft sein müssen. Von daher wäre es sinnvoller, jede komorbide Störung – ob somatisch oder psychisch – getrennt aufzuführen. Die Unterscheidung zwischen den beiden wichtigsten Subformen, der Enkopresis mit und ohne Obstipation, Stuhlretention und »Überlaufinkontinenz« wird von der DSM-IV genauer vorgenommen (. Tab. 24.3). Bei einer Enkopresis mit Obstipation haben die Kinder selten Stuhlgang (weniger als 3-mal pro Woche), setzen große Stuhlmengen ab, die Stuhlkonsistenz ist verändert (zu wässrig oder zu hart), die Kinder haben Schmerzen bei der Defäkation, Bauchschmerzen und reduzierten Appetit, Skybala (Kotballen) sind über dem Abdomen tastbar, die Kolontransitzeit ist verlängert, die anal-rektale Sensibilität ist reduziert, bei der Ultraschalluntersuchung können ein erweitertes Rektum und retrovesikale Impressionen imponieren (Benninga et al. 1994, 2004), (. Abb. 24.2). Bei der Enkopresis ohne Obstipation fehlen diese Symptome. Die Kinder haben täglich kleine Mengen Stuhlgang normaler Konsistenz auf der Toilette, koten seltener ein, haben keine Skybala, Schmerzen oder Ultraschallzeichen, zeigen guten Appetit, eine unauffällige Kolontransitzeit und Sensibilität. Die Symptomatik verschlechtert sich hier bei Laxanziengabe. Eine hohe psychische Komorbidität (40–50%) liegt vor. Im Jahre 2006 erschienen von pädiatrischen Gastroenterologen um Rasquin et al. (2006) die Rome-III-Kriterien für funktionelle gastrointestinale Störungen des Kindesalters. Nach dieser neuen Klassifikation wird die Enkopresis
entweder als Teilsymptom der Obstipation (übergeordnete Störung) oder als eigene Störung ohne Stuhlretention gesehen (. Tab. 24.4). Die Unterscheidung in primäre und sekundäre Enkopresis, Letztere nach einem sauberen Intervall, hat keine Therapierelevanz. Die meisten Kinder koten tagsüber ein. Nächtliches Einkoten tritt selten auf, in diesen Fällen solllte eine genauere somatische Diagnostik erfolgen. Zu den seltenen Formen gehören das Toilettenverweigerungssyndrom und die Toilettenphobie. Beim Toilettenverweigerungssyndrom, das bei 22% der Kleinkinder auftritt, gehen die Kinder zum Wasserlassen auf die Toilette, verlangen für die Defäkation aber eine Windel (Taubmann 1997). Das Toilettenverweigerungssyndrom kann Vorläufer einer Enkopresis mit Obstipation sein (von Gontard 2004). Hier liegt häufig komorbid auch eine Störung des Sozialverhaltens mit oppositionell-aufsässigem Verhalten vor. Bei einer Toilettenphobie – einer isolierten Phobie – wird die Toilette sowohl bezüglich Stuhlabsetzen als auch
. Abb. 24.2. Retrovesikale Impressionen, im Längsschnitt sichtbare Stuhlmassen hinter der gefüllten Blase
389 24.3 · Enkopresis
. Tab. 24.4. Diagnostische Kriterien ROME III H3a. Funktionelle Obstipationa
H3b. Nichtretentives Einkotenb
(1) Zwei oder weniger Defäkationen in die Toilette pro Woche
(1) Mindestens einmal im Monat Defäkation an Stellen, die für den sozialen Kontext unangemessen sind
(2) Mindestens eine Einkotepisode pro Woche
(2) Kein Nachweis von Entzündung, anatomischem, metabolischem oder neoplastischem Prozess, der die Symptome erklären würde
(3) In der Anamnese Zurückhalten von Stuhl oder exzessive willkürliche Stuhlretention
(3) Kein Nachweis von Stuhlretention
(4) In der Anamnese schmerzhafter oder harter Stuhlgang (5) Große Stuhlmassen im Rektum (6) In der Anamnese große Stuhldurchmesser, die die Toilette verstopfen können a Zwei oder mehr der folgenden Kriterien bei Kindern mit einem Entwicklungsalter von mindestens 4 b Alle der folgenden Kriterien müssen bei einem Kind mit einem Entwicklungsalter von mindestens 4
Urinieren verweigert. Die Toilettenphobie wird mit systematischer Desensibilisierung behandelt. Die psychische Komorbidität ist bei der Enkopresis am höchsten von allen Ausscheidungsstörungen. 30–50% der Kinder mit Enkopresis zeigen psychische Auffällgkeiten im klinischen Bereich, internalisierende Störungen (z. B. depressive Episoden, Angststörungen) kommen etwas häufiger als externalisierende Störungen (z. B. Störungen des Sozialverhaltens, hyperkinetisches Syndrom) vor (von Gontard 2004). Kinder mit geistiger und körperlicher Behinderung koten häufiger ein. Die Raten von Enkopresis bei Kindern, die einen sexuellen Missbrauch erlitten haben, sind erhöht. Eine schlechte Langzeitprognose haben Kinder mit Enkopresis mit hoher Komorbidität mit psychischen Faktoren und einer fehlenden Nachbetreuung. Eine Nachbehandlung über mindestens 6–24 Monate wird empfohlen (Felt et al. 1999).
24.3.2 Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Für Stuhlverstopfung (Obstipation) besteht im Vergleich zur Enkopresis eine sehr viel höhere genetische Disposition: in einer Zwillingsstudie (Bakwin u. Davidson 1971) wurde bezüglich chronischer Obstipation eine 4-mal höhere Konkordanzrate bei eineiigen (70%) im Vergleich zu zweieiigen (18%) Zwillingen gefunden. Wenn ein Elternteil betroffen ist, beträgt das Wiederholungsrisiko in der nächsten Generation 26%, wenn beide betroffen sind, 46%. Das Wiederholungsrisiko für die Obstipation ist sehr viel höher als für Enkopresis (Benninga et al. 1994). Eine frühe, intensive Sauberkeitserziehung kann die Prävalenz des Einkotens im frühen Kleinkindesalter beeinflussen, auf die Häufigkeit und Ausprägung bei Kindern ab 4 Jahren zeigt sich jedoch kein Effekt mehr (Largo et al. 1996). Bei nur 5% aller Kinder mit chronischer Obstipation liegen organische Ursachen (anatomisch, z. B. Analfis-
Jahren. Jahren erfüllt sein.
suren, Innervationsstörungen wie Morbus Hirschsprung, Stoffwechselstörungen, hormonell, neurogen u. pharmakologisch) vor. Das bedeutet, dass 95% aller chronisch obstipierten Kinder eine rein funktionelle Störung haben. Diese entsteht häufig aus einer akuten Obstipation, die bei 16% der Kleinkinder vorkommt (Loening-Baucke 1994). Zu einer akuten Obstipation können eine genetische Disposition, somatische Faktoren wie Schmerzen, anale Rhagaden (schmerzhafte Risse), Nahrungsumstellung, intensives Toilettentraining, Medikamente und auch psychische Auslöser (emotionale Traumata oder belastende Lebensereignisse) führen. Es folgt eine weitere, habituelle Stuhlretention, um Schmerzen zu vermeiden. Hierbei wird der Schließmuskel des Anus paradox angespannt. Die Vermeidung der Stuhlentleerung führt zu einer Anhäufung von harten Stuhlmassen mit Entwicklung eines Megakolon (d. h. ein extrem erweiterter Dickdarm), einer Reduktion von Sensibilität und Peristaltik und schließlich Einkoten: zwischen den alten Stuhlmassen tritt frischer, z. T. flüssiger Stuhl aus. Intrafamiliäre Konflikte können dem Einkoten folgen (Cox et al. 1998). Eine Verleugnung der Symptomatik, sozialer Rückzug und Verhaltensprobleme können sich sekundär entwickeln. Die Ätiologie der Enkopresis ohne Obstipation ist nicht geklärt. Der Anteil der organischen Ursachen liegt bei ca. 1%. Es handelt sich um eine überwiegend umweltvermittelte Ätiologie. Sie ist nicht rein psychogen bedingt, da sich die Komorbiditätsrate von psychischen Störungen nicht unterscheidet. Beim Toilettenverweigerungssyndrom fanden sich häufiger belastende Lebensereignisse wie Geburt von jüngeren Geschwistern, ein auffälliges Verhalten, ein verspätetes Toilettentraining und die Tendenz zur Stuhlretention (Taubman 1997). Eine verhaltenstherapeutische Bedingungs- und Verhaltensanalyse zu einer Enkopresis mit Obstipation könnte folgendermaßen lauten:
24
390
24
Kapitel 24 · Enuresis und Enkopresis
Das Problemverhalten (R) des Kindes besteht aus Stuhlretention. R beinhaltet auf der Verhaltensebene Zurückhalten von Stuhlgang bei Stuhldrang. Emotional reagiert das Kind ängstlich, resigniert und mit Schamgefühlen (Remot). Auf der kognitiven Verhaltensebene findet sich beispielsweise »der Stuhl ist hart und tut mir weh« (Rkog). Es lassen sich Zusammenhänge des Einkotens mit Bedingungen wie geringe Trinkmenge, Fehlernährung und Bewegungsmangel als mögliche situationsspezifische Auslöser (S) identifizieren. Auch somatische Faktoren, wie schmerzhafte Hautrisse (anale Rhagarden) oder auch belastende Lebensereignisse (z. B. Trennungen) können als situationsspezifische Auslöser identifiziert werden. Auf der Ebene der Organismusvariablen (O) findet sich bedingt durch die genetische Prädisposition eine Neigung zur Obstipation. Negativ verstärkt (C ⁄–) wird das Einkoten durch die Vermeidung von Schmerzen beim Stuhlgang. Langfristig C ⁄– sammelt sich härterer Stuhl an, und es entwickelt sich ein Megakolon mit verminderter Sensibilität und Peristaltik sowie alte Stuhlballen (Skybala). Langfristig wird das Kind aufgrund seines Einkotens stigmatisiert und sozial ausgegrenzt (C ⁄–).
Epidemiologie Bei Kleinkindern kommt Einkoten noch sehr häufig vor. Die Prävalenz bei Vierjährigen liegt bei 2,8%, bei Siebenjährigen bei 1–2,5%, bei 13-Jährigen bei 1,4%. Es sind 3- bis 4-mal mehr Jungen betroffen. Primäre und sekundäre Enkopresis kommen gleich häufig vor. 79–90% aller obstipierten Kinder koten ein. 20–70% aller Kinder mit Enkopresis sind obstipiert. 20–50% der Kinder mit Enkopresis, mit und ohne Obstipation, nässen tags wie auch nachts ein. 5% der Kinder mit Enuresis nocturna, 25% mit Einnässen tagsüber koten auch ein
Einnässen. Eine sorgfältige körperliche Untersuchung inklusive rektaler Untersuchung, Inspektion von Genitale und unterer Extremität ist absolut notwendig. Bei Enkopresis mit Obstipation kann mittels Ultraschalluntersuchung eine Erweiterung des Enddarms bildlich hinter der Blase dargestellt und gemessen werden. Hier findet man typischerweise Resturin nach Miktion. Nicht routinemäßig, sondern nur in besonderen Fällen sind Druckmessungen des Enddarms, Röntgenuntersuchungen oder Darmbiopsien indiziert. Bei Vorliegen einer Enkopresis mit Obstipation soll eine sorgfältige kinderärztliche Diagnostik, ggf. mit speziellen Untersuchungsmethoden, wegen möglicher organischer Ursachen in 5% der Fälle, durchgeführt werden. Aufgrund der hohen Komorbiditätsrate muss eine besonders umfassende kinderpsychiatrische Diagnostik erfolgen.
Diagnostische Maßnahmen bei Enkopresis 4 Standarddiagnostik: – Anamnese – Miktionsprotokoll – Fragebogen – Körperliche Untersuchung – Ultraschall – Uroflowmetrie (Harnflussmessung) – Screening für psychische Symptome – Detaillierte kinderpsychiatrische und psychologische Diagnostik 4 Erweiterte Diagnostik bei Indikation: – Labor – Urinstatus – Urin-, Stuhlbakteriologie – MRI (Bildgebung) – Manometrie (Druckmessung) – Kolon-Kontrast-Einlauf – Saugbiopsien
24.3.3 Diagnostik
Eine ausführliche Anamnese wird ergänzt durch eine Spezialanamnese zum Einkoten und einen Enkopresis-Fragebogen. Dieser ist in einer langen, einer kurzen und einer Screening-Version vorhanden (von Gontard 2004). Die Enkopresis-Fragebögen enthalten Fragen zur Einkothäufigkeit (Wie häufig kotet Ihr Kind tags/nachts ein?), zur Einkotsymptomatik (Wie groß sind die eingekoteten Stuhlmengen? Wie ist die Beschaffenheit des eingekoteten Stuhls?), zu Rückfällen (War Ihr Kind schon einmal sauber, wann und wie lange?), zum Stuhlverhalten (Wie häufig hat Ihr Kind Stuhlgang? Wie groß sind die Stuhlmengen? Wie ist die Beschaffenheit des Stuhls?), zu Wahrnehmung und Reaktion auf Einkoten (Leidet ihr Kind unter dem Einkoten? Haben Sie Ihr Kind wegen des Einkotens bestraft?) sowie Fragen zum
24.3.4 Therapeutisches Vorgehen
Die Basistherapie bei Enkopresis besteht aus einer ausführlichen Psychoedukation und Informationsvermittlung an Kind und Eltern. Bei der Enkopresis mit Obstipation kann . Abb. 24.3 zur Erklärung hilfreich sein. Toilettentraining. Bei der Enkopresis wird im Gegensatz zur Enuresis keine Baseline erhoben, sondern sofort mit einem verhaltenstherapeutischen Toilettentraining begonnen. Bei diesem symptomorientierten Vorgehen sollen die Kinder nach dem Frühstück, Mittag- und Abendessen 5–10 Minuten entspannt auf der Toilette sitzen. Hier werden die Entleerungsreflexe des Darmes nach den Mahlzeiten ausge-
391 24.3 · Enkopresis
wird mit oralen Laxanzien (osmotischen Laxanzien) weiterbehandelt. Polyethylenglykol (Laxofalk oder Movicol junior) sind im Vergleich zu dem herkömmlichen Milchzucker besser verträglich, sie werden nicht resorbiert und haben weniger Nebenwirkungen. Cox et al. beschrieben 1998, dass Biofeedback bei Enkopresis mit Obstipation nicht wirksam ist. Eine Biofeedbackbehandlung zusätzlich zu einer verhaltenstherapeutischen Standardbehandlung erwies sich als weniger erfolgreich. Liegt eine Enkopresis ohne Obstipation vor, sollen keine Laxanzien verabreicht werden, diese können die Symptomatik verstärken (Benninga et al. 1994). . Abb. 24.3. »Teufelskreis« bei Enkopresis mit Obstipation nach Levine (1991, aus von Gontard 2004). 1: Normales Kolon; 2: beginnende Ansammlung von härterem Stuhl; 3: Megakolon – zwischen alten Stuhlballen tritt frischer dünnerer Stuhl aus; 4: nach abführenden Maßnahmen; 5: restitutio ad integrum
nutzt. Wichtig ist, dass das Kind Fußkontakt hat – wenn nicht zum Boden möglich, dann zu einem kleinen Hocker –, um entspannt auf der Toilette sitzen zu können. Während des Toillettentrainings dürfen die Kinder malen, lesen oder z. B. Gameboy spielen. Letzteres kann die Motivation zum Training sehr steigern, wenn der Gameboy außerhalb der Trainingszeiten nicht zur Verfügung steht. Vielen Kindern hilft ein Kurzzeitwecker vor Ort, um mindestens 5 Minuten sitzen zu bleiben. Die Eltern dokumentieren in Enkopresisprotokollen 3mal täglich, ob sie das Kind zur Toilette schicken mussten oder ob es allein gegangen ist, ob die Unterhose sauber, beschmiert oder eingekotet war und ob das Kind auf der Toilette Wasser gelassen und/oder Stuhlgang abgesetzt hat. Mit dem Toilettentraining können schnell Erfolge erzielt werden, d. h. die Kinder sind sauber oder die Einkotsymptomatik ist deutlich reduziert. Viele Familien neigen dann dazu, zu früh damit aufzuhören. Oft kommt es zu Rückfällen. ! Die Empfehlungen lauten, das Toilettentraining noch 6–12 Monate nach Erreichen der Sauberkeit fortzuführen.
Bei mangelnder Bereitschaft der Kinder für das Toilettentraining können Verstärkerpläne unterstützend eingesetzt werden. Belohnt werden sollte in erster Linie die Mitarbeit der Kinder, nicht Sauberkeit oder erfolgreicher Toilettengang. Wenn das Toilettentraining nicht erfolgreich ist (Kind macht nicht mit, weigert sich, diskutiert) z. B. bei komorbider Störung des Sozialverhaltens mit oppositionell-aufsässigem Verhalten, muss zuerst die Komorbidität behandelt werden. Desimpaktion/Laxanzien. Bei Ansammlung größerer Stuhlmassen bei einer Enkopresis mit Obstipation erfolgt zunächst die sog. Desimpaktion mittels Klistier (phosphathaltige Einmalklistiere). Während der Erhaltungstherapie
Therapie der Enkopresis 4 Enkopresis mit Obstipation – Toilettentraining und Laxanzien – Desimpaktion mit phosphathaltigen Klistieren – Oral: Polyethylenglykol oder Laktulose 4 Enkopresis ohne Obstipation – Toilettentraining
Toilettenverweigerungssyndrom. Bei der leichteren Form
des Toilettenverweigerungssyndroms, bei dem die Kinder zum Wasserlassen auf die Toilette gehen, die Defäkation aber verweigern, wird den Eltern empfohlen, den Kindern wieder eine Windel anzuziehen und auf alle aktiven Aspekte des Sauberkeitstrainings zu verzichten. Dadurch kommt es zu einer Reduktion des innerfamiliären Stresses und häufig zu einer Spontanremission. Bei chronischem Verlauf entwickelt sich das Vollbild der Enkopresis mit Obstipation, welche einer intensiven Therapie bedarf. Toilettenphobie. Kinder mit einer Toilettenphobie haben Angst, in die Toilette zu fallen oder Angst vor Ungeheuern, sie verweigern Miktion und Defäkation auf der Toilette. Hierbei handelt es sich um eine isolierte Phobie, die mit systematischen Desensibilisierungsmethoden behandelt wird. Kombinierte Ausscheidungsstörung. Bei kombinierter Aussscheidungsstörung (Einkoten und Einnässen) sollte an erster Stelle die Enkopresis mit oder ohne Obstipation behandelt werden. Allein durch diese Maßnahme kann es zu einer Reduktion des Einnässens kommen (Loening-Baucke 1997). An zweiter Stelle sollte das Einnässen tagsüber und zuletzt das Einnässen nachts behandelt werden. Blasen-/Darmschulung. Kinder, die im Verlauf zwar einen Leidensdruck einerseits, jedoch kaum Behandlungsmotivation andererseits zeigen, erhalten an unserer Klinik eine Blasen- und/oder Darmschulung. Die Schulung wird bei jüngeren Kindern (4–7 Jahre) gemeinsam mit der Mutter, bei Kindern älter als 7 Jahre möglichst in einer Kleingruppe
24
392
Kapitel 24 · Enuresis und Enkopresis
Gleichaltriger abgehalten. Während der Blasen-/Darmschulung lernen die Kinder altersentsprechend und spielerisch die Physiologie der Ausscheidung, der Verdauung, Anatomie des Harn- und/oder Magen-Darm-Trakts, Gründe für eine ausreichende Trinkmenge, vollwertige Ernährung und Wichtigkeit der regelmäßigen Entleerung. Jedes Kind erhält ein vorbereitetes Manual, in das es begleitend Eintragungen und Zeichnungen einfügt. Gegen Ende der Stunde werden noch Wahrnehmungs- und Entspannungsübungen durchgeführt. Durch das Gruppensetting erfahren die Kinder oft zum ersten Mal, dass sie nicht die einzigen Betroffenen sind.
24 24.4
Fallbeispiel
Emilys Fall beschreibt die Diagnosen: 1. Enkopresis, 2. primäre nicht monosymptomatische Enuresis nocturna, 3. Harninkontinenz bei Miktionsaufschub, 4. rezidivierende Harnwegsinfektionen.
Emily: 12;6 Jahre Emily wurde zur Mitbehandlung ihrer Einkot- und Einnässsymptomatik vorgestellt. Sie war bereits in der Klinik für Urologie und in der Klinik für Kinderchirurgie in Behandlung. Emily sei noch nie sauber gewesen, was sie sehr quäle und z. T. zu »verstocktem« Verhalten führe. Die Mutter berichtete, dass die Einnässsymptomatik unter Stress schlimmer sei. Emily kote 2- bis 3-mal pro Woche, vor allem nachmittags, ein. Es handele sich teils um Stuhlschmieren, teils um Stuhlmassen fester Konsistenz. Das Einkoten passiere zu Hause, im Streit und unterwegs. Sie könne Stuhlgang für kurze Zeit zurückhalten. Emily habe täglich Stuhlgang wechselnder Konsistenz. Die Mutter fordere ihr Kind zum Toilettengang auf, woraufhin Emily wütend reagiere und verweigere. Sie nehme sich für den Toilettengang keine Zeit. Pressen beim Stuhlgang. Emily versuche das Einkoten zu verbergen. Sie verstecke ihre Unterhosen, zeige keinerlei emotionale Reaktion. Emily nässe fast jeden Tag ein. Zweimal pro Woche nässe sie auch nachts ein. Miktionsauffälligkeiten, wie Miktionsaufschub bei Spiel, Fernsehen, Drangsymptomatik und Haltemanöver, wurden bejaht. Emily habe unzählige Harnwegsinfektionen durchgemacht.
Anamnese Die Schwangerschaft sei ungestört verlaufen. Die Entbindung erfolgte spontan in der 40. Schwangerschaftswoche, die Nabelschnur sei kurz gewesen, Geburtsgewicht 3350 g. Emily sei nicht gestillt worden. Sie sei ein ruhiges, braves Kind gewesen. Laufalter 11 Monate, altersgerechte Sprachentwicklung. Besuch des Kindergartens im Alter vom 3. bis zum 6. Lebensjahr – ungestört. Zeitgerechte Einschulung in eine Regelgrundschule. Emily ist eine gute
Schülerin, sie hat erfolgreich die 6. Klasse der Realschule absolviert und bis jetzt keine Klasse wiederholt. Nach Einschätzung durch die Mutter zeigte Emily eine Aufmerksamkeitsstörung während der gesamten Schullaufbahn. Die 5jährige Schwester nässe einmal pro Monat nachts und selten tagsüber ein.
Diagnostik Psychopathologischer Befund. Freundlich zugewandtes
Mädchen, immer sehr ungeduldig, demonstrativ, wenig bei der Sache, leicht gesteigerte körperliche Aktivität, Impulsivität, deutlich unaufmerksam, ablenkbar, stark mangelndes Selbstvertrauen. Elternfragebogen über das Verhalten von Jugendlichen – CBCL/4–18: Emily hatte einen Gesamt-T-Wert von 72, ex-
ternalisierendes 72 und internalisierendes Verhalten 64 (klinisch relevant über 63). Auffällig waren insbesondere die Bereiche soziale Probleme und aggressives Verhalten. Intelligenzdiagnostik. Bei einer orientierenden Intelligenz-
diagnostik (»Standard progressive matrices« von Raven) erreichte Emily ein Gesamtbegabungsniveau im oberen Durchschnittsbereich (IQ=108). Körperliche Untersuchung. Bei der körperlichen Untersuchung ergab sich kein Anhalt für eine Fehlbildung. Die Uroflowmetrie zeigte eine Harnstrahlkurve in Towerform bei einem Miktionsvolumen von 315 ml und einer maximalen Harnflussrate von 43,2 ml/s. Sonographisch 5,3 ml Resturin. Per Ultraschalluntersuchung wurde eine unauffällige Blasenwanddicke von 2,1 mm gemessen. Das 24Stunden-Toilettenprotokoll zeigte 8 Miktionen in 24 Stunden à 120–430 ml, bei einer Trinkmenge von 1500 ml mit Abständen von 4,20 Stunden zwischen den Miktionen, tagsüber feucht eingenässt, zweimal Stuhlgang auf der Toilette, einmal bei Durchfall eingekotet. Die EEG-Untersuchung ergab ein altersentsprechendes Wach-EEG.
Therapie Bei Emily wurde eine kombinierte Ausscheidungsstörung diagnostiziert. Zunächst erhielten Mutter und Kind eine ausführliche Psychoedukation. Enuresis und Enkopresis wurden paralell behandelt. Wir empfahlen den im Miktionsprotokoll aufgefallenen Miktionsaufschub von 4 Stunden durch Steigerung der Miktionsfrequenz zu unterlassen. Zur Behandlung der Enkopresis führte Emily ein Toilettentraining 3-mal täglich nach den Hauptmahlzeiten durch. Zur Therapie der Einnässsymptomatik sollte sie 7mal täglich die Blase entleeren. Die Toilettengänge für Einnässen/Einkoten sollten von ihr detailliert protokolliert werden. Für ihre Mitarbeit wurde die Patientin positiv mit einem Tokensystem verstärkt. Eine tendenzielle Besserung der Symptomatik war bereits nach wenigen Wochen feststellbar.
393 Literatur
Weiterhin nahm sie erfolgreich an einer Blasenschulung in der Kleingruppe teil. Hier verinnerlichte sie die Theorie (Trink-/Miktionshygiene, Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie des Harntrakts) innerhalb kurzer Zeit, sie konnte sich auch gut auf die Wahrnehmungs- und Entspannungsübungen einlassen, allerdings erschienen ihr Leidensdruck und ihre Therapiemotivation nur mäßig ausgeprägt. Jedoch berichtete sie bedrückt, dass sie von anderen Kindern häufig wegen des Einnässens ausgelacht wurde. Die ambulanten Vorstellungen erfolgten alle 3–6 Wochen. Ein Jahr nach Therapiebeginn war Emily sauber, das Einnässen konnte auf einmal wöchentlich reduziert werden. Aufgrund der emotionalen Symptomatik und hohen T-Werte im CBCL ist geplant, dass Emily noch an einem ambulant durchgeführten sozialen Kompetenztraining in einer Gruppe Gleichaltriger teilnehmen wird.
24.5
Empirische Belege
Die meisten Studien wurden bisher zur Enuresis nocturna durchgeführt, gefolgt von Störungen mit Einnässen tags. Bei allen Formen des Einnässens sind mehreren Metaanalysen zufolge kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden effektiver als die Pharmakotherapie, die Mittel der zweiten Wahl ist. Entsprechend basieren viele Therapieempfehlungen der Enuresis nocturna auf einem hohen Grad der Evidenz (von Gontard 2007). Hier finden sich mehrere randomisierte kontrollierte Studien, die in Reviews oder Metaanalysen zusammengefasst wurden (. Tab. 24.5). Sowohl die apparative Verhaltenstherapie als auch die Pharmakotherapie (Houts et al. 1994, Lister-Sharp et al. 1997) erreichen den höchsten Grad der Evidenz (Evidenzgrad I) Da beim Einnässen tags dagegen nur randomisierte Studien bis zu Expertenempfehlungen vorliegen, wird nur Evidenzgrad
III–V erzielt. Lediglich für die Pharmakotherapie der Dranginkontinenz mit Oxybutinin gibt es randomisiert kontrollierte Studien (Evidenzgrad II). Insgesamt ist demnach die Evidenzbasis für das Einnässen tags sehr viel geringer als für die Enuresis nocturna. Zur Therapie der Enkopresis wurden zunehmend qualitativ hochwertige randomisiert kontrollierte Studien durchgeführt, die z. B. die fehlende Wirksamkeit von Biofeedbackverfahren nachweisen konnten (Grad II), (van der Plas et al. 1996). Dennoch sind es überwiegend klinische Studien, auf denen die Empfehlungen beruhen (Grad III).
Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden praxisrelevante Aspekte der Diagnostik und Therapie von Ausscheidungsstörungen dargestellt. Die Ausscheidungsstörungen beinhalten eine große Gruppe von verschiedenen Syndromen und Störungen. Therapeutisch empfohlen wird ein symptomorientiertes Vorgehen. Aufgrund der Wirksamkeit bilden kognitiv-verhaltenstherapeutische Zugänge die Grundlage der Therapie. Die Indikationen für Pharmakotherapie sollten beachtet werden. Wegen hoher Komorbidität mit anderen psychischen Störungen ist es manchmal erforderlich, bei entsprechender Indikation tiefenpsychologisch fundierte, familientherapeutische und andere kinder- und jugendpsychiatrische Interventionen zu kombinieren. Wegen der Komorbiditäten auch mit medizinischen Störungen sollte eine enge Zusammenarbeit mit den betreuenden Kinderärzten erfolgen.
Literatur . Tab. 24.5. Effektivität der Therapie der Enuresis nocturna (nach Daten aus der Metaanalyse von Houts et al. 1994): Prozent der trockenen Kinder am Behandlungsende und zum Katamnesezeitpunkt Trocken am Behandlungsende [%]
Trocken bei Katamnesezeitpunkt [%]
AVT insgesamt
66
51
AVT mit Verstärker
72
56
Verhaltenstherapien
33
30
Verbale Psychotherapien
21
11
Trizyklische Antidepressiva
40
17
Desmopressin
46
22
Andere Mediamente insgesamt
23
13
Behandlungsmethode
Psychotherapien
Pharmakotherapien
AVT apparative Verhaltenstherapie.
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24
394
24
Kapitel 24 · Enuresis und Enkopresis
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25
25 Lese-/Rechtschreibstörung Karin Landerl
25.1
Einleitung
– 396
25.2
Störungsbild der LRS im Entwicklungsverlauf – 396
25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.2.4
Symptomatik und Klassifikation der LRS – 396 Epidemiologie – 397 Sekundäre Probleme und Komorbiditäten – 397 Verlauf und Prognose – 397
25.3
Modelle zur Ätiologie
25.4
Diagnostik – 401
25.5
Therapeutisches Vorgehen
25.6
Fallbeispiel
25.7
Empirische Belege
25.7.1 25.7.2
Prävention und Frühförderung – 407 Lese-/Rechtschreibförderung – 407
– 403
– 405
Zusammenfassung Literatur
– 399
– 407
– 408
– 408
Weiterführende Literatur
– 410
396
Kapitel 25 · Lese-/Rechtschreibstörung
25.1
25
Einleitung
Es gibt Kinder, die mit dem Lesen- und/oder Schreibenlernen ungewöhnliche Schwierigkeiten haben, welche sich nicht auf eine geistige Behinderung, mangelhaften Unterricht, Milieufaktoren oder ähnlich offenkundige Ursachen zurückführen lassen. Realistische Prävalenzschätzungen geben an, dass etwa 4–6% der Population von diesem Problem betroffen sind, d. h. statistisch gesehen sitzen in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder mit Lese-/Rechtschreibstörung (LRS). Die Symptomatik dieser Störung ist bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt. Im deutschen Sprachraum beschäftigte sich als erster der Mediziner Ranschburg (1916) mit diesem Phänomen. Ranschburg prägte auch den Terminus »Legasthenie« (griech.: legein = lesen, asthenia = Schwäche). In den letzten Jahren setzt sich auch zunehmend der Begriff »Dyslexie« durch, der sich von der im englischsprachigen Raum üblichen Bezeichnung »dyslexia« ableitet. Während in der englischsprachigen Forschung klar die Leseprobleme betroffener Kinder im Vordergrund stehen, wird LRS im deutschen Sprachraum traditionellerweise eher als Rechtschreibproblem gesehen. Die massiven Rechtschreibdefizite Betroffener sind ja auch in jeder schriftlichen Arbeit deutlich erkennbar. Die Probleme im Lesen scheinen demgegenüber auf den ersten Blick eher gering: Bei guter Konzentration kann nahezu jeder Text ohne größere Lesefehler gelesen werden. Beleuchtet man die Leseleistungen allerdings genauer, so wird ein Problem deutlich, das erst in letzter Zeit in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt ist: Personen mit LRS benötigen 2- bis 4-mal mehr Zeit, auch nur einfache Texte zu erlesen, als unauffällige Leser. Da Lesen für sie eine extrem anstrengende und wenig unterhaltsame Tätigkeit darstellt, beschränken Betroffene ihre Leseaktivitäten oft auf das Notwendigste. Informationen aus Texten zu entnehmen gelingt häufig nur mit großer Anstrengung. Während die Rechtschreibprobleme zwar massiv, aber nach der Schulzeit kaum mehr relevant sind, stellen diese Lesedefizite für die weitere berufliche Laufbahn ein ernsthaftes Problem dar. Ein Leben ohne oder mit nur eingeschränkten Lesefertigkeiten ist besonders in unserer heutigen Informationsgesellschaft mit vielen Umständlichkeiten verbunden. Von Walt Disney, Auguste Rodin oder Hans Christian Andersen ist bekannt, dass sie »Legastheniker« waren. Eine erfolgreiche berufliche Karriere trotz LRS ist also grundsätzlich möglich. Sie ist allerdings bedauerlicherweise eher die Ausnahme als die Regel und gelingt nur bei rechtzeitiger Identifikation des Problems und mit viel Verständnis und Unterstützung durch das familiäre und schulische Umfeld.
25.2
Störungsbild der LRS im Entwicklungsverlauf
25.2.1 Symptomatik und Klassifikation der LRS
In der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen der WHO (ICD-10, Kap. V[F]; Dilling et al. 2000) ist die Lese- und Rechtschreibstörung als eine der umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten ausgewiesen. Unter »umschriebenen Entwicklungsstörungen« versteht man solche, die eine isolierte Fertigkeit – in diesem Fall den Schriftspracherwerb – betreffen, während die allgemeine Entwicklung unauffällig ist. Im ICD-10 wird zwischen einer kombinierten Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0) und einer isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) unterschieden. Aktuelle Arbeiten (Wimmer u. Mayringer 2002) weisen allerdings darauf hin, dass bei etwa 5% der Schulpopulation sehr schwache Leseleistungen, aber gleichzeitig durchaus altersgemäße Rechtschreibleistungen vorliegen, also eine isolierte Lesestörung. Im ICD-10 ist für diese Fälle dennoch eine kombinierte Lese-/Rechtschreibstörung (LRS) zu diagnostizieren.
LRS wird im ICD-10 und auch in anderen Definitionen (z. B. DSM-IV; Saß et al. 1998) über sog. Ausschlusskriterien definiert, d. h. es muss eine unerwartet schwache Lese- und/oder Rechtschreibleistung vorliegen, »die nicht allein durch das Entwicklungsalter, durch VisusProbleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist« (Dilling et al. 2000, S. 274). Die Beschreibung der Symptomatik ist im ICD-10 dagegen wenig spezifisch: Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Wörter wiederzuerkennen, vorzulesen und die Leistungen bei Aufgaben, für welche Lesefähigkeit benötigt wird, können sämtlich betroffen sein. Mit Lesestörungen gehen häufig Rechtschreibstörungen einher. Diese persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn im Lesen einige Fortschritte gemacht werden (Dilling et al. 2000, S. 275).
Diese unbefriedigende Beschreibung des Symptombildes hat wesentlich damit zu tun, dass heute bekannt ist, dass die spezielle Art des Leseproblems auch wesentlich von der jeweiligen Sprache und von der Art des zu erwerbenden orthographischen Systems abhängt. Die meisten Forschungsbefunde zur LRS liegen aus dem angloamerikanischen Raum vor. Die englische Orthographie weist allerdings innerhalb der Alphabetschriften eine sehr niedrige Konsistenz der Buchstabe-Laut-Beziehungen auf. Der Buchstabe a wird etwa in den englischen Wörtern hand, hate, ball und garden jeweils unterschiedlich ausgesprochen, wohingegen er in den deutschen Äquivalenten Hand, Hass, Ball und Garten jeweils ein- und demselben Phonem /a/ entspricht.
397 25.2 · Störungsbild der LRS im Entwicklungsverlauf
! Sprachvergleichende Studien haben deutlich gezeigt, dass dieses Merkmal der englischen Orthographie dazu führt, dass der normale Schriftspracherwerb in der englischen Orthographie deutlich langsamer verläuft als in den meisten anderen europäischen Orthographien (Überblick bei Landerl 2005) und dass die LRS-Symptomatik bei Kindern, die das komplexe englische orthographische System erlernen müssen, deutlich massiver ausfällt als etwa in der deutlich konsistenteren deutschen Orthographie.
25.2.2 Epidemiologie
Studien, denen das Diagnosekriterium des ICD-10 (Diskrepanz zwischen Leseleistung und Entwicklungsalter) zugrunde liegt, identifizieren eine Prävalenzrate von 2–4% (für den deutschen Sprachraum Esser 1991). Variationen in den Definitionskriterien führen jedoch zu beträchtlichen Abweichungen. Da man von einer kontinuierlichen Verteilung der Leseleistung ausgehen muss, ist letztlich die Vorstellung, dass man anhand von standardisierten Tests ein eindeutiges Kriterium angeben könnte, ab dem eindeutig eine LRS vorliegt, irreführend. Im ICD-10 wird als Kriterium eine Abweichung der Lese-/Rechtschreibleistung um mindestens 2 Standardabweichungen von dem durch das Entwicklungsalter vorhergesagten Wert gefordert, in der diagnostischen Praxis kommt häufig ein Kriterium von 1,5 Standardabweichungen zur Anwendung. Die Prävalenzraten hängen naturgemäß von diesen letztlich willkürlichen Kriterien ab. Aus diesem Grund lassen sich auch keine klaren Aussagen etwa darüber machen, ob LRS im angloamerikanischen Sprachraum häufiger vorkommt als in Ländern mit konsistenten Orthographien. Beachtlich ist, dass etwa 80% der Kinder, für die eine umschriebene Entwicklungsstörung diagnostiziert wird, an einer LRS leiden (Snow et al. 1998).
25.2.3 Sekundäre Probleme und Komorbiditäten Persönlichkeitsentwicklung. Psychosomatische Beeinträchtigungen wie morgendliche Bauchschmerzen und Übelkeit an Schultagen sowie Schulangst sind typische Folgen einer unerkannten LRS. Betroffene Kinder versuchen binnen weniger Wochen nach Schuleintritt, Erklärungen zu finden, warum ihnen das Lesen so viel schwerer fällt als ihren Klassenkameraden. Typische Erklärungsmuster sind dann »ich bin zu dumm für die Schule« oder aber »ich will ja gar nicht lesen lernen – wenn ich es wollte, könnte ich es ebenso gut wie die anderen«. Beide Erklärungsansätze haben starke negative Effekte auf die weitere schulische und Persönlichkeitsentwicklung, die durch eine frühe Diagnose einer umschriebenen Lernstörung weitgehend vermieden werden können.
Verhaltensauffälligkeiten. Eine unerkannte LRS kann längerfristig auch zu einer sog. Phänokopie einer Aufmerksamkeitsdefizits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (7 Kap. III/26 und III/27) führen (Pennington et al. 1993) – das bedeutet, die Kinder zeigen die gleichen Verhaltensauffälligkeiten wie bei ADHS, eine genaue diagnostische Abklärung zeigt aber keinerlei Defizite in den exekutiven Funktionen, die üblicherweise einer ADHS zugrunde liegen. Vielmehr sind Defizite in der phonologischen Verarbeitung festzustellen, die typisch sind für LRS (7 Abschn. 25.3). Offenbar löst die tägliche Erfahrung des schulischen Versagens Verhaltensauffälligkeiten aus, die mit denen einer ADHS vergleichbar sind. Eine sorgfältige Differenzialdiagnostik ist hier besonders wichtig, weil auch eine deutlich erhöhte Komorbidität mit ADHS belegt ist (Shaywitz u. Shaywitz 1988). Aktuelle Befunde geben erste Hinweise auf eine genetische Verursachung dieser Komorbidität (Willcutt et al. 2002). Rechenstörung. LRS tritt auch überzufällig häufig in Kombination mit Störungen der Rechenleistungen auf, wobei eine aktuelle Studie an deutschsprachigen Kindern zeigt, dass hier eine stärkere Assoziation mit Rechtschreib- als mit Lesestörungen besteht (von Aster et al. 2007). Die ICD-10 sieht bei einem derartigen kombinierten Auftreten von LRS und Rechenstörung die Diagnose einer »kombinierten Störung der schulischen Fertigkeiten« (F81.3) vor. Diese separate Diagnosekategorie suggeriert unterschiedliche Ätiologien für LRS mit und ohne Rechenstörung, was durch aktuelle empirische Befunde allerdings nicht bestätigt wird. Landerl et al. (2004) konnten etwa zeigen, dass bei Kindern mit Rechenstörungen ein Defizit in der basisnumerischen Verarbeitung vorliegt, unabhängig davon, ob zusätzlich eine LRS gegeben war oder nicht. Zumindest auf neurokognitiver Ebene scheinen die beiden Störungen voneinander weitgehend unabhängig zu sein. Motorische Entwicklung. Auch von Auffälligkeiten in der motorischen Entwicklung (Dyspraxien) wird berichtet, dass sie häufig in Kombination mit LRS zu beobachten seien. Hier gibt es allerdings bisher noch keine gut gesicherten Prävalenzzahlen aus epidemiologischen Studien, die eine Komorbidität bestätigen würden. Natürlich müssen derartige Komorbiditäten bei der Erstellung eines Interventionsprogrammes Berücksichtigung finden. Allerdings sollte klar sein, dass durch die Verbesserung einer komorbid gestörten Leistung nicht automatisch auch eine Verbesserung der Lese-/Rechtschreibleistung erzielt werden kann.
25.2.4 Verlauf und Prognose
Erste Auffälligkeiten zeigen betroffene Kinder manchmal bereits in den ersten Wochen des Erstleseunterrichts, und zwar mit dem Erlernen der Buchstabe-Laut-Beziehungen.
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Kapitel 25 · Lese-/Rechtschreibstörung
Die zentrale Lernaufgabe für das Kind besteht hier darin, zu erfassen, dass es einen systematischen Bezug gibt zwischen den visuellen Formen der Buchstaben und den linguistischen Segmenten, die sie abbilden. Für Leseanfänger ist dies keineswegs selbstverständlich, weil Sprachlaute weitgehend unbewusste und relativ abstrakte Wahrnehmungseinheiten sind, die zumeist erst im Zuge des Schriftspracherwerbs bewusst erfasst werden. Das Wort »Tisch« besteht z. B. aus drei bedeutungsunterscheidenden Lauten, wird jedoch offensichtlich als eine einzige artikulatorische Geste produziert, in der etwa die Artikulation des Vokals /i/ bereits ansetzt, während noch der der Laut /t/ artikuliert wird, d. h. die Laute werden koartikuliert. Wenn nun im Zuge des Erstleseunterrichts die Buchstabe-Laut-Beziehung T/t – /t / (mit unbetontem e) gelernt wird, so muss das Kind nachvollziehen, dass dieser Laut /t / in den Wörtern »Tisch«, »Tag« und »raten« vorkommt, obwohl er in jedem dieser Wörter etwas anders klingt. ! Für die Erkennung des Bezugs zur Lautstruktur ist die sog. phonologische Bewusstheit notwendig, d. h. das Kind muss jetzt auf etwas bewusst achten, was in die bisherige Sprachverarbeitung automatisch und unbewusst einging.
Für die Erkennung der Gleichartigkeit des ersten Lautsegments ist erforderlich, von den jeweils mitklingenden Vokalen in »/t /«, »Tisch« und »Tag« zu abstrahieren. Wenn diese kategoriale Identität nicht erfasst wird, dann steht das Kind vor der schwierigen Aufgabe, sinnlose und fatal ähnliche Wörter wie »/t /« für T und »/b /« für B lernen zu müssen. Insbesondere Buchstaben, die ähnliche Laute abbilden (z. B. d und t, o und u) sind anfällig für Verwechslungen. Hier kommt erschwerend hinzu, dass manche Buchstaben, die ähnliche Laute abbilden, auch visuell ähnlich sind (z. B. b und d). Die Ursache für diese Buchstabenverwechslungen liegt aber zumeist nicht in einer mangelnden visuellen Differenzierung. So werden etwa die Buchstaben n und u nur selten miteinander verwechselt, obwohl sie visuell sehr ähnlich sind. Da sie aber Laute abbilden, die wenig Ähnlichkeit miteinander haben, gelingt die Differenzierung besser. ! In den Anfangsphasen haben Kinder mit LRS zudem besondere Schwierigkeiten, die durch Buchstaben abgebildeten Laute beim Lesen zusammenzulauten, also eine Lautsynthese durchzuführen.
Obwohl der Prozess der Koartikulation beim Sprechen völlig automatisch und kompetent durchgeführt wird, gelingt er beim Lesen nicht. Die Komplexität dieses linguistischen Prozesses soll an einem simplen Beispiel illustriert werden: Damit etwa aus den Lauten /b/ und /a/ die Silbe /ba/ gebildet werden kann, ist erforderlich, dass die Zungenstellung für den Laut /a/ bereits eingenommen wird, während noch der Laut /b/ artikuliert wird, d. h. die Artikulation der Silbe /ba/ muss als Einheit geplant werden. Müsste etwa die Silbe
/bi/ artikuliert werden, dann wäre die Zungenstellung während des Lautes /b/ bereits anders. Dieser komplexe Vorgang läuft beim kompetenten Lesen vermutlich so ab, dass durch die Buchstabe-Laut-Zuordungen für b und a unmittelbar die Sprechsilbe /ba/ aktiviert wird. Die Schwierigkeit steigt bei komplexeren Silben mit Konsonantenclustern wie z. B. krank. Hier muss bereits das Anfangscluster als eine artikulatorische Einheit produziert werden, ein Zusammenlauten der Konsonanten /k/ und /r/ ist linguistisch kaum möglich. Betroffene Kinder zeigen umgekehrt oft auch große Probleme beim Erwerb des lautorientierten Schreibens. Hier geht es noch nicht darum, Wörter gemäß der deutschen Orthographie zu verschriftlichen und orthographische Merkmale wie stummes h oder Doppelkonsonantenschreibungen zu beherrschen. Vielmehr ist damit die Kompetenz gemeint, Sprechwörter in ihre einzelnen Laute zu segmentieren und diese Laute adäquat in Buchstaben zu übersetzen (z. B. »Soma« für Sommer, »Fogl« für Vogel). Kindern mit LRS gelingt diese systematische lautliche Durchgliederung oft nicht ausreichend, sog. Skelettschreibungen, in denen nur ein Teil der Laute des zu schreibenden Wortes abgebildet sind (z. B. das für Dose), oder Buchstabenanderreihungen, die mit dem Sprechwort nicht in systematischer Beziehung stehen (z. B. ksmali für Haus), sind die Folge. Extreme Ausprägungen der hier beschriebenen Anfangsschwierigkeiten sind verhältnismäßig selten und wurden in einer groß angelegten Studie nur bei ca. 1% der Jungen in der 1. Klasse beobachtet (Mayringer et al. 1998). Größtenteils gelingt die Abspeicherung der Buchstabe-Laut-Beziehungen, so dass beim lautorientierten Schreiben nur bei komplexeren Lautabfolgen (z. B. Konsonantenclustern) Schwierigkeiten auftreten. Probleme mit der Lautsynthese beim Lesen sind allerdings ein typisches Kennzeichen. Selbst wenn sie korrekt durchgeführt wird, gestaltet sich der Prozess für Kinder mit LRS enorm mühsam und zeitaufwendig. ! Dem lautierenden Lesen kommt im Leseerwerb aber eine zentrale Rolle zu, weil dieser Prozess das selbstständige Erlesen auch von unbekanntem Lesematerial ermöglicht. Damit stellt das lautierende Lesen auch eine wichtige Grundlage für den Aufbau des sog. orthographischen Lexikons, also eines Gedächtnisspeichers für Wortschreibungen, dar.
Wörter, die mehrfach korrekt zusammengelautet wurden, können im orthographischen Lexikon abgespeichert werden. In weiterer Folge muss das betreffende Wort dann nicht mehr mühsam zusammengelautet werden, sondern kann im Sinne eines Wiedererkennungsprozesses »direkt« im orthographischen Lexikon aktiviert werden. Share (1995) bezeichnet diesen Prozess als Selbstlernmechanismus. Nach Überwindung der Anfangsschwierigkeiten, wofür in schwereren Fällen bereits gezielte individuelle Förderung notwendig ist, stellt sich die Lesestörung in der Regel
399 25.3 · Modelle zur Ätiologie
spätestens ab Ende der 2. Klasse als massiv reduzierte Leseflüssigkeit dar, während Lesefehler relativ selten werden und vor allem dann auftreten, wenn das Kind schneller liest, als es seiner Kompetenz entspricht. Wie extrem dieses Defizit der Leseflüssigkeit ausfallen kann, zeigen eindrucksvolle Befunde von Klicpera et al. (1993). In dieser groß angelegten Längsschnittstudie entsprach die Leseflüssigkeit von leseschwachen Kindern der 8. Klasse der von unauffälligen Lesern der 2. Klasse. Dies entspricht einer Entwicklungsverzögerung von beachtlichen 6 Jahren! Bei einer derart massiven Beeinträchtigung der Leseflüssigkeit ist ein selbstständiges Lernen aus Texten, wie es in höheren Klassen erforderlich ist, mehr oder weniger ausgeschlossen. Auch in Bezug auf die Rechtschreibung zeigt sich nach etwa 2 Schuljahren eine qualitative Veränderung: Die Schreibversuche von Kindern mit LRS sind nun zumeist lauttreu, entsprechen aber nicht den Konventionen der deutschen Orthographie (z. B. Somer, Fatter, schbilen). ! Sowohl die reduzierte Wortleseflüssigkeit als auch die Rechtschreibdefizite lassen sich durch Schwächen in der Gedächtnisspeicherung von Schriftwörtern erklären. Hierbei handelt es sich keineswegs um ein allgemeines Gedächtnisproblem, sondern um ein spezifisches Defizit im Aufbau des bereits angesprochenen orthographischen Lexikons.
Entgegen älterer Annahmen sind orthographische Repräsentationen vermutlich nicht rein visuelle Gedächtniseinträge, sog. »Wortbilder«. Vielmehr dürften orthographische Einträge erst dann voll funktional sein, wenn sie phonologisch unterlegt sind, d. h. wenn eine multiple und redundante Vernetzung zwischen den Buchstaben des Schriftund den entsprechenden Lautsegmenten des Sprechwortes hergestellt werden kann (Ehri 1992). Das Problem von Kindern mit LRS besteht wohl darin, diese multiple Vernetzung zwischen Schrift- und Sprechwort aufzubauen. Das zentrale Leseproblem bei LRS besteht in der schnellen und automatischen Worterkennung. Probleme im Leseverständnis sind häufig eine reine Folge dieser Defizite. Wenn Texte noch sehr langsam und mühevoll erlesen werden müssen, bleibt kaum kognitive Kapazität für das Sinnverständnis frei (Perfetti 1985). Erschwerend kommt hinzu, dass Leseverständnistests zumeist unter zeitlicher Beschränkung durchgeführt werden. Kinder mit massiver Beeinträchtigung der Leseflüssigkeit kommen in manchen Fällen gar nicht mehr dazu, die Fragen am Ende eines Textes zu beantworten, weil die Arbeitszeit dann bereits abgelaufen ist. Eine widerlegte Interpretation der reduzierten Leseflüssigkeit von Kindern mit LRS ist, dass diese auf mangelnde Kontextnutzung zurückzuführen sei. Tatsächlich profitieren leseschwache Kinder stärker durch Kontextvorgabe als unauffällige Leser (Perfetti 1985). Während bei guten Lesern die Worterkennung hoch automatisiert ist und damit zumeist schneller als die Textverarbeitung, ist dies bei leseschwachen Kindern umgekehrt: Bei schwierigeren
Wörtern umgehen sie die für sie ausgesprochen mühsame Worterkennung, indem sie versuchen, das Wort aus dem Kontext zu erraten. Diese Strategie ist natürlich wesentlich unzuverlässiger und fehleranfälliger als eine kompetente Worterkennung. ! Für die Intervention ist wichtig, dass individuell abgeklärt werden muss, ob das Trainieren von Textverständnisstrategien angezeigt ist oder sich die Maßnahme ausschließlich auf die Verbesserung der Worterkennungsleistung konzentrieren kann.
Die langfristige Prognose ist für Kinder mit LRS insgesamt eher schlecht. Besonders die Defizite in der Wortleseflüssigkeit und in der Rechtschreibung zeichnen sich durch eine ausgesprochen hohe Persistenz aus. So konnten wir in einer unserer Salzburger Längsschnittstudien die Leseentwicklung vom Ende der 1. bis zur 8. Klasse verfolgen und beobachten, dass von jenen Kindern, die in der 1. Klasse auffällig langsam und mühevoll lasen, beachtliche 70% in der 8. Klasse noch immer zu den langsamsten Lesern gehörten. Lediglich 10% dieser Gruppe konnten sich während der Pflichtschulzeit zu unauffälligen Lesern entwickeln. Kein einziges Kind, das am Ende der 1. Klasse als leseschwach identifiziert worden war, zeigte in der 8. Klasse überdurchschnittliche Leseleistungen (Landerl u. Wimmer 2008). Ähnlich eindrucksvolle Befunde zur Stabilität hatten bereits die Wiener Längsschnittstudien (Klicpera et al. 1993) erbracht. Esser (1991) konnte eine erhöhte Arbeitslosenrate unter jungen Erwachsenen, die im Alter von 8 Jahren eine LRS-Diagnose erhalten hatten, belegen.
25.3
Modelle zur Ätiologie
In der mehr als 100-jährigen Forschungsgeschichte der LRS wurden sehr unterschiedliche ätiologische Konzeptionen präsentiert, die aber in Folge häufig empirisch keinerlei Bestätigung fanden. Fehlende Linkshirndominanz. Auf Orton (1937) geht etwa
der sehr einflussreiche Erklärungsansatz zurück, dass die Ursache für LRS in einer visuellen Gedächtnisstörung aufgrund fehlender Dominanz der linken Gehirnhemisphäre bestehe, die sich u. a. in der Verwechslung formidentischer Buchstaben (z. B. d/b) und Nichtbeachtung der Buchstabenabfolge (z. B. ein/nie) äußere. Spätestens seit den Arbeiten von Liberman (Liberman et al. 1971), die zeigen konnten, dass Lesefehler eher auf lautliche als auf visuelle Verwechslungen zurückzuführen sind, gilt diese Sichtweise als widerlegt. Sehr viele Leseanfänger verwechseln in der ersten Zeit die visuell und lautlich sehr ähnlichen Buchstaben d und b, Grund zur Beunruhigung, dass dies ein erstes Symptom einer LRS sein könnte, besteht in den allermeisten Fällen aber nicht.
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Kapitel 25 · Lese-/Rechtschreibstörung
Phonologisches Defizit. Die empirisch am besten belegte Verursachungskonzeption ist die Sichtweise des phonologischen Defizits, welche besagt, dass Personen mit LRS Schwierigkeiten haben, die erforderliche hoch automatisierte Vernetzung zwischen Sprache und Schrift herzustellen, weil sie keinen guten Zugriff auf die Lautstruktur (Phonologie) von Wörtern haben. Üblicherweise werden derartige Defizite anhand von Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit erhoben. Die Anforderung besteht darin, auditorisch dargebotene Wörter (oder Pseudowörter, also erfundene Lautabfolgen wie nepko) z. B. in einzelne Laute zu zerlegen (/n/ – /e/ – /p/ – /k/ – /o/) oder den ersten Laut wegzulassen (epko). Problematisch an dieser Art der Aufgabenstellung ist, dass bei leseschwachen Kindern oft nicht klar ist, ob Defizite bei Aufgaben zur phonologischen Bewusstheit die eigentliche Ursache der Leseschwäche aufzeigen oder ob sie nicht vielmehr eine Folge der Probleme im Leseerwerb sind. In einigen empirischen Studien ließ sich allerdings zeigen, dass leseschwache Kinder bei derartigen Aufgabenstellungen selbst schwächere Leistungen zeigen als deutlich jüngere Kinder, die ein vergleichbares Leseniveau haben (z. B. Bradley u. Bryant 1978). Wären Defizite der phonologischen Bewusstheit eine reine Folge des Leseproblems, so müssten die Leistungen von Kindern mit gleichem Leseniveau ähnlich sein wie die der leseschwachen Kinder. Befunde aus Längsschnittstudien zeigen auch, dass häufig Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung festzustellen sind, lange bevor im Schulalter die Lese- und Rechtschreibprobleme manifest werden (z. B. Scarborough 1990). Doppel-Defizit-Theorie. Eine Erweiterung der phonologischen Defizithypothese ist die sog. Doppel-Defizit-Theorie von Wolf und Bowers (1999). Hier wird als zweiter Verursachungsfaktor neben einem phonologischen Defizit ein davon unabhängiges Defizit in der Benennungsflüssigkeit postuliert. Diagnostiziert wird dieses zweite Defizit durch Aufgaben zum schnellen Benennen (»rapid automatized naming«, RAN), in denen Abfolgen von Ziffern oder abgebildeten Objekten so schnell wie möglich benannt werden müssen. Obwohl hier üblicherweise nur vier oder fünf unterschiedliche Wörter wiederholt benannt werden müssen, zeigt sich systematisch, dass Kinder mit LRS deutlich mehr Zeit benötigen als unauffällige Leser. Kinder, bei denen ein Doppeldefizit (phonologisches Defizit + Defizit der Benennungsflüssigkeit) vorliegt, zeigen in dieser Konzeption die deutlichsten Beeinträchtigungen im Schriftspracherwerb. Interessanterweise konnten Wimmer und Mayringer (2002) anhand von zwei Longitudinalstudien zeigen, dass Kinder mit einem Lesedefizit, aber altersadäquater Rechtschreibleistung bereits zum Zeitpunkt der Einschulung, also vor Beginn des Lese- und Schreibunterrichts, eine verlangsamte Benennungsflüssigkeit aufwiesen, aber kein Defizit in der phonologischen Bewusstheit. Umgekehrt waren Kinder mit isolierten Schwierigkeiten im Rechtschreiben (bei unauffälliger Leseleistung) zum Zeitpunkt der Einschulung bei Auf-
gaben zur phonologischen Bewusstheit sehr schwach, im schnellen Benennen aber unauffällig. Kinder mit einer kombinierten Störung der Lese- und Rechtschreibleistung waren zum ersten Messzeitpunkt in beiden Bereichen, phonologische Bewusstheit und schnelles Benennen, schwach, sie zeigten also ein Doppeldefizit. Diese Befunde weisen also auf unterschiedliche Ätiologien für Lese- und für Rechtschreibdefizite hin. In der Forschungsliteratur wird allerdings zur Zeit kontrovers diskutiert, ob Defizite im schnellen Benennen tatsächlich ein von der phonologischen Verarbeitung unabhängiges Problem darstellen oder ob an der Aufgabenstellung des schnellen Benennens nicht gerade die phonologische Komponente des schnellen Zugriffs auf phonologische Wortrepräsentationen das entscheidende Merkmal sei, so dass auch Defizite im Bereich des schnellen Benennens als weiterer Indikator für ein Defizit in der phonologischen Verarbeitung interpretiert werden sollten. Automatisierungsdefizit. Ebenfalls kontrovers diskutiert werden ätiologische Konzepte, in denen phonologische Defizite als Folge von Defiziten in basaleren Funktionen erklärt werden. Nicolson und Fawcett (1990) vermuten etwa, dass das phonologische Defizit Folge eines allgemeinen Automatisierungsdefizits sei. Sowohl die Sprachlautverarbeitung als auch die Leseverarbeitung müssen hoch automatisiert ablaufen, um effizient zu sein. Daher würde ein allgemeines Defizit in der Automatisierung derartiger Funktionen, welche Nicolson und Fawcett neurologisch im Kleinhirn lokalisieren, natürlich stark negative Auswirkungen haben. Den empirischen Beleg für dieses allgemeine Automatisierungsdefizit erbringen Nicolson und Fawcett, indem sie zeigen, dass LRS-Kinder auch deutliche Defizite bei einer automatisierten motorischen Funktion, nämlich einer Balancieraufgabe, aufweisen. In einem eleganten Experiment konnten Raberger und Wimmer (2003) allerdings kürzlich diese Sichtweise widerlegen: Tatsächlich zeigen Kinder mit LRS bei Balancieraufgaben nämlich nur dann Schwierigkeiten, wenn komorbid eine ADHS vorliegt, wohingegen Kinder mit LRS, für die keinerlei ADHS-Symptomatik berichtet wird, in ihren Balancierleistungen völlig unauffällig sind. Umgekehrt haben Kinder mit ADHSSymptomatik, aber ohne Lesedefizite ebenfalls auffällige Probleme bei der Balancieraufgabe. Defizite in den Balancierleistungen sind also eher mit ADHS als mit LRS assoziiert. Die Studie von Raberger und Wimmer ist ein bezeichnendes Beispiel dafür, dass Komorbiditäten nicht nur in der praktischen Arbeit, sondern auch in der Forschung adäquate Berücksichtigung finden müssen. Magnozelluläres Defizit. Letztlich geht die Hypothese des magnozellulären Defizits (Stein u. Walsh 1997) davon aus, dass eine Dysfunktion einer bestimmten Art der Reizleitung die eigentliche Ursache der Leseprobleme sei. Im visuellen System ist die Existenz zweier unterschiedlicher Ver-
401 25.4 · Diagnostik
arbeitungssysteme gut belegt: Das langsam arbeitende parvozelluläre System ist für die detaillierte Abtastung einer Fixation verantwortlich, während das schnell arbeitende magnozelluläre System für die Bewegungswahrnehmung zuständig ist. Die Dysfunktion der magnozellulären Bahn hätte zur Folge, dass bei einem Sakkadensprung die visuelle Information aus der vorausgehenden Fixation nicht rechtzeitig gehemmt wird und somit die Information aus der folgenden Fixation beeinträchtigt ist. Es resultieren beim Lesen retinale Bildverschmierungen und eine Verschlechterung der visuellen Lokalisierung. Allerdings ist die empirische Evidenz in Bezug auf das Auftreten der Dysfunktion der magnozellulären Sehbahn bei leseschwachen Personen widersprüchlich, nicht immer werden Beeinträchtigungen gefunden. Auch bleibt unklar, wie im Rahmen dieses Erklärungsansatzes die typischen Anfangsschwierigkeiten (Lautsynthese, lautorientiertes Schreiben) zu interpretieren sind. Auch bietet dieser ätiologische Ansatz keine Erklärung für die persistierenden Rechtschreibprobleme. Auditive Diskriminationsschwierigkeiten. In letzter Zeit werden auch auditive Diskriminationsschwierigkeiten des Öfteren als Folge eines magnozellulären Defizits diskutiert. Auch hier ist die Annahme, dass besonders die schnelle Verarbeitung von Sprachlauten nicht gelingt (Tallal 1980). Defizite in der Verarbeitung rasch variierender akustischer Information führen gemäß dieser Konzeption zu Schwierigkeiten in der Lautdiskrimination. Allerdings scheinen nur bei etwa einem Drittel der Personen mit LRS derartige basale auditive Probleme vorzuliegen, so dass ein kausaler Zusammenhang mit den Problemen lese-/rechtschreibschwacher Kinder eher unplausibel ist. Genetische und neurophysiologische Komponenten. Die
kognitive Ätiologie der LRS ist also noch nicht restlos geklärt. Gut belegt ist allerdings eine genetische Komponente der Störung. Wenn bei einem Elternteil LRS vorliegt, so liegt die Wahrscheinlichkeit, dass auch das Kind betroffen ist, bei beachtlichen 50%. Einen Überblick über Befunde zur Vererbung und zu den entsprechenden genetischen Mechanismen gibt Schulte-Körne (2002). Neurophysiologische Befunde zeigen, dass Personen mit LRS die temporoparietalen Lesezentren in der linken Hemisphäre deutlich weniger stark aktivieren als kompetente Leser, stattdessen kommt es zu einer Überaktivierung frontaler Areale (Überblick bei Landerl u. Kronbichler 2007).
25.4
Diagnostik
Anamnestisches Gespräch. Wird ein Kind mit Verdacht auf LRS zur Diagnostik vorgestellt, so ist in einem ersten Schritt die Abklärung des Entwicklungsstandes im Lesen und Rechtschreiben notwendig. In einem anamnestischen Gespräch mit den Eltern wird erhoben, seit wann die Prob-
leme bereits bestehen und welcher Art sie sind. Bei LRS sind die schriftsprachlichen Leistungen typischerweise bereits in den ersten Wochen nach der Einschulung auffällig. Oft berichten Eltern von einer verzögerten Sprachentwicklung, die in vielen Fällen einer LRS vorausgeht (Scarborough 1990). Da für LRS ein deutliches genetisches Risiko besteht (Schulte-Körne 2002), sollte auch abgeklärt werden, ob bereits andere Familienmitglieder von dieser Entwicklungsstörung betroffen sind. Standardisierte Lese- und Rechtschreibtests. Eine differenzierte Diagnostik sollte die Art der Schwierigkeiten, die die Kinder beim Lesen und Schreiben haben, näher abklären. Die ICD-10 fordert für die Diagnose einer Lesestörung die »individuelle Durchführung eines standardisierten Verfahrens zur Erhebung des Lesens, der Lesegenauigkeit und des Leseverständnisses« (Dilling et al. 2000, S. 275.) In dieser auf dem Englischen basierenden Formulierung fehlt bedauerlicherweise die Benennung der Lesegeschwindigkeit, welche in phonologisch eher transparenten Orthographien wie der deutschen das zentrale diagnostische Kriterium darstellt. Wie bereits erwähnt, ist auch bei leseschwachen Kindern die Lesegenauigkeit nach 1–2 Schuljahren meist gut ausgebildet und differenziert nicht mehr ausreichend. Besonders im Kinderbereich ist die Forderung nach einem individuell durchgeführten standardisierten Verfahren zentral. Sowohl für die Lese- als auch für die Rechtschreibdiagnostik liegen Verfahren vor, die im Klassenverband durchgeführt werden können. Allerdings sollten diese nur als Screeningverfahren zum Einsatz kommen. Nur in einer 1:1-Sitzung kann weitgehend ausgeschlossen werden, dass die schwache Leistung eines Kindes auf mangelndes Instruktionsverständnis oder situative Faktoren wie Müdigkeit oder Ablenkung zurückzuführen ist. Außerdem kann auch nur in einer individuellen Testsitzung die Leistung im lauten Vorlesen abgeklärt werden. Dies ist wichtig, weil nur beim lauten Lesen ein Eindruck gewonnen werden kann, wie viele Lesefehler einem leseschwachen Kind noch unterlaufen. Die Kompetenz im lautierenden Lesen kann am besten durch sog. Pseudowortleseaufgaben abgeklärt werden. Hierbei handelt es sich um erfundene, aber aussprechbare Buchstabenabfolgen wie talire oder Pflam. ! Immer wieder gibt es Kinder, die in den ersten Schuljahren nicht auffällig werden, weil sie die im Unterricht verwendeten Lesetexte auswendig können, darüber hinaus sind sie aber nicht in der Lage, auch nur die einfachsten Buchstabenabfolgen zusammenzulauten. Derartige Schwierigkeiten können anhand einer Pseudowortleseaufgabe schnell und sicher diagnostiziert werden.
Eine zentrale Rolle kommt im Rahmen der Diagnostik der Erhebung der Wortlesekompetenz zu. Hier ist wichtig, dass Wortlesen nicht nur im Kontext erhoben wird, weil – wie
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402
Kapitel 25 · Lese-/Rechtschreibstörung
bereits erwähnt – leseschwache Kinder durch geschickte Kontextnutzung manchmal ihre Probleme in der Worterkennung überdecken können. Zumindest Wörter mit hoher Vorkommenshäufigkeit sollten, auch wenn sie isoliert
präsentiert werden, schnell und flüssig erkannt und benannt werden können. Exemplarisch soll hier der Leseteil des Salzburger Lese- und Rechtschreibtests (Landerl et al. 2006) genauer dargestellt werden.
Exkurs
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Der Salzburger Lese- und Rechtschreibtest (SLRT) Der SLRT erhebt das laute Lesen von Wörtern und Pseudowörtern im Grundschulalter (1.–4. Klasse) und kann daher ausschließlich in 1:1-Sitzungen durchgeführt werden. Das Testkonzept besteht darin, das lautierende Lesen und die flüssige Worterkennung anhand separater Subtests zu erheben. Dem Kind wird eine Lesemappe vorgelegt, aus der (je nach Alter) 4–5 kurze Leseaufgaben (Subtests) laut vorgelesen werden sollen, und zwar jeweils mit der Instruktion »Lies so schnell wie du kannst, aber möglichst ohne Fehler zu machen«. 4 Auf der ersten Seite der Lesemappe findet sich ein Übungsblatt, auf dem acht kurze Wörter, die den Kindern gut vertraut sind, in zwei Zeilen angeordnet sind. Anhand dieses Blattes wird erläutert, dass keine Geschichte, sondern unzusammenhängende Wortabfolgen gelesen werden sollen. Das nächste Leseblatt (Subtest »Häufige Wörter«) besteht aus sechs Zeilen mit insgesamt 30 kurzen Wörtern mit hoher Vorkommenshäufigkeit (Opa, Name, Haus etc.). Die Testleiterin stoppt die Lesezeit und notiert ggf. Lesefehler. 4 Anschließend muss eine Liste von elf komplexeren Wörtern wie z. B. Geburtstagskuchen, Wohnungsschlüssel (Subtest »Zusammengesetzte Wörter«) gelesen werden (erst ab 3. Klasse). 4 Das dritte Leseblatt enthält eine kurze Geschichte (Subtest »Textlesen«). 4 Anhand eines weiteren Übungsblattes wird dem Kind erklärt, dass im Folgenden »Phantasiewörter, die sich jemand ausgedacht hat und die nichts bedeuten«, gelesen werden sollen. Zwei weitere Leseblätter präsentieren einmal 30 Pseudowörter, die von den häufigen Wörtern abgeleitet wurden (Subtest »Wortähnliche Pseudowörter«, z.B. Upa, Bame, Vaus) und einmal 24 zwei- und dreisilbige Pseudowörter, die aus ein-
Das Leseverständnis wird üblicherweise erhoben, indem Texte gelesen werden müssen, zu denen im Anschluss inhaltliche Fragen von variierendem Schwierigkeitsgrad zu beantworten sind. Wichtig ist, derartige Verfahren stets in Kombination mit einer Diagnose der Worterkennungsleistung zu kombinieren. Wie bereits erwähnt, ist ein schwaches Leseverständnis oft eine reine Folge von Defiziten in der Worterkennung. Nur wenn sich eine deutliche Diskrepanz zwischen der Worterkennungsleistung und dem Leseverständnis zeigt, wenn also das Leseverständnis deutlich stärker beeinträchtigt ist als die Worterkennung, sollte ein spezifisches Defizit im Leseverständnis diagnostiziert werden.
fachen Konsonant-Vokal-Abfolgen (z. B. talire, holotu) bestehen (Subtest »Wortunähnliche Pseudowörter«). Alle Subtests sind kurz, so dass auch extrem schwache Leser sich nicht überfordert fühlen. Die Durchführung nimmt je nach Leseleistung 10–20 min in Anspruch. Da die Lesegenauigkeit bei diesen kurzen Aufgaben selbst bei leseschwachen Kindern zumeist hoch ist, ist das zentrale Lesekriterium die Lesezeit. Die beiden Subtests zum Pseudowortlesen zielen auf die Diagnose des lautierenden Lesens ab. Die Subtests für häufige und zusammengesetzte Wörter können dann flüssig gelesen werden, wenn möglichst viele der zu lesenden Wörter und Wortteile aus einem umfassenden orthographischen Lexikon abgerufen werden können. Kinder, die diese Wörter noch lautierend erlesen müssen, fallen typischerweise durch eine stark erhöhte Lesezeit auf. Der Subtest »Textlesen« ist weniger spezifisch, weil hier sowohl das lautierende Lesen als auch die »direkte« Worterkennung kombiniert zum Einsatz kommen, dennoch ist diagnostisch interessant, wie ein Kind mit diesen Texten umgeht. Normen liegen für Ende der 1., Mitte und Ende der 2. Klasse sowie für die 3. und 4. Klasse vor, und zwar separat für jeden Subtest. Der Rechtschreibteil erfordert das Einsetzen von 25 bzw. 49 (je nach Klassenstufe) diktierten Wörtern in Satzrahmen (z. B. In der Klasse sind mehr [einzusetzen: Mädchen] als Buben). Dieser Teil kann sowohl in der Klasse als auch individuell durchgeführt werden. Je nach Art der Fehlschreibung wird differenziert zwischen nicht lauttreuen Schreibungen (N-Fehler, z. B. Meche) und orthographischen Fehlern, die lauttreu sind, aber nicht den Rechtschreibregeln entsprechen (O-Fehler, z. B. Medchen). Fehler der Groß- und Kleinschreibung (G/K-Fehler, z. B. mädchen) werden separat signiert.
In solchen Fällen ist es sinnvoll, die allgemeinen Sprachfunktionen abzuklären. Oft liegen derartigen Defiziten im Leseverständnis sprachliche Defizite zugrunde. Standardisierte Lesetests liegen derzeit nur für das Grundschulalter vor, für höhere Klassenstufen und das Erwachsenenalter fehlen bedauerlicherweise geeignete Verfahren. . Tab. 25.1 gibt einen Überblick über gängige Verfahren zur Lesediagnostik, die die Kriterien der Validität und Reliabilität in befriedigendem Ausmaß erfüllen. Auch im Bereich der Diagnostik zeigt sich die Überbetonung der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum: Geeignete Rechtschreibtests gibt es für alle Klassenstufen und auch für
403 25.5 · Therapeutisches Vorgehen
. Tab. 25.1. Lesetests Testverfahren
Erfasste Lesekomponenten
Leises/lautes Lesen
Normierungszeitpunkte
Durchführungsdauer
Ein Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler, ELFE 1–6 (Lenhard u. Schneider 2006)
Leseverständnis
Leise
Ende 1. Klasse, jeweils Mitte/Ende 2.–6.Klasse
20–30 min
Hamburger Lesetest für die 3. und 4. Schulstufe, HAMLET 3–4 (Lehmann et al. 2006)
Wortlesen, Textverständnis
Leise
Ende 3. und 4. Klasse
2 Schulstunden à 45 min
Knuspels Leseaufgaben, KNUSPEL-L (Marx 1998)
Wortlesen, Pseudowortlesen, Leseverständnis für Sätze, Hörverstehen
Leise
Ende 1. Klasse, jeweils Mitte und Ende 2.–4. Klasse
35–50 min
Salzburger Lesescreening für die Klassenstufen 1–4, SLS 1–4 (Mayringer u. Wimmer 2003)
Wortlesen, Satzlesen
Leise
Ende 1. Klasse, jeweils Mitte und Ende 2.–4. Klasse
15 min
Salzburger Lesescreening für Klassenstufen 5–8, SLS 5–8 (Auer et al. 2005)
Wortlesen, Satzlesen
Leise
5.–8. Klasse
15 min
Salzburger Lese- und Rechtschreibtest, SLRT (Landerl et al. 2006)
Wortlesen, Pseudowortlesen, Textlesen
Laut
Mitte und Ende der 2. Klasse, 3. Klasse, 4. Klasse
15–20 min
Würzburger Leise Leseprobe, WLLP (Küspert u. Schneider 1998)
Wortlesen
Leise
1.–4. Klasse, jeweils letzte 2 Monate d. Schuljahres
15 min
Zürcher Lesetest, ZLT (Linder u. Grissemann 2006)
Wortlesen, Textlesen
Laut
2.–6.Klasse, jeweils 1. Quartal d. Schuljahres
20–30 min
das Erwachsenenalter. Üblicherweise bestehen derartige Verfahren darin, dass Wörter mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad nach Diktat korrekt verschriftlicht werden müssen. In den unteren Klassenstufen ist es sinnvoll, die Kompetenz im lautorientierten Schreiben unabhängig von der Fähigkeit zur korrekten Rechtschreibung zu diagnostizieren. Auch wenn die Kenntnis der korrekten Schreibweise vieler Wörter bei jüngeren Kindern noch beschränkt sein mag, sollten Kinder bereits wenige Monate nach der Einschulung gut in der Lage sein, auch unbekannte Wörter lauttreu zu Papier zu bringen. Eine kritische Sichtung aktueller Verfahren zur Lese- und Rechtschreibdiagnostik findet sich z. B. bei Landerl (2007) und Landerl und Kain (2007).
ADHS-Differenzialdiagnose. Liegen neben Lese-/Rechtschreibproblemen auch Probleme der Aufmerksamkeit vor, so ist differenzialdiagnostisch relevant, ob sowohl eine LRS als auch eine ADHS diagnostiziert werden muss oder ob sich eines der beiden Probleme möglicherweise als Folge des anderen ergibt. Treten die Aufmerksamkeitsprobleme etwa nur in der Schule und beim Erledigen der Schularbeiten auf, aber nicht in der Freizeit, so ist dies ein deutlicher Hinweis, dass sie eine Folge einer Leistungsüberforderung im Kontext einer Lernstörung sind. Umgekehrt liegen bei Kindern mit ADHS zumeist nicht spezifische Probleme im Schriftspracherwerb vor, sondern umfassendere Probleme in den schulischen Leistungen.
Intelligenztests. In der ICD-10 wird ebenso wie in anderen gängigen Klassifikationssystemen zur Diagnostik der LRS eine Diskrepanz zum allgemeinen Entwicklungsalter, also zur Intelligenz gefordert, damit eine umschriebene Entwicklungsstörung des Lesens und Rechtschreibens diagnostiziert werden kann. Allerdings dürfte die Art der Schwierigkeiten, die das Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens Kindern unterschiedlicher Intelligenz bereitet, sehr ähnlich sein (z. B. Marx et al. 2001). Auch ist bisher keine differenzielle Vorgehensweise im Rahmen der Intervention bekannt, wenn man davon absieht, dass bei Kindern mit niedriger Intelligenz zumeist umfassendere sonderpädagogische Maßnahmen erforderlich sein werden, wohingegen bei Kindern mit umschriebener LRS eine gezielte Lese-/ Rechtschreibintervention ausreicht.
25.5
Therapeutisches Vorgehen
Der Fördermarkt im Bereich der LRS ist für betroffene Familien leider sehr unübersichtlich und bisher ohne jegliche Qualitätskontrolle. Das Angebot reicht von farbigen Folien, die der Verbesserung der visuellen Verarbeitung dienen sollen, bis zu Gameboy-ähnlichen Spielen, die betroffenen Kindern zu einer schnelleren und damit effizienteren akustischen oder visuellen Reizverarbeitung verhelfen sollen. Viele dieser Verfahren können von vornherein als wenig sinnvoll ausgeschlossen werden, weil sie auf die Verbesserung vermuteter kognitiver Defizite abzielen, die sich empirisch nicht belegen lassen (vgl. Wimmer u. Kronbichler 2002). Ein zentrales Problem derartiger schriftsprachferner Förderansätze ist, dass damit oft zwar die betreffende basale
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404
Kapitel 25 · Lese-/Rechtschreibstörung
kognitive Funktion verbessert, aber kein Transfer auf die Lese- bzw. Rechtschreibleistung erzielt werden kann. Eine kritische Sichtung alternativer Förderansätze bietet z. B. Suchodoletz (2003). Letztlich gilt: Lesen wird durch ein gezieltes Lesetraining besser, Rechtschreiben durch ein konkretes Rechtschreibtraining.
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Interventionen bei Anfangsschwierigkeiten ! Kinder, bei denen ein Risiko für die Entwicklung einer LRS besteht oder die bereits einen deutlichen Rückstand in der schriftsprachlichen Entwicklung zeigen, benötigen so früh wie möglich gezielte Unterstützung. Zu warten, ob das Kind von selbst in der Lage ist, diesen Rückstand noch aufzuholen, vergrößert im Allgemeinen die Probleme und stellt keine angemessene Reaktion dar. Je länger nämlich die Schwierigkeiten bestehen, desto größer wird der Rückstand, weil in dieser ungenutzten Zeit nicht nur im Unterricht, sondern auch außerhalb der Schule zahllose Gelegenheiten zum Üben des Lesens und Rechtschreibens versäumt werden.
Interventionsmaßnahmen sollten grundsätzlich schriftnah und symptomorientiert sein. Das Kind soll durch die Intervention die Gelegenheit erhalten, die Lernschritte, die es bisher im normalen schulischen Unterricht noch nicht leisten konnte, in seinem individuellen Tempo nachzuholen. Voraussetzung für ein derartiges Vorgehen ist natürlich eine differenzierte Diagnostik zur Abklärung des aktuellen Leistungsstandes. Wenn diese ergibt, dass der Leistungsstand in einzelnen Teilbereichen der Schriftsprachverarbeitung bereits mehrere Jahre unter dem zu erwartenden Niveau liegt, hat es zumeist wenig Sinn, auf dem jeweiligen Klassenniveau anzusetzen, vielmehr muss das Niveau der Intervention dem Leistungsstand des Kindes angepasst werden. Auch das Arbeitstempo muss sich an den Bedürfnissen orientieren. Dies kann im Rahmen einer Kleingruppe oder in einer Einzelförderung umgesetzt werden. Wichtig für die Arbeit mit Kleingruppen ist allerdings, dass die teilnehmenden Kinder einen vergleichbaren Stand in der schriftsprachlichen Entwicklung aufweisen. Oft kann bereits im Kindergarten ein erhöhtes Risiko festgestellt werden, dass Kinder in der Schule eine LRS entwickeln könnten. Bekannte Risikofaktoren sind eine genetische Belastung (LRS in der Verwandtschaft) oder Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung. Das »Bielefelder Screening« (Jansen et al. 2002) erlaubt bereits im letzten Kindergartenjahr eine Identifizierung von Kindern, die in den verbalen Vorläuferfertigkeiten für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb (besonders phonologische Bewusstheit) einen Entwicklungsrückstand aufweisen. Die Entwicklung der phonologischen Kompetenz kann durch strukturierte Programme gefördert werden (z. B. Küspert u. Schneider 2003; Martschinke et al. 2002), im Rahmen derer Kinder in Sprachspielen lernen, die lautlichen Segmente
von Sprechwörtern zu identifizieren. Besonders effizient sind derartige Fördermaßnahmen, wenn auch bereits Buchstaben in die Lautschulung eingebunden werden (z. B. Plume u. Schneider 2004). Auch für die typischen Anfangsschwierigkeiten im lautierenden Lesen und im lautorientierten Schreiben sind psycholinguistisch strukturierte Programme angezeigt, anhand derer die Lautsynthese und -analyse sowie die systematischen Beziehungen zwischen Buchstaben und Lauten trainiert werden. Publizierte Programme, die einen systematisch und linguistisch fundierten Leseaufbau bieten, sind z. B. die »lauttreuen Leseübungen« von Findeisen et al. (2000), das Programm »Flüssig lesen lernen« (z. B. Tacke 1998) oder der »Kieler Leseaufbau« (Dummer-Smoch u. Hackethal 1993a). Der »Kieler Rechtschreibaufbau« (Dummer-Smoch u. Hackethal 1993b) bietet umgekehrt einen gut strukturierten Aufbau des Trainings des lautorientierten Schreibens, in dem von kurzen, linguistisch einfach zu segmentierenden Lautabfolgen ausgegangen wird und die linguistische Komplexität der zu schreibenden Wörter langsam und systematisch ansteigt. Interventionen zur Verbesserung der Leseleistung. Während diese Anfangsschwierigkeiten zumeist durch eine gezielte Intervention gut zu behandeln sind, sind die späteren Symptome der niedrigen Leseflüssigkeit und der schwachen Rechtschreibung zum Teil trotz geeigneter therapeutischer Unterstützung langwierig. Leistungsverbesserungen können oft nur in sehr kleinen Schritten erzielt werden. Beim Lesen besteht ein zentrales Problem in der mangelnden Leseintensität. Während normal entwickelte Leser ihre Leseleistung durch systematische Leseaktivitäten in und außerhalb der Schule kontinuierlich verbessern, vermeiden leseschwache Kinder zumeist diese für sie ausgesprochen mühsame und damit wenig ansprechende Beschäftigung. Eine Studie an englischsprachigen Kindern (Cunningham u. Stanovich 1998) zeigt, dass gute Leser im Alter von 12 Jahren außerhalb der Schulzeit pro Jahr bis zu 40.000 Wörter lesen, während leseschwache Kinder nur ca. 8.000 Wörter pro Wörter lesen oder außerschulische Leseaktivitäten zur Gänze vermeiden. Besonders für leseschwache Kinder ist es also von zentraler Bedeutung, dass sie konsequent zum Lesen motiviert und angeregt werden. ! Ziel sowohl der Lese- als auch der Rechtschreibförderung ist der Aufbau eines möglichst umfassenden orthographischen Lexikons, das den schnellen und automatischen Abruf von Wortschreibungen aus dem Gedächtnis ermöglicht.
Beim Lesen ist hierzu wichtig, dass häufige Wörter oder Wortbausteine (z. B. Silben, Morpheme) auch im Training entsprechend häufig vorkommen, so dass eine gute Chance besteht, dass sie auch von leseschwachen Kindern memoriert werden. Ob dies besser in Form von wiederholtem Lesen von (möglichst anregenden) Texten oder in Form von psycholinguistisch strukturierten Wortlisten erfolgen
405 25.6 · Fallbeispiel
soll, beantwortet die Forschung nicht eindeutig, beide Übungsformen haben offenbar ihre Berechtigung. Rechtschreibförderung. In der Rechtschreibförderung sind wortspezifische Trainings von Trainings der Rechtschreibregeln zu unterscheiden. Wortspezifische Trainingsmaßnahmen (z. B. Rechtschreibkartei) zielen darauf ab, dass die Schreibungen von Wörtern mit hoher Vorkommenshäufigkeit so gut trainiert und eingeprägt werden, dass sie ohne langes Nachdenken sicher zu Papier gebracht werden können. Die sichere Kenntnis von Rechtschreibregeln (z. B. »Nach einem kurzen Selbstlaut schreibt man einen Doppelmitlaut«) kann helfen, die korrekte Schreibung eines Wortes zu rekonstruieren, wenn sie nicht aus dem Gedächtnis abrufbar ist. In den meisten Fällen wird eine LRS-Intervention beide Komponenten enthalten, wobei je nach Alter, allgemeinem kognitivem Entwicklungsstand und Gedächtnisfunktionen zu entscheiden sein wird, worauf im Einzelfall der Schwerpunkt zu legen ist. Für jüngere oder intelligenzschwache Kinder könnte die Umset-
25.6
zung von Regelwissen eine Überforderung darstellen. Strukturierte Programme zum Aufbau der Rechtschreibkompetenz liegen z .B. von Schulte-Körne und Mathwig (2004) oder Reuter-Liehr (2000) vor. Gestaltung der Interventionen. Eine wichtige Rolle spielt in der LRS-Förderung die anregende Gestaltung der Intervention, schließlich werden betroffene Kinder systematisch angehalten, einer Beschäftigung nachzugehen, die ihnen große Anstrengung bereitet und daher nicht besonders viel Spaß macht. Verhaltenstherapeutische Token-Systeme können hier eine wesentliche Unterstützung darstellen. Wenn bereits deutliche psychosomatische Beeinträchtigungen oder Schul- und Prüfungsängste vorliegen, ist eine zusätzliche psychotherapeutische Intervention als Ergänzung zum Lese- und Rechtschreibtraining sinnvoll. Letztlich sind vorhandene Komorbiditäten, z. B. das Vorliegen von Aufmerksamkeitsproblemen, bei der Gestaltung der Fördereinheiten natürlich adäquat zu berücksichtigen.
Fallbeispiel
Diagnose Bereits wenige Monate nach der Einschulung, zu Weihnachten in der 1. Klasse, fiel B.s Mutter auf, dass er zwar die bisher unterrichteten Buchstaben gut mitlernte, dass er aber nicht in der Lage war, auch nur zwei Buchstabenlaute zusammenzulauten. B.s Klassenlehrerin beruhigte allerdings und meinte, dass es noch zu früh sei, sich Sorgen zu machen. B. benötige nur mehr Zeit, um lesen zu lernen. In den folgenden Monaten beobachtete B.s Mutter, dass er die in der Schule geübten Texte aus dem Lesebuch gut »vorlesen« konnte, an Wörtern, die ihm unbekannt waren, scheiterte er aber völlig. Offenbar war er in der Lage, die bisher noch nicht allzu umfangreichen Fibeltexte auswendig im Gedächtnis zu behalten, die basale Technik des lautierenden Lesens hatte er allerdings noch nicht gelernt. B. besuchte bereits die 2. Klasse, als seine Mutter ihn einer Psychologin vorstellte und von ihren Beobachtungen berichtete. Im Rahmen einer Diagnosestellung konnte bestätigt werden, dass B. tatsächlich die Buchstabe-LautBeziehungen abgesehen von einigen eher selten vorkommenden Buchstaben wie x, y oder äu gut beherrschte, er war aber auch nach mehr als einem Jahr schulischer Leseinstruktion nicht in der Lage, auch nur die einfachsten Buchstabenkombinationen zusammenzulauten. Selbst beim sehr einfachen Wort Mama konnte er nur isoliert die Einzellaute /m/-/a/-/m/-/a/ benennen. Die Durchführung eines standardisierten Lesetests war aufgrund dieser massiven Beeinträchtigung zu diesem Zeitpunkt noch gar 6
nicht möglich. Die Diagnostik der Schreibleistung ergab, dass B. Wörter zwar korrekt abschreiben konnte, Schreiben nach Diktat war allerdings nicht möglich. B. war nicht in der Lage, selbst die einfachsten Wörter in ihre lautlichen Segmente zu zerlegen und diese adäquat in Buchstaben umzusetzen. Obwohl er sich also die visuellen Konfigurationen der Buchstaben offenkundig gut einprägen konnte, waren ihm bisher die Beziehungen zu den phonologischen Segmenten seiner Sprache verborgen geblieben. Die Durchführung eines nonverbalen Intelligenztests ergab einen überdurchschnittlichen IQ von 116. Auch aufgrund seiner ansonsten recht guten schulischen Leistungen konnte das Vorliegen einer generellen Lernschwäche ausgeschlossen werden. B. hatte bis zur Einschulung eine völlig unauffällige Kindheit durchlaufen. Seine Familie lebte in guten sozioökonomischen Verhältnissen. Der Vater leitete das Familienunternehmen, die Mutter half in der Firma mit, war als Übersetzerin tätig und beherrschte drei Fremdsprachen fließend in Wort und Schrift. Die Mutter las gerne und viel, so dass mangelnde Leseanregung als Ursache für B.s Probleme ebenfalls weitgehend ausgeschlossen werden konnte. B. war zu diesem Zeitpunkt das älteste von drei Kindern, wenig später sollte noch eine weitere kleine Schwester dazukommen. Er war ein aufgewecktes und sozial kompetentes Kind und ging gerne zur Schule. Dass alle anderen Kinder in seiner Klasse bereits besser lesen konnten als er, weckte seinen Ehrgeiz. Seine Erklärung war, dass es da beim Lesen wohl einen Trick gebe, den er nicht mitbekom-
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406
Kapitel 25 · Lese-/Rechtschreibstörung
men habe, weil er im Unterricht vielleicht zu wenig aufgepasst habe. Der »Trick« der Lautsynthese und -analyse war dann auch das erste zentrale Lernziel, das für die Intervention gesetzt wurde. B. war zu Beginn der Förderung sehr gut motiviert, er wollte unbedingt lesen lernen. Als ihm erklärt wurde, dass es mit dem Lesen nach etwa 20 Stunden gezielten Übens schon einigermaßen klappen würde, beschloss er, gleich über Nacht zu bleiben, dann könne er schon am nächsten Tag lesen.
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Aufbau des Interventionsprogramms Das Interventionsprogramm bestand (entgegen B.s Vorstellungen) aus zwei Stunden pro Woche, aufgeteilt auf zwei Nachmittage. Gerade bei jüngeren Kindern ist dies effizienter als nur eine längere wöchentliche Einheit. Wenn nur eine wöchentliche Sitzung vereinbart wird, so ist dringend erforderlich, dass die Intervention durch konsequentes häusliches Üben ergänzt wird. In B.s Fall war das aufgrund der vielfältigen familiären und beruflichen Verpflichtungen der Eltern nicht möglich. Da B. die Buchstabe-Laut-Beziehungen bereits sicher beherrschte, war kein intensives Buchstabentraining erforderlich.
Training der Lautsynthese. Für das Training der für das lautierende Lesen erforderlichen Lautsynthese empfiehlt sich ein strukturierter Aufbau nach psycholinguistischen Prinzipien. Anfangs wurden nur sehr kurze, zweibuchstabige Wörter (z. B. im, am, in, es) und Pseudowörter (z. B. ro, sa) präsentiert. In der ersten Phase wurden hierfür nur Konsonanten verwendet, die kontinuierlich artikuliert werden können (z. B. m, n, s, l), so dass für eine erfolgreiche Lautsynthese das Aneinanderfügen der Lautwerte für Konsonant und Vokal weitgehend ausreicht und kaum komplexe koartikulatorische Prozesse erforderlich sind. Bald konnten mit diesen Buchstaben auch etwas längere, zweisilbige Wörter wie Mama, Oma, Nase usw. gebildet werden. Erst als B. das Grundprinzip der Lautsynthese gut verstanden hatte, wurden auch die Plosivlaute (b ,d ,g ,p ,t ,k) eingeführt, für die das Zusammenlauten bereits linguistisch wesentlich schwieriger ist. In einem nächsten Schritt wurden dann auch Wörter mit Konsonantenverbindungen (z. B. Gras, Blume) eingeführt und geübt. Ergänzend wurden Übungen zur Verbesserung der Sprachlautwahrnehmung und der phonologischen Bewusstheit durchgeführt. Training der Lautanalyse. Parallel zum Training der Lautsynthese wurde die für das lautorientierte Schreiben erforderliche Lautanalyse geübt. Hierfür wurde das gleiche, linguistisch strukturierte Übungsmaterial verwendet wie beim Lesen. Anfangs wurden nur lauttreue Wörter verwendet, die keine orthographischen Marker wie stummes h 6
oder Doppelkonsonanten enthalten. Später wurde zwar das Wortmaterial erweitert, Verstöße gegen orthographische Konventionen wurden auch korrigiert, es wurde aber noch kein besonderer Nachdruck auf das Behalten dieser Konventionen gelegt. Vielmehr stand die Kompetenz im lautorientierten Schreiben klar im Vordergrund.
Mit welchem Laut beginnt »Brot«? Wie schwer B. die Segmentierung des Sprachflusses in einzelne Laute fiel, zeigt eindrucksvoll sein Schreibversuch für das Wort Brot nach etwa 25 Fördereinheiten. Er schreibt Grot, stellt aber selbst fest, dass diese Schreibung nicht korrekt ist. In weiterer Folge ist er aber offenkundig nicht in der Lage, den Anfangslaut des Wortes zu identifizieren. Erschwert wird diese Identifikation dadurch, dass der Anfangslaut in ein Konsonantencluster verpackt ist. Auf seiner Suche nach dem Anfangslaut nennt B. zuerst ein /k/, weil er bereits gelernt hat, dass man »harte« und »weiche« Buchstaben leicht verwechselt. Dann greift er auf die Strategie zurück, die er sich im Rahmen der Förderung bereits angeeignet hat: er sagt sich das zu schreibende Wort leise vor und hört genau hin, welche Laute er identifizieren kann. Als erstes benennt er den Laut /o/, der zwar tatsächlich im Wort vorkommt, aber in einer anderen Position. Dann nennt er die Laute /v/ und /m/, die phonologisch dem korrekten Anfangslaut zwar sehr ähnlich sind, sich aber jeweils in einem artikulatorischen Merkmal vom gesuchten Laut /b/ unterscheiden. B.s Betreuerin bemerkt seine zunehmende Verunsicherung und versucht ihm auf die Sprünge zu helfen, indem sie die Assoziation mit dem Anfangslaut von B.s Namen herstellt. B. versteht zwar die Hilfestellung, fragt aber noch mehrfach nach, ob man Brot tatsächlich mit B schreibe. Offenkundig gelingt ihm die lautliche Identifikation nach wie vor nicht. Training der Leseflüssigkeit und Rechtschreibung. Am Ende der 2. Klasse ergab eine weitere Diagnosesitzung, dass B. das lautierende Lesen sowie das lautorientierte Schreiben recht gut beherrschte und ihm nur mehr bei längeren oder komplexeren Wörtern Fehler unterliefen, allerdings lag seine Lesegeschwindigkeit bei den Leseaufgaben des Salzburger Lese- und Rechtschreibtests (Landerl et al. 2006) unter einem Prozentrang von 15. Die hohe Anzahl von orthographischen Fehlern beim Rechtschreibtest entsprach einem Prozentrang von 5 im Vergleich zur gleichaltrigen Normierungsstichprobe. In weiterer Folge wurde der Schwerpunkt der Intervention daher auf die Erhöhung der Leseflüssigkeit und auf den Erwerb der Rechtschreibung gelegt. Zentral für die Erhöhung der Leseflüssigkeit ist ohne Zweifel die Intensität des Lesens, daher wurde B. angehalten, auch außerhalb der Intervention täglich zu lesen. Wichtig ist hierbei die Auswahl des Lesematerials, das nicht zu schwierig, aber den-
407 25.7 · Empirische Belege
noch interessant sein soll. Die Verbesserung der Rechtschreibung ist ein langwieriges Vorhaben, das mehrere Jahre in Anspruch nimmt und manchmal bis ins Erwachsenenalter nicht ausreichend gelingt. Im Rahmen der Rechtschreibförderung wurden zwei Komponenten betont: Zum einen wurde ein Grundwortschatz mit häufigen Wortschreibungen aufgebaut. Ziel dieses wortspezifischen Trainings war, dass B. imstande sein sollte, diese Wörter automatisiert, ohne langes Nachdenken orthographisch korrekt zu schreiben. Die zweite Komponente bestand in einem systematischen Training der Rechtschreibregeln. Auch wenn es für jede dieser Regeln zahlreiche Ausnahmen gibt, also Wortschreibungen, die nicht regelkonform sind, so gibt dieses Regelwerk doch eine wesentliche Orientierungshilfe, Schreibungen, die man nicht sicher beherrscht, korrekt abzuleiten.
Kinder mit LRS investieren zumeist wesentlich mehr Zeit und Energie in eine einigermaßen erfolgreiche Schullaufbahn als Kinder mit guten schriftsprachlichen Kompetenzen. Es ist nicht untypisch, dass sie im Jugendalter nicht die Motivation aufbringen, diesen hohen Einsatz durchzuhalten. Schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt sind inzwischen gut dokumentiert (Esser u. Schmidt 1997). Wenn einige Jahre später die beruflichen Ziele klarer definiert sind, steht immer noch die Möglichkeit einer Rückkehr ins Bildungssystem auf dem zweiten Bildungsweg offen. Die Anstrengungen sind dann zwar wieder ebenso groß oder vielleicht sogar noch größer, aber die nun gesteckten klaren Ziele können helfen, die große Belastung durchzustehen.
25.7
Empirische Belege
25.7.1 Prävention und Frühförderung
Sowohl internationale als auch deutschsprachige Studien belegen, dass Programme, die auf die Verbesserung der phonologischen Bewusstheit abzielen, Kindergartenkindern und Schulanfängern den Einstieg ins Lesenlernen erleichtern können. Schneider et al. (1998) konnten zeigen, dass Kinder, die in den letzten 6 Monaten im Kindergarten an einem derartigen Training teilnahmen, nicht nur ihre phonologische Bewusstheit gegenüber einer untrainierten Kontrollgruppe deutlich steigern konnten, sondern dass sie in der 1. Klasse auch bessere Lese- und Schreibleistungen erbrachten. Besonders wichtig ist der Befund, dass auch Kinder, für die bereits ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer späteren LRS identifiziert wurde, von diesem Training profitieren konnten und zumindest bis zum Ende der 2. Klasse keine massiven Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb zeigten. Die Wirksamkeit derartiger Präventions-
Weitere Entwicklung Erschwert wurde die Förderung in dieser Phase dadurch, dass B. selbst mit den anfangs erzielten großen Erfolgen durchaus zufrieden war. Er befand, dass er nun ja lesen und schreiben könne, und war nicht besonders motiviert, seine Anstrengungen weiter fortzusetzen. In der 4. Klasse verschlechterten sich dann seine schulischen Leistungen insgesamt, so dass sich die Mutter entschloss, ihn diese Klasse wiederholen zu lassen. In diesem Wiederholungsjahr stabilisierten sich B.s Leistungen deutlich. Er konnte anschließend ins Gymnasium wechseln, war aber auch dort darauf angewiesen, dass seine Deutschlehrer sein Rechtschreibproblem berücksichtigten. Unmittelbar nach Absolvierung der Schulpflicht ging B. im Alter von 15 Jahren von der Schule ab und begann, in der Firma seines Vaters zu arbeiten.
maßnahmen kann erhöht werden, wenn das Training der phonologischen Bewusstheit mit einem Training der Buchstabe-Laut-Zuordnungen kombiniert wird (Roth 1999). Ein wesentlicher Teil der englischsprachigen Interventionsforschung belegt auch für ältere Kinder die Effizienz phonologisch orientierter Förderprogramme, wenn es um die Verbesserung der Lesegenauigkeit und des Leseverständnisses geht (z. B. Torgesen et al. 2003). Bei deutschsprachigen Kindern sind Trainings der phonologischen Bewusstheit in späteren Phasen des Schriftspracherwerbs allerdings kaum mehr wirksam (Wimmer u. Hartl 1991). Der Grund besteht vermutlich darin, dass in der phonologisch relativ transparenten deutschen Orthographie auch Kinder mit Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb eine gute phonologische Bewusstheit entwickeln. Das zentrale Problem besteht nicht mehr – wie bei englischsprachigen Kindern – in einer mangelnden Lesegenauigkeit, sondern in einer niedrigen Leseflüssigkeit. Hier erweisen sich phonologisch orientierte Interventionen auch in englischsprachigen Studien nicht als zielführend (Torgesen et al. 2003).
25.7.2 Lese-/Rechtschreibförderung
Insgesamt ist festzustellen, dass insbesondere im deutschsprachigen Raum empirische Untersuchungen zur Evaluierung der Effizienz von Interventionsprogrammen bei LRS eher spärlich sind. Diejenigen Befunde, die zur symptomorientierten LRS-Intervention vorliegen, belegen Effektstärken, die zumeist im mittleren bis unteren Bereich liegen. Elbaum et al. (2000) stellten in einer Metaanalyse von 32 Studien (davon 18, die in ersten Klassen durchgeführt wurden) Effektstärken von d=.41–.54 in Bezug auf die Steigerung der Lesefertigkeiten fest. Für Kinder der 1. Klasse er-
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Kapitel 25 · Lese-/Rechtschreibstörung
wiesen sich die untersuchten Programme mit d=.46 als effizienter als in der 2. und 3. Klasse (d=.37) und in der 4.–6. Klasse (d=.06). Diese Befunde belegen also eine höhere Effizienz von möglichst frühen Fördermaßnahmen. Kuhn und Stahl (2003) kommen in ihrem Überblick wissenschaftlicher Arbeiten zur Evaluation unterschiedlicher Ansätze zur Leseförderung zu dem Fazit, dass alle überprüften Leseaktivitäten zu einer verbesserten Leseleistung führen, wobei zwischen den unterschiedlichen Leseaktivitäten wenig Unterschied in der Effizienz festzustellen ist. Zentral scheint zu sein, dass die Kinder insgesamt mehr lesen. Dies zeigt auch eine aktuelle Studie von Tacke (2005), die für eine Gruppe von leseschwachen Schülern der 2. Klasse, die ein halbes Jahr lang an jedem Schultag für 20 Minuten im Rahmen einer Einzelförderung mit sehr hohem Arbeitspensum gearbeitet hatten, eine hohe Effektstärke von d=.98 belegt, während die Effektstärke für die gesamte Interventionsgruppe (hohes und niedrigeres Arbeitspensum) nur bei .49 lag. Auch empirische Studien zur Evaluierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Rechtschreibleistung zeigen, dass relative Leistungsverbesserungen, also ein Aufholen des Leistungsrückstandes im Vergleich zu den Klassenkameraden ein langwieriges Unterfangen sind. So konnten Schulte-Körne et al. (1998) für ein systematisches Training der Rechtschreibregeln, das durch die Eltern der betroffenen Kinder unter Anleitung umgesetzt wurde, erst nach 2 Jahren eine signifikante (aber dennoch eher geringe) t-Wert-Verbesserung von 38 auf 42 feststellen. In Rahmen einer weiteren Evaluation zeigte das von diesem Programm abgeleitetet Marburger Rechtschreibtraining allerdings schon nach 3 Monaten erste Erfolge, wenn es durch geschulte Experten umgesetzt wurde (Schulte-Körne et al. 2001). Zu berücksichtigen ist bei diesen Befunden, dass gut möglich ist, dass Kinder mit LRS ohne gezielte Intervention in ihrer Leistung relativ zur Norm möglicherweise sogar zurückgefallen wären, so dass bereits ein eher geringfügiges Aufholen des Leistungsrückstandes durchaus als Erfolg zu bewerten ist. Um dies festzustellen, wären unbehandelte oder Zuwendungskontrollgruppen erforderlich. Besonders bei länger andauernden Interventionsprogrammen sprechen ethische Gründe klar gegen diese methodische Anforderung. Angesichts dieser insgesamt eher ernüchternden empirischen Befunde ist verständlich, dass sich Hilfesuchende immer wieder Programmen zuwenden, die eine Beseitigung der LRS in nur wenigen Wochen versprechen. Bei den betroffenen Kindern erfreuen sich derartige Programme oft schon deshalb großer Beliebtheit, weil sie häufig suggerieren, das Problem könne ohne mühsame und teils bereits stark aversiv besetzte Lese- und Rechtschreibübungen auskommen. Eine positive Evaluierung liegt allerdings für keine einzige dieser schriftfernen Interventionsmethoden vor, so dass enttäuschte Hoffnungen nahezu vorprogrammiert sind.
Zusammenfassung Umschriebene Lese- und/oder Rechtschreibstörungen gehören zu den am häufigsten diagnostizierten Entwicklungsstörungen im Schulalter. In frühen Entwicklungsphasen sind Defizite in der systematischen Lautsynthese beim lautierenden Lesen sowie in der für das lautorientierte Schreiben erforderlichen Lautanalyse typisch. Später stehen Schwierigkeiten im Aufbau eines orthographischen Lexikons im Vordergrund, die sich in einem extrem niedrigen Lesetempo und in zahlreichen Rechtschreibfehlern manifestieren. Diese Schwierigkeiten persistieren typischerweise bis ins Erwachsenenalter. Ätiologisch wird LRS durch Defizite in der Sprachlautverarbeitung (phonologisches Defizit) erklärt, welche die multiple und redundante Vernetzung von Sprech- und Schriftwörtern erschweren oder verhindern. In der Intervention haben sich symptomorientierte Programme bewährt, die an den schriftsprachlichen Defiziten ansetzen. Kritisch zu bemerken ist, dass der »Fördermarkt« der LRS für Hilfesuchende ausgesprochen unübersichtlich ist. Verstärkte Bemühungen der wissenschaftlichen Evaluierung der Effizienz von Interventionsansätzen scheinen daher dringend angezeigt.
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Kapitel 25 · Lese-/Rechtschreibstörung
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26
26 Aufmerksamkeitsstörung Peter F. Schlottke, Ute Strehl, Gerhard W. Lauth
26.1
Einleitung
– 412
26.2
Darstellung der Störung – 412
26.2.1
Begleit- und Folgeprobleme
26.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf – Konsequenzen für Diagnostik und Intervention – 414
26.4
Diagnostik – 415
26.5
Therapeutisches Vorgehen
26.5.1 26.5.2
Kognitiv-behaviorales Therapiekonzept – 417 Neurofeedback – 421
26.6
Fallbeispiel mit einer kognitiv-behavioralen Intervention – 422
26.7
Empirische Belege
26.7.1
Kognitiv-behaviorale Interventionen – 425
26.8
Ausblick
– 417
– 425
– 425
Zusammenfassung Literatur
– 413
– 426
– 426
Weiterführende Literatur
– 428
412
Kapitel 26 · Aufmerksamkeitsstörung
26.1
26
Einleitung
Zwar gilt die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als eine der am häufigsten diagnostizierten und untersuchten Störungen im Kindes- und Jugendalter, doch sind sowohl die Prävalenzdaten als auch die in den jeweiligen Diagnosesystemen (DSM-IV-TR bzw. ICD-10, Kapitel F) als spezifisch für ADHS ausgewiesene Merkmale weder konsistent, noch mit den verfügbaren Untersuchungsinstrumenten zureichend (valide, reliabel, trennscharf) objektivierbar (zur Quelle inkonsistenter Prävalenzdaten: Strehl 2008; zum Vergleich der Diagnosekriterien bei DSMIV-TR und ICD-10: Strehl 2008; Schlottke u. Lauth 1996). Die Debatte um die Zulässigkeit und Brauchbarkeit der Diagnose ADHS – im Kindes-, Jugend- und mittlerweile auch im Erwachsenenalter – gruppiert sich allerdings nicht nur um die vorgenannten Probleme einer möglicherweise eingeschränkt zuverlässigen Datenbasis. Wesentlich grundlegendere Zweifel an der Berechtigung, die Diagnose ADHS überhaupt zu stellen, werden auch in einem größeren gesellschaftspolitischen Zusammenhang geäußert, die mit wissenschaftskritischen Argumenten unterlegt werden (s. »ADHS-Konsenserklärung« der »Konferenz ADHS« verfügbar unter www.ads-kritik.de/KONSENS.htm bzw. www.adhs-konferenz.de/1747578.htm 2007). Somit werden theoretische Annahmen wie die empirischen Belege für das Störungskonzept ADHS nicht nur kontrovers diskutiert, es gibt trotz vielfältiger empirischer Belege für genetische, neuroanatomische und biopsychologische Auffälligkeiten bei ADHS-Kindern und -Jugendlichen kein unstrittiges in sich hinreichend stimmiges Modell zur ADHS. Strehl (2008) hat diesen komplexen Sachverhalt zur empirischen Belastbarkeit diagnostischer Kategorien, postulierter Konstrukte und möglicher ätiologischer Faktoren aufgearbeitet. Als ein Ergebnis dieser kritischen Sichtung wird erkennbar, dass die Diagnose einer ADHS bestenfalls Wahrscheinlichkeitscharakter (Weisshaupt u. Jokeit 2006) hat. Die eher und überwiegend an korrelativen Verknüpfungen von Einzelbefunden orientierte Diagnostik und Klassifizierung von ADHS war bislang wenig interventionsgeleitet und konnte in dieser Hinsicht auch wenig für eine differenzielle Zuweisung beitragen. Mit der Postulierung von Endophänotypen in der Publikation von Castellanos u. Tannock (2002) wird als Alternative ein Forschungszugang zu ADHS gewählt, der mit reliabel operationalisierbaren und theoretisch begründeten Konzepten versucht, Geno- und Phänotyp zu verknüpfen (Weisshaupt u. Jokeit 2006). Von besonderer Bedeutung sind dabei die mit neuropsychologischen Verfahren erfassbaren Endophänotypen, die sich als störungsspezifische Verhaltensmuster sowohl klinisch als auch aufgrund neurobiologischer Besonderheiten auch differenziell gruppieren lassen (Strehl 2008). Im Fokus derart quantifizierbarer Konstrukte stehen derzeit:
4 Einschränkungen im Arbeitsgedächtnis, 4 Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen mit mangelnder Hemmungskontrolle (Impulsivität), 4 Aversion gegenüber Aufschub von Belohnung, 4 motorische Überaktivität, 4 gestörte Verarbeitung von Reizen hinsichtlich verfügbarer Zeitfenster zur Erledigung von Aufgaben, bei erhöhter inter- und intraviduellen Variabilität der Reaktionszeiten, 4 dysfunktionale Regulierung der Anstrengungsbereitschaft im Hinblick auf zielbezogenes Verhalten (kurzfristige/entferntere Ziele). Bemerkenswert ist, dass sich die so als störungsspezifisch gefassten Merkmale problemlos unter Barkleys Konzeptualisierung von ADHS als einer Störung der Selbstregulation subsumieren und den daraus abgeleiteten Defiziten von ADHS-Betroffenen zuordnen lassen (Barkley 2003). In die Diskussion des für 2012 vorgesehenen DSM-V hat diese Forschungsperspektive im Übrigen auch bereits Eingang gefunden (Gordon 2007; Strehl 2008). Trotz der hier angesprochenen Probleme bei Klassifikation und Diagnostik erscheint es angemessen und vertretbar, die derzeit verbindliche Basis zum Erscheinungsbild der Störung, ihre diagnostischen Grundlagen und die aus verfügbaren Modellen abzuleitenden, verhaltenstherapeutisch gefassten Therapiezugänge zu besprechen.
26.2
Darstellung der Störung
Aufmerksamkeitsstörungen im Rahmen einer ADHS-Diagnose äußern sich vor allen Dingen darin, dass Aufgaben (z. B. Diktatschreiben) nachlässig, fehlerhaft und unzureichend bewältigt, die Tätigkeiten selbst nur wenig planvoll gestaltet und oft kaum zu Ende gebracht werden. Die Kinder neigen dazu, ohne hinreichende vorausgehende Überlegungen zu handeln und vorschnell verkürzte Problemlösungen zu suchen (z. B. im Unterricht dazwischenrufen, nicht zuhören, nicht abwarten, bis Anweisungen abgeschlossen sind, Lösungswege nicht einhalten). Sie haben große Schwierigkeiten, bei einer Aktivität zu bleiben und können eine Handlungsabsicht nicht kontinuierlich verfolgen. Stattdessen wenden sie sich schnell neuen, wechselnden Inhalten zu. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder erscheinen zum Teil »wie aufgezogen«, ständig »auf dem Sprung«; ihre Schwierigkeit, eine Zeit lang still zu sitzen, eskaliert oft in wachsender Bewegungsunruhe, was zu vielfältigen Konflikten und sozialen Anpassungsproblemen führt (Aggressivität, Lernstörungen, Erziehungsschwierigkeiten). Die Erscheinungsmerkmale der ADHS lassen sich im Wesentlichen drei Bereichen zuordnen: Im Vergleich zu anderen Kindern tritt eine übermäßige Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität auf. Diese Symptome sind vergleichsweise beständig sowie weit häufiger und schwer-
413 26.2 · Darstellung der Störung
wiegender als bei Kindern mit vergleichbarem Entwicklungsalter zu beobachten (DSM-IV-TR; Saß et al. 2003): 4 Unaufmerksamkeit, womit vor allem die mangelnde Stetigkeit und Zielgerichtetheit des Verhaltens zum Ausdruck gebracht wird. Hierzu gehört es, dass die Kinder Schwierigkeiten haben, begonnene Aufgaben konsequent zu Ende zu führen; sie können übertragene Arbeiten kaum planvoll und organisiert bewältigen und lassen sich leicht ablenken. 4 Impulsivität, womit vor allem das vorschnelle und unbedachte Verhalten umschrieben wird. Es äußert sich in Verhaltensweisen wie: Mit einer Antwort herausplatzen, bevor eine Frage vollständig gestellt wurde; bei Gruppenaufgaben nicht abwarten können; mit Aufgaben beginnen, ohne sich richtig mit den Anweisungen auseinanderzusetzen; sich auf unbedachte und gefährliche Aktivitäten einlassen. 4 Hyperaktivität, die auf die motorische Unruhe hinweist. Hierzu gehört, dass die Kinder z. B. nicht ruhig sitzen können, übermäßig herumtollen, herumzappeln, mit Gegenständen spielen. Diese Verhaltensweisen müssen als wiederkehrendes Muster sowie in einer deutlich vom Entwicklungsalter des Kindes abweichenden Ausprägung sowie über eine längere Zeitspanne (sechs Monate) auftreten, um die grundlegenden Störungsmerkmale zu erfüllen. Die Kardinalsymptome können sowohl vergesellschaftet aber auch unabhängig voneinander auftreten, so dass drei verschiedene Subtypen der Störung unterschieden werden: ein dominierend unaufmerksamer Subtyp, ein dominierend hyperaktiv-impulsiver Subtyp und ein sog. Mischtyp, bei dem beide Störungsmerkmale gleichermaßen vorhanden sind. Die gestörte Aufmerksamkeit wird vor allem im DSM-IV-TR (Saß et al. 2003) hervorgehoben, während in der ICD-10 (Dilling et al. 2005) Merkmale der Unaufmerksamkeit und der Hyperaktivität bzw. Impulsivität gleichermaßen vorhanden sein müssen. Die so unterschiedenen Subtypen von ADHS sind allerdings im Hinblick auf eine mögliche funktionale Differenzierung nicht einschlägig; auch resultiert daraus keine differenzielle Therapieindikation. Die typischen Probleme aufmerksamkeitsgestörter Kinder zeigen sich insbesondere dann, wenn längere Aufmerksamkeitsspannen, zielgerichtete Tätigkeiten und selbstgesteuerte, länger andauernde Handlungen verlangt werden (z. B. in der Schule, bei den Hausaufgaben, bei längeren Stillarbeiten, bei Gruppenaktivitäten). Hingegen sind die Verhaltensschwierigkeiten geringer, wenn die Kinder auf neue und anregende Inhalte treffen, ihr Verhalten direkt durch einen Erwachsenen reguliert wird (z. B., wenn ein Kind mit einem Erwachsenen alleine zusammen ist) und kurzfristige Belohnungen zu erwarten sind. Die Diagnosekriterien zur ADHS werden in einer Liste mit exemplarischen Verhaltensweisen zusammengefasst.
Diese Zuweisungskriterien benennen störungsspezifisches Verhalten für Unaufmerksamkeit und Impulsivität/ Hyperaktivität. Um als auffällig zu gelten, müssen sie mindestens sechs Monate bestehen. Ferner muss die Aufmerksamkeitsstörung vor dem siebten Lebensjahr begonnen haben. Bei geistiger Retardierung kann die Diagnose nur dann vergeben werden, wenn bezogen auf den Entwicklungsstand des Kindes oder Jugendlichen ein abnormes Muster an Unaufmerksamkeit, Impulsivität oder Hyperaktivität zu beobachten ist (DSM-IV-TR, Saß et al. 2003; ICD-10, Dilling et al. 2005). Eine solchermaßen definierte Störung wird bei 3–7% der Schüler im Grundschulalter festgestellt. Neuere Untersuchungen ermitteln derzeit zumeist leicht höhere Auftretenshäufigkeiten, vor allem beim Störungstyp »vorwiegend unaufmerksam«.
26.2.1 Begleit- und Folgeprobleme
Das so auffällige Verhalten wird von den unmittelbaren Bezugspersonen dieser Kinder (z. B. Eltern, Geschwister, Gleichaltrige, Lehrer) zumeist nicht als Ausdruck einer Störung gesehen, sondern als »Ungezogenheit«, »Disziplinlosigkeit«, »fehlender guter Wille«, »Rücksichtslosigkeit« und »im Mittelpunkt stehen wollen« interpretiert. Die Kinder werden als störend wahrgenommen und gelten als unreif und unangepasst (z. B. nicht gruppenfähig, verspielt, verzögerte Entwicklung, eingeschränkte Lernfähigkeit). Aufgrund der oft anzutreffenden schulischen Minderleistungen – die nicht notwendigerweise ihrem tatsächlichen kognitiven Potenzial entsprechen – werden ihnen auch häufig Merkmale im Sinne des Stereotyps des »schlechten Schülers« zugeschrieben. Eltern klagen zumeist über allgemeine Erziehungsschwierigkeiten (z. B. Trotzverhalten, Ungehorsam, Wutausbrüche, Geschwisterrivalitäten) sowie über gefahrvolles und unbedachtes Verhalten (z. B. mit Feuer und gefährlichen Gegenständen spielen, auf hohe Bäume klettern, sich risikoreich im Straßenverkehr bewegen, gegenüber anderen Kindern aggressiv sein, mit ebenfalls schwierigen Kindern Cliquen bilden, gehäuft Unfälle haben). Offensichtlich erlernen diese Kinder das angemessene Verhalten langsamer und geben das problematische Verhalten nur verzögert wieder auf. Diese Ausgangslage führt dazu, dass 4 das Verhalten des aufmerksamkeitsgestörten Kindes als aversiv erlebt wird und sich vermehrte familiäre Konflikte oder sogar Beziehungsschwierigkeiten mit einzelnen Elternteilen oder Geschwistern entwickeln; 4 sich die Erziehungsverantwortung der Eltern zwar deutlich erhöht, sie dieser Verantwortung angesichts der eskalierenden Verhaltensschwierigkeiten aber immer weniger genügen können. Dabei spielt es auch eine
26
414
Kapitel 26 · Aufmerksamkeitsstörung
große Rolle, dass aufmerksamkeitsgestörte Kinder oft von förderlichen Kontakten mit Gleichaltrigen ausgeschlossen sind (7 unten). Die kompensatorische Einflussnahme durch die Eltern wird deshalb umso wichtiger, weil kaum andere positive Entwicklungsanregungen im Umfeld des Kindes existieren.
26
Andere Kinder erleben den Kontakt mit einem aufmerksamkeitsgestörten Kind als wenig verstärkend, so dass sie den Kontakt mit ihm meiden bzw. es (instrumentell) für Störungen »nutzen« (z. B. im Unterricht). Die Zurückweisung durch Gleichaltrige in soziometrischen Wahlen, aber auch im alltäglichen Verhalten ist häufig rigoros und durchgängig. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder sind deshalb oft isoliert. Sie neigen aufgrund dieser Schwierigkeiten zu unkontrolliert-expansiven Verhaltensweisen (z. B. Aggressivität, Disziplinschwierigkeiten, negativem Sozialverhalten, Verletzung sozialer Normen), die ihre Problematik weiter verstärken. Diese Erfahrungen mit sich selbst und den Reaktionen anderer Personen machen das aufmerksamkeitsgestörte Kind unsicher und schränken sein ohnehin nicht ausgeprägtes Selbstwertgefühl weiter ein. Die Folge davon ist ein eher negatives Selbstbild, was jedoch häufig durch expansives Verhalten verdeckt ist (z. B. betont offensives Verhalten, Aggressivität, großspuriges Auftreten; zur Entwicklung und Manifestation solcher Verhaltensmuster s. die Modelle von Crick u. Dodge 1994; Lemerise u. Arsenio 2000). Weiter sind große Stimmungsschwankungen, eine niedrige Frustrationstoleranz oder Wutausbrüche zu beobachten bzw. klinisch auffällig. Diese Verhaltensmuster verschärfen die vorgenannten Verhaltensschwierigkeiten aufmerksamkeitsgestörter Kinder. Längsschnittstudien belegen hier zunehmend negative Auswirkungen bis hin zu einer ausgeprägten Beeinträchtigung der sozialen wie schulischen Entwicklung.
26.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf – Konsequenzen für Diagnostik und Intervention
Erklärt wird die Störung anhand eines Vulnerabilitätsmodells (Diathese-Stress-Konzept), das von psychophysiologischen und neurobiologischen Besonderheiten (mangelnde Aktivierungsregulation, unzureichende Verarbeitung von Signalen) sowie von Kompetenz- und Performanzmängeln (z. B. bei Emotionsregulierung, Gedächtnisprozessen, Belohnungsaufschub, Selbstmotivierung) ausgeht. Negative Interaktionsmuster mit den Bezugspersonen und deren Tendenz zu einseitig bestrafenden Verhaltensweisen sowie zunehmende Misserfolge und die Tendenz des betroffenen Kindes zu manifestem Meidungsverhalten verschärfen und verfestigen die Problematik (Barkley 2003;
Lauth u. Schlottke 2002). Im Kern wird die Störung als eine Beeinträchtigung der Selbststeuerung gesehen.
Wenn man über die Manifestation von Aufmerksamkeitsstörungen diskutiert, muss man also im Grunde erklären, was Kinder spezifisch auszeichnet, die eine altersangemessene Selbststeuerung vermissen lassen. Es herrscht große Einigkeit darüber, dass dies nicht nur auf einer »Ursache« beruht, sondern offenkundig multifaktoriell bedingt ist. Dabei wirken psychophysiologische, soziale und erlebnisbezogene Faktoren zusammen: 4 Psychophysiologisch sind eine zentralnervöse Unteraktivierung und Funktionseinschränkungen im Bereich des Frontallappens an der Störungsgenese beteiligt. Eine Folge davon ist u. a., dass die inhibitorische Kontrolle beeinträchtigt ist und Handlungsimpulse unmittelbar wirksam werden, die häufig unpassend bzw. falsch sind. In diesem Zusammenhang gibt es auch eine lebhafte Diskussion um die Beteiligung der Botenstoffe Dopamin, Serotonin und Noradrenalin. 4 Soziale Momente spielen insofern eine Rolle, als allgemein anerkannt wird, dass aufmerksamkeitsgestörte Kinder mehr und nachdrücklichere Erfahrungen benötigen, um ein angemessenes Verhalten zu erlernen. Ist ein Kind aufmerksamkeitsgestört, dann liegt es auf der Hand, dass es dem sozialen Umfeld (Eltern, Schule, Kindergarten) offensichtlich nicht in ausreichendem Maße gelungen ist, bei ihm Selbststeuerung, regelhaftes und sozial kontrolliertes Verhalten zu fördern bzw. zu entwickeln und für eine anforderungsgerechte Anwendung zu festigen. 4 Aufmerksamkeitsgestörte Kinder erleben sehr viele Misserfolge, was verständlicherweise dazu führt, dass sie die Bereiche aktiv meiden, in denen sie die meisten Misserfolge haben (etwa feinmotorische Tätigkeiten, Hausaufgaben, Unterricht). Nicht nur, dass sie Misserfolge verarbeiten müssen, aufmerksamkeitsgestörte Kinder erhalten dann auch negative Rückmeldungen, die sie auf ihre Person beziehen (sie werden z. B. als unleidlich, schwierig, aufsässig bezeichnet und bei Kontaktwünschen zurückgewiesen). Dadurch erwerben sie nahezu zwangsläufig ein recht negatives und instabiles Selbstbild, was sich in einer geringen Frustrationstoleranz, einer gewissen Depressivität, emotionaler Instabilität und aggressivem Verhalten ausdrückt.
Aus dieser integrativen Sichtweise zur Manifestation und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeitsstörungen bei einer ADHS (Lauth u. Schlottke 2002) lassen sich zentrale Ansatzpunkte für die Therapie ableiten (7 unten).
415 26.4 · Diagnostik
Mithilfe einer klassifikatorischen sowie der modifikationsorientierten Diagnostik sind die jeweiligen Störungsschwerpunkte – und daraus resultierend – Therapieschwerpunkte individuell zu klären (Strehl et al. 2008). Angesichts des Forschungsstandes zur Ätiologie von ADHS mit dem vorrangigen Bemühen, neurobiologische Marker zu identifizieren, kann begründet angenommen werden, dass hier dopaminerge, noradrenerge und adrenerge Transmittersysteme dysfunktional arbeiten (Newcorn et al. 2000). Diese neurobiologischen Einschränkungen werden mit Mängeln in den Exekutivfunktionen, der Selbstkontrolle und des Lernens in Verbindung gebracht. Dazu zeigen Zwillings- und Familienstudien, dass eine erhebliche Varianz mit genetischer Belastetheit abgedeckt ist (Gilger et al. 1992). In Übereinstimmung mit dem oben genannten biologisch-behavioralen Modell von Lauth u. Schlottke (2002) werden nur die neurobiologischen Risiken vererbt, nicht die Störung insgesamt. Manifestation und Aufrechterhaltung der Störung hängen wesentlich von Reaktionsmustern im signifikanten Umfeld des Kindes sowie von Verarbeitungsmustern beim Kind selbst ab. Vereinzelt werden gegen solche ätiologischen Konzepte massive Einwände vorgetragen (Timimi u. Taylor 2004). ADHS sei danach, am besten als kulturelles Konstrukt zu begreifen. Begründet wird dies vor allem mit der inkonsistenten Datenlage bei den Ergebnissen mit bildgebenden Verfahren, einer extrem hohen Komorbidität von ADHS, so dass allein schon deswegen die Spezifität der Diagnose anzuzweifeln sei und schließlich mit dem Hinweis, dass die Gabe von Methylphenidat bei ansonsten unauffälligen Kindern ähnliche Effekte zeige. Mit der zugespitzten Frage »Lieber kranke, als unglückliche Kinder?« und dem Vorhalt: »Eine ganze Generation wird krankgeschrieben, denn ADHS ist genau die ‚Krankheit’, die in die Kultur einer zunehmenden Einnahme von Psychopharmaka passt« (De Grandpre 2002) hat diese Diskussion ein aktuelles Forum bekommen (7 Abschn. 26.1; www.adhs-konferenz.de/1747578.htm 2007). > Fazit Bei aller kritischen Distanz zu diesen sehr engagiert vorgetragenen Positionen bleiben Differenzialdiagnose und die Angemessenheit eingeleiteter therapeutischer Maßnahmen sowie die Klärung der differenziellen Wirksamkeit von Interventionen ein zutreffend moniertes Forschungsdesiderat, wie wir es einleitend bereits angesprochen hatten.
26.4
Diagnostik
Die differenzialdiagnostische Abklärung einer Aufmerksamkeitsstörung verlangt nach bisherigen Standards zunächst die regelmäßige Nutzung mehrerer Informations-
quellen (Eltern, Lehrer, Erzieher, Kind, Intelligenztest). Dabei wird geprüft, ob in den verschiedenen Lebensbereichen des Kindes (Elternhaus, Schule oder Kindergarten, Umgang mit Gleichaltrigen) ADHS-typische Verhaltensprobleme auftreten. Weiter ist anhand des Erstmanifestationszeitpunkts und der Manifestationsdauer sowie mit einer umfassenden Verhaltens- und Problemanalyse zu klären, ob ggf. eine »Ursache« für diese Auffälligkeiten in Betracht kommen kann, die zu einer »reaktiven Manifestation« von ADHS-typischen Verhaltensmustern führen bzw. ob dies hinreichend sicher auszuschließen ist. Typische Beispiele für derart »reaktive Muster« sind Irritationen im kindlichen Umfeld, die etwa mit familialen und/oder schulischen Belastungen (Trennungskonflikte, »Bullying«) einhergehen. Weiter müssen sämtliche komorbiden Auffälligkeiten im Hinblick auf funktionale Zusammenhänge im Kontext der zunächst beklagten Schwierigkeiten des Kindes geprüft werden. Insbesondere ist anamnestisch auch zu klären, ob sich ggf. frühkindlich unsichere Bindungen bzw. reaktive Bindungsstörungen entwickelt haben. Verbindliche diagnostische Leitlinien, wie sie von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie vorgelegt wurden (2003), fordern folgende Maßnahmen als diagnostischen »Mindeststandard«: 4 die Exploration der Eltern und des Kindes zum Verhalten und zum Störungsbild, 4 die Ermittlung der störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte und eventueller Begleitstörungen, 4 die Einholung von Informationen aus der Schule (etwa über belastende Bedingungen, Erklärungen der Lehrer), 4 eine zumindest orientierende Intelligenzdiagnostik und 4 die Untersuchung der schulischen Leistungsfähigkeit, wenn es Hinweise auf Leistungsprobleme (etwa schlechte Noten, Klassenwiederholung) gibt. Um hinreichend individuelle therapeutische Interventionen ableiten und vorbereiten zu können, empfiehlt es sich ferner, das Alltagsverhalten der Kinder und ihre Interaktionen mit den Bezugspersonen (Eltern, Lehrern) insbesondere in kritischen Situationen (etwa in der Schule, bei den Hausaufgaben) zu beobachten und charakteristische Problembereiche zu bestimmen. Die Diagnostik orientiert sich an den Forschungskriterien des ICD-10 und an den Standards der »American Academy of Child and Adolescent Psychiatry« (1997). Dabei werden folgende diagnostische Schritte eingehalten: Orientierende Verhaltensanalyse mit Eltern und/oder Lehrern. Hier wird geklärt, ob die Kriterien einer hyperki-
netischen Störung erfüllt sind (Vorliegen spezifischer Verhaltensmerkmale, Dauer und Beginn der Störung, Schwere der Beeinträchtigung, Entwicklungsstatus des Kindes). Zugleich werden Hypothesen über individuelle Störungs-
26
416
26
Kapitel 26 · Aufmerksamkeitsstörung
schwerpunkte erarbeitet. Dabei wurden vor allem folgende Fragen geklärt: Wie äußert sich das problematische Verhalten (ausführliche Beschreibung des aufmerksamkeitsgestörten Verhaltens)? Sind die Kriterien des ICD-10 erfüllt (Vorliegen der differenzialdiagnostisch relevanten Verhaltensmerkmale von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität)? Unter welchen Umständen tritt dieses Verhalten aktuell auf? Geht die Manifestation der Störung mit anderweitigen Änderungen im Umfeld des Kindes einher (reaktive Verursachung)? Welche Folgen hat das aufmerksamkeitsgestörte Verhalten für das Kind/für die Bezugspersonen? Gibt es Bereiche unproblematischen Verhaltens? Welche Vorlieben und Stärken hat das Kind? Um das Vorliegen weiterer (komorbider) Störungen abzuklären, empfiehlt sich die Durchführung eines klinischen Interviews (etwa das »Diagnostische Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter« (Kinder-DIPS) von Schneider et al. 2009). Zusammenfassende Verhaltensbeurteilung durch Eltern und Lehrer. Aus Gründen der Ökonomie ist es angebracht,
Eltern und (Klassen-)Lehrer im Anschluss an das verhaltensanalytische Interview, das Verhalten des Kindes zusammenfassend beurteilen zu lassen. Hierzu eignen sich spezifische Symptomskalen (etwa nach DSM-IV: Lauth u. Schlottke 2002; nach ICD-10: Döpfner u. Lehmkuhl 2000). Diese Skalen erfassen, inwieweit die »typischen« Verhaltensmerkmale der hyperkinetischen Störung nach Einschätzung der Bezugspersonen erfüllt sind. Verhaltensbeobachtungen. Diese sollen die verhaltens-
analytischen Berichte von Eltern und Lehrern ergänzen und das Ausmaß der Funktions- und Handlungsbeeinträchtigung »vor Ort« erheben. Hierzu gehören die Beobachtung des Kindes im Unterricht sowie die Beobachtung familiärer Standardsituationen (etwa Hausaufgaben machen, Essen in der Familie). Für die Unterrichtsbeobachtung empfiehlt sich das Münchner Aufmerksamkeitsinventar (MAI; Helmke u. Renkl 1992), das aktiv-störendes und passiv-unauf-
merksames sowie angemessenes Unterrichtsverhalten mittels Zeitstichproben erfasst. Psychometrische Untersuchung. Hier werden der Entwicklungsstatus des Kindes und seine funktionelle Leistungsfähigkeit ermittelt. Diese umfasst auch die Durchführung eines altersentsprechenden Intelligenztests sowie die Untersuchung der Aufmerksamkeitsleistung (z. B. »Continuous Performance Test«, CPT; Knye et al. 1996; »Dortmunder Aufmerksamkeitstest«; Lauth 1996; 7 Kap. III/9). Kognitiv-funktionale Defizite. Hierzu liegen aus der orientierenden Verhaltensanalyse in aller Regel Hinweise dafür vor, ob und gegebenenfalls welche funktionalen Defizite bei einem Kind anzutreffen sind (z. B. mangelnde visuelle Diskriminationsfähigkeit, mangelnde Informationsverarbeitung, mangelnde Verhaltenssteuerung, unzureichende Planungsfertigkeiten) und in welchen Bereichen mit Ressourcen gerechnet werden kann (Verhaltensaufbau, Förderansätze). Diesen Hinweisen wird anhand von Arbeitsproben und neuropsychologischen Testverfahren nachgegangen (etwa Bearbeitung von Suchbildern, Analyse von Bildvorlagen, Bearbeitung von Zuordnungsaufgaben, Umsetzung von Instruktionen, Bilderordnen, Reihenbildung, Denkaufgaben). Wissens- und Kenntnisdefizite. In diesem Zusammenhang sind auch schulische Wissens- und Kenntnisdefizite zu klären, die teils im Gespräch mit dem zuständigen Klassenlehrer erörtert; teils aber auch psychometrisch mit orientierenden Schulleistungstests (etwa »Allgemeine Schulleistungstests für 3. Klassen«, AST 3) untersucht werden. Trotz dieser Diagnostikstandards mit einer hohen Verbindlichkeit in der klinischen Anwendung und vielfältiger Forschungsaktivitäten mit dem Ziel, angemessene und differenzialdiagnostisch belastbare Verfahren bei der Abklärung von ADHS zu entwickeln, ist es bislang nicht zureichend gelungen, einige zentrale Probleme dieser Diagnostik zu klären bzw. Vorbehalte auszuräumen.
ADHS: eine anforderungsreiche Diagnose – eine aufwendige Diagnostik 4 Variablen bzw. Marker (kognitiv, psychophysiologisch, neurologisch) für eine hinreichend spezifische und sensitive ADHS-Diagnose waren bislang nicht zu sichern. 4 Die einzige, international verbindliche Definition von ADHS ist durch die Kriterien im DSM-IV-TR bzw. in der ICD-10 vorgegeben. Hier werden mehrere, unterschiedliche Symptome benannt, die auf der kognitiven, motorischen und emotional-motivationalen Ebene einzuordnen sind. Diese Vielfalt führt zu Über6
schneidungen mit anderen Symptomen; dadurch werden an die Differenzialdiagnose besondere Anforderungen gestellt. 4 Die beobachtbare Symptomatik variiert in Auftrittshäufigkeit und Intensität in Abhängigkeit von verschiedenen Randbedingungen der Untersuchungssituation bzw. der Anforderung an das Kind. 4 Ist die Aufgabe bzw. die Situation für das Kind spannend, bietet sie eine interessante Abwechslung und/ oder widmet sich der Diagnostiker bei gut strukturier-
417 26.5 · Therapeutisches Vorgehen
ter Untersuchungssituation dem Kind weitgehend uneingeschränkt, so zeigt sich die Symptomatik ggf. überhaupt nicht. 4 Ein weiteres differenzialdiagnostisches Problem kann sich daraus ergeben, dass Eltern/Lehrer gelernt haben, mit den Schwierigkeiten des Kindes so konstruktiv umzugehen, dass sie bei entsprechenden Erhebungen zur Symptomatik keine bzw. nur gering ausgeprägte Probleme in den für die ADHS-Diagnose relevanten Bereichen angeben und auch von keiner klinisch relevanten Problembelastung berichten (z. B. im SDQ). Ein nach DSM-IV-TR für die Diagnosestellung notwendiges Kriterium, wonach wenigstens zwei Le-
> Fazit Die daraus resultierenden Desiderate für eine gute Diagnostik in Forschung und Praxis sind mit Carey (2002) und Barkley (2003) im Hinblick auf eine notwendige Überarbeitung der DSM-Kriterien so zusammenzufassen (Strehl et al. 2008): 4 Die Kriterien sollen so gefasst werden, dass die Operationalisierung keine unkontrollierten Interpretationsspielräume aufweist bzw. dass Formulierungen verwendet werden, die eine Auslegung entbehrlich machen. 4 Es sollten geschlechtsspezifische Normen erarbeitet und/oder sichergestellt werden, dass die Geschlechter bei Normierungsstudien gleich verteilt sind. Angesichts der Tatsache, dass die für die Sensitivität erforderliche Zahl der zu erfüllenden Kriterien im Lauf des Lebens sinkt, regen Faraone et al. (2000) an, die Cut-off-Kriterien grundsätzlich durch Normen zu ersetzen. 4 Da die Beurteilungen aus verschiedenen Lebensbereichen oft nur wenig übereinstimmen, sollten die Kriterien additiv erfasst werden. 4 Altersnormen sollten erarbeitet werden, da ADHS dynamisch verläuft. 4 Eine Überprüfung der Altersbindung und der Mindestdauer für das Vorliegen der Symptome sollte vorgenommen werden.
Im Hinblick auf die angestrebte Entwicklung von Untersuchungsverfahren, die hinreichend geeignet sind, nicht nur zwischen ADHS-Kindern und gesunden Kindern zu unterscheiden, sondern auch hinsichtlich anderer Störungen spezifisch genug sind, müssen die zentralen Defizite der ADHS geklärt sein bzw. es muss darüber Konsens bestehen. Hier ist auch die Problematik zu subsumieren, ob die im DSM-IV-TR ausgewiesenen Subtypen tatsächlich Varianten ein und derselben Störung sind oder ob sich das dabei benannte unterschiedliche Verhalten pathophysiologisch
bensbereiche klinisch beeinträchtigt sein müssen, wäre danach nicht erfüllt. Das Risiko für eine »falsch negative« Diagnose ist erhöht. 4 Unterschiedliche ätiologische Konzepte sowie die Uneinigkeit über die zentralen Defizite bei dieser Störung machen es bei der klassifikatorischen wie bei der Therapie zuweisenden Diagnostik äußerst schwer, entscheidungsrelevante Merkmale zu benennen bzw. sie als diagnostisch hinreichend bedeutsam zu bewerten. Hinzu kommen die Probleme der Spezifität für eine ADHS-Diagnose im Vergleich zu anderen klinischen Gruppen und die der Sensitivität verfügbarer Messinstrumente.
(funktional) und ggf. auch ätiologisch anders (verschieden) einordnen lässt. Erste Hinweise hierzu liefern Studien, die nach Genotypen der Neurotransmitterrezeptoren suchen, die mit den Subtypen assoziiert sind. So konnten El-Faddagh et al. (2003) zeigen, dass eine Häufung des Dopaminrezeptor-D4-7-Repeat-Allels bei der einfachen Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung signifikant häufiger vorliegt als bei Kindern mit hyperkinetischer Störung des Sozialverhaltens (Strehl et al. 2008).
26.5
Therapeutisches Vorgehen
Bei der Behandlung der ADHS wird ein multimodales Therapiekonzept zugrunde gelegt, das auf mehrere »Therapiebausteine« zurückgreift und diese nach Notwendigkeit des Einzelfalles aufeinander abstimmt. Diese Konzeption auf verhaltenstherapeutischer Grundlage wird hier kindzentriert in Form eines kognitivbehavioralen Zugangs sowie anhand eines zusammenfassenden Überblicks zum Neurofeedback-Training vorgestellt, ergänzt durch psychoedukative Maßnahmen, ein Elterntraining und begleitet von der Kooperation mit Schule und Lehrern.
26.5.1 Kognitiv-behaviorales Therapiekonzept
Nach einer hinreichend verlässlichen klassifikatorischen Diagnostik mit der Einordnung der erkennbaren Auffälligkeiten als ADHS, ist es die spezifische Aufgabe modifikationsorientierter Diagnostik, eine begründete Therapiezuweisung vorzunehmen. Dazu muss der Therapeut die Störungsschwerpunkte bei dem aufmerksamkeitsgestörten Kind bestimmen. Das neurophysiologisch-behaviorale Modell von Lauth u. Schlottke (2002; 2009, in Vorbereitung) benennt hierfür Risikomerkmale, die prinzipiell zur Manifestation und Aufrechterhaltung der Störung beitragen können.
26
418
Kapitel 26 · Aufmerksamkeitsstörung
Danach werden Aufmerksamkeitsstörungen 4 auf mehrere Entstehungsfaktoren zurückgeführt (multifaktorielles Modell), 4 als Folge einer komplexen Entwicklung beschrieben (Prozessmodell), 4 auf verschiedenen Ebenen (neurobiologische und psychophysiologische Grundlagen funktionelle Bereiche, Verhaltensäußerungen mit Einschränkung von Verhaltensregulation und Verhaltensorganisation, Reaktionen der Umwelt, reaktive Verarbeitungen durch das Kind) erklärt (hierarchisches Modell). Diese Sichtweise hat den Vorteil, dass neurobiologische, psychophysiologische, neuropsychologische und verhaltensbezogene Befunde miteinander in Beziehung gesetzt werden (interaktives Modell).
Soziale wie neurobiologische/psychophysiologische Faktoren werden dabei nicht als kausal, sondern als Merkmale/Marker gesehen, die im Sinne eines Diathese-StressModells zur Aufmerksamkeitsstörung führen. Es wird angenommen, dass die neurobiologische/psychophysiologische Disposition einer Person zwar die Manifestation einer Aufmerksamkeitsstörung begünstigt, ohne sie jedoch zu »verursachen«. Vielmehr müssen weitere soziale Bedingungen und Lernerfahrungen des Kindes hinzutreten, damit sich eine Aufmerksamkeitsstörung ausbildet. Weder die neurobiologische/psychophysiologische noch die soziale Disposition alleine können für sich gesehen die Störungsmanifestation zureichend erklären. Es muss davon ausgegangen werden, dass beide Faktorengruppen individuell unterschiedlich gewichtet zusammenwirken (. Abb. 26.1).
26
. Abb. 26.1. Integratives Modell zur Manifestation und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeitsstörungen. (Mod. aus Lauth u. Schlottke 2002)
419 26.5 · Therapeutisches Vorgehen
Kompetenzvermittlung im Rahmen der kognitiven Verhaltensmodifikation Kognitiv-behavioral konzipierte Therapien zielen auf die direkte Vermittlung von Selbststeuerungsfertigkeiten und deren Voraussetzungen. Ein Beispiel dafür ist das Training von Lauth u. Schlottke (2002; 2009, in Vorbereitung) für 7bis 12-Jährige. Es besteht aus einem Trainingsbaustein (Basistraining), der primär die Entwicklung und Differenzierung von Grundfertigkeiten fördert (etwa genau hinhören, genau hinschauen, akustische Informationen entnehmen, Informationen verarbeiten) und die Selbststeuerung anregt (etwa Reaktionstendenzen unterbrechen, innehalten, überprüfen) sowie einem zweiten Trainingsbaustein (Strategietraining), der den Kindern Planungsfertigkeiten und Selbstanweisungen vermittelt. In diesem Training wird den Kindern je nach dominierendem Störungsschwerpunkt einer der beiden Behandlungsbausteine zugeordnet: Das Training stellt Hilfen be-
Um ein individuell adäquates Behandlungsprogramm konzipieren und durchführen zu können, sind sowohl die psychophysiologischen Grundlagen, Faktoren der Verhaltensregulation und -organisation sowie die soziale Umwelt des Kindes zu berücksichtigen. Im Einzelnen ergeben sich die folgenden Therapieziele, die in dem daran ausgerichteten Behandlungskonzept jeweils Inhalt spezifischer Therapiebausteine sind (Basistraining, Strategietraining, begleitende Elternarbeit, Zusammenarbeit mit der Schule): 4 Verbesserung in der Verfügbarkeit und Anwendung von Operatoren: genau hinschauen, genau zuhören (visuelle Diskriminationsfähigkeit, systematisches Mustern von Reizvorlagen; akustische Informationen aufnehmen, verarbeiten, umsetzen und wiedergeben, z. B. nacherzählen); 4 Verbesserung der Verhaltensregulation eines Kindes, um ungeeignete und ineffiziente Reaktionen zu blockieren und zu verändern (Reaktionsverzögerung), Handlungen mit intensivierter Aufmerksamkeit zielbezogen zu steuern/zu regulieren und zielorientiert umzusetzen; 4 Verbesserung handlungsorganisatorischer Möglichkeiten im Bereich von Strategieerwerb und bei der Nutzung metakognitiver Prozesse mit der Kompetenz systematisch vorzugehen: erkannte Lösungswege konsequent einhalten, sich dabei vorausschauend verhalten und das eigene Handeln kognitiv zu begleiten und prozessbezogen zu überprüfen;
reit, die die Fähigkeit zur Selbststeuerung und zum geplanten Vorgehen fördern. Konzeptionell werden folgende Merkmale beachtet: 4 Die Anforderungen steigen im Verlaufe des Trainings, so dass zunehmend komplexere und alltagsnähere Aufgaben vorgegeben werden. 4 Die Kinder durchlaufen das Training nach Maßgabe ihrer Fortschritte; neue Anforderungen werden also nur dann eingeführt, wenn die zugrundeliegenden Fertigkeiten bereits beherrscht werden. 4 Um das Verhalten der Kinder unter soziale Kontrolle zu bekommen, wird ein Token-System eingeführt. 4 Die Selbststeuerungs- und Planungsfertigkeiten werden systematisch auf das Alltagsverhalten der Kinder übertragen. 4 Eltern und Lehrer werden in das Training miteinbezogen.
4 Verbesserung von verhaltensorganisierenden Wissensanteilen, die die eingeschränkte Entwicklung von Begriffs- und Regelsystemen korrigieren bzw. ihr präventiv begegnen; 4 Zusammenarbeit mit Eltern und Lehrern, um negativen Umweltreaktionen (in der Bewertung kognitiver Leistungen wie sozialen Verhaltens) vorzubeugen und geeignetere Umgangsformen mit der Beeinträchtigung zu fördern; 4 ggf. in Kombination mit den vorgenannten Maßnahmen bzw. zu deren Unterstützung: die Einwirkung auf spezifische neurophysiologische Merkmale der Aufmerksamkeitsstörung mit ausgewählten und individuell abgestimmten Medikamenten (Psychopharmaka wie Ritalin, Medikinet, Atomoxetin) oder Neurofeedback, um insbesondere die defizitäre zentralnervöse Aktivierungsregulation zu beeinflussen (zu Einzelheiten einer empirisch abgesicherten Applikation der verschiedenen Medikamente s. Lauth et al. 2007). Die beim einzelnen Kind gegebene Akzentuierung der Beeinträchtigung ermöglicht es so, anhand des »integrativen Modells zur Manifestation und Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeitsstörung« ein Therapiekonzept mit hierarchisch wie komplementär angeordneten »Therapiebausteinen« zu erstellen.
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Kapitel 26 · Aufmerksamkeitsstörung
Exemplarisch wird hier ein Ausschnitt aus dem Basistraining vorgestellt. Trainingseinheiten (TE).
Einführung der Stoppsignalkarte: Innehalten und überprüfen; begleitende Prüfprozesse anbahnen
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gebnis gefunden haben, überprüfen sie dies nochmals, bevor sie ihre Lösung bekannt geben. Das selbst angeleitete kontrollierte Vorgehen wird durch die Stoppsignalkarte unterstützt.
Ziel. Erlernen der Reaktionsverzögerung mithilfe der Stoppsignalkarte. Die Kinder lernen, ihre Lösung bei Aufgabenbearbeitung erst verzögert bekannt zu geben. Damit soll ein überlegtes Vorgehen – ggf. mit Überprüfen des (spontan) gefundenen Ergebnisses – erlernt werden. Die angemessene Verwendung der Stoppsignalkarte wird operant verstärkt. Im spielerischen Ausklang zu dieser TE wird der Sinn dieser Reaktionsverzögerung anschaulich gemacht (z. B. im weiteren Trainingsverlauf beim Spiel »Halli Galli«).
Verstärkerkontingenzen. Für die richtige Benutzung der Stoppsignalkarte (Bekanntgabe der Lösung nach ca. 8 Sekunden) erhält das Kind eine Klammer (Tauschverstärker). Die Verstärker werden zunächst ausschließlich für die Reaktionsverzögerung gegeben, unabhängig davon, ob das mitgeteilte Ergebnis richtig ist. Zu Verstärkerentzug kommt es, wenn das Kind vor Ablauf der 8 Sekunden mit seiner Lösung »herausplatzt«, ebenso bei Störverhalten. Die Regeln für Verstärkervergabe und -entzug werden vorab in einem »Vertrag« zwischen Kind und Therapeut festgelegt.
Material. Stoppsignalkarte, Tauschverstärker, Kodier-/Rechenaufgaben.
Procedere. Die Vermittlung der Reaktionsverzögerung erfolgt zunächst über die Modellierung des erwünschten Verhaltens durch den Therapeuten, bevor dann im weiteren Trainingslauf ein zunehmend eigenständiges Innehalten (Reaktionsverzögerung), Überprüfen der gefundenen Lösung (Stopp-überprüfen!) sowie begleitende Prüfprozesse angebahnt und gefestigt werden. Die Verstärkervergabe wird den erweiterten Zielen angepasst.
Anforderung. Die Bearbeitung der ausgewählten Aufgabe verlangt ein zweistufiges Vorgehen: die Kinder ordnen Kodierungen auf einem Aufgabenblatt und bearbeiten einfache Rechenaufgaben. Die Mitteilung des Ergebnisses verzögern die Kinder etwa 8 Sekunden. Wenn sie ein Er-
Zur weiteren Illustration der Umsetzung dieses Behandlungskonzepts verweisen wir auf die DVD-ROM Therapiebausteine – Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern (Lauth u. Schlottke 2007a). Psychoedukative Maßnahmen richten sich vorrangig an das Kind, die Eltern, die Lehrer und Geschwister. Sie bestehen im einfachsten Fall in einer angemessenen Aufklärung aller Beteiligten über das Störungsbild, die »typischen Verhaltensschwierigkeiten« aufmerksamkeitsgestörter Kinder und die Erarbeitung eines angemessenen Erklärungsmodells für die Störung selbst. Dazu empfehlen sich folgende Maßnahmen: 4 Aufklärung über das Störungsbild. Die Beteiligten sollen über die Hauptmerkmale der Aufmerksamkeitsstörung (Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Hyperaktivität) informiert werden und die dazugehörigen Verhaltensweisen kennen. Der Therapeut kann hier das Ergebnis der Verhaltensanalyse zugrunde legen. Darüber hinaus ist es wichtig, die geringe Frustrationstoleranz, die mangelnde Ausdauer des Kindes und seine unbedacht-risikoreichen Verhaltensmuster als Teil seiner Störung zu klären bzw. herauszuarbeiten. Denn allzu oft herrscht bei Erziehern und Lehrern die Meinung vor, »Absicht« oder »böser Wille« stehe hinter dem Verhalten des Kindes. 4 Erarbeitung eines Erklärungsmodells. Hier wird das erläuterte Bedingungsmodell möglichst anschaulich vermittelt. Das ist kein ganz leichtes Unterfangen, weil in den Köpfen von Eltern und Lehrern auch ganz an-
dere Vorstellungen über die Ursachen bestehen (etwa: die Aufmerksamkeitsstörung ist ein Ausdruck gestörter Familiensysteme; die Störung ist Ausdruck und Folge einer Nahrungsallergie; die Störung ist Ausdruck fortdauernder Reizüberflutung). Der Therapeut kann dabei auf ein Vermittlungskonzept aus Lauth et al. (2007) zurückgreifen, das diese Zusammenhänge veranschaulicht. Elterntraining. Auf der Grundlage eines angemessenen Verständnisses der Aufmerksamkeitsstörung werden die Eltern angeleitet, ihr Kind angemessen zu steuern. Solche Anleitungen wurden u. a. von Döpfner et al. (2002) vorgelegt (7 Kap. III/27). Im Allgemeinen sehen diese Trainingsbausteine vor, dass die Eltern aufmerksames, zugewandtes und sozial konformes Verhalten einerseits gezielt verstärken und andererseits dieses Verhalten durch eine überlegte Situationsgestaltung (etwa für Erledigen von Hausaufgaben, Zubettgehen, Mittagessen, Verwandtenbesuche, Anziehen am Morgen) gut vorbereiten. Es gilt, die Erziehungskompetenzen im Umgang mit diesem Kind insgesamt zu verbessern. Zusammenarbeit mit der Schule/dem Klassenlehrer. Hier
stellen sich zwei Aufgaben: 4 den Lehrer im Umgang mit dem aufmerksamkeitsgestörten Kind beraten und gegebenenfalls anleiten, 4 an einer geeigneten Beschulung des Kindes mitwirken.
421 26.5 · Therapeutisches Vorgehen
Beide Aufgaben sind für die Generalisierung und Stabilisierung des Behandlungserfolges unverzichtbar, allerdings nicht immer leicht. Die Beratung des Lehrers kann sich unmittelbar am beschriebenen Elterntraining orientieren, wobei folgende Anleitungen besonders wichtig sind: ! Verhaltensziele genau festlegen, das Kind differenziell verstärken, dem Kind Zwischenziele setzen, das Kind in »Reichweite« des Lehrers setzen, schwierige Situationen erkennen und früh reagieren bzw. präventiv vermeiden, das Kind neben ein Kind setzen, das ein günstiges Modell sein kann.
Wiewohl Therapeuten oft nur wenig Einfluss auf die geeignete Beschulung des Kindes haben, sollten sie an einer Beratung dazu mitwirken. Die geeignete Beschulung besteht kaum im Besuch einer »Sonderschule«, sondern darin, dass eine Regelschule gefunden wird, die Lernschwierigkeiten des Kindes aktiv aufgreift (Förderunterricht) und gewillt ist, auf seine Schwierigkeiten einzugehen.
26.5.2 Neurofeedback
Die Konzeption eines Neurofeedback-Trainings beruht auf neurophysiologischen Befunden, wonach in Gruppenstudien bei Patienten mit ADHS im Vergleich zu Gesunden in der Spontanaktivität wie auch bei den ereigniskorrelierten Potenzialen des EEG Abweichungen beobachtet werden. Barry et al. (2003) weisen in ihrer Überblicksarbeit darauf hin, dass bei ADHS-Patienten mehr absolute und relative Theta-Anteile und weniger Anteile in den schnelleren Frequenzbändern Alpha und Beta zu beobachten sind. Dies gilt für Ruhebedingungen ebenso wie bei kognitiver Aktivität. Allerdings gelten diese neurophysiologischen Auffälligkeiten nach den Befunden der Forschergruppen um Barry u. Clarke (Clarke et al. 2001; Clarke et al. 2002; Barry et al. 2003) nicht uneingeschränkt für sämtliche Ausprägungen der ADHS. Mit einer derart angelegten Differenzierung eher nach basalen Dysfunktionen und nicht nach dem beobachtbaren Verhalten wird der einleitend bereits angesprochene Gedanke einer funktional konzipierten Unterscheidung von Subtypen gestützt. Die hier ausgewiesene Subtypendifferenzierung gruppiert Kinder mit »hirnelektrischer Reifungsverzögerung« (allgemein mehr langsame und weniger schnelle Aktivität), Kinder mit »kortikalem Hypoarousal« (höhere Gesamtleistung, erhöhte Theta-Aktivität, ein größerer Theta/BetaQuotient) sowie mit Hyperarousal (zu viel Beta, »beta-excess«). Nach der herkömmlichen DSM-IV-Diagnose waren in den ersten beiden Gruppen sowohl Kinder des Mischtyps als auch nur unaufmerksame Kinder zu beobachten; die hohen Beta-Anteile wurden nur bei hyperaktiven Kindern gefunden.
Trainingsprotokolle zum Neurofeedback sind im Wesentlichen danach zu unterscheiden, ob sie eine Steuerung der Aktivität in bestimmten Frequenzbändern (meistens Theta und Beta) oder der langsamen Potenziale anstreben und ob das Feedback kontinuierlich oder diskontinuierlich gegeben wird.
Feedback der langsamen Potenziale Diese Methode wurde bei ADHS erst in den letzten Jahren entwickelt (Heinrich et al. 2004; Strehl et al. 2006; Gevensleben et al. 2009, im Druck). Das Feedback ist dabei diskontinuierlich ausgelegt, weil hier in zufälliger Abfolge Potenzialschwankungen (elektrische Negativierung = Herabsetzung der Erregbarkeitsschwelle; elektrische Positivierung = Hemmung der Erregbarkeit) trainiert werden. Im Vergleich zu einem kontinuierlichen Training der Frequenzen, bei dem eher eine tonische Veränderung angestrebt wird, stehen hier phasische Veränderungen des EEG im Vordergrund (Rockstroh et al. 1990). Bei beiden Trainingskonzepten wird baldmöglichst eine Transferbedingung eingeführt. Dies begründet sich im Wesentlichen daraus, dass die Kinder von Anfang an lernen sollen, die im Frequenztraining wie beim Training der langsamen Potenziale relevanten, einer verbesserten Selbstregulationsfähigkeit zugrunde liegenden Parameter auch ohne Feedback zu verändern und sie so leichter auf Alltagsbedingungen übertragen zu können. In dem von der Tübinger Forschergruppe entwickelten und erprobten Training (Strehl et al. 2006; Leins et al. 2007) lernen die Kinder nicht nur, ihre Aktivierung zu kontrollieren, sondern auch deaktivierte Zustände wahrzunehmen und zu kontrollieren. Hier liegt die noch zu objektivierende Annahme zugrunde, dass die Kinder so bei sich für Zustände der Untererregung sensibilisiert werden.
. Abb. 26.2. Der Neurofeedback-Kreislauf. (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Eldith)
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Kapitel 26 · Aufmerksamkeitsstörung
Exkurs
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Neurofeedback Neurofeedback ist eine Anwendung des Biofeedbacks, das den Erwerb der Fähigkeit zur gezielten Kontrolle physiologischer Parameter ermöglichen soll. Eine unmittelbare akustische oder visuelle Rückmeldung des zu verändernden Parameters (z. B. Blutdruck, Muskelspannung, Hautleitwert) ermöglicht seine Veränderung und Kontrolle. Neben der Selbstregulationsfähigkeit wird eine Verbesserung der Selbstwahrnehmung angestrebt und in der Regel bei Erfolg auch eine bessere Selbstwirksamkeitsüberzeugung erreicht. Beim Neurofeedback werden neuronale Parameter – in der Regel aus dem EEG – zurückgemeldet. Elektroden erfassen die ausgewählten Signale, die über einen Verstärker an den Computer gesendet werden. Dieser gleicht die Werte mit dem vorgegebenen Sollwert ab und meldet sie dem Patienten zurück (. Abb. 26.2). Eine Sitzung besteht in der Regel aus einer Vielzahl von Durchgängen. Das Kind hat die Aufgabe, das auf dem Bildschirm erkennbare Objekt in die vorgegebene Richtung (nach oben = aktivieren; nach unten = deaktivieren, hemmen) zu »bewegen«. Eine Veränderung in die gewünschte Richtung wirkt positiv verstärkend, zusätzlich werden nach erfolgreichen Durchgängen Token, z. B. in Form eines Smileys, gegeben, die dann später gegen kleine Belohnungen eingetauscht werden
Therapie komorbider Merkmale Hier stehen vor allem die Behandlung von Depressivität und Ängstlichkeit im Vordergrund sowie die Vermittlung angemessener sozialer Verhaltensweisen. Günstigerweise sollte die Therapie insgesamt so aufgebaut und so wirksam sein, dass diese Störungsbereiche bereits im Verlauf der bisherigen Therapie konstruktiv einbezogen werden (z. B. Abbau der Depressivität durch zunehmende Erfolge und neue Freundschaften). Sollte das so nicht gelingen, muss daran ergänzend und gezielt therapeutisch gearbeitet werden. Hierzu eignet sich einerseits die Vermittlung sozialer Kompetenzen in einem Gruppentraining (Inhalte: Kritik anbringen, Wünsche äußern, Hänseleien zurückweisen, Kompromisse aushandeln, Freundschaften eingehen), in schwerwiegenderen Fällen werden eine spezifische Depressionsbehandlung eingeleitet und/oder auch Antidepressiva verschrieben (etwa trizyklische Antidepressiva bei Jugendlichen). Eine komorbide Beeinträchtigung besteht in schulischen Teilleistungsschwierigkeiten (etwa Lese-Rechtschreib-Schwäche), die ggf. teilweise noch bei Abschluss der ADHS-Behandlung fortbestehen. Hier sind dann ebenfalls weitere gezielte Trainingsmaßnahmen einzuleiten.
können. Das Training umfasst etwa 30 Sitzungen. Es findet üblicherweise in Blöcken statt, zu Beginn sollten nach Möglichkeit mindestens drei Sitzungen pro Woche vorgesehen werden. Zwischen den Blöcken liegen Pausen von etwa vier bis sechs Wochen. Eine Übertragung der im Labor erworbenen Fertigkeit wird zum einen dadurch angestrebt, dass bei einer Reihe von Durchgängen kein kontinuierliches Feedback gegeben wird. Hier wird nur die Aufgabe gezeigt (aktivieren oder deaktivieren) und erst nach dem Durchgang die Information gegeben, ob der Patient erfolgreich war. Neben diesen sog. Transferdurchgängen im Labor werden für die Trainingspausen Situationen ausgewählt, in denen im Alltag eine »Aktivierung« geübt werden soll. Gegen Ende des Trainings arbeiten die Kinder nach den Feedback-Sitzungen in Anwesenheit des Therapeuten an ihren Hausaufgaben. Ein Bild des erfolgreichen Feedback-Durchgangs dient als Hinweisreiz für die Aktivierung. Der Therapeut hält das Kind dazu an, sich vor und während der Aufgaben immer wieder so zu aktivieren, wie es dies in der Trainingssitzung erfolgreich getan hat. Detaillierte Informationen zum Trainingsablauf finden sich in Strehl et al. (2006).
26.6
Fallbeispiel mit einer kognitivbehavioralen Intervention
T., männlich, 8;3 Jahre alt Angaben zur spontan berichteten Symptomatik. Anlass
der Vorstellung des Patienten war die Abklärung einer möglicherweise vorliegenden Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität. Zusätzliche Schwierigkeiten im sozialen und emotionalen Bereich sollten bei der Diagnosestellung berücksichtigt werden. Die Eltern sowie die Lehrerin geben an, dass es dem Patienten schwer falle, über einen längeren Zeitraum »bei der Sache« zu bleiben. Er schweife z. B. bei den Hausaufgaben ab, spiele mit den Materialien auf dem Tisch und schaue sich im Zimmer um. Wenn T. sein Zimmer aufräumen soll, könne er, nachdem er einmal angefangen habe, nur schwer dabeibleiben und diese Aufgabe abschließen. Für T. sei es auch schwierig, alltägliche Pflichten zu Ende zu bringen. Diese Schwierigkeiten machten sich auch bei einfachen Tätigkeiten bemerkbar: So könne es beim Wegräumen seines Frühstücksgeschirrs vorkommen, dass T. die Tasse ins Bad trage, den Teller unterwegs stehen und das Besteck auf dem Tisch liegen lasse. Darüber hinaus sei T. bei anderen Alltagstätigkeiten häufig vergesslich und verliere Gegenstände wie Kleidung oder
423 26.6 · Fallbeispiel mit einer kognitiv-behavioralen Intervention
Arbeitsmaterial. Die Mutter müsse ihn immer wieder daran erinnern, seine Mäuse zu füttern, seine Mahlzeit für die Pause einzupacken oder seine Turnsachen mitzunehmen. Auch wenn sie ihn daran erinnere, könne es passieren, dass er die Sachen dann trotzdem vergesse. Häufig käme er aus der Schule und es fehlten Dinge wie Bücher, Kleidung oder der Regenschirm. Schon mehrmals habe T. nach dem Sportunterricht nur einen Turnschuh nach Hause gebracht. In der Schule falle T. dadurch auf, dass er während des Unterrichts viel mit seinen Mitschülern rede und bei schriftlichen Aufgaben Flüchtigkeitsfehler mache. Ein weiterer Bereich, in dem es zu Schwierigkeiten komme, sei die Interaktion mit Gleichaltrigen. T. sei ein sehr hilfsbereiter und gerechter Junge, er zeige aber eine Ungeschicklichkeit bei der Kontaktaufnahme mit anderen Kindern, was dazu führe, dass er keinen festen Freund habe. Die Kontaktaufnahme bestehe meist aus einem körperlichen Angriff (Schubs oder Rempelei), er sei über sein Verhalten dann selbst überrascht. T. gibt bei Satzergänzungen an, dass er sich einen Freund wünsche, dass er meist alleine sei, und dass dies seine größte Sorge sei. Die Mutter berichtet zudem von einem geringen Selbstvertrauen. T. scheine oft unglücklich und äußere manchmal Ängste und Sorgen, zeige sich in fremden Situationen unsicher und reagiere häufig mit Tränen. Lebensgeschichtliche Entwicklung des Patienten. T. lebe mit seiner Schwester (3 Jahre) bei seiner Mutter. Die Mutter sei seit Herbst 2001 alleinerziehend, die Scheidung der Eltern sei im März 2002 erfolgt. Der Vater lebe in Berlin und verbringe meist alle zwei Wochen ein Wochenende mit seinen Kindern, mit Telefonaten ergebe sich ein wöchentlicher Kontakt. T. vermisse seinen Vater und habe zu Beginn ganz besonders unter der Trennung gelitten. Auch heute noch wünsche er sich, dass sein Vater wieder zurückkomme. Seit zwei Jahren lebe L. in der Familie, ein ehemaliges Au-pairMädchen, das nun in S. studiere und die Mutter im Alltag unterstütze, da sie beruflich sehr eingespannt sei. L. verbringe viel Zeit mit den Kindern und erledige mit ihnen oft auch Hausaufgaben. Die Mutter habe seit ca. acht Monaten einen neuen Partner, der von den Kindern zwar akzeptiert, aber auch immer wieder Grund für Spannungen sei. Im Baby- und Kleinkindalter sei die Mutter gut mit T. zurechtgekommen, sie schildert aber auch, dass T. in diesem Alter unaufmerksam, nachdenklich und unsicher gewirkt habe. Im Kindergarten habe er Schwierigkeiten gehabt, in der großen Gruppe mitzumachen und sich einzugliedern. Er sei rastlos gewesen und wäre »rumgetigert«, bis er einen Platz gefunden habe. Im Grundschulalter zeige er unkonzentriertes Verhalten, vergesse viel, sei nicht sehr selbstständig und gebe bei Schwierigkeiten schnell auf. In der Schule falle er häufig auf mit Faxen, lautem, störendem Verhalten und wegen seiner Unkonzentriertheit. Zudem habe T. keine festen Freunde und greife andere Kinder unvermittelt an oder ärgere sie. Die Lehrerin schildert, dass T. sich über an-
dere Kinder lustig mache und dabei versuche, Verbündete zu finden. Seine Schulleistungen lägen im durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen Bereich, wobei seine Ausdauer beim Arbeiten stark von Tagesform und Interesse an der Aufgabe abhänge. Im Mündlichen arbeite er gut mit, wenn es ihm möglich sei, sich zu konzentrieren. Testpsychologischer Befund. Die intellektuellen Fähigkeiten von T. wurden anhand des HAWIK-III untersucht. Er erreicht dabei einen Gesamt-IQ von 112. Im Handlungsteil ergab sich ein IQ-Wert von 101, im Verbalteil von 120. Zur Erfassung der Leistungen im Bereich Aufmerksamkeit wurde der differenzielle Leistungstest (DL-KG) vorgegeben. T. erreicht hier ein überdurchschnittliches Leistungsniveau, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Darüber hinaus liegt er in der Gleichmäßigkeit seiner Leistung im deutlich überdurchschnittlichen Bereich. Im Dortmunder Aufmerksamkeitstest zeigt er kein impulsives Verhalten und kann 8 Items richtig lösen. Bei der Auswertung der Selbst- und Fremdbeurteilungsfragebögen wird deutlich, dass T. sowohl zu Hause als auch in der Schule Schwierigkeiten hat, über längere Zeit aufmerksam zu sein und seine Materialen sowie auch Handlungsabläufe zu organisieren. In beiden Lebensbereichen zeigt er eine auffallende Vergesslichkeit, was auch dazu führt, dass er viele Dinge verliert. Die Angaben der Mutter und der Lehrerin unterscheiden sich bezüglich seines ängstlich, sorgenvollen Verhaltens und seines geringeren Selbstvertrauens, was nur die Mutter angibt; ein störendes und aufmüpfiges Verhalten scheint schultypisch. Übereinstimmend werden Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen angegeben. T. berichtet selbst, dass er häufig Dinge vergesse, besonders dann, wenn sie sich nicht mehr in seinem Blickfeld befänden. Er gibt an, dass er sich sorge, weil er oft alleine sei. Er müsse immer an etwas anderes denken, wenn er sich konzentrieren müsse. Seine Angaben machen deutlich, dass er unter der Trennung vom Vater leidet. Entgegen den Angaben von Mutter und Lehrerin kann sich T. während der diagnostischen Sitzungen gut konzentrieren und schweift nicht von den Aufgaben ab. Es ist zu vermuten, dass T. hier eine besondere Anstrengungsbereitschaft zeigt, da er diese Stunden, nach Angaben der Mutter, als etwas sehr Positives betrachtet. Zu beobachten sind einige Momente, in denen er, obwohl er sich im Kontakt insgesamt aufgeschlossen zeigt, unsicher, zurückgezogen und verletzlich ist. Es kommt vor, dass er nach der Stunde Dinge im Raum vergisst. Somatischer Befund. Konsiliarbericht: unauffällig. Verhaltensanalyse. Aufgrund der Schilderungen von Babyund Kleinkindalter ist als prädisponierender Faktor eine im Temperament begründete Unsicherheit anzunehmen. Weiter ist für die Problemmanifestation wesentlich, dass T. im
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424
26
Kapitel 26 · Aufmerksamkeitsstörung
Alter von fünf bis sechs Jahren die Trennung und Scheidung der Eltern erlebt hat, was für ihn insbesondere eine große räumliche Trennung vom Vater bedeutet. Die Mutter gibt an, dass sie in der Zeit selbst wegen depressiver Verstimmungen psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen musste und oft »innerlich nicht präsent« gewesen sei, was besonders T. aufgefallen sei. Sie ist als berufstätige, alleinerziehende Mutter sehr beansprucht, teilweise ungeduldig und gereizt. Der neue Partner der Mutter bedeutet eine Veränderung in der Familie, mit der T. derzeit nur schwer zurechtkommt. Da T. durch die Trennung/Scheidung der Eltern über längere Zeit nicht die notwendige Aufmerksamkeit bekommen hat, ist zu vermuten, dass er mit seinem Problemverhalten vermehrt Zuwendung/Aufmerksamkeit anstrebt. Auch wenn er bei den Hausaufgaben abschweift, kümmern sich entweder die Mutter oder L. um ihn. In Situationen, in denen T. aufgrund seiner Unkonzentriertheit Anweisungen der Mutter nicht nachkommt, ermahnt sie ihn. Er versucht die Anweisungen zu umgehen, indem er Ausreden benutzt. Erst wenn die Situation eskaliert, macht er das, was von ihm verlangt wird (dysfunktionale Interaktionen zwischen Mutter und Sohn). Wenn T. etwas in der Schule vergessen hat, dann schickt die Mutter ihn meist zurück, um das zu suchen und den Gegenstand wieder zu bringen. Er geht ohne Widerstand, oft kann er jedoch den Gegenstand nicht wiederfinden. Eine Konsequenz der Mutter erfolgt nicht. Oft ist sie es, die das Fehlen von Dingen bemerkt und nicht er selbst. Sie merkt, dass sie im Umgang mit T.s Verhalten inkonsistent und oft nicht konsequent genug handelt. Sein auffälliges Verhalten gegenüber Gleichaltrigen kompensiert fehlende Möglichkeiten, auf geeignete Weise Kontakt aufzunehmen. Durch Stören und Ärgern wird er von den Mitschülern beachtet und wirbt um Verbündete. Diagnose. Verdacht auf Aufmerksamkeitsstörung ohne
Hyperaktivität (ICD-10: F98.8) mit reaktiven Anteilen; Störung sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit, genauer: Defizite in der sozialen Kompetenz (ICD-10: F94.8); Familienzerrüttung durch Trennung und Scheidung (ICD10: Z63.5). Therapieziele. Es soll durch die Vermittlung geeigneter
Strategien für T. möglich werden, auch in ablenkenden oder langweiligen Situationen aufmerksam zu bleiben. Seine gute kognitive Ausstattung sollten ihm gute Schulleistungen ermöglichen, was durch seine Unkonzentriertheit nicht gefährdet werden soll. Bezüglich der alltäglichen Pflichten und Aufgaben sollen Routinen entwickelt werden, die es T. ermöglichen, planvoll vorzugehen. Damit kann auch vermieden werden, dass Dinge häufig vergessen werden. T. zeigt, neben übereinstimmenden Mustern im schulund/oder familientypischen Verhalten, auch Verhaltens-
weisen, die sich sehr unterscheiden. Verstärkende Bedingungen müssen hier identifiziert und die reaktiven Anteile differenziell aufgedeckt werden. Mit der Mutter sollen geeignete Erziehungsstrategien erarbeitet werden, die die dysfunktionalen Interaktionen unterbrechen. Sie soll darin unterstützt werden, konsequent auf Fehlverhalten zu reagieren, T. viel Aufmerksamkeit für angemessenes Verhalten zu schenken und mit ihm regelmäßig Zeit zu verbringen, die sein Zuwendungsbedürfnis in positiven Kontexten ausgleicht. T. muss lernen, sich zu Hause und in der Schule an geltende Regeln zu halten. Darüber hinaus sollen mit T. soziale Fertigkeiten trainiert werden, insbesondere bezüglich einer günstigen Kontaktaufnahme zu Gleichaltrigen. Durch einen sicheren Umgang mit sozialen Situationen kann T.s Selbstvertrauen gestärkt werden. T.s Ängste und Sorgen sind genauer zu explorieren. Prognose. T. wächst behütet auf. Trotz beruflicher Belastungen der Mutter besteht eine enge Bindung zwischen Mutter und Kind. Sie ist bemüht, die Kinder konsequent und liebevoll zu erziehen. Die Mutter kennt ihren Sohn sehr gut, kann ihn differenziert beschreiben und beobachtet Situationen detailliert. Auch das Verhältnis zu L. ist gut und für T. wichtig. T. selbst kann sich und seine Gefühle und Gedanken gut wahrnehmen. Seine sehr guten verbalen und guten kognitiven Fähigkeiten sind günstige Faktoren für die therapeutische Arbeit. T. hat in jungem Alter eine schwierige familiäre Situation erlebt, wodurch früh Routinen und sichere Bereiche gestört wurden. Die Erlebnisse in dieser Zeit, damit auch die Trennung vom Vater und die Trennungsschwierigkeiten der Mutter, haben ihn beeindruckt und machen ihm auch jetzt zu schaffen. Fehlende oder ungünstige Strategien im Bereich Aufmerksamkeit und soziale Kompetenz führen schon seit Jahren zu Misserfolgserlebnissen, was sich bereits auf T.s Selbstvertrauen negativ ausgewirkt hat. Im Alltag werden ungünstige Strategien verstärkt, was zu einer weiteren Verfestigung geführt hat. Behandlungsplan. Um die Therapieziele im Bereich Unaufmerksamkeit zu erreichen, sollen Teile des Aufmerksamkeitstrainings nach Lauth u. Schlottke (2002) durchgeführt werden. Speziell das Strategietraining ist hinreichend zielbezogen, da hier handlungsorganisierende Strategien, Selbstinstruktionen für die Umsetzung und Verhaltensregulation mit dem Kind trainiert werden. Eine enge Zusammenarbeit mit der Mutter wird angestrebt, um Alltagsroutinen zu entwickeln und umzusetzen. Verstärkerpläne sollen das Einhalten der Routinen unterstützen. Zudem sollen mit ihr günstige Erziehungsstrategien erarbeitet werden, die angemessenes Verhalten fördern und einen konsequenten Umgang mit Problemver-
425 26.8 · Ausblick
halten und Regelverstößen ermöglichen. Verstärker für unangemessenes Verhalten in Schule und Familie müssen wegfallen. Zudem sollte T.s Merkfähigkeit verbessert werden. Wichtig ist die Vermittlung sozial kompetenten Verhaltens. Besonders Übungen im Rollenspiel sind hier einzusetzen, so dass T. im sicheren Rahmen Dinge erproben und bewerten kann. Ggf. kann hier das Modell von Crick u. Dodge bzw. von Lemerise u. Arsenio als Strukturierungshilfe dienen. In die Übungen kann die »Ideenolympiade« (Kuhlmann u. Dürrwächter 1999) einbezogen werden. Im Therapieverlauf müssen T.s Erfahrungen mit der Scheidung der Eltern aufgegriffen werden. Seine Ängste und Sorgen sollten dosiert besprochen werden; es sind Maßnahmen zu erwägen und zu prüfen, die ihn emotional stärken und sicherer werden lassen.
26.7
Empirische Belege
26.7.1 Kognitiv-behaviorale Interventionen
Es gibt mittlerweile zahlreiche Metaanalysen zur Wirksamkeit psychologischer Therapien von ADHS (zusammenfassend bei: Lauth u. Schlottke 2009; Purdie et al. 2002). Diese Untersuchungen stimmen im Wesentlichen darin überein, dass kognitiv-behaviorale Behandlungsverfahren eine gute bis befriedigende Wirksamkeit besitzen. Allerdings wird dieser Befund auch insoweit kontrovers diskutiert, als Metaanalysen durchaus zeigen, dass die Kinder die neu erworbenen Verhaltensweisen nicht immer in erwünschtem Maße konsistent und hinreichend stabil auf den Alltag übertragen. Insoweit bedarf es hier einer gezielten Vorbereitung und Anbahnung des Transfers. Sofern unter Transferbedingungen die Programmvorgaben hinreichend strikt eingehalten werden, besteht auch eine gute Chance, dass die belegte »efficacy« der Studien, auch »effectiveness« erreicht (zu dieser Diskussion: Lauth u. Schlottke 2007b, Replik auf Dreisörner 2006). In der Würdigung einzelner Therapieverfahren schneiden vor allem operante Behandlungsverfahren gut ab, die unmittelbar auf das Problemverhalten der Kinder einwirken (Elterntraining, Verhaltensmodifikation in der Schule). Eine gute Wirksamkeit wird auch dem Training sozialer Fertigkeiten bescheinigt. Die Summe bisheriger Therapieerfahrungen mit verhaltenstherapeutisch angelegten Interventionskonzepten führt deshalb zu folgenden Empfehlungen: Die Behandlung sollte regelmäßig mehrere Therapiebausteine einbeziehen. Sie sollte als Langzeitbetreuung konzipiert werden und so erneute Kontaktaufnahmen und »Auffrischsitzungen« (»booster sessions«) nach einem ersten Interventionsabschnitt ausdrücklich vorsehen und verbindlich machen. Eltern und Lehrer sollten möglichst frühzeitig und konstruktiv in die Therapie einbezogen werden.
Die Ergebnisse der multimodal angelegten Behandlungsstudie des NIMH finden sich mit jeweils fortgeschriebenen Langzeitdaten unter »MTA Cooperative Group« mit Follow-up-Befunden seit 1999, zuletzt aus 2008 (Swanson et al 2008a; 2008b).
Neurofeedback In den Studien der Tübinger Gruppe (Leins et al. 2007) konnten für beide Trainingsbedingungen (Frequenztraining, Training von langsamen Potenzialen) eine Verbesserung in für die ADHS relevanten Verhaltensbereichen, im IQ und in der Aufmerksamkeit belegt werden. Auch hatten die Kinder beider Gruppen die Fähigkeit erworben, eine gezielte Aktivierung (kortikale Negativierung bzw. Verkleinerung des Theta-/Beta-Quotienten) herzustellen. In einem ersten Follow-up nach sechs Monaten waren diese Effekte stabil, teilweise verbesserten sich die Ergebnisse noch weiter. Eine zwischenzeitlich vorliegende 2-Jahres-Katamnese bestätigt diese anhaltende Veränderung (Gani et al. 2009, im Druck). Da sich für die Transferbedingung Unterschiede in der Stabilität der Effekte andeuten, wird in weiteren Analysen bzw. ergänzenden Studien zu klären sein, ob sich Hinweise für eine differenzielle Indikation der hier realisierten Trainingsmodalitäten ergeben.
26.8
Ausblick
Wenn die ADHS als eine Beeinträchtigung der Selbstregulation definiert wird und nicht vergleichsweise vordergründig bzw. »oberflächlich« als eine Minderung der Aufmerksamkeitsleistung, hat dies nicht nur signifikante Implikationen die Schwierigkeiten zu verstehen, mit denen es ADHS-Betroffene zu tun haben, sondern auch entscheidende Konsequenzen für den diagnostischen Zugang wie für eine zielführende Unterstützung mit angemessenen Behandlungsangeboten. Infolge dieses zentralen Defizits einer eingeschränkten Selbstkontrolle entwickeln sich einige wichtige psychische Prozesse und Funktionen nicht besonders günstig. Die mit dem Erscheinungsbild ADHS verbundenen Auffälligkeiten sind Ausdruck dieser biologisch disponierten Mängel in der Selbstregulationsfähigkeit. Sie sind insoweit nicht primär dem Ergebnis von Erziehungspraktiken bzw. eingeschränkten elterlichen Kompetenzen zuzurechnen. In Ätiologie und Modellentwicklung und der daran anknüpfenden Diagnostik und ggf. differenziellen Therapiezuweisung von ADHS sind intensivierte Forschungsanstrengungen gefragt, die präzisere Aussagen zur Verbindung zwischen den vielfältigen genetischen und neurophysiologischen Befunden, zuzuordnenden ätiologischen Konstrukten und diagnostischen Kategorien ermöglichen. Der Vorschlag zur »Endophänotypisierung« könnte hierzu eine entwicklungsfähige Anregung sein.
26
426
Kapitel 26 · Aufmerksamkeitsstörung
Vorrangige methodische Desiderate sind: 4 Kontrollgruppen-Design, 4 Vergleichbarkeit bei der Zusammensetzung der Untersuchungsgruppen, 4 angemessen vielfältige Datenquellen für Diagnose, (differenzielle)Therapiezuweisung und Wirksamkeitsüberprüfung, 4 Spezifikation der Wirksamkeitsbereiche, orientiert an einer Zuordnung zu Behandlungsbausteinen im Rahmen eines Interventionsmodells, das funktional ausgewiesene Teilziele benennt, 4 Follow-up-Erhebungen mit Überprüfung von Stabilität und Transfer zur Klärung der Nachhaltigkeit der Therapieeffekte.
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Kognitiv-behavioral ausgelegte Behandlungsstudien sollten gezielte und hinreichend elaborierte Anleitungen enthalten, wie der Transfer der im Training vermittelten Kompetenzen angebahnt werden kann. Weiter sollten als Bestandteil des jeweiligen Therapiemanuals konzeptionell Hinweise gegeben werden, wie eine belegte »efficacy« des evaluierten Interventionsprogramms zur »effectiveness« weitergeführt werden kann. Das zur Behandlung von ADHS entwickelte und erprobte Neurofeedback-Training kann das gegebene therapeutische Angebot für diese Zielgruppe pathophysiologisch gut begründet bereichern. Dieser Zugang knüpft neurophysiologisch an den bei ADHS zu beobachtenden Defiziten der Aktivierungsregulation an. Für die Zukunft stellt sich hier die Frage, inwieweit das Neurofeedback die Medikation zunehmend ersetzen kann: Es hat eine pathophysiologische »Basis« und hat sich im Hinblick auf die Nachhaltigkeit seiner Wirkung als sehr potent erwiesen (Schlottke u. Strehl 2007; Strehl 2008). Für das Frequenztraining wie für das Training der langsamen Potenziale konnte gezeigt werden, dass sich nach dem Training störungsspezifisches Verhalten sowie kognitive Maße (IQ und Aufmerksamkeit) verbessern. Diese Effekte wie auch die Fähigkeit zur Selbstregulation bleiben über das Ende der Therapie hinaus erhalten und erweisen sich insoweit im Vergleich zur medikamentösen Behandlung als überlegen. Angesichts der Hinweise auf neurophysiologisch zu begründende Subtypen von ADHS, die mit der klassifikatorischen Diagnostik nach DSM-IV-TR nur teilweise bzw. bedingt übereinstimmen, wird auch die Notwendigkeit belegt, hier vermehrt funktional zu denken. Derartige Kriterien als Gruppierungsmerkmale für Subtypen zu wählen, führt weiter zur Frage einer differenziellen Trainingszuweisung – auch innerhalb des Neurofeedback-Konzepts. Damit wird unmittelbar wie nachdrücklich deutlich, wie wichtig es ist, dass gängige diagnostische Vorgaben mit dem Ziel einer weiter zu verbessernden Therapie überdacht und auf der Grundlage einer differenzierten Ätiologie bzw. Pathophysiologie weiterentwickelt werden (Schlottke u. Strehl 2007).
Neurofeedback ist somit ein Behandlungszugang, der sich bei weiterer Präzisierung funktionaler Zusammenhänge und ätiologischer Konzepte – etwa anhand neurophysiologischer Merkmale – als zureichend flexibel erweist.
Zusammenfassung Die ADHS wird als Beeinträchtigung der Selbstregulationskompetenzen des Kindes definiert, wobei genetische Anteile, neuroanatomische und neurophysiologische Marker die Risiken für die Manifestation der Störung kennzeichnen. Psychosoziale Bedingungen im Umfeld des Kindes sind wesentlich an der Aufrechterhaltung der Problematik beteiligt. Gleichwohl liegt derzeit noch kein befriedigendes ätiologisches Konzept vor, das die gegebenen empirischen Befunde zureichend integriert. Ausgehend von der bekannten klassifikatorischen Diagnostik mit Hilfe von DSM-IV-TR und ICD-10 werden Perspektiven einer diagnostischen Alternative thematisiert, die anhand einer daraus abzuleitenden Subgruppenbildung der ADHS-Patienten eine funktional ausgerichtete, differenzielle Zuweisung zu Interventionsschwerpunkten anstrebt. Behandlungseffekte mit verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Interventionsstrategien werden am Beispiel eines kognitiv-behavioralen Behandlungszugangs sowie des Neurofeedback-Trainings aufgezeigt. Forschungsdesiderate zu methodischen Mindeststandards für Diagnostik und Therapie/Training bei ADHS werden abschließend erläutert.
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26
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Kapitel 26 · Aufmerksamkeitsstörung
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27
27 Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten Manfred Döpfner
27.1
Einleitung
– 430
27.2
Darstellung der Störung – 431
27.2.1 27.2.2
Symptomatik und Klassifikation Epidemiologie – 433
27.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
27.3.1 27.3.2
Ätiologie – 434 Verlauf – 437
27.4
Diagnostik – 438
27.5
Therapeutisches Vorgehen – 439
27.5.1 27.5.2 27.5.3
Indikationen – 439 Medikamentöse Therapie – 442 Verhaltenstherapeutische Interventionen – 442
27.6
Fallbeispiel
27.7
Empirische Belege
27.7.1 27.7.2 27.7.3
Umfeldzentrierte Interventionen – 446 Patientenzentrierte Interventionen – 447 Pharmakotherapie und kombinierte Pharmako- und Psychotherapie
27.8
Ausblick
– 434
– 445 – 446
– 448
Zusammenfassung Literatur
– 431
– 448
– 449
Weiterführende Literatur
– 451
– 447
430
Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
27.1
Einleitung
Gegen Weihnachten des Jahres 1844, als mein ältester Sohn drei Jahre alt war, ging ich in die Stadt, um demselben zum Festgeschenke ein Bilderbuch zu kaufen, wie es der Fassungskraft des kleinen menschlichen Wesens in solchem Alter entsprechend schien. Aber was fand ich? Lange Erzählungen oder alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten, die mit ermahnenden Vorschriften begannen und schlossen, wie: »Das brave Kind muss wahrhaft sein«; oder: »Brave Kinder müssen sich reinlich halten« usw.
Hoffmann kam schließlich mit einem leeren Schreibheft zurück und beschloss, selbst für seinen Sohn ein Bilderbuch herzustellen. Das Geschenk hatte die erhoffte Wirkung und erzielte schließlich in Hoffmanns Bekanntenkreis großes Aufsehen:
27 Wer kennt sie nicht, die Geschichte vom Zappelphilipp? »Ob der Philipp heute still Wohl bei Tische sitzen will?« Also sprach in ernstem Ton Der Papa zu seinem Sohn, Und die Mutter blickte stumm Auf dem ganzen Tisch herum. Doch der Philipp hörte nicht, Was zu ihm der Vater spricht. Er gaukelt Und schaukelt, Er trappelt Und zappelt Auf dem Stuhle hin und her. »Philipp, das missfällt mir sehr!«
Und wie alles zu Ende geht wissen wir auch: … Alles ist herabgerissen; Suppenschüssel ist entzwei, Und die Eltern stehn dabei. Beide sind gar zornig sehr, Haben nichts zu essen mehr.
1844 suchte der Neurologe Dr. Heinrich Hoffmann nach einem Bilderbuch als Weihnachtsgeschenk für seinen damals dreijährigen Sohn Carl, fand aber nichts, was ihm für ein Kind dieses Alters passend erschien. Über die Ursprünge des Struwwelpeter schrieb Dr. Hoffmann 1871 in der Zeitschrift Die Gartenlaube:
Das Heft wurde eingebunden und auf den Weihnachtstisch gelegt. Die Wirkung auf den beschenkten Knaben war die erwartete; aber unerwartet war die auf einige erwachsene Freunde, die das Büchlein zu Gesicht bekamen. Von allen Seiten wurde ich aufgefordert, es drucken zu lassen und es zu veröffentlichen. Ich lehnte es anfangs ab; ich hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, als Kinderschriftsteller und Bilderbüchler aufzutreten.
Mit dem Zappelphilipp beschreibt Dr. Heinrich Hoffmann ein hyperkinetisch-oppositionelles Kind so prägnant, dass die hyperkinetische Störungen und die damit häufig einhergehende oppositionelle Verhaltensstörung im deutschsprachigen Raum vielfach auch als Zappelphilipp-Syndrom bekannt geworden ist. Wenn wir uns die ersten Zeilen der Zappelphilipp-Geschichte genauer ansehen, sind wir erstaunt, wie genau Heinrich Hoffmann die auslösende Situation, das konkrete Verhalten und am Ende auch die Konsequenzen beschrieb – die erste Verhaltensanalyse einer hyperkinetischen Störung! Neben der hyperkinetischen und der damit häufig einhergehenden oppositionellen Verhaltensstörung gibt es keine zweite psychische Störung des Kindes- und Jugendalters, die auch heutzutage so häufig im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses steht – Der Spiegel und Focus schreiben fast regelmäßig Leitartikel, im Fernsehen widmet »Arte« diesem Problem ganze Themenabende, der Bundestag beschäftigt sich damit und auch der Nationale Ethikrat (2007) thematisiert das Problem. Dieses erhebliche Interesse ist teilweise darauf zurückzuführen, dass hyperkinetische und oppositionelle Verhaltensstörungen zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindesalter gehören und mit großem Abstand den häufigsten Anlass für die Vorstellung von Kindern in Einrichtungen zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen und psychischen Störungen darstellt – seien es Beratungsstellen, kinderpsychotherapeutische oder -psychiatrische Praxen oder Kliniken.
431 27.2 · Darstellung der Störung
Ein weitere Ursache für das erhebliche öffentliche Interesse: Kaum ein anderes Störungsbild steht so im Brennpunkt von klinischer Kinderpsychologie, Kinderpsychiatrie, Pädagogik und Neurowissenschaften und wird damit auch aus so unterschiedlichen Perspektiven interpretiert und kontrovers diskutiert.
27.2
Darstellung der Störung
27.2.1 Symptomatik und Klassifikation
Hyperkinetische und oppositionelle Verhaltensstörungen umfassen ein breites Spektrum an hyperaktiven, impulsiven, unaufmerksamen, oppositionellen und aggressiven Verhaltensweisen, die häufig gemeinsam auftreten, aber auch als getrennte Störungen vorkommen können. Mitunter werden dieses Störungen unter den Begriffen der disruptiven Störungen oder der externalen Störungen subsumiert (Döpfner et al. 2009). Impulsivität. Impulsivität bezeichnet das plötzliche und un-
bedachte Handeln oder auch die vermeintliche Unfähigkeit, abzuwarten und Bedürfnisse aufzuschieben. Der Begriff der kognitiven Impulsivität beschreibt die Tendenz, ersten Handlungsimpulsen zu folgen und eine Tätigkeit zu beginnen, bevor sie vollständig erklärt oder hinreichend durchdacht worden ist. Motivationale Impulsivität umfasst die relative Unfähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben, und die Tendenz, schnelle und unmittelbare Belohnungen zu suchen. Emotionale Impulsivität bezeichnet die Tendenz, schnell und heftig Affekte zu entwickeln – Freude und Begeisterung können sehr abrupt und intensiv auftreten, aber oft ist auch eine geringe Frustrationstoleranz festzustellen, und die Betroffenen reagieren mit Ärger und Wut bei kleinen Anlässen. Hyperaktivität. Hyperaktivität bezeichnet eine nicht altersgerechte, desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende motorische Aktivität oder ausgeprägte Ruhelosigkeit, die besonders in Situationen auftritt, die relative Ruhe und Ausdauer verlangen (z. B. Unterricht). Die situative Variabilität dieser Symptomatik lässt den Schluss zu, dass nicht so sehr das generelle Aktivitätsniveau, sondern vor allem seine mangelnde Anpassung an die situativen Anforderungen wesentlich zur Beeinträchtigung des Funktionsniveaus der Betroffenen beiträgt. Aufmerksamkeitsstörungen. Störungen der Aufmerksam-
keit treten vor allem bei Beschäftigungen auf, die eine kognitive Anstrengung erfordern oder als besonders langweilig und ermüdend erlebt werden. Meist sind die Störungen bei Tätigkeiten, die fremdbestimmt sind (z. B. Hausaufgaben), stärker ausgeprägt als bei selbstbestimmten Beschäftigungen (z. B. Spiel). In der Regel ist sowohl die selektive
Aufmerksamkeit, d. h. die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf aufgabenrelevante Reize zu fokussieren und irrelevante Reize zu ignorieren, als auch die Daueraufmerksamkeit beeinträchtigt. Oppositionelles Trotzverhalten. Das Hauptmerkmal von oppositionellem Trotzverhalten ist ein Muster von wiederkehrenden negativistischen, trotzigen, ungehorsamen und feindseligen Verhaltensweisen gegenüber Autoritätspersonen. Die Kinder werden schnell wütend, streiten sich sehr häufig mit Erwachsenen, widersetzen sich aktiv ihren Anweisungen und weigern sich, Regeln zu befolgen. Sie verärgern andere vorsätzlich und schieben die Schuld für eigene Fehler oder eigenes Fehlverhalten auf andere. Sie sind reizbar oder lassen sich von anderen leicht aus dem Gleichgewicht bringen, reagieren schnell zornig und ärgern sich rasch. Oppositionelles Verhalten gegenüber Erwachsenen geht gehäuft mit aggressiven Verhaltensweisen Gleichaltrigen gegenüber einher. Diese Auffälligkeiten können in den verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Oppositionell-aggressive Verhaltensstörungen können sich auf eine oder wenige Personen oder nur einen Lebensbereich (Familie, Schule, Gleichaltrige) konzentrieren; sie können aber auch generalisiert in mehreren Bereichen auftreten. Die Symptome von Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit treten typischerweise stärker in solchen Situationen auf, in denen von den Kindern oder Jugendlichen eine längere Aufmerksamkeitsspanne und Ausdauer vorausgesetzt wird, beispielsweise im Unterricht, bei den Hausaufgaben oder beim Essen. Anzeichen der Störung können in sehr geringem Maße oder gar nicht auftreten, wenn sich das Kind in einer neuen Umgebung befindet, wenn es nur mit einem Gegenüber konfrontiert ist oder wenn es sich einer Lieblingsaktivität widmet, selbst wenn diese in vermehrtem Maße Aufmerksamkeit erfordert (z. B. beim Computerspiel). Die beschriebenen Symptome lassen sich vor allem zwei Diagnosen zuordnen, die häufig auch gemeinsam auftreten: 4 der hyperkinetischen Störung (HKS) bzw. der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und 4 der Störung mit oppositionellem Trotzverhalten
Die folgende Übersicht zeigt die diagnostischen Kriterien für eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nach dem »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM-IV-TR) und für eine hyperkinetische Störung (HKS) nach der »International Classification of Diseases« (ICD-10). Bei der Definition der einzelnen Symptome ist zwischen beiden Systemen eine hohe Übereinstimmung festzustellen. Inhaltliche Abweichungen bei einzelnen Kriterien sind in der Übersicht gekennzeichnet.
27
432
Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
Symptomkriterien Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nach DSM-IV und der hyperkinetischen Störung (HKS) nach ICD-10
27
a) Unaufmerksamkeit: 1. Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten. 2. Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielen aufrechtzuerhalten. 3. Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn ansprechen. 4. Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund von oppositionellem Verhalten oder Verständnisschwierigkeiten). 5. Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren. 6. Vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben). 7. Verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z. B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug). 8. Lässt sich oft durch äußere Reize leicht ablenken. 9. Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.
b) Hyperaktivität: 1. Zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum. 2. Steht {häufig} in der Klasse oder in anderen Situationen auf, in denen Sitzenbleiben erwartet wird. 3. Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben). 4. Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen. 5. {Ist häufig »auf Achse« oder handelt oftmals, als wäre er »getrieben«.} [Zeigt ein anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivität, das durch die soziale Umgebung oder durch Aufforderungen nicht durchgreifend beeinflussbar ist.] c) Impulsivität: 1. Platzt häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist. 2. Kann häufig nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist [bei Spielen oder in Gruppensituationen]. 3. Unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder in Spiele anderer hinein). 4. Redet häufig übermäßig viel [ohne angemessen auf soziale Beschränkungen zu reagieren]. {Im DSM-IV unter Hyperaktivität subsumiert.} Anmerkungen: { } = nur DSM-IV; [ ] = nur ICD-10.
Beide Diagnosesysteme legen zudem weitgehend übereinstimmend fest, dass für eine entsprechende Diagnose: 4 die Symptome mindestens 6 Monate lang in einem dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenem Ausmaß vorliegen; 4 die Störungen bzw. einige beeinträchtigende Symptome der Störung bereits vor dem Alter von 7 Jahren auftreten; 4 die Beeinträchtigungen durch diese Symptome sich in zwei oder mehr Lebensbereichen manifestieren; 4 deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen vorhanden sein müssen. Allerdings lassen sich wichtige Unterschiede zwischen beiden Systemen in der Kombination der Symptomkriterien zu Diagnosen festzustellen. . Abb. 27.1 veranschaulicht diese Differenzen graphisch. Nach ICD-10 (Forschungskriterien) müssen für die Diagnose einer einfachen Aktivitätsund Aufmerksamkeitsstörung (F90.0) sowohl ausgeprägte
Aufmerksamkeitsstörungen als auch Überaktivität und Impulsivität vorliegen. Im DSM-IV sind dagegen drei Subtypen spezifiziert: 4 der Mischtyp einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, bei dem sowohl Aufmerksamkeitsstörung als auch Hyperaktivität/Impulsivität vorliegen; 4 der vorherrschend unaufmerksame Typ, bei dem vor allem Aufmerksamkeitsstörungen vorliegen, während Hyperaktivität/Impulsivität nicht oder nicht hinreichend stark ausgeprägt sind; 4 der vorherrschend hyperaktiv-impulsive Typ, bei dem vor allem Hyperaktivität/Impulsivität vorliegt, während Aufmerksamkeitsstörungen nicht oder nicht hinreichend stark ausgeprägt sind. Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen DSM-IV und ICD-10 besteht darin, dass ICD-10 Kombinationsdiagnosen für jene Störungen vorsieht, die gehäuft gemeinsam auftreten, während nach DSM-IV in diesem Fall Mehrfachdiagnosen vergeben werden. Ein Kind, das sowohl die Kri-
433 27.2 · Darstellung der Störung
. Abb. 27.1. Kriterien für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung nach ICD-10 und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV. (Aus Döpfner et al. 2009) 1
Bei Personen, die gegenwärtig Symptome zeigen, aber nicht mehr alle Kriterien erfüllen, wird teilremittiert spezifiziert.
terien für eine hyperkinetische Störung als auch die Kriterien für eine oppositionelle Verhaltensstörung erfüllt, erhält nach ICD-10 die Diagnose einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1), während nach DSM-IV zwei getrennte Diagnosen zu vergeben sind. Für eine Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten F91.3) werden nach ICD10 und DSM-IV acht Symptome definiert (s. Übersicht). Symptomkriterien der Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten nach ICD-10 (Forschungskriterien) und Störung mit oppositionellem Trotzverhalten nach DSM-IV 1. Hat für das Entwicklungsalter ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche. 2. Streitet sich häufig mit Erwachsenen. 3. Widersetzt sich häufig aktiv den Anweisungen oder Regeln von Erwachsenen oder weigert sich, diese zu befolgen. 4. Ärgert andere häufig absichtlich. 5. Schiebt häufig die Schuld für eigene Fehler oder eigenes Fehlverhalten auf andere. 6. Ist häufig reizbar oder lässt sich von anderen leicht ärgern. 7. Ist häufig zornig und ärgert sich schnell. 8. Ist häufig boshaft oder rachsüchtig.
Die Symptome müssen mindestens 6 Monate lang auftreten und für das Entwicklungsalter unangemessen sein. Außerdem dürfen die Kriterien einer anderen Störung des Sozialverhaltens nicht erfüllt sein, d. h. es dürfen keine ausgeprägten aggressiv-dissozialen Auffälligkeiten vor-
liegen, welche die Kriterien eine Störung des Sozialverhaltens erfüllen.
27.2.2 Epidemiologie
Einzelne Symptome von Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit, wie sie in 7 Abschn. 27.2.1 definiert werden, treten in Deutschland bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 4 bis 17 Jahren in deutlicher Ausprägung nach Angaben der Eltern bei 5–22% auf (Görtz-Dorten u. Döpfner 2008a). Bei den oppositionellen Symptomen, wie sie in obiger Übersicht definiert sind, liegen die Prävalenzen zwischen 3% und 19%. Die Diagnosenprävalenz ist erwartungsgemäß deutlich geringer – auf der Basis von Symptomkriterien liegt die Prävalenz für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nach DSM-IV zwischen 5% und 9,3% (Görtz-Dorten u. Döpfner 2008a; Döpfner et al. 2008d). Die Prävalenzen vermindern sich deutlich mit dem Alter und sind bei Jungen zwei- bis dreimal häufiger als bei Mädchen. Werden neben den Symptomkriterien auch noch weitere Diagnosekriterien berücksichtigt, wie Funktionsbeeinträchtigung, Ausprägung der Symptomatik in mehreren Situationen, dann sinkt die Prävalenz noch einmal deutlich. Nach den wesentlich strengeren Diagnosekriterien von ICD-10 liegt die Prävalenz zwischen 1% und 3,4% (Görtz-Dorten u. Döpfner 2008a; Döpfner et al. 2008d). Die Diagnosenprävalenzen für oppositionelle Verhaltensstörungen liegen auf der Basis der Symptomkriterien bei 4,3% (Görtz-Dorten u. Döpfner 2008b). Internationale Studien belegen ähnliche Prävalenzraten für ADHS (nach DSM-IV) in verschiedenen Ländern und Kulturen. So zeigen nach Skounti und Mitarbeitern (2007) die Studien aus anderen europäischen Ländern bei Kindern
27
434
27
Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
Prävalenzraten zwischen 3,6% und 6,7%, während sie bei Jugendlichen geringer ausfallen und zwischen 2,2% und 2,6% liegen. Polanczyk und Mitarbeiter (2007) berechnen weltweit eine durchschnittliche Prävalenzrate von 5,3%, wobei Europa (4,6%) geringfügig unter und Nordamerika mit 6,6% etwas über dem weltweiten Durchschnitt liegen (vgl. Döpfner 2007).In einer bundesweiten deutschen Studie wurde eine Prävalenzrate von 5% nach DSM-IV und von 1% nach den strengeren ICD-10-Kriterien ermittelt, wobei die Raten sinken, wenn nicht nur die Symptomatik, sondern auch die weiteren Kriterien (z. B. Symptombeginn und Funktionseinschränkung) berücksichtigt werden (Döpfner et al. 2008d). Die Prävalenz für oppositionelle Störungen liegt international im Mittel bei 3,2% (Döpfner et al. 2007d; Lahey et al. 1999). Bis zu 50% der Kinder und Jugendlichen mit der Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung erfüllen auch die Kriterien für eine oppositionelle Verhaltensstörung und umgekehrt. Hyperkinetische Störungen ohne zusätzliche (komorbide) psychische Störungen sind eher die Ausnahme (Pliszka et al. 1999) – bei bis zu 80% werden komorbide Störungen diagnostiziert (vgl. Jensen et al. 1997), neben oppositionellen Störungen des Sozialverhaltens, die stärker ausgeprägten aggressiv-dissozialen Störungen des Sozialverhaltens (30–50%), affektive, vor allem depressive Störungen (15–20%), Angststörungen (20–25%) und umschriebene Lernstörungen (10–25%) (vgl. Döpfner et al. 2009). Starke Überschneidungen lassen sich auch zwischen oppositionellen Verhaltensstörungen und den massiveren aggressiv-dissozialen Störungen des Sozialverhaltens feststellen. In den Diagnosesystemen ist die Diagnose . Abb. 27.2. Entwicklung negativ kontrollierender Interaktionen mit external auffälligen Kindern. (Aus Döpfner et al. 2007a)
einer aggressiv-dissozialen Störung des Sozialverhaltens Ausschlusskriterium für die Diagnose einer oppositionellen Verhaltensstörung, die häufig Vorläufer der aggressiv-dissozialen Störung ist. Oppositionelle Störungen und dissoziale Störungen haben zudem eine erhebliche Komorbidität mit depressiven Störungen (Maughan et al. 2004).
27.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
27.3.1 Ätiologie
Sowohl in Familien von oppositionellen als auch von hyperkinetisch auffälligen Kindern lassen sich typische ElternKind-Interaktionen identifizieren, die als gegenseitig erzwingende Interaktionen (»coercive interactions«) beschrieben werden und in . Abb. 27.2 dargestellt sind (vgl. Döpfner et al. 2007a). Solche erzwingenden Interaktionen, die erstmals von Patterson (1982) beschrieben wurden, führen schließlich dazu, dass mangelnde Regelbefolgung, oppositionelles und aggressives, aber auch hyperaktiv-impulsives und unaufmerksames Verhalten des Kindes eher noch zunehmen, weil das Kind durch das Nachgeben der Eltern letztendlich für sein oppositionelles und impulsives Verhalten negativ verstärkt wird oder durch das Vorbild der Eltern erfährt, dass aggressiv-erzwingendes Verhalten letztendlich erfolgreich ist. Diese Interaktionsmuster treten jedoch nicht nur in der Familie, sondern häufig auch im Kindergarten und in der Schule auf. Solche gegenseitig erzwingenden Interaktionen stellen möglicherweise eine gemeinsame Endstrecke bei der Ent-
435 27.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
wicklung von hyperkinetischen und oppositionellen Auffälligkeiten dar und sind vermutlich für die Aufrechterhaltung der Problematik im wesentlichen Ausmaß mitverantwortlich. Betrachtet man die primären Ursachen, so sticht zunächst ein deutlicher Unterschied zwischen oppositionellen Verhaltensstörungen einerseits und hyperkinetischen Symptomen andererseits ins Auge: ! Während man sich mittlerweile sehr sicher ist, dass genetische Einflüsse bei der Entwicklung hyperkinetischer Störungen am bedeutendsten sind, nimmt man bei oppositionellen Störungen an, dass Faktoren der psychosozialen Umwelt die größte Bedeutung zukommt.
Ausgeprägtes oppositionelles Trotzverhalten und aggressives Verhalten tritt in sozial benachteiligten Familien und in Familien mit hohen psychosozialen Belastungsfaktoren wesentlich häufiger auf.
Hyperkinetische Störungen . Abb. 27.3 zeigt ein integratives Modell zur Ätiologie von hyperkinetischen Störungen. Als primäre kausale Faktoren werden genetische Faktoren, Schädigungen des Zentralnervensystems, Nahrungsmittelbestandteile sowie psychosoziale Faktoren diskutiert. Vermittelnde Faktoren sind neuro. Abb. 27.3. Biopsychosoziales Modell zur Entstehung von Aufmerksamkeitsstörungen. (Aus Döpfner et al. 2009)
biologische (neuroanatomische, neurochemische und neurophysiologische) und neuropsychologische Auffälligkeiten und Prozesse, die schließlich hyperkinetische Symptome und koexistierende Störungen und Auffälligkeiten auslösen (vgl. Döpfner et al. 2009). Genetische Faktoren. Genetische Faktoren haben den stärksten Einfluss auf die Entwicklung der Störung. In einer Metaanalyse von 20 unabhängigen Zwillingsstudien konnten Faraone et al. (2005) eine Heritabilität, d. h. den Anteil der Varianz der hyperkinetischen Symptomatik, der durch genetische Variationen determiniert ist, von 76% bestimmen. Molekulargenetische Analysen zeigen zudem, dass mehrere Genpolymorphismen, die den dopaminergen und den sertonergen Stoffwechsel beeinflussen, signifikante Assoziationen mit hyperkinetischen Störungen aufweisen. Hirnschädigungen. Die Bedeutung von erworbenen Hirn-
schädigungen ist deutlich geringer. Allerdings zeigen neuere Studien ein erhöhtes Risiko für hyperkinetische Störungen bei Nikotingenuss und Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, geringem Geburtsgewicht (z. B. Knopik et al. 2006; Linnet 2003) und Hirnschädigungen nach der Geburt (Max et al. 1998). Bei 23% der Kinder mit sehr geringem Geburtsgewicht wird im Alter von 12 Jahren eine
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436
Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
hyperkinetische Störung diagnostiziert – damit fast viermal häufiger als bei Kindern mit normalem Geburtsgewicht (Botting et al. 1997). Ernährung. Die Rolle der Ernährung bei der Entwicklung von hyperkinetischen Störungen ist fraglich. In jüngster Zeit wird der Einfluss von ungesättigten Fettsäuren auf hyperkinetische Störungen diskutiert. So konnten in einigen Studien erniedrigte Serumspiegel ungesättigter Fettsäuren nachgewiesen werden, und es liegen auch einige Studien vor, die eine Verminderung von hyperkinetischen Symptomen bei einer entsprechenden Nahrungszufuhr von ungesättigten Fettsäuren belegen (Frölich u. Döpfner 2008).
27
Psychosoziale Faktoren. Psychosoziale Faktoren können die Ausprägung der Symptomatik, die Entwicklung komorbider Störungen und den Verlauf der Symptomatik im Sinne eines Vulnerabilitäts-Stress-Modells bei neurobiologisch vulnerablen Personen beeinflussen. Der Schweregrad der hyperkinetischen Symptomatik und der längerfristige Verlauf sowie die Komorbidität mit anderen Störungen gehen mit ungünstigen psychosozialen Bedingungen einher
(z. B. Biederman et al. 1996). Dies weist auf Interaktionen zwischen genetischen Dispositionen und psychosozialen Bedingungen hin, die bislang noch wenig verstanden werden. In mehreren Studien wurden geringer sozioökonomischer Status, ungünstige familiäre Bedingungen, vor allem unvollständige Familien, überbelegte Wohnungen und psychische Störung der Mutter, als Risikofaktoren für die Entwicklung von hyperkinetischen Störungen nachgewiesen (Scahill et al. 1999; Biederman et al. 1995a,b). Bei adoptierten Kindern, die in ihren ersten Lebensjahren institutionell unter massivsten Deprivationsbedingungen in rumänischen Kinderheimen versorgt wurden, konnte ein Zusammenhang zwischen Deprivationsdauer und Unaufmerksamkeit/Hyperaktivität belegt werden (Kreppner et al. 2001). Längsschnittstudien zeigen, dass überwiegend negative Eltern-Kind-Interaktionen im Vorschulalter mit der Stabilität von hyperkinetischen Symptomen korrelieren (Campbell 1990). Psychosoziale Bedingungen können zudem biologische Risiken kompensieren. So konnten Tully und Mitarbeiter (2004) zeigen, dass eine positive MutterKind-Beziehung das Risiko von Kindern mit geringem Geburtsgewicht reduziert, im Alter von 5 Jahren hyperkinetische Symptome zu entwickeln.
Exkurs Mütterliche Wärme als protektiver Faktor Tully et al. (2004) analysierten die Daten von mehr als 2000 fünfjährigen Zwillingen, von denen die Hälfte mit einem geringen Geburtsgewicht (unter 2500 g) zur Welt gekommen waren. Die mütterliche Wärme als eine Komponente von »expressed emotions« wurde anhand von Tonbandaufnahmen der Mütter beurteilt, in denen sie ihre Kinder beschrieben. Die Ergebnisse zeigen eine Interaktion zwischen Geburtsgewicht und mütterlicher Wärme bei der Vorhersage der ADHS-Symptomatik im Urteil der Mütter und der Lehrer – das höhere Risiko von Kindern
Neurobiologische Ebene. Diese primären Ursachen wirken sich auf neurobiologische und neuropsychologische Prozesse aus. Auf der neurobiologischen Ebene sind bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen sowohl strukturelle als auch funktionelle zerebrale Auffälligkeiten nachweisbar (Banaschewski u. Brandeis 2007). So zeigt sich in mehreren Studien bei Kindern mit ADHS ein vermindertes zerebrales Gesamtvolumen auf neuroanatomischer Ebene, typische Veränderungen im Hirnstrombild (EEG) auf neurophysiologischer Ebene und eine Veränderung im dopaminergen Neurotransmittersystem auf neurochemischer Ebene. Neuropsychologische Ebene. Auf der neuropsycholo-
gischen Ebene lassen sich Störungen der Selbstregulation in verschiedenen Funktionsbereichen finden. Man geht davon aus, dass vor allem Störungen der Hemmung oder der Verzögerung von Reaktionen und der exekutiven Funktionen
mit geringem Geburtsgewicht für ADHS wurde durch hohe mütterliche Wärme kompensiert. Diese Beziehung war spezifisch für ADHS, sie konnte nicht für die Intelligenz der Kinder gefunden werden. Allerdings muss bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden, dass es sich hier ausschließlich um Querschnittsanalysen handelt. Noch überzeugender wäre eine Längsschnittstudie, in der gezeigt werden kann, dass mütterliche Wärme in einem früheren Lebensalter einen Einfluss auf spätere ADHS-Symptomatik hat.
sowie motivationale Störungen zentrale neuropsychologische Komponenten bei der Entwicklung von ADHS sind (vgl. Nigg et al. 2005; Döpfner u. Lehmkuhl 2006). Exekutive Funktionen sind psychologische Prozesse, die der Ausführung von Handlungen unmittelbar vorangehen oder sie begleiten (Barkley 1997). Sie umfassen verschiedene metakognitive Bereiche wie Reaktionshemmung, Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität, Planungsvermögen und Sprechflüssigkeit. Empirische Studien, die von Willcutt et al. (2005) in einer Metaanalyse zusammengefasst wurden, belegen bei hyperkinetisch auffälligen Kindern Beeinträchtigungen in der Reaktionshemmung, der Vigilanz, dem Arbeitsgedächtnis und bei einigen Maßen zur Erfassung von Planungsprozessen. Allerdings zeigen nicht alle Kinder mit ADHS solche neuropsychologischen Auffälligkeiten, und die Störungsspezifität dieser Auffälligkeiten ist ebenfalls nicht gesichert.
437 27.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Motivationale Faktoren. Motivationale Faktoren werden in der Theorie der Verzögerungsaversion (»delay aversion«) als zentrale neuropsychologische Prozesse postuliert. Die Theorie geht davon aus, dass die mangelnde Hemmung von Reaktionen nicht durch ein grundlegendes Defizit, sondern durch eine motivationale Störung bedingt ist. Es wird eine spezifisch erhöhte Abneigung gegen Belohnungsverzögerungen angenommen, die sich in den Versuchen der hyperkinetisch auffälligen Kinder manifestiert, Verzögerungen zu entfliehen oder sie zu vermeiden. Mehrere Studien belegen den Zusammenhang von Verzögerungsaversion und hyperkinetischer Symptomatik (Nigg et al. 2005). Beide neuropsychologische Prozesse werden von Sonuga-Barke (2005) in einem dualen Modell inhibitorischer und motivationaler Dysfunktionen integriert.
Oppositionelle Verhaltensstörungen Bei oppositionellen Verhaltensstörungen werden ähnliche kausale Faktoren diskutiert, allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Burke et al. 2002). Jedoch wird in den Studien selten zwischen oppositionellen und dissozialen Störungen des Sozialverhaltens unterschieden, so dass die spezifischen Faktoren für oppositionelle Störungen nicht gut herausgearbeitet sind. Generell ist die Bedeutung genetischer Faktoren jenseits der Faktoren, die bei der Entstehung von hyperkinetischen Störungen eine Rolle spielen, nicht geklärt. Gut belegt ist die Häufung von oppositionellen und aggressiven Störungen bei Kindern von Eltern mit ähnlicher Problematik; vermutlich wird diese generationenübergreifende Stabilität jedoch eher über psychosoziale Prozesse vermittelt. Pränatale und perinatale Komplikationen, die zu Schädigungen des Zentralnervensystems führen können, sind ebenfalls belegt worden. Auch hier wurden der Nikotinkonsum, aber auch anderer Substanz-
missbrauch während der Schwangerschaft als Risikofaktoren identifiziert (Wakschlag et al. 1997; Weissmann et al. 1999, 7 Kap. III/28). Die Bedeutung psychosozialer Faktoren bei der Entwicklung oppositioneller und aggressiver Störungen ist gut belegt. Auf die Rolle gegenseitig erzwingender Interaktionen zwischen Eltern und Kind wurde bereits hingewiesen. In einer Vielzahl von Studien wurde der Zusammenhang mit ungünstigem Erziehungsverhalten nachgewiesen, u. a. mit mangelnder Aufsicht durch die Eltern, extrem strengen und vor allem mit inkonsistenten Disziplinierungsmaßnahmen und mit fehlender Kontrolle über das Kind (Burke et al. 2002; Döpfner et al. 2007d). Weitere psychosoziale Faktoren sind vor allem sozioökonomische Benachteiligungen, die sich vermutlich auf das Erziehungsverhalten auswirken und darüber oppositionelle Störungen beeinflussen. So konnten Costello et al. (2003) zeigen, dass ein Zuwachs an familiären finanziellen Ressourcen die Aggressionssymptomatik von Kindern reduziert
27.3.2 Verlauf
Längsschnittstudien zeigen, dass sowohl hyperkinetische als auch oppositionelle Verhaltensstörungen über das Kindes- und Jugendalter hinweg relativ stabil sind, wenngleich sich das Bild der Störung wandelt. Obwohl die Mehrzahl der oppositionell auffälligen Kinder im Jugendalter keine dissoziale Entwicklung nimmt, ist das Risiko für eine solche Entwicklung doch deutlich erhöht, und es gibt kaum Menschen mit ausgeprägten dissozialen Störungen, bei denen nicht oppositionelle Verhaltensauffälligkeiten im Vorfeld aufgetreten waren (Burke et al. 2002). . Abb. 27.4 gibt das von Patterson et al. (1989) formulierte Modell zur Entwick-
. Abb. 27.4. Modifiziertes Modell zur Entwicklung antisozialen Verhaltens nach Patterson (1989). (Aus Döpfner et al. 2007a)
27
438
Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
lung antisozialen Verhaltens, das die wesentlichen empirischen Befunde zusammenfasst, in modifizierter Form wieder. ! Hauptursache für die Entwicklung oppositioneller und aggressiver Verhaltensweisen in der frühen Kindheit sind inkonsistente Erziehung und mangelnde Kontrolle, verbunden mit verminderter Aufmerksamkeit für prosoziale Verhaltensansätze der Kinder.
27
Patterson et al. (1989) sprechen von einem regelrechten Training zur Aggressivität, das in den Familien stattfindet und sich durch ganz besondere Interaktionsprozesse auszeichnet, die täglich mehrere dutzendmal auftreten. Allerdings machen es manche Kinder den Eltern nicht leicht, sich in der Erziehung konsequent und zugewandt zu verhalten. Dazu gehören erstens die hyperkinetischen Kinder und zweitens die Kinder mit generell eher ungünstigen Temperamentsmerkmalen und Regulationsstörungen (Nigg et al. 2004). Die Kinder lernen in der weiteren Entwicklung aufgrund der beschriebenen erzwingenden Interaktionsprozesse, andere Familienmitglieder durch oppositionell-aggressives Verhalten zu kontrollieren, und sie lernen nicht, wie man in sozial kompetenter Weise mit Konflikten und Frustrationen umgeht. Sie zeigen solche Verhaltensweisen schließlich auch im Kindergarten und in der Schule. Im Grundschulalter oder etwas später gibt es zwei zentrale Ereignisse, welche die weitere Entwicklung wesentlich beeinflussen können. Aggressive Kinder werden erstens von den Gleichaltrigen abgelehnt, und sie haben, wohl aufgrund ihres oppositionellen und verweigernden Verhaltens gegenüber den Leistungsanforderungen der Schule, zweitens ein hohes Risiko zu schulischen Misserfolgen. Aggressiv auffällige Jugendliche, deren schulische Karriere durch Misserfolge gekennzeichnet ist und die von Gleichaltrigen abgelehnt werden, tendieren dazu, sich Gleichgesinnten, ebenfalls devianten Jugendlichen anzuschließen und erhalten von diesen Anerkennung in der Devianz. Dies ist ein wichtiger Nährboden für die Entwicklung dissozialer Störungen. Bei den hyperkinetischen Störungen lassen sich Verminderungen der Symptomatik mit zunehmendem Alter nachweisen, vor allem bei der Hyperaktivität und der Impulsivität; so liegen in einer bundesweit repräsentativen Studie die Prävalenzraten (nach den Symptomkriterien von DSM-IV) bei den 7- bis 10-Jährigen bei 6,4% und bei den 14- bis 17-Jährigen bei 3,9% (Döpfner et al. 2009). Allerdings wächst sich die Symptomatik im Jugend- und Erwachsenenalter nicht automatisch aus. Nachuntersuchungen aus den USA belegen, dass die Mehrheit der Kinder (60–85%) bis ins Jugendalter hinein die Kriterien für eine Diagnose weiterhin erfüllt (Barkley et al. 1990; Biederman et al. 1996). Erwachsene mit einer hyperkinetischen Störung in der Kindheit haben ein erhöhtes Risiko zu antisozialem und kriminellem Verhalten sowie zu Unfällen und
Verletzungen, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Problemen am Arbeitsplatz und Partnerschaftsproblemen (Barkley et al. 2004). Längsschnittstudien haben bei hyperkinetischen Störungen verschiedene Risikofaktoren isolieren können, die mit einem ungünstigeren Verlauf der Symptomatik in Beziehung stehen. Dazu zählen vor allem psychosoziale Belastungen, geringere Intelligenz, aggressives und oppositionelles Verhalten im Kindesalter, schlechte Beziehungen zu Gleichaltrigen, emotionale Instabilität und psychische Störungen bei den Eltern (vgl. Barkley 2006).
27.4
Diagnostik
Die Diagnostik bei hyperkinetischen und oppositionellen Verhaltensstörungen ist in den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von hyperkinetischen Störungen (Döpfner et al. 2007c) und von Störungen des Sozialverhaltens (Döpfner u. Petermann 2004) zusammenfassend dargestellt und in zwei Bänden der Reihe Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie ausführlich beschrieben (Döpfner et al. 2009; Petermann et al. 2007). Diese Leitlinien und Leitfäden empfehlen eine ausführliche Verhaltens-, Leistungs- und Familiendiagnostik, wobei die klinische Exploration der Eltern, des Kindes/ Jugendlichen sowie der Erzieher/Lehrer als unverzichtbare Grundlagen dieser Diagnostik angesehen wird. In den Leitfäden zur Kinder- und Jugendpsychotherapie werden ausführliche Hinweise zur Exploration gegeben (Döpfner et al. 2009; Petermann et al. 2007). Ergänzend sind häufig standardisierte Fragebögen, testpsychologische Untersuchungen und körperliche Untersuchungen nötig. . Tab. 27.1 gibt eine Übersicht über einige störungsspezifische Verfahren. Das »Explorationsschema für Hyperkinetische und Oppositionelle Verhaltensstörungen« (ES-HOV) ist ein halbstrukturiertes Verfahren, das die klinische Exploration von Kindern und Jugendlichen und ihren Bezugspersonen erleichtern soll. Der »Explorationsfragebogen für Hyperkinetische und Oppositionelle Verhaltensstörungen« (EFHOV) ist parallel dazu aufgebaut und kann die Exploration erleichtern. Zur Abklärung der diagnostischen Kriterien können Diagnose-Checklisten für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (DCL-ADHS) bzw. für Störungen des Sozialverhaltens (DCL-SSV) aus dem »Diagnostik-System für Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV« (DISYPS-II) (Döpfner et al. 2008a) eigensetzt werden. Außerdem enthält das Diagnostik-System Fremdbeurteilungsbögen (FBB-ADHS und FBB-SSV) und Selbstbeurteilungsbögen (SBB-ADHS und SBB-SSV), die unmittelbar die Einschätzungen von Bezugspersonen (Eltern, Erzieher, Lehrer) und der Kinder/Jugendlichen selbst (ab dem Alter von 11 Jahren) erheben. Im Rahmen der multimodalen Verhaltensund Psychodiagnostik ist es von großer Bedeutung, dass Urteile aus verschiedenen Perspektiven erhoben werden –
439 27.5 · Therapeutisches Vorgehen
. Tab. 27.1. Störungsspezifische klinische Beurteilungsverfahren und Fragebogenverfahren zur Erfassung von Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) und oppositionellen Verhaltensstörungen Verfahren
Quelle
Beschreibung
Explorationsschema für Hyperkinetische und Oppositionelle Verhaltensstörungen (ES-HOV)
Döpfner et al. 2006b, 2007a
Halbstrukturierter klinischer Explorationsbogen
Explorationsfragebogen für Hyperkinetische und Oppositionelle Verhaltensstörungen (EF-HOV)
Döpfner et al. 2006b
Halbstrukturierter klinischer Explorationsbogen
Diagnosecheckliste für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (DCL-ADHS) und für Störungen des Sozialverhaltens (DCL-SSV)
Döpfner et al. 2008a
Strukturierte Checkliste für klinisches Urteil; Bestandteil von »Diagnostik-System für Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD10 und DSM-IV« (DISYPS-II)
Fremdbeurteilungsbogen für Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen (FBB-ADHS) und für Störungen des Sozialverhaltens (FBB-SSV)
Döpfner et al. 2008a
Eltern- und Lehrerfragebogen; Bestandteil von DISYPS-II
Selbstbeurteilungsbogen für Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen (SBB-ADHS) und für Störungen des Sozialverhaltens (SBB-SSV)
Döpfner et al. 2008a
Parallelform zur FBB-HKS Bestandteil von DISYPS
Elterninterview über Problemsituationen in der Familie (EI-PF)
Döpfner et al. 2006b, 2007a
Deutsche Fassung des »Parent-Child Interaction Interview«
Elternfragebogen über Problemsituationen in der Familie (EF-PF)
Döpfner et al. 2006b, 2007a
Parallelform zu EKI; deutsche Fassung des »Home Situations Questionnaire«
Checkliste für Eltern über Verhaltensprobleme bei den Hausaufgaben (FVH)
Döpfner et al. 2006b, 2007a
Deutsche Fassung der »Homework Problem Checklist«
vom Patienten selbst (ab 10 Jahren auch über Fragebögen), von den Eltern und den Erziehern/Lehrern. Neben Interviews und Fragebögen können auch Verhaltensbeobachtungen und testpsychologische Verfahren zur Erfassung von kognitiver Impulsivität und von Aufmerksamkeitsstörungen eingesetzt werden. Diese Methoden, von denen man sich eine größere Objektivität als von Interviews oder Fragebogenverfahren verspricht, sind jedoch auch mit spezifischen Problemen behaftet, die sich am besten unter dem Begriff der ökologischen Validität zusammenfassen lassen, also der Frage, ob die Messwerte tatsächlich das widerspiegeln, was unter natürlichen sozialen Bedingungen als auffällig und belastend empfunden wird. Es gibt viele Belege, dass diese Verfahren allenfalls ergänzende Funktionen haben können. Da ein erheblicher Anteil der Kinder und Jugendlichen mit diesem Störungsbild weitere Auffälligkeiten zeigt, empfiehlt es sich im Rahmen einer multimodalen Diagnostik auch Interview- und Fragebogenverfahren anzuwenden, die ein breites Spektrum psychischer Störungen erheben, z. B. der »Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen« (CBCL 4–18, Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998) und davon abgeleitete Instrumente (vgl. Döpfner et al. 2000) oder für das Vorschulalter der »Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder« (VBV 3–6, Döpfner et al. 1993). Eine differenzierte Intelligenz-, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik ist vor allem dann indiziert, wenn Hinweise auf Intelligenzminderungen, Entwicklungsdefizite oder schulische Leistungsprobleme vorliegen. Durch eine genaue Beobachtung des Testverhaltens in dieser Situation können weitere Hinweise
auf die ADHS-Symptomatik gewonnen werden. Mittels familiendiagnostischer Methoden werden zudem Störungen der familiären Beziehungen und andere familiäre Belastungen erhoben, die bei Kindern mit diesem Störungsbild ebenfalls gehäuft auftreten und entweder Teilursache oder Folge der Symptomatik sein können. ! ADHS ist durch das Auftreten spezifischer Symptome im Alltag der Kinder und Jugendlichen definiert, daher ist eine strukturierte Überprüfung dieser Kriterien durch ein klinisches Interview vor allem der Eltern unter Berücksichtigung von Informationen der Lehrer unabdinglich. Neuropsychologische Untersuchungen der Aufmersamkeit oder anderer exekutiver Funktionen können ergänzend hilfreich sein; eine Diagnose ausschließlich auf dieser Basis ist jedoch unzulässig.
27.5
Therapeutisches Vorgehen
27.5.1 Indikationen
Grundsätzlich können die in der folgenden Übersicht dargestellten patienten-, familien- sowie kindergarten- und schulzentrierten psychologischen und pharmakologischen Interventionen bei der Behandlung von hyperkinetischen und/der oppositionellen Verhaltensstörungen eingesetzt werden, die allerdings in unterschiedlichem Maße empirisch bewährt sind.
27
440
Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
Interventionsformen bei hyperkinetischen und oppositionellen Verhaltensstörungen 4 Patientenzentriert – Psychoedukation des Patienten – Spieltraining – Kognitive Therapie – Konzentrations-/Selbstinstruktionstraining – Selbstmanagementtraining – Soziales Kompetenztraining, Ärgerkontrolltraining – Pharmakotherapie – Nahrungsergänzung 4 Eltern- und familienzentriert – Psychoedukation der Eltern – Elterntraining – Eltern-Jugendlichen-Kommunikationstraining 4 Kindergarten-/schulzentriert – Psychoedukation der Erzieher/Lehrer – Intervention in Kindergarten/Schule
27 Aufgrund der vielfältigen Lebens- und Funktionsbereiche, die bei Kindern mit hyperkinetischen und/oder oppositionellen Verhaltensstörungen beeinträchtigt sind, verwundert es nicht, dass mit einem isolierten Behandlungsansatz häufig nicht die gewünschten Effekte erzielt werden, sondern eine multimodale Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (Döpfner 2008) notwendig ist. Entsprechend fordern nationale und internationale Behandlungsleitlinien, die in letzter Zeit publiziert wurden, ein adaptives multimodales Vorgehen unter Einbeziehung verschiedener psychotherapeutischer Interventionen und im Falle von ADHS auch von Pharmakotherapie (American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 2007; Taylor et al. 2004; Döpfner et al. 2007c, 2009; Döpfner u. Petermann 2004). ! Bei der Planung einer multimodalen Behandlung und der Auswahl der Interventionsformen sollte darauf geachtet werden, dass die Therapie dort ansetzt, wo die Probleme auftreten – beim Kind, in der Familie, in der Schule, bei den Aufmerksamkeitsschwächen, der Impulsivität, der Hyperaktivität oder der Aggressivität.
Dieses Prinzip ist deshalb von außerordentlicher Bedeutung, weil eine Generalisierung von Therapieeffekten von einem Lebensbereich auf den anderen oder von einer Störungsform auf die andere bestenfalls unvollständig, häufig aber gar nicht gelingt.
Multimodale Therapie bei Schulkindern . Abb. 27.5 stellt einen Entscheidungsbaum zur Planung einer multimodalen Therapie bei Schulkindern mit externalen Verhaltensstörungen dar (Döpfner et al. 2009). Generell weisen die Ergebnisse empirischer Studien darauf hin,
dass bei externalen Verhaltensstörungen umfeldzentrierte Interventionen, d. h. Therapieverfahren, welche die Eltern, Lehrer und Erzieher einbeziehen, tendenziell wirkungsvoller sind als patientenzentrierte Verfahren. Psychoedukation der Eltern und des Kindes. Die Psychoedukation (Aufklärung und Beratung) der Eltern und auch des Kindes in altersangemessener Form ist Grundlage jeder therapeutischen Intervention. Informationen über das Störungsbild, die Diagnose, die möglichen Ursachen, den vermutlichen Verlauf und über die möglichen Behandlungsansätze werden gegeben. Die Beratung der Eltern bezieht sich auf allgemeine Strategien des Umgangs mit dem Kind und berücksichtigt dabei auch andere Belastungen in der Familie (z. B. Partnerschaftsprobleme). Hierzu können auch schriftliche Materialien eingesetzt werden (Döpfner et al. 2006a, 2007a,b). Medikamentöse Therapie. Eine primäre medikamentöse Therapie ist indiziert, wenn eine stark ausgeprägte und situationsübergreifende hyperkinetische Symptomatik (in der Familie, in der Schule und in der Untersuchungssituation beobachtbar) besteht, die zu einer erheblichen Funktionseinschränkung führt, und wenn keine Kontraindikationen für eine Pharmakotherapie vorliegen. Solche Situationen erfordern eine möglichst rasche Symptomminderung, die durch Pharmakotherapie am ehesten erreicht werden kann. Verhaltenstherapeutische Interventionen. Erfolge verhal-
tenstherapeutischer Interventionen erfordern Ressourcen bei den Beteiligten, sind mit einer größeren Zeitverzögerung verbunden und bei massiven Störungen meist schwerer zu erzielen. Bei der Mehrzahl der Patienten mit hyperkinetischen Störungen liegt jedoch keine derart massive Symptomatik vor. Treten in solchen Fällen oder nach einer initialen Pharmakotherapie, unter der behandlungsbedürftige Symptome persistieren, ADHS-Symptome oder oppositionelle/aggressive (externale) Verhaltensstörungen im Unterricht auf, dann sind verhaltenstherapeutische Interventionen in der Schule gegebenenfalls einschließlich kognitiver Therapie des Patienten indiziert, die Psychoedukation, Interventionen im Unterricht und kognitive Interventionen beim Patienten umfassen können. Kognitive Interventionen in Form eines Konzentrations- und Selbstinstruktionstrainings sind in solchen Fällen dann indiziert, wenn ausgeprägte Aufmerksamkeitsstörungen und Impulsivität auch unter optimalen Arbeitsbedingungen in der Untersuchungssituation zu beobachten sind. Da jedoch prinzipiell nicht von vornherein erwartet werden kann, dass sich die meisten Auffälligkeiten im realen Umfeld durch ein Selbstinstruktionstraining vermindern lassen, ist es grundsätzlich sinnvoll, parallel Interventionen in der Schule durchzuführen und nicht den Effekt eines isolierten Selbstinstruktionstrainings abzuwarten. Sind bei optimalen Arbeitsbedingungen und entsprechenden motivationalen Anreizen in
441 27.5 · Therapeutisches Vorgehen
. Abb. 27.5. Entscheidungsbaum zur Planung einer multimodalen Therapie bei Schulkindern mit externalisieren Verhaltensstörungen. (Mod. nach Döpfner et al. 2009)
der Untersuchungssituation keine ausgeprägten hyperkinetischen Symptome beobachtbar (was bei älteren Kinder eher die Regel ist), dann verfügt das Kind prinzipiell über entsprechende Selbststeuerungsfähigkeiten, ein Selbstinstruktionstraining ist daher auch nicht indiziert. In diesem Fall sind ausschließlich Interventionen angezeigt, die unmittelbar in dem Lebensbereich ansetzen, in dem die Probleme auftreten.
Für die Anwendung sozialer Kompetenztrainings gelten prinzipiell analoge Überlegungen: Sie machen dann Sinn, wenn beim Patienten ein soziales Kompetenzdefizit vorliegt und es ihm prinzipiell nicht gelingt, auf andere als auf oppositionelle Weise ein Problem zu lösen. Hat er eine entsprechende soziale Kompetenz, was im Rahmen von Rollenspielen überprüft werden kann, dann ist es auch nicht sinnvoll, ein soziales Kompetenztraining einzufüh-
27
442
Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
ren. Manche Patienten haben jedoch ein Problem mit der Ärgerkontrolle, d. h. sie verfügen zwar prinzipiell über entsprechende Problemlösekompetenzen, aber es gelingt ihnen in den konkreten Situationen nicht, ihren aufkommenden Ärger zu kontrollieren. In solchen Fällen sind Interventionen zu Ärgerkontrolle im Rahmen von Selbstmanagementverfahren ergänzend indiziert (vgl. Döpfner u. Petermann 2004). Solche Methoden des Selbstmanagements sind prinzipiell bei älteren Kindern und Jugendlichen indiziert, z. B. auch dann, wenn ausschließlich hyperkinetische Symptome vorliegen. Diese Methoden helfen dem Patienten, eigene Ziele zu formulieren und schrittweise entsprechende Interventionen im Alltag umzusetzen. Sind die verhaltenstherapeutischen Interventionen nicht oder nicht hinreichend erfolgreich und liegt weiterhin eine erhebliche hyperkinetische Symptomatik vor, dann wird alternativ oder ergänzend medikamentös behandelt (. Abb. 27.5).
27
! Umfeldzentrierte Interventionen (Elterntraining, Interventionen im Unterricht) sind die verhaltenstherapeutischen Methoden der ersten Wahl; kindzentrierte Interventionen können ergänzend hilfreich sein, sollten aber nicht als einzige Maßnahme durchgeführt werden. Bei Jugendlichen gewinnen patientenzentrierte Interventionen an Bedeutung. Elterntrainings mit Interventionen in der Familie. Liegen
hyperkinetische oder oppositionell-aggressive (externale) Auffälligkeiten des Kindes in der Familie vor, dann sind Elterntrainings mit Interventionen in der Familie indiziert, die durch kognitive Interventionen beim Patienten (Selbstinstruktion und Selbstmanagement) oder durch soziale Kompetenztrainings ergänzt werden können. Bei den Kompetenztrainings ist es meist hilfreich, die Eltern in das Training zu integrieren, da oppositionelles Verhalten auch durch ungünstiges Elternverhalten ausgelöst und aufrechterhalten werden kann. Bei Jugendlichen eignen sich spezielle Kommunikationstrainings, die gemeinsam mit dem Jugendlichen und den Eltern durchgeführt werden. Zeigt das Kind nach den genannten Interventionen auch weiterhin eine ausgeprägte hyperkinetische Symptomatik in der Familie, dann kann die Kombination mit Pharmakotherapie indiziert sein. Die Pharmakotherapie wird dann so angelegt, dass Effekte auch in den Familiensituationen (meist am Nachmittag) eintreten können. Parallele Interventionen in Familie und Schule. Bei Kin-
dern, die sowohl in der Familie als auch in der Schule behandlungsbedürftige Auffälligkeiten zeigen, sollten Interventionen in der Familie und in der Schule parallel durchgeführt werden, da Generalisierungen von einem Lebensbereich auf den anderen nicht von vornherein erwartet werden können. Schließlich können, wie . Abb. 27.5 zeigt, weitere Interventionen indiziert sein, wenn komorbide Störungen weiterhin persistieren.
Multimodale Therapie bei Vorschulkindern Die multimodale Behandlung von Kindern im Vorschulalter unterscheidet sich von den Interventionen im Schulalter erstens in der Indikation für Pharmakotherapie. Die Behandlungsrichtlinien empfehlen bei hyperkinetischen Vorschulkindern in erster Linie Elterntraining, flankierende Maßnahmen und Platzierung in speziellen Vorschuleinrichtungen. Eine medikamentöse Therapie sollte erst erwogen werden, wenn diese Interventionen nicht ausreichen. Zudem können bestimmte Interventionen im Vorschulalter aufgrund des Entwicklungsstandes der Kinder nicht durchgeführt werden. Dies gilt vor allem für das Selbstinstruktionstraining. Sind ausgeprägte motorische Unruhe, Aufmerksamkeitsstörungen und Impulsivität auch in Spielsituationen mit dem Therapeuten zu beobachten, dann ist ein Spieltraining angezeigt, das darauf abzielt, intensiveres und ausdauerndes Spielverhalten aufzubauen. Am wichtigsten erscheinen jedoch verhaltenstherapeutische Interventionen in der Familie bzw. im Kindergarten. Sind diese Maßnahmen nicht hinreichend erfolgreich, dann kann bei hyperkinetischer Symptomatik die Kombination mit einer Pharmakotherapie indiziert sein.
27.5.2 Medikamentöse Therapie
In der Pharmakotherapie hyperkinetischer Störungen haben sich vor allem zwei Wirkstoffgruppen als wirkungsvoll erwiesen: 4 Psychostimulanzien (vor allem Methylphenidat und Amphetamin), die hauptsächlich die Dopamin-Wiederaufnahme hemmen, und 4 Atomoxetin, das primär die Noradenalin-Wiederaufnahme hemmt. Am häufigsten wird mit Methylphenidat behandelt. Die Effekte sind 30–45 Minuten nach Einnahme beobachtbar und bleiben 2–4 Stunden auf maximalem Niveau. Nach 3– 7 Stunden ist eine deutliche Verminderung der Effekte zu beobachten. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit eignet sich die Behandlung vor allem dazu, Symptome während der Unterrichtszeit zu verringern. Bei ausgeprägter hyperkinetischer Symptomatik in der Familie am Nachmittag kann eine erneute Einnahme um die Mittagszeit oder die Einnahme von Retard-Präparaten notwendig sein (vgl. American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 2007; Banaschewski et al. 2006, Döpfner et al. 2007c).
27.5.3 Verhaltenstherapeutische Interventionen
Verhaltenstherapeutische Interventionen lassen sich danach unterscheiden, wer bzw. welcher Bereich im Mittelpunkt der Intervention steht (s. Übersicht unter 7 27.5.1): der Patient, Eltern/Familie oder Kindergarten/Schule.
443 27.5 · Therapeutisches Vorgehen
Interventionen in der Familie und im Kindergarten oder in der Schule Interventionen in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule zielen im Wesentlichen darauf ab, dysfunktionale Interaktionsmuster zwischen den Bezugspersonen und dem Kind zu vermindern und günstige Interaktionen und Erziehungsverhaltensweisen aufzubauen, um so die hyperkinetische oder oppositionelle Symptomatik sowie komorbide Symptome abzubauen. Dabei werden im Wesentlichen vier Strategien eingesetzt: 4 der Aufbau positiver Erzieher-/Lehrer-/Eltern-KindInteraktionen; 4 Strukturierung der kritischen Situation; 4 die Anwendung positiver Verstärkung, um umschriebene Verhaltensprobleme zu vermindern; 4 der geplante Einsatz von negativen Konsequenzen, wenn positive Verstärkung nicht hinreichend erfolgreich ist. THOP. Das »Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten« (THOP; Döpfner et al. 2007a) ist ein multimodales Interventionsprogramm, in dem verhaltenstherapeutische Interventionen in der Familie, im Kindergarten bzw. in der Schule und beim Kind selbst mit medikamentösen Interventionen entsprechend der individuellen Problemkonstellation miteinander kombiniert werden können. Außerdem integriert das Programm auch patientenzentrierte Interventionen. Es kann zur Behandlung von Kindern im Alter von 3 bis etwa 12 Jahren eingesetzt werden. Das Programm wurde im Rahmen der Kölner Multimodalen Therapiestudie bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen entwickelt (Döpfner et al. 2004), es ist auch bei Kindern mit ausschließlich oppositionellen Verhaltensstörungen einsetzbar. THOP besteht aus zwei Teilprogrammen: 4 dem Eltern-Kind-Programm, das auf die Verminderung von hyperkinetischen und oppositionellen Verhaltensstörungen in der Familie abzielt und das Eltern und Kind anleitet, Problemsituationen in der Familie zu bewältigen; 4 den Interventionen im Kindergarten bzw. in der Schule, die hyperkinetische und oppositionelle Verhaltensstörungen in diesen Lebensbereichen vermindern sollen.
Das Eltern-Kind-Programm besteht aus 21 Behandlungsbausteinen, in denen zwei Interventionsformen miteinander verknüpft sind: die familienzentrierten und die kindzentrierten Interventionen. Die kind- und die familienzentrierten Interventionen eines jeden Therapiebausteins sind aufeinander bezogen und werden miteinander kombiniert. Bei den familienzentrierten Interventionen steht die Arbeit mit den Eltern im Mittelpunkt; das Kind wird je nach Behandlungsbaustein, Problematik und Alter unterschiedlich stark integriert. Bei den kindzentrierten Interventionen des
Eltern-Kind-Programms steht die therapeutische Arbeit mit dem Kind im Mittelpunkt, die Eltern werden jedoch auch hier integriert. Die kindzentrierten Interventionen werden nicht unabhängig von den familienzentrierten Interventionen durchgeführt. Die 21 Therapiebausteine des Eltern-Kind-Programms sind in sechs Themenkomplexen gruppiert, die der folgenden Übersicht entnommen werden können.
Bausteine des Therapieprogrammes für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) 4 Problemdefinition, Entwicklung eines Störungskonzeptes und Behandlungsplanung – Definition der Verhaltensprobleme des Kindes – Erarbeitung der Elemente eines gemeinsamen Störungskonzeptes – Entwicklung eines gemeinsamen Störungskonzeptes – Behandlungsziele und Behandlungsplanung 4 Förderung positiver Eltern-Kind-Interaktionen und Eltern-Kind-Beziehungen – Fokussierung der Aufmerksamkeit auf positive Erlebnisse mit dem Kind – Aufbau positiver Spielinteraktionen 4 Pädagogisch-therapeutische Interventionen zur Verminderung von impulsivem und oppositionellem Verhalten – Entwicklung effektiver Aufforderungen – Soziale Verstärkung bei Beachtung von Aufforderungen – Soziale Verstärkung bei nicht störendem Verhalten – Aufbau wirkungsvoller Kontrolle – Natürliche negative Konsequenzen 4 Tokensysteme, Response-Cost und Auszeit – Aufbau von Token-Systemen – Anpassung von Token-Systemen – Verstärkerentzugssysteme (Wettkampf um lachende Gesichter) – Auszeit 4 Interventionen bei spezifischen Verhaltensproblemem – Spieltraining – Selbstinstruktionstraining – Selbstmanagement – Bewältigung von Verhaltensproblemen bei den Hausaufgaben – Bewältigung von Verhaltensproblemen in der Öffentlichkeit 4 Stabilisierung der Effekte – Selbstständige Bewältigung von zukünftigen Verhaltensproblemen
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Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
Selbsthilfe- und Präventionsprogramme. Selbsthilfe- und Präventionsprogramme wurden auf der Grundlage von THOP entwickelt. In einem Selbsthilfebuch (Wackelpeter & Trotzkopf) werden Bezugspersonen die wichtigsten Informationen zum Störungsbild vermittelt und konkrete Anleitungen zur Umsetzung von Interventionen in der Familie gegeben (Döpfner et al. 2006a). Das »Präventionsprogramm für Expansives Problemverhalten« (PEP, Plück et al. 2006) zielt auf die Prävention von externalen Verhaltensauffälligkeiten vor allem im Kindergartenalter ab, kann aber auch bei Schulkindern eingesetzt werden. PEP besteht aus einem Eltern- und einem Erzieherprogramm, das in getrennten Eltern- und Erziehergruppen durchgeführt wird und bis zu 11 Sitzungen von jeweils etwa zweistündiger Dauer umfasst. Es vermittelt Eltern und Erzieherinnen konkrete Erziehungsstrategien und implementiert positive Interaktionen mit dem Kind im Alltag.
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SELBST-Familienprobleme. Für die Bearbeitung von Eltern-Jugendlichen-Konflikten wurde im Rahmen des »Therapieprogramms für Jugendliche mit Selbstwert-, Leistungs- und Beziehungsstörungen« (SELBST, Walter et al. 2007) das Modul »SELBST-Familienprobleme« entwickelt. In diesem Modul werden Beziehungsstörungen zwischen dem Jugendlichen und weiteren Familienmitgliedern aufgegriffen, die sich zumeist als chronifizierte Streitigkeiten und Konflikte oder partielle Kontaktabbrüche äußern können. Folgende Bausteine kommen dabei zum Einsatz: 4 Thematisierung und Modifikation dysfunktionaler Familienkonstellationen (z. B. diffuse Generationengrenzen, Bildung von starren Koalitionen, Parentifizierung); 4 Stärkung positiver Beziehungselemente; 4 Korrektur dysfunktionaler Grundannahmen bei Eltern und beim Jugendlichen; 4 Familien-Problemlösetraining; 4 Kommunikationstraining.
Patientenzentrierte verhaltenstherapeutische Interventionen Zu den patientenzentrierten verhaltenstherapeutischen Interventionen zählen verschiedene Verfahren (s. Übersicht unter 7 27.5.1).
Konzentrations- und Selbstinstruktionstraining. Diese
Trainings zielen auf die Stärkung der Selbstregulationsfähigkeiten und der reflexiven Problemlösestrategien des Patienten, um ihn dadurch zu einer besseren Verhaltenssteuerung zu befähigen. Die Therapie soll dem Patienten helfen, seine Aufmerksamkeit anhaltender zu zentrieren, seine Impulse besser zu kontrollieren und Handlungspläne zu entwickeln, um dadurch Aufgaben besser lösen zu können. Die einzelnen Problemlöseschritte werden durch Signalkarten verdeutlicht. Das Aufmerksamkeitstraining von Lauth und Schlottke (2002, vgl. auch 7 Kap. III/26) ist das in Deutschland am weitesten verbreitete Programm dieser Art. Ein Selbstinstruktionstraining ist aber auch Bestandteil des Therapieprogramms THOP. Spieltraining. Kognitive Interventionsformen, wie Selbstinstruktionstraining und Selbstmanagement, sind im Vorschulalter aufgrund der noch nicht ausreichend entwickelten kognitiven Selbstkontrollfähigkeit kaum anwendbar. Das Spieltraining, das Bestandteil des Therapieprogrammes THOP ist, zielt auf die Steigerung von Spiel- und Beschäftigungsintensität und Ausdauer bei hyperkinetisch auffälligen Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren. Soziale Kompetenztrainings. Sie dienen dem Aufbau von kompetentem Sozialverhalten bei der Aufnahme und Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten und bei der Lösung sozialer Konflikte. Sie können sich auch auf oppositionelles Verhalten gegenüber Erwachsenen beziehen, sind aber vor allem zur Verminderung von gleichaltrigenbezogener Aggression geeignet. Das »Training mit aggressiven Kindern« (Petermann u. Petermann 2001) ist ein umfassendes Programmpaket für Kinder im Alter von 8 bis 13 Jahren, das Techniken des Problemlösetrainings, der Impulskontrolle und des sozialen Kompetenztrainings miteinander verbindet und vielfältige Arbeitsmaterialien zur Verfügung stellt. Der kindertherapeutische Zugang umfasst 8 Einzel- und mindestens 6–10 Gruppensitzungen. Von entscheidender Bedeutung für die Wirksamkeit solcher sozialer Kompetenztrainings ist, dass die Konfliktsituationen aus dem konkreten Alltag des Kindes übernommen und nicht nur standardisierte Konfliktkonstellationen eingeübt werden. Darauf konzentriert sich das neu entwickelte »Therapieprogramm für Kinder mit aggressivem Verhalten« (THAV; Görtz-Dorten u. Döpfner 2008c).
Psychoedukation und Motivation. Kinder mit externalen
Verhaltensstörungen leiden zwar in der Regel unter ihren Verhaltensproblemen, sie können diesen Leidensdruck jedoch häufig nicht in eine Behandlungsmotivation umsetzen. Motivationsstrategien stehen daher am Anfang jeder kindzentrierten Intervention. Neben einem Beziehungsaufbau unter Einsatz von spielerischen Mitteln sind auch gezielte Informationen und kognitive Interventionen hilfreich. Dazu können beispielsweise Therapiegeschichten aus dem Therapieprogramm THOP herangezogen werden.
Selbstmanagementmethoden. Methoden des Selbstmanagements leiten Kindern und vor allem Jugendliche an, in ihrer natürlichen Umgebung (in der Schule, in der Familie) auf die eigenen Verhaltensprobleme zu achten, sie zu registrieren, sich Teilziele zu setzen, angemessene Verhaltensweisen zu entwickeln und sich für eine erfolgreiche Situationsbewältigung selbst positiv zu verstärken. Das von Walter und Mitarbeitern (Walter et al. 2007; Walter u. Döpfner 2008) entwickelte »Therapieprogramm für Jugendliche
445 27.6 · Fallbeispiel
mit Selbstwert-, Leistungs- und Beziehungsstörungen« (SELBST) greift den Selbstmanagementansatz auf und ist auch für Jugendliche mit hyperkinetischen Störungen anwendbar. Im Modul zu Leistungsstörungen (Walter u. Döpfner 2008) werden dysfunktionale leistungsbezogene Kognitionen und die sich daraus entwickelnde unzureichende Anstrengungsbereitschaft bearbeitet, dem Jugendlichen werden planerische Fertigkeiten und Lernstrategien zur Verminderung von Problemen bei der Lernorganisation und dem Lernverhalten vermittelt. Zudem werden Interventionen zur Modifikation mangelnder schulischer Mitarbeit und von Störverhalten im Unterricht sowie Interventionen zur Verminderung fachbezogener Wissenslücken durchgeführt.
27.6
Fallbeispiel
Symptomatik und Entwicklungsgeschichte Der 9-jährige Tim wird von seiner Mutter vorgestellt, weil er in der Schule und in der Familie ausgeprägt motorisch unruhig, leicht ablenkbar und unkonzentriert sei. Aufgrund seines Unvermögens, bei der Sache zu bleiben, bleibe Tim in der Schule weit unter seinem Leistungsniveau, das meine auch die Lehrerin. Zu Haus falle es ihm neben Zappeligkeit und Impulsivität schwer, Regeln und Anweisungen zu akzeptieren, die er mit Verhaltensweisen wie Nörgeln, Trödeln und tränenreichen Wutausbrüchen zu umgehen versuche. Am schlimmsten seien die Hausaufgaben, aber auch viele andere familiäre Situationen seien durch Tims ständige Unruhe und Impulsivität belastet. In Gleichaltrigengruppen befinde er sich außerdem stets in einer Außenseiterposition. Tim lebt als einziges Kind mit seiner 34-jährigen Mutter und seit einigen Monaten mit deren neuem Lebensgefährten zusammen. Schwangerschaft, Geburt und frühkindliche Entwicklung werden als unauffällig beschrieben. Bereits im Kleinkindalter sei Tim durch extreme Unruhe und Trotzverhalten aufgefallen. Die Mutter trennte sich von Tims leiblichem Vater, als Tim 2 Jahre alt war. Im Abstand von 2–3 Wochen besucht Tim seinen leiblichen Vater. Mutter und Lebensgefährte befinden sich zum Zeitpunkt der Vorstellung in einer ganztägigen beruflichen Umschulungsmaßnahme.
Diagnose In einer ausführlichen klinischen Exploration von Tims Mutter konnte anhand von Diagnose-Checklisten (DCL; Döpfner et al. 2008a) festgestellt werden, dass bei Tim die Kriterien für eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens erfüllt waren. Mit der Klassenlehrerin wurde telefonisch ein klinisches Interview durchgeführt. Auf der Basis dieser Exploration ließ sich anhand der Diagnose-Checklisten die Diagnose einer hyperkinetischen Störung bestätigen; das oppositionelle Verhalten war in der Schule jedoch deutlich geringer ausgeprägt. Tim habe vor allem große
Probleme in Deutsch (Rechtschreibung), aber auch in den anderen Fächern seien seine Leistungen eher unterdurchschnittlich, wobei die Lehrerin meint, dass er mehr leisten könne. Auch in der Untersuchungssituation ließ sich motorische Unruhe, impulsives Verhalten sowie eine leicht gestörte Aufmerksamkeit feststellen. In den Fremdbeurteilungsbögen für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (FBB-ADHS) und für Störungen des Sozialverhaltens (FBB-SSV) aus dem Diagnostiksystem DISYPS-II (Döpfner et al. 2008a) wird Tim von der Mutter als ausgeprägt hyperaktiv-impulsiv sowie unaufmerksam und stark oppositionell beschrieben; die Lehrerin beschreibt auf diesen Fragebögen ebenfalls eine sehr stark ausgeprägte Überaktivität-Impulsivität sowie Unaufmerksamkeit und eine geringer ausgeprägte oppositionelle Verhaltenstendenz. Im Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (CBCL 4–18; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998) beschreibt die Mutter auf den Skalen »Soziale Probleme«, »Aufmerksamkeitsstörungen« und »Aggressives Verhalten« überdurchschnittliche Auffälligkeiten. Im analog aufgebauten Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1988) beschreibt die Lehrerin eine hohe Ablenkbarkeit und eine ausgeprägte motorische Unruhe sowie ausgeprägte Probleme, von Klassenkameraden akzeptiert zu werden (Skala »Soziale Probleme«). Tims Probleme, Aufforderungen, Anweisungen oder Regeln im familiären Rahmen zu befolgen, werden im Elternfragebogen über Problemsituationen in der Familie (EF-PF; Döpfner et al. 2007a) überdeutlich. Tims Mutter erlebt nur eine von 16 erfragten Situationen als nicht problematisch. Im Rahmen der psychologischen Leistungsdiagnostik erreichte Tim im Grundintelligenztest (CFT 1) eine durchschnittliche Intelligenzleistung. Als unterdurchschnittlich kennzeichneten sich seine Leistungen im »Diagnostischen Rechtschreibtest« (DRT 3).
Therapie Die Behandlung wurde nach dem Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP; Döpfner et al. 2007a) durchgeführt. Nach einer allgemeinen Beratung und Aufklärung der Mutter, der Lehrerin und von Tim selbst wurden zunächst Interventionen zur Förderung einer positiven Eltern-KindInteraktion eingeführt. Da Tim teils noch eifersüchtig auf den neuen Partner der Mutter reagierte, wurde eine Spaßund Spielzeit (Baustein F06) ausschließlich zwischen Mutter und Tim vereinbart. Die Spaß- und Spielzeit beinhaltete Spiele, auf die sich Mutter und Tim zuvor geeinigt hatten, wurde an drei Wochentagen jeweils 20 Minuten lang durchgeführt und auf einem Wochenplan eingetragen. Die Durchführung der Spielzeit brachte es mit sich, dass einerseits Tims Motivation bezüglich der Veränderung problematischer Verhaltensweisen in der Familie stieg. Anderer-
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Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
seits zeigte sich auch die Mutter durch die Intervention entlastet, da sie sich bisher immer vorgeworfen hatte, sich nicht genug um ihren Sohn zu kümmern. Im zweiten Schritt wurde vor allem mit der Mutter und deren Partner erarbeitet, wie wirkungsvolle Aufforderungen (Baustein F07 und F08) gestellt werden können. In Gesprächen wurden die unterschiedlichen Erziehungsstile der erwachsenen Bezugspersonen herausgestellt und auf konkrete Situationen bezogen. Immer wieder wurden in diesem Zusammenhang die starken Schuldgefühle der Mutter (»Ich habe zu wenig Zeit für mein Kind, kümmere mich nicht ausreichend«) thematisiert, die zu einer inkonsequenten Haltung gegenüber Tim und teils zu einer unzureichenden Abgrenzung ihrer eigenen Bedürfnisse führten. Die Eltern wurden angeleitet, Aufforderungen so zu stellen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Befolgung durch Tim ansteigt. Da Tim zudem noch explizit gelobt wurde, wenn er einer Aufforderung spontan nachkam, reduzierte sich in der Eltern-Kind-Interaktion das belastende Erleben von ständigen Ermahnungen und Frustrationen, auch wenn die Problematik sich nicht vollständig auflöste. Im nächsten Schritt wurden systematische positive Konsequenzen für angemessenes Verhalten und negative Konsequenzen für problematisches Verhalten entwickelt. Da sich durch diese pädagogisch-therapeutischen Interventionen die Verhaltensprobleme von Tim in der Familie zwar verminderten, aber nicht völlig abbauen ließen, wurde ein Token-System entwickelt. Tim erhielt täglich für angemessenes Verhalten in den definierten Situationen (zunächst morgens zügig anziehen, später: abends nach dem Hort restliche Hausaufgaben zügig beginnen und dabei bleiben) Punkte, die gegen vorher definierte Belohnungen, in diesem Fall gemeinsame Freizeitaktivitäten, eingetauscht wurden. Die verhaltenstherapeutischen Interventionen in der Schule wurden zeitlich etwas verschoben aufgegriffen. Da Tim bereits in der Familie Erfahrungen mit einem Belohnungssystem gesammelt hatte und hoch motiviert war, Punkte zu bekommen, wurde dieses Vorgehen auch für die Schule gewählt. Im Sinne einer Sensibilisierung des Kindes für die zu bearbeitenden Bereiche hatte Tim zuerst 2 Wochen lang Gelegenheit, seine Verhaltensprobleme, wie sie von der Lehrerin definiert wurden, selbst zu beobachten und einzuschätzen. Danach wurde die Punktevergabe an die Einschätzung der Lehrerin gekoppelt. Tim erhielt Punkte, wenn er alle erforderlichen Materialien für den jeweiligen Unterricht rechtzeitig auf dem Tisch hatte und wenn es ihm gelang, in zunehmend erweiterter Stundenzahl aktiv am Unterricht teilzunehmen. In Einzelstunden wurde mit Tim im Sinne eines Selbstmanagements erarbeitet, was »besser aufpassen« im Einzelnen bedeutet. Da er positiv für eine aktive Teilnahme am Unterricht verstärkt wurde, bemühte er sich stark, bei der Sache zu bleiben und konnte seine geistige Abwesenheit und Verträumtheit erheblich vermindern. Da die Rechtschreibprobleme persistierten, wurde ein Lese-Rechtschreib-Training empfohlen.
Abschluss der Therapie Anhand der Eltern- und der Lehrerbeurteilungen auf standardisierten Fragebögen konnte eine deutliche Verminderung der hyperkinetischen und der oppositionellen Symptomatik beobachtet werden. Nach Beendigung der insgesamt 24-wöchigen Intensivphase mit einem wöchentlichen Kontakt wurde die Therapie in einem zunächst 14-tägigen, später monatlichen Rhythmus weitergeführt. Beim zweiten Nachuntersuchungszeitpunkt, ein Jahr nach Beendigung der Intensivphase wird Tim von seinem Lehrer auf der mittlerweile weiterführenden Realschule als weitgehend unauffällig beurteilt. Als teilweise persistierend zeigt sich im Elternurteil das oppositionelle Trotzverhalten des Kindes, welches mit Tims Eintritt in die Pubertät in großen zeitlichen Abständen noch Beratungstermine notwendig machte.
27.7
Empirische Belege
27.7.1 Umfeldzentrierte Interventionen
Hyperkinetische Störungen Mittlerweile liegt eine Vielzahl von Studien zur Wirksamkeit von eltern- und familienzentrierten sowie kindergarten- und schulzentrierten Interventionen bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen vor, die von Pelham und Fabiano (2008) zusammengefasst wurde. Sowohl Elterntrainings als auch Interventionen im Kindergarten und in der Schule können mittlerweile als gut etablierte Verfahren bewertet werden und zeigen deutliche Effekte. So konnten in der bislang größten Therapiestudie bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen, der »Multimodal Treatment Study of ADHD« (MTA) im Verlauf der verhaltenstherapeutischen familien-, schul- und patientenzentrierten Interventionen erhebliche Veränderungen sowohl der hyperkinetischen Symptomatik als auch der komorbiden Symptome nachgewiesen werden (MTA Cooperative Group, 1999; Conners et al. 2001, 7 Kap. III/49). Das Therapieprogramm THOP wurde im deutschen Sprachraum in mehreren Studien auch von unabhängigen Forschergruppen intensiv untersucht. Die Ergebnisse fassten Döpfner und Mitarbeiter (2007a) zusammen. Danach konnten im Rahmen eine Studie zur adaptiven multimodalen Therapie von Kindern mit hyperkinetischen Störungen im Verlaufe der verhaltenstherapeutischen Interventionen nach dem Therapieprogramm THOP Verhaltensauffälligkeiten in der Familie und in der Schule deutlich reduziert werden. 50–60% der Kinder, die ausschließlich mit dem Therapieprogramm THOP behandelt wurden und bei denen keine medikamentöse Behandlung durchgeführt wurde, zeigten nach dem Urteil der Eltern bei Behandlungsende nur noch geringe Auffälligkeiten; im Urteil der Lehrer lag diese Normalisierungsrate bei 35–40%. 28% der Kinder, die initial mit Verhaltenstherapie behandelt wurden, mussten aufgrund klinischer Kriterien ergänzend mit Stimulan-
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zien behandelt werden. In dieser Gruppe der kombiniert behandelten Kinder zeigten sich noch deutlich stärkere Effekte (Döpfner et al. 2004). Durch das Elterntraining in Verbindung mit dem Selbstinstruktions- und Selbstmanagementtraining im THOP lassen sich die Verhaltensauffälligkeiten in der Familie (vor allem Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen) gegenüber der ersten Behandlungsphase (Selbstinstruktion plus Selbstmanagement) noch einmal deutlich vermindern (Froelich et al. 2002). Weitere Studien, in denen das Elterntraining von THOP im Gruppenformat durchgeführt wurde, zeigen ebenfalls deutliche Effekte (vgl. Döpfner et al. 2007a). Kierfeld und Döpfner (2006) untersuchten Veränderungen der Symptomatik bei Kindern mit expansiven Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen einer Eltern-Selbsthilfe-Intervention mit dem Elternbuch Wackelpeter & Trotzkopf (Döpfner et al. 2006a) und konnten deutliche Veränderungen belegen. Diese Effekte konnten in einer randomisierten Kontrollgruppenstudie bestätigt werden (Kierfeld et al. 2008). Die Wirksamkeit des Präventionsprogramms PEP wurde in mehreren kontrollierten Studien belegt (Hanisch et al. 2006).
Oppositionelles Trotzverhalten Die empirischen Befunde zur Wirksamkeit von Elterntrainings bei oppositionell aggressiven Kindern wurden in Übersichtsarbeiten und Metaanalysen zusammengefasst (McCart et al. 2006; Döpfner et al. 2007). In einer Metaanalyse konnten McCart et al. (2006) zeigen, dass Elterntrainings bei Kindergarten- und Vorschulkindern sozialen Kompetenztrainings überlegen sind. Kazdin (2005) kommt in seiner Übersicht über die Wirksamkeit von Elterntrainings bei diesem Störungsbild zu der Schlussfolgerung, dass 4 durch Elterntrainings erhebliche Verbesserungen bis hin zu einer Normalisierung des Verhaltens der Kinder erzielt werden können; 4 eine Stabilisierung der Behandlungseffekte über einen Zeitraum von bis zu 2 Jahren belegt ist und auch schon Stabilisierungen bis zu 14 Jahren nach Therapieende berichtet wurden (Long et al. 1994); 4 die Behandlungseffekte sich steigern lassen, wenn weitere Familienprobleme, beispielsweise Eheprobleme bearbeitet werden; 4 sich die Effekte des Elterntrainings durch ein zusätzliches soziales Kompetenztraining des Kindes verbessern lassen (Kazdin 2003).
27.7.2 Patientenzentrierte Interventionen
Die Wirksamkeit von Konzentrations- und Selbstinstruktionstrainings bei hyperkinetischen Störungen konnte in internationalen Studien nicht überzeugend nachgewiesen werden (vgl. Abikoff 1987; Pelham u. Fabiano 2008), deshalb werden diese Verfahren auch nicht in den internationalen Leitlinien als Behandlungsoption empfohlen. Im
deutschen Sprachraum konnten teilweise positive Ergebnisse nachgewiesen werden (Lauth et al. 1996, 2005). Lauth et al. (2005) verglichen die Effekte eines Aufmerksamkeitstrainings mit den Effekten von THOP und einer Kombinationsbehandlung aus beiden Ansätzen und konnten keine differenziellen Effekte dieser Ansätze finden. Dreisörner (2006) verglich ebenfalls das Aufmerksamkeitstraining mit dem THOP-Programm unter Routineanwendungsbedingungen und konnte nur geringe Effekte beim Aufmerksamkeitstraining und stärkere Effekte beim THOP-Programm belegen. Die Wirksamkeit einzelner Behandlungskomponenten des Spieltrainings wurde in einem einzelfallanalytischen Vorgehen belegt (Döpfner u. Sattel 1992). Insgesamt wurden relativ wenige Untersuchungen zur Wirksamkeit von Selbstmanagementmethoden durchgeführt. Froelich und Mitarbeiter (2002) konnten bei Kindern durch Selbstmanagement in Verbindung mit Selbstinstruktion im Rahmen des THOP-Programms die hyperkinetische und oppositionelle Symptomatik sowohl im Urteil der Eltern als auch der Lehrer im Vergleich zur Wartezeit verringern. Die Wirksamkeit des Moduls Leistungsprobleme aus dem »Therapieprogramm für Jugendliche mit Selbstwert-, Leistungs- und Beziehungsstörungen« (SELBST) wurde anhand einer Einzelfallstudie bei einem Jugendlichen mit hyperkinetischer Störung illustriert (Walter u. Döpfner 2007) und in einem Eigenkontrollgruppen-Design bei zehn Jugendlichen (davon sechs mit der Diagnose hyperkinetische Störung) belegt (Walter u. Döpfner 2006).
27.7.3 Pharmakotherapie und kombinierte
Pharmako- und Psychotherapie Die Wirksamkeit der Stimulanzientherapie bei hyperkinetischen Störungen ist von allen Therapieformen am besten belegt (vgl. Banaschewski et al. 2006; Faraone et al. 2006; Döpfner et al. 2009). Der Anteil der Kinder über 5 Jahre, die auf die Behandlung positiv ansprechen (Responder), liegt bei etwa 70%. Diesem eindeutigen empirischen Nachweis über die Kurzzeitwirksamkeit von Methylphenidat steht eine geringe Anzahl von Untersuchungen über Langzeiteffekte gegenüber, die eine bessere Prognose von ausschließlich mit Psychostimulanzien behandelten Kindern überwiegend nicht nachweisen konnten, dies wurde zuletzt in der MTA-Studie belegt (Jensen et al. 2007) und ist auch Ergebnis der Langzeitanalysen der Kölner Multimodalen Therapie-Studie (KAMT, Döpfner et al. 2008b,c). Die Wirksamkeit kombinierter Verhaltens- und Pharmakotherapie wurde in mehreren Studien überprüft, weil die unterschiedlichen therapeutischen Ansatzpunkte von Pharmako- und Verhaltenstherapie zur Erwartung geführt haben, dass jede dieser Behandlungsmodalitäten etwas zu bieten habe, das die Wirksamkeit der anderen Therapieform verbessere. Die Mehrzahl der Studien, die eine Kombination von Stimulanzientherapie mit Interventionen in der Fa-
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Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
milie und in der Schule untersuchten, weist insgesamt auf eine gegenüber einer ausschließlichen Stimulanzientherapie geringfügig erhöhten Wirksamkeit multimodaler Interventionen hin (Döpfner et al. 2009, 7 Kap. III/49). Die Ergebnisse der 36-Monate-Nachuntersuchung (Jensen et al. 2007; Swanson et al. 2007) zeigen generell eine Stabilisierung der Therapieeffekte, wobei die bei der Prüfung der Kurzzeiteffekte gefundenen Unterschiede zwischen den Gruppen zunehmend verschwinden. Unterteilt man die Kinder in eine Gruppe, die zum Nachuntersuchungszeitpunkt noch pharmakologisch behandelt wird, und in eine Gruppe ohne Pharmakotherapie, so lassen sich zu der 24Monate-Nachuntersuchung noch Unterschiede finden, die jedoch 36 Monate nach Behandlungsbeginn völlig verschwunden sind. Die Autoren schlussfolgern, dass sich die Langzeitwirkungen der Pharmakotherapie und der Psychotherapie in diesen Ergebnissen nicht gut abbilden lassen. Die Langzeitverläufe nach adaptiver multimodaler Therapie aus der KAMT-Studie werden gegenwärtig publiziert. Eine Nachuntersuchung 1 ½ Jahre nach Therapieende an 56 der 75 Patienten (Döpfner et al. 2008b) zeigte eine weitgehende Stabilisierung der Therapieeffekte im Eltern- und im Lehrerurteil sowohl bei Kindern, die pharmakologisch weiterbehandelt wurden, als auch bei Kindern, die ausschließlich Verhaltenstherapie erhalten hatten. In einer weiteren Nachuntersuchung 8 ½ Jahre nach Behandlungsende zeichnete sich sowohl hinsichtlich der weiteren Verminderung der Verhaltensauffälligkeiten als auch hinsichtlich globaler Maße der schulischen und der beruflichen Karriere und der Delinquenzrate ein überwiegend positives Bild ab (Döpfner et al. 2008c).
27.8
Ausblick
In der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit hyperkinetischen und oppositionellen Verhaltensstörungen haben sich die Konzepte der multimodalen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie bewährt. Von den dort postulierten Wirkprinzipien der Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, kognitivaffektiven Klärung und der Hilfe zur Problembewältigung sowohl beim Patienten als auch bei den Bezugspersonen (vgl. Döpfner 2008) sind die Bedeutung der Problemaktualisierung (d. h. der Arbeit an den konkreten Problemen) sowie die herausragende Rolle der Hilfen zur Problembewältigung in der therapeutischen Situation und im natürlichen Umfeld des Patienten empirisch gut belegt. Die Bedeutung der Ressourcenaktivierung ist weiterhin offen, die klinische Erfahrung weist jedoch darauf hin, dass der Aufbau positiver Eltern-Kind-Interaktionen von erheblicher Bedeutung sein kann. Hyperkinetische und oppositionelle Verhaltensstörungen stellen ein ausgeprägt heterogenes Störungsbild dar, und die individuelle Ausprägung des Störungsbildes erfor-
dert spezifische Interventionen (. Abb. 27.5). Weitere Forschung ist jedoch notwendig, um die spezifischen Indikationskriterien tatsächlich auch empirisch abzusichern. Während die Rolle von umfeldzentrierten Interventionen empirisch gut belegt ist, ist die relative Bedeutung patientenzentrierter Interventionen weiterhin umstritten und bedarf weiterer empirischer Klärung. Darüber hinaus ist die relative Bedeutung kombinierter Verhaltens- und Pharmakotherapie im Vergleich zu Pharmakotherapie auch nach den Ergebnissen der neueren Studien umstritten. Der Integration von Psycho-und Pharmakotherapie wird in der Zukunft eine herausragende Rolle zukommen. Sowohl innerhalb der multimodalen Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie als auch bei der Kombination von Psycho-und Pharmakotherapie ist ein schrittweises Vorgehen, wie es in dem in . Abb. 27.5 dargestellten Entscheidungsbaum vorgeschlagen wurde, besonders hilfreich. Da die Wirksamkeit einzelner Interventionen häufig nicht von vornherein abzuschätzen ist, kann durch ein sequenzielles Vorgehen (»stepped care«) die für den konkreten Einzelfall optimale Therapiekombination erarbeitet werden. Dabei wird zunächst mit einer Intervention begonnen (z. B. familienzentrierte Interventionen zur Veränderung von Eltern-Kind-Interaktionen), um entsprechend dem Verlauf andere Interventionen (z. B. Konzentrationstraining, Pharmakotherapie) hinzuzufügen. Die empirische Prüfung solcher sequenzieller Therapiestrategien steht allerdings noch am Anfang (Döpfner et al. 2004).
Zusammenfassung Hyperkinetische und oppositionelle Verhaltensstörungen sind durch Hyperaktivität, Impulsivität, Unaufmerksamkeit und oppositionell-verweigerndes Verhalten gekennzeichnet. Hyperkinetische Auffälligkeiten und meist auch oppositionelles Verhalten treten bereits vor dem Alter von 6 Jahren auf. In etwa 50% der Fälle treten sowohl hyperkinetische als auch oppositionelle Auffälligkeiten gemeinsam auf. Jungen sind im Vergleich zu Mädchen mindestens dreimal so häufig von der Symptomatik betroffen. Generell wird eine multifaktorielle Genese angenommen, wobei bei hyperkinetischen Störungen biologische, vor allem genetische Faktoren einen starken Einfluss haben, während psychosoziale Faktoren die Ausprägung und den Verlauf der Störung wesentlich beeinflussen können. Oppositionelle Verhaltensstörungen werden dagegen wesentlich stärker durch psychosoziale Bedingungen beeinflusst. Bei beiden Störungsbildern sind Erziehungssituationen durch sich gegenseitig erzwingende Interaktionen gekennzeichnet. In der Behandlung ist eine multimodale Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, die mehrere Komponenten miteinander kombiniert, die Methode der Wahl. Bei hyperkinetischen Störungen muss die generelle Nichtbeachtung
449 Literatur
von Pharmakotherapie nach dem heutigen Stand der Erkenntnisse als Kunstfehler betrachtet werden. Allerdings ist bei einem großen Anteil der Kinder mit diesem Störungsbild auch eine alleinige verhaltenstherapeutische Behandlung wirkungsvoll, die bei ausschließlich oppositionellen Störungen auf jeden Fall Methode der Wahl ist. Dabei werden eltern- und familienzentrierte Interventionen (Eltern-Kind-Therapie zur Verminderung problematischen Verhaltens in der Familie) mit kindergarten- bzw. schulzentrierten Interventionen kombiniert, die durch patientenzentrierte Interventionen (z. B. Spieltraining, Selbstmanagement, Selbstinstruktionstraining, soziales Kompetenztraining) ergänzt werden können. Die umfeldzentrierten Interventionen sind wichtiger als die patientenzentrierten. Da die Störung zumindest im Kindesalter oft auch im Jugendalter chronisch verläuft, ist häufig eine langfristige Therapie indiziert.
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450
27
Kapitel 27 · Hyperkinetische Störung und oppositionelles Trotzverhalten
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27
28
28 Störungen des Sozialverhaltens Friedrich Lösel, Daniela Runkel
28.1
Einleitung
– 454
28.2
Darstellung der Störung – 455
28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4
Symptomatik und Klassifikation – 455 Epidemiologie – 456 Komorbidität – 458 Differenzialdiagnose – 458
28.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
28.3.1 28.3.2
Entwicklungsverläufe Ätiologie – 460
28.4
Diagnostik – 466
28.5
Prävention und Therapie – 466
28.5.1 28.5.2 28.5.3
Grundprinzipien – 466 Therapieprogramme – 469 Spezielle Fragestellungen – 472
28.6
Fallbeispiel
28.7
Empirische Belege
28.8
Ausblick – 477
– 473
Zusammenfassung Literatur
– 458
– 474
– 478
– 478
Weiterführende Literatur
–480
– 458
454
Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
28.1
Einleitung
Störungen des Sozialverhaltens stehen mehr als andere Erlebens- und Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Beinahe täglich wird in den Massenmedien über Gewalttaten und andere Delikte junger Menschen berichtet. Wenn in spektakulären Einzelfällen Jugendliche ihre Mitschüler und Lehrer erschießen, ältere Menschen im öffentlichen Raum fast zu Tode treten oder als sog. Intensivtäter eine Vielzahl von Delikten
begehen, beschäftigt sich die Gesellschaft intensiv mit diesen Ereignissen. Oft kommt es zu unmittelbaren politischen Reaktionen. Dabei geht es nur teilweise um die Therapie und Prävention der Verhaltensprobleme; es überwiegt der Ruf nach Bestrafung und nach dem Schutz der Allgemeinheit. Die Probleme des Sozialverhaltens betreffen vielfältige gesellschaftliche Bereiche, die von der Familien-, Schul- und Sozialpolitik bis zur Kriminal- und Migrationspolitik reichen. Ein Beispiel ist der unter dem Pseudonym »Mehmet« bundesweit bekannt gewordene Fall des Muhlis A.:
Fallbeispiel
28
Laut Gerichtsurteilen und Medienberichten wird Mehmet 1984 in München geboren und wächst dort bei seinen türkischen Eltern auf. Sein Vater ist 1968 im Alter von 30 Jahren nach Deutschland gekommen und hat zwei Jahre später seine Frau nachgeholt. Mehmet hat zwei ältere Brüder, die 1974 und 1976 geboren wurden. Wegen Sprachproblemen wird Mehmet 1990 in eine Schule für Sprachbehinderte eingeschult. Dort fällt er bereits durch aggressives Verhalten auf. In Folge eines Antrags der Eltern wechselt er in der 3. Klasse in die reguläre Grundschule. Auch hier verhält er sich zunehmend aggressiv und ist wenig leistungsbereit. Ab Herbst 1994 besucht der Junge die Hauptschule, wo es ebenfalls zu Aggressionen gegenüber Mitschülern und Lehrkräften kommt. Die Eltern verharmlosen die Verhaltensprobleme des Jungen und behaupten, er werde von der Schule schikaniert. Vorschläge der Schule, Mehmet im Hort betreuen zu lassen und einer Therapie zuzuführen, lehnen die Eltern ab. Nach verschärften Verweisen und einem temporären Schulausschluss drohen sie mit rechtlichen Schritten. Anfang 1995 schlägt die Schulleitung für Mehmet eine Förderschule vor. Die Eltern weigern sich. Mehmet schwänzt zeitweise die Schule oder wird von der Mutter krank gemeldet. Er begeht zahlreiche Straftaten wie Diebstähle, Raub und Körperverletzungen, zumeist gegenüber jungen Opfern und gemeinsam mit anderen Jugendlichen. Bis zu seinem 14. Geburtstag werden über 60 Delikte polizeilich bekannt. Da Mehmet noch nicht strafmündig ist, erfolgen keine Sanktionen. Auf Antrag der Eltern besucht er wiederholt Gastschulen, wo er sich ebenfalls aggressiv verhält und häufig schwänzt. Ab April 1995 besteht Erziehungsbeistandschaft durch das Jugendamt München.
Natürlich ist dieser Fall besonders gravierend und wegen seiner ausländerrechtlichen Aspekte besonders bekannt geworden. Allein in München zählt man jedoch zirka 80 ähnliche »Intensivtäter«, die oft auch keinen Migrationshintergrund haben. Eine bundesweite Erhebung in der Jugendhilfe zeigt, dass jede Einrichtung etliche solcher fortdauernd und schwer dissozialen Fälle betreut und dass mehrfach gescheiterte Unterbringungen und Kooperationsprobleme
Zwei Versuche des Jugendamts, den Jungen in einem Heim unterzubringen, scheitern am Widerstand der Eltern. Aus einer betreuten Wohngruppe entfernt sich Mehmet. Im Jahr 1997 wird er in einem Heim untergebracht, aus dem er nach zwei Wochen wegläuft. Er besucht dann wieder zeitweise seine alte Hauptschule, wo er bald wegen Gewalttätigkeiten dauerhaft ausgeschlossen wird. Nachdem Mehmet erneut mehrfach andere Jugendliche massiv angegriffen und zusammengeschlagen hat, wird er ab März 1998 vom Diakonischen Werk mit 30 Wochenstunden betreut und einzeln beschult. Im Juni 1998 schlägt er mit drei anderen Jugendlichen einen 19-jährigen Schüler zusammen und tritt auf ihn ein, nachdem sich das Opfer geweigert hatte, Geld und Zigaretten herauszugeben. Dem Bewusstlosen nimmt er die Geldbörse und einen Walkman ab. Daraufhin kommt der nun strafmündige Mehmet in Untersuchungshaft, wird zu einem Jahr Jugendstrafe verurteilt und später in die Türkei abgeschoben. Dort gibt es für kurze Zeit viele Medienberichte über ihn, und er tritt auch im Fernsehen auf. Später wird wenig über ihn berichtet. Das Bundesverwaltungsgericht hebt 2002 den Entzug der Aufenthaltserlaubnis auf, und der nun 18-jährige Mehmet kehrt nach Deutschland zurück. Hier wird die frühere Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Durch die Jugendhilfe erhält er Unterkunft und Einzelbetreuung. Er schafft einen guten Hauptschulabschluss und scheint sich zeitweise positiv zu entwickeln. Im Alter von 20 Jahren wird der arbeitslose Mehmet jedoch von den eigenen Eltern bei der Polizei angezeigt, nachdem er sie über Monate hinweg beraubt, erpresst, bestohlen und schließlich zusammengeschlagen hat. Vor Antritt einer 18-monatigen Freiheitsstrafe setzt sich der inzwischen 22-Jährige in die Türkei ab.
mit der Familie keine Seltenheit sind (Bender u. Lösel 2006). Die Fehlentwicklung hat gravierende Folgen für die Angehörigen, die Schule, die sozialen Einrichtungen und letztlich auch die Jugendlichen selbst. Bei langfristig schwerer Auffälligkeit entstehen für die Gesellschaft erhebliche Kosten, die durchaus pro Fall über eine Million Euro betragen können (Munoz et al. 2004). Vor diesem Hintergrund sind die Ursachen und vor allem die Prävention und Behand-
455 28.2 · Darstellung der Störung
lung von Störungen des Sozialverhaltens ein Thema, das nicht nur innerhalb der klinischen Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie erhebliche Bedeutung hat.
28.2
Darstellung der Störung
28.2.1 Symptomatik und Klassifikation
Das Gros der Forschung zur Beschreibung und Klassifikation von Störungen des Sozialverhaltens wurde im angloamerikanischen Raum durchgeführt. Dort wird das Problemverhalten unter den Begriffen »conduct disorder« oder breiter gefasst »antisocial behavior« thematisiert. Antisoziales bzw. dissoziales Verhalten umfasst insbesondere oppositionelles, aggressives, kriminelles und delinquentes Verhalten. Allerdings ergibt sich auf der abstrakten Ebene das Problem, dass z. B. allein für aggressives Verhalten über 200 verschiedene Definitionen bestehen (Underwood et al. 2001). Dementsprechend kommt es letztlich auf die konkrete Operationalisierung an. Zur genaueren Einteilung antisozialen Verhaltens kann sowohl dimensional (empirisch-taxonomisch) als auch klinisch-kategorial vorgegangen werden. Empirisch-taxonomische Ansätze beschreiben psychische Auffälligkeiten anhand von empirisch gewonnenen Dimensionen, auf denen das Verhalten eingeordnet wird. Individuen unterscheiden sich auf diesen Dimensionen graduell, und klinische Fälle bilden prägnante Cluster. Erlebens- und Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter können grob auf den übergreifenden Dimensionen des internalisierenden und externalisierenden Problemverhaltens unterschieden werden. Antisoziales Verhaltens gehört zur externalisierenden Dimension, die durch Verhaltensmuster wie Aggressivität, Delinquenz, Hyperaktivität und Impulsivität charakterisiert ist. Nach Loeber und Schmaling (1985) lässt sich das antisoziale Verhalten anhand der Dimension »offen antisozial oder aggressiv« vs. »verdeckt antisozial oder delinquent« beschreiben. Frick et al. (1993) erweiterten diesen Ansatz um eine zweite Dimension mit den Polen »destruktiv vs. nicht-destruktiv«. Daraus ergeben sich vier Kategorien antisozialen Verhaltens: 1. Eigentumsverletzungen (verdeckt/destruktiv), 2. Aggression (offen/destruktiv), 3. oppositionelles Verhalten (offen/nicht-destruktiv) und 4. Regelverletzungen (verdeckt/nicht-destruktiv). Beim aggressiven Verhalten ist es zudem wichtig, zwischen mehr proaktiven und reaktiven Formen zu unterscheiden (vgl. Lösel u. Bliesener 2003). Im ersten Fall wird gezielt, instrumentell, ohne Provokation und – wie z. B. beim Bullying in der Schule – in einem Machtungleichgewicht agiert, während bei der zweiten Form die Aggression mehr eine Gegenreaktion auf das Verhalten anderer oder frustrierende Situationen darstellt. Die Differenzierung zwischen pro-
aktiver und reaktiver Aggression ist insbesondere im Hinblick auf biologische und emotionale Grundlagen sowie die langfristige Entwicklung einer psychopathischen Persönlichkeitsstörung bedeutsam (vgl. Hare 2001). In der klinisch-kategorialen Klassifikation mittels DSM-IV-TR (Saß et al. 2003) und ICD-10 (Dilling et al. 1991) bzw. MAS (Remschmidt et al. 2001) werden psychische Störungen als diskrete, klar von einander abgrenzbare Syndrome beschrieben. Für die Einteilung sind vor allem Intensität, Dauer und Anzahl der gezeigten Verhaltensprobleme relevant. Die Klassifikationssysteme weisen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf. Das DSM-IV unterscheidet zwei Störungen antisozialen Verhaltens im Kindes- und Jugendalter. Darunter fallen die Störung des Sozialverhaltens (SSV) und die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten (SOT). Das ICD-10 und das MAS klassifizieren hingegen je nach Symptomatik, Umgebung, betroffenen sozialen Bereichen und einhergehenden zusätzlichen Verhaltensproblemen folgende sechs Störungskategorien des Sozialverhaltens: 4 auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens (F91.0), 4 Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1), 4 Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2), 4 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3), 4 sonstige Störungen des Sozialverhaltens (F91.8), 4 nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens (F91.9). Während das DSM-IV somit die Störung des Sozialverhaltens und die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten getrennt voneinander klassifiziert, wird das oppositionelle Verhalten im ICD-10 bzw. MAS als eine Unterkategorie der Störung des Sozialverhaltens gesehen. Im Folgenden wird der Schwerpunkt auf die Störung des Sozialverhaltens nach DSM-IV gelegt. Hauptmerkmal der Störung des Sozialverhaltens ist ein sich wiederholendes Verhaltensmuster, durch das die grundlegenden Rechte anderer und wichtige altersgemäße gesellschaftliche Normen oder Regeln verletzt werden. Diese Verhaltensmuster können den vier Bereichen »aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren«, »Zerstörung von Eigentum«, »Betrug oder Diebstahl« und »schwere Regelverstöße« zugeordnet werden. Während eines Zeitraums von 12 Monaten werden mindestens drei der 15 Verhaltensmuster (s. Übersicht) gezeigt, wobei mindestens ein Kriterium auch während der letzten 6 Monate beobachtbar gewesen sein muss. Zudem müssen klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen im sozialen, schulischen oder beruflichen Bereich vorliegen. Bei Personen, die das 18. Lebensjahr bereits vollendet haben, dürfen nicht die Kriterien einer antisozialen Persönlichkeitsstörung erfüllt sein.
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
Symptomliste für SSV nach DSM-IV-TR (Saß et al. 2003) Aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren 1. Bedroht oder schüchtert andere häufig ein 2. Beginnt häufig Schlägereien 3. Hat schon Waffen benutzt, die anderen schwere körperliche Schäden zufügen können (z. B. Schlagstöcke, Ziegelsteine, zerbrochene Flaschen, Messer, Gewehre) 4. War körperlich grausam zu Menschen 5. Quälte Tiere 6. Hat in Konfrontation mit dem Opfer gestohlen (z. B. Überfall, Taschendiebstahl, Erpressung, bewaffneter Raubüberfall) 7. Zwang andere zu sexuellen Handlungen
Zerstörung von Eigentum 1. Beging vorsätzlich Brandstiftung mit der Absicht, schweren Schaden zu verursachen 2. Zerstört vorsätzlich fremdes Eigentum (jedoch nicht durch Brandstiftung)
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den Eltern und Betreuungspersonen auch der Betroffene selbst befragt werden. Dies ist vor allem deshalb von Bedeutung, da es sich bei einigen der bedeutsamen Kriterien um Verhaltensweisen handelt, die den Erwachsenen verborgen geblieben sein könnten (z. B. bei Regelverstößen). Darüber hinaus erfolgt in Abhängigkeit von Art, Anzahl und Intensität der gezeigten Verhaltensmuster und deren Auswirkungen eine Kodierung hinsichtlich des Schweregrads auf den Stufen »leicht«, »mittelschwer« und »schwer«. Charakteristisch für eine leichte Form der Störung ist, dass neben den für die Diagnose erforderlichen Symptomen keine oder nur wenige weitere Probleme des Sozialverhaltens auftreten. Der Schaden, der anderen durch das Verhalten entsteht, ist eher gering. Beispiele hierfür sind Regelverstöße wie Schule schwänzen oder trotz Verbots über Nacht wegbleiben. Bei einem mittleren Schweregrad der Störung sind die Anzahl der Probleme des Sozialverhaltens und deren Auswirkungen im Vergleich zur leichten Variante deutlich erhöht. Wird anderen ein enormer Schaden zugefügt oder wird die Zahl der für die Diagnose erforderlichen Verhaltenskriterien beträchtlich übertroffen, spricht man von einer schweren Form der Störung. Besonders schwerwiegende Symptome sind z. B. erzwungene sexuelle Handlungen, Waffengebrauch oder Raubdelikte.
Betrug oder Diebstahl 1. Brach in fremde Wohnungen, Gebäude oder Autos ein 2. Lügt häufig, um sich Güter oder Vorteile zu verschaffen oder um Verpflichtungen zu entgehen (d. h. »legt andere herein«) 3. Stahl Gegenstände von erheblichem Wert ohne Konfrontation mit dem Opfer (z. B. Ladendiebstahl, jedoch ohne Einbruch, sowie Fälschungen)
Schwere Regelverstöße 1. Bleibt schon vor dem 13. Lebensjahr trotz elterlicher Verbote häufig über Nacht weg 2. Lief mindestens zweimal über Nacht von zu Hause weg, während er noch bei den Eltern oder bei einer anderen Bezugsperson wohnte (oder nur einmal bei Rückkehr erst nach längerer Zeit) 3. Schwänzt schon vor dem 13. Lebensjahr häufig die Schule
Abhängig vom Alter des Betroffenen bei Störungsbeginn werden drei Subtypen der Störung des Sozialverhaltens unterschieden. Bei der Zusatzkodierung mit »Beginn in der Kindheit« muss mindestens ein relevantes Kriterium vor dem Alter von 10 Jahren aufgetreten sein. Tritt das Verhalten erst nach diesem Alter auf, wird die Kodierung »mit Beginn in der Adoleszenz« vorgenommen oder, falls der Störungsbeginn nicht bekannt ist, die Kodierung »Störung des Sozialverhaltens mit unspezifischem Beginn«. Um den exakten Störungsbeginn erfassen zu können, sollte neben
28.2.2 Epidemiologie
In der Literatur findet man sehr uneinheitliche Prävalenzangaben zu Verhaltensproblemen im Kindes- und Jugendalter. Grund hierfür ist, dass sich die Untersuchungen bezüglich Stichprobenzusammensetzung, diagnostischen Kriterien und methodischem Vorgehen deutlich unterscheiden. Als Beispiele sind Altersunterschiede, Informanteneffekte, Geschlechtsunterschiede und methodische Unterschiede zu nennen. Etwa 15–20% aller Kinder und Jugendlichen weisen klinisch relevante Erlebens- und Verhaltensprobleme auf, wobei dissoziale Störungen nach Angststörungen am zweithäufigsten sind (Ihle u. Esser 2002). Internationale Studien nennen Prävalenzraten von bis zu 10% (Lahey et al. 1999). Für Deutschland berichtet der Kinder- und Jugendsurvey (KIGGS) für die Altersgruppe der 0- bis 17-Jähringen auf Basis von Elternurteilen sogar Raten von 14,8% (Hölling et al. 2007). Laut DSM-IV-TR gehören Störungen des Sozialverhaltens zu den am häufigsten diagnostizierten Syndromen in stationären und nichtstationären therapeutischen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. Große Unterschiede ergeben sich hinsichtlich des Geschlechts und Alters. Bei Jungen tritt die Störung des Sozialverhaltens wesentlich häufiger auf als bei Mädchen. Die Angaben schwanken zwischen einem Verhältnis von 2:1 und 6:1. Was das aggressive Verhalten betrifft, so ist bei Jungen vor allem physische Aggression häufiger, während bei relationaler Aggression (andere beschimpfen, schlechtmachen, ausgrenzen etc.) Mäd-
457 28.2 · Darstellung der Störung
chen und Jungen ähnliche Prävalenzraten zeigen (Lösel u. Bliesener 2003). Die Störung des Sozialverhaltens tritt im Kindesalter seltener auf als im Jugendalter, wobei es mit zunehmendem Alter zu einer Verschiebung vom aggressiven zum delinquenten Verhalten kommt. Was die Häufigkeit physischer Aggression betrifft, so ist diese mit 2–3 Jahren am größten (Tremblay 2000). Durch die Sozialisation in der Familie sowie durch die intellektuelle und sprachliche Entwicklung erwirbt das Kind andere Konfliktlösungsfertigkeiten. Auf Grund der größeren Körperstärke sind freilich die Auswirkungen physischer Aggressionen im Jugendalter gravierender.
Die Häufigkeit von Gewaltdelikten, Eigentumsdelikten und anderen Formen der Delinquenz steigt im Jugendalter steil an. Zwischen 18 und 21 Jahren, bei manchen Delikten auch etwas früher oder später, fällt dann die typische Alterskurve der Delinquenz wieder stetig ab. Jugendliche (14– 18 Jahre) und Heranwachsende (18–21 Jahre) haben nach der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS, Bundeskriminalamt 2007) eine wesentlich größere Kriminalitätsbelastung als alle anderen Altersgruppen in der Bevölkerung. Die Kriminalitätsbelastungszahlen der Tatverdächtigen pro 100.000 der altersgleichen deutschen Bevölkerung zeigt . Abb. 28.1. Die Kriminalitätsbelastung der Jugendlichen und Heranwachsenden ist vor allem in der ersten Hälfte der 1990er
. Abb. 28.1. Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen (pro 100.000 der altersgleichen Bevölkerung) der Deutschen bei Straftaten insgesamt ab 1984 für verschiedene Altersgruppen (Quelle: Bundeskriminalamt 2007)
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
Jahre stark angestiegen und hat sich im 21. Jahrhundert wieder stabilisiert. Bei den schweren und gefährlichen Körperverletzungen besteht aber auch noch in jüngster Zeit ein Anstieg. Kinder (8–14 Jahre) liegen entgegen der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend jüngerer Täter weiterhin unter der allgemeinen Kriminalitätsbelastung. Auch nach der PKS begehen männliche Jugendliche mehr Straftaten als weibliche. Die Unterschiede sind bei den Gewaltdelikten (z. B. Raub, Erpressung, schwere und gefährliche Körperverletzung, Vergewaltigung, Tötungsdelikte) wesentlich größer als bei der Eigentumsdelinquenz und insbesondere bei Ladendiebstählen. Die offiziell erfasste Kriminalität in der PKS bezieht sich nicht auf klinisch diagnostizierte Störungen. Dasselbe gilt für die selbstberichtete Delinquenz in Dunkelfelduntersuchungen (z. B. Lösel u. Bliesener 2003), in der die Deliktraten noch wesentlich höher liegen als in der PKS. Es ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Teil der Delinquenz junger Menschen auch mit leichteren, temporären Störungen des Sozialverhaltens einhergeht. Da etwa ein Drittel der Jugendlichen und jungen Männer bis zum 30. Lebensjahr polizeilich auffällig wird, ist anzunehmen, dass die oben genannten Prävalenzraten der Störung des Sozialverhaltens die Verbreitung eher unterschätzen.
28.2.3 Komorbidität
Vielfach treten zusätzlich zur Störung des Sozialverhaltens eine oder mehrere weitere Störungen auf. Am häufigsten sind dies nach Maughan et al. (2004) die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten (Jungen: 62%, Mädchen: 56%), die als Vorläufer der Störung des Sozialverhaltens gilt, und die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS; Jungen: 31%, Mädchen: 16%). Auch Angststörungen (Jungen: 10%, Mädchen: 16%) und depressive Störungen (Jungen: 14%, Mädchen: 12%) kommen oftmals komorbid vor. Die früher zeitweise postulierte Unabhängigkeit oder orthogonale Faktorenstruktur der externalisierenden und internalisierenden Störungsdimensionen trifft somit nicht zu. Es bestehen durchaus Korrelationen bzw. bei kategorialer Betrachtung Komorbiditäten zwischen beiden Bereichen. Dies gilt insbesondere für diejenigen Störungen des Sozialverhaltens, die mehr mit reaktiver Aggressivität einhergehen. Die mehr proaktive und emotional »kalte« Aggressivität in der kleinen Gruppe sich entwickelnder psychopathischer Persönlichkeiten weist dagegen kaum internalisierende Komorbiditäten auf. Mit zunehmendem Alter gehören auch Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit zu den komorbiden Problemen der Störung des Sozialverhaltens. Die Zusammenhänge sind teilweise so deutlich, dass von einem allgemeinen Problemverhaltenssyndrom gesprochen wird, das durch Aggressivität, Delinquenz, Substanzmissbrauch, riskantes Gesundheitsverhalten, Auffälligkeiten im Straßen-
verkehr und andere Merkmale der sozialen Devianz gekennzeichnet ist (Jessor et al. 1992). Es gibt aber auch jugendliche Subgruppen, die zwar stark dissozial sind, jedoch keinen Substanzmissbrauch betreiben oder die umgekehrte Konfiguration zeigen (Lösel u. Bliesener 1998). Vor allem beim Konsum von »harten«, illegalen Drogen ergibt sich die Frage, inwieweit delinquente Symptome der Störung des Sozialverhaltens eine Folge des Missbrauchs oder der Abhängigkeit von der Substanz sind, da sie oft in der Form von Beschaffungskriminalität auftreten. Einschlägige Längsschnittanalysen legen jedoch nahe, dass die Delinquenz zumeist vor oder parallel zum problematischen Substanzengebrauch auftritt.
28.2.4 Differenzialdiagnose
Etliche Symptome der Störung des Sozialverhaltens kommen auch bei anderen Störungsbildern vor, die deshalb differenzialdiagnostisch abgeklärt werden müssen. Erfüllt eine Person sowohl Kriterien einer Störung mit oppositionellem Trotzverhalten als auch die der Störung des Sozialverhaltens, wird Letztere diagnostiziert. Bei ADHS kann wie auch bei der Störung des Sozialverhaltens impulsives, sozial störendes Verhalten auftreten, jedoch werden in diesem Fall keine gesellschaftlichen Normen verletzt. Ist eine Person bereits über 18 Jahre, kann die Diagnose »Störung des Sozialverhaltens« nur gestellt werden, wenn nicht die Kriterien einer antisozialen Persönlichkeitsstörung erfüllt sind. Eine antisoziale Persönlichkeitsstörung kann jedoch keinesfalls vor dem Alter von 18 Jahren diagnostiziert werden, wenngleich die Dissozialität ab dem 15. Lebensjahr zu ihren Definitionskriterien gehört. Als weitere mögliche Differenzialdiagnosen nennt das DSM-IV-TR affektive Störungen und Anpassungsstörungen.
28.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
28.3.1 Entwicklungsverläufe
Antisoziales Verhalten ist oft relativ stabil. Loeber (1990) postuliert fünf zentrale Prädiktoren für die Stabilität: hohe Frequenz (je häufiger, desto stabiler), hohe Intensität (je ausgeprägter, desto eher wird das Verhalten beibehalten), große Vielfalt (je mehr Variationen des Problemverhaltens, desto beständiger), Manifestation in zahlreichen Lebensbereichen bzw. Kontexten (Generalisierung) und früher Störungsbeginn. Insbesondere der frühe Störungsbeginn erweist sich als ein sehr wichtiges Merkmal. Patterson et al. (1991) unterscheiden zwischen Frühstartern (»early starters«) und Spätstartern (»late starters«). Bei Kindern mit einem frühen Störungsbeginn tritt das aggressive Verhalten meist schon während der Vorschulzeit auf, wobei Ursachen dafür oft im häuslichen Bereich liegen.
459 28.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
. Abb. 28.2. Typen der antisozialen Entwicklung nach Moffitt (1993a)
Zunächst sind bei den Kindern Symptome des oppositionellen Trotzverhaltens beobachtbar; mit zunehmendem Alter zeigen sich dann aber auch Mängel im Sozialverhalten, aus denen Probleme in der Schule resultieren. Im Verlauf der Störung entwickeln die Betroffenen immer neue, vielfältigere und schwerwiegendere antisoziale Handlungen. Von »late starters« spricht man, wenn die Störung erst in der späten Kindheit oder im Jugendalter auftritt. Hier sind die Ursachen oft Einflüsse durch Gleichaltrige. Im Gegensatz zu den »early starters« verfügen die Betroffenen bereits über grundlegende soziale und schulische Fertigkeiten und weisen eine höhere Anpassungsfähigkeit auf. Im Vergleich zu Kindern mit einem frühen Störungsbeginn sind therapeutische Interventionen bei dieser Gruppe aussichtsreicher. Das Entwicklungsmodell von Moffitt (1993a) geht von der Diskrepanz zwischen relativ hoher Stabilität aggressiven Verhaltens über die Zeit (ausgedrückt in Korrelationskoeffizienten) und dem deutlichen Abfall der Prävalenz aggressiven Verhaltens ab dem 18. Lebensjahr aus. Sie postuliert zwei Typen der antisozialen Entwicklung: Zum einen eine kleine Gruppe von Personen, die langfristig antisozial ist (»life course-persistent antisociality«) und zum anderen die wesentlich häufigere jugendtypische Form (»adolescence-limited antisociality«). . Abb. 28.2 zeigt das Modell der beiden Entwicklungspfade nach Moffitt. Die Gruppe der früh und relativ dauerhaft auffälligen Personen umfasst etwa 7% in männlichen Kohorten (Moffitt et al. 2002). Aus ihr entwickelt sich oft jene kleine Gruppe persistenter Straftäter, auf die später über die Hälfte der registrierten Kriminalität entfällt (Moffitt 1993a). Allerdings darf die Einteilung von Moffitt nicht so missverstan-
den werden, dass jede frühe Dissozialität chronisch wird (vgl. Lösel u. Bender 2003). Nur bei etwa einem Drittel bis maximal der Hälfte der früh dissozialen Kinder verfestigen sich die Probleme langfristig. Auch gibt es neben der relativ andauernden und jugendtypischen Dissozialität andere Verläufe. Dazu gehören neben den sich früher oder später wieder unauffällig entwickelnden Jugendlichen (»desisters«) auch spät beginnende mit relativ dauerhafter Dissozialität und Formen mit zeitlich unterschiedlicher Intensität und Chronizität des Problemverhaltens (z. B. der Kriminalität; Sampson u. Laub 2003). Loeber und Strouthammer-Loeber (1998) unterscheiden drei Entwicklungstypen antisozialen Verhaltens: den über den Lebenslauf stabilen Entwicklungstyp, den zeitlich begrenzten Entwicklungstyp und den späten Entwicklungstyp. Für den über den Lebenslauf relativ stabilen Entwicklungspfad ist aggressives Verhalten von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter typisch, wobei Schwere und Ernsthaftigkeit der Verhaltensweisen mit dem Alter zunehmen. Der über den Lebenslauf relativ stabile Entwicklungsverlauf wird, anders als bei Moffitt, noch einmal in die beiden Ausprägungsformen »preschool onset subtype« und »childhood onset subtype« untergliedert. Beim zeitlich begrenzten Entwicklungstyp wird das aggressive Verhalten entweder in der Grundschulzeit aufgegeben, oder es wird ausschließlich während eines kurzen Zeitraums in der Adoleszenz gezeigt. Beim späten Entwicklungstyp tritt das antisoziale Verhalten erstmalig im Jugendalter auf und besteht bis ins Erwachsenenalter fort. In einem anderen empirisch fundierten Verlaufsmodell beziehen sich Loeber und Hay (1994) auf die von ihnen unterschiedenen Formen dissozialen Verhaltens (. Abb. 28.3).
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
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. Abb. 28.3. Modell multipler Entwicklungspfade für verschiedene Verhaltensprobleme. (Mod. nach Loeber u. Hay 1994)
Offen antisoziales Verhalten wie Schlagen, Kämpfen, Bullying oder Tierquälen mündet in spätere Gewaltkriminalität wie Körperverletzung, Raub und Vergewaltigung. Die mehr verdeckte oder indirekte Antisozialität manifestiert sich zuerst in Lügereien, Ladendiebstählen, Vandalismus oder Zündeln und führt in späteren Jahren zu Einbrüchen, Betrügereien und schwerwiegenderen Diebstählen. Die Form des Autoritätskonflikts mit oppositionellem Verhalten, Widerspenstigkeit und Ungehorsam entwickelt sich zum Schulschwänzen oder Weglaufen von Zuhause. Auf allen drei Entwicklungspfaden nimmt der Anteil der jungen Menschen mit diesen Problemen im Lauf der Zeit ab, die Schwere des Problemverhaltens dagegen zu. Eine kleine Gruppe von Kindern und Jugendlichen zeigt Auffälligkeiten in allen drei Bereichen (»versatile antisociality«) und entwickelt sich besonders häufig im Sinne der »life-course persistent antisociality« nach Moffitt.
28.3.2 Ätiologie
Wie die meisten psychischen Probleme ist die Störung des Sozialverhaltens nicht monokausal zu erklären. Im Rahmen eines multifaktoriellen Ansatzes gibt es viele Risikofaktoren,
welche die Wahrscheinlichkeit der Entstehung oder Aufrechterhaltung der Störung erhöhen. Inwieweit dies nicht nur Prädiktoren, sondern kausale Risiken für die Störung sind, lässt sich auch bei Längsschnittstudien nicht mit Sicherheit sagen. Im Sinne eines transaktionalen Entwicklungsmodells (Sameroff u. Fiese 2000) wirken biologische, soziale und individuelle selbstregulierende Prozesse zusammen. Die Wahrscheinlichkeit einer Störung steigt deutlich an, wenn etliche Risikofaktoren kumulieren (Lösel u. Bliesener 2003). Nach Art einer Kettenreaktion verstärken sich die negativen Einflüsse auf das Sozialverhalten. ! Die Kumulation von Risikofaktoren führt dazu, dass bei dem Kind/Jugendlichen Dispositionen entstehen, die zu einem dissozialen Syndrom und abweichenden Lebensstil führen, während sich »normale« Faktoren und Lebenschancen nach und nach reduzieren.
Die wichtigsten Bereiche empirisch belegter Risikofaktoren für eine dissoziale Entwicklung haben Lösel und Bender (2003) in einem Kettenreaktionsmodell zusammengefasst (. Abb. 28.4). Das Modell stellt keine strikte zeitliche Abfolge dar, sondern es kommt auch zu Rückkopplungsprozessen und manche Risiken können früher oder später auftreten. Je mehr solcher Risiken über die Zeit hinweg zusam-
461 28.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
. Abb. 28.4. Modell kumulierter Risiken in der Entwicklung antisozialen Verhaltens. (Aus Lösel u. Bender 2005)
menkommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer chronischen Störung. Bei kurzzeitiger Auffälligkeit liegen zumeist nur einzelne oder wenige Risiken vor. Auch ist die jugendtypische Antisozialität nach Moffitt (1993a) anders zu erklären. Sie ergibt sich in erster Linie durch eine Diskrepanz zwischen körperlicher und sozialer Reife. Das dissoziale Verhalten ermöglicht es Jugendlichen, Unabhängigkeit zu demonstrieren, sich von Eltern und anderen Autoritäten zu lösen und alterstypische Ziele zu erreichen. Sie gewinnen durch dieses Verhalten Anerkennung in der Peergruppe, die Bekräftigung bietet und gleichzeitig auch Verhaltensmodelle liefert. Mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter ergeben sich aber zunehmend normkonforme Bekräftigungen (z. B. berufliches Einkommen, feste Partnerschaften), die zur Abkehr vom antisozialen Verhalten führen. Für diese episodischen Verhaltensprobleme sind biologische Faktoren, frühe Lernprozesse und Persönlichkeitsmerkmale wesentlich weniger bedeutsam als für die früh auftretenden und dauerhafteren
Ein Beispiel hierfür ist die Theorie antisozialen Verhaltens von Eysenck. Sie geht u. a. davon aus, dass antisoziales Verhalten auf ungenügender Konditionierung im Lauf der moralischen Sozialisation beruht, die durch geringe kortikale Erregung bedingt ist, welche mit erhöhter Extraversi6
Störungen des Sozialverhaltens. Für diese sind vor allem die im Folgenden genannten Risiken bedeutsam.
Biologische Faktoren Störungen des Sozialverhaltens sind teilweise auf biologische Faktoren zurückzuführen (Raine 1993). Nach den Ergebnissen von Zwillings-, Adoptions- und anderen verhaltensgenetischen Studien sind etwa 40% der interindividuellen Varianz des antisozialen Verhaltens erblich bedingt (Plomin 1994). Derartige Erblichkeitskoeffizienten verweisen jedoch zugleich auf die große Bedeutsamkeit von Umwelteinflüssen, unter denen nicht geteilte Umweltmerkmale einen größeren Varianzanteil aufklären als geteilte Faktoren, wie sie z. B. bei Geschwistern innerhalb einer Familie vorkommen. Die erblichen Einflüsse sind bislang nicht molekulargenetisch lokalisiert. Sie manifestieren sich aber in interindividuellen Unterschieden neurophysiologischer Strukturen und Prozesse, die wiederum zu Dispositionen auf der psychologischen Ebene führen.
on bzw. insbesondere deren Teilfaktor der Impulsivität einhergeht. Dissoziale Personen haben dadurch ein höheres Stimulierungsbedürfnis (»sensation seeking«), setzen sich leichter riskanten Situationen aus und lernen weniger aus Erfahrungen. Weitere neurophysiologische Hypothesen Ey-
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
sencks betreffen das limbische und hormonale System (vgl. Lösel u. Schmucker 2008). Wenngleich die empirische Forschung Eysencks Annahmen zur vermittelnden Funktion seiner Persönlichkeitsfaktoren Extraversion, Neurotizismus und Psychotizismus nur teilweise bestätigt, zeichnen sich etliche neurophysiologische Korrelate antisozialen Verhaltens ab. Antisoziale Personen weisen z. B.
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Ein impulsives Temperament, Defizite in den exekutiven kognitiven Funktionen, eine geringere emotionale Reaktion und Empathie sind die wichtigsten Vermittler zwischen biologischen Faktoren und dem antisozialen Verhalten. Auf der biologischen Ebene zeichnet sich z. B. ab, dass Personen mit Störungen des Sozialverhaltens Defizite in der Funktion des präfrontalen Kortex und im Neurotransmitter Serotonin haben. Wahrscheinlich ist das »behavior inhibition system« (BIS) gegenüber dem »behavior activation system« unterentwickelt. Die neurophysiologischen Besonderheiten bestehen vor allem bei jener Subgruppe dissozialer junger Menschen, die zu proaktiven, instrumentellen Aggressionen neigen. Nach tomographischen Gehirnanalysen scheint die für die Erkennung und adäquate Verarbeitung von emotionalen Stimuli aus der Umwelt wichtige Amygdala-Hypothalamus-Achse gestört zu sein. In Experimenten reagieren die Personen mit hohen Werten in den Kind- und Jugendversionen der Psychopathy-Checklist u. a. weniger auf affektive Gesichtsausdrücke anderer Menschen und lernen schlechter, negative Konsequenzen zu vermeiden. Auch zeichnen sich bei den wenig ängstlichen, proaktiv-aggressiven Kindern erniedrigte Kortisolwerte ab (Lösel et al. 2004). Inwieweit sie im Jugendalter erhöhte Testosteronwerte aufweisen, scheint von Kontextfaktoren abzuhängen, die über die Stressregulation wiederum Einfluss auf die männlichen Sexualhormone haben (Tremblay et al. 1997). Insgesamt zeichnet sich ab, dass nicht von einfachen linearen Zusammenhängen zwischen biologischen Faktoren und antisozialem Verhalten ausgegangen werden kann und dass gerade in der biologischen Ätiologie zwischen Subgruppen differenziert werden muss. Dass komplexe biosoziale Interaktionen bestehen, zeigen z. B. die Befunde von Caspi et al. (2002). Die Autoren fanden heraus, dass ein genetischer Faktor, der die Monoaminooxidase beeinflusst und so zu einer erniedrigten Serotonin-Konzentration an den Synapsen führt, nur dann zu deutlich erhöhter Antisozialität im Jugendalter führt, wenn die Kinder misshandelt worden waren. Nicht alle Studien konnten diesen Interaktionseffekt replizieren, doch erweist er sich überwiegend als stichhaltig. Die Bedeutung der Umwelt im Zusammenhang mit biologischen Prozessen verdeutlichen auch die Befunde zu prä- und perinatalen Risiken für antisoziales Verhalten. Intoxikationen der werdenden Mutter, Substanzmissbrauch
sowohl im Kindes- als auch im Jugendalter eine niedrigere habituelle physiologische Erregung auf. Diese manifestiert sich in geringeren Reaktionen in der Hautleitfähigkeit, im EEG, im Blutdruck oder der Pulsrate. Nach der Metaanalyse von Ortiz und Raine (2004) korreliert ein geringer Ruhepuls sowohl in Querschnittsstudien als auch längsschnittlich deutlich mit Dissozialität.
und Mangelernährung können beim Kind zu physischen Anomalien und einer Schädigung des ZNS führen (z. B. fötales Alkoholsyndrom). Komplikationen beim Geburtsvorgang, Früh- und Mangelgeburten erhöhen ebenfalls das Risiko neuropsychologischer Defizite, die wiederum für impulsives und antisoziales Verhalten bedeutsam sind. Postnatal sind die Risiken für die Ausbildung aggressiver und/oder delinquenter Tendenzen durch Vernachlässigung in der emotionalen Zuwendung, zu wenig Stimulierung und Ernährung des Kindes zu sehen (Moffit 1993b; Raine 1993). Die einzelnen Effekte solcher Faktoren sind zumeist quantitativ nicht sehr stark. So hängen z. B. Rauchen und hoher Alkoholkonsum der werdenden Mutter sowie Geburtskomplikationen nur mäßig mit späterer Dissozialität zusammen (Koglin 2003). Teilweise kommt es nämlich zu kompensatorischen Prozessen in der neurologischen und psychologischen Entwicklung. ! Die Effekte der biologischen Faktoren sind jedoch nicht isoliert zu betrachten, sondern im Zusammenspiel mit sozialen Faktoren. Wenn genetische Dispositionen und frühe neurologische Einflüsse das Risiko für eine dissoziale Entwicklung erhöhen, dann ist das Kind oft auch sozialen Einflüssen ausgesetzt, die diese Risiken nicht abpuffern, sondern weiter erhöhen.
Familiäre Disharmonie und Erziehungsdefizite Ein emotional kaltes, konfliktreiches Familienklima und Erziehungsdefizite zählen zu den am häufigsten bestätigten Risikofaktoren antisozialen Verhaltens (Farrington u. Loeber 2001). Die Eltern neigen zu Erziehungspraktiken, die aggressives Verhalten auslösen und verstärken. Sie sind zu streng oder zu nachlässig, stellen zu viele oder zu wenige Regeln auf, zeigen ein ungeduldiges oder kontrollierendes Verhalten und sind in der Erziehung ihrer Kinder inkonsistent (Farrington 1992). Die Eltern aggressiver Kinder weisen z. T. selbst Kompetenzdefizite und Verhaltensprobleme auf und sind multipel belastet. Die geringen Erziehungsfertigkeiten der Eltern und das aggressive Verhalten des Kindes verstärken sich gegenseitig, was nach Art eines Kreislaufs in Zwangsinteraktionen endet (Patterson et al. 1992). Auf die emotionale Ablehnung, Ungeduld, Aggressivität, Inkonsistenz und den Zwang der Eltern reagiert das Kind mit Unruhe, Wutausbrüchen und Aggressionen, wodurch
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sich letztendlich ein feindseliges Familienklima entwickelt. Darüber hinaus lernt das Kind im Sinne des Modelllernens aggressives Verhalten am Beispiel der Eltern. In den gravierenden Fällen werden die Kinder in ihrer körperlichen und emotionalen Entwicklung vernachlässigt, und es kommt zu Misshandlungen (Bender u. Lösel 2005). ! Dies zeigt, dass aggressive Kinder nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer zu sehen sind.
Wenngleich Kindesmisshandlung ein klarer Prädiktor späterer Aggressivität ist, handelt es sich um keinen geschlossenen Kreislauf. Protektive Einflüsse tragen dazu bei, dass nur etwa ein Drittel der misshandelten Kinder auch selbst deutlich aggressiv wird.
Multiproblem-Milieu Misshandlung, Vernachlässigung und Erziehungsdefizite sind oft Teil eines allgemeineren Milieus familiärer und anderer sozialer Probleme. Im Sozialisationshintergrund antisozialer junger Menschen finden sich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung Scheidungen oder Trennungen der Eltern, sehr junge alleinerziehende Mütter, ein geringes Einkommen, längerfristige Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug, schlechte Wohnverhältnisse, Alkoholismus und Kriminalität der Eltern. Auch hier gilt, dass einzelne Faktoren zumeist nur gering mit den Verhaltensproblemen der Kinder und Jugendlichen zusammenhängen (vgl. Hawkins et al. 1998). Erst ihre Kumulation und ihre Wechselwirkung mit den anderen sozialen und individuellen Merkmalen erhöhen das Dissozialitätsrisiko deutlich. Zur Risikokumulation trägt auch das weitere soziale Milieu bei, beispielsweise eine sozial desintegrierte, verwahrloste, durch Gewalttätigkeit und Drogenkonsum geprägte Nachbarschaft (Eisner 2001). Diese Merkmale sind z. T. eng mit innerfamiliären Merkmalen konfundiert, doch scheinen sie vor allem dann einen eigenen Einfluss auf die antisoziale Entwicklung junger Menschen zu haben, wenn das häusliche Milieu nicht sehr ungünstig ist (Wikström u. Loeber 2000). Umgekehrt kann eine intakte Familie in einer deprivierten Nachbarschaft auch das Risiko im Umfeld abpuffern (Lösel u. Bender 2003).
Bindungsdefizite Defizite in der Zuwendung und sozial-emotionalen Förderung durch die innerfamiliären Bezugpersonen haben Einfluss auf die grundlegenden Bindungsmuster des Kindes, die wiederum einen Risikofaktor für Störungen des Sozialverhaltens darstellen. Bei dissozialen Kindern besteht häufiger keine emotional sichere Bindung zu den Eltern, sondern ein unsicherer, vermeidender, ängstlicher, zwanghafter oder desorganisierter Bindungsstil (Fagot u. Pears 1996). Allerdings handelt es sich auch hierbei nur um moderate Zusammenhänge und keinen Faktor, der – wie manchmal vereinfachend angenommen – alle weiteren sozialen Beziehungs- und Entwicklungsmuster determiniert.
Persönlichkeitsmerkmale Die biologischen Dispositionen und frühe soziale Erfahrungen führen zu Persönlichkeitsdispositionen wie einem »schwierigen« Temperament und Defiziten in den kognitiven Funktionen. Impulsivität, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsprobleme, sprachliche und allgemeine intellektuelle Defizite, Abenteuerlust, emotionale Labilität und geringe Fähigkeit zum Belohnungsaufschub verringern die Kompetenz, negative Handlungsfolgen abzuschätzen und Konflikte gewaltfrei zu lösen (Hawkins et al. 1998; Moffitt 1993b). Wenngleich Impulsivität bzw. mangelnde Selbstkontrolle zu den wichtigsten Prädiktoren antisozialen Verhaltens gehört, können ADHS und Störungen des Sozialverhaltens nicht zu sehr konfundiert gesehen werden. Probleme der Aufmerksamkeit und Impulskontrolle sind nur ein Risikofaktor unter anderen und mehr als die Hälfte der Kinder mit ADHS zeigen keine dissozialen Symptome. Teilweise kann aggressives Verhalten auch durch die negativen Umweltreaktionen auf ADHS gefördert werden, und teilweise geht ADHS mit ängstlichem und gehemmtem Verhalten einher. Letzteres scheint eher ein protektiver Faktor gegen die Entstehung antisozialen Verhaltens zu sein, bei Komorbidität im späteren Verlauf aber die Verhaltensprobleme zu verstärken (Lösel u. Bender 2003).
Probleme in der Schule Die oben beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale des Kindes oder Jugendlichen tragen dazu bei, dass es zu Schwierigkeiten in der Schule kommt. Diese betreffen sowohl die Schulleistung als auch die Bindung an die Schule. Die dissozialen jungen Menschen haben häufiger als andere schlechte Noten und eine schlechte Beziehung zu Lehrern; sie schwänzen die Schule, müssen Klassen wiederholen, brechen die Schullaufbahn vorzeitig ab oder schaffen keinen Abschluss. Dissoziales Verhalten und Schulleistungsschwierigkeiten verstärken sich gegenseitig. Jedoch scheinen die Schulschwierigkeiten weniger aus einer Überforderung zu resultieren, sondern vielmehr in der ablehnenden Haltung gegenüber der Schule begründet zu sein (Lösel u. Bliesener 2003). Die Entstehung oder Verfestigung dissozialen Verhaltens wird auch durch Faktoren beeinflusst, die mehr die Schule selbst betreffen. Während Schulgröße, Klassenstärke oder Schularchitektur nur eine geringe Bedeutung für dissoziales Verhalten haben (Lösel u. Bliesener 2003; Olweus 1995), spielen das Klassen- und Schulklima, ein kompetentes, engagiertes, einfühlsames und konsequentes Lehrerverhalten, die Betonung schulischer Werte und andere Formen einer positiven Schulkultur eine wichtige Rolle (z. B. Lösel u. Bliesener 2003; Melzer et al. 1998). Das aggressive Verhalten von Mitschülern scheint vor allem dann »ansteckend« auf andere zu wirken, wenn relativ viele dissoziale Kinder in einer Klasse sind.
Gleichaltrige/delinquente Gruppen Zu den wichtigsten Verstärkern einer dissozialen Entwicklung gehört die Gruppe der Gleichaltrigen. Bei jüngeren
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
aggressiven Kindern kommt es z. T. zu Ablehnung durch andere. Diese Erfahrung und die Risiken in der Persönlichkeit (z. B. hohes Stimulationsbedürfnis), in der Familie (z. B. häusliche Konflikte) und im sozialen Milieu (z. B. Massierung von Problemfällen) tragen dazu bei, dass sich Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens oft delinquenten Cliquen anschließen. Viele Straftaten werden in der Gruppe begangen. Peergruppen mit devianten Aktivitäten und Einstellungen werden zu Vorbildern hinsichtlich Aggression, Delinquenz, Substanzmissbrauch und einem auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ausgerichteten Lebensstil (Jessor et al. 1992; Lösel u. Bliesener 1998). Die Gruppenmitglieder bekräftigen ihr Problemverhalten wechselseitig, erfahren Anerkennung und entwickeln eine deviante Identität. Eine besondere Rolle spielen dabei Banden (Gangs), die z. T. feste Gruppenstrukturen, Rituale und Kriminalitätsmuster haben. Die Gruppe definiert sich nicht nur durch die gemeinsamen devianten Aktivitäten, sondern auch über ethnische oder territoriale Merkmale. Die Übergänge zwischen im engeren Sinn kriminellen Jugendbanden und anderen Gruppierungen wie Hooligans oder Skinheads sind fließend (Lösel et al. 2001). Inwieweit sich dissoziale junge Menschen nur im Sinne des »assortive mating« von ihresgleichen angezogen fühlen oder die deviante Gruppe ursächlich für individuelle Verhaltensprobleme ist, kann nicht pauschal beantwortet werden. Die Forschung zeigt, dass beide Prozesse eine Rolle spielen. Insbesondere bandenartige Gruppen führen zu qualitativ und quantitativ verstärkter Gewalt und Delinquenz.
Soziale Informationsverarbeitung Aggressive Kinder und Jugendliche zeigen kognitive Schemata und Skripte der Verarbeitung sozialer Informationen, die dissoziales Verhalten begünstigen (Crick u. Dodge 1994). Sie unterscheiden sich in Phasen der sozialen Informationsverarbeitung von unauffälligen Gruppen in folgender Hinsicht: Sie sind selektiv aufmerksamer für feindselige bzw. aggressive Reize; sie sind weniger empathisch gegenüber ihrem Interaktionspartner und unterstellen ihm häufiger feindselige Absichten; bei der Zielbestimmung generieren sie häufiger egozentrische, antisoziale Ziele; sie bauen mehr aggressive Reaktionsmuster in ihrem Gedächtnis auf und rufen diese in sozialen Situationen häufiger ab; sie schätzen die Konsequenzen aggressiver Handlungen positiver ein und verfügen über eine geringere Anzahl von Fertigkeiten für nicht aggressive Interaktionen. Entsprechend solchen Tendenzen der Informationsverarbeitung wird das eigene Verhalten als subjektiv angemessene Reaktion auf das Verhalten des Gegenübers interpretiert. Die Entwicklung und Verfestigung solcher Schemata der Informationsverarbeitung hängt mit Erfahrungen der Aggression in der Familie, Schule und Peergruppe sowie Persönlichkeitsdispositionen wie Impulsivität zusammen.
Medienkonsum Ein weiterer Einfluss ergibt sich aus dem erhöhten Konsum von Gewalt in den Medien. Auch wenn noch immer kontrovers diskutiert wird, ob es sich hierbei um einen ursächlichen oder mehr die Aggression verstärkenden Faktor handelt, so muss auf jeden Fall ein kathartischer Effekt verneint werden. Häufiger Konsum gewalthaltiger Medieninhalte in der Kindheit hängt auch in Langzeitstudien und bei Kontrolle von Drittvariablen mit späterer Dissozialität zusammen. Es wirkt sich vor allem dann negativ aus, wenn es sich um psychisch deprivierte Kinder handelt, deren Medienkonsum nicht in das Familienleben integriert ist. ! Häufiger Konsum gewalthaltiger Filme oder Computerspiele verfestigt bei ohnehin schon aggressiven Kindern oder Jugendlichen die entsprechenden kognitiven Schemata und Reaktionsbereitschaften.
In manchen Fällen kommt es dazu, dass Jugendliche in ihren Gewalttaten direkt Mediendarstellungen nachahmen. Häufiger sind jedoch die Auswirkungen indirekter Art. Im Laufe der Zeit gewöhnen sich die Kinder und Jugendlichen immer mehr an gewalttätige Handlungen, stumpfen auch in ihren physiologischen Reaktionen auf gewalthaltige Stimuli ab, schätzen Gewalt als weniger bedrohlich ein und entwickeln ein negatives Weltbild (Huesmann u. Miller 1994).
Problematisches Selbstbild/deviante Einstellungen Die sozialen Erfahrungen und Informationsverarbeitungsprozesse tragen dazu bei, dass dissoziale Kinder und Jugendliche deviante Einstellungen und Werthaltungen entwickeln. Sie billigen deviantes Verhalten stärker als andere, bewerten die eigene Autonomie höher und entwickeln eine negative Haltung gegenüber konformen Institutionen (Jessor et al. 1992). In Zusammenhang mit dem Ablösungsprozess von den Eltern sind derartige Einstellungen in abgeschwächter Form mehr oder weniger normal. Wenn die devianten Wertorientierungen aber sehr intensiv und in Subkulturen verfestigt sind, werden sie störungsrelevant. Inwieweit die abweichenden Einstellungen und entsprechenden Verhaltensmuster dazu beitragen, das eigene Selbstwertgefühl zu fördern, kann nicht generell gesagt werden. Es gibt sowohl positive als auch negative und NullKorrelationen zwischen dem Selbstwerterleben und Antisozialität. Teilweise haben aggressive Kinder und Jugendliche kein negatives, sondern ein unrealistisch überhöhtes Selbstbild (Baumeister et al. 1996). Dieses ist allerdings fragil und kann bei negativen Reaktionen des Umfelds leicht aggressives Verhalten auslösen.
Probleme in Arbeit und Beruf Die schulischen und sozialen Probleme der Jugendlichen erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Schwierigkeiten im Berufs- und Arbeitsleben. Häufiger als bei unauffälligen Jugendlichen wird keine Ausbildung begonnen oder diese
465 28.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
vorzeitig abgebrochen (Sampson u. Laub 1993). Aus der dadurch weiter geringeren Qualifizierung der Jugendlichen resultieren schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und häufigere Arbeitslosigkeit. Negative gesellschaftliche Reaktionen und Stigmatisierungsprozesse können eine berufliche Eingliederung ebenfalls erschweren. Auch in Bezug auf die Arbeitslosigkeit darf nicht von einem monokausalen Zusammenhang ausgegangen werden. In einem Teil der Fälle folgt das delinquente Verhalten der Arbeitslosigkeit, oft ist jedoch das Gegenteil der Fall.
Weitergabe an die nächste Generation Wird eine solch prototypische Entwicklung längerfristiger Dissozialität durchlaufen, kann das Problemverhalten auch im Erwachsenenalter stabil bleiben. Entsprechend der Alterskurve der Kriminalität werden jedoch Delikte mit der Zeit seltener, es kommt jedoch (weiterhin) zu Alkoholmissbrauch, chronischer Arbeitslosigkeit, psychiatrischen Problemen oder häuslicher Gewalt. Haben die dissozialen Personen Kinder, werden mit überzufälliger Wahrscheinlichkeit die Störungen des Sozialverhaltens an die nächste Generation weitergegeben (Farrington et al. 2006).
Schutzfaktoren Wie oben erwähnt, handelt es sich bei der Entwicklung einer Verhaltensstörung nicht um einen deterministischen Prozess. Trotz gravierender Risikofaktoren entwickeln sich viele Kinder und Jugendliche »normal« oder zeigen auch ohne therapeutische Maßnahmen nur zeitweise abweichendes Verhalten. In diesen Fällen verfügt das Kind über personale oder soziale Ressourcen, die als natürliche Schutzfaktoren wirken und eine negative Kettenreaktion in der Entwicklung verhindern. Protektive Faktoren werden vor allem im Rahmen der Resilienzforschung und einer salutogenetischen Perspektive betont. Sie werfen allerdings konzeptuelle Probleme auf (Lösel u. Bender 2003), denn es handelt sich nicht um eine grundsätzlich andere Kategorie von Merkmalen als es die Risikofaktoren sind. Zum Beispiel ist die Unterstützung durch eine Bezugsperson ein förderlicher Faktor für die soziale Entwicklung eines Kindes, während deren Fehlen ein Risiko darstellt. Im Englischen wird deshalb vorgeschlagen, die unterschiedlich wirksamen Pole von Faktoren als »risk« oder »promotive« zu bezeichnen. Protektive Fakoren im engeren Sinn sind dagegen solche Ausprägungen von Merkmalen, die eine ansonsten erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeit eines negativen Zustands (z. B. psychische Störung) erniedrigt bzw. die eines positiven Ergebnisses (z. B. soziale Kompetenz) erhöht. Im Sinne von Rutter (1985) handelt es sich um eine Moderatorvariable, die den Einfluss von Risikovariablen abpuffert. Im Vergleich zur Risikoforschung liegen nur wenige gesicherte Erkenntnisse über Schutzfaktoren gegen antisoziales Verhalten vor. Die folgende Übersicht enthält eine
Liste von Merkmalen bzw. Merkmalausprägungen, bei denen sich eine protektive Funktion abzeichnet. Wie bei den Risikofaktoren übt auch die Kumulation mehrerer Schutzfaktoren einen verstärkten Einfluss aus.
Schutzfaktoren (nach Lösel u. Bender 2003) 4 Genetische Dispositionen und eine erhöhte autonome Erregung 4 Ein einfaches oder gehemmtes Temperament 4 Eine flexible Anpassung der Ich-Grenzen anstelle rigider Über- oder Unterkontrolle 4 Überdurchschnittliche Intelligenz und ein gutes Planungsverhalten 4 Eine sichere Bindung an eine Bezugsperson in oder außerhalb der Familie 4 Emotionale Zuwendung, Kontrolle und Konsistenz in der Erziehung in der Familie und anderen Kontexten 4 Erwachsene, die Vorbilder für Resilienz unter widrigen Umständen sind 4 Ein mehr aktives und weniger vermeidendes Bewältigungsverhalten 4 Soziale Unterstützung durch nichtdelinquente Freunde oder Partner 4 Erfolg in der Schule und eine Bindung an schulische Werte und Normen 4 Soziale Beziehungen zu nichtdelinquenten Peergruppen oder eine gewisse soziale Isolation 4 Erfahrungen der Selbstwirksamkeit in nichtdelinquenten Aktivitäten und ein positives, aber nicht unrealistisch überhöhtes Selbstbild 4 Nichtaggressive Schemata der sozialen Informationsverarbeitung 4 Erfahrung von Struktur und Sinnhaftigkeit im eigenen Leben 4 Eine sozial integrierte und wenig deprivierte Nachbarschaft
Die Beachtung solcher Stärken des Kindes oder seines Umfelds ist aus verschiedenen Gründen für die therapeutische Praxis wichtig. Zum Ersten kann durch sie das Entwicklungsrisiko genauer abgeschätzt werden. Zum Zweiten bilden die Schutzfaktoren Ansatzpunkte für Interventionen, die auf Selbsthilfepotenziale und Selbstmanagement abzielen. Drittens tragen sie dazu bei, für flexible Entwicklungen offen zu bleiben und Stigmatisierungen zu reduzieren. Und schließlich ermutigt es auch die Angehörigen der sozialen Berufe, wenn sie in dem oft sehr schwierigen Umgang mit einer schwer dissozialen Klientel die positiven Verhaltensentwicklungen nicht aus dem Auge verlieren.
28
466
Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
28.4
Diagnostik
Für eine differenzierte Störungsdiagnostik sind verschiedene Methoden und Informanten aus unterschiedlichen Kontexten (z. B. Familie, Kindergarten, Schule) notwendig. Zum Beispiel kann Aggression in nur einem Kontext oder gegenüber nur einem Beobachter auf einem spezifischen Beziehungsproblem beruhen (z. B. Konflikt mit einem Lehrer) und muss nicht eine Störung des Sozialverhaltens insgesamt anzeigen. Die Einschätzung durch nur einen Informanten kann auch für die Veränderungsmessung ein Problem sein, indem sich z. B. der negative Eindruck von einem Kind unangemessen verfestigt. Die deutet sich darin an, dass die längsschnittlichen Korrelationen über die Zeit bei denselben Beurteilern größer sind als die querschnittlichen zwischen verschiedenen Beurteilern (Lösel 2002). Zwischen den verschiedenen Informationsquellen bestehen zumeist nur moderate Korrelationen (Achenbach et al. 1987). Dies muss kein Zeichen geringer Validität sein, sondern kann Schwankungen im kindlichen Verhalten anzeigen.
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! In der Regel ist die Störung umso schwerer und stabiler, in je mehr Kontexten sich das Kind auffällig verhält. Bei stark ausgeprägten Verhaltensproblemen stimmen die verschiedenen Informationen zumeist gut überein.
Am häufigsten wird antisoziales Verhalten mittels Fragebögen, Interviews und Verhaltensbeobachtungen erfasst. Aber auch objektive Aktendaten (z. B. Schulverweise, bisherige Polizeikontakte, Vorstrafen etc.) sind bei der Diagnose hilfreich (Beelmann u. Raabe 2007). Fragebögen werden eingesetzt, um die Art der Verhaltensprobleme und deren Schwere und Auftretenshäufigkeit festzustellen. Als Informanten dienen das Kind oder der Jugendliche selbst, dessen Eltern, Erzieher oder Lehrer. Mittels teiloder vollstrukturierter Interviews können ebenfalls Auskünfte von verschiedenen Informanten eingeholt werden. Widersprechen sich die Angaben aus Fragebögen und Interviews oder wird nur in einem bestimmten Kontext über Probleme berichtet, sind zusätzliche Verhaltensbeobachtungen angezeigt. . Tab. 28.1 gibt einen Überblick über etliche Diagnoseverfahren zur multimethodalen Erfassung dissozialen Verhaltens.
28.5
Prävention und Therapie
28.5.1 Grundprinzipien
Es gibt zahlreiche Therapie- und Präventionsprogramme gegen Störungen des Sozialverhaltens. Diese unterscheiden sich bezüglich Intensität, Dauer, Zielgruppe, Inhalt, Durchführungsformat und Kontext der Intervention. Ein Teil der Maßnahmen hat mehr eine präventive, ein anderer
mehr eine therapeutische Zielsetzung. Bei universeller Prävention zielt man auf alle Kinder einer Schule oder Gemeinde ohne eine spezielle Auslese. Dies entspricht dem Konzept der Primärprävention. Bei selektiver Prävention zielt man auf spezielle Risikogruppen, z. B. auf Kinder alleinerziehender Mütter aus der Unterschicht. Indizierte Prävention betrifft bereits mehr oder weniger auffällig gewordene Kinder und Jugendliche. Nicht nur hierbei sind die Übergänge zur Therapie fließend. Auch bei universellen und selektiven Präventionsangeboten befinden sich Kinder in den Zielgruppen, die bereits Störungen entwickelt haben und für die die Maßnahme deshalb therapeutisch wirken kann. Wie das Kettenreaktionsmodell in . Abb. 28.4 zeigt, sind bei der Intervention zahlreiche Risiko- und eventuelle Schutzfaktoren zu berücksichtigen. Diese müssen zuerst diagnostisch abgeklärt werden. Dabei kann das Kettenreaktionsmodell als grobe Orientierung dienen und allzu einfachen monokausalen Ursachenzuschreibungen vorbeugen. Da Störungen des Sozialverhaltens wesentlich mit sozialen Bedingungen zusammenhängen, ist die Behandlung in der Regel nicht klassisch-therapeutisch auf das Individuum zentriert, sondern es wird das Umfeld des Kindes oder Jugendlichen einbezogen. Dazu gehören insbesondere die Eltern, aber je nach individueller Diagnose auch Erzieher, Lehrer oder andere Kontaktpersonen. Mehr als bei internalisierenden Störungen muss die Intervention psychoedukativ angelegt werden. Soweit zugänglich, sind die Eltern bezüglich der Symptomatik, Ursachen der Störung, des Störungsverlaufs und der Interventionsmöglichkeiten aufzuklären und zu beraten. Bei schwer gestörtem Herkunftsmilieu kann allerdings nicht immer hohe Kooperationsbereitschaft vorausgesetzt werden. In der Therapieplanung sollte auch auf die verfügbaren familiären Ressourcen und Schutzfaktoren geachtet werden, da hierdurch das Selbstwirksamkeitserleben in der Familie gefördert werden kann. Ältere Kinder und Jugendliche sind in die Aufklärung und Beratung über die Intervention einzubeziehen. Zeigt sich das Problemverhalten auch in außerfamiliären Bereichen, so sind – in Absprache mit den Eltern – Gespräche mit Erziehern oder Lehrern erforderlich. Auch ein Schulbesuch und Verhaltensbeobachtungen in der Familie oder Klasse können zur genaueren diagnostischen Abklärung und therapeutischen Indikation hilfreich sein. Im Rahmen eines kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansatzes ist ein individuelles Störungsmodell zu erstellen. In ihm sollten die wichtigsten ätiologischen, auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen enthalten sein. Darüber hinaus ist es wichtig, die subjektiven Erklärungsmodelle auf Seiten der Eltern und eventuell des Kindes oder Jugendlichen zu erkunden. Diese persönlichen Störungstheorien müssen sensibel angegangen werden. Bei den Eltern finden sich nicht selten zwei Sichtweisen: Wie im einleitend skizzierten Fall Mehmet neigen El-
467 28.5 · Prävention und Therapie
. Tab. 28.1. Diagnoseverfahren Verfahren
Autor(en)
Beurteiler
Altersbereich
Child Behavior Checklist (CBCL)
Achenbach 1991 Deutsche Version: Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998
Eltern
4–18 Jahre
Teacher Report Form (TRF)
Achenbach 1991 Deutsche Version: Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1993
Erzieher/Lehrer
4–18 Jahre
Youth Self Report (YSR)
Achenbach 1991 Deutsche Version: Lösel et al. 1991; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998
Kind/ Jugendlicher
11–18 Jahre
Social Behavior Questionnaire (SBQ)
Tremblay et al. 1991 Deutsche Version: Lösel et al. 2002
Eltern Erzieher/Lehrer
4–11 Jahre
Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ)
Goodman 1997
Eltern
4-16 Jahre
Erzieher/Lehrer
4–16 Jahre
Jugendlicher
11–16 Jahre
Fragebögen
Delinquenzbelastungsskala (DBS)
Lösel 1975
Jugendlicher
11–16 Jahre
Eyberg Child Behavior Inventory (ECBI) Sutter-Eyberg Student Behavior Inventory (SESBI)
Eyberg u. Pincus 1999 Deutsche Version: Beelmann et al. 2006
Eltern
2–16 Jahre
Erzieher/Lehrer
2–16 Jahre
Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen (EAS)
Petermann u. Petermann 2000
Jugendlicher
9–13 Jahre
Screening psychischer Störungen im Jugendalter (SPS-J)
Hampel u. Petermann 2005
Jugendlicher
11–16 Jahre
DISYPS-II: Fremdbeurteilungsbogen SSV (FBB-SSV) Selbstbeurteilungsbogen SSV (SBB-SSV)
Döpfner u. Görtz-Dorten 2008
Eltern/Lehrer
bis 18 Jahre
Jugendlicher
11–18 Jahre
Antisocial Process Screening Device (APSD)
Frick u. Hare 2001
Eltern/Lehrer
6–13 Jahre
Diagnostisches Interview psychischer Störungen: Kinder-DIPS
Schneider et al. 2009
Eltern Kind/ Jugendlicher
6–18 Jahre
Mannheimer Elterninterview (MEI)
Esser et al. 1989
Eltern
6–16 Jahre
Hare Psychopathy Checklist: Youth Version (PCL-YV)
Forth et al. 2003 Deutsche Version: Sevecke u. Krischer (im Druck)
Jugendlicher
12–18 Jahre
Beobachtungssystem zur Analyse von aggressionsbezogenen Interaktionen im Schulunterricht (BAVIS)
Humpert u. Dann 1988
Lehrer
6–15 Jahre
Beobachtungsbogen für 3- bis 6-jährige Kinder (BBK 3–6)
Frey et al. 2008
Erzieher
3–6 Jahre
Beobachtungsbogen für aggressives Verhalten (BAV)
Petermann u. Petermann 2008
Lehrer Eltern
9–13 Jahre
Interviews
Verhaltensbeobachtungen
Die Literaturangaben zu den Diagnoseverfahren können bei den Autoren angefordert werden.
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
tern zum einen nicht selten dazu, das Problemverhalten des eigenen Kindes zu negieren, herunterzuspielen oder Reaktionen des Umfelds dafür verantwortlich zu machen. Dabei fehlen ihnen auch teilweise adäquate Vergleiche mit anderen Kindern. In der eigenen Familie sind z. B. schwierige Kinder der »Normalfall« oder bei Einzelkindern erfolgt die normative Einordnung erst in der Schule. In solchen Fällen muss zuerst eine realitätsorientierte und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Umfeld (z. B. Kindergarten, Schule) aufgebaut werden. Zum anderen ist bei manchen lang anhaltenden und schwer dissozial gestörten Fällen zu beobachten, dass sich die Eltern zu stark von ihrem Kind distanzieren. Sie führen z. B. das Problemverhalten ausschließlich auf genetische Faktoren zurück (Ähnlichkeit mit dem geschiedenen Ehepartner) oder machen nur schlechte Freunde für die Entwicklungsprobleme verantwortlich. Kommt es zu massiven Straftaten, brechen manche Eltern den Kontakt zum Kind ganz ab. Was die familiäre Seite anbelangt, müssen die Eltern ohne Schuldzuweisung über inadäquate Erziehungspraktiken aufgeklärt und systematisch darin angeleitet werden, diese zu verändern. Dazu gehört, das Kind trotz Fehlverhaltens grundsätzlich anzunehmen, klare Verhaltensregeln aufzustellen, bei adäquatem Verhalten konsistent zu bekräftigen, unangemessenes Verhalten zu sanktionieren (nicht körperlich, aber durch Entzug von Vergünstigungen, Time-out etc.). Insbesondere müssen die Eltern über die oben beschriebenen Zwangsinteraktionsprozesse aufgeklärt werden, in denen sich aggressiv-erpresserisches Verhalten auf beiden Seiten aufschaukelt. Teilweise sind sich die Eltern ihrer eigenen Aggressivität, Nachlässigkeit oder Inkonsistenz in der Erziehung bewusst und erklären sie mit temporären Umständen (z. B. Arbeitsaufnahme und Belastung der Mutter in Scheidungsfällen). Dann ist es wichtig, nicht bei Selbstanklagen stehen zu bleiben, sondern durch die Besprechung und Vereinbarung von Verhaltensregeln konstruktive Änderungen herbeizuführen. Indem konkrete Erziehungsstrategien vereinbart, eingeübt und zumindest teilweise erfolgreich angewandt werden, stärkt sich das Selbstwirksamkeitserleben der Eltern in der Erziehung. In manchen Fällen muss auch die weitere Familiendynamik behandelt werden, z. B. bei massiven Geschwisterkonflikten oder Bevorzugungen und Sündenbockfunktionen einzelner Kinder. Allerdings gilt es auch dabei, zu simple monokausale Erklärungen zu vermeiden, da so unangemessene Störungsmodelle und Schuldzuschreibungen vermittelt werden. Insgesamt zielen die elternzentrierten Präventions- und Behandlungsmaßnahmen darauf ab, uneinfühlsames, aggressives, inkonsistentes oder vernachlässigendes Erziehungsverhalten zu reduzieren. Stattdessen soll die elterliche Erziehungskompetenz gefördert und so zu einem positiven Erziehungsverhalten beigetragen werden.
Nach Beelmann und Lösel (2007) gilt es, vor allem folgende Prozesse zu fördern: 4 Erlernen eines konsistenten Erziehungsstils (positives Verhalten konsequent verstärken; negativem/ aggressivem Verhalten konsequent Grenzen setzen), 4 Effektives Problemmanagement in schwierigen Erziehungssituationen, 4 Einsatz effektiver Strategien zur Einhaltung grundlegender sozialer Regeln, 4 Vorbildfunktion bei sozialen Konflikten, 4 Anleitung zum Lernen sozialer Regeln, 4 Stärkung der Beaufsichtigungsfunktion, 4 Stärkung der Unterstützungsfunktion bei sozialen Problemen der Kinder, 4 Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion durch Vermeidung emotional negativer Interaktionen, 4 Aufbau positiver Interaktionen, die durch gegenseitigen Respekt, Vertrauen und Zuneigung gekennzeichnet sind.
Je älter das dissoziale Kind, desto mehr muss bei ihm an den Risikofaktoren angesetzt werden. Wie dargestellt, gehören dazu vor allem sozial-kognitive Faktoren.
Die therapeutischen oder präventiven Interventionen müssen u. a. auf folgende Prozesse abzielen: 4 verstärkte Reflektion über sich selbst, 4 Förderung selbstkritischen Denkens, 4 bessere Ärger- und Wutkontrolle, 4 verstärkte Selbstkontrolle (Impulskontrolle), 4 Vermittlung sozialer Fertigkeiten, 4 Verbesserung im zwischenmenschlichen Problemlösen, 4 mehr kreatives Denken in sozialen Situationen (z. B. nichtaggressive Alternativen), 4 klarere Werteorientierung, 4 Förderung von Empathie (Übernahme der Opferperspektive), 4 Stärkung vorhandener prosozialer Aktivitäten in bestimmten Rollen.
Da die Muster der Ursachen oder Risikofaktoren je nach Fall mehr oder weniger variieren, kann eine Form der Intervention nicht allen Konstellationen gerecht werden. Entsprechend den spezifischen Bedürfnissen des Kindes und der Familie ist ein individueller Interventionsplan aufzustellen. Auch hierbei ist es sinnvoll, die fließenden Übergänge zwischen Prävention und Behandlung zu beachten. Zum Beispiel kann die Mitarbeit der Eltern dadurch gefördert werden, dass nicht nur die aktuellen Verhaltensauffälligkeiten, die manchmal als »Trotzphase« missverstanden
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werden, thematisiert werden, sondern auch damit verbundene eventuelle langfristige Entwicklungsprobleme. In beiden Bereichen gibt es keine Patentrezepte für wirksame Interventionen, doch zeichnen sich Grundprinzipien einer evidenzbasierten, kognitiv-verhaltenstherapeutischen, entwicklungsbezogenen Intervention ab (vgl. Lösel 2007). In der folgenden Übersicht sind diese zusammengefasst.
Grundprinzipien der entwicklungsbezogenen Prävention und Behandlung von Störungen des Sozialverhaltens (Lösel 1995, 2007) 1. Empirisch fundiertes theoretisches Konzept (nicht primär »Therapieschulen«) 2. Diagnose und Ansatz an dynamischen (veränderbaren) Risikofaktoren 3. Dem Risiko entsprechende Intensität der Intervention 4. Multimodaler Ansatz an kumulierten Risikofaktoren 5. Modifikation von Denkmustern und sozialen Fertigkeiten 6. Sorgfältige Auswahl, Schulung und Supervision des Personals 7. Hohe Integrität bei der Durchführung von Interventionsprogrammen 8. Gestaltung eines förderlichen Familien- oder Institutionsklimas 9. Stärkung von natürlichen sozialen und personalen Schutzfaktoren 10. Neutralisierung devianter Netzwerke im Umfeld 11. Gezielte Maßnahmen der Nachsorge und Rückfallprävention 12. Systematische Verlaufsdiagnose und Evaluation der Intervention
28.5.2 Therapieprogramme
Die Grundelemente von Präventions- und Behandlungsmaßnahmen bei Störungen des Sozialverhaltens sind recht ähnlich. Die jeweiligen Maßnahmen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der Intensität und des Kontexts der Durchführung. Bei schwer dissozialen Jugendlichen wird die Behandlung nicht nur ambulant durchgeführt, sondern auch stationär in Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendhilfe und Kriminaljustiz. Um die Grundmuster erfolgreicher Intervention bei Störungen des Sozialverhaltens umzusetzen, gibt es zahlreiche Programme, die heute weit überwiegend kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtet sind. Sie stammen zumeist aus Nordamerika und sind auch dort evaluiert worden. In Deutschland gibt es zwar etliche gut dokumentierte Präventions- und Behandlungsprogramme, doch nur wenige methodisch hochwertige und langfristige Wirksamkeitsstudien (Heinrichs et
al. 2002; Lösel et al., 2004). Die Interventionen setzen entweder bei dem Kind oder dem Jugendlichen selbst, dessen Eltern und Umfeld oder auf mehreren Ebenen an. Im Folgenden wird näher auf einige kindbezogene, elternbezogene und multimodale Präventions- und Therapiemaßnahmen eingegangen, die exemplarisch das methodische Vorgehen verdeutlichen. Die beschriebenen Maßnahmen sind weitgehend durch Manuale strukturiert. Je nach Diagnose, Schweregrad und Kontext der Verhaltensprobleme sollten die am besten geeigneten Ansätze ausgewählt und mit individualisierten Maßnahmen kombiniert werden. Die hier skizzierten Programme enthalten die typischen Grundelemente kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehens. Programme, die sich nur an die Eltern und nicht auch an die Kinder richten, sind nicht einbezogen (z. B. TRIPLE-P; 7 Kap. III/18). Zu Programmen für die oft komorbiden Störungen wie ADHS 7 Kap. III/27.
Aggression Replacement Training (ART) Das ART nach Goldstein et al. (1998) ist ein international weit verbreitetes multimodales Trainingsprogramm für chronisch aggressive Kinder und Jugendliche. Ziel des Programms ist es, die sozialen Fertigkeiten der Teilnehmer zu fördern, ihre Kontrolle der Wut zu verbessern und ihr moralisches Denken zu fördern. Über einen Zeitraum von 10 Wochen durchlaufen die Kinder und Jugendlichen ein 30-stündiges Curriculum. Pro Woche wird jeweils eine Einheit aus den Bausteinen »Training sozialer Fertigkeiten«, »Wutkontroll-Training« und »Moralisches Denken« behandelt. Im Training sozialer Fertigkeiten werden mit Hilfe von Modelllernen, Rollenspielen, Performance-Feedback und Transferübungen prosoziale Verhaltensweisen eingeübt. Das Wutkontroll-Training bringt den Teilnehmern eine Reihe von Strategien näher, die ihnen zu einem kontrollierten Umgang mit ihren stark negativen Affekten verhelfen sollen (Identifizieren von Auslösern und Hinweisen, Verwenden von Merksätzen/Selbstinstruktionen und Verhaltensweisen zur Wutreduzierung, Selbstbewertung). Die Einheiten zum moralischen Denken behandeln die Konzepte Fairness und Gerechtigkeit und zielen darauf ab, die Teilnehmer für die Rechte und Bedürfnisse anderer zu sensibilisieren. Bei der Evaluation des Trainings in unterschiedlichen Settings konnte gezeigt werden, dass sich die sozialen Fertigkeiten und die Selbstkontrolle der Jugendlichen verbesserten (Goldstein et al. 1998).
Training mit aggressiven Kindern Das Training mit aggressiven Kindern von Petermann und Petermann (2008) ist ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsprogramm für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren. Ziel der Intervention ist es, sozial kompetentes Verhalten einzuüben und dadurch indirekt aggressive Verhaltensweisen abzubauen. Das Training besteht aus einem Einzeltraining, einem Gruppentraining und einer Elternberatung. Im Einzeltraining (8–13 Sitzungen à 100 bzw. 50
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
Minuten) absolviert das Kind unter Anleitung des Therapeuten fünf verschiedene Module, die hierarchisch aufgebaut sind. Die einzelnen Sitzungen laufen immer nach den folgenden vier Schritten ab: Auswertung des Detektivbogens, imaginative Entspannungsübung, Arbeitsphase und abschließende Spielphase. Das anschließende Gruppentraining (7–14 Sitzungen à 100 bzw. 50 Minuten) ist ähnlich strukturiert. Der Schwerpunkt liegt dabei jedoch auf Rollenspielen, in denen 3–4 Kinder gemeinsam ein angemessenes Sozial- und Konfliktlösungsverhalten einüben. Begleitend zum Kindertraining findet im Abstand von 2– 4 Wochen eine Eltern- bzw. Familienberatung statt (Erstkontaktphase und mindestens vier Termine à 100 Minuten). In Einzelfallstudien konnten positive Verhaltensveränderungen beim Kind, seinen Eltern und der Familie verzeichnet werden. Jüngste Gruppenstudien belegen positive Trainingseffekte direkt nach dem Ende der Therapie und in einer Follow-up-Messung nach 6 Monaten (Petermann u. Petermann 2008). Kontrollgruppenevaluationen liegen bislang noch nicht vor.
Entwicklungs-Förderung in Familien: Elternund Kinder-Training (EFFEKT)
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Das Programm setzt sich aus einem sozial-kognitiven Kinder- und einem verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Elterntraining zusammen. Beide Teilprogramme können sowohl einzeln als auch in Kombination durchgeführt werden. Das Elterntraining (Beelmann u. Lösel 2004) richtet sich an Eltern von Kindern im Alter von 3 bis 10 Jahren. Es baut auf dem »Curriculum for Parents with Challenging Children« auf, das am Oregon Social Learning Center entwickelt wurde (Fisher et al. 1997). Ziel ist es, die Erziehungskompetenz der Eltern zu fördern. Um die Teilnahmeraten zu erhöhen und Ausfälle zu vermeiden, ist das Training bewusst kurz gehalten. Über einen Zeitraum von 5 Wochen finden fünf Sitzungen statt, die zwischen 90 und 120 Minuten dauern. Das Training wird von ein bis zwei Trainern mit einer Gruppe von 10–15 Teilnehmern durchgeführt. Die Inhalte beziehen sich auf Grundregeln positiver Erziehung, Bitten und Aufforderungen, Grenzen setzen, schwierige Erziehungssituationen, Überforderung in der Erziehung (Stress, Verhaltensprobleme) und soziale Beziehungen der Familie. Die Vermittlung der Inhalte erfolgt durch Kurzvorträge, Gruppendiskussionen mit Erfahrungsaustausch, Rollenspiele, Arbeitsgruppen, strukturierte Arbeitsmaterialien und Übungen für Zuhause. Das sozial-kognitive Kompetenztraining »Ich kann Probleme lösen« (IKPL, Beelmann et al. 2004) ist für Kinder im Alter von 4 bis 7 Jahren geeignet. Es basiert auf dem Programm »I Can Problem Solve (ICPS)« (Shure 1992). Ziel des Trainings ist es, zentrale Aspekte der Informationsverarbeitung zu fördern, da diese bei dissozialen Kindern oft unzureichend ausgebildet sind. Das Training umfasst 15 Kurseinheiten zu jeweils 45–60 Minuten, die entweder 3 Wochen lang täglich oder 5 Wochen lang dreimal pro
Woche durchgeführt werden. Eine Gruppe von 6–10 Kindern wird von zwei Trainern angeleitet, mit Hilfe des sog. IKPL-Dialogs (s. Übersicht) Probleme gewaltfrei zu lösen. Im Kurs lernen die Kinder zunächst die Grundlagen der sozial-kognitiven Problemlösung (Wortkonzepte, Erkennen von Gefühlen, Gründe und Ursachen des Verhaltens), ehe sie im Anschluss verhaltensbezogene Problemlösefertigkeiten einüben, insbesondere die Entwicklung alternativer Lösungen, die Antizipation und Bewertung von Handlungskonsequenzen. Die Inhalte werden kindgerecht und spielerisch durch Handpuppen, Sing- und Bewegungsspiele, Bildvorlagen, Rollenspiele, Frage-Antwort-Runden und Elternbriefe vermittelt.
Der IKPL-Dialog 1. Problemdefinition: Was ist passiert? Was ist das Problem? 2. Identifikation von Gefühlen oder Gründen für das Verhalten anderer: Wie fühlst du dich? Wie fühlt sich der andere? 3. Generierung alternativer Lösungsvorschläge: Was kannst du tun? 4. Abschätzung der Konsequenzen: Was passiert dann? 5. Bewertung der Handlung: Ist das eine gute Idee?
Die kontrollierten Evaluationen zeigen, dass das Programm sowohl kurzfristige positive Effekte 2–3 Monate nach dem Training als auch langfristige Effekte nach 2 Jahren hat (Lösel et al. 2006a). Dies gilt sowohl für Verhaltenseinschätzungen durch die Erzieherinnen und Zeugnisbeurteilungen durch die Lehrer als auch vermittelnde Merkmale wie die soziale Informationsverarbeitung der Kinder oder das elterliche Erziehungsverhalten. Das Sozialverhalten bessert sich vor allem bei jenen Kindern, die vorher mehr Probleme haben oder die in der Schule Multiproblemkinder sind. Am erfolgversprechendsten erscheint der kombinierte Ansatz bei Kindern und Eltern. Jüngste Auswertungen zeigen auch noch positive Effekte nach 4–5 Jahren, doch sind diese hinsichtlich der Kriterienmaße und Teilprogramme nicht völlig konsistent.
Incredible Years Das Programm »Incredible Years« von Webster-Stratton (2005) wird sowohl als gezielte Präventions- als auch als Therapiemaßnahme bei Kindern im Alter von 2 bis 10 Jahren durchgeführt. Es setzt bei Kindern, Eltern und Lehrern an. Die »Dinosaur School« richtet sich an Kinder von 4 bis 8 Jahren und besteht aus 22 Sitzungen, die jeweils in Kleingruppen abgehalten werden. Mittels Videosequenzen, die Kinder in verschiedenen Settings (zu Hause, mit den Eltern, in der Schule, mit Freunden) zeigen, sollen soziale Kompe-
471 28.5 · Prävention und Therapie
tenzen, die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, Empathiefähigkeit, soziales Problemlösen, Selbstkontrolle, der Aufbau von Freundschaften und kooperatives Verhalten in der Schule gefördert werden. Für die Eltern gibt es drei (videogestützte) aufeinander aufbauende Programme: BASIC (Training zur Förderung der Erziehungskompetenz, 26 Sitzungen), ADVANCE (Training zum Aufbau interpersoneller Kompetenzen, 14 Sitzungen) und SCHOOL (Training zur Förderung akademischer Kompetenzen, 4-6 Sitzungen). Das Modul für die Lehrer setzt den Schwerpunkt auf die Vermittlung effektiver Classroom-ManagementStrategien. Mehrere kontrollierte Evaluationsstudien ergaben kurz- und mittelfristig positive Effekte auf das kindliche Sozialverhalten im familiären und schulischen Kontext. Auch das Eltern- und Lehrerverhalten wurde positiv beeinflusst (Webster-Stratton et al. 2001).
FAST (Family and School Together)-Track-Project Das FAST-Track-Project wird von der Conduct Problems Prevention Research Group (CPPRG 1992) durchgeführt und ist die weltweit größte und aufwendigste Studie zur indizierten Prävention von Störungen des Sozialverhaltens. Das Programm zielt auf Hochrisiko-Kinder mit sich entwickelnden Verhaltensproblemen. Es handelt sich um ein Multi-Komponenten-Programm, das universelle und selektive Präventionsansätze kombiniert. Das Programm beginnt mit dem Schuleintritt und kann als besonders intensiver Ansatz bis zum Ende der 6. Klasse fortgesetzt werden. FAST-Track dient nicht nur der Reduzierung unerwünschter Verhaltensweisen, sondern darüber hinaus dem Aufbau von Ressourcen, mittels derer Risikokindern eine bessere Integration ermöglicht werden soll. Das Programm setzt sich aus den fünf Hauptkomponenten Elterntraining, regelmäßige Hausbesuche, soziales Kompetenztraining für Kinder, Lesetraining und Klassenintervention (»Promoting Alternative Thinking Strategies«, PATHS) zusammen, die aufeinander abgestimmt sind. Das PATHS-Programm für die Grundschule ist im Rahmen der Züricher Präventionsstudie auch für den deutschen Sprachraum adaptiert worden (Eisner u. Ribeaud 2007). Eine modifizierte und etwas kürzere Version ist das »PATHS after school Curriculum« von Kusché und Greenberg (1992), das im Rahmen der Erlangen-Nürnberger Entwicklungs- und Präventionsstudie adaptiert und evaluiert wurde. Das außerschulische PATHS-Programm (»Training im Problemlösen«, TIP; Hacker et al. 2007) ist auch für die Erziehungsberatung und ambulante Therapie geeignet. In ihm lernen die Kinder, sich spielerisch mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen und verschiedene Alltagskonflikte zu lösen. Ziel von TIP ist die Förderung von Selbstkontrolle, sozialen Problemlösefertigkeiten und emotionaler Aufmerksamkeit. Das Training besteht aus zwanzig Kurseinheiten, die zu 10 Doppelstunden zusammengefasst werden können und in Kleingruppen mit maximal 10 Kindern außerhalb des Unterrichts (nachmittags) durchgeführt werden. Durch den Ansatz auf
verschiedenen Ebenen soll mit FAST-Track ein gesteigerter Effekt erzielt werden. Eine äußerst wichtige Rolle spielt dabei die Zusammenarbeit von Eltern und Schule. Die Ergebnisse für das Gesamtprogramm fallen je nach Erfolgskriterium unterschiedlich aus. Ein Jahr nach Trainingsbeginn zeigten sich signifikante positive Effekte hinsichtlich der Problemverhaltensweisen und der sozial-kognitiven Fertigkeiten der Kinder und des elterlichen Erziehungsverhaltens, die auch in einem Follow-up nach 3 Jahren bestätigt werden konnten (CPPRG 2002). Nach 4 bzw. 5 Jahren führte die Intervention zu kleinen positiven Effekten hinsichtlich sozialer Kompetenz, Problemen mit Gleichaltrigen und Verhaltensproblemen im familiären Bereich. Im schulischen Kontext konnten jedoch keine Effekte mehr nachgewiesen werden (CPPRG 2004). Die deutsche Version des schulischen PATHS-Programms erbrachte in der Zürcher Studie nach einem Jahr einige positive Effekte (Eisner u. Ribeaud 2007). Die Evaluation von TIP zeigte positive Effekte im Lehrerurteil 4 Monate nach dem Training. Neben einer signifikanten Verminderung externalisierender Verhaltensprobleme bestand ein tendenzieller Zuwachs prosozialer Verhaltensweisen. Die Programmeffekte waren auch nach einem Jahr im Follow-up noch stabil.
Multisystemische Therapie (MST) Die MST wurde in der Arbeitsgruppe von Henggeler (1998) entwickelt. Sie richtet sich an dissoziale Jugendliche (oft Straftäter) im Alter von 12 bis 17 Jahren, die schwerwiegendes dissoziales Verhalten zeigen und bei denen ein hohes Risiko einer notwendigen Fremdplatzierung besteht. Wegen der multifaktoriellen Ätiologie setzt die Intervention nicht nur bei dem Jugendlichen selbst an, sondern bezieht auch die Familie, Gleichaltrigengruppe, Schule und Nachbarschaft mit ein. Ziel der MST ist es, eine Verhaltensänderung des Jugendlichen in dessen natürlicher Umgebung herbeizuführen, indem die Stärken jedes einzelnen Systems genutzt werden. Das übergeordnete Ziel der Therapie ist es, die Familien mit den notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen auszustatten, die sie benötigen, um Probleme des heranwachsenden Kindes wirksam lösen zu können. Da die MST davon ausgeht, dass jedes System unterschiedliche Stärken und Schwächen hat, folgt die Therapie keinem strikten Behandlungsmanual. Vielmehr orientiert sie sich an neun Leitprinzipien (s. Übersicht), wodurch die Behandlung individuell an die Bedürfnisse der Familien angepasst werden kann.
Neun Behandlungsprinzipien der MST (nach Sheidow u. Henggeler 2008) 1. Passung zwischen identifizierten Problemen und den systemischen Kontext finden 2. Fokus auf dem Positiven und auf Stärken 3. Verantwortliches Verhalten fördern 6
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
4. Gegenwartsorientiertes, handlungsorientiertes und klar definiertes Vorgehen 5. Verhaltensabläufe in den Mittelpunkt stellen 6. Entwicklungsstand berücksichtigen 7. Kontinuierlicher Einsatz 8. Evaluation und Verantwortung für den Therapieerfolg übernehmen 9. Auf Generalisierung achten
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Die MST folgt einem aufsuchenden Versorgungsmodell und betont die Notwendigkeit, als Therapeut im natürlichen Kontext verfügbar zu sein. Aus einem Team von 3 bis 4 Therapeuten ist für den Jugendlichen und seine Familie rund um die Uhr jemand ansprechbar (7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag). Ein Therapeut ist maximal für 4–6 Familien zuständig. Die therapeutische Maßnahme ist wegen der hohen anfallenden Kosten zeitlich begrenzt. Die Betreuung umfasst ca. 60 Stunden und erstreckt sich über 3–6 Monate. Im Rahmen des aufsuchenden Versorgungsmodells versuchen die Therapeuten, Zugangsbarrieren so weit wie möglich abzubauen, indem sie den Jugendlichen und die Familie zu Hause aufsuchen und in die Schule und Gemeinde gehen. In den meisten kontrollierten Evaluationsstudien führte die MST zu einem Rückgang von Verhaltensproblemen, Rückfallraten und Delinquenz sowie einer Verbesserung des Familienklimas (z. B. Henggeler et al. 1998). Diese Effekte konnten aber nicht in allen Studien belegt werden.
28.5.3 Spezielle Fragestellungen
Einzel- oder Gruppentherapie? Die meisten beschriebenen Modelle enthalten psychoedukative Maßnahmen im Gruppenformat. Auch hier muss jedoch im Einzelfall differenziert werden. Ein mehr gehemmt-aggressives Kind kann in einer Gruppe mit etlichen dominant-aggressiven Kindern auch negative Erfahrungen machen. Deshalb gilt es, das Behandlungsformat differenziert festzulegen. In den meisten Fällen sind Gruppeninterventionen vorzuziehen, da hier die aktuellen sozialen Erfahrungen diagnostisch und therapeutisch genutzt werden können. Insbesondere wenn die Kinder oder Jugendlichen mangelnde soziale Fertigkeiten haben, die Interaktion mit anderen Schwierigkeiten bereitet oder sie sich nur schwer
In einer systematischen Erhebung an deutschen Jugendämtern haben Bender und Lösel (2006) Fall-Vignetten besonders stark und dauerhaft dissozialer Kinder vorgegeben und nach ähnlichen Fällen ihrer Klientel gefragt. Es zeigte sich zum einen, dass diese Fälle zahlreiche Entwick6
an Regeln halten, bietet das Gruppensetting Vorzüge der konkreten Erprobung. Oft empfiehlt es sich, Einzel- und Gruppeninterventionen zu kombinieren, eine kurze Einzelbehandlung vorzuschalten oder bei spezifischen Problemen einzuschieben.
Umgang mit Komorbidität Liegen neben der Störung des Sozialverhaltens noch weitere Störungen vor (z. B. ADHS, Angst, Depression, Substanzmissbrauch), müssen diese bei der Therapieplanung natürlich berücksichtigt werden. Hier gilt es abzuwägen, ob beide Störungen parallel behandelt werden können oder in welcher Reihenfolge vorzugehen ist. Bei älteren substanzabhängigen Jugendlichen stellt sich teilweise die Frage, inwieweit die kriminellen Verhaltensweisen Folge der Abhängigkeit sind. Natürlich muss dabei zuerst der Entzug im Vordergrund stehen. Eine Behandlung der Substanzabhängigkeit bietet allerdings keineswegs die Gewähr dafür, dass die komorbiden und eventuell sogar vorangehenden dissozialen Verhaltesdispositionen verschwinden.
Unterbringung schwer dissozialer Kinder und Jugendlicher Die einzelnen Präventions- und Behandlungsmaßnahmen müssen bei schweren Störungen des Sozialverhaltens eng auf den sozialen Kontext des Kindes bezogen werden. Im Sinne einer Sozial- und Milieutherapie spielen die förderlichen Bedingungen des Umfelds eine zentrale Rolle. Kinder, die bereits früh auffällig und multipel belastet sind, sind allerdings besonders schwer unterzubringen. Die Mehrheit von ihnen durchläuft verschiedene ambulante und stationäre Maßnahmen der Jugend- und Familienhilfe, Kinderund Jugendpsychiatrie und Kriminaljustiz. Solange die Familien noch einigermaßen intakt zu sein scheinen, sind ambulante Maßnahmen wie die Betreuung durch soziale Dienste, Familienberatung oder Therapie angemessen. Nicht selten ist es aber erforderlich, das Kind wegen Vernachlässigung, Misshandlung, sexuellem Missbrauch oder dem Ausmaß der Verhaltensprobleme aus dem familiären Umfeld herauszunehmen (Tendenz steigend). Es kommt dann zu Notfallmaßnahmen und z. B. zur Unterbringung in Pflegefamilien, psychiatrischen Kliniken, Wohngruppen oder Heimen. Zum Teil werden auch intensive individualpädagogische Maßnahmen durchgeführt, in denen Auslandsaufenthalte stattfinden können, um die jungen Menschen aus einem pathogenen Umfeld herauszulösen.
lungsrisiken und Komorbiditäten aufweisen (z. B. 92% Schulprobleme, 85% Gewalt in der Familie, 51% Vernachlässigung oder Misshandlung, 47% Substanzmissbrauch, 33% ADHS). Zum anderen haben diese Kinder und Jugendlichen bis zu acht verschiedene Unterbringungen durchlaufen
473 28.6 · Fallbeispiel
(Durchschnitt: 3,1 Einrichtungen). Nur 27% befinden sich noch in der Herkunftsfamilie. Bei häufigem Wechsel können kaum stabile Beziehungen aufgebaut und ein therapeutisches Umfeld gestaltet werden. Nicht selten wird mit guter Absicht nach dem Prinzip »Versuch und Irrtum« verfahren. Die Gründe für die Schwierigkeiten bei der Unter-
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass neben der verhaltenstherapeutischen oder präventiven Arbeit bei dissozialen Störungen die sozialtherapeutischen Aufgaben eine zentrale Rolle spielen.
28.6
Fallbeispiel
Symptomatik und Entwicklungsgeschichte Der knapp 13-jährige Marco wird von seiner Mutter vorgestellt, weil er in der Schule (Ende der 7. Klasse Hauptschule) zunehmende Probleme mit Gleichaltrigen hat. Die Mutter berichtet, ihr Sohn sei von Mitschülern mehrfach verbal und tätlich angegriffen worden, ohne diese provoziert zu haben. Er habe keine gleichaltrigen Freunde. Wenn er überhaupt mit anderen Kindern zusammen sei, dann mit deutlich jüngeren Grundschülern. Ihr Sohn sei sehr sensibel und bedürfe besonderer Fürsorge. Der Schuldirektor habe aber darauf hingewiesen, dass sich Marco provokativ verhalte und, wenn man nicht in Kürze einschreite, »ein Fall wie Erfurt« werde. Zuhause sei Marco eher ruhig, verweigere aber oft die an ihn gestellten Anforderungen und spiele stundenlang exzessiv am Computer. Marco lebt als einziges Kind bei den Eltern. Mit im Haus befindet sich die voll pflegebedürftige Großmutter. Der Vater ist seit Jahren arbeitslos, die Mutter arbeitet als Aushilfe. Schwangerschaft, Geburt und frühkindliche Entwicklung werden als unauffällig beschrieben, allerdings sei Marco »schon immer sehr sensibel« gewesen. Auf genauere Nachfrage gibt die Mutter an, er habe schon früh Probleme mit Gleichaltrigen gehabt. Teilweise hätten auch die Eltern anderer Kinder diesen den Umgang mit ihm verboten. Angeblich habe ihr Sohn die anderen geängstigt und ihnen Horrorgeschichten erzählt. Sie selbst glaube das allerdings nicht und sehe ihn bei diesen Konflikten in der Opferrolle. Vor allem werde er immer mit einem Jugendlichen aus der Verwandtschaft in Verbindung gebracht, der wegen verschiedener Vorfälle (Bedrohung jüngerer Schüler, rechtsradikale Äußerungen auf dem Schulhof etc.) der Schule verwiesen worden sei. Dieser schlechte Eindruck habe wohl zu Unrecht auf ihren Sohn »ausgestrahlt«. Die Mutter gibt an, sie habe zu wenig Zeit für ihren Sohn und fühle sich deshalb schuldig. Ihr Mann könne wenig mit Kindern anfangen. Nach einer ersten Exploration der Mutter bestand die Verdachtsdiagnose einer Störung mit sozialer Ängstlichkeit. Ein telefonisches Interview mit der Klassenlehrerin
bringung liegen auf Seiten des Kindes (z. B. starke Aggressivität, mangelnde Kooperation, Alkohol-/Drogenkonsum), der Familien (z. B. mangelnde Kooperation, psychische Probleme, Alkoholkonsum) oder der Institutionen (z. B. lange Wartelisten, Mangel an passenden Angeboten, Ablehnung des Kindes).
erbrachte allerdings ein völlig anderes Bild. Die Lehrerin berichtete sehr aufgebracht, der Junge sei nie das Opfer seiner Mitschüler gewesen, sondern sei vielmehr selbst ein »Täter«. Die anderen Kinder seien »noch viel zu nett« zu ihm. Er verweigere die Mitarbeit im Unterricht, sei unflätig zu den Lehrern und beleidige seine Mitschüler. Wenn er auf eigene Verfehlungen angesprochen werde, sage er bewusst die Unwahrheit und schiebe anderen die Verantwortung zu. Allein in den letzten Wochen habe er mehrere grobe Regelverstöße begangen, z. B. Unterlagen und Medikamente von Mitschülern entwendet, Arbeitsblätter zerrissen und den Unterricht verbotenerweise verlassen. Daraufhin vergebene Strafarbeiten habe er meist verweigert, sei nicht zum Nachsitzen erschienen und habe in diesem Kontext auch Mitarbeiter der Schule beleidigt. Als Begründung gab er an, die Bestrafung sei nicht gerechtfertigt. In der Untersuchung von Marco ergab sich folgendes Bild: Der Junge war zunächst freundlich und offen und fiel – entgegen der Aussage der Mutter, die seine Schwierigkeiten auf eine Aufmerksamkeitsstörung zurückführte – nicht durch übermäßige motorische Unruhe auf. Er konnte sich gut artikulieren und berichtete ausführlich über die »Missetaten« seiner Mitschüler. Allerdings konnte er keinerlei Auslöser dieser Vorfälle benennen. Er meinte, man greife ihn völlig ohne Anlass an. Sobald eine Eigenbeteiligung an Konflikten im Raum stand, verweigerte er völlig das Gespräch oder versuchte durch provozierende Witze und Grimassen vom Thema abzulenken. Seine Bereitschaft oder Fähigkeit zur realistischen Selbstwahrnehmung war äußerst gering. Die weitere Untersuchung ergab, dass Marco in der Grundschule wegen schlechter Schulleistungen bereits kinder- und jugendpsychiatrisch hinsichtlich des Verdachts auf Legasthenie und ADHS getestet worden war. Die Befunde wiesen zwar in die entsprechende Richtung, er zeigte jedoch kein Vollbild der genannten Störungen. Zum Zeitpunkt der Vorstellung wiederholte Testungen erbrachten ein ähnliches Bild bei durchschnittlicher Gesamtintelligenz. Im »Inventar zur Erfassung von Impulsivität, Risikoverhalten und Empathie« (IVE) waren seine Werte unauffällig. Im »Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen« (EAS) erzielte Marco zwar keinen überdurchschnittlichen Aggressionswert, allerdings bewertete er aggressives Verhalten anderer (vor allem im schulischen Kontext) sehr positiv. Seine Mutter gab in der »Child Behavior Checklist« (CBCL) überdurchschnittliche Werte auf den
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
Skalen »sozialer Rückzug« und »Aufmerksamkeitsstörungen« an. In der von der Lehrerin bearbeiteten »Teacher Report Form« (TRF) ergaben sich überdurchschnittliche Werte auf den Skalen »soziale Probleme«, »Aufmerksamkeitsprobleme«, »delinquentes Verhalten« und »aggressives Verhalten«.
Therapie
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Da sich Marcos Verhaltensauffälligkeiten im Elternhaus völlig anders darstellten als im schulischen Kontext, war eine intensive Zusammenarbeit von Therapeut, Elternhaus und Schule besonders angezeigt. In der Behandlung stand zunächst ein Elterntraining mit ausführlicher Aufklärung und Erziehungsberatung im Vordergrund. Die Mutter wurde neutral mit den Aussagen der Lehrer konfrontiert, ließ sich aber nur sehr zögerlich zu einer realistischeren Einschätzung ihres Sohnes bewegen. Da Marco sein auffälliges Verhalten in der Therapie nicht selbst berichten konnte und wollte, erklärte sich seine Mutter bereit, regelmäßig mit der Lehrerin in Kontakt zu treten und eventuelle Vorkommnisse unmittelbar an den Therapeuten weiterzuleiten. Die Eltern wurden zu einem konsequenteren Bekräftigungsverhalten und adäquaten Reaktionen auf Fehlverhalten angeleitet. Gemeinsam mit Marco und seinen Eltern wurde ein Verhaltensvertrag zu den wichtigsten Konfliktthemen (Befolgen schulischer Anweisungen, kein Unterschlagen von Prüfungsterminen, adäquater Umgang mit Gleichaltrigen, Reduktion des PC-Konsums) ausgearbeitet. Aufgrund der schulischen Vorkommnisse berief die Schulleitung kurz nach Therapiebeginn eine Disziplinarkonferenz ein und wandte sich an das Jugendamt. Die Weiterführung der Psychotherapie wurde von der Schule zur Auflage eines weiteren Schulbesuchs gemacht. Als eine Konsequenz ging Marco nachmittags in die Hausaufgabenbetreuung, wo er unter besonderer Aufsicht stand. Hier gab er seine Rolle als Außenseiter zwar auf, schloss sich dann aber sozial auffälligen Schülern an und erwies sich schnell als Anstifter dieser Gruppe. Auch hier gab es mehrere Vorkommnisse (Beleidigung der Erzieherin, Missachtung von Verboten, Diebstahlsverdacht), die zu einem zwischenzeitlichen Ausschluss von der Mittagsbetreuung führten. Angesichts seiner deutlich verzerrten Wahrnehmung und Interpretation sozialer Situationen wurde mit Marco ein soziales Kompetenztraining durchgeführt, in dem reale und fiktive Konfliktsituationen besprochen und neue Handlungsalternativen erarbeitet wurden. Marco wurde darin geübt, eigene Gedanken und Gefühle zu benennen und in sozial akzeptierter Weise auszudrücken. Er wurde zugleich angeleitet, das von ihm zunächst sehr positiv bewertete Fehlverhalten seiner »neuen Freunde« aus der Hausaufgabenbetreuung kritisch zu hinterfragen und nicht nachzuahmen. Kontakte zu dieser Clique wurden weitgehend unterbunden und Kontaktaufnahmen zu angepassten Gleichaltrigen verstärkt. Dies ermöglichte Marco, neue Verhaltensalternativen im Alltag auszubauen und zu festigen.
Die Motivationsarbeit war immer wieder eine besondere therapeutische Herausforderung. Marco zeigte kein Bedürfnis, ein besseres Verhältnis zu Lehrern und Mitschülern zu entwickeln, und nannte auch in schulischer und beruflicher Hinsicht keine Perspektive (z. B. gab er als Berufswunsch »Penner« an). Im therapeutischen Kontext »mauerte« er, sobald er sich unter Druck gesetzt fühlte. Er versuchte sich immer wieder in Machtspielchen (z. B. lange schweigen, alberne Grimassen schneiden etc.). Durch klare Verhaltensregeln mit entsprechenden Konsequenzvereinbarungen konnte er mit der Zeit zu mehr Mitarbeit bewegt werden. Die gezielte Förderung eigener Interessen (Technik, Musik) ermöglichte es ihm, eigene Ziele zu setzen (z. B. Mitarbeit in der Computer-AG). In der Folge entwickelte sich auch die Einsicht, dass diese Ziele durch sozial akzeptiertes Verhalten am ehesten zu erreichen sind. Durch die multimodalen und intensiven Interventionen konnte Marcos Verhalten im Laufe des 8. Schuljahres deutlich gebessert und weitgehend stabilisiert werden. Bis zu seinem Schulabschluss waren in ca. 4-wöchigem Abstand Auffrischungssitzungen nötig, in denen aktuelle Vorkommnisse thematisiert wurden. Aufgetretene Regelverstöße wurden weiterhin mit Eltern und Lehrerin besprochen und gemeinsam adäquate Konsequenzen erarbeitet.
28.7
Empirische Belege
In Deutschland gibt es zu wenig gut kontrollierte Studien zur Wirksamkeit der Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter (Beelmann u. Schneider 2003). Man bezieht sich deshalb zumeist auf nordamerikanische Evaluationen (z. B. Döpfner 2003, 7 Kap. III/27). Die dortige breit angelegte Metaanalyse von Weisz et al. (1995) kam insgesamt zu einem positiven Fazit und einer mittleren Effektstärke von d=0.54. Zwischen internalisierenden und externalisierenden Störungen bestand dabei kein signifikanter Unterschied. In beiden Bereichen schnitten verhaltenstherapeutische und kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungen im Durchschnitt besser ab als andere Ansätze. Allerdings stellten die Autoren auch fest, dass die Effektstärken – wahrscheinlich auf Grund strikterer Evaluationsmethoden – insgesamt geringer ausfielen als in früheren Bestandsaufnahmen. Vielfältige Moderatorvariablen hatten einen Einfluss auf die Wirksamkeit. Zum Beispiel waren professionelle Therapeuten bei internalisierenden Störungen effektiver als paraprofessionelle Helfer, während bei externalisierenden Störungen die Tendenz umgekehrt war. Bei Jungen bestanden geringere Effekte als bei Mädchen, vor allem im Jugendalter. Auch zeigt die Forschung, dass die Behandlungseffekte dann geringer sind, wenn sie sich auf die alltägliche Praxis beziehen und nicht auf die besonderen Bedingungen sog. Analogstudien (Weisz et al. 1995). All dies legt nahe, dass wir bei den zumeist männlichen Klienten mit Störungen des Sozialverhaltens keine sehr großen Effekte erwarten sollten.
475 28.7 · Empirische Belege
Dies bestätigt die spezifischere Forschung zur Behandlung und Prävention bei dissozialen Störungen. Das deutsche Forschungsdefizit gilt hier in besonderem Maße. Zum Beispiel enthält die Metaanalyse von Beelmann und Schneider (2003) zur deutschsprachigen Wirkungsforschung über die Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen zwar insgesamt 47 Behandlungs-Kontrollgruppen-Vergleiche, doch sind wegen geringer Studienzahl Aufmerksamkeitsstörungen und externalisierende Störungen zusammengefasst. In Nordamerika liegen dagegen zur Intervention bei Störungen des Sozialverhaltens wesentlich mehr kontrollierte Evaluationen vor (vgl. Farrington u. Welsh 2007; Lipsey u. Wilson 1998; Lösel 2007; Piquero et al. 2008). Zwischen den einzelnen Studien bestehen allerdings vielfältige Unterschiede. Es variieren u. a. die Grundkonzepte der Interven-
tionen, die theoretischen Ansätze, die Zielgruppen, die Programmformen, die institutionellen Kontexte, die Intensität der Maßnahmen, die Wirkungsmaße und die Zeiträume der Nacherhebung. Methodische Merkmale der Untersuchung erklären oft den größten Teil der Varianz in den Ergebnissen (Lipsey u. Wilson 1998; Lösel u. Beelmann 2003). Hinzu kommen – wie die allgemeine Psychotherapieforschung zeigt – die Wirkfaktoren der zwischenmenschlichen Beziehung, die ebenso bedeutsam sind wie die Programminhalte. Man sollte deshalb aus einzelnen Evaluationsstudien nicht vorschnell auf das gesamte Forschungsgebiet generalisieren. Dies veranschaulichen zwei der bekanntesten und langfristigsten Studien zur selektiven Prävention von Störungen des Sozialverhaltens, die im folgenden Exkurs beschrieben werden.
Exkurs Das »High/Scope Perry Preschool Project« (Schweinhart et al. 2005) wurde mit 123 Hochrisikokindern im Vorschulalter aus Armenvierteln in Ypsilanti bei Detroit durchgeführt. Knapp die Hälfte erhielt ein Präventionsprogramm, die anderen bildeten eine randomisierte Kontrollgruppe. Das Programm umfasste u. a. eine anregende zweijährige Vorschulerziehung, ein Elterntraining und wöchentliche Hausbesuche. Mehrere Follow-up-Untersuchungen verglichen die Entwicklung beider Gruppen vom Jugendalter bis in das mittlere Erwachsenenalter. Die Programmgruppe zeigte geringere Probleme des Sozialverhaltens (Aggression, Delinquenz), weniger polizeiliche Festnahmen, bessere kognitive Kompetenzen, ein höheres Einkommen und mehr Merkmale einer positiven Entwicklung als die Kontrollgruppe. Eine andere herausragende Evaluationsstudie ist die »Cambridge-Somerville Youth Study« (McCord 2003). Hier teilte man über 500 knapp 10-jährige Jungen aus Hochrisikofamilien in Cambridge, Massachusetts, per Zufall einer Interventions- und einer Kontrollgruppe zu. Das Programm erstreckte sich über 5 Jahre und umfasste regel-
Programme zur Förderung der sozialen Kompetenz der Kinder Trainingsprogramme zur Förderung der sozialen Problemlösefertigkeiten, der emotionalen Rollenübernahme, der Selbst- und Ärgerkontrolle und anderer Aspekte sozialer Kompetenz gehören zu den am besten evaluierten Maßnahmen sowohl zur Prävention als auch Behandlung bei Störungen des Sozialverhaltens. Etliche Metaanalysen bestätigen ihre Wirksamkeit. Lösel und Beelmann (2003, 2005) haben 135 randomisierte Kontrollgruppenvergleiche zur präventiven Wirkung von sozialen Kompetenztrainings bei Störungen des Sozialverhaltens ausgewertet. Insgesamt waren in diesen Studien über 16.000 Kinder und Jugendliche einbezogen. Die meisten Erfolgsmessungen fanden kurz nach dem Training statt, bei knapp einem
mäßige Familienberatung durch individuell zugeteilte Sozialarbeiter, psychiatrische und allgemein-medizinische Betreuung, schulische Förderung, Sommerlager und andere Formen der Freizeitbetreuung. Auch dieses Programm wurde über mehr als 30 Jahre hinweg evaluiert. Die Beteiligten waren mit dem Programm zufrieden, und im Jugendalter zeichneten sich noch mäßige positive Effekte ab. Die Daten im Erwachsenenalter zeigten kaum Unterschiede zur Kontrollgruppe, aber tendenziell mehr Rückfallkriminalität, schwerere psychiatrische Störungen, Alkoholismus und andere Probleme in der Behandlungsgruppe. Das heißt, trotz bester Absichten hatte dieses Programm keine oder sogar negative Auswirkungen. Die Ursachen hierfür sind unklar. Möglicherweise haben der Wechsel von Betreuungspersonen und die Konzentration von Risikokindern in pädagogisch wenig strukturierten Sommerlagern zu unerwünschten Lerneffekten beigetragen. Als Folgerung bleibt, dass die Wirksamkeit von Behandlungs- und Präventionsmaßnahmen nicht anhand einzelner Studien, sondern nur auf der Basis systematischer Forschungssynthesen beurteilt werden sollte.
Drittel gab es eine Follow-up-Erhebung von mindestens 3 Monaten. Die große Mehrzahl der Effekte war positiv. Nur bei etwa 10% schnitten die Kontrollgruppen besser ab. Die durchschnittliche Effektstärke kurz nach den Trainings betrug d=0.36, bei den Follow-up-Messungen war sie mit 0.28 niedriger. Allerdings fielen die Effekte beim aggressiven und delinquenten Verhalten etwas geringer aus als bei direkt auf das Training bezogenen Wirkungsmaßen wie kognitiven und sozial-kognitiven Fertigkeiten. Beim Vergleich der Programminhalte zeigten multi-modale, kognitiv-verhaltensorientierte Ansätze die deutlichsten und auch im Follow-up konsistentesten Effekte (d=0.50). Rein kognitive, verhaltensorientierte, beraterische, psychodynamische und andere Ansätze schnitten schlechter ab. Indizierte Prä-
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
ventionsprogramme für bereits auffällige Kinder erbrachten größere Effekte als universelle Maßnahmen. Dies ist plausibel, da bei Programmen für alle Kinder auch solche trainiert werden, die eigentlich keine Intervention benötigen. Bei kleinen Stichproben gab es im Durchschnitt größere Effekte als bei großen Stichproben. Dies könnte einerseits auf einen Publikationseffekt zurückzuführen sein. Andererseits sind in größeren Studien mehr Probleme bei der Programmimplementierung wahrscheinlich. Von den Programmentwicklern selbst durchgeführte Demonstrationsstudien, bei denen normalerweise besonders auf die Integrität der Durchführung geachtet wird, erbrachten größere Effekte. Die wenigen Langzeitstudien zeigten uneinheitliche Ergebnisse. Die anderen Metaanalysen erbrachten grundsätzlich ähnliche Ergebnisse für soziale Kompetenztrainings. Bei Ang und Hughes (2002) waren die durchschnittlichen Effektstärken größer (d=0.62). Allerdings lag der Schwerpunkt bei gezielten Präventions- und Behandlungsmaßnahmen, die auch in unserer Studie höhere Effekte erbrachten. Darüber hinaus bezogen sich die Effekte bei Ang und Hughes oft auf proximale Fertigkeitsmaße, bei konkretem Sozialverhalten und im Follow-up fielen sie deutlich ab. Bei Wilson et al. (2003) lagen dagegen die Effektstärken im Durchschnitt niedriger. Dies erklärt sich plausibel dadurch, dass vor allem universelle und selektive Präventionsmaßnahmen einbezogen waren und sich die Wirkungsmaße auf aggressives, delinquentes und anderes externalisierendes Problemverhalten bezogen.
Familienbezogene Programme Hierbei handelt es sich um ein breites Spektrum von Maßnahmen, das von Hausbesuchsprogrammen für junge Mütter, über Elterntrainings zur Förderung der Erziehungskompetenz, bis hin zu kombinierten Eltern-Kind-Programmen und multisystemischer Therapie reicht. Am häufigsten werden kognitiv-verhaltenstherapeutisch fundierte Trainings zur Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz durchgeführt und evaluiert. Verschiedene Metaanalysen zeigen, dass familienbezogene Interventionen die Störungen des Sozialverhaltens bei Kindern und Jugendlichen reduzieren. Die mittleren Effektstärken variieren zwischen d=0.22 (Farrington u. Welsh 2003) und 0.65 (Serketich u. Dumas 1996). Serketich und Dumas analysierten nur Studien zu Elterntrainings als indizierte Präventions- und Behandlungsmaßnahme und bezogen ein breites Spektrum von zumeist kurzfristigen Effektmaßen ein. Bei Farrington und Welsh handelte es sich dagegen teilweise auch um primär-präventive Studien, recht unterschiedliche Interventionstypen und »harte« Maße des Erfolgs im aggressiven und delinquenten Verhalten mit überwiegend längerem Follow-up. Beelmann und Bogner (2005) analysierten die Wirksamkeit von Elterntrainings. In den insgesamt 110 Vergleichen mit Kontrollgruppen variierten die Effekte je nach Berechnungsmodell
(Durchschnitt: d=0.64). Bei längerem Follow-up und Indikatoren des dissozialen Kindverhaltens waren die Effektstärken geringer. Ähnliches ergab sich in der Metaanalyse von Lundahl et al. (2006), die Elterntrainings zur gezielten Prävention und Behandlung evaluierten. Ihr durchschnittlicher Effekt aus 83 Vergleichen lag bei d=0.47. Lösel et al. (2006b) analysierten 27 überwiegend methodisch schwächere Evaluationen deutschsprachiger familienbezogener Prävention (zumeist Elterntrainings). Der durchschnittliche kurzfristige Effekt lag bei d=0.40. Bei gezielter Prävention war er höher als bei universeller, und bei längerfristigem Follow-up und Maßen des dissozialen Kindverhaltens fiel er ab. Piquero et al. (2008) analysierten nur randomisierte Studien und fanden bei 55 Studien eine mittlere Effektstärke von d=0.46. Diese Größenordnung bedeutet, dass bei angenommen 50% stabil auffälliger oder rückfälliger Probanden in der Kontrollgruppe die Rate in der Interventionsgruppe nur 28% beträgt. Da in letzter Zeit strukturierte kognitiv-verhaltenstherapeutische Elterntrainings weit überwiegen, fallen die Unterschiede zwischen den Programmen zur Förderung der Erziehungskompetenz zumeist nur mäßig aus. Soweit Unterschiede bestehen, sind sie oft mit anderen Studienmerkmalen konfundiert. Insofern sollte das eine oder andere Programm nicht als der »Goldstandard« angepriesen werden. Wegen der multiplen Risikofaktoren ist es grundsätzlich sinnvoll, elternbezogene Maßnahmen mit solchen für die Kinder oder deren Umfeld zu kombinieren. Ein Beispiel ist die oben skizzierte multisystemische Therapie von Henggeler et al., für die zumeist, aber nicht immer positive Evaluationsergebnisse vorliegen. Klinikbasierte Elterntrainings und Kindertrainings sowie Elternprogramme mit Tagesbetreuung der Kinder zeigen ebenfalls positive Effekte (vgl. Farrington u. Welsh 2003, 2007). Gute Wirkungsnachweise bestehen auch für frühe Hausbesuchsprogramme bei Risikofamilien (z. B. alleinerziehenden Müttern der Unterschicht). Im Family-Nurse-Partnership-Programm von Olds et al. (1998) besuchen Hebammen oder soziale Dienste die Mütter regelmäßig vor der Geburt und in den ersten zwei Lebensjahren des Kindes. Entsprechend Konzepten des sozialen Lernens, der frühen Bindung und Selbstwirksamkeit sollen die Mütter und damit indirekt die Kinder in ihrer sozialen Kompetenz gestärkt werden. Verschiedene Studien zeigen, dass dadurch Kindesmisshandlung und Vernachlässigung reduziert werden und auch langfristige Effekte hinsichtlich Delinquenz, Drogenkonsum und Schulversagen der Kinder bestehen.
Behandlung junger Straftäter Wenngleich in den skizzierten Metaevaluationen auch Behandlungsstudien an jugendlichen Straftätern enthalten sind, handelt es sich zumeist um familiäre, schulische und klinische Kontexte. Störungen des Sozialverhaltens führen jedoch nicht selten zu offizieller Delinquenz und schweren
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Straftaten, für die dann die Strafjustiz zuständig ist. Bei strafmündigen Jugendlichen (in Deutschland ab 14 Jahren) ist die Therapie dissozialer Störungen deshalb eng mit der Straftäterbehandlung verbunden. Im Jugendstrafvollzug steht der Erziehungs- und Behandlungsgedanke besonders im Vordergrund, und viele Maßnahmen zielen auf die Resozialisierung der Täter. Nachdem bis Ende der 1980er Jahre die Auffassung »nothing works« weit verbreitet war, hat sich seit den 1990er Jahren eine differenzierte Praxis und Forschung der Straftäterbehandlung entwickelt (vgl. Lösel 1995). In manchen Ländern hat man sogar die Akkreditierung evidenzbasierter Behandlungsprogramme eingeführt. In den Grundzügen zeigt die internationale Evaluationsforschung, dass die Prinzipien einer erfolgreichen Rehabilitation von Straftätern ähnlich sind wie in der Prävention und Behandlung dissozialer Störungen in anderen Kontexten (Lösel 2007). In den Metaanalysen von Lipsey (1992) wurden über 400 kontrollierte Evaluationen zur Behandlung jugendlicher Straftäter und in der Metaanalyse von Lipsey und Wilson (1998) 200 Studien zu schweren und gewalttätigen jugendlichen Tätern ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen konsistent positive Effekte bei kognitivbehavioralen Interventionen und Trainings von sozialen Fertigkeiten. Auch familienbezogene Programme wie multisystemische Therapie und individuelle Beratungsangebote erweisen sich als wirksam. Typische kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme sind z. B. »Aggression Replacement Training«, »Reasoning and Rehabilitation«, »Enhanced Thinking Skills« und »Moral Recognation Therapy«. In diesen Gruppenprogrammen sollen die Straftäter lernen, Änderungsmotivation zu entwickeln, Zusammenhänge zwischen ihren Denkmustern und Verhaltensweisen zu erkennen, Wut und Ärger besser zu kontrollieren, Handlungsfolgen realistisch abzuschätzen, Selbstkontrolle einzuüben und nichtaggressive Problemlösungen und soziale Fertigkeiten zu entwickeln. Metaanalysen zeigen, dass die verschiedenen Programme recht ähnliche Effekte erbringen (Lipsey u. Landenberger 2006) und Module der Wutkontrolle und des sozialen Problemlösens besonders wichtig sind. Im Gegensatz zu derartigen klinisch-psychologisch fundierten Programmen zeigen abschreckende Maßnahmen, sog. »Boot Camps«, sowie rein psychodynamische und kriminologisch unspezifische Programme in den kontrollierten Evaluationen keine Wirkung. Insgesamt fallen die Effektstärken in der Straftäterbehandlung mit durchschnittlich d=0.20 eher gering aus. Allerdings handelt es sich hierbei um Studien an einer oft multipel gestörten Klientel (z. B. Dissozialität plus Alkohol- und Drogenprobleme), mit mehrjährigen Follow-up-Zeiträumen und harten Wirkungskriterien der offiziellen Rückfälligkeit.
Größere Effekte ergeben sich dann, wenn die Behandlung nach Andrews und Bonta (2001) folgende Prinzipien berücksichtigt: 1. Risikoprinzip: Die Maßnahmen sind in ihrer Intensität sorgfältig auf den Grad der individuellen Probleme abzustimmen. 2. Bedürfnisprinzip: Die Behandlung zielt nicht auf allgemeine Persönlichkeitsveränderungen ab, sondern auf die spezifischen kriminogenen Faktoren (z. B. geringe Selbstkontrolle, Alkoholkonsum, antisoziale Beziehungen, Empathiemangel, defizitäre soziale Fertigkeiten). 3. Ansprechbarkeitsprinzip: Die Interventionen sind den zumeist konkreten Denk- und Lernweisen der Delinquenten angepasst (z. B. Fertigkeitstraining, Rollenspiele, Modelllernen, Bekräftigungslernen, schul- und berufspädagogische Förderung). Erfüllt eine Behandlung keines dieser Prinzipien, muss sogar mit leicht negativen Effekten gerechnet werden.
Im Sinne des »What works« wurden in den letzten Jahren nicht nur evidenzbasierte Behandlungsansätze für junge und allgemein straffällige Menschen entwickelt, sondern auch für spezielle Gruppen wie Gewalttäter, substanzabhängige Täter oder Sexualtäter. Grundlegend sind dabei kognitiv-verhaltenstherapeutische Konzepte, doch zeichnen sich auch erfolgversprechende Kombinationen mit pharmakologischer Behandlung ab (z. B. in Form von Anti-Androgenen bei Sexualtätern; Lösel u. Schmucker 2005).
28.8
Ausblick
Die Längsschnittforschung über Risikofaktoren, Schutzfaktoren und Entwicklungsverläufe von Störungen des Sozialverhaltens hat in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Auf dieser Basis haben sich auch erfolgreiche Ansätze der Prävention und Behandlung entwickelt. Deren Weiterentwicklung erfordert vermehrte Evaluationsstudien von hoher methodischer Qualität. Dabei zeichnet sich eine zunehmende Differenzierung ab, die anstelle pauschaler Programme den spezifischen biopsychosozialen Charakteristika des Einzelfalls oder von Subgruppen Rechnung trägt. Im Zuge dieser Entwicklung sind integrative Ansätze erforderlich, die Störungen des Sozialverhaltens über die Ressortgrenzen hinweg angehen, d. h. nicht nur jeweils als Problem der Gesundheitsversorgung, der sozialen Dienste, des Erziehungswesens oder der Justiz angehen.
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
Zusammenfassung
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Die Störung des Sozialverhaltens ist durch ein sich wiederholendes Muster dissozialen, aggressiven und aufsässigen Verhaltens charakterisiert, durch das die grundlegenden Rechte anderer und wichtige altersgemäße gesellschaftliche Normen oder Regeln verletzt werden. Sie ist eine der am häufigsten diagnostizierten Störungen im Kindes- und Jugendalter und hat eine wichtige Markerfunktion für die Entwicklung langfristiger Erlebens- und Verhaltensprobleme. Die Auftretenshäufigkeit steigt im Jugendalter an, wobei zunehmend delinquentes anstelle von physisch aggressivem Verhalten gezeigt wird. Bei Jungen tritt die Störung wesentlich häufiger auf als bei Mädchen. Für die Ätiologie ist ein multifaktorielles Konzept biopsychosozialer Risikofaktoren angemessen. Für die Diagnose werden Fragebögen, Interviews, Verhaltensbeobachtungen und andere Methoden eingesetzt, wobei die Informationen aus multiplen Quellen und Kontexten stammen sollten. Bei der Intervention bestehen fließende Übergänge zwischen Prävention und Therapie. Es gibt zahlreiche verhaltenstherapeutische Interventionen und Programme, die entweder bei dem Kind oder dem Jugendlichen selbst, den Eltern, dem sozialen Umfeld oder in mehreren Bereichen ansetzen. Die besten Effekte erzielen multimodale Programme der Prävention und Behandlung. Das Gros der Evaluationsforschung stammt aus dem angloamerikanischen Raum; in Deutschland mangelt es an gut kontrollierten Langzeitevaluationen mit »harten« Erfolgskriterien. Als Zukunftsperspektive ergibt sich die verstärkte Integration von Prävention und Behandlung nach dem Motto »Es ist niemals zu früh und niemals zu spät« bei Störungen des Sozialverhaltens zu intervenieren.
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Kapitel 28 · Störungen des Sozialverhaltens
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Danksagung Wir danken Frau Dr. Maren Weiss für ihre Unterstützung bei der Erstellung der Fallbeschreibungen.
29
29 Trennungsangst Silvia Schneider, Judith Blatter
29.1
Einleitung
– 482
29.2
Darstellung der Störung – 483
29.2.1 29.2.2 29.2.3 29.2.4 29.2.5
Familiäre Merkmale – 484 Beziehungen zu Gleichaltrigen – 484 Weitere Merkmale – 484 Klassifikation in DSM-IV und ICD-10 – 485 Epidemiologie und Symptomatik im Altersverlauf
29.3
Modelle zur Ätiologie
29.3.1 29.3.2 29.3.3 29.3.4
Das integrierte behaviorale Inhibition-Attachment-Modell von Manassis u. Bradley – 487 Empirische Belege – 487 Das kognitive Modell von Kendall u. Ronan – 488 Wie bilden sich kognitive Stile aus? – 489
29.4
Diagnostik – 489
29.4.1 29.4.2 29.4.3 29.4.4
Differenzialdiagnose – 489 Fragebögen – 490 Familiendiagnostik – 491 Verhaltensbeobachtung – 492
29.5
Therapeutisches Vorgehen
29.5.1
Trennungsangstprogramm für Familien (TAFF, Schneider 2004b)
29.6
Fallbeispiel
29.6.1 29.6.2
Anamnese – 497 Behandlung – 497
29.7
Empirische Belege
29.8
Ausblick – 499
Literatur
– 487
– 492
– 497
Zusammenfassung
– 486
– 499
– 500
– 500
Weiterführende Literatur
– 501
– 492
482
Kapitel 29 · Trennungsangst
29.1
Einleitung
Im American Journal of Psychotherapy geben Estes et al. 1956 erstmals eine umfassende klinische Beschreibung des Erscheinungsbildes der Störung mit Trennungsangst und fassen die Ätiologie und Behandlung der Trennungsangst wie folgt in 8 bzw. 3 Punkten zusammen:
29
Trennungsangst ist eine Neurose, bei der sich Kind und Mutter gezwungen fühlen, in engem, körperlichen Kontakt zu stehen. Trennungsangst ist nicht primär eine Schulangst und auch kein delinquentes Schuleschwänzen. Die dynamische Entwicklung dieser Neurose beinhaltet folgende Punkte: 1. Eine frühe, schlecht gelöste Abhängigkeitsbeziehung zwischen Mutter und Kind. 2. Inadäquate Befriedigung der emotionalen Bedürfnisse der Mutter, meist verursacht durch eine schlechte Ehe. 3. Eine temporäre Gefährdung der kindlichen Sicherheit, die einen vorübergehenden Anstieg der kindlichen Abhängigkeitsbedürfnisse verursacht. 4. Ausnutzung dieser Situation durch die Mutter und Förderung einer übertriebenen Abhängigkeit des Kindes zu ihr. 5. Eine ähnliche Beziehung zwischen Mutter und ihrer eigenen Mutter. 6. Ausdruck von Feindseligkeit gegenüber dem Kind, nicht nur dadurch, dass es von der Mutter abhängiger gemacht wird, sondern auch durch direkte Unterbindung jeglicher Möglichkeit des Kindes, aggressive oder feindselige Gefühle gegenüber der Mutter auszudrücken und auch durch verführerisches Verhalten gegenüber dem Kind. 7. Entwicklung starker Feindseligkeit des Kindes gegenüber der Mutter, größtenteils unbewusst, und ausgedrückt unter Ausnutzung der mütterlichen Schuld gegenüber ihm und auch durch Ängste um die mütterliche Sicherheit, die durch unbewusste destruktive Wünsche verursacht sind, und das Kind zwingen, bei der Mutter zu sein, um Gewissheit über mütterliche Sicherheit zu haben. 8. Verschiebung der Feindseligkeit auf den Lehrer, der nun zum phobischen Objekt wird. Die Therapie enthält folgende Bestandteile: 1. Die Konflikte beider Eltern werden in die Übertragung gebracht, dadurch partielle Befriedigung der Abhängigkeitsbedürfnisse, Ausdruck von Feindseligkeit erlauben und beides analysieren. Therapeutische Grenzen setzen wie etwa, dafür sorgen, dass das Kind wieder zur Schule geht, hervorrufen von Ängsten in Mutter und Kind und Unterstützung, dass Konflikte in die Übertragung kommen. Eine sorgfältige Behandlung der Mutter ist essentiell, um zu verhindern, dass die Mutter ein weiteres Kind in die Neurose einbindet. 2. Analyse der spezifischen Konflikte, die die Schwierigkeiten verursachten. 3. Bereitstellung einer Situation, in der das grundlegende Abhängigkeitsproblem jedes Patienten auf einem reiferen Niveau gelöst werden kann. (Estes et al. 1956; Übersetzung der Erstautorin)
Der Begriff der Trennungsangst steht sowohl für eine Phase in der normalen Entwicklung eines Kleinkindes als auch für ein abweichendes Verhalten eines Kindes ab dem Vorschulalter. Unter der »normalen« oder entwicklungsphasentypischen Trennungsangst wird die Protestreaktion eines Kindes bei der Trennung von der primären Bezugsperson verstanden. Sie beginnt typischerweise im Alter zwischen 7 und 12 Monaten, erreicht ihren Höhepunkt mit 15–18 Monaten und nimmt danach wieder kontinuierlich ab. Diese Form der Trennungsangst wird als entwicklungsphasentypisch verstanden, da sie mehr oder weniger bei allen Kindern dieser Altersgruppe beobachtet werden kann und eine vorübergehende Angstreaktion darstellt. Im Gegensatz zu der entwicklungsphasentypischen Trennungsangst steht die »klinische« Trennungsangst als eine Form kindlicher Angststörung. Die Störung mit Trennungsangst kann am besten über den Zeitpunkt ihres Auftretens von der entwicklungsphasentypischen Trennungsangst abgegrenzt werden: Die Störung mit Trennungsangst kann ab dem Alter von etwa 3 Jahren auftreten, einem Alter, in dem die Mehrzahl der Kinder die Trennung von der Bezugsperson ohne größere emotionale Belastung vollzieht. Darüber hinaus ist die Störung mit Trennungsangst dadurch charakterisiert, dass sie mit einer deutlichen Beeinträchtigung des Kindes in seinem Alltag (z. B. kein Kindergarten- oder Schulbesuch möglich) und in seiner normalen Entwicklung verbunden ist. Im Folgenden soll der aktuelle Forschungsstand zur Deskription, Ätiologie und Therapie der Störung mit Trennungsangst zusammengefasst werden. Anders als zur Zeit der oben zitierten Publikation von Estes et al. (1956) stehen uns heute empirische Forschungsbefunde zu diesem Störungsbild zur Verfügung, die uns helfen, die oben formulierten Annahmen zur Ätiologie und Behandlung zu prüfen. Jedoch liegen noch immer nur wenige Studien vor, die sich speziell dem Störungsbild der Trennungsangst widmeten. Vielmehr werden in den meisten Forschungsarbeiten die verschiedenen Angststörungen des Kindesalters als eine Einheit betrachtet, so dass differenzielle Angaben zu Ätiologie und Behandlung einzelner Angststörungen, wie etwa Störung mit Trennungsangst, nicht immer möglich sind. Aus diesem Grund werden im Folgenden oft nur allgemeine Aussagen über Angststörungen des Kindes- und Jugendalters als Gesamtgruppe, statt spezifischer Aussagen über die Störung mit Trennungsangst möglich sein. > Fazit Unter Trennungsangst wird sowohl eine für ein bestimmtes Alter typische Entwicklungsphase als auch ein abweichendes Verhalten eines Kindes ab dem Vorschulalter verstanden.
483 29.2 · Darstellung der Störung
Exkurs Fremdenangst ein Epiphänomen der Trennungsangst? Fremdenangst tritt mehr oder weniger bei allen Kindern im Alter von 6–8 Monaten auf und stellt die erste Angstreaktion eines Kindes dar. Sie nimmt bis zum Alter von etwa 12 Monaten kontinuierlich zu, um dann bis zum Ende des 2. Lebensjahres langsam wieder abzuflauen. In den 1970er Jahren wurde eine heftige Diskussion darüber ausgelöst, ob Fremdenangst möglicherweise ein Epiphänomen sei und nur dann zu beobachten ist, wenn gleichzeitig die Bezugsperson abwesend ist. In diesem Fall wäre es besser von einer Trennungsangst zu sprechen. Die vorliegende Forschung zur Fremdenangst zeigt jedoch, dass diese Angst auch im Beisein der Bezugsperson ausgelöst wird. Es handelt sich um eine komplexe Reaktion des Kindes, die v. a. auftritt, wenn das Kind in einer unvertrauten
29.2
Darstellung der Störung
Kinder mit einer Störung mit Trennungsangst zeigen eine exzessive und unrealistische Angst in Erwartung oder unmittelbar bei einer Trennung von den Eltern oder anderen engen Bezugspersonen. Sie haben die Sorge, dass ihren Eltern oder ihnen selbst etwas Schlimmes zustoßen könnte, was zu einer dauerhaften Trennung führen würde (z. B. Autounfall der Eltern, Entführung des Kindes). Häufig vermeiden diese Kinder, 4 abends alleine einzuschlafen, 4 mit einem Babysitter zu Hause zu bleiben, 4 alleine tagsüber zu Hause zu bleiben, 4 bei Freunden zu übernachten oder zum Kindergarten bzw. zur Schule zu gehen. Die Kinder können eine gereizte, aggressive oder auch apathische Stimmung aufweisen, wenn eine Vermeidung der Trennungssituation nicht möglich ist. So kann das Kind weinen, schreien, um sich schlagen oder sich an die Bezugsperson klammern, mit dem Ziel, die anstehende Trennung zu verhindern. Körperliche Symptome treten ebenfalls auf und umfassen typischerweise somatische Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen. Wiederkehrende körperliche Symptome machen eine ausführliche medizinische Untersuchung notwendig, um organische Ursachen der Beschwerden auszuschließen. Meist sind die körperlichen Symptome im Kontext der Trennungsangst zu verstehen: So lassen etwa die körperlichen Symptome nach, wenn das Kind nicht in den Kindergarten oder die Schule geschickt wird oder sich die Eltern dazu entschließen, bei dem Kind zu bleiben. Gerade die körperlichen Symptome des Kindes verunsichern viele Eltern. Aus dem Wunsch heraus, das Kind zu schützen, unterstützen sie sein Bedürfnis nach Vermeidung, was kurzfristig die Angst des Kindes reduziert, aber mittel- und langfristig zur Aufrecht-
Situation ist oder von einer fremden Person plötzlich und unvorbereitet auf den Arm genommen wird. Wird das Kind hingegen behutsam in einer neuen Situation an eine fremde Person herangeführt, kann die Fremdenreaktion vollständig ausbleiben bzw. nur sehr schwach auftreten. Sollte Fremdenangst als ein Meilenstein in der Entwicklung eines Kindes betrachtet werden? Sroufe (1996) schlägt vor, die Fremdenangst als eine Entwicklungsaufgabe zu sehen, die mehr oder weniger alle Kinder zu bewältigen haben. Die dabei zentrale Aufgabe des Kindes in der zweiten Hälfte seines 1. Lebensjahres ist es, sein soziales Umfeld zu differenzieren. Starke oder sehr frühe Fremdenangst sollte nicht als Hinweis auf eine besonders gute Bindung des Kindes an seine Bezugsperson missverstanden werden (Rauh 1995).
erhaltung und Generalisierung der Trennungsangst beiträgt. Viele Eltern beschreiben, dass sie kaum noch etwas unternehmen und schon gar nicht mehr versuchen, das Kind an andere Betreuungspersonen (wie etwa den abendlichen Babysitter) zu gewöhnen. Bei Vorschulkindern wird häufig auf einen regelmäßigen Kindergartenbesuch verzichtet. Weitere Symptome der Trennungsangst sind Träume, von den Eltern getrennt zu sein, oder bei jüngeren Kindern das Bedürfnis, immer in unmittelbarer Nähe der Bezugsperson zu sein. Häufig erst, wenn der Schulbesuch des Kindes gefährdet ist, wird professionelle Hilfe in Anspruch genommen. > Fazit Die Störung mit Trennungsangst ist durch eine starke, über einen langen Zeitraum anhaltende Angst vor einer dauerhaften Trennung von wichtigen Bezugspersonen charakterisiert. Trennungen von Bezugspersonen werden nur unter starker Angst ertragen bzw. vermieden.
Fallbeispiel Tanja ist 12 Jahre alt und schläft im Zimmer ihrer Eltern. Seit mehreren Monaten kommt es regelmäßig zu Streit in der Familie, da der Vater auf keinen Fall dulden möchte, dass Tanja im elterlichen Schlafzimmer übernachtet. Tanja entwickelt dann ausgeprägte Wutanfälle, bei denen sie um sich schlägt und manchmal sogar Kleidungsstücke oder auch Gegenstände beschädigt. Tanja schläft unter Weinen in ihrem Bett ein, während die Mutter am Bettrand sitzt und sie zu beruhigen versucht. In der Nacht schleicht Tanja oft in das Bett der Mutter, ohne dass es der Vater merkt. Sie leidet außerdem am Morgen unter starken Bauchschmerzen, Übelkeit und dem Drang zu erbrechen, so dass sie die Schu6
29
484
Kapitel 29 · Trennungsangst
le nicht besuchen kann. Als sie im Alter von 10 Jahren von der Grundschule, die gleich in der Nachbarschaft ihres Elternhauses war, zur Realschule in den Nachbarort wechseln sollte, wurden die Bauchschmerzen ganz schlimm. Tanja verweigerte über mehrere Wochen den Schulbesuch. Die Eltern suchten mit ihr zahlreiche Ärzte auf, um eine Erklärung für die Bauchschmerzen zu bekommen. Die medizinischen Untersuchungen ergaben aber keine Hinweise auf eine organische Verursachung der Symptome. Erst nach einer Operation, bei der prophylaktisch Tanjas Blinddarm entfernt wurde, gingen die Bauchschmerzen für mehrere Monate zurück. Nach Beginn des neuen Schuljahres traten die Bauchschmerzen aber wieder in der alten Stärke auf und Tanja begann erneut, die Schule zu vermeiden. Tanja hatte im Alter von 2 und 3 Jahren drei epileptische Anfälle, die danach aber nie mehr auftraten. Die Mutter sorgt sich sehr um Tanjas Gesundheit und versucht, starke Belastungen von ihr fernzuhalten. Tanja gibt im strukturierten Interview an, dass sie nicht gerne bei Freundinnen übernachten möchte, auch gibt sie an, nur sehr ungern in große Kaufhäuser und Supermärkte zu gehen. Kinobesuche fallen ihr schwer, obwohl sie dies eigentlich gerne häufiger mit ihren Freundinnen machen möchte (Fallbeispiel zit. aus Schneider 2004a).
29 29.2.1 Familiäre Merkmale
Untersuchungen an Kindern mit Schulverweigerung und komorbider Trennungsangst weisen darauf hin, dass in den Familien dieser Kinder häufiger problematische Familienkonstellationen vorliegen (King u. Bernstein 2001): So scheinen sich diese Familien durch ein geringes Ausmaß an Kohäsion (d. h. »Disengagement«) und Adaptabilität (hohe Rigidität) auszuzeichnen (Bernstein et al. 1999). Inwieweit diese Befunde auf alle Kinder mit Trennungsangst übertragen werden können, gilt es noch zu prüfen. Anhand von Fragebogenuntersuchungen und Verhaltensbeobachtungen wurden Familienmerkmale von Kindern mit verschiedenen Angststörungen im Vergleich zu Kindern ohne Angststörungen untersucht. Hier zeigte sich, dass Kinder mit Angststörungen ihre Familien als weniger akzeptierend und Autonomie gewährend (Messer u. Beidel 1994; Siqueland et al. 1996), weniger kontaktfreudig und unterstützend sowie konfliktreicher und »verstrickter« (Stark et al. 1990) erlebten als Kinder ohne Angststörungen. Noch wenig untersucht ist die Beziehung von Kindern mit Angststörungen zu ihren Geschwistern. In einer Studie mit Kindern mit Angststörungen (ein Viertel der Kinder erfüllte die Diagnosekriterien einer Trennungsangst) zeigte sich im Selbstbericht der Kinder und anhand von Verhaltensbeobachtungen, dass die Interaktionen von klinisch
ängstlichen Kindern mit ihren Geschwistern im Vergleich zu Kindern ohne psychische Störung durch mehr Konflikte, stärkere gegenseitige Kontrolle und geringere emotionale Wärme charakterisiert sind (Fox et al. 2002). Die Untersuchung von familiären Faktoren bei Kindern mit Angststörungen allgemein und Trennungsangst im Speziellen steht noch am Anfang. Es steht noch aus zu klären, inwieweit die beobachteten familiären Merkmale allgemeine Merkmale von Kindern mit psychischen Störungen sind, oder ob sie speziell für Kinder mit Angststörungen gelten. Auch innerhalb der Gruppe der Angststörungen des Kindesalters gilt es noch zu prüfen, ob es spezifische Unterschiede bezüglich familiärer Faktoren für Kinder mit Trennungsangst gibt.
29.2.2 Beziehungen zu Gleichaltrigen
Erst wenige Studien haben die »Peer-Beziehungen«, also die Beziehung zu Gleichaltrigen, von Kindern mit Trennungsangst bzw. mit Angststörungen untersucht. Jedoch weisen diese Studien darauf hin, dass Kinder mit hoher Ängstlichkeit bzw. Angststörungen Auffälligkeiten in den Beziehungen zu anderen Kindern aufweisen. So zeigte sich, dass Kinder mit hoher Ängstlichkeit in ihrer Schulklasse weniger beliebt waren und von ihren Mitschülern häufiger als schüchtern und sozial zurückgezogen beschrieben wurden als Schüler mit einer geringen Ausprägung allgemeiner Ängstlichkeit (Strauss et al. 1987). Ein ähnlicher Befund konnte auch für Kinder mit Angststörungen nach DSM-III (Trennungsangst, Zwangsstörung oder Überängstlichkeit) beobachtet werden (Strauss et al. 1988). In dieser Studie wurden Kinder mit Angststörungen, aber auch Kinder mit aggressiven Verhaltensstörungen, als weniger beliebt eingeschätzt als Kinder ohne psychische Störung. Die beiden klinischen Gruppen unterschieden sich darin voneinander, dass Kinder mit Angststörungen häufiger von ihren Mitschülern sozial vernachlässigt wurden als Kinder mit aggressiven Verhaltensstörungen. Diese Befunde sprechen für eine soziale Benachteiligung von Kindern mit Angststörungen durch ihre Alterskameraden. Gleichzeitig weisen Strauss et al. (1988) aber darauf hin, dass 63% der Kinder mit Angststörungen keine Defizite in ihren Beziehungen zu Gleichaltrigen aufwiesen.
29.2.3 Weitere Merkmale
Kinder mit einer Störung mit Trennungsangst zeigen häufig eine ausgeprägte Angst vor Krankheiten, dem Sterben und vor dem Tod. Von ihren Eltern werden sie oft als sehr fordernd und aufmerksamkeitsbedürftig beschrieben. Kinder mit Trennungsangst scheinen sich in ihrer psychosozialen Entwicklung von Kindern mit anderen Angststörungen zu unterscheiden. Aufbauend auf Loevingers Theorie zur IchEntwicklung wurde in einer Studie beobachtet, dass Kinder
485 29.2 · Darstellung der Störung
mit einer Störung mit Trennungsangst im Unterschied zu Kindern mit Überängstlichkeit besonders impulsiv, schutzund pflegebedürftig sind (impulsive Entwicklungsstufe), während Kinder mit Überängstlichkeit vor allem durch eine Übererfüllung sozial erwünschten Verhaltens charakterisiert sind (konformistische Entwicklungsstufe; Westenberg et al. 1999). In dieser Studie zeigte sich zudem, dass im Vergleich zum Alter des Kindes der psychosoziale Entwicklungsstand des Kindes eine bessere Vorhersage erlaubte, ob das Kind unter einer Trennungsangst oder einer generalisierten Angststörung litt.
29.2.4 Klassifikation in DSM-IV und ICD-10
In den Klassifikationssystemen wird die Störung mit Trennungsangst (ICD-10: F93.0; DSM-IV: 309.21) 1975 erstmals in der Internationalen Klassifikationen der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1975) und 1980 im Diagnostischen und Statistischen Manual (APA 1980) erwähnt. Eine Übersicht über die Diagnosekriterien nach
DSM-IV und ICD-10 für die Störung mit Trennungsangst ist in der folgenden 7 Übersicht »Diagnosekriterien der Störung mit Trennungsangst« dargestellt. Für die Vergabe einer Diagnose »Störung mit Trennungsangst« in der ICD-10 und dem DSM-IV müssen ähnliche Diagnosekriterien erfüllt sein. Unterschiede zwischen den beiden Klassifikationssystemen beziehen sich v. a. auf den Beginn der Störung. Für eine Diagnose nach DSM-IV muss ein Beginn bis zum 18. Lebensjahr vorliegen, wohingegen die ICD-10 einen Beginn der Trennungsangst vor dem 6. Lebensjahr vorsieht. Neuere Arbeiten zur Trennungsangst stützen das höhere Alterskriterium des DSM-IV. Sie weisen auf den Beginn der Trennungsangst auch nach dem 6. Lebensjahr hin. Ein weiterer Unterschied ist, dass im DSM-IV im Gegensatz zur ICD-10 Trennungsangst und Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie im Jugend- und Erwachsenenalter nicht gleichzeitig diagnostiziert werden dürfen, wenn die Trennungsangst besser durch Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie erklärt werden kann. Grund hierfür ist, dass das DSM von einer großen Ähnlichkeit der beiden Störungsbilder ausgeht.
Diagnosekriterien der Störung mit Trennungsangst nach DSM-IV und ICD-10 DSM-IV A. Eine entwicklungsmäßig, unangemessene und übermäßige Angst vor der Trennung, von zu Hause oder von den Bezugspersonen, wobei mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sein müssen: 1. wiederholter übermäßiger Kummer bei einer möglichen oder tatsächlichen Trennung von zu Hause oder von wichtigen Bezugspersonen, 2. andauernde und übermäßige Besorgnis, dass sie wichtige Bezugspersonen verlieren könnten oder dass diesen etwas zustoßen könnte, 3. andauernde und übermäßige Besorgnis, dass ein Unglück sie von einer wichtigen Bezugsperson trennen könnte (z. B. verloren zu gehen oder entführt zu werden), 4. andauernder Widerwille oder Weigerung, aus Angst vor der Trennung zur Schule oder an einen anderen Ort zu gehen, 5. ständige und übermäßige Furcht oder Abneigung, allein oder ohne wichtige Bezugspersonen zu Hause oder ohne wichtige Erwachsene in einem anderen Umfeld zu bleiben, 6. andauernder Widerwillen oder Weigerung, ohne die Nähe einer wichtigen Bezugsperson schlafen zu gehen oder auswärts zu übernachten, 7. wiederholt auftretende Albträume von Trennungen,
6
ICD-10 A Mindestens drei der folgenden Merkmale müssen erfüllt sein: 1. unrealistische und anhaltende Besorgnis über mögliches Unheil, das der Hauptbezugsperson zustoßen könnte oder über den möglichen Verlust solcher Personen (z. B. Furcht, dass sie weggehen und nicht wieder kommen könnten oder dass das Kind sie nie mehr wiedersehen wird) oder anhaltende Sorge um den Tod von Bezugspersonen, 2. unrealistische und anhaltende Besorgnis, dass ein unglückliches Ereignis das Kind von einer Hauptbezugsperson trennen werde (z. B., dass das Kind verloren gehen, gekidnappt, ins Krankenhaus gebracht oder getötet werden könnte), 3. aus Angst vor Trennung von einer Hauptbezugsperson oder um zu Hause zu bleiben (weniger aus anderen Gründen, z. B. Angst vor bestimmten Ereignissen in der Schule) andauernde Abneigung oder Verweigerung, die Schule zu besuchen, 4. Trennungsschwierigkeiten am Abend, erkennbar an einem der folgenden Merkmale: a) anhaltende Abneigung oder Weigerung, Schlafen zu gehen, ohne dass eine Hauptbezugsperson dabei oder in der Nähe ist, b) häufiges Aufstehen nachts, um die Anwesenheit der Bezugsperson zu überprüfen oder bei ihr zu schlafen, c) anhaltende Abneigung oder Weigerung auswärts zu schlafen,
29
486
Kapitel 29 · Trennungsangst
DSM-IV 8. wiederholte Klagen über körperliche Beschwerden (wie z. B. Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen), wenn die Trennung von einer wichtigen Bezugsperson bevorsteht oder stattfindet.
29
B. Die Dauer der Störung beträgt mindestens 4 Wochen. C. Der Störungsbeginn liegt vor dem 18. Lebensjahr. D. Die Störung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. E. Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und kann bei Jugendlichen und Erwachsenen nicht besser durch die Panikstörung mit Agoraphobie erklärt werden. Bestimme, ob früher Beginn: Die Störung beginnt vor dem 6. Lebensjahr.
29.2.5 Epidemiologie und Symptomatik
im Altersverlauf Die Störung mit Trennungsangst tritt bei etwa 3% der Kinder auf. Sie zeigt unter den Angststörungen im Kindes- und Jugendalter den frühesten Beginn (Erstauftrittsgipfel mit ca. 8 Jahren) und tritt vorwiegend bei Kindern vor der Pubertät auf. Die Trennungsangst tritt bei Mädchen und Jungen gleich häufig auf (Cartwright-Hatton et al. 2006). Eine retrospektive Befragung von Kindern mit Trennungsangst oder Überängstlichkeit ergab, dass bei 46% der Kinder die Störung über eine Dauer von mindestens 8 Jahren anhielt und bei etwa einem Drittel der Kinder mehrere Episoden klinischer Angst auftraten (Keller et al. 1992). Kinder mit Trennungsangst bilden häufig weitere psychische Störungen aus. Etwa ein Drittel der Kinder mit Störung mit Trennungsangst zeigt eine Komorbidität mit De-
ICD-10 5. anhaltende, unangemessene Angst davor, allein oder tagsüber ohne eine Hauptbezugsperson zu Hause zu sein, 6. wiederholte Albträume zu Trennungsthemen, 7. wiederholtes Auftreten somatischer Symptome (Übelkeit, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Erbrechen) bei Gelegenheiten, die mit einer Trennung von einer Hauptbezugsperson verbunden sind, wie beim Verlassen des Hauses, um zur Schule zu gehen oder bei anderen Gelegenheiten, die mit einer Trennung verbunden sind (Urlaub, Ferienlager), 8. extremes und wiederholtes Leiden in Erwartung, während oder unmittelbar nach der Trennung von einer Hauptbezugsperson (es zeigt sich in Angst, Schreien, Wutausbrüchen; in der anhaltende Weigerung, von zuhause wegzugehen; in dem intensiven Bedürfnis, mit den Eltern zu reden oder in dem Wunsch nach Hause zurückzukehren, in Unglücklichsein, Apathie oder sozialem Rückzug). B. Fehlen einer generalisierten Angststörung des Kindesalters (F93.80). C. Beginn vor dem 6. Lebensjahr. D. Die Störung tritt nicht im Rahmen einer umfassenderen Störung der Emotionen, des Sozialverhaltens oder der Persönlichkeit auf oder bei einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, einer psychotischen Störung oder einer substanzbedingten Störung. E. Dauer mindestens 4 Wochen.
pression und etwa ein Fünftel der Kinder weist gleichzeitig eine Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung oder eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten auf. Etwa 10% der betroffenen Kinder weisen eine Enuresis auf. In mehreren Längsschnittstudien konnte beobachtet werden, dass Kinder mit Trennungsangst im Erwachsenenalter besonders häufig eine Panikstörung und/oder Agoraphobie entwickelten (Brückl et al. 2007; Schneider u. Nündel 2002). Unklar ist hierbei bislang noch, ob Trennungsangst in der Kindheit als spezifischer Risikofaktor für Panikstörung betrachtet werden sollte. Des Weiteren wird diskutiert, ob die Trennungsangst möglicherweise eine kindliche Variante der Panikstörung darstellt. Verschiedene Autoren vermuten gemeinsame zugrundeliegende psychopathologische Prozesse der Trennungsangst und Panikstörung (z. B. erhöhte Sensitivität gegenüber respiratorischer Stimulation; Pine et al. 2000).
487 29.3 · Modelle zur Ätiologie
! Die Störung mit Trennungsangst ist die häufigste Angststörung des Kindesalters und ein bedeutsamer Risikofaktor für Panikstörung und andere psychische Störungen des Erwachsenenalters.
29.3
Modelle zur Ätiologie
Bisher liegt kein spezifischer Erklärungsansatz zur Ätiologie der Störung mit Trennungsangst vor. Die vorliegenden Ätiologiemodelle für das Kindes- und Jugendalter sind allgemeiner Art und nehmen in Anspruch, auf alle Angststörungen des Kindes- und Jugendalters anwendbar zu sein. Im Folgenden sollen zwei dieser Modelle, das »integrierte behaviorale Inhibition-Attachment-Modell« (Manassis u. Bradley 1994) und das »kognitive Modell« (Kendall u. Ronan 1990), vorgestellt werden, die jeweils unterschiedliche ätiologische Aspekte kindlicher Angststörungen thematisieren. Während sich das »kognitive Modell« vorwiegend der Erklärung der Aufrechterhaltung von Angststörungen widmet, konzentriert sich das »integrierte behaviorale Inhibition-Attachment-Modell« auf die Entstehung von Angststörungen. Die Modelle können somit komplementär zueinander betrachtet werden und bilden gemeinsam eine erste Basis für die Erklärung der Ätiologie kindlicher Angststörungen.
29.3.1 Das integrierte behaviorale Inhibition-
Attachment-Modell von Manassis u. Bradley Das »integrierte behaviorale Inhibition-Attachment-Modell« beschäftigt sich mit Faktoren der Entstehung von Angststörungen. Es verbindet die Annahmen des behavioralen Inhibitionskonzepts und diejenigen des Attachmentkonzepts. Unter behavioraler Inhibition versteht Kagan (1988) ein Temperamentsmerkmal, das durch ein zurückgezogenes und scheues Verhalten in neuen, unvertrauten Situationen charakterisiert ist und mit hoher sympathischer Erregung in diesen Situationen einhergeht. Das Attachmentkonzept von Bowlby (1982) beschreibt ein angeborenes Bindungsverhalten, mit Hilfe dessen Kinder Nähe zur Bezugsperson herstellen (7 Kap. III/4). Das »integrierte behaviorale Inhibition-AttachmentModell« von Manassis u. Bradley nimmt an, dass die Kombination aus behavioraler Inhibition und einem unsicheren Bindungsstil zur Entstehung von Angststörungen führt. Die Art der Bindung kann eine vorhandene Prädisposition für eine Angsterkrankung verstärken oder reduzieren. So verfügt ein sicher gebundenes Kind mit einer hohen Ausprägung von behavioraler Inhibition eher über ein realistisches, adaptives internales Arbeitsmodell in fremden, unvertrauten Situationen, dass durch wenig Vermeidungsverhalten und adaptive Copingstrategien und adaptive soziale
Fertigkeiten gekennzeichnet ist. Ein solches Kind würde erst dann eine Angststörung entwickeln, nachdem es einer traumatischen Erfahrung ausgesetzt war. Die daraus folgende Angststörung wäre entweder eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine spezifische Phobie. Umgekehrt würde aber ein Kind, das keine hohe Ausprägung von behavioraler Inhibition zeigt, aber von einem depressiven, unvorhersagbaren oder »missbrauchenden« Elternteil betreut wird, einen desorganisierten Bindungsstil und in der Folge chronisch-klinische Angst entwickeln.
29.3.2 Empirische Belege
Behavioral Inhibition In mehreren Studien konnte beobachtet werden, dass Kinder von Eltern mit einer Angststörung häufiger eine hohe Ausprägung von behavioraler Inhibition zeigten. Zudem erkrankten Kinder, die eine stabile Behavioral Inhibition aufwiesen, häufiger an einer Angststörung. Darüber hinaus konnten in mehreren Querschnittsuntersuchungen Assoziationen zwischen behavioraler Inhibition und verschiedenen Angststörungen im Kindes- und Jugendalter aufgezeigt werden (Überblick s. Schneider 2004a).
Bindungsforschung Die Befunde bezüglich des Zusammenhangs zwischen Bindungsstil und Angststörungen sind aufgrund der bislang unreplizierten Ergebnisse und methodischen Einschränkungen vorsichtig zu interpretieren. In einer prospektiven Längsschnittstudie zeigte sich, dass ein unsicher/widersetzender Bindungsstil in der Kindheit das Risiko für eine Angststörung im Alter von 18 Jahren verdoppelte (Warren et al. 1997). Darüber hinaus zeigte diese Studie, dass der Bindungsstil eine bessere Vorhersage über das Auftreten von Angststörungen erlaubte als die mütterliche Ängstlichkeit oder das Temperament des Kindes.
Erziehungsstil In einer jüngst erschienen Metaanalyse über den Zusammenhang von Erziehungsfaktoren und Angststörungen im Kindes- und Jugendalter, in der 47 Studien berücksichtigt werden konnten, zeigte sich elterliche Kontrolle und insbesondere ein geringes Ausmaß an »Autonomiegewährung« und exzessives »Überengagement« als signifikant mit kindlicher Angst assoziiert. Die beiden Dimensionen erlaubten immerhin eine Varianzaufklärung der kindlichen Angst von 18% (McLeod et al. 2007). Gingen alle Erziehungsdimensionen (Kontrolle, Ablehnung etc.) in die Analyse ein, fand sich eine Varianzaufklärung von lediglich 4%. Insbesondere Subdimensionen der Erziehungsdimension »Ablehnung« zeigten keine bis kleine Effekte für die Aufklärung von Angststörungen. Den geringsten Beitrag zur Varianzaufklärung leistete die Erziehungsdimensionen »elterliche Wärme« (<1%).
29
488
Kapitel 29 · Trennungsangst
> Fazit Die Zusammenschau der Studien zum »integrierten behavioralen Inhibition-Attachment-Modell« unterstützt wichtige Annahmen des Modells und erlaubt die folgenden Aussagen: 4 Es besteht ein bedeutender Zusammenhang zwischen behavioraler Inhibition und Angststörungen des Kindes- und Jugendalters. 4 Es besteht ein möglicher Zusammenhang zwischen unsicherem Bindungsstil und Angststörungen des Kindes- und Jugendalters. 4 Ein elterlicher Erziehungsstil, der durch ein geringes Ausmaß an »Autonomiegewährung« und exzessivem »Überengagement« gekennzeichnet ist, ist signifikant mit Angststörungen assoziiert.
29.3.3 Das kognitive Modell
von Kendall u. Ronan
29
Kognitionen spielen eine wichtige Rolle in der Entstehung von Angststörungen und in den letzten beiden Dekaden wurde diesem Aspekt in der Forschung intensiv nachgegangen. Während für die Angststörungen im Erwachsenenalter gut ausgearbeitete kognitive Modelle zur Erklärung spezifischer Angststörungen vorliegen, existieren für das Kindes- und Jugendalter kaum solche Ansätze. Das kognitive Modell von Kendall u. Ronan (1990) konzentriert sich auf
die Erklärung der Aufrechterhaltung von Angststörungen im Kindesalter. Es postuliert zwei zentrale Elemente für die Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Angststörungen: 1. die Überaktivierung sog. Gefahrenschemata (im Gedächtnis verankerte Informationsnetzwerke) und 2. das Vorliegen kognitiver Defizite und Verzerrungen. So nimmt dieses Modell an, dass klinische Ängste durch eine chronische Überaktivierung von Gefahren- und Bedrohungsschemata charakterisiert sind. Diese Überaktivierung führe zu einer Informationsverarbeitung bei der bedrohliche Informationen chronisch und unangemessen fokussiert werden. Diesem Modell zufolge wird angenommen, dass ängstliche Kinder 4 Gefahren höher einschätzen, 4 mehr katastrophisierende Gedanken berichten, 4 ihre Copingmöglichkeiten unterschätzen, 4 ihre Kontrollmöglichkeiten bezüglich der Gefahr unterschätzen, 4 negative Selbstverbalisationen aufweisen. Empirische Unterstützung erfährt das kognitive Modell aus Arbeiten zur Untersuchung von Interpretations-Bias, Aufmerksamkeits-Bias und Angstsensitivität bei Kindern mit hoher Trait-Angst und Kindern mit Angststörungen. Jedoch ist dieser Forschungszweig noch jung, so dass erst wenige Studien hierzu vorliegen (Überblick s. Schneider 2004a).
Exkurs Mit dem »Eye-Tracker« Aufmerksamkeitsprozessen auf der Spur … Kontrolle liegt (7 Kap. I/6). In einer ersten Studie mit KinEin Problem der bisherigen Forschung zur Informationsverarbeitung bei Kindern und Erwachsenen mit Angststö- dern mit Trennungsangst wurde mit Hilfe der »Eye-Tracker«Methodologie untersucht, ob bereits Kinder ähnlich wie Errungen ist, dass immer nur ein kurzer Ausschnitt (»snap wachsene mit Angststörung ein Vigilanz-Vermeidungs-Musshot«) der zugrunde liegenden komplexen Informationsverarbeitungsprozesse betrachtet wird. Verschiedene Auter zeigen. Hierzu wurden die Kinder (Alter 8–13 Jahre) toren betonen daher, dass die Entwicklung und Aufrechtgebeten, Paare von unterschiedlich bedrohlichen Bildern erhaltung von klinisch relevanten Angstreaktionen nur auf einem Computerbildschirm zu betrachten. Die Bilder dann verstanden werden kann, wenn Informationsverarstellten jeweils eine Mutter-Kind-Interaktion dar: eine eindeutige Trennung (bedrohlich) vs. eine eindeutige Zusambeitungsprozesse im Zeitverlauf betrachtet werden. Das Vigilanz-Vermeidungs-Modell von Mogg u. Bradley (1998) menkunft (nicht bedrohlich) von Mutter und Kind. Während die Kinder die Bildpaare betrachteten, wurden mit Hilfe des geht von einem typischen Zeitverlauf und einer spezifischen Reihenfolge von Aufmerksamkeitsprozessen bei »Eye Trackers« ihre Augenbewegungen aufgezeichnet. Wie Personen mit Angststörungen aus: Demnach zeigt die erwartet zeigte sich, dass Kinder mit einer Trennungsangst ängstliche Person zunächst eine schnelle Aufmerksamsignifikant häufiger als Kinder ohne eine psychische Störung keitshinwendung (Vigilanz), gefolgt von einer Aufmerkzunächst eine Blickzuwendung auf die Trennungsbilder (besamkeitsabwendung (Vermeidung) weg vom angstreledrohlicher Stimuli) zeigten. Nach etwa 3 Sekunden kehrte vanten, bedrohlichen Stimulus. Dabei wird vermutet, dass sich dieses Muster um und die Kinder mit Trennungsangst die Vigilanz automatisch und reflexiv erfolgt, während die schauten signifikant seltener auf das Trennungsbild als die später einsetzende Vermeidung unter höherer kognitiver psychisch gesunden Kinder (In-Albon et al., eingereicht).
489 29.4 · Diagnostik
29.3.4 Wie bilden sich kognitive Stile aus?
Wenig Wissen liegt darüber vor, wie es zu der Ausbildung kognitiver Stile bzw. verzerrter Informationsverarbeitung bei Kindern kommt. Erste Studien weisen darauf hin, dass elterliche Modelle ängstliche Interpretationen mehrdeutiger Situationen bzw. die Auswahl vermeidender Bewältigungsstrategien in als bedrohlich eingeschätzten Situationen bei ihren Kindern begünstigen (Hadwin et al. 2006; Schneider et al. 2002). Aber auch für andere Bezugspersonen wie Lehrer konnte nachgewiesen werden, dass sie Bewertungen von Kindern bezüglich verschiedener Situationen beeinflussen können (Field et al. 2001). Denkbar ist ebenfalls, dass ein elterlicher Erziehungsstil, der durch ein hohes Ausmaß an Kontrolle und geringes Ausmaß an Feinfühligkeit geprägt ist, zur Entwicklung angstrelevanter Kognitionen und geringer Selbstwirksamkeitsüberzeugung beitragen kann. Insbesondere Eltern, die selbst unter einer Angststörung leiden, scheinen einen solchen Erziehungsstil aufzuweisen (Schneider et al., eingereicht). Es ist möglich, dass ängstliche Eltern, die selbst ihre Umwelt als bedrohlich erleben, versuchen, ihre Kinder vor dieser bedrohlichen Umwelt zu beschützen und aus diesem Grund heraus, ein überbehütendes und wenig Autonomie förderndes Verhalten gegenüber ihrem Kind insbesondere in bedrohlichen Situationen zeigen. Dadurch jedoch lernt das Kind nicht, angemessene Bewältigungsstrategien in neuen und als bedrohlich eingeschätzten Situationen zu entwickeln. Möglich ist aber auch, dass kognitive Stile genetisch festgelegt sind, wobei die bisherige humangenetische Forschung eher darauf hindeutet, dass weniger spezifische, sondern vielmehr globale Vulnerabilitäten für die Ausbildung von Angst und Depressionen vermittelt werden. > Fazit Kinder und Jugendliche mit Angststörungen weisen eine verzerrte und fehlerhafte Informationsverarbeitung auf (Überblick s. Daleiden u. Vasey 1997; Puliafico u. Kendall 2006). Informationsverarbeitungsprozesse (z. B. Attributionsprozesse) von Kindern werden durch Bezugspersonen des Kindes beeinflusst.
29.4
Diagnostik
Für die Diagnostik der Störung mit Trennungsangst sollten mehrere Methoden zur Sammlung von Informationen miteinander kombinieren werden (7 Kap. III/8). Zunächst gilt es zu klären, welche die primäre psychische Störung des Kindes ist und welches zusätzliche, komorbide Störungen sind, die ggf. im weiteren Verlauf der Therapie behandelt werden müssen. Des Weiteren sollte eine genaue Analyse der konkreten auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen für das Problemverhalten des Kindes erfolgen.
Die diagnostische Phase enthält idealerweise folgende Schritte: 4 gemeinsames Erstgespräch mit Eltern und Kind zur Klärung eines allgemeinen Eindrucks und Vermittlung eines Überblicks über die Therapie, 4 Differenzialdiagnostik mit Hilfe eines strukturierten Interviews, jeweils separat mit Eltern bzw. Kind (z. B. Kinder-DIPS, Schneider et al. 2009), 4 medizinische Differenzialdiagnostik zum Ausschluss organischer Ursachen, 4 Einsatz von Fragebogen und evtl. Tagebuch, 4 Problemanalyse (7 Kap. I/21). Insbesondere bei jüngeren Kindern mit Trennungsangst kann es zunächst schwierig sein, mit dem Kind alleine das diagnostische Gespräch zu führen. Manche Kinder weigern sich, fangen an zu weinen oder zu schreien, wenn sie mit dem Therapeuten alleine im Therapieraum verbleiben sollen. In solchen Fällen werden die ersten Sitzungen nur dazu genutzt, das Kind an die neue Situation und den Therapeuten zu gewöhnen. Die erste Kontaktaufnahme sollte daher in Anwesenheit der Eltern vorgenommen werden, wobei die Anwesenheit der Eltern Schritt für Schritt abgebaut wird. So kann bei dem ersten Therapiekontakt das Kind mit Körperkontakt zur Bezugsperson das Gespräch mit dem Therapeuten aufnehmen. Im nächsten Schritt führt das Kind das Gespräch mit dem Therapeuten ohne dabei aber gleichzeitig Körperkontakt zur Bezugsperson zu haben. Danach bleibt die Bezugsperson mit im Raum, sitzt aber nicht unmittelbar beim Kind. Im letzten Schritt sitzt dann die Bezugsperson während des Gesprächs vor der Tür und wartet. Aufgrund der oft starken körperlichen Beschwerden des Kindes darf auf eine gründliche organische Differenzialdiagnose nicht verzichtet werden. In unserer klinischen Erfahrung zeigt sich immer wieder, dass der Bericht der Eltern und der des behandelnden Arztes zur Verursachung der somatischen Beschwerden nicht übereinstimmen müssen. So berichten Eltern organische Ursachen für die körperlichen Beschwerden des Kindes, die vom Arzt nicht bestätigt werden. Eine solche Diskrepanz ist von großer Bedeutung für die weitere Therapie und sollte daher immer geprüft werden.
29.4.1 Differenzialdiagnose
Zentrale Befürchtungen des Kindes oder Jugendlichen während der als beängstigend erlebten Trennungssituation können wichtige Hinweise für die Abgrenzung der Störung mit Trennungsangst von anderen Formen psychischer Störung geben. Deren Erhebung ist daher neben der Exploration der Symptome wichtiger Bestandteil der Differenzialdiagnostik. Im Folgenden soll die Abgrenzung zu den wichtigsten psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters vorgenommen werden.
29
490
Kapitel 29 · Trennungsangst
Ist Schulverweigerung gleich Trennungsangst? Ca. 5% aller schulpflichtigen Kinder verweigern den Schulbesuch. Entsprechend findet man in der klinischpsychologischen und kinderpsychiatrischen Literatur eine Reihe von Arbeiten zu diesem Thema (Überblick s. King u. Bernstein 2001). Schulverweigerung ist jedoch keine Diagnose nach ICD-10 oder DSM-IV. Was versteckt sich also hinter diesem Begriff? King u. Bernstein (2001) verstehen unter Schulverweigerung Kinder, die aufgrund emotionaler Belastung, insbesondere Angst und Depression, Schwierigkeiten haben, die Schule aufzusuchen. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Diagnosen »Trennungsangst« oder »Schulphobie« synonym für dieses Beschwerdebild genutzt werden können. Ist dies wirklich so? Eine Untersuchung von 80 Jugendlichen mit Schulverweigerung (Alter 13–15 Jahre), die über das Vorliegen von DSM-III-R-Diagnosen befragt wurden, ergab ein anderes Bild: die Hälfte der Jugendlichen erfüllte nicht die
Abgrenzung soziale Phobie
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Kinder und Jugendliche mit sozialer Phobie können den Schulbesuch verweigern. Sie unterscheiden sich allerdings in ihren Befürchtungen von Kindern mit Trennungsangst. Kinder mit einer sozialen Phobie fürchten die Bewertung durch andere. Sie haben Angst, sich zu blamieren oder etwas Peinliches zu sagen. Typische gefürchtete Situationen von sozialphobischen Kindern sind vor anderen sprechen, sich in der Schule melden, der Besuch eines Kindergeburtstages, im Mittelpunkt stehen, fremde Erwachsene ansprechen etc. Anders als für Kinder mit Trennungsangst verschwindet für sozialphobische Kinder die Angst vor Bewertung nicht durch das Beisein der Bezugsperson (7 Kap. III/31).
Abgrenzung generalisierte Angststörung Die Ängste und Sorgen von Kindern mit Trennungsangst beziehen sich überwiegend auf die Trennung von zu Hause oder von den Hauptbezugspersonen. In Abgrenzung hierzu berichten Kinder mit generalisierter Angststörung über eine Vielzahl von Sorgen und Ängsten, die sich auf Situationen und Lebensbereiche wie Unpünktlichkeit, sich richtig verhalten zu haben, gut genug in der Schule oder im Sport zu sein oder genug Freunde zu haben, beziehen (7 Kap. III/34).
Abgrenzung Störung des Sozialverhaltens Jugendliche mit einer Störung des Sozialverhaltens verweigern ähnlich wie Kinder mit einer Störung mit Trennungsangst den Schulbesuch. Im Unterschied zu trennungsängstlichen Kindern, die zu Hause in der Nähe der Bezugperson bleiben möchten, wollen Jugendliche jedoch die Zeit mit Freunden verbringen oder durch die Gegend ziehen. Des Weiteren gehören eindeutige Verstöße gegen gesellschaftli-
Kriterien für eine psychische Störung, ein Drittel litt unter einer expansiven Verhaltensstörung und etwa ein Fünftel hatte eine Angst oder depressive Störung (Berg et al. 1993). Eine andere Untersuchung zeigt, dass unter den Angststörungen, die gemeinsam mit Schulvermeidung auftreten, die Störung mit Trennungsangst am häufigsten auftritt, gefolgt von sozialer Phobie und spezifischer Phobie (Last u. Strauss 1990). Somit tritt zwar die Trennungsangst unter den Angststörungen am häufigsten in Verbindung mit Schulverweigerung auf, aber nur etwa die Hälfte der Kinder mit Schulverweigerung scheint überhaupt eine psychische Störung zu haben. Der Schluss, dass Schulverweigerung gleichbedeutend mit Trennungsangst ist, kann also nicht gezogen werden. Umgekehrt ist es jedoch so, dass ca. Zweidrittel der Kinder mit einer Störung mit Trennungsangst den Schulbesuch verweigern.
che Regeln und Normen, wie etwa Ladendiebstahl, Gewalt gegen andere etc., zum Erscheinungsbild der Störung des Sozialverhaltens, die Kinder mit Störung mit Trennungsangst nicht aufweisen (7 Kap. III/28).
Abgrenzung Agoraphobie/Panikstörung Bei Kindern und Jugendlichen mit Trennungsangst können anstehende Trennungen zu starker Angst und Panikanfällen führen. Im Unterschied zur Panikstörung und Agoraphobie bezieht sich die Angst des trennungsängstlichen Kindes auf die Trennung von der Bezugsperson oder von zu Hause. Die Befürchtung im Rahmen einer Panikstörung bezieht sich hingegen auf das Auftreten eines Panikanfalls und seiner Folgen (»ich könnte sterben, umfallen, erbrechen« etc.). Ein weiterer Unterschied zur Panikstörung besteht darin, dass die Panikanfälle immer im Kontext von drohenden Trennungssituationen entstehen und nicht aus heiterem Himmel (7 Kap. II/1).
29.4.2 Fragebögen
Zur Diagnostik der Störung mit Trennungsangst können das Trennungsangstinventar (TAI, Schneider u. In-Albon, in Vorbereitung), der »Childhood Anxiety Sensitivity Index« (CASI, Silverman et al. 1991, deutsche Übersetzung Schneider u. Silverman, in Vorbereitung) sowie der »Basler Bilder-Angst-Test« (B-BAT, Schneider, im Druck) herangezogen werden. Das TAI erfasst den Schweregrad des Vermeidungsverhaltens von Kindern mit einer Trennungsangstsymptomatik. Es handelt sich um ein störungsspezifisches Selbst- und Fremdbeurteilungsinstrument, mit dem das Kind und die Eltern das Vermeidungsverhalten in trennungsangstrele-
491 29.4 · Diagnostik
vanten Situationen beurteilen können. Der Altersbereich reicht je nach Lesefähigkeiten von 5–16 Jahren, wobei bei jungen Kindern der Fragebogen vorgelesen wird. Das TAI kann als Ergänzung zu anderen diagnostischen Verfahren, zur Beschreibung der Schwere der Trennungsangstsymptomatik, zur Therapieplanung und zur Einschätzung des Behandlungserfolgs eingesetzt werden. Die Kind- und Elternversion besteht aus je 16 Items. Die Items beziehen sich auf verschiedene Situationen, die von Kindern aus Angst vor der Trennung vermieden werden. Die Antworten sind auf einer fünfstufigen Likert-Skala (0 = nie, 1 = selten, 2 = die Hälfte der Zeit, 3 = meistens, 4 = immer) unterteilt. Für die Auswertung wird ein Summenwert über alle Items gebildet. Je höher der Wert, desto höher das Vermeidungsverhalten.
Beispiel Beispielitems TAI-Kinderversion: Ich vermeide … 4 alleine zu Hause zu sein, 4 allein in den Kindergarten/die Schule zu gehen, 4 alleine zu Freunden/Freundinnen zu gehen.
Der KASI (Schneider u. Silverman, in Vorbereitung) wurde zur Diagnostik der Angstsensitivität bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 8–17 Jahren entwickelt. Der Fragebogen besteht aus einer kurzen Instruktion und 17 Items, die mögliche Reaktionen des Kindes auf körperliche Symptome bzw. Angst beschreiben. Alle Items sind in IchForm formuliert und werden in geschlossenem Antwortformat auf einer dreistufigen Ratingskala für den gegenwärtigen Zeitraum beurteilt (1 = nie, 2 = manchmal, 3 = häufig). Zur Auswertung des KASI wird ein Summenwert berechnet, der Werte zwischen 17 und 51 annehmen kann.
Beispiel Beispielitems des KASI: 4 Ich möchte nicht, dass andere Menschen es merken, wenn ich mich ängstlich fühle. 4 Wenn ich mich nicht auf meine Schulaufgaben konzentrieren kann, befürchte ich, verrückt zu werden. 4 Es macht mir Angst, wenn ich mich zittrig fühle.
Der B-BAT ist ein bildbasiertes Instrument zur dimensionalen Erfassung von Ängstlichkeit und Vermeidung bei Kindern zwischen 4 und 8 Jahren. Anhand von kindgerechten Bildern werden die im Vor- und Grundschulalter relevanten Angststörungen (Störung mit Trennungsangst, spezifische Phobie, soziale Phobie, generalisierte Angststörung) in Form einer standardisierten Befragung erhoben.
Das Verfahren setzt keine Lesefertigkeiten voraus und ist daher bei Kindern mit keinen bzw. nicht ausreichenden Lesefertigkeiten sehr gut einsetzbar. Der Test besteht aus 21 Zeichnungen, welche ein Kind in einer potenziell angstauslösenden Situation zeigen. Die Zeichnungen behandeln die zentralen Symptome der spezifischen Phobie (insgesamt 14 Bilder zu Insekt, Spinne, Hund, ärztlichen Untersuchungen, Blut, Gewitter, laute Geräusche, verkleidete Personen, Höhe, Fahrstuhl, Dunkelheit, Monster), sozialen Phobie (3 Bilder), Störung mit Trennungsangst (2 Bilder) und generalisierten Angststörung (2 Bilder). Der B-BAT existiert in einer Jungen- und einer Mädchenversion. Es werden zwei Bilder gleichzeitig präsentiert – auf einem Bild zeigt das Kind das kritische Symptom (z. B. Kind hat Angst), auf dem anderen Bild zeigt es das Symptom nicht (Kind zeigt neutralen Gesichtsausdruck). Das teilnehmende Kind wird gefragt, welchem der abgebildeten Kinder es ähnlicher ist, und es werden danach Angst und Vermeidung auf einer Vier-Punkte-Skala erfasst (von 0 = gar keine Angst/Vermeidung bis 3 = starke Angst/Vermeidung). Kinder, die hohe bis sehr hohe Angst oder Vermeidung angeben, werden gefragt, ob sie sich wünschten, dass die Angst oder Vermeidung geringer wäre und sie Hilfe für die Bewältigung der Angst benötigen. Alle Antworten des Kindes werden in einem Protokollbogen notiert.
29.4.3 Familiendiagnostik
Eine besondere Rolle für das Verständnis von klinischen Trennungsängsten im Kindes- und Jugendalter scheint das Ausmaß der elterlichen Angst zu spielen. In der diagnostischen Phase sollte daher das Vorliegen elterlicher Angst, z. B. durch Fragebogen oder im Gespräch, geklärt werden und darüber hinaus der Umgang der Eltern mit den gegebenenfalls vorliegenden eigenen Angstsymptomen sowie denen des Kindes exploriert werden. Falls bei den Eltern eine Angststörung diagnostiziert wird, sollte den Eltern eine eigene Angstbehandlung zur Unterstützung der Behandlung des Kindes empfohlen werden. Darüber hinaus ist auch die Erfassung von Merkmalen der Familien von Kindern mit einer Störung mit Trennungsangst sinnvoll. Geeignete Verfahren für die Erfassung von Familienmerkmalen sind der »Familienindentifikationstest« (FIT, Remschmidt u. Mattejat 1999)«, der »Familiensystemtest (FAST, Gehring 1998)« und das »subjektive Familienbild« (SFB, Mattejat u. Scholz 1994). Die beiden Tests FIT und FAST können bei Kindern ab 6 Jahren eingesetzt werden, während der SFB gut ab einem Alter von 10 Jahren verwendet werden kann. Der FIT informiert darüber, wie sehr sich die einzelnen Familienmitglieder miteinander identifizieren sowie über das Ausmaß der Selbstkongruenz des Kindes. Der FAST gibt Informationen zum Ausmaß der Kohäsion und der Hierarchiebedingungen einer Familie. Das SFB wird als Fragebogen allen Familienmitgliedern
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Kapitel 29 · Trennungsangst
vorgegeben und erlaubt Aussagen bezüglich der emotionalen Valenz (wie wohl fühlt sich das Kind gegenüber Vater/Mutter) und der Autonomie (wie autonom fühlt sich das Kind gegenüber dem Vater/der Mutter, den einzelnen Familienmitgliedern). Alle Verfahren sind kinderfreundlich gestaltet und benötigen eine nur kurze Durchführungszeit. Jedoch ist die Auswertung der Verfahren vergleichsweise zeitaufwendig. In der Regel reicht eines dieser Verfahren aus, um notwendige Informationen zur familiären Struktur zu erhalten.
29.4.4 Verhaltensbeobachtung
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Verhaltensbeobachtungen geben Aufschluss über die aufrechterhaltenden Bedingungen der Trennungsangst, daneben erlauben sie eine Validierung der von dem Kind und den Eltern berichteten Verhaltensauffälligkeiten. Bei Kindern mit einer Störung mit Trennungsangst ist es meist aufschlussreich, Trennungssituationen (z. B. Kind geht zur Schule, Kind geht ins Bett) in der Familie zu beobachten. Hierdurch können ganz konkret angstverschärfende bzw. angstaufrechterhaltende Verhaltensweisen der Eltern und des Kindes analysiert werden. Da die persönliche Anwesenheit des Therapeuten in solchen Situationen meist nicht möglich ist, ist eine Video- oder Audioaufzeichnung eine gute Alternative. So werden etwa die Eltern von einem Kind mit der Angst alleine einzuschlafen in Abhängigkeit von der Wohnungssituation gebeten, die Videokamera oder den Audiorekorder z. B. im Schlafzimmer des Kindes zu Beginn der Zubettgeh-Situation einzuschalten und die Aufnahme erst zu beenden, wenn das Kind eingeschlafen ist. Die Video- bzw. Audioaufzeichnung wird in der nächsten Sitzung gemeinsam mit den Eltern analysiert. Hier reicht es meist aus, wenn mehrere Ausschnitte von wenigen Minuten (z. B. erste Aufforderung an das Kind ins Bett zu gehen, erster und zweiter Versuch des Elternteils das Kinderschlafzimmer zu verlassen etc.) gemeinsam diskutiert werden.
29.5
ping Cat« von Kendall oder »FRIENDS« von Barrett enthalten neben den »klassischen« verhaltenstherapeutischen Interventionen Aspekte, die deutlich über diese Themen hinausgehen. So geht es in diesen Programmen auch um kognitive Gesichtspunkte der Angst. Die Befürchtungen und Bewertungen des Kindes bezüglich der angstauslösenden Situation oder seine Einschätzung im Hinblick auf seine eigenen Bewältigungsmöglichkeiten in diesen Situationen werden ausführlich und in altersangemessener Weise in der Therapie betrachtet und ggf. verändert. Neben dem Angstabbau im engeren Sinne ist es Ziel dieser Therapien, die Autonomie und Selbstwirksamkeitsüberzeugung des Kindes zu stärken. Die Kinder werden »stark gemacht«, um schwierige Situationen und Probleme anzugehen und zu lösen. Eine Reihe neuer verhaltenstherapeutischer Programme betont zudem die Bedeutung familiärer Aspekte und bezieht die Eltern signifikant in die Behandlung des Kindes mit ein. Die Eltern werden dabei in der Therapie angeleitet, ihren Erziehungsstil zu reflektieren und ggf. zu verändern. Sie werden in Rollenspielen oder auch Live-Situationen mit dem Kind »gecoacht«, um insbesondere in Situationen, in denen das Kind Angst zeigt, angemessen reagieren zu können. Des Weiteren werden die Eltern angeleitet, dem Kind mehr Autonomie zu gewähren und weniger überfürsorgliches Verhalten zu zeigen. Zur Verbesserung des Familienklimas werden konstruktive Kommunikations- und Problemlösefertigkeiten eingeübt. Und schließlich beinhalten einige Programme eine explizite Abklärung und ggf. Behandlung der elterlichen Angststörung. Speziell für die Behandlung der Störung mit Trennungsangst liegt erst ein empirisch überprüftes verhaltenstherapeutisches Behandlungsprogramm vor, das im Folgenden vorgestellt wird. Es handelt sich hierbei um das »Trennungsangstprogramm für Familien« (TAFF, Schneider 2004b), das an der Universität Basel im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojektes zur Störung mit Trennungsangst entwickelt wurde. Es ist ein Programm, das sich gleichermaßen an das Kind und an die Eltern des Kindes richtet.
Therapeutisches Vorgehen 29.5.1 Trennungsangstprogramm für Familien
In den letzten Jahren hat die Verhaltenstherapie bei Angststörungen im Kindes- und Jugendalter eine enorme Entwicklung genommen. Während die ersten Behandlungsbeschreibungen in enger Anlehnung an lerntheoretische Überlegungen den Fokus auf die »Umkonditionierung« angstauslösender Reize und Löschung der Angstreaktion richteten, enthalten die heute zur Anwendung kommenden verhaltenstherapeutischen Behandlungsprogramme eine Reihe weitergehender Behandlungsaspekte. Diese Weiterentwicklung basiert weitgehend auf den in den letzten Jahren erreichten Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung zu Angststörungen im Kindes- und Jugendalter (Schneider 2004a). Aktuelle Behandlungsprogramme wie etwa »Co-
(TAFF, Schneider 2004b) Das »TAFF«-Programm setzt sich aus vier Sitzungen mit dem Kind alleine, vier Sitzungen mit den Eltern alleine und acht Sitzungen gemeinsam mit Kind und Eltern zusammen. . Abb. 29.1 zeigt die zeitliche Abfolge sowie eine Übersicht über die Inhalte der verschiedenen Sitzungen. Inhaltlich sind die ersten vier Kind- bzw. Elternsitzung sehr ähnlich ausgerichtet. Um jedoch eine kindgerechte und auf die kindlichen Bedürfnisse angepasste Psychoedukation und Vorbereitung auf die Exposition gewährleisten zu können, wurden die ersten vier Sitzungen des Programms für Eltern und Kind separat konzipiert. Großer Wert wurde bei der
493 29.5 · Therapeutisches Vorgehen
Körper und auch im Kopf. Lass uns doch mal auf diesem Blatt einzeichnen, wo man die Angst überall spüren kann (Therapeut nimmt ein vorbereitetes Blatt mit Körperumriss; Schneider u. Borer 2007). … Hey, das machst du super. Wie du siehst, macht sich die Angst an vielen Orten im Körper breit: Bauch, Kopf, Hände. Wenn ich Angst habe, klopft mein Herz wie wild, mir wird heiß und meine Hände werden feucht und ich möchte, dass es ganz schnell aufhört. Du siehst, dass gehört zur Angst dazu und ist völlig normal, aber es stört unheimlich.
. Abb. 29.1. Aufbau und Inhalte des TAFF-Programms
Ausarbeitung des Programms auf die Bereitstellung kindgerechter Therapiematerialien gelegt, die ohne Lesefertigkeiten vom Kind genutzt werden können.
Kind-Sitzungen (Vier Sitzungen) Psychoedukation. Das Kind wird über normale und pathologische Angst aufgeklärt. Anhand von Bildmaterialien werden ihm die drei Komponenten der Angst (Körpersymptome, Gedanken, Verhalten), Ätiologie und Aufrechterhaltung der Trennungsangst mit Hilfe des geleiteten Entdeckens erklärt. Es werden anschauliche Bildmaterialien oder Bücher verwendet, die diese Informationen in kindgerechter Weise darbieten (Boie 2001; Schneider u. Borer 2007). Diese Informationen stellen die Grundlage dar, um das Kind anzuleiten, eigene Symptome der Angst, Befürchtungen und Bewältigungsstrategien zu benennen. ! Die Psychoedukation verleitet Therapeuten oft zum Frontalunterricht. Wichtig ist aber, neue Informationen mit Hilfe des »geleiteten Entdeckens« in kindgerechter Weise und Dosierung zu vermitteln und dem Kind viele »Wiedererkennungspunkte« zu ermöglichen, die mit seinen eigenen Erfahrungen kompatibel sind.
Fallbeispiel Geleitetes Entdecken: Was ist Angst? Wir haben ja besprochen, dass du hier bist, weil du oft so starke Angst hast, dass du abends nicht alleine einschlafen kannst. Lass uns doch mal schauen, was Angst eigentlich ist. Wie merkst du, dass du Angst hast? … Genau, Angst merkt man im Bauch, also im Körper, und es gehen einem viele blöde und beängstigende Dinge durch den Kopf, z. B. meine Mama kommt nicht mehr zurück. Angst ist ein Gefühl und das spürt man im 6
TAFF-Gedanken. Im nächsten Schritt lernt das Kind, seine »Panikgedanken«, die die Angst in Trennungssituationen verstärken, zu identifizieren und zu korrigieren. Die kognitive Umstrukturierung hat zum Ziel, positive und realistische Gedanken zur Bewältigung der Angst aufzubauen bzw. zu stärken. Dem Kind wird erläutert, wie Gedanken, Gefühlen und Verhalten eng miteinander zusammenhängen. Nach der Identifizierung, Überprüfung und Modifikation der angstauslösenden Gedanken, werden mit dem Kind TAFF-Gedanken und Selbstinstruktionen erarbeitet, die helfen sollen, die angstauslösenden Situationen zu bewältigen. Selbstinstruktionen zur Steigerung der Selbstwirksamkeit können z. B. mit dem Kind auf Karteikärtchen geschrieben werden, die es in angstauslösenden Situationen bei sich tragen kann. Beispiele für solche Selbstinstruktionen sind: »Ich bin mutig!« oder »Ich bin stark!« Unterstützend können hier auch mutmachende Figuren (z. B. Pipi Langstrumpf) oder Objekte (z. B. »Mutstein«) eingesetzt werden. Ziel aller Strategien ist es, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung des Kindes zu fördern. ! Kognitive Interventionen haben zum Ziel, Fehlannahmen über die Bedrohlichkeit der gefürchteten Situation zu hinterfragen und durch angemessene, realistische Bewertungen zu ersetzen. Vorbereitung auf die Konfrontation. Zum Abbau der Vermeidung von Trennungssituationen wird mit dem Kind eine Konfrontation in vivo geplant. Bedingung für die Durchführung der Konfrontation ist eine sorgfältige Vorbereitung des Kindes auf diese Intervention. Die Konfrontation in vivo sollte nur durchgeführt werden, wenn eine explizite Zustimmung zu diesem Vorgehen von den Eltern und möglichst auch von dem Kind vorliegt. Anhand von Angstverlaufskurven wird das Rational der Konfrontationsbehandlung vorgestellt. In unserer klinischen Erfahrung hat sich dabei das folgende Vorgehen bewährt: 1. Schritt: Individuelle Habituationserfahrungen des Kindes explorieren
Jedes Kind hat die Erfahrung gemacht, dass neue Fertigkeiten erworben werden können bzw. Aufregung und Angst
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Kapitel 29 · Trennungsangst
verschwinden, wenn man nur oft genug die Gelegenheit nutzt zu üben. Sei es das Schwimmen, Fahrrad fahren oder Schreiben lernen oder auch sich in einer neuen Gruppe von Kindern mit der Zeit wohler zu fühlen, das gemeinsame dieser Situation war das regelmäßige Üben. Mit Hilfe des geleiteten Entdeckens wird das Kind systematisch nach solchen Erfahrungen befragt und es wird herausgearbeitet, dass »Übung den Meister macht«. Es ist für Therapeuten oft erstaunlich zu sehen wie bereits 5 Jahre alte Kinder über solche Übungserfahrungen detailliert berichten und von sich aus formulieren, dass das Üben zum Erfolg geführt hat. 2. Schritt: Übertragung von Übungserfahrungen auf die Trennungsangst des Kindes/Herausarbeiten von Vermeidungsverhalten als Angstverstärker
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Hier geht es darum mit dem Kind zu diskutieren, ob die zuvor besprochenen Erfahrungen auch auf seine Angst in Trennungssituationen übertragen werden können. Es sollte sorgfältig nachgefragt werden, ob das Kind schon ansatzweise Habituationserfahrungen in Trennungsangstsituationen sammeln konnte. Mit dem Kind wird zudem erarbeitet, dass die Angst immer schlimmer wird, wenn man die Angst vermeidet und sich ihr nicht stellt. Auch hier werden möglichst viele Erfahrungen des Kindes gesammelt, die ihm helfen, diesen Zusammenhang zu erkennen. Ziel ist es, dem Kind zu vermitteln, dass man auch die Angstbewältigung üben kann. 3. Schritt: Der Angst ins Gesicht schauen, um die Angst dauerhaft zu besiegen
Die kognitive Vorbereitung schließt mit dem Resümee ab, dass man die Angst nur bewältigen kann, wenn man regelmäßig übt, der Angst zu begegnen (»Wie sonst kann ich merken, dass nicht Schlimmes passiert?«).
Eltern-Sitzungen (vier Sitzungen) Trennung als Entwicklungsaufgabe. Die Eltern werden
über das Störungsbild der Trennungsangst informiert und mit dem Konzept der Entwicklungsaufgaben vertraut gemacht. Es wird erläutert, dass die Ausbildung von Angststörungen als Folge einer nicht bewältigten Entwicklungsaufgabe verstanden werden kann (7 Kap. III/2). So ist etwa denkbar, dass die nicht bewältigte Entwicklungsaufgabe »Aufbau von Autonomie« (ab dem Alter von etwa 3 Jahren), die Entwicklung einer Störung mit Trennungsangst begünstigt. Es wird verdeutlicht, dass die erfolgreiche Bewältigung von Trennungen von Bezugspersonen als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung eines Kindes zu betrachten ist. Viele Eltern sind erleichtert, wenn der Therapeut herausstellt, dass dieser Schritt schmerzvoll und schwierig sein kann, das Kind aber gleichzeitig an der erfolgreichen Bewältigung solcher Aufgaben wächst und an Selbstbewusstsein gewinnt.
Dysfunktionale Gedanken der Eltern. Die Bearbeitung dysfunktionaler Gedanken der Eltern in Bezug auf das Kind nimmt im TAFF-Programm eine zentrale Rolle ein. Unter dysfunktionalen Gedanken der Eltern werden alle die Annahmen und Befürchtungen der Eltern verstanden, die die Eltern daran hindern, das Kind in der Auseinandersetzung mit seiner unangemessenen Angst zu unterstützen und es in seiner Autonomieentwicklung behindern. Beispiele für solche Gedanken sind: 4 »Ich bin eine schlechte Mutter/schlechter Vater, wenn ich mein Kind in dieser Situation allein lasse«. 4 »Ich bin schuld, dass mein Kind ängstlich ist«. 4 »Mein Kind wird durch zu starke Angst traumatisiert und für immer Schaden nehmen«.
Im Gespräch mit den Eltern werden die dysfunktionalen Gedanken systematisch auf ihren Realitätsgehalt überprüft und korrigiert. Es werden alternative Gedanken erarbeitet (z.B. »Das Bewältigen der Angst wird mein Kind stärken und selbstbewusster machen«), die den Eltern helfen sollen, im späteren Teil der Therapie das Kind bei der Durchführung der Konfrontationsübungen adäquat zu unterstützen. Eine detaillierte Beschreibung dieser Intervention ist Schneider (2004b) zu entnehmen. Vorbereitung auf die Konfrontation. Anhand von Angstverlaufskurve und aufbauend auf der Zwei-Faktoren-Theorie wird auch in den Elternsitzungen das Rational für die Konfrontation eingeführt. Die graphische Darstellung des Angstverlaufs hat sich dabei in unserer klinischen Erfahrung als sehr hilfreich erwiesen. Anhand der Angstverlaufskurven kann gezeigt werden, dass die Angst kontinuierlich abnimmt, je häufiger die angstauslösende Situation geübt wird. Des Weiteren kann herausgearbeitet werden, dass Vermeidungsverhalten die Angst nur kurzfristig reduziert, jedoch mittel- und langfristig diese aufrechterhält und verstärkt. Des Weiteren sollte den Eltern vor der Konfrontation mitgeteilt werden, dass Flucht und Vermeidungsverhalten verhindert werden, weil man dem Kind helfen möchte, die Angst ertragen zu lernen. Der Therapeut erarbeitet gemeinsam mit den Eltern, Möglichkeiten für einen hilfreichen Umgang mit der Trennungsangst des Kindes. Ziel ist es, der Angstsymptomatik des Kindes verständnisvoll und sensibel zu begegnen. Konkret werden hilfreiche Strategien zur Unterstützung des Kindes diskutiert und im Rollenspiel umgesetzt. Den Eltern wird vermittelt, mutiges, angstbewältigendes Verhalten zu verstärken, ängstliches Verhalten jedoch nicht weiter zu beachten.
Eltern-Kind-Sitzungen (acht Sitzungen) Angsthierarchie. In der ersten gemeinsamen Sitzung mit Kind und Eltern werden mit Unterstützung des Therapeuten Angstsituationen für die Expositionsübungen ausgewählt. Die Übungen müssen individuell an die Symptoma-
495 29.5 · Therapeutisches Vorgehen
tik des Kindes angepasst werden. Anschließend werden die Situationen bezüglich der Angstintensität in eine hierarchische Abfolge gebracht. Ziel ist es, für jede Hierarchiestufe eine konkrete Übung zu finden und einen verbindlichen Verstärkerplan aufzustellen. Wichtig ist, das Aufsuchen der Angstsituation sowie das Ertragen der Angst zu honorieren. Ein Beispiel für hierarchisch geordnete Expositionsübungen ist im 7 Abschn. 29.6 »Fallbeispiel« zu finden. ! In den Eltern-Kind-Sitzungen muss darauf geachtet werden, dass das Kind genügend in die therapeutischen Gespräche einbezogen wird und es altersadäquat Selbstverantwortung übernimmt. Vorgehen bei der Konfrontation. Das Ziel der Konfrontation ist, dem Kind aber auch den Eltern die Erfahrung zu vermitteln, dass angstauslösende Situationen ertragen werden können, ohne dass die befürchteten unangenehmen Folgen eintreten. Die ersten Übungen müssen sorgfältig geplant und durchgeführt werden, da sie entscheidend für den weiteren Therapieverlauf sind. Eine schlecht geplante bzw. durchgeführte Konfrontationsübung kann u. U. ein motiviertes Kind und motivierte Eltern zu einem Abbruch der Konfrontation bewegen. Die Begleitung der ersten Übungen durch den Therapeuten stellt daher sicher, dass das Kind schnell die zu übende Situation aufsucht (ohne lange Diskussionen mit dem Kind vorab) und lange genug in der Situation verweilt. ! Der häufigste Fehler in der Durchführung von Konfrontationsübungen ist, dass die Übungen nicht systematisch und nicht dicht genug aufeinander erfolgen. Oft wird eine einzelne Übung durchgeführt und nach ein paar Tagen oder sogar erst nach einer Woche die nächste Übung. Die Grundlagenforschung zu Angstkonditionierung und -löschung zeigt jedoch, dass eine überdauernde Reduktion der Angst nur dann gewährleistet ist, wenn Habituationserfahrungen häufig und in kurzen Abständen zueinander erfolgen.
Instruktionen an die Eltern bei Schulvermeidung des Kindes 4 Auf die körperlichen Symptome am Morgen wird nicht näher eingegangen. 4 Den Symptomen wird sachlich und unaufgeregt begegnet und es wird, falls überhaupt nötig, ein Arzttermin nach der Schule vereinbart. 4 Das Kind wird aufgefordert, zur Schule zu gehen und ggf. von einem Elternteil bis zur Schule gebracht. Nachdem das Kind in der Schule ist, verlässt der Elternteil sofort die Schule. 6
4 Geht das Kind nicht zur Schule, verbleibt es in seinem Zimmer, ohne dabei jedoch fernzusehen oder andere angenehme Tätigkeiten zu verüben. 4 Das Kind wird nach dem Schulbesuch für das Aufsuchen der Schule explizit gelobt, unabhängig davon, wie oft das Kind erbrochen, geschrien oder versucht hat, die Schule zu verlassen. 4 Am Nachmittag, Abend oder Wochenende wird möglichst nicht über den Schulbesuch diskutiert. Lediglich am Sonntagabend kann darauf hingewiesen werden, dass das Kind am nächsten Tag wieder zur Schule geht.
Es muss insbesondere bei einer schweren Angstsymptomatik mit ausgeprägtem Vermeidungsverhalten gewährleistet sein, dass das Kind ab der ersten Konfrontationsübung jeden Tag, mehrmals hintereinander Übungen durchführen wird. Es ist von großer Bedeutung, dass Eltern und Kind bei einer Zustimmung zur Konfrontationstherapie auch klar signalisiert haben, genügend Zeit für Übungen in ihrem Alltag einzuplanen. Können die Eltern dies nicht gewährleisten, sollte von einer Konfrontationstherapie abgesehen werden. Vor Beginn der Expositionsübungen stimmen Kind und die Eltern durch den Abschluss eines »Therapievertrags« explizit zu, die Konfrontation zu unterstützen und mit den vereinbarten Übungen einverstanden zu sein. Die Übungen beginnen mit leicht bis mittel stark angstauslösenden Situationen. Die erste Exposition findet unter Anleitung des Therapeuten und in Anwesenheit der Eltern statt. Der Therapeut fungiert dabei als Modell. Zunehmend übernehmen jedoch die Eltern Planung und Durchführung der Konfrontation. Ziel der Konfrontationsübungen ist ein deutlicher Angstanstieg und das Verbleiben in der Situation, bis die Habituation eintritt. Der Therapeut zeigt in der Nachbesprechung Erfolge auf und ermutigt das Kind zur Selbstverstärkung. Coaching der Eltern. Kontinuierlich über die gesamte Therapiedauer hinweg wird mit den Eltern erarbeitet, wie sie ihr Kind im Umgang mit der Angst unterstützen und den Aufbau der Selbstständigkeit des Kindes fördern können. Die Arbeit an elterlichen Metabotschaften (z. B. durch Überbehütung wird dem Kind vermittelt, dass die Eltern ihm nichts zutrauen) und dysfunktionalen Gedanken der Eltern bezüglich Trennung steht hierbei im Zentrum. Zudem werden die Eltern instruiert und es wird in Rollenspielen eingeübt, wie sie in konkreten Situationen mit der Angst des Kindes umgehen können. Allein der Hinweis des Therapeuten an die Eltern, das Kind in der Angstbewältigung zu unterstützen reicht hierbei nicht aus.
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Kapitel 29 · Trennungsangst
Operante Techniken Um die Motivation des Kindes zur Angstbehandlung zu stärken, ist in der Regel der Einsatz von Verstärkern notwendig. Die Auswahl und Dosierung der Verstärker muss dabei aber wohlüberlegt geschehen. So muss der Verstärker individuell für jedes Kind passend ausgewählt werden. Er muss zeitlich sofort und konsequent nach dem erwünschten Verhalten (z. B. angstfreiem Verhalten) erfolgen und einem großen Fortschritt muss ein entsprechend großer Verstärker folgen, während für kleine Fortschritte nur kleine Anreize gesetzt werden sollten.
Abbau inadäquaten Elternverhaltens in den vom Kind gefürchteten Situationen
Das Verhalten der Eltern in den für das Kind angstauslösenden Situationen muss besprochen werden. So reagieren z. B. die Eltern mit eigenen Angststörungen häufig panisch statt beruhigend, wenn das Kind starke Angstreaktionen in Form von Weinen, Klammern, Schreien oder Wutanfällen zeigt. Andere Eltern reagieren impulsiv und aggressiv auf die Angst des Kindes, statt Bewältigungsstrategien zu fördern und ängstliches Verhalten zu löschen. Hier ist es notwendig, den Eltern genaue Verhaltensregeln vorzugeben und diese mit ihnen konkret einzuüben.
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! Ein zentrales Element verhaltenstherapeutischer Arbeit ist das aktive Einüben neuer Verhaltensweisen. Eltern müssen daher klare und angemessene Verhaltensskripte zur Verfügung haben, wenn sie mit dem 6
Bei Kindern, die während der Angstreaktion ausgeprägtes aggressives Verhalten in Form von Wutanfällen aufweisen, kann es sinnvoll sein, sog. »Response-Cost-Pläne« einzusetzen. Hierbei wird mit dem Kind vorab vereinbart, dass einem bestimmten aggressiven Verhalten (wie etwa Zerreißen von Kleidungsstücken während der Angst) ein Entzug von Privilegien folgt (z. B. wird die tägliche Vorlesezeit um 5 Minuten verkürzt). Der Entzug von Privilegien sollte ohne weiteren Kommentar erfolgen und umgekehrt muss das Kind beim Ausbleiben des aggressiven Verhaltens unbedingt gelobt werden (7 Kap. III/13).
Kind Angstsituationen üben. Dies gelingt am besten, wenn sie in der Therapie zuvor durch Rollenspiele ganz konkret ihr Verhalten eingeübt haben. Erziehungskompetenzen. Der Therapeut führt in das Konzept des autoritativen Erziehungsstils ein. Dieser Erziehungsstil ist durch hohe Wertschätzung und klare Regeln und Grenzen definiert. Anhand von konkreten Beispielen wird er in den Sitzungen und im Alltag eingeübt. Abbau von überbehütendem Verhalten der Eltern/Förderung der Autonomie des Kindes
Ein weiterer Schritt in der Elternarbeit ist es zu analysieren, inwieweit die Eltern einen überbehütenden Erziehungsstil zeigen. Hier werden die Eltern in Abhängigkeit vom Alter des Kindes dazu ermuntert, dem Kind mehr Eigenverantwortung zu übergeben und so seine Selbstständigkeit zu fördern.
Elterliche Überbehütung, elterliche Metabotschaften und Aufbau von Autonomie Eltern von Kindern mit Angststörungen versuchen oft mit allen Mitteln, ihre Kinder vor Angst, Stress oder Belastungssituationen zu schützen und sie in keinem Falle diesen Situationen auszusetzen. Sie sind überzeugt davon, dass sich ihr Kind nur so zu einer gesunden und selbstbewussten Persönlichkeit entwickeln kann. Dass ein solches Elternverhalten jedoch eher das Gegenteil bewirkt, ist den Eltern oft nicht bewusst. Die (gut gemeinten) exzessiven Hilfsangebote und die Überfürsorglichkeit der Eltern (wie etwa das Kind jeden Morgen zur Schule zu bringen, obwohl alle anderen Kinder alleine gehen) vermitteln auf einer Metaebene dem Kind, dass es nicht in der Lage ist, alleine schwierige Situationen – ohne Hilfe der Eltern – zu bewältigen. Die Kinder können keine Erfahrungen sammeln, wie belastende Situationen am besten gemeistert werden können. Es lehrt die Kinder zudem, dass Angst, Stress oder Belastung möglicherweise gefährlich sind und auf jeden Fall vermieden werden müssen. Die Sichtweise
hingegen, dass Kinder durch die erfolgreiche Bewältigung von Stresssituationen oder Frustrationen selbstbewusster und psychisch gesünder werden können, ist für viele Eltern unvertraut. Typische »überbehütende« Verhaltensweisen von Eltern von Kindern mit Trennungsangst: 4 Kind wird zu Verabredungen, Schule, Klavierunterricht, Fußballtraining etc. mit dem Auto gebracht, obwohl das Kind diese Termine auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Fahrrad, zu Fuß etc. erreichen könnte; 4 Kind übernimmt wenig oder kaum Verantwortung für Planung von eigenen Aktivitäten (z. B. lässt Mutter anrufen, um sich mit Freundin zu verabreden); 4 Eltern springen bei Problemen und Konflikten sofort ein und versuchen Lösungen für das Kind herbeizuführen (z. B. Mutter ruft Freundin der Tochter an oder spricht mit Mutter der Freundin, nachdem sich Tochter mit der Freundin in der Schule gestritten hat).
497 29.6 · Fallbeispiel
Einbezug des Kindergartens/der Schule
Oft ist es sinnvoll, die Schule oder den Kindergarten des Kindes frühzeitig in die Angstbehandlung des Kindes einzubeziehen. Dies ist insbesondere indiziert, wenn der Kindergarten- oder Schulbesuch vermieden wird. Folgende Interventionen können dabei sinnvoll sein: 4 Aufklärung der Lehrer/Erziehungsperson und ggf. Mitschüler über Angstsymptomatik des Kindes: Wenn das Kind aufgrund der Angstsymptomatik die Schule nicht mehr aufsucht, muss den Lehrern eine realistische Einschätzung darüber gegeben werden, ab wann das Kind wieder regelmäßig am Unterricht teilnehmen kann. Für die Aufklärung der Mitschüler hat es sich bewährt, dass z. B. eine oder auch mehrere Schulstunden dem Thema Angst gewidmet werden. Hier können dem Lehrer Materialien wie etwa die Broschüre »Nur keine Panik: Was Kids über Angst wissen sollten« (Schneider u. Borer 2007) zur Verfügung gestellt werden, mit Hilfe derer der Unterricht gestaltet werden kann. 4 Unterstützung der Konfrontationstherapie durch Lehrer/Erziehungsperson und ggf. Mitschüler: Hier geht es darum, darüber zu informieren wie die Konfrontationstherapie durch den Lehrer unterstützt werden. Es sollten regelmäßig Zielvereinbarungen über das vom Kind erwünschte Verhalten festgelegt werden (z. B. mindestens zwei Schulstunden pro Tag anwesend zu sein) und vom Lehrer dokumentiert und mit einem Verstärkerprogramm kombiniert werden. Rückfallprophylaxe. Die Therapie sollte damit enden, dass das Kind und die Eltern gebeten werden, aufzuschreiben oder auf Band zu sprechen, was für sie die Hauptbotschaft der Therapie war und was sie in der Therapie gelernt haben. Diese Intervention hilft dem Therapeuten noch einmal zu prüfen, ob die wichtigsten Botschaften der Therapie beim Kind verankert werden konnten. Zur Vorbereitung auf mögliche Rückschläge geht der Therapeut mit der Familie ein »Worst-Case-Szenario« durch und prüft den Transfer der gelernten Fertigkeiten auf eine solche Situation. Es sollte darauf vorbereitet werden, dass insbesondere nach Krankheiten, Schulferien oder belastenden Lebensereignissen Rückschläge auftreten können, die aber nicht bedeuten müssen, dass alles umsonst war. Vielmehr sei dies der große Test, um alle in der Therapie gelernten Fertigkeiten erneut einzusetzen. Abschließend bekommt das Kind eine TAFFUrkunde überreicht.
29.6
Fallbeispiel
29.6.1 Anamnese
Kilian war zu Beginn der Behandlung 13 Jahre alt und litt an einer Störung mit Trennungsangst. Er besuchte das Gymnasium und zeigte dort sehr gute Leistungen. Er war
bei seinen Klassenkameraden beliebt und ging in seiner Freizeit seiner großen Leidenschaft, der Schauspielerei, nach. Abends schien er jedoch oft wie ausgewechselt. Wenn seine Eltern ihn alleine lassen wollten, hatte Kilian große Angst. Er befürchtete dann, dass seine Eltern einen Unfall haben und sterben könnten. Wenn die Eltern abends einen Termin hatten, machte er sich bereits am frühen Morgen Sorgen über den bevorstehenden Abschied. Die Eltern versuchten, ihre Termine deshalb möglichst lange vor Kilian geheim zu halten. In Trennungssituationen schlug Kilian um sich und weinte bitterlich. Er versuchte genau festzulegen, wann seine Eltern wiederkommen sollten und bat sie inständig, doch zu Hause zu bleiben. Nur wenn der Vater versprach, Kilian vom Handy aus anzurufen und einen genauen Zeitpunkt angab, wann sie wieder zu Hause sein würden, ließ sich Kilian darauf ein, alleine zu bleiben. Trotzdem rief er die Eltern im Verlauf des Abends mehrfach an und vergewisserte sich, dass ihnen nichts zugestoßen war. Bei Geräuschen erschrak Kilian sehr, weil er glaubte, eine Krankenwagensirene gehört zu haben. In der Folge verstärkten sich seine Sorgen um die Eltern noch. Er blieb wach, bis die Eltern wieder zu Hause waren und schlief erst danach vollkommen übermüdet ein. Der Alltag der gesamten Familie war von Kilians Angst bestimmt. Die Eltern konnten abends nicht mehr gemeinsam weggehen. Die Mutter versuchte als Polizeibeamtin, möglichst selten Nachtdienst zu übernehmen, weil sich Kilian dann sehr große Sorgen um sie machte. Kilian litt unter Bauchschmerzen und Übelkeit. An Tagen mit bevorstehender Trennung waren die Bauchschmerzen besonders ausgeprägt. Eine medizinische Untersuchung ergab keine Hinweise auf eine organische Verursachung der körperlichen Symptome. Die Eltern gaben an, sich durch die Symptomatik ihres Kindes in ihrem Alltag eingeschränkt zu fühlen. Sie wünschten sich, dass Kilian weniger unter seinen Ängsten leidet und sie als Paar wieder mehr unternehmen könnten. Kilian äußerte den Wunsch, dass seine Eltern keine Abendtermine mehr wahrnehmen sollten.
29.6.2 Behandlung
Für Kilian und seine Eltern war es zu Beginn der Therapie entlastend zu hören, dass Kilian mit seiner Angst nicht alleine war, sondern dass fast 3% der Kinder unter einer Trennungsangst leiden. Die Therapeutin erarbeitete mit dem Jungen, dass bei ihm während bzw. in Erwartung einer Trennungssituation als körperliche Symptome Bauchschmerzen im Vordergrund standen. Die genaue Analyse der Angstsituationen ergab des Weiteren, dass Kilian in Trennungssituationen Gedanken wie »meine Eltern werden einen Autounfall haben und sterben« durch den Kopf gingen. Auf der Verhaltensebene äußerte sich seine Angst typischerweise in aggressivem oder Rückzugsverhalten,
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Kapitel 29 · Trennungsangst
Weinen und flehendem Bitten, dass die Eltern doch zu Hause bleiben sollten. Ein wichtiger Bestandteil der Therapie mit Kilian war die Arbeit an seinen dysfunktionalen Gedanken. Er lernte seine Gedanken bezüglich der Trennung auf ihren Realitätsgehalt hin zu überprüfen. Dabei erarbeitete er gemeinsam mit der Therapeutin, dass Unfälle passieren können, diese aber seltener sind, als er es sich vorstellte. Beide gingen genau durch, was im Falle eines Unfalls tatsächlich eintreten würde. Nach Abschluss der Therapie gab Kilian an, dass für ihn vor allem das Durchdenken des »Worst-Case-Szenario« hilfreich war. Mit den Eltern wurde erarbeitet, welche dysfunktionalen Gedanken sie in einer Trennungssituation haben. Vor allem Kilians Mutter hatte zu Beginn der Therapie Bedenken, ihren Sohn mit seiner Angst zu konfrontieren. Sie berichtete über Schuldgefühle bei dem Gedanken, ihren Sohn mit seiner Angst alleine zu lassen. Daher war es wichtig, mit beiden Eltern das Konfrontationsrational im Detail zu diskutieren. Kilians Mutter realisierte, dass sie durch die Unterstützung des Vermeidungsverhaltens zur Aufrechterhaltung von Kilians Ängsten beitrug. Den Eltern wurde bewusst, dass sie ihrem Sohn durch die Konfrontationsübungen die Möglichkeit geben konnten, sich in einer Angstsituation kompetent zu erleben. Erst durch die Übungen könnte Kilian die neue Erfahrung machen, etwas gegen seine Ängste tun zu können und ihnen nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Dank dieser neuen Sichtweise war es den Eltern möglich, ihr Verhalten guten Gewissens Schritt für Schritt zu ändern. Kilian war durch die Erarbeitung der neuen Bewältigungsstrategien motiviert, seiner Angst ins Gesicht zu schauen und mit den Konfrontationsübungen zu beginnen.
. Abb. 29.2. Übungen zur Angstbewältigung
In der ersten Eltern-Kind-Sitzung wurde ein TAFF-Übungsvertrag aufgesetzt, in dem sich Kilian zur Mitarbeit bei den in der Angsthierarchie (. Abb. 29.2) aufgestellten Übungen bereit erklärte. Die Eltern versprachen, ihren Sohn bei der Angstbewältigung zu unterstützen, in dem sie genügend Zeit für die Umsetzung der Übungen reservieren und ihren Sohn wie vereinbart belohnen würden. Eine weitere Vereinbarung betraf die erste Übung. Diese sollte zu Hause bei der Familie und unter Beisein der Therapeutin stattfinden. Kilian wollte versuchen, nach Einbruch der Dunkelheit alleine im Haus zu sein. Als Ziel der Übung wurde festgehalten, dass Kilian so lange in der Situation bleiben sollte, bis er einen Angstabfall spüren würde. Weiterhin war vorgesehen, dass die Therapeutin zunächst die Übung modellhaft anleitet und später die Eltern die Durchführung der Übung übernehmen würden. Tatsächlich maß Kilian zu Beginn der ersten Übung mit Hilfe des »TAFF-Thermometers« die Stärke seiner Angst. In Anschluss daran bat ihn die Therapeutin für 10 Minuten alleine zu bleiben und verließ mit den Eltern das Haus. Wie verabredet ging sie nach 10 Minuten zurück und fragte Kilian, wie stark seine Angst war. Da Kilian immer noch mittelstarke Angst hatte, ermutigte die Therapeutin den Jungen und informierte, dass sie in 5 Minuten wiederkommen würde. Nach 5 Minuten war die Angstintensität stark abgesunken. Die anschließende Besprechung fand mit der gesamten Familie statt. Kilian wurde dafür gelobt, dass er das Ziel der Übung erreicht hatte. Er hatte die Angst zugelassen und erfahren, wie die Intensität der Angst im Verlauf der Übung langsam sank. In Anschluss daran wiederholte zunächst Kilians Vater und
499 29.8 · Ausblick
später seine Mutter die Übung. Mit jeder Wiederholung sank Kilians Angst schneller. Die darauf folgenden Eltern-Kind-Sitzungen ähnelten sich vom Aufbau. Im gemeinsamen ersten Teil wurden zunächst die Übungen der letzten Woche besprochen und anschließend mit Kilian und seinen Eltern festgelegt, welche Übung Kilian als nächstes umsetzen sollte. Im Elternteil der Eltern-Kind-Sitzungen wurden die Eltern durch Rollenspiele intensiv auf die bevorstehenden Übungen vorbereitet. So hatten beide ein konkretes Skript zur Hand, wie sie sich in der Angstsituation verhalten konnten, um Kilian zu unterstützen. Auf diese Weise wurden im weiteren Verlauf der Behandlung die verschiedenen Etappen der Angsthierarchie erreicht und mit den vereinbarten Belohnungen honoriert. Zusätzlich trug der Gewinn an Lebensqualität zur Entlastung der gesamten Familie und zur Motivation für die nächsten Übungen bei. Kilian konnte zunächst alleine bei seinen Großeltern übernachten. Später war für ihn das bislang Unvorstellbare möglich, alleine zu Hause zu sein und nicht genau zu wissen, wann seine Eltern nach Hause kommen würden. Dies hatte auch für die Eltern von Kilian positive Konsequenzen, da sie wieder gemeinsam Dinge unternehmen konnten und sich somit ihre Paarbeziehung intensivierte. Kilians jüngere Schwester spürte ebenfalls die Entlastung der Familie, da insgesamt ein harmonischeres Klima herrscht und weniger gestritten wurde. In der vorletzten Sitzung wurde mit Kilian und den Eltern ein »WorstCase-Szenario« durchgegangen. Kilian fühlte sich so gestärkt, dass er sich vorstellen konnte, die erlernten Fertigkeiten auch zukünftig in anderen Angstsituationen anzuwenden. Vier Wochen nach Therapieende sowie zur Ein-Jahres-Katamnese erfüllte Kilian die Kriterien der Störung mit Trennungsangst nicht mehr.
29.7
Empirische Belege
Verschiedene Überblicksarbeiten und Metaanalysen (Chambless u. Ollendick 2001; In-Albon u. Schneider 2006) haben eindrücklich die Effektivität verhaltenstherapeutischer Interventionen bei Angststörungen im Kindesalter nachgewiesen. Für verhaltenstherapeutischen Interventionen konnte eine durchschnittliche Prä-Post-Effektstärke von 0,86 für die Angstsymptomatik nachgewiesen werden (Effektstärke der Wartelistenbedingung: 0,13), zum EinJahres-Follow-up bleiben die Effektstärken stabil und erreichen eine Höhe von 1,36. Nach Ende der Therapie sind im Durchschnitt 69% der behandelten Kinder und nur 13% der Kinder in der Wartegruppe ohne primäre Angstdiagnose. Die Langzeitstabilität des Therapieerfolgs bis zu 7 Jahren nach Therapieende konnte in zwei Studien nachgewiesen werden. Die Effektivität des TAFF-Programms konnte in einer ersten randomisierten kontrollierten Therapiestudie mit
insgesamt 35 Kindern mit einer Störung mit Trennungsangst im Alter zwischen 5–7 Jahren gezeigt werden (16 Kinder TAFF-Behandlung, 19 Kinder Wartelistenbedingung). Vier Wochen nach Abschluss der TAFF-Therapie erfüllten 81% der Kinder nicht mehr die Kriterien einer Trennungsangst. Hingegen erfüllten nur 16% der Kinder in der Wartelistenbedingung die Kriterien einer Trennungsangst nicht mehr. Im Bericht der Eltern zeigten sich für die Variablen Beeinträchtigung sowie Belastung des Kindes und im Trennungsangstinventar (TAI-E) ein signifikanter Unterschied zwischen der Behandlungs- und Wartelistengruppe nach Abschluss der Behandlung bzw. Wartezeit. In der Behandlungsgruppe nahmen die Werte vom Messzeitpunkt vor der Behandlung bis zum Messzeitpunkt vier Wochen nach der Behandlung im Vergleich zur Wartelistengruppe signifikant ab.
29.8
Ausblick
Die Verhaltenstherapie der Angststörungen des Kindesund Jugendalters hat seit ihren Anfängen eine deutliche Veränderung erfahren. So integrieren heute verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramme spezifische Interventionen zur unmittelbaren Angstreduktion des Kindes (Konfrontation mit angstauslösenden Situationen, operante Techniken) mit kognitiven Interventionen und allgemeinen Interventionen zur Förderung der Autonomie des Kindes. Darüber hinaus werden die Eltern in die Angstbehandlung des Kindes mit einbezogen. Während diese verschiedenen Interventionsformen nicht mehr allein durch lerntheoretische Überlegungen begründet werden können, ist die gemeinsame Klammer dieser Behandlungsbausteine ihre Ableitung aus der empirischen Grundlagenforschung zu Angststörungen des Kindes- und Jugendalters. Die Komplexität dieser Behandlungsprogramme mag zunächst erfreulich und positiv erscheinen, jedoch steht bislang der Nachweis aus, ob durch die Ergänzung dieser verschiedenen Therapiebausteine wirklich ein Zuwachs an Erfolg zu verzeichnen ist. Aufgrund der Interventionsvielfalt der Behandlungsprogramme bleibt unklar, was die entscheidenden Wirkfaktoren einer erfolgreichen Angstbehandlung bei Kindern und Jugendlichen sind. Es bedarf daher weiterer Forschung, um diese Frage zu klären. Hierzu sind Studien notwendig, die die verschiedenen Interventionsbausteine isoliert (z. B. reine Exposition) gegen die komplexen Verhaltenstherapieprogramme (z. B. »Coping-CatProgramm« mit den potenziellen Wirkvariablen Exposition, kognitive Umstrukturierung, Entspannungstraining) testen. Darüber hinaus müssen zukünftige Studien die Auswirkungen verschiedener Varianten von Verhaltenstherapie nicht nur auf die Angstsymptomatik prüfen, sondern auch auf weitergehende Merkmale des Kindes wie Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Autonomie, Merkmale der Familie und elterliche Psychopathologie.
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Kapitel 29 · Trennungsangst
Des Weiteren muss kritisch diskutiert werden, dass sich die herkömmliche Verhaltenstherapieforschung zu Angststörungen des Kindes- und Jugendalters vor allem der »Efficacy«-Forschung widmete. Daher steht als nächster Schritt an, neben psychotherapeutischer Forschung unter »Laborbedingungen« (»efficacy research«) auch die Effektivität von Psychotherapie in der Routinepraxis (»effectiveness research«) zu untersuchen. Eine weitere Aufgabe für die Zukunft ist die Prozessforschung. Es bedarf dringend mehr Forschung zu Basisfertigkeiten wie altersadäquater Gesprächsführung, Beziehungsgestaltung und Motivationsarbeit. So benötigt die Motivationsarbeit mit Kindern andere Techniken als die Motivationsarbeit mit Jugendlichen. Eine weitere zentrale Fragestellung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist der sinnvolle Einsatz von kind- vs. eltern- vs. familienzentrierten Interventionen. Hier muss der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapeut nach wie vor »Bauchentscheidungen« treffen, die weit weg von empirischer Evidenz sind. Auch die Frage zum Einfluss der elterlichen Psychopathologie auf die Behandlung der psychischen Störungen des Kindes ist eine große Herausforderung in der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen. Erste Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass die Behandlung der elterlichen psychischen Störung einen erheblichen Einfluss auf die Psychopathologie des Kindes hat (7 Kap. III/46). Und schließlich bedarf es auch in der Kinderund Jugendlichenpsychotherapie der Hinwendung zu Risiken und Nebenwirkungen von Verhaltenstherapie. Denn Psychotherapie tut nicht immer nur Gutes (7 Kap. I/17). Abschließend muss an dieser Stelle betont werden, dass eine erfolgreiche Behandlung von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter nicht nur aktuelles Leid der Kinder und Jugendlichen verringert, sondern dass wir auch davon ausgehen können, dass die Behandlung der Angst im Kindes- und Jugendalter zur Prävention psychischer Störungen im Erwachsenenalter beitragen wird. Aktuelle epidemiologische Studien machen deutlich, dass Kinderängste als klinisch bedeutsame psychische Störungen ernst genommen werden müssen. Die Sichtweise der »flüchtigen« Kinderängste muss der Erkenntnis weichen, dass Angststörungen im Kindes- und Jugendalter professionelles Verständnis und evidenzbasierter Behandlung bedürfen. Leider gibt es erst wenige Forschungsarbeiten, die sich unter störungsspezifischem Blickwinkel der Ätiologie und psychotherapeutischen Behandlung einzelner Angsterkrankungen z. B. der Störung mit Trennungsangst annehmen. Für ein besseres Verständnis der Entstehung und somit für eine Optimierung der Behandlung ist dies jedoch unerlässlich.
Zusammenfassung Die Störung mit Trennungsangst gehört zu den frühesten psychischen Störungen des Kindesalters und ist die einzige
spezifische Angststörung des Kindesalters. Ihr Verlauf ist unter den Angststörungen des Kindes- und Jugendalters besonders ungünstig. Zudem scheint sie ein Risikofaktor für Panikstörung und Agoraphobie im Erwachsenenalter zu sein. Die besondere Rolle familiärer Faktoren im Kontext der Trennungsangst ist in verschiedenen Forschungsarbeiten aufgezeigt worden. Aktuelle Erklärungsansätze gehen davon aus, dass Temperamentsmerkmale, die Bindung des Kindes an die primäre Bezugsperson sowie kognitive Prozesse wesentlich für die Entstehung und Aufrechterhaltung sind. Im vorliegenden Kapitel wird ein familienbasiertes, kognitiv-verhaltenstherapeutisches Therapieprogramm zur Behandlung der Trennungsangst vorgestellt, das den neuesten Erkenntnissen der Therapieforschung zu Angststörungen im Kindes- und Jugendalter entspricht.
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29
30
30 Spezifische Phobien Barbara Schlup, Silvia Schneider
30.1
Einleitung
– 504
30.2
Darstellung der Störung – 505
30.2.1 30.2.2 30.2.3 30.2.4
Klinisches Erscheinungsbild – 505 Klassifikation nach DSM-IV und ICD-10 – 505 Epidemiologie und Altersrelevanz – 506 Komorbidität, Verlauf und Prognose – 507
30.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
30.3.1 30.3.2 30.3.3 30.3.4 30.3.5
Zwei-Faktoren-Theorie – 508 Modelllernen – 509 Instruktionslernen – 509 Kognitive Ansätze – 510 Informationsverarbeitungsprozesse
30.4
Diagnostik – 510
30.4.1 30.4.2 30.4.3 30.4.4
Fragebögen – 511 Verhaltensbeobachtungen – 511 Familiendiagnostik – 512 Differenzialdiagnostische Aspekte – 512
30.5
Therapeutisches Vorgehen
30.5.1 30.5.2 30.5.3 30.5.4 30.5.5 30.5.6 30.5.7
Desensibilisierungsverfahren – 513 Reizkonfrontation – 514 Lernen am Modell – 516 Operante Vorgehensweisen – 516 Kognitive Therapieansätze – 517 Förderung der Selbstwirksamkeit – 518 Spezielles Vorgehen bei Blut-, Spritzen- und Verletzungsphobie
30.6
Fallbeispiel
30.7
Empirische Belege
30.8
Ausblick
– 519 – 525
– 526
– 527
Weiterführende Literatur
– 510
– 513
Zusammenfassung – 526 Literatur
– 508
– 529
– 519
504
Kapitel 30 · Spezifische Phobien
30.1
Einleitung
Fallberichte über spezifische Phobien im Kindesalter waren wichtige Wegbereiter für die Formulierung ätiologischer Theorien über die Entstehung von Ängsten. So schrieben der »kleine Hans« mit einer ausgeprägten Angst vor Pferden, der »kleine Albert« mit einer konditionierten Rattenphobie und schließlich »der kleine Peter« mit seiner erfolgreich behandelten Pelztierphobie Psychologiegeschichte und gelangten so zu einer speziellen Art von Berühmtheit. Während der Fall des »kleinen Hans« ein bedeutender Meilenstein in der Formulierung der psychoanalytischen Theorie durch Freud (1909; zitiert nach 1989) war, wurde durch den Bericht über die Konditionierung einer Rattenphobie beim 1-jährigen Albert eine wichtige Grundlage für die Entwicklung lerntheoretischer Theorien zur Angstentstehung gelegt (Watson u. Rayner 1920). Die erste Beschreibung einer klassischen Intervention, die auf der Annahme von Modelllernen bei der Entstehung von Ängsten beruht, stammt von Jones (1924). Sie behandelte die Pelztierphobie des 2 Jahre und 10 Monate alten »Peters« mit Lernen am Modell. Peter beobachtete über mehrere Sitzungen hinweg andere Kinder, die angstfrei mit den von ihm gefürchteten Tieren und Dingen umgingen. Er lernte so, seine Ängste zu bewältigen und konnte sogar gegen Ende der Therapie die Tiere anfassen. Exkurs
30
Leben Kinder heute im »Zeitalter der Angst«? Die amerikanische Psychologin Twenge (2000) zeigte in einer Studie mit nichtklinischen Stichproben, dass die allgemeine Ängstlichkeit von Kindern im Alter zwischen 9 und 17 Jahren über eine Zeitspanne von 30 Jahren um eine Standardabweichung anstieg und der Zeitfaktor eine Varianzaufklärung des Angstniveaus von 20% erlaubt. Die Autorin wies darauf hin, dass Kinder und Jugendliche in den späten 1980er Jahren ein Angstausmaß aufwiesen, das demjenigen von jugendlichen Psychiatriepatienten in den 1950er Jahren entsprach. Als mögliche Ursachen für den Angstanstieg werden aufgrund der Studienergebnisse in erster Linie eine geringe soziale Verbundenheit (z. B. gemessen durch Höhe der Scheidungsrate, Rate alleinlebender Personen, Alter der Frauen bei erster Heirat, Höhe der Geburtenrate) sowie ein hohes Ausmaß an Bedrohung (z. B. gemessen anhand offizieller Statistiken zu Kriminalitätsrate, Suizidrate etc.) diskutiert. Die Angst von Kindern und Jugendlichen ist somit nach der Autorin nicht nur vom unmittelbaren sozialen, familiären Umfeld, sondern auch von allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen geprägt.
Fallbeispiel Hundephobie Linus ist 8 Jahre alt und wurde von seinen Eltern wegen einer ausgeprägten Angst vor Hunden angemeldet. Die Ängste begannen bereits im Alter von 4 Jahren und zeigten sich vor allem dann, wenn Linus dem Hund auf dem Bauerhof gegenüber seines Wohnhauses begegnete. Linus zitterte dann stark, erstarrte und klammerte sich an seine Mutter. Obschon der Hund an der Leine war und die Hundebesitzer wiederholt versichert hatten, dass der Hund harmlos sei und noch nie jemanden gebissen hatte, befürchtete Linus, der Hund könne ihn anspringen, zu Boden drücken und beißen. Seit Schuleintritt wurden die Ängste immer stärker und führten so weit, dass Linus sich nicht mehr traute, das Haus alleine zu verlassen. Die Eltern reagierten verständnisvoll und versuchten Linus durch gutes Zureden davon zu überzeugen, dass der Hund keine Gefahr darstelle. Gleichzeitig sorgten sie dafür, dass ihr Kind dem Hund möglichst nicht begegnete, und baten die Besitzer des Hundes, ihr Haustier zu den Zeiten einzusperren, wenn Linus sich auf den Weg zur Schule machte oder nach Hause kam. Doch mit der Zeit weitete sich Linus’ Angst auch auf andere Hunde aus. Zum Zeitpunkt der Anmeldung war die Angst so stark, dass Linus sich weigerte, das Haus alleine zu verlassen. Damit Linus weiterhin zur Schule gehen konnte, mussten die Eltern ihn täglich mit dem Auto zur Schule fahren und wieder abholen. Mehrere Versuche der Eltern, Linus dazu zu bringen, sich alleine auf den Schulweg zu machen, waren Anlass für Schreianfälle und Streit. Der Alltag der Familie war durch Linus’ Ängste stark belastet, da Ausflüge am Wochenende, Besuche bei Verwandten oder Freunden oder das Spielen im Garten nicht mehr möglich war. Linus selbst wünschte sich, auch einmal mit Kindern aus dem Quartier draußen spielen zu können. Er konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass er das schaffen würde, da er sich nie sicher sein konnte, keinem Hund zu begegnen.
Phobien sind im Kindes- und Jugendalter weit verbreitet. Jedoch nur wenige Phobien nehmen dabei einen Schweregrad ein, der zur Behandlungsmotivation des Kindes bzw. der Eltern führt. Das vorliegende Kapitel fasst aktuelle Befunde zu Erscheinungsbild, Ätiologie und Behandlung bei Phobien im Kindes- und Jugendalter zusammen. Die Wirkungs- und Vorgehensweise empirisch belegter Behandlungsmethoden (systematische Desensibilisierung, Reizkonfrontationsverfahren, Modelllernen, kognitive Ansätze) werden im Einzelnen dargestellt. Anhand eines Fallbeispiels wird die konkrete Umsetzung der Reizkonfrontation in vivo beschrieben.
505 30.2 · Darstellung der Störung
Fallbeispiel Angst vor dem Erbrechen Jasmin, 13 Jahre alt, wurde von ihrer Mutter wegen starker Angst vor dem Erbrechen angemeldet. Zum Zeitpunkt der Anmeldung stand ein bevorstehender Schullandheimaufenthalt im Vordergrund, bei dem Jasmin sich weigerte teilzunehmen. Jasmin hatte große Angst davor, während des Aufenthaltes erbrechen zu müssen. Sie berichtete von früheren Situationen, bei denen sie so starke Angst gehabt habe, sich übergeben zu müssen, dass sie ständig innerlich überprüft habe, wie sie sich fühle, und ob sich Anzeichen von Übelkeit erkennen ließen. Je stärker sie sich davor gefürchtet habe, desto eher seien Anflüge von Übelkeit bestehen geblieben oder hätten sich sogar noch verstärkt. Die Ängste begannen vor zwei Jahren, als Jasmin in den Ferien krank war und sich übergeben musste. Sie habe das als schrecklich und ekelerregend erlebt und habe auch mit starken körperlichen Reaktionen, wie Schwitzen und Schwächegefühle, reagiert. Seitdem habe sie vermehrt begonnen, Lebensmittel zu vermeiden, die zu Übelkeit führen könnten. Zudem versuche sie Situationen zu vermeiden, in denen sie außerhalb der häuslichen Umgebung essen müsse (z. B. auf Ausflügen oder in den Ferien), da somit das Risiko, sich erbrechen zu müssen, verringert werde. Zuhause sei das Essverhalten meist normal, jedoch komme es auch oft zu Streit, wenn Jasmin sich plötzlich weigere, bestimmte Lebensmittel zu essen. Jasmin konnte nicht genau angeben, wovor sie sich fürchtete. Sie gab an, dass allein der Gedanke, erbrechen zu müssen, bei ihr große Angst hervorrufe. Die Angstreaktion war auch von außen beobachtbar: So wurde Jasmin bei der Beschreibung der Vorstellung, erbrechen zu müssen, ganz unruhig, fing an zu schwitzen und reagierte leicht aggressiv auf die Fragen der Therapeutin. Jasmin konnte sich nicht vorstellen, am Schullandheim teilzunehmen. Falls sie dazu gezwungen werde, habe sie sich vorgenommen, möglichst wenig zu essen und sich genau zu beobachten, um erste Anzeichen von Übelkeit frühzeitig erkennen zu können.
30.2
Darstellung der Störung
30.2.1 Klinisches Erscheinungsbild
Kinder mit einer spezifischen Phobie zeigen eine unangemessene, dauerhafte und starke Angstreaktion gegenüber bestimmten Objekten (z. B. Spritzen), Situationen (z. B. Dunkelheit) oder Tieren, von denen keine reale Gefahr ausgeht. Die Angst tritt in der Regel unmittelbar durch die Konfrontation mit dem phobischen Stimulus (z. B. Hund) auf. Üblicherweise beginnen die betroffenen Kinder mit der
Zeit, die gefürchtete Situation zu vermeiden bzw. aus ihr zu flüchten. Bei genauerem Nachfragen sehen die Kinder oft ein, dass ihre Angstreaktion unangemessen und übertrieben ist, wobei diese Einsicht insbesondere bei jüngeren Kindern fehlen kann. Die häufigsten Inhalte von spezifischen Phobien sind bei Vorschulkindern Angst vor Fremden, Dunkelheit und Tieren, bei Grundschulkindern kommen Ängste vor Stürmen, Gewitter und Angst um die eigene Sicherheit hinzu. Bei den 12- bis 17-Jährigen sind die häufigsten Phobieinhalte Angst vor Tieren, Naturkatastrophen und vor spezifischen Situationen wie enge Räume, Höhen etc. Die phobische Reaktion zeigt sich auf der physiologischen Ebene in starken körperlichen Reaktionen wie z. B. Herzklopfen, Zittern, Schwitzen oder Bauchschmerzen. Die Gedanken des Kindes kreisen um das phobische Objekt und beinhalten häufig die Überzeugung, dass eine Konfrontation mit dem phobischen Objekt zu persönlichem Schaden führen wird (»Es wird wehtun«, »Wenn es dunkel ist, werden Einbrecher zu mir kommen«, »Der Hund wird mich beißen«). Das Verhalten der Kinder wird ebenfalls durch die Angst geprägt, wobei Flucht- oder Vermeidungsverhalten die häufigsten Reaktionen bei Konfrontation mit dem gefürchteten Stimulus oder in Erwartung des angstauslösenden Stimulus darstellen. Die Kinder vermeiden oder verlassen die Situation und suchen die Nähe ihrer Eltern oder Bezugsperson, die ihnen Sicherheit vermitteln kann. Sie klammern sich an ihre Bezugsperson und weinen, jammern oder erscheinen wie gelähmt. Manche Kinder reagieren aber auch mit aggressivem Verhalten wie Schreien, Wutanfällen oder Umsichschlagen. Klinisch relevante Phobien führen zu erheblichen Beeinträchtigungen des Kindes im familiären, schulischen und Freizeitbereich. In der Regel ist das Vermeidungsverhalten umso ausgeprägter, je stärker die Phobie ist. Die Phobie kann zur Isolierung des Kindes führen, wenn es z. B. nicht mehr zur Schule geht oder an bestimmten Aktivitäten seiner Alterskameraden nicht teilnehmen kann. In den meisten Fällen ist auch das Familienleben beeinträchtigt, da die Familie gewisse Aktivitäten, wie z. B. Freunde oder Verwandte besuchen oder in die Ferien fahren, nicht mehr unternehmen kann. Für Kinder unter 18 Jahren muss die Phobie über mehrere Wochen anhalten (s. hierzu DSM-IV bzw. ICD-10-Kriterien). > Fazit Kennzeichen von Phobien ist die unmittelbare Angstreaktion beim Auftreten des phobischen Reizes (z. B. Hund). Das Kind versucht, den phobischen Reiz zu vermeiden.
30.2.2 Klassifikation nach DSM-IV und ICD-10
In der ICD-10 werden für Phobien im Kindes- und Jugendalter und Phobien im Erwachsenenalter separate Kriterien definiert. Im Gegensatz dazu stehen im DSM-IV
30
506
Kapitel 30 · Spezifische Phobien
. Tab. 30.1. Diagnosekriterien der phobischen Störung des Kindesalters in der ICD-10 ICD-10: F93.1
30
A
Eine anhaltende oder wiederkehrende Angst (Phobie), die zwar entwicklungsphasenspezifisch ist (oder zum Zeitpunkt des Beginns war), die aber übermäßig ausgeprägt und mit deutlichen sozialen Beeinträchtigungen verbunden ist
B
Fehlen einer generalisierten Angststörung des Kindesalters (F93.80)
C
Die Störung tritt nicht im Rahmen einer umfassenderen Störung der Emotionen, des Sozialverhaltens oder der Persönlichkeit auf oder bei einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, einer psychotischen Störung oder einer substanzbedingten Störung
D
Dauer mindestens 4 Wochen
für das Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter die gleichen Kriterien für die Diagnose »spezifische Phobien« zur Verfügung. In der ICD-10 steht für entwicklungsphasenspezifische Ängste, die anhaltend oder wiederkehrend auftreten, ein abnormes Ausmaß angenommen haben und zu einer deutlichen sozialen Beeinträchtigung geführt haben, die Kategorie »phobische Störung des Kindesalters (F93.1)« zur Verfügung. . Tab. 30.1 zeigt die ICD-10-Diagnosekriterien für diese Angststörung. Die Diagnose der »phobischen Störung des Kindesalters« soll nur dann gegeben werden, wenn die Befürchtungen des Kindes entwicklungsphasenspezifisch sind. Damit ist gemeint, dass zumindest zu Beginn der phobischen Störung die Mehrheit der Kinder in dieser Altersphase ähnliche Ängste und Befürchtungen aufwiesen (z. B. Furcht vor Tieren im Vorschulalter). Die . Tab. 30.2 stellt die Kriterien des DSM-IV und der ICD-10 für die Diagnose »spezifische Phobien« gegenüber. Die Diagnosekriterien sind in beiden Klassifikationssystemen vergleichbar und unterscheiden die spezifischen Phobien in fünf Subgruppen: 1. Tier-Typ (z. B. Insekten, Hunde), 2. Umwelt-Typ (z. B. Sturm, Wasser), 3. Blut-Injektion-Verletzungs-Typ, 4. situativer Typ (z. B. Fahrstuhl, Tunnel, Flugzeug), 5. andere Typen (laute Geräusche, kostümierte Figuren). Unterschiede zwischen DSM-IV und ICD-10 bestehen in den beiden folgenden Punkten: 4 Das DSM schränkt das Kriterium C für Kinder ein: So müssen Kinder keine Einsicht zeigen, dass ihre Angst übertrieben oder unangemessen ist. 4 Bei Personen unter 18 Jahren fordert das DSM eine Dauer der Phobie von mindestens 6 Monaten. Die ICD10 macht bei den spezifischen Phobien hierzu keine Angaben (während bei der phobischen Störung eine Dauer von 4 Wochen angegeben wird).
Zu der in der in der ICD-10 vorgenommenen Unterscheidung zwischen »phobischer Störung des Kindesalters« und »spezifischer Phobie« muss kritisch angemerkt werden, dass bisher die empirische Grundlage für die separaten Kriterien nicht vorliegt. Die Unterscheidung beruht unter anderem auf der Annahme, dass phobische Störungen im Kindesalter vorübergehend sind und eher Verstärkungen normaler Entwicklungstrends als eigenständige Phänomene darstellen. Zudem wird angenommen, dass die bei phobischen Störungen im Kindesalter beteiligten Prozesse sich von denen bei Störungen im Erwachsenenalter unterscheiden (Remschmidt et al. 2001). In der klinischen Praxis führt die Unterscheidung zwischen »phobischer Störung des Kindesalters« und »spezifischer Phobie« nicht selten zu Zuordnungsproblemen. Sollte z. B. eine Hundephobie bei einem 16-jährigen Patienten, die seit dem Vorschulalter besteht, der »phobischen Störung des Kindesalters« oder der »spezifischen Phobie« zugeordnet werden? Hier besteht dringender Bedarf an weiterer Forschung, um diese Unterscheidung empirisch zu rechtfertigen und eindeutige Regeln für die Zuordnung zu den beiden Störungsbildern festzulegen.
30.2.3 Epidemiologie und Altersrelevanz
Wenige Studien haben die Häufigkeit von spezifischen Phobien im Kindes- und Jugendalter anhand von diagnostischen Kriterien nach DSM oder ICD untersucht. Hingegen gibt es einige Studien, die »übermäßige Ängste oder Sorgen« bei Kindern untersucht und beschrieben haben. Angaben zur Prävalenz der spezifischen Phobien bei Kindern und Jugendlichen variieren je nach Studie, Stichprobe und Erfassungsmethode stark. Insgesamt wird die Häufigkeit von spezifischen Phobien im Kindesalter auf ungefähr 7–9% geschätzt, mit einer leicht erhöhten Auftretenswahrscheinlichkeit in klinischen Stichproben. Mädchen sind von spezifischen Phobien häufiger betroffen und berichten tendenziell über eine größere Zahl von Ängsten als Jungen (Silverman u. Moreno 2005). Spezifische Phobien zeigen von allen Phobien den frühesten Beginn und können bereits im Kleinkindalter auftreten. Je nach Art des Phobieinhaltes ist der Beginn unterschiedlich. Öst (1987) fand bei einer retrospektiven Befragung von 370 Phobikern folgende Ergebnisse: Tierphobien zeigten den frühesten Beginn (7 Jahre), gefolgt von Blutphobie (9 Jahre), Zahnarztphobie (12 Jahre), Sozialphobie (16 Jahre), Klaustrophobie (20 Jahre) und Agoraphobie (28 Jahre). Ergebnisse des »Epidemiologic Catchment Area Program« zeigen, dass der größte Anstieg von Phobien im Alter zwischen 10 und 14 Jahren zu beobachten ist (Burke et al. 1991). Die kürzlich publizierte »National Comorbidity Survey Replication Study« aus den USA kam zu ähnlichen Ergebnissen (Kessler et al. 2005). Die retrospektive Befragung von 9282 Probanden ergab
507 30.2 · Darstellung der Störung
. Tab. 30.2. Diagnosekriterien der spezifischen Phobien in DSM-IV und ICD-10 DSM-IV (300.29)
ICD-10 (F40.2)
A
Ausgeprägte und anhaltende Angst, die übertrieben oder unbegründet ist und die durch das Vorhandensein oder die Erwartung eines spezifischen Objekts oder einer spezifischen Situation ausgelöst wird (z. B. Fliegen, Höhen, Tiere, eine Spritze bekommen, Blut sehen)
A
Entweder 1. oder 2.: 1. Deutliche Furcht vor einem bestimmten Objekt oder einer bestimmten Situation, außer Agoraphobie (F40.0) oder soziale Phobien (F40.1) 2. Deutliche Vermeidung solcher Objekte und Situationen, außer Agoraphobie (F40.0) oder soziale Phobien (F40.1). Häufige phobische Objekte und Situationen sind Tiere, Vögel, Insekten, Höhen, Donner, Fliegen, kleine geschlossene Räume, Anblick von Blut oder Verletzungen, Injektionen, Zahnarzt- und Krankenhausbesuche
B
Die Konfrontation mit dem phobischen Reiz ruft fast immer eine unmittelbare Angstreaktion hervor, die das Erscheinungsbild einer situationsgebundenen oder einer situationsbegünstigten Panikattacke annehmen kann. Beachte: Bei Kindern kann sich die Angst in Form von Weinen, Wutanfällen, Erstarren oder Anklammern ausdrücken
B
Angstsymptome in den gefürchteten Situationen mindestens einmal seit Auftreten der Störung wie in Kriterium B von F40.0 (Agoraphobie) definiert.
C
Die Person erkennt, dass die Angst übertrieben oder unbegründet ist. Beachte: Bei Kindern darf dieses Merkmal fehlen
C
Deutliche emotionale Belastung durch die Symptome oder das Vermeidungsverhalten; Einsicht, dass diese übertrieben und unvernünftig sind
D
Die phobischen Situationen werden gemieden bzw. nur unter starker Angst oder starkem Unbehagen ertragen
D
Die Symptome sind auf die gefürchtete Situation oder Gedanken an diese beschränkt
E
Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungshaltung oder das Unbehagen in den gefürchteten Situationen schränkt deutlich die normale Lebensführung der Person, ihre berufliche (oder schulische) Leistung oder sozialen Aktivitäten oder Beziehungen ein oder die Phobie verursacht erhebliches Leiden der Person
F
Bei Personen unter 18 Jahren hält die Phobie über mindestens 6 Monate an (großer Unterschied zu Übersicht oben, in der als Dauer mind. 4 Wochen angegeben wird)
G
Die Angst, Panikattacken oder das phobische Vermeidungsverhalten, die mit dem spezifischen Objekt oder der spezifischen Situation assoziiert sind, werden nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärt, wie z. B. Zwangsstörung (z. B. Angst vor Schmutz bei Personen, die die Vorstellung haben, kontaminiert zu werden), posttraumatische Belastungsstörung (z. B. Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma assoziiert sind) oder Störung mit Trennungsangst (z. B. Vermeidung von Schulbesuchen), soziale Phobie (z. B. Vermeidung sozialer Situationen aus Angst vor Peinlichkeiten), Panikstörung mit Agoraphobie oder Agoraphobie ohne Panikstörung in der Vorgeschichte Bestimme den Typus: Tier-Typus, Umwelt-Typus (z. B. Höhen, Stürme, Wasser), BlutSpritzen-Verletzungs-Typus, situativer Typus (z. B. Flugzeuge, Fahrstühle, enge, geschlossene Räume), anderer Typus (z. B. phobische Vermeidung von Situationen, die zum Ersticken, Erbrechen oder zum Erwerb einer Krankheit führen könnten; bei Kindern, Vermeidung von lauten Geräuschen oder kostümierten Figuren)
den frühesten Beginn von Angststörungen für spezifische Phobien und Störung mit Trennungsangst (mit einem Median von 7 Jahren), gefolgt von der sozialen Phobien (mit einem Median von 13 Jahren). Das Auftrittsalter der weiteren Angststörungen lag im Median zwischen 19 und 31 Jahren.
Unterteilung der spezifischen Phobien in: Tiertypus (z. B. Insekten, Hunde), Naturgewalten-Typ (z. B. Sturm, Wasser), Blut-Injektion-Verletzungs-Typ, situativer Typ (z. B. Fahrstuhl, Tunnel), andere Typen
30.2.4 Komorbidität, Verlauf und Prognose
Komorbidität ist bei psychischen Störungen im Kindesund Jugendalter häufig (Saavedra u. Silverman 2002). Dies trifft auch für Angststörungen zu, wobei davon ausgegangen wird, dass ungefähr bei 50% aller Angststörungen zusätzlich mindestens ein weiteres Störungsbild vorhanden ist
30
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Kapitel 30 · Spezifische Phobien
(Silverman u. Moreno 2005). In der Bremer Jugendstudie, die bei 12- bis 17-jährigen Jugendlichen durchgeführt wurde, trat die spezifische Phobie am häufigsten gemeinsam mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, Zwangsstörung und nicht näher bezeichneten Angststörung auf (Essau et al. 2000). Ungefähr die Hälfte der Jugendlichen hatte gleichzeitig eine weitere Angststörung und etwa ein Drittel der Betroffenen wies gleichzeitig eine depressive oder eine somatoforme Störung auf. Komorbide Substanzstörungen traten hingegen nur bei 8% der Jugendlichen mit einer spezifischen Phobie auf. Weiterhin zeigten sich in anderen Studien Komorbiditäten u. a. mit Hyperaktivität, Enkopresis, Enuresis, Übergewicht, Lernschwierigkeiten und somatischen Beschwerden (Beidel u. Turner 1988; Curry et al. 2004; Seligman u. Ollendick 1998). Über den Verlauf der spezifischen Phobien im Kindesund Jugendalter können auf dem momentanen Forschungsstand keine zuverlässigen Aussagen gemacht werden. Bisher existieren nur Studien, die retrospektiv den Verlauf von Phobien erhoben, oder Studien an sehr kleinen Stichproben, die den Verlauf prospektiv betrachteten. Eine der wenigen Längsschnittstudien wurde von Agras et al. (1972) an einer Stichprobe von 10 Kindern und Jugendlichen unter 20 Jahren durchgeführt. Die Ergebnisse zeigten, dass sich alle Kinder, die zu Beginn der Untersuchung als phobisch klassifiziert worden waren, nach 5 Jahren ohne Behandlung verbessert hatten (60% verbessert, 40% völlig symptomfrei). Eine retrospektive Studie von Agras et al. (1969) analysierte den Verlauf von milden Phobien. Dieser Studie zufolge beginnen Ängste vor Ärzten, Spritzen, Dunkelheit und Fremden schon in der frühen Kindheit, verlieren sich dann aber in der Regel mit zunehmendem Alter. Ängste vor Tieren, Höhen, Stürmen, engen Plätzen und sozialen Situationen, die ebenfalls in der Kindheit und Jugend beginnen, scheinen dagegen langanhaltend zu sein. Die Annahme, dass die meisten Kinderängste sich schnell wieder verlieren, ist allerdings nur teilweise gerechtfertigt. Jene Querschnittsuntersuchungen, die belegen, dass in unterschiedlichen Altersstufen unterschiedliche Angstinhalte vorherrschen, sprechen zwar dafür, dass die spezifischen Angstinhalte bei vielen Kindern nicht von langer Dauer sind. Sie zeigen dagegen noch nicht, dass sich die Ängstlichkeit der Kinder insgesamt verringert, da mögliche Verschiebungen der Angstinhalte in der Regel nicht überprüft wurden. Vielmehr weisen die Befunde von Essau et al. (2000), die 1035 Jugendliche im Alter zwischen
12 und 17 Jahren mit Hilfe eines strukturierten Interviews diagnostisch untersuchten, eher auf eine Zunahme von spezifischen Phobien über das Alter hinweg hin. Dieser Effekt wird v. a. dann deutlich, wenn die Häufigkeit der spezifischen Phobien unabhängig vom spezifischen Inhalt betrachtet wird. Neben den alters- und entwicklungstypischen Verschiebungen der Angstinhalte gilt es zudem zu beachten, dass Angststörungen möglicherweise das Risiko für Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit erhöhen. Während der prädiktive Wert von Panikattacken und sozialer Phobie im Jugendalter für die Entwicklung von Substanzstörungen nachgewiesen wurde, konnte ein solcher Zusammenhang bisher für andere Angststörungen nicht festgestellt werden (Zimmermann et al. 2003). > Fazit Zukünftige Studien sollten sich vermehrt der Frage nach der Stabilität und der Prognose von Kinderängsten widmen. Aussagekräftige Informationen können nur in Längsschnittstudien gewonnen werden, bei denen die Kinder selbst wiederholt befragt und beobachtet werden. Für die Prognose kann jedoch allgemein festgehalten werden, dass das Vorliegen einer Angststörung im Kindesund Jugendalter einen Risikofaktor für die Ausbildung von Angststörungen, affektiven Störungen und Substanzstörungen im Erwachsenenalter darstellt (Brückl et al. 2007; Pine et al. 1998; Schneider u. Nündel 2002; Woodward u. Fergusson 2001).
30.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
30.3.1 Zwei-Faktoren-Theorie
Lange Zeit war die »Zwei-Faktoren-Theorie« von Mowrer (1960) der einflussreichste Ansatz zur Ätiologie von Phobien. Bei den beiden Faktoren handelt es sich um die klassische und die operante Konditionierung. Mowrer nahm an, dass bei Ängsten ursprünglich neutrale Reize (z. B. Hund) aufgrund traumatischer Ereignisse (z. B. Hundebiss) mit einem zentralen motivationalen Angstzustand assoziiert und zu einem konditionierten Stimulus werden (klassische Konditionierung). Die darauf folgende Vermeidung dieser Reize wird durch den Abbau dieses unangenehmen Zustandes verstärkt (operante Konditionierung).
Kritikpunkte an Mowrers »Zwei-Faktoren-Theorie« aus heutiger Sicht (Field 2006a) Während der zweite Teil der Theorie, die operante Konditionierung, als zentraler Mechanismus für die Aufrechterhaltung der Störung gilt, wird der erste Teil, die klassische Konditionierung, aus heutiger Sicht als nicht ausreichend für die Erklärung der Entstehung von Phobien betrachtet. 6
Folgende Punkte werden kritisiert: 4 Ein großer Teil der Phobiker kann sich nicht an traumatische Ereignisse zu Beginn der Störung erinnern. 4 Nicht alle, die ein traumatisches Ereignis erleben, entwickeln eine Phobie.
509 30.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
4 Die Konditionierungstheorie sagt vorher, dass die Angst abnehmen sollte, wenn der konditionierte Reiz (z. B. Hund) wiederholt ohne traumatisches Ereignis (z. B. Hundebiss) auftritt. Häufig ist jedoch das Gegenteil zu beobachten, nämlich dass die Angst zunimmt (Eysenck 1979). 4 Mangelnde Äquipotenzialität, d. h., dass nicht alle Reize mit gleicher Wahrscheinlichkeit als phobische Auslöser dienen. So ist z. B. die Angst vor Spinnen, Hunden und Gewittern sehr viel häufiger als Angst vor Steckdosen oder Messern, obwohl diese genauso gefährlich sein können. Gemäß der »PreparednessTheorie« von Seligman (1971) wird angenommen,
In der therapeutischen Praxis stellt die »Zwei-FaktorenTheorie« trotz der genannten Kritikpunkte die zentrale Basis für die Herleitung und Erklärung der Wirkungsweise der Konfrontationstherapie dar. Abhängig von der individuellen Entwicklungsgeschichte der Phobie wird dieser Erklärungsansatz mit Erläuterungen zum Modelllernen und kognitiven Aspekten von Phobien ergänzt. Ausgehend von der Kritik am klassischen Konditionierungsparadigma formulierte Rachman (1977) die »ThreePathways-Theorie«, die von drei verschiedenen Wegen des Angsterwerbs ausgeht: 4 Klassische Konditionierung 4 Modelllernen 4 Instruktionslernen 30.3.2 Modelllernen
Insbesondere bei Kindern wird für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Phobien dem Modelllernen eine herausragende Bedeutung beigemessen. Während im Humanbereich experimentellen Arbeiten zum Modelllernen von klinischen Ängsten ethische Grenzen gesetzt sind, existieren im Bereich der Tierforschung eine Reihe von tierexperimentellen Studien zum Modelllernen, die zeigen, dass phobische Ängste allein durch die Beobachtung eines phobischen Modells erworben werden können (Mineka 1987). Die Tatsache, dass Modelllernen nicht nur über die direkte Beobachtung, sondern auch über Videodemonstrationen auftreten kann, könnte erklären, warum Kinder und Jugendliche, die keine Phobiker im näheren Bekanntenkreis haben, trotzdem durch Modelllernen (z. B. durch Fernsehen, Medien allgemein) eine Phobie entwickeln können. Die Ergebnisse der Studien aus dem Bereich der Tierforschung zeigten außerdem, dass frühere Beobachtungen von nichtängstlichen Modellen gegen den Erwerb von Phobien immunisieren. Dieser Befund stimmt mit der Beobachtung überein, dass nicht alle Kinder eines phobischen Elternteils ebenfalls eine Phobie entwickeln. Ein Faktor zur Erklärung
dass bestimmte Reiz-Reaktionsverbindungen leichter zu lernen sind, weil sie »biologisch« vorbereitet sind, d. h. dass im Laufe der Evolutionsgeschichte Angstreaktionen auf bestimmte Objekte, Situationen oder körperliche Symptome, die eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit darstellen, besonders schnell und überdauernd gelernt werden (Merckelbach u. de Jong 1997). 4 Indirekte Wege des Angsterwerbs: Ängste können nicht nur durch Konditionierung, sondern auch durch verbale Informationen und durch Modelllernen erworben werden (Rachman 1977, vgl. »Three-PathwaysTheorie«).
dieser Beobachtung wäre möglicherweise, dass die Kinder, die keine phobische Reaktion zeigen, mehr Gelegenheit hatten, nichtängstliche Modelle zu beobachten. > Fazit Es ist davon auszugehen, dass die Ergebnisse der Tierstudien zum Modelllernen nicht direkt auf das komplexe Geschehen von Ängsten und Phobien im Humanbereich übertragen werden können. Vielmehr sind Modelllerneffekte wahrscheinlich als ein Teilmechanismus an der Ätiologie von Ängsten und Phobien beteiligt.
30.3.3 Instruktionslernen
Das Instruktionslernen ist mit dem Modelllernen verwandt. Hinweise auf die Bedeutung von Instruktionslernen beim Erwerb von Ängsten finden sich in einer ganzen Serie von originellen Experimenten zum Instruktionslernen (Field et al. 2001; Field u. Lawson 2003). In einem ersten Experiment wurden 40 Kindern im Alter zwischen 7 und 9 Jahren zwei Puppen gezeigt, die sie bisher noch nicht gesehen hatten. Die eine Hälfte der Kinder bekam nun über Video oder in Form einer erzählten Geschichte positive Informationen über die Puppen dargeboten. Die andere Hälfte der Kinder bekam negative Informationen zu den beiden Puppen. Es zeigte sich, dass die positiven Informationen die Bewertungen der Kinder bezüglich der Puppen nicht veränderten. Jedoch schätzten Kinder, die negative verbale Informationen erhalten hatten, die Puppe anschließend als bedrohlicher ein. Interessanterweise zeigte sich dieser Effekt nur, wenn die Informationen in Form einer Geschichte, also verbal, dargeboten wurden. Die Darbietung der negativen Informationen über Video hatte keinen Effekt. In einem zweiten Experiment konnte mit dem gleichen Vorgehen gezeigt werden, dass die Veränderungen in der Einschätzung der Puppen von der Person abhängig waren, die die Geschichte erzählt hatte. Die Bedrohlichkeit der Puppen wurde nur dann als stärker eingeschätzt, wenn ein Erwach-
30
510
Kapitel 30 · Spezifische Phobien
sener diese Information gab. Stammte die negative Information von einem gleichaltrigen Kind, hatte diese keinen Einfluss auf die Bedrohlichkeitseinschätzung (Field et al. 2001). In einer weiterführenden Studie der gleichen Arbeitsgruppe konnte gezeigt werden, dass bedrohliche Informationen nicht nur den Selbstbericht, sondern auch implizite Annahmen und das Vermeidungsverhalten des Kindes beeinflussten (Field et al. 2003). > Fazit Insgesamt sprechen die Befunde zum Modell- und Instruktionslernen und die Ergebnisse retrospektiver Befragungen von Kindern und ihren Eltern für Rachmans Theorie der 3 Wege des Angsterwerbs (»Three-Pathways-Theorie«). Demnach scheinen alle 3 Lernprozesse an der Entwicklung von Ängsten und Phobien im Kindes- und Jugendalter beteiligt zu sein (Überblick bei Muris u. Merckelbach 2001; 7 Abschn. 30.3.1).
30.3.4 Kognitive Ansätze
30
Neben lerntheoretischen Ansätzen sind kognitive Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Phobien von Bedeutung und werden seit der »kognitiven Wende« in der Verhaltenstherapie auch im Kindes- und Jugendalter vermehrt beachtet (Kendall u. Ronan 1990). Hierbei wird angenommen, dass zentrale kognitive Konstrukte und Interpretationsmuster zum Entstehen einer Angstreaktion beitragen. So lassen sich auch bei Kindern mit Phobien typische »phobische« Kognitionen explorieren (z. B. »Der Hund wird mich anspringen«), die alle gemeinsam haben, dass die gefürchtete Situation oder das gefürchtete Objekt oder Tier als bedrohlich bewertet werden. Kognitive Modelle gehen davon aus, dass durch die Bewertung der phobischen Stimuli als gefährlich die eigentliche Angstreaktion hervorgerufen wird, indem die physiologischen Angstreaktionen in Gang gesetzt werden. Ungeklärt ist bisher, wie solche phobischen Kognitionsmuster entstehen und ob es wirklich so ist, dass erst die Kognition entsteht und danach die Angst oder umgekehrt. Empirische Belege für die Bedeutung kognitiver Aspekte zur Erklärung von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen zeigen, dass ängstliche Kinder bzw. Kinder mit Phobien mehr negative Selbstverbalisationen, weniger aufgabenbezogene Gedanken und mehr kognitive Verzerrungen in der phobischen Situation aufweisen als nichtängstliche Kinder und Jugendliche (Überblick bei Silverman u. Ginsburg 1995).
30.3.5 Informationsverarbeitungsprozesse
In jüngerer Zeit wurden immer häufiger Informationsverarbeitungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen mit Phobien bzw. Angststörungen oder hoher Trait-Angst unter-
sucht. Während die Bedeutung verzerrter Informationsverarbeitung für erwachsene Personen mit Phobien und Angststörungen heute eindeutig belegt ist (Williams et al. 1997), existieren erst wenige Studien, die solche Prozesse bei Kindern und Jugendlichen untersuchten. Bei der Untersuchung von Informationsverarbeitungsprozessen werden drei Arten von Verzerrungen (»Cognitive Biases«) unterschieden (Williams et al. 1997): 4 Neigung, angstrelevante Reize als bedrohlich zu bewerten (»Interpretation Bias«) 4 Aufmerksamkeitsverschiebung auf bedrohliche Reize (»Attentional Bias«) 4 Neigung, bedrohliche Reize besser zu erinnern (»Memory Bias«). Insgesamt weisen die wenigen bisher durchgeführten Studien darauf hin, dass ängstliche Kinder und Jugendliche eine verzerrte und fehlerhafte Informationsverarbeitung aufweisen. So interpretieren diese Kinder mehrdeutige angstrelevante Informationen als bedrohlich (Chorpita et al. 1996; Hadwin et al. 1997), zeigen eine selektive Aufmerksamkeitszuwendung auf Gefahreninformationen und eine erhöhte Ablenkbarkeit durch Gefahrenreize (Field 2006b; Martin et al. 1992) sowie eine bessere Erinnerungsleistung bei angstrelevanten Wörtern (Neidhardt u. Florin 1997). > Fazit Zusammenfassend kann für die Ätiologie von Phobien von einem komplexen Zusammenspiel der verschiedenen Modellannahmen ausgegangen werden, bei dem sowohl Konditionierungs-, Modell- und Instruktionslernen wie auch kognitive Ansätze eine Rolle spielen. Abhängig von der individuellen Problemanalyse der Phobie des Kindes muss für die Therapieplanung gegebenenfalls auf mehrere Erklärungsansätze zurückgegriffen werden.
30.4
Diagnostik
In der diagnostischen Phase einer Therapie geht es darum, eine Differenzialdiagnostik nach ICD-10 oder DSM-IV vorzunehmen sowie eine genaue Analyse der konkreten auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen für das Problemverhalten des Kindes durchzuführen. Neben der Exploration im Gespräch sind Selbstbeobachtungsmethoden, Verhaltensbeobachtungen und Eltern-, gegebenenfalls auch Lehrergespräche, geeignete Hilfsmittel für die sorgfältige Erhebung dieser Informationen. Um die Komplexität der phobischen Reaktion möglichst vollständig zu erfassen, regen Davis u. Ollendick (2005) dazu an, neben der subjektiven Angsteinschätzung alle drei Komponenten der Angstreaktion (physiologisch, kognitiv, verhaltensmäßig) zu erfassen. Weiterhin wird die Wichtigkeit der Erfassung der kognitiven Komponente betont, da die Veränderung von angstbezogenen Kognitionen möglicherweise einen zentra-
511 30.4 · Diagnostik
len Wirkfaktor in der Therapie darstellt und die langfristige Stabilisierung des erreichten Therapieerfolgs maßgeblich beeinflusst (Hudson 2005). Bei der Diagnostik von Phobien im Kindes- und Jugendalter muss beachtet werden, dass Kinder über die verschiedenen Entwicklungsphasen ein Reihe von Ängsten zeigen, die bei fast allen Kindern zu finden und entsprechend für diese Altersphasen normal sind (z. B. »Acht-Monats-Angst«). Es muss daher bei der Diagnose einer Phobie beurteilt werden, inwieweit die Angst des Kindes altersgemäß oder übermäßig ist. Zudem kann es sein, dass das ängstliche Verhalten nicht generell, sondern nur in bestimmten Situationen (z. B. Schule) auftritt. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Tatsache, dass sich Eltern und Kinder in ihren Angaben zur Art und Häufigkeit von Symptomen beim Kind zum Teil stark unterscheiden. Am schlechtesten stimmen Eltern und Kinder dann überein, wenn sie über die innere Befindlichkeit des Kindes befragt werden. Es wird daher empfohlen, bei emotionalen Störungen wie den spezifischen Phobien mehrere diagnostische Methoden miteinander zu kombinieren. Insbesondere die direkte Befragung des Kindes ist für die detaillierte Erfassung der Phobie essenziell.
Leitlinien zur Diagnostik und Psychotherapie von Angst- und phobischen Störungen im Kindesund Jugendalter (Schneider u. Döpfner 2004) Folgende Schritte sollen in der diagnostischen Abklärung enthalten sein: 4 Gemeinsames Erstgespräch mit Eltern und Kind zur Klärung eines allgemeinen Eindrucks und Vermittlung eines Überblicks über die Therapie. Dabei sollten sowohl die Eltern als auch das Kind befragt werden 4 Strukturiertes Interview zur systematischen Erfassung von Informationen über das Vorliegen einer psychischen Störung nach DSM-IV und ICD-10, jeweils separat mit Eltern bzw. Kind durchgeführt (z. B. Kinder-DIPS, Schneider et al. 2009). Das KinderDIPS erlaubt eine differenzierte Diagnostik und Differenzialdiagnostik von Angststörungen und anderen psychischen Beschwerden im Kindes- und Jugendalter (Beschreibung des Interviews 7 Kap. III/8) 4 Medizinische Differenzialdiagnostik zum Ausschluss organischer Ursachen (durch den zuständigen Kinderarzt oder Facharzt) 4 Einsatz von Fragebögen und evtl. Tagebüchern 4 Problemanalyse
Im Folgenden werden der Einsatz von Fragebögen, die Verhaltensbeobachtung, die Familiendiagnostik und differenzialdiagnostische Aspekte zur Abgrenzung der spezifischen Phobie zu anderen Angststörungen im Kindes- und Jugendalter näher beschrieben.
30.4.1 Fragebögen
Bei Kindern zwischen 4 und 8 Jahren kann der »Basler-Bilder-Angst-Test« (B-BAT; Schneider in Vorbereitung), ein bildbasiertes Instrument zur Erfassung von Ängstlichkeit und Vermeidung bei Kindern im Vor- und Grundschulalter, eingesetzt werden. Anhand von kindgerechten Bildern werden die in dieser Altersgruppe relevanten Angststörungen (spezifische Phobien, soziale Phobie, Störung mit Trennungsangst, generalisierte Angststörung) in Form einer standardisierten Befragung erhoben. Das Verfahren setzt keine Lesefertigkeiten voraus und ist daher bei Kindern mit keinen bzw. nicht ausreichenden Lesefertigkeiten sehr gut einsetzbar. Bisher liegen noch keine Normwerte vor. Bei Kindern ab dem Schulalter ist der Einsatz von speziellen klinischen Fragebögen sinnvoll. Speziell für phobische Ängste liegt zur Zeit der »Phobiefragebogen für Kinder und Jugendliche«; (PHOKI; Döpfner et al. 2006) vor. Bei diesem Fragebogen werden die Kinder aufgefordert, das Ausmaß ihrer Angst vor verschiedenen Situationen auf einer 3-stufigen Antwortskala anzugeben. Der Fragebogen besteht aus 96 Items und setzt sich aus folgenden 7 Subskalen zusammen: Angst vor Bedrohlichem und Unheimlichem, Angst vor körperlichen Gefahren und Tod, Trennungsängste, soziale Ängste, Tierphobien, Angst vor medizinischen Eingriffen, Schul- und Leistungsängste. Es liegt eine Normierung für Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 18 Jahren vor. Weiter werden Fragebögen zur Beurteilung von übergreifenden Angstsymptomen eingesetzt. Zur Erfassung der Ängstlichkeit und von State-Ängsten bei Kindern liegt der Kinder-Angst-Test II (Kat-II; Thurner u. Tewes 2000) vor. Der KAT-II ist ein Selbstbeurteilungsverfahren und ist für Kinder von 9–15 Jahren geeignet. Zur Erfassung der Angstsensitivität kann der Kinder-Angst-Sensitivitätsindex (KASI; Schneider u. Hensdiek 1994) eingesetzt werden. Es liegen Normwerte für Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 17 Jahren vor (Schneider et al. in Vorbereitung). Für die Fremdbeobachtung der Angstsymptomatik des Kindes kann der Fremdbeurteilungsbogen Angst für Eltern, Lehrer oder Erzieher (FBB-ANG; Döpfner u. Lehmkuhl 2000) eingesetzt werden. Dieser Fragebogen umfasst 36 Items und enthält die Symptomkriterien nach ICD-10 und DSM-IV für die Diagnosen Trennungsangst, generalisierte Angststörung, spezifische Phobien und soziale Phobie.
30.4.2 Verhaltensbeobachtungen
Verhaltensbeobachtungen geben Aufschluss über die aufrechterhaltenden Bedingungen der Phobie, daneben erlauben sie eine Validierung der von dem Kind und den Eltern berichteten Verhaltensauffälligkeiten. Ein Beispiel hierfür ist der »Behavioral Avoidance Test« (BAT), der speziell für die Beobachtung phobischer Verhaltensweisen geeignet ist.
30
512
Kapitel 30 · Spezifische Phobien
Während der Konfrontation mit dem phobischen Stimulus werden verschiedene Verhaltensaspekte des Kindes beobachtet: die Zeitdauer, die das Kind in der Nähe des phobischen Stimulus verbringt, der räumliche Abstand, den das Kind zum phobischen Stimulus hält, Anzahl und Latenz des Annäherungsverhaltens etc. . Tab. 30.3 zeigt ein Beispiel eines BAT zur Messung spinnenphobischer Angst (Dewis et al. 2001). Für jeden vollendeten Schritt werden 2 Punkte vergeben, für einen versuchten, aber unvollendeten Schritt 1 Punkt und 0 Punkte für nicht versuchte Schritte. Somit bedeutet ein hoher Wert (Range: 0–22) wenig Vermeidung und ein niedriger Wert viel Vermeidung. Die Kinder und Jugendlichen werden aufgefordert, so viele Schritte wie möglich zu bewältigen, jedoch aufzuhören, wenn intensive Angst erlebt wird.
30.4.3 Familiendiagnostik
30
Das Ausmaß der elterlichen Angst scheint eine besondere Rolle für das Verständnis von Ängsten im Kindes- und Jugendalter zu spielen. Es ist daher für die Therapieplanung äußerst sinnvoll, das Vorliegen der elterlichen Angst z. B. durch Fragebogen oder im Gespräch zu klären und darüber hinaus den Umgang der Eltern mit den gegebenenfalls vorliegenden eigenen Angstsymptomen sowie denen des Kindes zu explorieren. Falls bei den Eltern eine Angststörung diagnostiziert wird, sollte den Eltern eine eigene Angstbehandlung zur Unterstützung der Phobiebehandlung des Kindes empfohlen werden. Weiterhin können den Familien gemeinsame Aufgaben gegeben werden, deren Durchführung vom Therapeuten beobachtet wird. So können Eltern mit einem phobischen Kind z. B. gebeten werden, gemeinsam einen vom Kind gefürchteten Ort aufzusuchen. Diese Beobachtung gibt wertvolle Hinweise darüber, inwieweit das elterliche Verhalten
die Angstreaktion oder das Vermeidungsverhalten des Kindes begünstigt. In der späteren Behandlung sollte dann ggf. angstreduzierendes Erziehungsverhalten mit den Eltern konkret eingeübt werden.
30.4.4 Differenzialdiagnostische Aspekte
Allgemein gilt, dass es zur Abgrenzung der spezifischen Phobien von anderen Angststörungen hilfreich ist, die zentrale Befürchtung des Kindes oder Jugendlichen während der phobischen Reaktion zu erfragen.
Abgrenzung Trennungsangst Die Diagnose »spezifische Phobie« wird nicht gegeben, wenn die Angst oder das Vermeidungsverhalten ausschließlich auf Trennungssituationen begrenzt ist. Das trennungsängstliche Kind vermeidet die Trennungssituation aus Angst, dass während der Trennung dem Kind selbst oder seiner Bezugsperson etwas passieren könnte (z. B. Unfall, Entführung), und es dadurch zu einer dauerhaften Trennung von der Bezugsperson kommt.
Abgrenzung Agoraphobie/Panikstörung Manchmal kann die Unterscheidung von »spezifischer Phobie, situativer Typus« und »Panikstörung mit Agoraphobie« schwierig sein. Bei beiden Störungsbildern stehen situativ ausgelöste Panikattacken im Vordergrund, die in Situationen wie enge, geschlossene Räume, Autofahren, Fliegen, Höhen auftreten. Bei der Panikstörung mit Agoraphobie müssen jedoch zumindest zu Beginn der Störung unerwartete Panikanfälle aufgetreten sein. Dies ist bei der spezifischen Phobie nicht der Fall. Ein weiterer Unterschied betrifft die Kognitionen: Ein agoraphobischer Patient befürchtet das Auftreten eines Panikanfalls und seiner Folgen (»Ich könnte sterben, umfallen, erbrechen« etc.), während
. Tab. 30.3. Der Behavioral-Avoidance-Test zur Messung spinnenphobischer Angst bei Kindern und Jugendlichen. (Dewis et al. 2001; Schneider 2004) Schritt 1
Öffne die Tür und betrete den Raum. (Du musst jetzt noch nicht die Spinne anschauen, wenn du nicht möchtest)
Schritt 2
Gehe zu dem Tisch und stell dich vor die Box mit der Spinne
Schritt 3
Schau die Spinne genau an
Schritt 4
Berühre die Box mit der Hand
Schritt 5
Hebe die Box und halte sie mit beiden Händen
Schritt 6
Halte die Box nahe an dein Gesicht und schaue dir die Spinne genau an
Schritt 7
Stelle die Box auf den Tisch und öffne den Deckel, ohne ihn ganz wegzunehmen
Schritt 8
Nimm den Deckel vollständig weg Schritt 9 und 10 werden gemeinsam mit dem Therapeuten durchgeführt. Den Kindern und Jugendlichen wird mitgeteilt, dass der Therapeut die Spinne fängt, wenn sich das Kind bzw. der Jugendliche dazu nicht in der Lage fühlt
Schritt 9
Lass die Spinne auf den Boden. Benutze dazu das Lineal, um die Spinne behutsam aus der Box zu nehmen
Schritt 10
Fange mit der Box und etwas Pappe die Spinne und nimm den Deckel weg
Schritt 11
Berühre und halte die Spinne mit deiner Hand außerhalb der Box und setze sie dann wieder in die Box
513 30.5 · Therapeutisches Vorgehen
bei der spezifischen Phobie die Situation oder das Objekt an sich gefürchtet werden (»Das Flugzeug stürzt ab«).
rend der Trennung etwas zustoßen) oder soziale Phobie (z. B. Angst, vor der Schulklasse etwas zu sagen) ausgeschlossen werden (Silverman u. Moreno 2005).
Abgrenzung soziale Phobie Treten die Ängste immer in sozialen Situationen auf (z. B. vor der Schulklasse sprechen) so muss das Vorliegen einer sozialen Phobie geprüft werden. Zentral für die soziale Phobie ist die Angst vor Bewertung, Peinlichkeit oder Blamage. Typische gefürchtete Situationen sind vor anderen sprechen, sich in der Schule melden, Besuch eines Kindergeburtstages, im Mittelpunkt stehen, fremde Erwachsene etc. ansprechen.
> Fazit
Abgrenzung Zwangsstörung
30.5
Auch bei der Zwangsstörung kann es zur Vermeidung spezifischer Situationen kommen. Hier hilft wieder die Analyse der spezifischen Befürchtung des Patienten zur Unterscheidung der beiden Störungsbilder: Bei der Zwangsstörung werden typischerweise Situationen vermieden, um sich nicht zu kontaminieren oder Dinge zu tun, die man nicht tun möchte. Es werden z. B. Türklinken nicht angefasst, um sich nicht zu verseuchen. Die Küche wird nicht betreten, da befürchtet wird, dass dort Messer sind, die benutzt werden könnten, um andere zu verletzen. Typischerweise gehören zur Zwangsstörung Zwangshandlungen. Zwangshandlungen sind Verhaltensweisen wie Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren oder gedankliche Handlungen wie Beten, Zählen, Wörter aufsagen, die wiederholt werden müssen. Solche Zwangshandlungen treten bei spezifischen Phobien nicht auf.
Abgrenzung posttraumatische Belastungsstörung Hier ist bedeutsam, dass sich das Vermeidungsverhalten im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung erst nach dem Erleben einer traumatischen, lebensbedrohlichen Situation (z. B. lebensbedrohlicher Unfall, Vergewaltigung) entwickelt hat und in Bezug zum traumatischen Ereignis steht. So wird z. B. der Unfallort vermieden, an dem das Kind lebensbedrohlich verletzt wurde. Des Weiteren wird das Vermeidungsverhalten im Unterschied zur spezifischen Phobie von weiteren für die posttraumatische Belastungsreaktion charakteristischen Merkmalen wie Wiedererleben des Traumas oder eingeschränkter Affekt begleitet.
Für die Diagnostik der spezifischen Phobie sollten mehrere Methoden zur Informationsgewinnung miteinander kombiniert werden: Es sollten strukturierte Interviews, Fragebogen, Verhaltensbeobachtungen, Familiendiagnostik und differenzialdiagnostische Abklärungen zur Anwendung kommen.
Therapeutisches Vorgehen
Obwohl in den letzten Jahren eine zunehmende Forschungsaktivität im Bereich der Phobien bei Kindern zu verzeichnen ist, sind Therapiestudien an größeren Zahlen von Kindern mit dem gleichen Störungsbild noch immer selten. Oft entsprechen sie nicht den heutigen Standards der Therapieforschung: Placebo- und Therapeuteneffekte sind oft nicht kontrolliert und die Auswertungen lassen nicht erkennen, ob die therapeutischen Maßnahmen bei Kindern unterschiedlicher Altersstufen unterschiedlich gut greifen. Vielfach sind die Studien als Fallberichte veröffentlicht, bei denen mehrere Interventionen gleichzeitig zur Anwendung kamen. So ist es oft nicht möglich, abzuschätzen, welche Vorgehensschritte zum therapeutischen Erfolg geführt haben. Eine neuere Übersicht über vorliegende empirisch überprüfte Therapiemethoden für die spezifischen Phobien bei Kindern zeigt, dass je nach Methode die physiologische, kognitive oder verhaltensbezogene Komponente der phobischen Reaktion (nach dem Modell von Lang 1979) in der therapeutischen Intervention unterschiedlich gewichtet werden (Davis u. Ollendick 2005; Silverman u. Pina 2008). Welche Intervention bei welchem phobischen Reaktionsmuster eines Kindes indiziert ist, kann aufgrund der aktuellen Forschungsbefunde jedoch nicht eindeutig festgelegt werden. Im Folgenden soll zumindest ein Eindruck davon vermittelt werden, auf welche Weise Phobien im Kindesalter behandelt werden können. Für eine ausführliche Beschreibung der einzelnen Verfahren sei auf die entsprechenden Kapitel in Band I und III dieses Lehrbuchs verwiesen.
Abgrenzung Schulphobie Obschon im DSM-IV oder in der ICD-10 nicht näher definiert, werden Kinder mit Schulverweigerung häufig als »schulphobisch« bezeichnet. Für die Diagnose ist es wichtig, die Gründe für die Angst vor der Schule und die Schulverweigerung genau zu explorieren. So kann ein Kind mit spezifischer Phobie die Schule verweigern, weil es z. B. Angst vor dem Läuten der Schulglocke oder Angst vor Höhen in einem Schulgebäude mit mehreren Stockwerken hat. Daneben müssen andere Gründe für Schulverweigerung wie Trennungsangst (z. B. Angst, der Mutter könnte wäh-
30.5.1 Desensibilisierungsverfahren
Bei den weitaus meisten publizierten Therapien wurde ein desensibilisierungsähnliches Vorgehen gewählt. Hierbei wird versucht, die Kinder in einem entspannten Zustand, entlang einer Angsthierarchie, möglichst behutsam mit Stimulusbedingungen zu konfrontieren, die ihnen Angst bereiten. Die Kinder werden dabei anhand einer Instruktion in einen entspannten Zustand versetzt und dann in der Vorstellung mit den angstauslösenden Reizen konfrontiert.
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514
Kapitel 30 · Spezifische Phobien
Sobald ein Angstanstieg stattfindet, wird der angstauslösende Reiz weggenommen und das Kind anhand erneuter Instruktionen wieder in einen entspannten Zustand versetzt. Die konkrete Beschreibung verschiedener Entspannungsverfahren ist in 7 Kap. III/16 beschrieben.
Vorgehen bei der systematischen Desensibilisierung* 1. Schritt: Erstellen einer Angsthierarchie 2. Schritt: Vorbereitung des Kindes auf die systematische Desensibilisierung 3. Schritt: Erlernen der Entspannungstechnik 4. Schritt: Prüfung der Vorstellungsfähigkeit 5. Schritt: Paarung der Entspannung mit den Angstsituationen * Für eine detaillierte Beschreibung des Vorgehens 7 Kap. II/2.
Während systematische Desensibilisierungen bei älteren Kindern zum Teil gute Erfolge brachten, stieß man mit der einfachen Übernahme dieser Methode bei jüngeren Kindern vielfach auf Schwierigkeiten. So kann das Einüben eines Entspannungsverfahrens für kleine Kinder zu schwierig sein. In diesen Fällen haben sich andere angstinkompatible Reaktionen (z. B. entspanntes Essen oder Ablenkung durch Spiele oder Geschichten) bewährt.
30
Systematische Desensibilisierung in der Vorstellung (in sensu) Manche Kinder haben Schwierigkeiten, sich wiederholt auf die Vorstellung der gleichen inhaltlich und zeitlich begrenzten Angstszenen zu konzentrieren, die ihnen der Therapeut vorgibt. Die Zwischenschaltung von Entspannungsphasen mag zusätzlich Ermüdungserscheinungen und Langeweile hervorrufen. Lazarus u. Abramovitz (1962) beschreiben, wie man in solchen Fällen die Desensibilisierung auch in eine Fantasiegeschichte einbetten kann, die positive Emotionen als Gegenreaktion zur Angst erzeugt. Auch bei diesem Vorgehen wird zunächst eine Angsthierarchie ermittelt, und auch hier wird das Kind (wie bei der klassischen Desensibilisierung) gebeten, dem Therapeuten jeweils sofort ein Signal zu geben, wenn es Anzeichen von Angst, Unruhe oder Nervosität bemerkt; und schließlich wird auch hier jeweils erst zu höheren Angstitems übergegangen, wenn die niedrigeren Items der Angsthierarchie mehrfach angstfrei bewältigt sind. Die erfolgreiche Behandlung phobischer Ängste unter Zuhilfenahme der Vorstellung, dass man ängstigende Situationen im Auftrag von »Superman« oder »Batman« meistert (Lazarus 1971; Jackson u. King 1981), ist wiederholt beschrieben worden.
Systematische Desensibilisierung in vivo Da sich bei den klassischen Desensibilisierungen in der Vorstellung häufig Schwierigkeiten ergaben, gewannen Desensibilisierungen in vivo an Bedeutung. So hatte z. B. Tasto (1969) vergeblich versucht, ein 4-jähriges Mädchen in der Vorstellung gegen seine Angst vor plötzlichen lauten Geräuschen zu desensibilisieren. Er war mit diesem Versuch nicht erfolgreich, was schon allein deshalb gut verständlich ist, weil es schlechthin nicht möglich ist, sich wiederholt und gezielt »Plötzlichkeit« vorzustellen. Eine Desensibilisierung in vivo brachte dagegen bald den gewünschten Erfolg. Wie die Desensibilisierungen in vivo durchgeführt wurden, insbesondere welche Bedingungen zur Erzeugung angstinkompatibler Reaktionen geschaffen wurden, war sehr unterschiedlich: Im Fall einer Froschphobie wurde das Kind unter hypnotischer Entspannung erst mit Bildern von Fröschen, dann mit Spielzeugfröschen und schließlich mit lebenden Exemplaren konfrontiert (Danquah 1974 zitiert nach King et al. 1988). Im Fall eines autistischen Jungen mit einer Phobie vor der Toilettenspülung wurde das Kind gekitzelt (was es sehr gern hatte), während es mit den Items der Angsthierarchie konfrontiert wurde (Jackson u. King 1981). Im Fall eines Kleinkindes schließlich, das Angst vor Wasser hatte, wurden durch Körperkontakt mit der Mutter und durch Spielzeug emotional positive Reaktionen erzeugt, während das Kind in sukzessiver Annäherung mit dem gefürchteten Wasser konfrontiert wurde (Bentler 1962). Insgesamt sprechen die vorliegenden Therapiestudien dafür, dass Desensibilisierungen in vivo nicht nur kindgerechter, sondern zumindest im Fall einfacher Phobien auch erfolgversprechender sind als Desensibilisierungen in der Vorstellung (Überblick bei Ollendick u. King 1998). > Fazit Die systematische Desensibilisierung sollte vor allem dann eingesetzt werden, wenn sich Kind und Eltern nicht auf ein Konfrontationsverfahren (7 Abschn. 30.5.2) einlassen können oder wenn der gefürchtete phobische Stimulus mit einer realen Gefährdung des Kindes verbunden ist. In allen anderen Fällen sollte für die Behandlung von spezifischen Phobien die Konfrontation in vivo die Methode der ersten Wahl sein.
30.5.2 Reizkonfrontation
Mit dem Begriff der Reizkonfrontation werden Verfahren zusammengefasst, bei denen Kinder mit Phobien dem angstauslösenden Stimulus (z. B. Hund, Dunkelheit) ausgesetzt werden. Dabei können zwei Klassen von Verfahren unterschieden werden: Bei der einen Verfahrensklasse, zu der die bereits dargestellte systematische Desensibilisierung und Angstbewältigungstrainings gehören, werden die Kinder angeleitet, bei Auftreten der Angst sofort angstreduzierende Strategien wie etwa Entspannung oder bestimmte
515 30.5 · Therapeutisches Vorgehen
Atemtechniken einzusetzen. Bei der zweiten Klasse von Reizkonfrontationsmethoden soll das Kind die Angst so lange ertragen, bis es zu einem Rückgang der Angst kommt, ohne dabei jedoch angstreduzierende Techniken einzusetzen. Diese Verfahren werden im Weiteren »Konfrontationsverfahren« genannt. Sie können wiederum unterteilt werden in Methoden, bei denen der Angststimulus ausschließlich in der Vorstellung dargeboten wird (»Konfrontation in sensu«), und solche, bei denen der Angststimulus in der Realität dargeboten wird (»Konfrontation in vivo«). Beide Konfrontationsformen können so angewandt werden, dass in hierarchisch langsam aufsteigender Angstintensität die einzelnen Angststimuli vorgegeben werden (. Tab. 30.4). Man spricht dann von einem graduellen Vorgehen im Unterschied zum massierten Vorgehen, bei dem das Kind gleich zu Beginn mit stark angstauslösenden Situationen konfrontiert wird. Gemeinsam ist den Konfrontationsverfahren, dass die Konfrontationsübungen erst dann beendet werden, wenn die angstauslösenden Situationen weitgehend angstfrei ertragen werden. Ein weiteres wichtiges Prinzip ist, dass das Fluchtund Vermeidungsverhalten des Kindes verhindert wird. Das Ziel der Konfrontation besteht darin, dem Kind zu vermitteln, dass angstauslösende Situationen ertragen werden können, ohne dass die von ihm erwarteten Folgen eintreten. Die Konfrontationstherapie ohne Einsatz von angstreduzierenden Strategien beruht auf der Annahme der Habituation. Darunter wird ein Prozess verstanden, bei dem die Reaktion eines Organismus auf den gleichen Reiz bei wiederholter Darbietung abnimmt und somit eine Gewöhnung stattfindet. Darüber hinaus wird vermutet, dass durch die Konfrontation mit den angstauslösenden Situationen Veränderungen in den semantischen Netzwerken des Gedächtnisses stattfinden, in denen die phobischen Objekte und die eigene Furchtreaktion repräsentiert sind. Physiologische Habituation während der Konfrontationsübung führt zu einer Lockerung der Assoziation zwischen den Auslöser- (z. B. Hund) und Reaktionselementen (z. B. Herzklopfen). Die Integration korrektiver Information über die Bedeutung der gefürchteten Elemente in das Netzwerk (z. B. Hund hat nicht gebissen, also sind nicht alle Hunde gefährlich) wird dadurch erleichtert. Diese Erfahrung führt dazu, dass das Kind bei der nächsten Konfrontation geringere physiologische Reaktionen zeigt.
. Tab. 30.4. Beispiel für eine Angsthierarchie eines hundephobischen Kindes (Silverman u. Moreno 2005) Schritt
Übung
1.
Bilder von Hunden in Zeitschriften anschauen
2.
In eine Tierhandlung gehen und Hunde hinter der Schaufensterscheibe betrachten
3.
Kleinen Hund streicheln, der von jemandem festgehalten wird
4.
Größeren Hund streicheln, der an der Leine ist
5.
Großen Hund streicheln, der nicht an der Leine ist
> Fazit Konfrontationsverfahren beruhen auf dem Prinzip der Habituation, d. h. es wird davon ausgegangen, dass bei wiederholter Konfrontation mit einem Angst auslösenden Stimulus eine Gewöhnung stattfindet und die Stärke der Angstreaktion bei wiederholter Konfrontation sukzessive abnimmt. Die systematische Desensibilisierung basiert auf der Annahme der klassischen Konditionierung und geht davon aus, dass der Prozess der Löschung durch den Einsatz von angstreduzierenden Techniken (z. B. Instruktion zur Entspannung bei wiederholter Konfrontation mit dem angstauslösenden Reiz) unterstützt und beschleunigt werden kann.
Forcierte, lang anhaltende Konfrontation Bei Konfrontationsbehandlungen stellt sich oft die Frage, ob die Konfrontationen von hinreichend langer Dauer sind, und ob das Flucht- und Vermeidungsverhalten strikt genug unterbunden wird. Dies erscheint besonders wichtig, wenn das Kind die Erfahrung machen soll, dass sich 1. seine Angst bei der Konfrontation mit den gefürchteten Bedingungen aushalten lässt und allmählich abnimmt, und dass 2. die jeweils befürchteten katastrophalen Konsequenzen (ich sterbe, ich werde verrückt, ein nahestehender Angehöriger stirbt, die Spinne wird mich beißen) sich in Wirklichkeit nicht einstellen, auch wenn das gewohnte Flucht- oder Vermeidungsverhalten ausbleibt. Bei der forcierten, lang anhaltenden Konfrontation (massiertes Vorgehen) wird das Kind gleich zu Beginn mit einer stark angstauslösenden Situation konfrontiert, anschließend wird die Konfrontation in unregelmäßiger Abfolge in möglichst vielen angstauslösenden Situationen mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad weitergeführt. Konfrontationen von langer Dauer wurden bisher selten, aber mit großem Erfolg eingesetzt. Einige Autoren (Kennedy 1965; Blagg u. Yule 1984) haben z. B. schulphobische Kinder mit langandauernden Konfrontationen behandelt. Sie brachten die Kinder, wenn nötig forciert, in die Schule. Dieses Vorgehen brachte in eindrucksvoll kurzer Zeit hervorragende Erfolge. Auch in einem Fall von Hundephobie wurden lange Konfrontationen erfolgreich angewendet (Sreenivasan et al. 1979). Diese Studien geben deutliche Hinweise darauf, dass eine lang anhaltende Konfrontation mit stark angstauslösenden Reizen große Erfolge zeigt. Der Vorteil der lang anhaltenden Konfrontation liegt in der sehr schnellen und langfristig stabilen Wirkungsweise dieser Methode. In der Regel ist bereits nach wenigen Sitzungen eine deutliche Reduktion der Angstsymptomatik, insbesondere auch der Erwartungsangst, zu beobachten. Dieses Ergebnis ist in der Behandlung von Phobien im Erwachsenenalter durch kontrollierte Gruppenvergleiche gut belegt (Überblick bei Ruhmland u. Margraf 2001).
30
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Kapitel 30 · Spezifische Phobien
Graduiertes Vorgehen bei der Konfrontation Beim graduellen Vorgehen beginnt das Kind die Konfrontationstherapie mit einer leicht angstauslösenden Situation und wird dann Schritt für Schritt an die schwierigste Situation herangeführt. Im Gegensatz zum massierten Vorgehen mit einer raschen Wirkungsweise werden beim graduellen Vorgehen die Angstreduktion und der Abbau der Erwartungsangst länger hinausgezögert, was unter Umständen zu Motivationsproblemen beim Kind und bei den Eltern führen kann. Abhängig vom Alter bzw. der kognitiven Entwicklung des Kindes muss vor Beginn der Konfrontationstherapie entschieden werden, ob ein massiertes, lang anhaltendes oder ein graduiertes Vorgehen angewandt werden soll.
Graduiertes oder massiertes Vorgehen bei der Konfrontation?
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Bei jugendlichen und erwachsenen Angstpatienten scheint die massierte Konfrontation besonders gute Erfolge zu erzielen. Inwieweit diese Befunde auf das Kindesalter übertragbar sind, ist bisher nicht geklärt. Als generelle Faustregel gilt aber, dass bei älteren Kindern eher das massierte und bei jüngeren Kindern bis zum Alter von 12 Jahren eher das graduelle Vorgehen gewählt werden sollte. Bei der Auslösung von sehr starken Angstreaktionen besteht bei jüngeren Kindern sonst die Gefahr, dass das Kind für seine Angstreaktionen empfindlicher statt unempfindlicher wird. So kann es sein, dass ein Kind eine starke Angstreaktion in einer gefürchteten Situation überstanden hat, es jedoch dieses Erlebnis nicht im Sinn des Habituationsmodells verarbeitet. Er erinnert sich nicht so sehr, dass die Angst im Lauf der Zeit abnahm, sondern dass es einfach nur schrecklich war und es nie wieder in eine ähnliche Situation geraten möchte. Hier sind möglicherweise aufgrund der kognitiven Entwicklung des Kindes Grenzen einer adäquaten Verarbeitung von Konfrontationen mit stark angstauslösenden Situationen gesetzt, die es zu berücksichtigen gilt. Beim graduellen Vorgehen sollte allerdings darauf geachtet werden, dass die Konfrontation mit einer mittelstark angstauslösenden Situation begonnen wird, da das Kind sonst nicht wahrnehmen kann, dass die Angst von alleine weggeht.
30.5.3 Lernen am Modell
Bereits Bandura et al. (1967) belegten, dass sich die Angst von 3- bis 5-jährigen hundephobischen Kindern entscheidend verringerte, nachdem sie mehrere Sitzungen lang zugeschaut hatten, wie eine Modellperson angstfrei mit einem Hund umging. Die Modellperson demonstrierte in einem graduierten Vorgehen, wie sie sich angstfrei zunächst in einiger Distanz von dem Hund hielt, dann allmählich näher
an ihn heranging und ihn schließlich berührte und mit ihm interagierte. Später zeigte sich (Ritter 1968), dass es noch günstiger war, wenn man schlangenphobischen Kindern nicht nur demonstrierte, wie man, ohne Schaden zu nehmen, mit den gefürchteten Tieren oder Dingen umgehen kann, sondern wenn man die Kinder zusätzlich selbst aktiv an der Interaktion mit den phobischen Stimuli beteiligte. Wieder wurde ein behutsam abgestuftes Vorgehen gewählt: Das Modell näherte sich der Schlange nur sehr allmählich und begann dann sukzessive immer »gewagtere« Interaktionen. Die Kinder trugen anfangs Handschuhe und fassten damit zunächst auch nur den Arm des Therapeuten an (der seinerseits die Schlange berührte), schoben dann ihre Hand auf den Handrücken und später auf die Finger des Therapeuten etc., bis die Kinder schließlich selbst die Schlange mit bloßen Händen streichelten und hochhoben. Tatsächlich zeigt sich auch in einer Zusammenschau der vorliegenden Untersuchungen (meist handelt es sich allerdings um Analogstudien), dass jene Formen des Modelllernens, bei denen das Kind zugleich zum eigenen aktiven Umgang mit den phobischen Bedingungen angeleitet wird, in weitaus mehr Fällen erfolgreich sind als das bloße Beobachten von In-vivo-Modellen oder gar das Anschauen von Modellen im Film (Ollendick u. King 1998). Menzies u. Clarke (1993) verglichen die Effektivität von Modelllernen bei Kindern mit einer Wasserphobie mit den Auswirkungen einer Konfrontation in vivo und der Kombination beider Verfahren sowie einer Warteliste-Kontrollgruppe. Bei Therapieende zeigten Kinder, die mit Konfrontation in vivo, und Kinder, die mit der Kombination von Modelllernen und Konfrontation in vivo behandelt worden waren, substanzielle Veränderungen in der Fremd- und Selbsteinschätzung ihrer phobischen Angst. Kinder, die allein mit Modelllernen behandelt wurden, erreichten hingegen keine signifikante Veränderung. Zum Katamnesezeitpunkt 12 Wochen nach der Behandlung ergab sich jedoch eine Überlegenheit der kombinierten Therapiebedingung gegenüber der reinen Konfrontationsbedingung. Dieses Ergebnis weist daraufhin, dass das Modelllernen möglicherweise zur Stabilisierung des Therapieerfolges beiträgt. > Fazit Modelllernen scheint vor allem dann sehr effektiv zu sein, wenn die Kinder gleichzeitig auch mit der phobischen Situation in vivo konfrontiert werden. Für die Effektivität von Modelllernen alleine konnten jedoch keine überzeugenden Belege gesammelt werden.
30.5.4 Operante Vorgehensweisen
Um die Motivation des Kindes zur Angstbehandlung zu stärken, ist oft der Einsatz von Verstärkern notwendig. Die Auswahl und Dosierung der Verstärker muss dabei aber wohlüberlegt geschehen (Basisinformationen über Ge-
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sichtspunkte, die bei operanten Vorgehensweisen zu berücksichtigen sind, geben Florin u. Tunner 1970). So muss der Verstärker individuell für jedes Kind passend ausgewählt werden. Er muss zeitlich sofort und konsequent nach dem erwünschten Verhalten (z. B. angstfreiem Verhalten) erfolgen und einem großen Fortschritt muss ein entsprechend großer Verstärker folgen, während für kleine Fortschritte nur kleine Anreize gesetzt werden sollten. Sehr häufig werden Verstärker eingesetzt, seien es soziale oder materielle, wenn Kinder Fortschritte in der Konfrontation mit Angststimuli machen oder aktives Bewältigungsverhalten zeigen. Konstruktiv aufgebaute operante Therapien, die auf sorgfältigen Problemanalysen basieren, sind dagegen selten. Gelegentlich wurden, etwa im Fall von Schulphobien, zunehmend lange Verweilzeiten im Klassenraum belohnt (Ayllon et al. 1970; Last 1988) oder, im Fall von Dunkelangst, zunehmend langes Ausharren in der Dunkelheit (Leitenberg u. Callahan 1973). Es ist denkbar, dass bei einem solchen Vorgehen, zumal wenn das Kind selbst die Größe der Schritte vorgeben kann und kleine Fortschritte in der Konfrontation in der gleichen Weise verstärkt werden wie große, der Therapiefortschritt künstlich gebremst wird. Minimalen Fortschritten im Annäherungsverhalten wird damit eine unverhältnismäßig große Bedeutung beigemessen. Das Kind wird den Eindruck erhalten, dass das vollständige Aufgeben des Vermeidungsverhaltens sehr mühsam und nur langfristig zu erreichen ist. Es besteht also die Gefahr, dass die phobischen Stimuli in ihrer Bedrohlichkeit noch aufgewertet werden. Last (1988) beschreibt z. B.den Fall eines 10-jährigen Jungen mit einer durch Trennungsangst bedingten Schulphobie. Der Junge wurde mit In-vivo-Konfrontationen entlang einer Angsthierarchie behandelt (Betreten des Schulgebäudes ohne Teilnahme am Unterricht; 10 min Verweilen im Unterricht; 30 min Verweilen im Unterricht; 1 h Verweilen im Unterricht etc.). Am Ende jeder Übung wurde sozial verstärkt. Erst nach 6 Wochen war der Junge bei diesem
Vorgehen in der Lage, die Schule wenigstens halbtags zu besuchen. > Fazit Bei Kindern, die während der Angstreaktion ausgeprägtes aggressives Verhalten in Form von Wutanfällen aufweisen, kann es sinnvoll sein, »Cost-Response-Pläne« einzusetzen. Hierbei wird mit dem Kind vorab vereinbart, dass einem bestimmten aggressiven Verhalten (wie etwa Zerreißen von Kleidungsstücken während der Angst) ein Entzug von Privilegien folgt (z. B. wird die tägliche Fernsehzeit um 10 min verkürzt). Wichtig ist hierbei den Eltern zu vermitteln, dass der Entzug von Privilegien ohne weiteren Kommentar erfolgen soll und umgekehrt, das Kind beim Ausbleiben des aggressiven Verhaltens unbedingt gelobt werden muss.
30.5.5 Kognitive Therapieansätze
Die Ergänzung der Konfrontationsbehandlung um kognitive Elemente ist auch im Kindes- und Jugendalter sinnvoll. So sollte zu Beginn der Therapie das Kind über das Wesen und die Ursachen von Angst informiert werden. Hilfreiche Materialien, in denen diese Informationen kindgerecht aufbereitet sind, liegen aus jüngster Zeit vor (Boie 2001; Schneider u. Borer 2007). Des Weiteren sollte das Kind angeleitet werden, angstfördernde Gedanken in der phobischen Situation zu identifizieren und zu verändern. Die angstfördernden Gedanken sollten durch individuelle angstbewältigende Selbstinstruktionen ersetzt werden und deren Einsatz mit dem Kind konkret besprochen und eingeübt werden. Selbstkontroll-Strategien, wie sie von Silverman u. Moreno (2005) beschrieben werden, helfen dem Kind, sein eigenes Verhalten selbst zu regulieren. In der Therapie werden mit dem Kind spezifische Denk-Strategien erarbeitet, die das Kind bei der Konfrontation mit einer angstauslösenden Situation anwenden kann.
Exkurs Kognitive Ansätze bei Angst vor medizinischen Eingriffen Besonders häufig werden kognitive Ansätze zur Behandlung der Angst vor medizinischen Eingriffen angewandt (Überblick bei Mühlig 2008). Folgende Interventionsformen kommen dabei in der Regel zum Einsatz: Informationsvermittlung. Je nach Behandlungsansatz geschieht die Informationsvermittlung durch verbale Instruktionen, Demonstration oder Beobachten eines Modells. Bei verbalen Instruktionen scheint es bedeutend zu sein, dass nicht nur der technische Verlauf und die einzelnen Schritte der medizinischen Prozedur mitgeteilt werden, sondern dass auch sensorische Eindrücke (z. B. Geräusch, wie der Gips aufgesägt wird; Gefühl der Kühle 6
beim Desinfizieren, Nadelpiks, Gerüche, wie z. B. Desinfektionsmittel) einbezogen werden. Während ältere Kinder von einer rein verbalen Informationsvermittlung profitieren können, ist es für jüngere Kinder häufig schwierig, komplizierte Handlungsabläufe durch diese Art der Informationsvermittlung nachzuvollziehen. In diesem Fall ist es sinnvoller, den Ablauf des medizinischen Eingriffes konkret zu demonstrieren. Hierbei wird den Kindern zunächst in einer einfachen Sprache der genaue Ablauf mitgeteilt. Dann wird das Vorgehen an einer Puppe, anhand von Rollenspielen oder an dem Kind selbst demonstriert. Die Information kann auch anhand von Gesprächen mit Live-Modellen (Kindern, die die Prozedur bereits erfolgreich überstanden ha-
30
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Kapitel 30 · Spezifische Phobien
ben), mittels Video-Modellen oder mit Hilfe von Bilderbüchern oder Spielmaterial vermittelt werden. Ähnlich wie die Demonstration des Ablaufs der Prozedur können mittels dieser Techniken auch angemessen Bewältigungsstrategien (z. B. in Form von Selbstinstruktionstechniken: »Es ist bald vorbei und ich schaffe das schon«) modelliert werden. Erst danach wird die eigentliche Behandlung durchgeführt. Ablenkungsstrategien. Hierbei geht es darum, die Aufmerksamkeit des Kindes von dem medizinischen Eingriff auf angenehme Dinge zu lenken. Zur Ablenkung werden häufig Cartoons oder auch Videospiele eingesetzt. Ablenkende Gespräche (über Interessen, Urlaub etc.), Spiele (»Ich sehe was, was Du nicht siehst«), Musikhören, Drücken der Hand der Mutter und Video- oder GameboySpiele können ebenfalls hilfreich sein. Mehrere Studien fanden positive Effekte von Ablenkungsstrategien auf das Stressempfinden der Kinder während des Eingriffs (Überblick bei Dahlquist 1992). Der Einsatz von Ablenkungsstrategien erwies sich vor allem dann sinnvoll, wenn wenig Zeit für eine systematische Vorbereitung des Kindes zur Verfügung steht. Kognitiv-behaviorale Behandlungsprogramme. Diese Programme enthalten in der Regel ein ganzes Paket von bestimmten Fertigkeiten, die den Kindern vor der medizinischen Behandlung vermittelt werden. So enthalten die-
se Programme neben dem Training positiver Selbstinstruktionen häufig auch Atem-, Entspannungs- und Bewältigungstrainings. Die Fertigkeiten werden typischerweise über mehrere Sitzungen mit dem Kind eingeübt. Der Therapeut ist außerdem während der eigentlichen medizinischen Behandlung anwesend und hilft dem Kind bei der Anwendung der neuen Verhaltensweisen. In einer Metaanalyse von Mühlig (1997) erwiesen sich kognitiv-behaviorale Interventionspakete im Vergleich mit rein verhaltenstherapeutischen Paketen und reiner Informationsvermittlung als besonders effektiv. Die kürzlich publizierte systematische Übersichtsarbeit von Lindsay et al. (2008), die den Einfluss kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen auf das Schmerzempfinden und den subjektiv erlebten Stress bei Kindern und Jugendlichen zwischen 2 und 19 Jahren während medizinischer Eingriffe untersuchte, bestätigt diese Befunde. Die größten Effektstärken wurden für Ablenkungsstrategien, kombinierte kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen und Hypnose gefunden. Kognitiv-behaviorale Behandlungen sind jedoch sehr aufwendig und kostenintensiv. Eine sinnvolle Alternative besteht daher darin, Eltern in die Vorbereitung des Kindes auf medizinische Behandlungen mit einzubeziehen. Da ein wichtiger Faktor für die Ängstlichkeit des Kindes die Ängstlichkeit der Eltern zu sein scheint, konzentrieren sich Vorbereitungsprogramme für Eltern auf die Reduktion der elterlichen Angst und eine adäquate Eltern-Kind-Interaktion während der medizinischen Behandlung.
30 30.5.6 Förderung der Selbstwirksamkeit
Kinder mit Angststörungen scheinen über eine geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung zu verfügen: Das bedeutet, dass sie ihre Fähigkeit, Ereignisse in ihrem Leben durch eigenes Verhalten beeinflussen und Situationen aus eigener Kraft bewältigen zu können, als gering einschätzen (Bandura 1982; Messer u. Beidel 1994). Mehrere Studien haben einen Zusammenhang zwischen geringer Selbstwirksamkeit und klinisch relevanter Angst, unter anderem Angst vor zahnärztlicher Behandlung (Murray u. et al. 1989) und Angst vor Tests (Yue 1996) nachgewiesen. Eine geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung hat zur Folge, dass das Kind eine Situation als unkontrollierbar wahrnimmt, obwohl sie in Wirklichkeit möglicherweise vom Kind kontrolliert werden könnte. So fühlt sich ein hundephobisches Kind mit geringer Selbstwirksamkeitsüberzeugung möglicherweise bei der Begegnung mit einem Hund der Situation ausgeliefert, obwohl der Hund eingesperrt, an der Leine oder klein genug ist, um vom Kind kontrolliert zu werden
(Weems u. Silverman 2006). Eine Möglichkeit, die Angst in dieser Situation zu reduzieren, besteht in diesem Falle darin, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung des Kindes zu fördern. Dabei wird durch kognitive Umstrukturierung (z. B. Beweise für und gegen die Gefährlichkeit/Unkontrollierbarkeit der Situation finden) und positive Selbstinstruktionen (z. B. »Ich bin mutig!«, »Ich schaffe es!«) das Vertrauen des Kindes in seine Fähigkeit, den phobischen Stimulus kontrollieren zu können, gestärkt. Neuere Behandlungsansätze für Angststörungen im Kindes- und Jugendalter haben neben dem Angstabbau im engeren Sinne zum Ziel, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung des Kindes zu stärken. So werden Befürchtungen und Bewertungen des Kindes bezüglich der angstauslösenden Situation und seine Einschätzung bezüglich der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten in diesen Situationen in der Therapie in altersangemessener Weise thematisiert und ggf. verändert. Die Kinder werden »stark gemacht«, um schwierige Situationen und Probleme anzugehen und zu lösen.
519 30.6 · Fallbeispiel
Beispiel Ich bin mutig! Angst vor Dunkelheit ist bei Kindern weit verbreitet. In einer schon älteren, aber immer noch bedeutsamen Therapiestudie prüften Kanfer et al. (1975), welche verbalen Instruktionen dazu geeignet sind, dem Kind bei der Überwindung seiner Dunkelangst zu helfen. Insgesamt wurden 45 Kinder im Alter zwischen 5 und 6 Jahren untersucht. Die Kinder wurden einer von drei Behandlungsbedingungen zugeordnet: 4 In der Kompetenzgruppe wurde dem Kind vermittelt, dass es aktive Kontrolle ausüben kann bzw. kompetent mit der Dunkelangst umgehen kann (z. B. »Auch wenn das Zimmer dunkel ist, weißt Du genau, wo was in Deinem Zimmer ist. Du kannst das Licht anmachen, wenn Du Dich schlecht fühlst.«) 4 In der Stimulusgruppe wurde versucht, die aversive Qualität des Stimulus »Dunkelheit« zu reduzieren und stattdessen positiv zu deuten. 4 In der neutralen Therapiebedingung bekamen die Kinder eine Geschichte erzählt, die nichts mit dem Thema Dunkelheit zu tun hatte. Abhängig von der Therapiebedingung wurden mit dem Kind außerdem unterschiedliche Sätze eingeübt, die es in der Dunkelheit aufsagen sollte:
30.5.7 Spezielles Vorgehen bei Blut-, Spritzen-
und Verletzungsphobie Bei Kindern und Jugendlichen mit einer Blut-, Spritzenoder Verletzungsphobie kann die Angst mit Ohnmachtsanfällen einhergehen. Diese Ohnmachtsanfälle können mit einer spezifischen autonomen Reaktion, einer biphasischen Reaktion, bei der Konfrontation mit blutphobischen Reizen erklärt werden: So kommt es zunächst, wie bei anderen Phobien auch, zu einem Anstieg der Herzfrequenz und des Blutdrucks, die dann rapide abfallen, was zur Ohnmacht führen kann. In diesen Fällen hat es sich bewährt, gezielte Strategien zum Umgang mit den Ohnmachtsanfällen zu vermitteln. Um die Ohnmacht zu verhindern, wird eine Behandlungsmethode eingesetzt, die sich direkt auf die physiologische Reaktion während der Ohnmacht richtet. Diese Methode wird als »Applied Tension« (angewandte Anspannung; Öst 2000) bezeichnet und besteht aus einer Kurzintervention von insgesamt fünf Sitzungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Zunächst erlernt das Kind bzw. der Jugendli-
Kompetenzgruppe: »Ich bin ein mutiges Mädchen (mutiger Junge). Ich kann in der Dunkelheit gut auf mich aufpassen.« Stimulusgruppe: »Die Dunkelheit ist ein lustiger Ort. Es gibt viele lustige Dinge in der Dunkelheit.« Neutrale Gruppe: »Mary hatte ein kleines Lamm. Sein Fell war weiss wie Schnee.« Als Maß für den Therapieerfolg wurden vor und nach der Behandlung die Verweildauer des Kindes in der Dunkelheit und die vom Kind selbst eingestellte Lichtintensität im Untersuchungsraum erhoben. Es fand eine einmalige Trainingssitzung statt. In allen drei Therapiebedingungen wiesen die Kinder nach der Intervention eine längere Verweildauer in der Dunkelheit auf und erreichten eine Reduktion der Lichtintensität im Untersuchungsraum. Jedoch zeigte sich eine deutliche Überlegenheit der Kompetenzgruppe gefolgt von der Stimulusgruppe. Nur geringe Effekte ergaben sich in der neutralen Therapiebedingung. Somit gibt diese Studie wichtige Hinweise darauf, dass das konkrete Einüben von Selbstinstruktionen zur Steigerung der Selbstwirksamkeit des Kindes bedeutsam für die Bewältigung phobischer Ängste ist. Der Versuch hingegen, die Dunkelheit schön zu reden, scheint weniger erfolgreich zu sein.
che die Anspannungstechnik. Hierbei wird es aufgefordert, die großen Skelettmuskeln (Arme, Brust und Beine) anzuspannen und die Anspannung für 15–20 s zu halten und sie dann wieder zurückzunehmen. Danach wird der Patient mit Dias konfrontiert, die Ohnmachtsanfälle auslösen können. Er wird dabei aufgefordert, bei den ersten Anzeichen einer drohenden Ohnmacht (kalter Schweiß auf Stirn, Ohrensausen, bestimmtes Empfinden im Magen etc.) die Anspannungstechnik anzuwenden. Die Übungen werden mehrmals wiederholt und zunehmend in verschiedenen realen Situationen durchgeführt. Eine genauere Beschreibung des Vorgehens befindet sich bei Öst (2000) und 7 Kap. II/2.
30.6
Fallbeispiel
Im Folgenden soll das für die Behandlung kindlicher Phobien wichtigste und am besten überprüfte Verfahren, die Reizkonfrontation in vivo, anhand eines Fallbeispiels in ihrer konkreten Durchführungsweise vorgestellt werden.
30
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Kapitel 30 · Spezifische Phobien
Fallbeispiel Der 12-jährige Jan wurde von seinen Eltern angemeldet, um seine starken Ängste vor Feuerwerk abzuklären. Schon als Kleinkind reagierte Jan ängstlich auf laute Geräusche und war sehr schreckhaft (z. B., wenn auf einem Geburtstagsfest Luftballons zerplatzten), im Kindergartenalter zeigte er Angst vor Spielzeugpistolen. Seit dem 7. Lebensjahr reagiert Jan mit starken Angstreaktionen und Vermeidungsverhalten bei lauten Geräuschen wie Schüssen oder Feuerwerk. Bereits Wochen vor einem Fest mit Feuerwerk, z. B. 1. Augustfeier (Nationalfeiertag der Schweiz) oder Neujahrsfeier, wird er unruhig und schimpft und flucht über das bevorstehende Fest. Wenn dann das Feuerwerk stattfindet, verschließt er alle Fenster, verkriecht sich unter seiner Bettdecke und hört laute Musik mit Kopfhörern. An Neujahr sei es jeweils besonders schlimm, weil da die ganze Familie mit einer Gesellschaft an einem Anlass teilnehme, an dem jedes Jahr ein großes Feuerwerk organisiert wird. Die Familie müsse dann immer weit abseits vom Feuerwerk stehen und er halte sich die ganze Zeit über die Ohren zu. Er beginne dann zu jam-
mern und zu weinen und möchte sich am liebsten irgendwo verkriechen. Auch verspüre er dabei starkes Herzklopfen und zittere am ganzen Körper. Er befürchte dann, dass es immer lauter werden könne. Da im Alltag nicht oft Feuerwerke stattfinden, haben sich Jan und seine Eltern mehrere Jahre mit den Ängsten und den damit einhergehenden Verhaltensweisen von Jan abgefunden und bisher keine Behandlungsangebote in Anspruch genommen. Unter anderem hat sich die Familie auch soweit arrangiert, dass sie z. B. jeweils zum 1. August in die Ferien fuhren. Nun ist Jan mit 12 Jahren in einem Alter, in dem ihm seine Angst peinlich ist, vor allem, weil sie vermehrt auch vor seinen Freunden nicht mehr zu verstecken ist und ihn in seiner Freizeit und im Freundeskreis beeinträchtigt. Jan befürchtet, von seinen Freunden ausgelacht zu werden, wenn sie von seinen Schwierigkeiten wüssten. Im Gegensatz zu ihm finden es seine Freunde toll, wenn es knallt und laut ist. Dies hat bei Jan den starken Wunsch geweckt, etwas gegen seine Ängste zu unternehmen, vor allem weil er sie unsinnig und übertrieben findet.
Diagnostik
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Die Diagnose nach ICD-10 bzw. DSM-IV wurde mittels eines strukturierten Interviews, dem »Diagnostischen Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter« (Kinder-DIPS; Schneider et al. 2009) erhoben. Das Interview beinhaltet eine Eltern- und eine parallele Kinderversion. Aufgrund der Informationen, die von Jan und seinen Eltern gewonnen wurden, wurde als primäre Diagnose eine »spezifische Phobie, anderer Typus: laute Geräusche« vergeben. Jan gab z. B. an, dass er große Angst vor lauten Geräuschen habe und in der Folge, wenn immer möglich, versuche, Situationen wie z. B. die 1. Augustfeier zu vermeiden. Er finde das zwar »irgendwie blöd«, aber er fürchte sich auch davor, wieder so extreme Angst zu erleben. Im Phobiefragebogen für Kinder (PHOKI; Döpfner et al. 2006) erreichte Jan einen Summenwert von 28, wobei er deutliche Angst vor Gewehren, Feuerwerk und Schüssen angibt, die bei ihm stärker seien als bei anderen Kindern in seinem Alter. Der Kinderangstsensitivitätsindex (KASI; Schneider u. Hensdiek 1994) ergab einen Mittelwert von 26 (Prozentrang 50). Bei Betrachtung der einzelnen Items zeigt sich, dass es für Jan wichtig ist, seine Angstsymptome unter Kontrolle zu halten und nach außen nicht zu zeigen, dass er sich ängstlich fühlt. Therapieplanung
Allgemein lässt sich die Therapie der spezifischen Phobien mittels Reizkonfrontation in vivo in folgende Schritte unterteilen.
Unterteilung der Therapie spezifischer Phobien mittels Reizkonfrontation 1. Schritt: Psychoedukation und Vorbereitung des Kindes und der Eltern auf die Konfrontation 2. Schritt: Erstellen einer Angsthierarchie 3. Schritt: Konfrontation mit den gefürchteten Situationen 4. Schritt: Selbstkontrollphase und Generalisierung 5. Schritt: Rückfallprophylaxe
Als Therapieziel wurde mit Jan und seinen Eltern vereinbart, dass Jan angstauslösende Reize, wie z. B. Feuerwerke und Schüsse, nicht mehr vermeiden soll. Konkret wünschte sich Jan, bei der nächsten Feier mit seinen Freunden zum Zünden der Feuerwerkskörper mitzugehen und das Feuerwerk zu genießen. Jan fände es toll, wenn er selbst eine Rakete zünden könnte, »da dies sicher Spaß machen würde – wenn nur die blöde Angst nicht wäre«. In einem ersten Schritt sollte aufgrund der Informationen aus dem diagnostischen Interview, den Fragebögen und im Rahmen einer ausführlichen Problemanalyse gemeinsam mit Jan eine Angsthierarchie erstellt werden. Daran anschließend wurde eine Phase der Vorbereitung von Jan und seinen Eltern auf die Konfrontationstherapie geplant, gefolgt von einer graduierten Konfrontation mit den gefürchteten Situationen. Sobald Jan kein Vermeidungsverhalten mehr zeigen würde, sollte eine Phase der Generalisierung stattfinden, in der Jan vermehrt alleine phobische Situationen aufsuchen sollte. Als Abschluss der Behandlung wurde eine Rückfallprophy-
521 30.6 · Fallbeispiel
laxe geplant und die Therapie sollte mittels der zu Beginn der Therapie ausgefüllten Fragebögen evaluiert werden. Es wurden vorerst 15–20 Sitzungen festgelegt, wobei zu Beginn vier getrennte Sitzungen mit Jan und den Eltern stattfinden sollten (Psychoedukation und Vorbereitung auf die Konfrontation), gefolgt von 5–10 Sitzungen mit Konfrontationsübungen und 1–2 Sitzungen zur Rückfallprophylaxe.
a
Bausteine der Therapie
Psychoedukation. Zentral für die erfolgreiche Durchführung der Konfrontation ist die Vorbereitung des Kindes und der Eltern auf die Übungen. Konfrontationsübungen dürfen nur durchgeführt werden, wenn Kind und Eltern diesem Vorgehen zustimmen. In getrennten Eltern-Kind-Sitzungen wurden sowohl Jan wie auch seine Eltern zunächst in Form eines Dialoges allgemein in das Thema Angst eingeführt: Definition und Funktion von Angst, gesunde und pathologische Angst. Als Arbeitsmaterial für die Arbeit mit Jan wurde die Broschüre »Nur keine Panik – Was Kids über Angst wissen sollten« (Schneider u. Borer 2007) verwendet. Die drei Komponenten der Angst (Gedanken, Gefühle und körperliche Reaktionen, Verhalten) und ihre wechselseitige Beziehung wurden anhand ganz konkreter Beispiele erarbeitet und erläutert. Typische Gedanken von Jan vor, während und nach der Situation waren z. B.: »Bestimmt wird es wieder ganz schlimm«, »Ich werde nicht hingehen, das schaffe ich nicht«, »Ich halte es nicht aus, ich werde einen Gehörschaden haben«, »Was soll ich nur tun, wenn die Angst so stark wird, dass ich sie nicht mehr aushalte?«, »Zum Glück bin ich nicht hingegangen, das wäre ganz schrecklich geworden«. Als Gefühle nannte Jan Angst, Nervosität und Enttäuschung, dass er nicht hingehen und Spaß haben kann. Als körperliche Reaktionen identifizierte er z. B. Herzklopfen, Zittern, Übelkeit und Kopfschmerzen. Typische Verhaltensweisen waren Vermeidung der Situation, Zusammenzucken, sich ducken, weinen, sich an die Mutter klammern, weglaufen. Es wurde mit Jan erarbeitet, dass Angstgedanken vor und während der Situation (z. B. Gedanken, dass er die Situation nicht bewältigen kann) das Vermeidungsverhalten fördern und er somit gar nie die Chance hat, in der gefürchteten Situation auch positive Erfahrungen zu machen. Vorbereitung auf die Konfrontation. In einem nächsten Schritt wurde mit Jan und seinen Eltern auf der Grundlage der Zwei-Faktoren-Theorie der Angst ein Erklärungsmodell für die Angstproblematik vermittelt, bei dem Jans Vermeidungsverhalten als zentral für die Aufrechterhaltung der Angst herausgearbeitet wurde. Es konnte kein klarer Auslöser für die Angst gefunden werden (»Ich hatte schon immer Angst, wenn es irgendwo knallte«), doch für Jan machte es Sinn, dass er diese Situationen immer öfter zu vermeiden begann, weil er dabei immer wieder erschreckt und verängstigt wurde (»Irgendwann an einem 1. August wurde es einfach ganz schlimm und ich wollte nie mehr so Angst haben, deshalb ging ich dann nicht mehr an Orte, wo es laut sein könnte«). Jan konnte sehr gut beschreiben, dass er durch
b
. Abb. 30.1a,b. Graphische Darstellung des Verlaufes von Angst bzw. Erregung bei der Konfrontation mit Angstreizen. a zeigt Verlaufskurven ohne therapeutische Intervention. Typisch ist der rasche Anstieg mit einem langsameren Abfallen der Angst. Ohne Behandlung zeigen die Kinder und Jugendlichen in der Regel Vermeidungsverhalten (Kurve A Vermeidung) und erreichen so nicht den Punkt, an dem die Kurve von allein abfällt (Kurve B Habituation). Die Kurven C und D zeigen die vom Kind bzw. Jugendlichen oder von den Eltern befürchtete Verläufe mit einer scheinbar »unendlich« anhaltenden (Kurve C) oder immer weiter ansteigenden (Kurve D) Angst, die erst durch eine als imminent wahrgenommene Katastrophe (z. B. Hundebiss) beendet werden könnte. b zeigt Verlaufskurven bei therapeutischer Konfrontation: Dabei machen die Kinder und Jugendlichen die Erfahrung, dass Angst von allein abnimmt (»habituiert«), wobei die Kurve bei wiederholter Konfrontation (1. bis 4. Durchgang) immer weiter abflacht. (Aus Schneider 2004)
das Vermeidungsverhalten die Angst langfristig aufrechterhalten hatte (»Ich wollte einfach nur weg von dem Lärm, aber die Angst wurde dann jedes Jahr schlimmer«). Die zentrale Botschaft hierbei war, dass Vermeidungsverhalten zwar kurzfristig eine Angstreduktion bewirkt, langfristig die Angst jedoch verstärkt, da mit jedem Verlassen/Vermeiden einer gefürchteten Situation erneut bestätigt wird, dass diese Situation gefährlich geworden wäre, wenn das Kind länger in dieser Situation verblieben wäre (. Abb. 30.1). Den Eltern und Jan wurde anschließend vermittelt, dass im Folgenden alle Situationen, die gefürchtet werden, geübt werden und die Situationen erst nach einem Abfall der Angst verlassen werden sollten. Als Hilfsmittel wurden mit Jan die Gedanken besprochen, die er im Zusammenhang mit seinen Ängsten hat, mit dem Ziel, seine Angstgedanken durch Gedanken zu ersetzen, die ihn stark machen (z. B. »Ich schaffe das!«, »Ich weiß, dass die Angst abnehmen wird!«, »Ich bin mutig und blicke der Angst ins Gesicht!«). Diese hilfreichen Gedanken wurden auf Kärtchen festgehalten, die Jan bei den späteren Übungen bei sich tragen konnte.
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Kapitel 30 · Spezifische Phobien
Dysfunktionale Gedanken der Eltern. Mit den Eltern wurde zusätzlich ein Erklärungsmodell erarbeitet, bei dem auch der Einfluss elterlicher Aspekte auf die Entstehung und Aufrechterhaltung der Angst diskutiert wurde. Dabei stellte sich heraus, dass auch elterliche Komponenten wie eigene Ängstlichkeit und dysfunktionale Gedanken bei der Aufrechterhaltung von Jans Ängsten eine Rolle spielten. Vor allem die Mutter war der Überzeugung, dass Jan vor seinen Ängsten bewahrt werden müsse, damit er sich nicht schlecht fühle oder leide (z. B. »Ich kann Jan nicht zumuten, an einen Ort hinzugehen, wo es möglicherweise Feuerwerk gibt – er würde mir das nie verzeihen«, »Wenn Jan noch einmal so starke Angst erlebt wie bei der letzten 1.
Augustfeier, wird er sein Leben lang traumatisiert sein«). In einem sokratischen Dialog wurde diese Annahme der Mutter hinterfragt und auf den Wahrheitsgehalt hin überprüft. Mit den Eltern wurde zudem besprochen, mutiges Verhalten ihres Sohnes zu verstärken und ängstliches, unerwünschtes Verhalten zu ignorieren. Das elterliche Verhalten in den einzelnen Übungssituationen wurde jeweils in der Sitzung vor der Übung nochmals genau besprochen. Eine exemplarische Gesprächssequenz für das Erkennen und Hinterfragen dysfunktionaler Gedanken der Eltern ist im 7 Fallbeispiel »Dysfunktionale Gedanken der Eltern hinterfragen und verändern« wiedergegeben.
Fallbeispiel Dysfunktionale Gedanken der Eltern hinterfragen und verändern
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Therapeutin: »Bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Jans Angst haben wir gesehen, dass Angstgedanken hinderlich sein können, um eine Situation zu bewältigen. Im Gegensatz dazu gibt es auch hilfreiche Gedanken, die Jan helfen können, mit der schwierigen Situation umzugehen. Diese Gedanken werden wir in der Therapie stärken. Daneben ist es jedoch auch wichtig, dass die Gedanken der Eltern in Bezug auf die Angst des Kindes angeschaut werden. Denn nicht nur Jan, sondern auch Sie haben vermutlich hilfreiche und weniger hilfreiche Gedanken in einer ganz bestimmten Angstsituation von Jan. Kennen Sie das?« Vater: »Ja, nachdem wir nun besprochen haben, dass durch die Vermeidung der Situation die Angst eher zunimmt, leuchtet mir ein, dass unsere Befürchtungen, wir könnten ihm durch die Konfrontation mit der lärmintensiven Situationen schaden, wohl eher ungünstig waren«. Mutter: »Hm, schon, aber ich merke, dass ich vom Gefühl her einfach zögere, Jan diesen Situationen auszusetzen. Ich finde, wir als Eltern sollten doch unser Kind schützen. Ich fühle mich einfach schlecht dabei, wenn ich nichts unternehme, dass Jan keine Angst haben muss. Das ist einfach zu hart.« Therapeutin: »Das ist eine häufig geäußerte Sorge von Eltern. Natürlich wollen Sie als Mutter Ihr Kind vor negativen Erfahrungen schützen. Dieses Argument spricht klar dafür, dass Sie dafür sorgen, Jan nicht in Situationen zu bringen, die ihm Angst machen könnten. Aber lassen Sie uns überlegen – gibt es 6
auch Argumente, die dagegen sprechen? Ist dieser Gedanke für Jan hilfreich, um die Angst zu besiegen?« Mutter: »Naja, längerfristig ändert sich dadurch natürlich nichts an der Angst. Aber immerhin kann ich ihn kurzfristig vor dem Erleben intensiver Angst schützen.« Therapeutin: »Das bedeutet also, dass Sie Jan helfen, unangenehme Gefühle zu vermeiden, zumindest in der Situation? Dass dann aber langfristig das Problem nicht gelöst wird? Wenn Sie nochmals den Angstverlauf betrachten, wie und bei welchem Verhalten unterstützen Sie Jan? Wo möchten Sie ihn unterstützen?« Vater: »Wir helfen ihm in erster Linie dabei, die Situation zu vermeiden. So kann Jan nicht erleben, dass das Ansteigen der Angst nichts Gefährliches ist und dass die Angst nach einiger Zeit abnimmt. So unterstützen wie ihn nicht, seine Angst wirklich zu bewältigen.« Mutter: »Wenn man es so betrachtet, dann wäre es natürlich sinnvoller, ihn dabei zu unterstützen, die Situation zu überstehen und dadurch zu erfahren, dass er seine Angst bewältigen kann. Aber das ist ganz schön schwierig, ich fühle mich einfach als schlechte Mutter dabei!« Therapeutin: »Das ist sehr gut verständlich, man könnte auch sagen, dass Sie eine ähnliche Aufgabe zu bewältigen haben wie Jan: Auch Sie müssen die Angst, Jan in eine unangenehme Situation zu bringen, aushalten. Wenn Sie sich aber nochmals daran zu erinnern versuchen, welche Verhaltensweisen im Umgang mit der Angst des Kindes hilfreich sind, dann wird es für Sie vielleicht besser erträglich,
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sein Vermeidungsverhalten in der Angstsituation nicht zu unterstützen, sondern ihn in seinem mutigen Verhalten bei der Bewältigung der Situation zu unterstützen. Würde dies, um auf Ihre vorhin geäußerte Befürchtung zurückzukommen, bedeuten, dass Sie eine schlechte Mutter sind?« Mutter: »Nein, im Gegenteil, ich will ihn ja dabei unterstützen, keine Angst mehr zu haben. Aber so ganz bin ich ehrlich gesagt noch nicht überzeugt, dies in der Situation auch durchzuziehen.« Therapeutin: »Dies wird wahrscheinlich auch ein wenig
Zeit brauchen. Gedanken können nicht von einem Tag auf den anderen verändert werden, sondern dies braucht viel Übung. Versuchen Sie in einem ersten Schritt, auf solche Gedanken zu achten. Sie können sich dann jeweils fragen, ob der Gedanke hilfreich oder eben wenig hilfreich ist, um Jan bei der Bewältigung seiner Angst zu unterstützen. Wenn der Gedanke eher wenig hilfreich ist, versuchen Sie ihn zu hinterfragen und nach alternativen, hilfreichen Gedanken zu suchen, ähnlich wie Jan dies mit seinen eigenen Gedanken macht.«
Erstellen einer Angsthierarchie
Eine Angsthierarchie ist eine Liste von Situationen, in der die gefürchteten Reize in eine Rangordnung von sehr stark (=10) bis gar nicht angstauslösend (=0) gebracht werden. Hilfreich ist dabei die Verwendung eines Angstthermometers (. Abb. 30.2). Gemeinsam mit Jan wurde nach verschiedenen Dingen gesucht, die Geräusche bzw. Lärm unterschiedlicher Intensität auslösen. Jan lieferte selbst viele Ideen und wurde dabei immer mutiger, auch Dinge vorzuschlagen, die mehr Lärm verursachen. Folgende konkrete Situationen sollten geübt werden:
. Abb. 30.2. Angstthermometer. (Aus Schneider 2004)
Übung (Angst 0-10) Tischbombe: 4 Therapeutin zündet: 3 4 selbst zünden: 4 Knallfrösche: 4 Therapeutin wirft 3 Stk.: 3 4 selbst werfen 1 Stk.: 3 4 selbst werfen 3 Stk.: 4 4 selbst werfen 5 Stk.: 5 Schüsse: 4 Abspielen einer CD mit Schussgeräuschen, mittlere Lautstärke: 5 4 Abspielen einer CD mit Schussgeräuschen, laut: 6
Konfrontation mit den gefürchteten Situationen (in vivo)
Die ersten Konfrontationsübungen müssen vom Therapeuten besonders sorgfältig geplant werden, da sie entschei-
4 Schießstand in weiter Entfernung (Hörweite): 6 4 Schießstand in mittlerer Entfernung (Hör- und Sichtweite): 7 4 Schießstand besuchen: 8 Feuerwerk: 4 Abspielen einer CD mit Feuerwerksgeräuschen, mittlere Lautstärke: 6 4 Abspielen einer CD mit Feuerwerksgeräuschen, laut: 7 4 Feuerwerkskörper zünden (Eltern, in mittlerer Entfernung): 9 4 Feuerwerkskörper zünden (Eltern, Jan steht daneben): 10 4 an Fest mit Feuerwerk teilnehmen: 10
dend für den weiteren Therapieverlauf sind. Folgende Punkte sollten bei der Planung der einzelnen Übungen berücksichtigt werden:
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Kapitel 30 · Spezifische Phobien
Hinweise für die Planung und Durchführung von Konfrontationsübungen in vivo
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Die Übungen müssen an die individuelle Symptomatik angepasst sein. 4 Es muss genügend Zeit für die einzelnen Übungen vorhanden sein, damit langanhaltende Angstreaktionen möglich sind. Nur so hat das Kind die Möglichkeit, eine Reduktion seiner Angst in der Situation zu erleben. 4 Ziele sind ein deutlicher Angstanstieg und -abfall in der Situation. Kein Angstanstieg ist problematisch. 4 Bei den ersten Übungen sollten das Kind und der Therapeut möglichst ungestört sein und der Therapeut sollte die Möglichkeit haben, Fluchttendenzen zu unterbinden. 4 Die Begleitung durch den Therapeuten sollte so bald wie möglich ausgeschlichen werden. 4 Das Kind sollte für das Durchführen der Übungen bzw. das Ertragen von Angst, nicht für Angstfreiheit, verstärkt werden und zur Selbstverstärkung ermuntert werden. 4 Verstärker sind dann sinnvoll, wenn sie bei Fortschritten des Kindes in der Konfrontation mit Angststimuli oder bei aktivem Bewältigungsverhalten eingesetzt werden. 4 Massierte Konfrontationsübungen in vivo sollten nur in Situationen durchgeführt werden, die nicht real gefährlich sind. 4 In Situationen, in denen bestimmte Leistungen erbracht werden müssen, muss zuvor geklärt werden, ob das Kind über die dazu benötigten Fertigkeiten verfügt (z. B. vor einer Gruppe sprechen). Sonst könnte es passieren, dass die gefürchteten Konsequenzen tatsächlich eintreten. 4 Die Reizkonfrontation in vivo bei Komorbidität mit körperlichen Erkrankungen wie z. B. Epilepsie, Asthma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen muss in enger Absprache mit dem behandelnden Arzt erfolgen!
Für die Übungen wurde ein graduelles Vorgehen gewählt, wobei darauf geachtet wurde, dass die ersten Übungssituationen für Jan nicht zu schwierig, aber auch nicht allzu leicht waren. Begonnen wurde mit dem Zünden der Tischbombe, gefolgt vom Werfen der Knallfrösche, ohne dass Jan dabei die Ohren zuhielt. Jan wusste, dass die Übung so lange durchgeführt würde, bis er eine deutliche Angstreduktion verspüre. Die Therapeutin fragte während der Übung immer wieder nach, wie stark die Angst sei, und ließ Jan auf einem Blatt seine Angst einschätzen. Die ersten Übungen waren nach wenigen Minuten abgeschlossen, da Jan angab, keine Angst mehr vor dem Geräusch der Tischbomben und Knallfrösche zu haben (»Das macht ja richtig Spaß, ich habe überhaupt keine Angst!«). Im Anschluss an diese ersten
Übungen wurde Jan nochmals dazu aufgefordert, die Verlaufskurven der Angst zu zeichnen, die er während der Übungsdurchgänge erlebte. Die restlichen Tischbomben und Knallfrösche nahm er mit nach Hause. Bis zur nächsten Sitzung sollte er die Übung zu Hause wiederholen und seine Angst bei der Übung protokollieren. In den folgenden drei Sitzungen wurde Jan mit einer CD konfrontiert, auf der Geräusche von Schüssen und Feuerwerk zu hören waren. Die Lautstärke beim Abspielen wurde sukzessive erhöht. Diese Übung war für Jan viel schwieriger als die ersten Konfrontationen und er reagierte mit deutlichen Angstreaktionen (weinen und zittern) schon in der ersten Minute, als er realisierte, dass die Geräusche Schüsse waren. Die Therapeutin erinnerte Jan daran, was er über den Verlauf der Angst gelernt hatte, und welche hilfreichen Gedanken er sich auf den Kärtchen notiert hatte. Jan konnte daraufhin erkennen, dass es für ihn wichtig war, die Übung nicht abzubrechen, obwohl er das am liebsten getan hätte. Die Therapeutin verstärkte ihn für seine Entscheidung und lobte ihn für seine Anstrengungen, die Übung durchzuhalten, obwohl die Angst sehr stark war. Das Ausmaß der Angst wurde analog zu den ersten Übungen laufend eingeschätzt und von Jan auf einem Blatt protokolliert. Es dauerte 40 Minuten, bis Jan eine deutliche Angstreduktion verspürte. Im Anschluss an die Übung zeichnete Jan wiederum eine Verlaufskurve der Angst. Bis zur nächsten Sitzung sollte er die CD täglich zuhause abspielen und die Übung erst abbrechen, wenn die Angst deutlich zurückgehe. Die Eltern wurden über die Übung und die Hausaufgaben informiert und instruiert, wie sie sich dabei verhalten sollten. In den nächsten Sitzungen wurde Jan von der Therapeutin beim Aufsuchen eines Schießstands begleitet, anschließend wurde dazu übergegangen, Feuerwerkskörper zu zünden (zuerst die Therapeutin, dann die Eltern). Dabei zeigte Jan noch einmal eine sehr heftige Reaktion (weinen, schreien, Wutanfall). Da die Übungen gemeinsam mit der ganzen Familie sorgfältig geplant und das Verhalten in einer gefürchteten Situation genau vorbesprochen wurden, konnte sich Jan der Situation nicht entziehen. Gemäß der Abmachung, die vor der Übung gemeinsam mit Jan getroffen wurde, stand die Mutter neben ihm und hielt ihn am Arm fest, während der Vater die Feuerwerkskörper zündete. Selbstkontrollphase und Generalisierung
Nachdem Jan nach fünf von der Therapeutin begleiteten Konfrontationsübungen kein Vermeidungsverhalten mehr zeigte, sollte er vermehrt selbst Situationen aufsuchen, in denen er mit lauten Geräuschen konfrontiert würde. Die Eltern wurden als Kotherapeuten in die Behandlung einbezogen und Schwierigkeiten, die während der Übungen auftraten, in regelmäßigen Sitzungen mit der Therapeutin bearbeitet. Jan und seine Eltern übten zuhause selbstständig weiter, und nach einigen begleiteten Übungen konnte Jan alleine und ohne die Ohren zuzuhalten einen Schießstand
525 30.7 · Empirische Belege
aufsuchen. Zudem wollte er die Feuerwerkskörper nach wenigen Durchgängen selbst zünden. Als Höhepunkt der Konfrontationsphase stand das Neujahrsfest bevor, bei dem Jan mit seinen Eltern am Feuerwerk teilnehmen wollte. Jan berichtete im Anschluss daran voller Stolz, dass er zwar einige Male ein bisschen erschreckt sei, aber keine Angst mehr vor dem Feuerwerk hatte. Er freue sich sogar darauf, am nächsten Nationalfeiertag mit seinen Freunden eine große »Rakete« zu zünden. Rückfallprophylaxe
Als Abschluss der Behandlung wurde mit Jan rekapituliert, was die wichtigsten Lernerfahrungen während der Therapie waren und wie er sich zukünftig in schwierigen, beängstigenden Situationen verhalten solle. Jan wurde darauf vorbereitet, dass es auch nach Abschluss einer erfolgreichen Angsttherapie Rückschläge geben könne, dass dies aber kein völliges Versagen der Therapie bedeute. Stattdessen solle Jan eine solche Situation nutzen, um die gelernten Strategien erneut anzuwenden und zu perfektionieren. Die Therapeutin ging mit Jan und seinen Eltern ein »WorstCase-Szenario« durch, um zu überprüfen, ob die wichtigsten Komponenten der Behandlung verstanden worden waren. Ein solches Szenario würde beinhalten, dass Jan plötzlich wieder große Angst vor Feuerwerken zeigt und diese um jeden Preis vermeiden will. Es wurde mit Jan thematisiert, wie er Anzeichen einer starken Angstreaktion und erste Ansätze von Vermeidungsverhalten frühzeitig erkennen könnte. In einer solchen Situation würde er als Erstes seine hilfreichen Gedanken, die er sich auf Kärtchen notiert hatte, anwenden. Auf jeden Fall solle er versuchen, der Angst ins Gesicht zu blicken und sie überwinden. Falls er dies nicht schaffen sollte, solle er sich nicht entmutigen lassen, da es ganz normal ist, wenn man manchmal ängstlich ist. Er solle dann einfach versuchen, ganz mutig zu sein und es gleich noch einmal versuchen. Jan wurde ebenfalls dazu ermuntert, sich bei der Therapeutin zu melden, falls es zu häufigeren Rückschlägen kommen sollte und er mehr Unterstützung brauche. Evaluation
Zur Therapieevaluation wurde Jan gebeten, erneut die Fragebogen auszufüllen, die er vor der Therapie bereits bearbeitet hatte. Bei beiden Fragebogen erreichte er einen geringeren Summen- bzw. Mittelwert als beim ersten Messzeitpunkt (PHOKI: 9, KASI: 16), was für eine deutliche Besserung der Angstsymptomatik spricht.
30.7
dung kommen, richten sich an Kinder mit verschiedenen Störungsbildern, unter anderem Kinder mit Trennungsangst, spezifischer Phobie, sozialer Phobie und generalisierter Angststörung (z. B. »Coping Cat«, Kendall 2000; »FRIENDS«, Barrett et al. 2003; »Cool Kids«, Lyneham et al. 2003). Eine Ausnahme ist eine Konfrontationsbehandlung mit einer Vorbereitungs-/ Psychoedukationssitzung und einer einmaligen Therapiesitzung, die eine graduierte Konfrontation in vivo und Lernen am Modell beinhaltet (»OneSession-Treatment«, Öst et al. 2001). Die Behandlung wurde an erwachsenen Patienten mit spezifischer Phobie evaluiert und auf die Behandlung von phobischen Kindern ausgeweitet. Eine Pilotstudie zeigte bis zum 1-Jahres-Follow-up vergleichbare Resultate mit anderen Behandlungen. Ein Überblick über evidenzbasierte Behandlungen bei Phobien findet sich bei Silverman u. Pina (2008). Im Folgenden soll eine Metaanalyse dargestellt werden, die sich speziell der Wirksamkeit verschiedener therapeutischer Interventionen zur Behandlung von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter widmete (In-Albon u. Schneider 2007). Voraussetzung für die Aufnahme in die Metaanalyse waren das Vorliegen einer Kontrollgruppe (Warteliste, Placebo- oder aktive Therapievergleichsbedingung) und eine Gruppengröße von mindestens 11 Kindern pro Gruppe. Die Kinder mussten unter einer Angststörung im Sinne der ICD-10-Klassifikation oder des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM) leiden, und die Zuweisung auf die Therapie- bzw. Kontrollgruppe musste randomisiert erfolgen. . Tab. 30.5 zeigt die am häufigsten eingesetzten verhaltenstherapeutischen Interventionen, getrennt nach Interventionen mit Kind und Eltern. Insgesamt gingen 24 Studien resp. die Daten von 1275 Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 6 und 18 Jahren in die Berechnungen der Metaanalyse ein. Die durchschnittliche Dauer der Verhaltenstherapien betrug 12 Sitzungen. Über alle Studien hinweg schlossen 85% der Kinder die Therapie ab. Insgesamt konnte die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie sowohl kurz- wie auch langfristig für Angststörungen im Kindesalter klar belegt werden. Für die Behandlungsgruppen zeigte sich mit einer Präpost-Effektstärke von 0,86 ein großer Effekt, während sich in der Wartelistengruppe eine durchschnittliche Prä-post. Tab. 30.5. Metaanalyse: die häufigsten eingesetzten verhaltenstherapeutischen Interventionen. (In-Albon u. Schneider 2007) Interventionen mit dem Kind
4 4 4 4
Interventionen mit den Eltern
4 »Coaching« der Eltern im Umgang mit der Angst des Kindes 4 Kommunikationstraining 4 Problemlösetraining 4 Behandlung der Angst der Eltern
Empirische Belege
Für die spezifischen Phobien im Kindes- und Jugendalter gibt es kein störungsspezifisches Behandlungsmanual. Aktuelle, empirisch überprüfte Verhaltenstherapieprogramme, die bei der Therapie der spezifischen Phobien zur Anwen-
Konfrontationsverfahren Kognitive Umstrukturierung Entspannungstechniken Positive Selbstinstruktionen
30
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30
Kapitel 30 · Spezifische Phobien
Effektstärke von 0,13 ergab; dies entspricht keinem signifikanten Effekt. Die Therapieergebnisse zeigten sich über die Dauer von durchschnittlich 10 Monaten als stabil. In drei Langzeitkatamnesestudien konnte darüber hinaus die Stabilität der erreichten Erfolge bis zu 7 Jahre nach Therapieende nachgewiesen werden. Für den Vergleich von individueller vs. Gruppentherapie zeigte sich, dass Verhaltenstherapie, einzeln oder in der Gruppe durchgeführt, vergleichbar wirksam ist. Der Vergleich von kind- vs. familienzentrierter Therapie ergab ebenfalls keinen Unterschied in der Wirksamkeit dieser beiden Therapiesettings. Allerdings ergaben die Ergebnisse einiger Studien Hinweise darauf, dass jüngere Kinder und Kinder von Eltern mit Angststörungen stärker von einer familienzentrierten Therapie profitierten als von einer kindzentrierten. Diesen Befunden stehen mehrere Therapiestudien gegenüber, die zeigen konnten, dass für einige Kinder ein kindzentrierter Ansatz genügt, um die Angstsymptomatik zu reduzieren (Nauta 2003). Kendall et al. (2003) merken hierzu an, dass ein kindzentrierter Ansatz v. a. für Kinder hilfreich sein könnte, deren Eltern einen überfürsorglichen Erziehungsstil zeigen. Es wird das Ziel zukünftiger Forschung sein, Charakteristiken von Kind und Familie zu identifizieren, die es Therapeuten ermöglichen, das ängstliche Kind dem entsprechenden Therapiesetting zuzuordnen. Neben der Betrachtung von Effektstärken wurde auch die prozentuale Genesung der Kinder und Jugendlichen bei Therapieende analysiert. Hier zeigte sich, dass nach Abschluss der Therapie 69% der Kinder die Diagnosekriterien ihrer primären Angststörung nicht mehr erfüllten, im Gegensatz dazu waren es aus der Warteliste nur 13% der Kinder. Zum Katamneseszeitpunkt bis zu einem Jahr stieg die prozentuale Genesung der Behandlungsgruppe leicht auf 72% an. Insgesamt zeigte sich die Symptomreduktion nicht nur in der Angstsymptomatik, sondern auch bei den depressiven Symptomen.
30.8
Ausblick
Obwohl in den letzten Jahren vermehrt im Bereich der spezifischen Phobien bei Kindern und Jugendlichen geforscht wurde, bleiben viele Fragen offen. Die vorliegenden Studien zeigen jedoch klar, dass verhaltenstherapeutische Verfahren bei Kindern mit Angststörungen, unter anderem auch mit spezifischen Phobien, erfolgreich eingesetzt werden können. Als Methode der Wahl hat sich die Reizkonfrontation in vivo durchgesetzt, während andere Interventionen, wie die systematische Desensibilisierung oder die ausschließliche Anwendung von kognitiven Verfahren, Entspannungstrainings oder verschiedene Formen von Modelllernen, weniger etabliert sind. Andere Verfahren, wie z. B. das »One-Session-Treatment«, liefern vielverspre-
chende erste Ergebnisse in Pilotstudien, können jedoch auf dem aktuellen Forschungsstand nur als weitere Optionen betrachtet werden. Trotz der wachsenden Anzahl an Forschungsarbeiten und Therapieprogrammen für die spezifischen Phobien im Kindes- und Jugendalter bleibt insbesondere unklar, welche Vorgehensweisen bei welchen Angststörungen, in welchen Altersstufen und unter welchen familiären Bedingungen erfolgversprechend sind. Um die entscheidenden Wirkfaktoren einer erfolgreichen Angstbehandlung genauer bestimmen zu können, sind Studien notwendig, die verschiedene Interventionsbausteine isoliert (z. B. reine Konfrontation) gegen die komplexen Verhaltenstherapieprogramme (z. B. »Coping-Cat-Programm« mit den Wirkvariablen Konfrontation, kognitive Umstrukturierung, Entspannungstraining) testen. Darüber hinaus müssen Studien die Auswirkungen verschiedener Varianten von Verhaltenstherapie nicht nur auf die Angstsymptomatik prüfen, sondern auch auf weitergehende Merkmale des Kindes, wie z. B. Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Merkmale der Familie und elterliche Psychopathologie. Des Weiteren sollten zukünftige Forschungsaktivitäten im Bereich der spezifischen Phobien im Kindesund Jugendalter die Übertragbarkeit der überprüften Behandlungsprogramme in die Routinepraxis überprüfen und sich vermehrt der Prozessforschung und der Erforschung von Prädiktoren einer erfolgreichen Verhaltenstherapie widmen.
Zusammenfassung Spezifische Phobien sind im Kindes- und Jugendalter weit verbreitet, wobei sich die Angstinhalte je nach Alter und Entwicklungsstand des Kindes unterscheiden. Klinisch relevante Phobien verlieren sich in den meisten Fällen im Entwicklungsverlauf nicht von alleine, sondern nehmen gesamthaft eher zu und verschieben sich auf andere Angstinhalte. An der Entwicklung von Ängsten scheinen mindestens drei verschiedene Prozesse – Konditionierung, Modelllernen und Instruktionslernen – beteiligt zu sein. Die operante Konditionierung gilt als zentraler Faktor bei der Aufrechterhaltung der Phobie, da über die Vermeidung phobischer Situationen die Stabilisierung der Ängste begünstigt wird. Als therapeutische Methode der Wahl für die Behandlung von Phobien im Kindes- und Jugendalter hat sich die Reizkonfrontation in vivo durchgesetzt. Andere Verfahren scheinen je nach individueller Symptomatik des phobischen Kindes zumindest als Ergänzung zur Konfrontation ebenso indiziert. Zukünftige Studien sollten die zentralen Wirkmechanismen einer erfolgreichen Therapie untersuchen, um die differenzielle Indikation der verschiedenen Verfahren in Forschung und Praxis zu erleichtern.
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Kapitel 30 · Spezifische Phobien
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30
31
31 Soziale Phobie Siebke Melfsen, Andreas Warnke
31.1
Einleitung
– 532
31.2
Darstellung der Störung – 532
31.2.1 31.2.2 31.2.3 31.2.4 31.2.5
Symptomatik und charakteristische Merkmale Komorbidität – 537 Untergruppen – 537 Epidemiologie – 537 Störungsverlauf – 537
31.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
31.3.1 31.3.2 31.3.3
Biologische Prädisposition – 538 Innerfamiliäre Lernerfahrungen – 539 Außerfamiliäre Lernerfahrungen – 539
31.4
Diagnostik – 539
31.4.1 31.4.2 31.4.3 31.4.4
Untersuchungsablauf – 539 Verfahren zur Erfassung sozial phobischen Verhaltens Abgrenzung zu anderen Angststörungen – 542 Abgrenzung zum Asperger-Syndrom – 543
31.5
Therapeutisches Vorgehen
31.5.1 31.5.2
Allgemeine Richtlinien – 543 Kognitiv-behaviorale Ansätze – 545
31.6
Fallbeispiel
31.7
Empirische Belege
31.8
Ausblick
– 549 – 550
– 551
Zusammenfassung Literatur
– 543
– 552
– 552
Weiterführende Literatur
– 553
– 532
– 538
– 540
532
Kapitel 31 · Soziale Phobie
31.1
Einleitung
Ich war immer schon sehr scheu und vermied allen Umgang. Bücher und Schulaufgaben waren meine einzigen Gefährten. Täglich war ich mit dem Glockenschlag in der Schule, und sobald der Unterricht aus war, rannte ich wieder nach Hause – rannte buchstäblich, denn ich konnte es nicht ertragen, mit irgendwem zu reden, und zitterte bei dem Gedanken, man könnte sich über mich lustig machen. (Gandhi 1983, S. 9)
So schildert Mahatma Gandhi (1869–1948) seine Kindheit und Schulzeit: Überaus schüchtern, ohne Freundschaften und immer in der Furcht, er könne sich lächerlich machen. Als sehr ausgeprägt werden seine Redeängste beschrieben: »Vor allem mochte er nicht reden. Er brachte es einfach nicht fertig, auch nur wenige Sätze zu sagen, ohne hoffnungslos stecken zu bleiben, was ihm entsetzlich peinlich war« (Prause 1998, S. 89). Niemand ahnte, dass aus diesem scheuen Jungen mal ein mitreißender Redner werden sollte. Es gibt eine Reihe von Beispielen für Persönlichkeiten, die ein erhebliches Ausmaß an Leiden hinter sich gebracht haben, um ihre soziale Angst zu überwinden. George Bernhard Shaw (1856–1950), der unter sozialen Ängsten litt, gelobte sich nach einem kläglichen Versagen, ein Redner zu werden oder unterzugehen.
31
Ich litt Todesqualen, die niemand ahnte. Während der Ausführungen des Redners, dem ich entgegnen wollte, pflegte mein Herz so schmerzhaft zu schlagen wie das eines Rekruten bei der Feuertaufe. Notizen konnte ich nicht verwenden, denn wenn ich auf den Zettel in meiner Hand blickte, konnte ich mich nicht genügend sammeln, um ein Wort zu entziffern. (Stresau 1993, S. 32).
Shaw entwickelte einen so starken Kampfgeist gegenüber seinen sozialen Ängsten, dass er ein bekannter und gefürchteter Redner wurde. Franz Kafka (1883–1924) beschreibt sehr eindrücklich Prüfungsangst und Angst vor allgemeiner Aufmerksamkeit in seiner Kindheit. In der Schule waren seine Leistungen überdurchschnittlich gut, und die Lehrer schätzten ihn. Trotzdem blieb die Angst, nie fühlte er sich sicher: Ich dachte, die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium würde ich gewiss nicht bestehen, aber es gelang; aber nun falle ich in der ersten Gymnasialklasse bestimmt durch, nein, ich fiel nicht durch, und es gelang immer weiter und weiter. Daraus ergab sich aber keine Zuversicht, im Gegenteil, immer war ich überzeugt, dass, je mehr mir gelingt, desto schlimmer es schließlich wird ausgehen müssen. Oft sah ich im Geiste die schreckliche Versammlung der Professoren…, wie sie zusammenkommen würden, um diesen einzigartigen himmelschreienden Fall zu untersuchen, wie es mir, dem Unfähigsten und jedenfalls Unwissendsten gelungen war, mich bis hinauf in diese Klasse zu schleichen, die mich, da nun die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich gelenkt war, natürlich sofort ausspeien würde, zum Jubel aller von diesem Alpdruck befreiten Gerechten. (Wagenbach 2000, S. 34).
Charly Chaplins Kindheit wird oft mit einem »Märchen des 20. Jahrhunderts« gleichgesetzt. Er unterbrach als 8-jähriger Junge seine Schulausbildung, um zum Unterhalt der Familie beizutragen, und schloss sich einer Truppe von Holzschuhtänzern an. Er hatte schon mehrfach vor einem Publikum vorgetragen. Nun aber, da ich meinen achten Geburtstag hinter mir hatte, hatte ich auch meine Unbefangenheit verloren und wurde von Lampenfieber befallen, als ich zum ersten Mal vors Publikum trat. Ich konnte kaum die Beine bewegen, und es dauerte Wochen, ehe ich wie die anderen eine Solonummer tanzen konnte. (Chaplin 2001, S. 42)
Er sei zu schüchtern gewesen, seine Wirtin um Essen zu bitten, nachdem seine Mutter ins Krankenhaus eingewiesen worden war und er auf sich allein gestellt war. Mit 12 Jahren ging er auf eine Theatertournee. Ich war allein in fremden Städten, allein in Hinterzimmern und begegnete kaum einem Menschen, bis die abendliche Vorstellung begann. … Ich gewöhnte mich daran, allein zu sein. Ich verlernte aber so sehr das Sprechen, dass ich in größte Verlegenheit geriet, wenn ich zufällig einen Kollegen traf. Ich vermochte nicht, mich rasch genug zu sammeln und die mir gestellten Fragen vernünftig zu beantworten, und deshalb ließ man mich, gewiss nicht, ohne um meinen Verstand zu fürchten, meistens in Ruhe. … Um Gesellschaft zu haben, kaufte ich mir ein Kaninchen und schmuggelte es überall hinter dem Rücken der Wirtin in mein Quartier (Chaplin 2001, S. 80–82).
Die Beispiele schildern Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend ihren eigenen Fähigkeiten misstrauten, unter der Angst litten, Erwartungen nicht gerecht werden oder Bewertungen nicht standhalten zu können, und die eine große Anzahl an sozialen Situationen gemieden haben. Diese Verhaltensweisen sind auch für eine soziale Phobie kennzeichnend und führen zu deutlichen Einschränkungen insbesondere auch in der kindlichen Entwicklung. Da die soziale Phobie ihren Beginn häufig im Kindes- und Jugendalter hat, ist eine frühzeitige Erkennung und Behandlung von großer Bedeutung.
31.2
Darstellung der Störung
31.2.1 Symptomatik und charakteristische
Merkmale Die soziale Phobie ist durch eine dauerhafte, unangemessene Furcht vor sozialen oder Leistungssituationen gekennzeichnet. Die entscheidenden Merkmale der sozialen Phobie sind in den beiden Diagnosesystemen DSM-IV und ICD-10 vergleichbar.
533 31.2 · Darstellung der Störung
Diagnostische Kriterien für soziale Phobien (F40.1, ICD-10) A. Entweder (1) oder (2): 1. deutliche Angst, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder beschämend zu verhalten; 2. deutliche Vermeidung, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, oder von Situationen, in denen die Angst besteht, sich peinlich oder beschämend zu verhalten. Diese Ängste treten in sozialen Situationen auf, wie Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit, Begegnung von Bekannten in der Öffentlichkeit, Hinzukommen oder Teilnahme an kleinen Gruppen, wie z. B. Partys, Treffen oder in Klassenräumen. B. mindestens 2 Angstsymptome in den gefürchteten Situationen mindestens einmal seit Auftreten der Störung, wie in F40.0, Kriterium B, definiert, sowie zusätzlich mindestens eines der folgenden Symptome: 1. Erröten oder Zittern 2. Angst zu Erbrechen 3. Miktions- und Defäkationsdrang C. Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten; Einsicht, dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben oder unvernünftig sind. D. Die Symptome beschränken sich vornehmlich auf die gefürchtete Situation oder auf die Gedanken an diese. E. Die Symptome des Kriteriums A sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzinationen oder andere Symptome der Störungsgruppen organische psychische Störungen, Schizophrenie und verwandte Störungen, affektive Störungen oder einer Zwangsstörung und sind keine Folge einer kulturell akzeptierten Anschauung.
Diagnostische Kriterien für soziale Phobie (300.23, DSM-IV) A. Eine ausgeprägte und anhaltende Angst vor einer oder mehreren sozialen oder Leistungssituationen, in denen die Person mit unbekannten Personen konfrontiert ist oder von anderen Personen beurteilt werden könnte. Der Betroffene befürchtet, ein Verhalten (oder Angstsymptome) zu zeigen, das demütigend oder peinlich sein könnte. B. Die Konfrontation mit der gefürchteten sozialen Situation ruft fast immer eine unmittelbare Angstreaktion hervor, die das Erscheinungsbild einer situationsgebundenen oder einer situationsbegünstigten Panikattacke annehmen kann. C. Die Person erkennt, dass die Angst übertrieben oder unbegründet ist. 6
D. Die gefürchteten sozialen oder Leistungssituationen werden vermieden oder nur unter intensiver Angst und Unwohlsein ertragen. E. Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungshaltung oder das starke Unbehagen in den gefürchteten sozialen oder Leistungssituationen beeinträchtigen deutlich die normale Lebensführung der Person, ihre berufliche (oder schulische) Leistung oder soziale Aktivitäten oder Beziehungen, oder die Phobie verursacht erhebliches Leiden. F. Bei Personen unter 18 Jahren hält die Phobie über mindestens 6 Monate an. G. Die Angst oder Vermeidung geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z. B. Droge, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück und kann nicht besser durch eine andere psychische Störung (z. B. Panikstörung mit oder ohne Agoraphobie, Störung mit Trennungsangst, körperdysmorphe Störung, tiefgreifende Entwicklungsstörung oder schizoide Persönlichkeitsstörung) erklärt werden. E. Falls ein medizinischer Krankheitsfaktor oder eine andere psychische Störung vorliegen, so stehen diese nicht in Zusammenhang mit der unter Kriterium A beschriebenen Angst, z. B. nicht Angst vor Stottern, Zittern bei Parkinsonscher Erkrankung oder, bei Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa, ein abnormes Essverhalten zu zeigen. Bestimme, ob: Generalisiert: Wenn die Angst fast alle sozialen Situationen betrifft, ziehe auch die zusätzliche Diagnose einer vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung in Betracht.
Störung mit sozialer Ängstlichkeit im Kindesalter (F93.2, ICD-10): In der ICD-10 wird von der sozialen Phobie noch die Störung mit sozialer Ängstlichkeit im Kindesalter (F93.2) unterschieden. Bei dieser Kategorie handelt es sich um eine übermäßig stark ausgeprägte Entwicklungsangst, die nur dann diagnostiziert wird, wenn sie vor dem 6. Lebensjahr auftritt. Misstrauen gegenüber Fremden ist in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres ein normales Phänomen. Auch die soziale Angst oder Besorgnis in fremden oder sozial bedrohlichen Situationen sind Teil einer normalen Entwicklung in der frühen Kindheit. Erst wenn die Vermeidung und Furcht vor sozialen Begegnungen ein Ausmaß erreicht, das außerhalb der altersspezifischen üblichen Grenzen liegt und von einer bedeutsamen sozialen Beeinträchtigung begleitet ist, wird diese Störung diagnostiziert. Ein wesentlicher Unterschied zur sozialen Phobie besteht neben dem Alterskriterium darin, dass die Störung mit sozialer Ängstlichkeit im Kindesalter auf eine Furcht vor Fremden be-
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534
Kapitel 31 · Soziale Phobie
schränkt ist. Das Störungsbild der sozialen Phobie ist umfassender, es schließt die Angst vor Bewertung mit ein. Es kann sich z. B. auch um eine Furcht vor vertrauten Personen handeln, deren Beurteilung gefürchtet wird oder sich spezifisch auf einzelne soziale Situationen beschränken. Die kognitive Komponente ist nicht Bestandteil der
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Anders als Erwachsene sind Kinder nicht immer in der Lage, den Grund ihrer Ängste zu benennen. Als Indikator einer sozialen Phobie im Kindesalter können z. B. ein Abfall in den Schulleistungen, Schulverweigerung, Vermeidung von altersangemessenen sozialen Aktivitäten, Trotzreaktionen und Wutanfälle, körperliche Beschwerden, z. B. Klagen über Kopf- und Bauchschmerzen oder fehlende Reaktionen in sozialen Situationen auftreten. Im DSM-IV werden folgende Besonderheiten für die Diagnose des Störungsbildes bei Kindern und Jugendlichen genannt: 4 Zur Diagnose einer sozialen Phobie muss bei Kindern gewährleistet sein, dass das Kind über altersgemäße soziale Beziehungen mit vertrauten Personen verfügt. 4 Die Angst darf nicht nur in Interaktionen mit Erwachsenen, sondern muss auch mit Gleichaltrigen auftreten. 4 Der Ausdruck der sozialen Angst kann anders als bei Erwachsenen sein: Bei Kindern kann sich die Angst in Form von Schreien, Wutanfällen, Gelähmtsein oder Zurückweichen von sozialen Situationen mit unvertrauten Personen ausdrücken. 4 Bei Personen unter 18 Jahren hält die Phobie über mindestens 6 Monate an. 4 Im Gegensatz zu Erwachsenen ist es bei Kindern kein notwendiges DSM-IV-Kriterium, dass sie ihre Ängste als übertrieben und unvernünftig einschätzen. Insbesondere jüngere Kinder haben z. T. noch nicht die kognitiven Fähigkeiten für diese Irrationalitätseinschätzung entwickelt. Die sozial phobischen Kinder und Jugendlichen vermeiden eine große Bandbreite an sozialen Situationen. Für 8- bis 12jährige sozial phobische Kinder sind die häufigsten angstauslösenden Situationen solche, die öffentliches Sprechen beinhalten (z. B. vorlesen, ein Referat halten). Sie werden von 88% der Betroffenen als angstauslösend bewertet (Beidel 1992). Befunde von Beidel und Morris (1995) zeigen auch, dass 60% der ängstigenden Situationen in der Schule auftreten. Tagebücher zeigen, dass im Alltag die häufigsten angstauslösenden Situationen unstrukturierte Interaktionen mit Gleichaltrigen sowie Prüfungssituationen sind (Beidel 1992).
Störung mit sozialer Ängstlichkeit im Kindesalter. Da es starke Überschneidungen zwischen beiden Störungsbildern gibt und die Störung mit sozialer Ängstlichkeit im Kindesalter weniger gut abgrenzbar ist zur Schüchternheit, sollte der Diagnose der sozialen Phobie der Vorzug gegeben werden.
und Aufrechterhaltung der sozialen Phobie bei Erwachsenen zukommt (Clark u. Wells 1995). Die Studien belegen, dass die soziale Phobie bei Erwachsenen durch verschiedene Abweichungen in der Informationsverarbeitung charakterisiert ist (Clark u. McManus 2002). Der Forschungsstand zu sozial ängstlichen Kognitionen bei Kindern liegt weit hinter dem der Erwachsenen zurück. Deshalb muss bei der Frage nach der Informationsverarbeitung sozial ängstlicher Kinder vielfach noch auf Untersuchungen an allgemein ängstlichen Kindern zurückgegriffen werden. Kognitive Inhalte. Eine der ersten Fragebogenstudien, um kognitive Inhalte bei ängstlichen Kindern zu erfassen, wurde von Fox et al. (1983) durchgeführt. Vor einem angekündigten arithmetischen Test zeigten ängstliche Viertklässler vermehrt Gedanken der Kategorie »Besorgnis«, »Rechtfertigung einer positiven Einstellung« und »Abwertung anderer«. In einer Studie von Graf et al. (2007) an einer normalgesunden Schülerpopulation zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen sozialer Angst und negativer Selbstbewertung sowie Bewältigungsgedanken. Das hohe Ausmaß an Bewältigungsgedanken könnte eine Strategie zur Verminderung der Angst sein. Neben Parallelen zwischen sozial phobischen Kindern und Erwachsenen scheint es auch spezifische Besonderheiten kognitiver Prozesse bei Kindern zu geben (Alfano et al. 2002). Die von Turner et al. (1994) bei sozial ängstlichen Kindern beobachtete »paucity of thoughts« während der Angstsituation selbst ist möglicherweise ein Unterschied zum kognitiven Stil der Erwachsenen mit sozialer Angststörung. Sozial ängstliche Kinder werden ihrer Beobachtung nach in den Angstsituationen selbst nicht mit negativen Gedanken überflutet, wie es Erwachsene mit sozialer Angststörung berichten, sondern scheinen unfähig zu sein, zu denken. Außerdem interpretierten Beidel et al. (1994) die Befunde an Kindern, die nach einem Vokabeltest aufgefordert wurden, ihre Gedanken frei zu äußern, in dem Sinne, dass Kinder allgemein weniger Gedanken äußern und keine signifikanten Unterschiede zwischen hoch- und niedrigängstlichen Kindern feststellbar waren. Allerdings wurde die Produktionsmethode (»thought listing«) angewandt, die allgemein bei Kindern als schwer zu interpretieren gilt (Alfano et al. 2002).
Kognitionen Kognitive Studien lassen vermuten, dass der Informationsverarbeitung eine entscheidende Rolle in der Entwicklung
Bewertung von Information. Studien zur Bewertung von
Information zeigen, dass auch bei Kindern ein hohes Angst-
535 31.2 · Darstellung der Störung
niveau mit einer stärkeren Wahrnehmung von Bedrohung und einer Unterschätzung eigener Bewältigungsmöglichkeiten einhergeht. In einer Studie von Barrett et al. (1996) interpretierten ängstliche Kinder den Fortgang mehrdeutiger Vignetten häufiger als bedrohlich. Dieser Befund wurde in vergleichbaren Studien bestätigt (Bögels u. Zigterman 2000). Muris et al. (2000) zeigten einen ähnlichen Befund speziell bei sozial ängstlichen Kindern. Die Studien lassen vermuten, dass soziale Ängste in der Kindheit mit spezifischen negativen Verzerrungen bei der Interpretation sozialer Ereignisse zusammenhängen. Die Rolle positiver Gedanken in Zusammenhang mit Angst erscheint jedoch noch wenig eindeutig. Ehrenreich u. Gross (2002) bestätigten, dass ängstliche Kinder eine erhöhte Aufmerksamkeit für bedrohliche Reize zeigen. Andere Befunde zeigen jedoch auch, dass umgekehrt Kinder mit niedrigem Angstausmaß ihre Aufmerksamkeit auf emotional neutrales Material richteten (Vasey 1996). Ein Bias in Richtung emotional bedrohlicher Information unterstützt die Aufrechterhaltung von Angst. Folglich erfährt das ängstliche Kind die Welt als ungewöhnlich bedrohlich (Vasey 1996). In einer Interaktionsaufgabe zeigte Bell-Dolan (1995), dass ängstliche Kinder ebenso akkurat wie nichtängstliche Kinder feindliche Absichten in der Interaktion mit Gleichaltrigen identifizieren, aber sie missinterpretierten nichtfeindliche Situationen ebenfalls häufiger als feindlich. Diese Studie differenzierte allerdings nicht zwischen sozial ängstlichen Kindern und Kindern mit anderweitigen Angststörungen. Melfsen and Florin (2002) untersuchten hingegen ausschließlich an sozial ängstlichen Kindern, ob sie Defizite bei der Erkennung von Emotionen zeigen oder einen Reaktionsbias für negative Gesichtsausdrücke aufweisen. Die Kinder wurden gebeten, mittels Tastendruck so schnell wie möglich anzugeben, ob der auf einem Monitor für kurze Zeit gezeigte Gesichtsausdruck neutral, positiv oder negativ war. Die Ergebnisse zeigten, dass die sozial ängstlichen Kinder längere Reaktionszeiten benötigten. Außerdem deuteten sie häufiger Emotionen in neutrale Gesichter. Selbstaufmerksamkeit. Ebenso wie bei sozial ängstlichen Erwachsenen konnte auch bei sozial ängstlichen Kindern eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit nachgewiesen werden (Johnson u. Glass 1989): Auch sozial ängstliche Kinder neigten in sozialen oder Bewertungssituationen dazu, ihre Aufmerksamkeit vorrangig auf die eigene Person, z. B. eigene körperliche Reaktionen, statt auf die anstehende Aufgabe zu richten. Gedächtnisleistung. Nur wenige Studien untersuchten bislang die Gedächtnisleistung ängstlicher Kinder. In einer Studie von Daleiden (1998) erinnerten ängstliche Kinder häufiger negative Informationen, so dass eine selektive Gedächtnisleistung vermutet wird. Hinsichtlich der Antizipation zukünftiger Ereignisse bei sozial ängstlichen Kindern fanden Spence et al. (1999) bei 7- bis 14-jährigen Kindern,
dass sie im Vergleich zu Kontrollkindern die Wahrscheinlichkeit für zukünftige positive soziale Ereignisse unterschätzten. Gleichzeitig zeigte sich eine starke Tendenz, die Wahrscheinlichkeit für negative soziale Ereignisse zu überschätzen. Beide Befunde ließen sich nur bei Ereignissen, die soziale Interaktionen betrafen, beobachten. > Fazit Befunde zur abweichenden Informationsverarbeitung bei sozial ängstlichen Kindern sind weniger robust als im Erwachsenenalter. Einerseits gibt es viele Studien, die abweichende Informationsverarbeitungsprozesse etwa bei kognitiven Inhalten, der Bewertung von Informationen, der Selbstaufmerksamkeit oder der Gedächtnisleistung zeigen. Andererseits werden auch kognitive Besonderheiten bei sozial ängstlichen Kindern im Unterschied zu Erwachsenen mit sozialer Angststörung berichtet, etwa die Gedankenleere.
Verhaltensweisen Sicherheitsverhalten. Auf der Verhaltensebene kommt es zu Vermeidungs- oder Fluchttendenzen. Zum Vermeidungsverhalten zählt auch das sog. Sicherheitsverhalten, das bei sozial phobischen Kindern ebenso wie bei Erwachsenen von großer Bedeutung ist. Damit sind Strategien gemeint, die darauf abzielen, innerhalb der gefürchteten Situation Angst zu verringern oder die soziale Bedrohung abzuwehren. Tatsächlich erhöht Sicherheitsverhalten jedoch gleichzeitig die Selbstaufmerksamkeit, verhindert eine angemessene Bewertung der Situation und korrektive Erfahrungen (Clark u. McManus 2002). Die meisten sozial ängstlichen Kinder und Jugendlichen zeigen ein reduziertes Sprechverhalten: Sie beginnen seltener Gespräche, sprechen weniger, lassen längeres Schweigen entstehen und können weniger gut mit Unterbrechungen durch den Gesprächspartner umgehen. Der Zusammenhang mit spezifischen Körperhaltungen, Bewegungen oder dem Blickkontakt ist weniger konsistent (Asendorpf 1990). Allerdings ist eine häufige Strategie das »Verstecken« der Augen hinter langen Haaren, unter einer tief ins Gesicht gezogenen Schirmmütze o. Ä., um eine Ansprache zu verhindern.
Beispiel Beispiele für Sicherheitsverhaltensweisen bei sozial phobischen Kindern und Jugendlichen 4 4 4 4 4 4 4 6
Eine Schirmmütze o. Ä. aufsetzen, die Haare ins Gesicht fallen lassen, die Hände vor das Gesicht halten, sich so hinsetzen, dass man nicht bemerkt wird, die Kleidung immer wieder überprüfen, vermeiden, andere anzusehen, leise sprechen,
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Kapitel 31 · Soziale Phobie
4 keine Fragen stellen, 4 sich erst melden, nachdem der Lehrer jemanden aufgerufen hat, 4 aufpassen, dass die Hände nicht zittern, 4 weite Kleidung anziehen, um sich zu verstecken, 4 nicht auffallen, 4 Sätze, bevor sie laut gesagt werden müssen, in Gedanken immer wieder wiederholen, damit sie nicht vergessen werden, 4 sich so wenig wie möglich bewegen, 4 sich von anderen zurückziehen, 4 sich beobachten, um zu überprüfen, wie man auf andere wirkt.
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Gesichtsausdruck. Aufgrund unsystematischer Beobachtungen wird häufig berichtet, dass sozial ängstliche Menschen wenig oder einen schwer interpretierbaren Gesichtsausdruck zeigten. Izard und Huyson (1986) vermuten, dass sozial ängstliche nonverbale Verhaltensmuster bewirkten, dass sich die Möglichkeit für emotionalen Austausch in Interaktionen reduziere. In einer experimentellen Studie (Melfsen et al. 2000) wurde untersucht, ob sozial ängstliche Kinder Defizite in ihrer willentlichen mimischen Ausdrucksfähigkeit aufweisen. Die Ergebnisse zeigten, dass die sozial ängstlichen Kinder weniger genaue willentliche mimische Ausdrücke erkennen ließen als die sozial nicht ängstlichen Kinder. Sie ließen ein kleineres Repertoire und eine niedrigere Gesamtzahl an mimischen Bewegungen erkennen. Außerdem zeigten sie häufiger andersartige mimische Bewegungen, die keinem Emotionsausdruck zugeordnet werden können, und falsche Emotionsausdrücke. Ein Mangel an Präzision in der willentlichen mimischen Emotionsausdrucksfähigkeit kann sich in Interaktionen problematisch auswirken. In einer weiteren Studie (Melfsen u. Florin 2003) wurde überprüft, ob sozial ängstliche Kinder auch in nichtsozialen Situationen, in denen spontane Emotionsausdrücke hervorgerufen werden, Defizite in ihrer mimischen Ausdrucksfähigkeit zeigen oder ob diese Defizite auf Situationen beschränkt sind, in denen die Mimik kommunikative Funktion hat. Die Ergebnisse ließen erkennen, dass die sozial ängstlichen Kinder in der spontanen Mimik einen verringerten Ausdruck von Freude, jedoch nicht von Ärger oder Frustration zeigten. Möglicherweise ist es für sozial ängstliche Kinder schwieriger, positive Emotionen wie Freude zu zeigen als negative Emotionen wie Ärger oder Frustration. Ein anderer Grund für die Befunde könnte darin liegen, dass sozial ängstliche Kinder versuchen, ihren Gesichtsausdruck zu kontrollieren bzw. zu neutralisieren. Träfe dies zu, könnten Unterschiede in der Komplexität der Mimik und damit der Schwierigkeit, sie zu kontrollieren, darauf zurückgeführt werden. Mundbewegungen lassen sich leichter kontrollieren als Bewegungen der Augen/Lider und der Augenbrauen/Stirn. Freude ist
eine Emotion, die keine spezifischen Bewegungen in diesen Bereichen einschließt. Defizite sozialer Kompetenz. Soziale Defizite scheinen zumindest im Erwachsenenalter bei sozialen Phobien keine zentrale Rolle zu spielen (Norton u. Hope 2001). Vielmehr stellen sie nur eine unter mehreren Ursachen für die Entstehung sozialer Phobien dar. Bei Kindern und Jugendlichen wird diskutiert, ob soziale Kompetenzdefizite in der Entwicklung und Aufrechterhaltung der Störung eine bedeutsamere Rolle spielen als bei erwachsenen Sozialphobikern (Rapee u. Spence 2004). Es liegen aber auch Befunde vor, die darauf hindeuten, dass soziale Kompetenzdefizite keine zentrale Rolle spielen. Cartwright-Hatton et al. (2003) untersuchten beispielsweise Schulkinder im Alter von 8–11 Jahren und gaben ihnen die Aufgabe, vor einer Videokamera eine zweiminütige Rede zu halten. Analog zu den Ergebnissen bei Erwachsenen (Stopa u. Clark 1993) ergaben sich bei hochängstlichen Kindern weniger Hinweise auf Defizite in sozialen Kompetenzen, als es Selbsteinschätzungen vermuten ließen. Diese signifikant schlechtere Bewertung der eigenen Leistungen durch Sozialphobiker ist gut belegt (Norton u. Hope 2001): Sozialphobiker werden von anderen als weitaus sozial kompetenter eingeschätzt als sie es selbst tun.
Physiologische Reaktionen Typische physiologische Reaktionen, die sozial phobische Kinder berichten (Beidel et al. 1991), sind starkes Herzklopfen (70,8%), Zittern (66,7%), Kälteschauer (62,5%) und Schwitzen (54,2%). Weiterhin werden Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Atemlosigkeit, Erstarren, ein erhöhter Puls, Muskelanspannung oder ein flaues Gefühl im Magen erwähnt. Klagen über Bauchschmerzen sind besonders unter jüngeren Kindern häufig. Die physiologischen Reaktionen sind für alle phobischen Kinder und Jugendlichen kennzeichnend, nicht nur für sozial phobische Kinder und Jugendliche. Vielfach werden die körperlichen Furchtreaktionen im Rahmen einer sozialen Phobie als sekundär eingeordnet, während es jedoch im B-Kriterium der ICD-10 zur Diagnosestellung einer Sozialphobie zwingend gefordert wird (Gerlach 2005).
Weitere typische Merkmale Albano et al. (1995) berichten, dass viele sozial phobische Kinder und Jugendliche ein für ihr Alter untypisches Interesse entwickeln. Es sind häufig einsame Hobbys, etwa das Programmieren von Computern, das Verfolgen von Wetterberichten oder Ähnliches. Zum einen erklärt sich dieses Verhalten aus der begrenzten Zeit, die Sozialphobiker mit Gleichaltrigen verbringen. Dadurch sind sie weniger stark den Mainstreaminteressen ausgesetzt und können für diese Interessen auch weniger verstärkt werden. Ihre ungewöhnlichen Interessen werden aber auch zum Mittel, Aktivitäten mit anderen und somit angstbesetzte Situationen zu vermeiden.
537 31.2 · Darstellung der Störung
> Fazit Wie Erwachsene zeigen auch sozial ängstliche Kinder Sicherheitsverhaltensweisen, um in gefürchteten Situationen Angst zu verringern oder soziale Bedrohung abzuwehren, z. B. ein reduziertes Sprechverhalten. Die physiologischen Reaktionen unterscheiden sich nicht von denen anderer Angststörungen. Häufig entwickeln sozial phobische Kinder für ihr Alter untypische Interessen.
31.2.2 Komorbidität
Es besteht eine hohe Komorbiditätsrate zwischen verschiedenen Angststörungen. Im Zusammenhang mit der sozialen Phobie bei Kindern treten insbesondere häufig das generalisierte Angstsyndrom und einfache Phobien auf. Verglichen mit normalgesunden Kindern zeigen sozial phobische Kinder ein höheres Ausmaß an depressiven Verhaltensweisen. Weiterhin wurde eine Tendenz zu zwanghaften Verhaltensweisen festgestellt.
31.2.3 Untergruppen
Nach der Anzahl der gefürchteten Situationen werden zwei Arten der sozialen Phobie unterschieden: 4 die spezifische und 4 die generalisierte soziale Phobie. Dabei ist die spezifische soziale Phobie eng umschrieben und bezieht sich im Wesentlichen auf eine Situation. Bei der generalisierten sozialen Phobie bezieht sich die Angst dagegen auf mehrere oder einen Großteil der zwischenmenschlichen Situationen. Hinter dieser Einteilung steht die Annahme, dass sich Menschen mit einer sozialen Phobie, die die Mehrzahl an sozialen Situationen als nicht bedrohlich bewerten, von denjenigen unterscheiden, die mehrere oder einen Großteil der sozialen Situationen fürchten. Ob tatsächlich ein kategorialer Unterschied vorliegt, steht noch in Frage. Studien (Albano et al. 1995; Beidel u. Morris 1995) lassen vermuten, dass die Mehrzahl der sozial phobischen Kinder an einer generalisierten sozialen Phobie leiden.
31.2.4 Epidemiologie
Die soziale Phobie ist mit einer Punktprävalenzrate von etwa 1–3% im Kindesalter (z. B. Essau et al. 2000) und einer Prävalenz von 5–10% im Jugend- und frühen Erwachsenenalter (z. B. Wittchen et al. 1999) eine der häufigsten Störungen. Neuere Studien zeigen zudem einen Anstieg der Prävalenzdaten, der u. a. auf die erniedrigte diagnostische Schwelle durch das DSM-IV zurückgeführt wird (Pelissolo et al. 2000).
Der Störungsbeginn liegt bei der generalisierten sozialen Phobie bei etwa 11–13 Jahren (Strauss u. Last 1993), aber bereits bei Achtjährigen können soziale Phobien festgestellt werden (Beidel u. Turner 1998). Aus entwicklungspsychologischer Sicht kann sich eine soziale Phobie nicht vor dem Bewusstwerden von Bewertungen entwickeln. Sorgen über die negative Bewertung durch andere entwickeln sich bei Kindern dabei um das 8. Lebensjahr. Während des Jugendalters werden durch neue Anforderungen und Bedürfnisse sowie durch die kognitive Entwicklung Defizite stärker bewusst (Beidel u. Morris 1995).
31.2.5 Störungsverlauf
Soziale Ängste in der Kindheit sind Teil einer normalen Entwicklung. Dazu kann man auch das Fremdeln zählen, das etwa im Alter von 8 Monaten beginnt. Entsprechend ihrem Temperament gehen bereits Säuglinge und kleine Kinder sehr unterschiedlich mit angstbesetzten Situationen um, wobei die Reaktionen von »sehr gelassen« bis »leicht erregbar« reichen. Mit zunehmender Fähigkeit, die Komplexität sozialer Situationen zu verstehen und negative, auf sich selbst gerichtete Aufmerksamkeit zu entwickeln, wird das ältere Kind fähig, negative Bewertungen durch andere zu fürchten. Im Alter von 8–10 Jahren haben sich die kognitiven Fähigkeiten so weit entwickelt, auch subtile Botschaften zu verstehen, Situationen aus anderen Perspektiven zu interpretieren und soziale Vergleiche anzustellen. Die Kinder müssen verschiedene soziale Entwicklungsaufgaben bewältigen: In der Schule sind mündliche Berichte vor der Klasse gefordert, Gruppenarbeiten finden statt, Leistungsüberprüfungen setzen ein. Im Freizeitbereich sind häufig ebenfalls Vor- und Aufführungen oder Wettkämpfe Teil der Freizeitbeschäftigung. Im Jugendalter werden die sozialen Entwicklungsaufgaben anspruchsvoller und sozial bedrohlicher: Kontakte zum anderen Geschlecht sind zu knüpfen, Vorstellungen für Praktika, Ferienjobs oder in Ausbildungsstätten stehen an, Autonomie muss entwickelt werden, der Jugendliche muss lernen, sich gegenüber den Bezugspersonen abzugrenzen u.a.m. Gerade das späte Kindesalter und der Beginn des Jugendalters sind wichtige Zeitabschnitte, um Freundschaften aufzubauen, sich mit einer Peergroup zu identifizieren und eine Identität zu entwickeln. Jugendliche beginnen, ihre Unabhängigkeit und Individualität zu testen. Ihre häufigsten Ängste benennen sie im Zusammenhang mit Beziehungen zum anderen Geschlecht, mit der Zurückweisung durch Gleichaltrige, mit öffentlichem Sprechen, mit Erröten, mit der Selbstwahrnehmung und mit übermäßiger Beschäftigung mit vergangenem Verhalten. Eine verstärkte Gehemmtheit und das Gefühl der Peinlichkeit sind somit für diese Entwicklungsstufe kennzeichnend.
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538
Kapitel 31 · Soziale Phobie
Die soziale Phobie in diesen kritischen Zeitabschnitten führt zu deutlichen Einschränkungen in der Entwicklung. Die Vermeidung sozialer Situationen behindert insbesondere den Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen, was die Entwicklung des Kindes nachhaltig beeinträchtigen kann. Davidson (1993) belegt, dass bei Beginn der sozialen Phobie vor dem 11. Lebensjahr eine chronische Störung im Erwachsenenalter vorhersehbar ist. Die Einschränkung der Lebensqualität ist beträchtlich und betrifft neben der psychischen Belastung auch die Erfüllung sozialer Rollenfunktionen, die schulische Ausbildung und die berufliche Laufbahn. Soziale Angststörungen im Kindes- und Jugendalter stellen auch einen Risikofaktor für die Entwicklung anderer psychischer Störungen wie anderer Angststörungen, depressiver Störungen, Substanzstörungen und Essstörungen (Wittchen et al. 2000) dar. Sie werden aber oftmals nicht erkannt und selten behandelt (Wittchen et al. 2000).
setzt werden, innerhalb der gefürchteten Situation Angst zu verringern oder die soziale Bedrohung abzuwehren. Welche Rolle sozialen Kompetenzdefiziten in der sozialen Phobie bei Kindern und Jugendlichen zukommt, wird noch diskutiert. Typische physiologische Reaktionen, die sozial phobische Kinder berichten, sind starkes Herzklopfen, Zittern, Kälteschauer und Schwitzen. Klagen über Bauchschmerzen sind besonders unter jüngeren Kindern häufig. Es besteht eine hohe Komorbiditätsrate zwischen verschiedenen Angststörungen und depressiven Verhaltensweisen. Nach der Anzahl der gefürchteten Situationen werden zwei Arten der sozialen Phobie unterschieden: die spezifische und die generalisierte soziale Phobie. Studien lassen vermuten, dass die Mehrzahl der sozial phobischen Kinder an einer generalisierten sozialen Phobie leiden.
> Fazit
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Die soziale Phobie ist im Kindesalter mit einer Punktprävalenzrate von etwa 1–3% und im Jugend- und frühen Erwachsenenalter mit einer Prävalenz von 5–10% eine der häufigsten Störungen. Der Störungsbeginn liegt bei der generalisierten sozialen Phobie bei etwa 11–13 Jahren. Im Kindes- und Jugendalter führt die soziale Phobie zu deutlichen Einschränkungen in der sozialen und emotionalen Entwicklung und zu einer beträchtlichen Einschränkung der Lebensqualität, der schulischen und beruflichen Ausbildung sowie der Erfüllung sozialer Rollenfunktionen. Bei einem Beginn vor dem 11. Lebensjahr ist eine chronische Störung im Erwachsenenalter vorhersehbar. Die soziale Phobie stellt einen Risikofaktor für die Entwicklung anderer psychischer Störungen wie anderer Angststörungen, depressiver Störungen, Substanzstörungen und Essstörungen dar. Kinder sind nicht immer in der Lage, den Grund ihrer Ängste zu benennen. Indikatoren einer sozialen Phobie im Kindesalter können z. B. fehlende Reaktionen in sozialen Situationen, Vermeidung von altersangemessenen sozialen Aktivitäten, körperliche Beschwerden (z. B. Klagen über Kopf- und Bauchschmerzen), ein Abfall in den Schulleistungen, Schulverweigerung oder Trotzreaktionen und Wutanfälle sein. Kognitive Studien lassen vermuten, dass der Informationsverarbeitung eine entscheidende Rolle in der Entwicklung und Aufrechterhaltung der sozialen Phobie bei Erwachsenen zukommt. Die Befundlage bei sozial phobischen Kindern ist weniger eindeutig, allerdings liegt der Forschungsstand zu sozial ängstlichen Kognitionen bei Kindern auch weit hinter dem der Erwachsenen zurück. Auf der Verhaltensebene kommt es zu Vermeidungsoder Fluchttendenzen. Zum Vermeidungsverhalten zählt auch das sog. Sicherheitsverhalten, das bei sozial phobischen Kindern ebenso wie bei Erwachsenen von großer Bedeutung ist, d. h. Strategien, die mit dem Ziel einge-
31.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Zur Darstellung von Modellen zur Ätiologie der sozialen Phobie sei auf 7 Kap. II/3 verwiesen. Im Folgenden werden für das Kindesalter relevante Studien zu einzelnen Einflussfaktoren herausgegriffen. Bei der Entwicklung einer sozialen Angst können eine biologische Prädisposition sowie inner- und außerfamiliäre Lernerfahrungen von Bedeutung sein.
31.3.1 Biologische Prädisposition
Die Annahme einer biologischen Prädisposition für soziale Angst wurde mit Zwillings-, Familien- und Temperamentsstudien geprüft. Zwillingsstudien zeigten, dass das Ausmaß sozialer Angst signifikant höher zwischen mono- als dizygotischen Zwillingen korreliert (z. B. Kendler et al. 1992). Familienstudien lassen erkennen, dass Verwandte von erwachsenen Sozialphobikern ein höheres Ausmaß an sozialer Angst aufweisen als Verwandte von Personen mit anderen Störungen (Fyer et al. 1993). Familiäre Häufungen von spezifischen Störungen können jedoch nicht nur auf biologische Faktoren, sondern auch auf die Besonderheiten familiärer Sozialisation (elterliches Modell, Verstärkerkontingenzen usw.) zurückgeführt werden. Es gibt Hinweise, dass Temperamentseigenschaften auch für die Entwicklung sozialer Ängste von Bedeutung sein könnten. Kinder mit zurückhaltendem Temperament haben z. B. eine niedrige Schwelle für physiologische Erregung und eine geringe Fähigkeit, mit stressreichen Situationen umzugehen (z. B. Kagan et al. 1987), so dass sie leicht Ängste entwickeln können. Für die Bezugsperson kann es schwierig sein, mit diesen Kindern umzugehen. Dies könnte möglicherweise einen ängstlichunsicheren Bindungsstil hervorrufen (Manassis et al. 1995), der zur Aufrechterhaltung der Angst beitragen kann.
539 31.4 · Diagnostik
31.3.2 Innerfamiliäre Lernerfahrungen
Studien zu innerfamiliären Lernerfahrungen befassen sich mit dem Lernen innerfamiliärer Regeln zum Umgang mit sozialen Situationen, ihrer Vermeidung oder der Überbewertung sozialer Normen, die die Entwicklung sozialer Ängste begünstigen können. Soziale Regeln können z. B. durch das Instruktions- und Verstärkerverhalten der Eltern oder auch auf dem Weg des Modelllernens (Nachahmung ängstlichen elterlichen Verhaltens durch das Kind) erworben werden. Retrospektive Studien an erwachsenen Sozialpobikern zeigen, dass Sozialphobiker verglichen mit Agoraphobikern einen oder beide Elternteile eher für überbehütend bzw. für stärker zurückweisend hielten (Arindell et al. 1989). Außerdem berichteten erwachsene Sozialphobiker, dass ihre Eltern soziale Aktivitäten mit anderen Familien weniger unterstützt, die Kinder von neuen sozialen Erfahrungen abgehalten und großes Gewicht auf die Meinung anderer gelegt hatten (Bruch u. Heimberg 1994). Ein Problem solcher retrospektiver Erhebungen sind allerdings verzerrende Erinnerungseffekte. Es muss auch bedacht werden, dass z. B. ein überbehütender Erziehungsstil auch eine Reaktion auf die soziale Angst des Kindes sein könnte. Nach Studien zur Position schüchterner Kinder in der Geschwisterreihe (Asendorpf 1986) zeigen Einzel- und erstgeborene Kinder eine größere Tendenz, schüchtern zu sein. Asendorpf (1986) führte folgende Erklärungsmöglichkeiten an: 4 Die Eltern haben höhere Erwartungen an Erstgeborene als an nachfolgende Kinder, so dass diese Kinder häufiger das Gefühl entwickeln, sie hätten sich sozial nicht adäquat verhalten. 4 Die nachgeborenen Kinder müssen, weil sie den Erstgeborenen körperlich unterlegen sind, mehr soziale Fähigkeiten erwerben, um mit den älteren Geschwistern zu verhandeln.
Nach Öst (1987) berichteten 58% einer Stichprobe sozial phobischer Erwachsener, dass der Beginn ihrer Sozialphobie einem traumatischen Erlebnis folgte. Ganz ähnlich wiesen in einer Studie von Stemberger et al. (1995) 56% der erwachsenen Patienten mit einer spezifischen Sozialphobie und 40% derer, die eine generalisierte Sozialphobie hatten, auf spezifische traumatische Erlebnisse als Entwicklungsfaktor der Sozialphobie hin. > Fazit Bei der Entwicklung einer sozialen Phobie spielen eine biologische Prädisposition sowie inner- und außerfamiliärer Lernerfahrungen eine Rolle. Die Annahme einer biologischen Prädisposition für soziale Angst wurde mit Zwillings-, Familien- und Temperamentsstudien geprüft. Studien zu innerfamiliären Lernerfahrungen befassen sich mit dem Lernen innerfamiliärer Regeln zum Umgang mit sozialen Situationen, der Vermeidung sozialer Situationen oder der Überbewertung sozialer Normen, die die Entwicklung sozialer Ängste begünstigen können. Im Hinblick auf außerfamiliäre Lernerfahrungen sind insbesondere Studien über Beziehungen zu Gleichaltrigen und über traumatische Erlebnisse bedeutsam.
31.4
Diagnostik
31.4.1 Untersuchungsablauf Analyse der sozialen Ängste. Die Diagnostik der sozialen Angst sollte eine genaue Analyse der sozialen Ängste, ihre vorangehenden Bedingungen und Folgen, ihren Schweregrad und ihre Dauer sowie ihre spezifischen Reaktionen umfassen. Die Erfassung von Sicherheitsverhalten ist von großer Bedeutung. Ebenso sollten physiologische Symptome, die belastend sein können, erfasst werden. Auch bei Kindern sollten sozial ängstliche Kognitionen Berücksichtigung finden.
31.3.3 Außerfamiliäre Lernerfahrungen
Im Hinblick auf außerfamiliäre Lernerfahrungen sind insbesondere Studien über Beziehungen zu Gleichaltrigen und über traumatische Erlebnisse bedeutsam. In retrospektiven Untersuchungen berichteten schüchterne Erwachsene häufig von unangenehmen Erfahrungen mit Gleichaltrigen als Faktor zur Entwicklung von sozialer Angst (Vernberg et al. 1992). Es könnte auch sein, dass die Gleichaltrigen die soziale Angst und den Rückzug eines Kindes als abweichend bewerteten und dass sie deshalb mit weniger Beachtung, Zurückweisung, möglicherweise auch mit Drangsalierung reagierten. Aufgrund der unterschiedlichen Geschlechterrollenerwartungen ist es auch denkbar, dass soziale Angst bei Jungen auf mehr negative Reaktionen bei Gleichaltrigen und den Eltern stößt als bei Mädchen (z. B. MacDonald 1987).
Exploration der Eltern. Die Exploration der Eltern kann dabei vorgezogen werden, wenn das Kind große Schwierigkeiten mit der Beantwortung von Fragen zeigt. Auch die Exploration des Kindes kann zunächst noch in Gegenwart der Eltern erfolgen. Multiaxiale Diagnostik. Eingebettet werden sollte diese störungsspezifische Diagnostik in eine umfassende, multiaxiale Diagnostik, die medizinische Krankheitsfaktoren, psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme, das Intelligenzniveau und das Funktionsniveau erfasst und somit Hinweise für Bedingungen zur Störungsentstehung oder -aufrechterhaltung liefern kann (Remschmidt et al. 2006). Die Erfassung der intellektuellen Leistungsfähigkeit ist von großer Bedeutung, um z. B. irrationale Prüfungsängste von situationsangemessenen Versagensängsten abzugrenzen.
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540
Kapitel 31 · Soziale Phobie
Abgrenzung von sozialem Unbehagen und Schüchternheit. Da die soziale Angst ein weit verbreitetes Phänomen
ist, muss die soziale Phobie von normalem sozialem Unbehagen und Schüchternheit abgegrenzt werden. Stopa und Clark (1993) vermuten, dass der grundlegende Unterschied zwischen Schüchternheit und sozialer Phobie darin besteht, dass Schüchterne soziale Situationen zwar mit ähnlichen Gefühlen wie Sozialphobiker betreten, dann aber überprüfen, was tatsächlich passiert und ob die anderen Personen ihnen nicht doch positives Interesse entgegenbringen. Turner et al. (1990) nennen folgende Unterschiede: 4 Die Lebenseinschränkungen sind bei Schüchternen weniger ausgeprägt als bei Sozialphobikern. 4 Sozialphobiker würden häufiger Vermeidungsverhalten zeigen als Schüchterne. 4 Die Schüchternheit beginnt früher als die soziale Phobie. 4 Der Verlauf der sozialen Phobie ist chronisch, während die Schüchternheit von vorübergehender Natur sein kann. 4 Soziale Kompetenzdefizite treten öfter bei Schüchternen auf. Außerdem muss die soziale Phobie von der Ungeselligkeit abgegrenzt werden, der keine soziale Angst zugrunde liegt. Erstellung einer Angsthierarchie. Hierbei sind die gefürchteten Situationen nach ihrer Schwierigkeit in eine Rangfolge zu bringen. Die Angsthierarchie sollte bei Kindern von geringerem Umfang sein als bei Erwachsenen und etwa 4–6 Situationen umfassen.
31
Erfassung der sozialen Kompetenz. Es ist wichtig, Infor-
mationen zur Ausprägung der sozialen Kompetenz zu erfassen. Zur Einschätzung der sozialen Kompetenz ist dabei die Fremdeinschätzung von großer Bedeutung, da sie in der Selbsteinschätzung oftmals unterschätzt wird. Familienanamnese. Die Eltern sollten zu eigenen Ängsten und Angstbewältigungsstrategien befragt werden sowie zum Umgang mit den Ängsten ihres Kindes. Die Erfassung von Modellverhalten in der Familie, von Verstärkung ängstlichen Verhaltens, von Begrenzungen der Mobilität des Kindes o. Ä. können wichtige Hinweise zur Entstehung und Aufrechterhaltung der sozialen Phobie liefern. Informationen aus der Schule. Diese sollten eine mögliche Schulverweigerung, soziale Kompetenzen, Reaktionen aus der Umwelt sowie die Stellung des Kindes in der Klassengemeinschaft einschließen. Abgrenzung von anderen Störungen. Eine Abgrenzung
der sozialen Phobie von anderen Angststörungen, depressivem Verhalten, selektivem Mutismus, sozialer Ängste im Rahmen psychotischer Erkrankungen und beeinträch-
tigten sozialen Interaktionen im Rahmen der AspergerStörung ist von Bedeutung.
31.4.2 Verfahren zur Erfassung sozial phobischen
Verhaltens Selbstbeschreibungsinstrumente Soziale Ängste werden in einer Reihe von Fragebögen durch Subskalen erfasst, z. B. der Subskala »Zurückhaltung und Scheu im Sozialkontakt« im »Persönlichkeitsfragebogen für Kinder« (Seitz u. Rausche 1992) oder der Subskala »Angst vor Versagen und Kritik« im »Fear Survey Schedule for Children« (Scherer u. Nakumara 1968, deutsche Übersetzung in Schulte 1976). Sozialphobie und -angstinventar (SPAIK). Das »Sozialpho-
bie und -angstinventar für Kinder« (SPAIK; Melfsen et al. 2001) ist ein störungsspezifisches Selbstbeurteilungsverfahren, mit dem kognitive, somatische und behaviorale Aspekte der sozialen Phobie im Kindes- und Jugendalter in einer großen Bandbreite an Situationen erfasst werden. Die ursprüngliche Version wurde von Beidel et al. (1998) für den angloamerikanischen Sprachraum in Anlehnung an die Erwachsenenversion (Turner et al. 1989) entwickelt. Sie besteht aus 26 Items, die auf einer 3-stufigen Skala hinsichtlich ihrer Häufigkeiten eingeschätzt werden. Die deutsche Version wurde an einer Normalstichprobe von 1197 Schülerinnen und Schülern im Altersbereich von 8–16 Jahren hinsichtlich der Testgütekriterien überprüft und normiert. Eine Hauptkomponentenanalyse mit Varimaxrotation legt eine 1-Faktoren-Lösung nahe. An zwei Teilstichproben wurde eine Kreuzvalidierung durchgeführt, die eine hohe Faktorstrukturübereinstimmung ergab. Die interne Konsistenz (Cronbachs α) ist mit .92 hoch. Die Retestreliabilität beträgt nach 2 Wochen rtt=.85, nach 4 Wochen rtt=.84. Zur Erfassung der Konstruktvalidität wurden Zusammenhänge mit anderen Angstfragebögen erfasst. Die Ergebnisse sprechen für die Validität des SPAIK. In Studien zur diskriminativen Validität zeigte sich, dass der Fragebogen zwischen sozial phobischen und sozial nicht ängstlichen sowie zwischen sozial phobischen Kindern und Kindern mit anderweitigen Angststörungen diskriminiert. Social anxiety Scale for Children – Revised (SASC-R). Ein weiteres Selbstbeschreibungsinstrument zur Erfassung sozialer Ängste im Kindesalter ist die »Social Anxiety Scale for Children – Revised« (SASC-R; La Greca et al. 1988), deutsche Version von Melfsen und Florin (1997). Sie besteht aus zwei Subskalen: »Fear of Negative Evaluation« (FNE) und »Social Avoidance and Distress« (SAD), mit je 9 Items, die hinsichtlich ihrer Häufigkeiten auf einer fünfstufigen Ratingskala eingeschätzt werden. Die Skala FNE beinhaltet Gedanken zur Anerkennung bzw. Ablehnung durch andere Personen, während die Skala SAD Situati-
541 31.4 · Diagnostik
onen benennt, die vermieden werden oder Ängste auslösen. Die ursprüngliche Version der Skala wurde von La Greca et al. (1988) für den angloamerikanischen Sprachraum entwickelt. Sie basiert auf der für Erwachsene konzipierten Skala zur Erfassung von Bewertungsängsten von Watson und Friend (1969). Die deutsche Version (SASC-R-D) wurde an 627 Schülerinnen und Schülern im Altersbereich von 8–16 Jahren hinsichtlich ihrer Gütekriterien überprüft und normiert. Bei einer Hauptkomponentenanalyse mit Varimaxrotation ergaben sich zwei Faktoren, die inhaltlich mit den Skalen FNE und SAD übereinstimmen. Die Kongruenz der Faktoren erwies sich in zwei unabhängigen Stichproben als hoch. Die interne Konsistenz (Cronbachs α) der Unterskalen lag für die FNE bei .83, für die SAD bei .71. Die beiden Unterskalen korrelierten zu r=.52 miteinander. Die Retestreliabilität nach 2 Wochen betrug für die FNE rtt=.84, für die SAD rtt=.74, nach 4 Wochen für die FNE rtt=.82 und für die SAD rtt=.85. Zur Erfassung der Konstruktvalidität wurden neben der SASC-R-D andere Angstfragebögen vorgelegt. Die Ergebnisse sprechen für die Validität. Der Fragebogen diskriminiert zwischen sozial phobischen und sozial nicht ängstlichen Kindern.
Fremdbeurteilungsbögen Marburger Verhaltensliste (MVL). Die »Marburger Verhaltensliste« (MVL; Ehlers et al. 1978) dient dazu, die Therapiebedürftigkeit von Kindern im Alter von 6–12 Jahren quantitativ abzuklären. Die MVL verlangt von der erwachsenen Bezugsperson, die Anzahl der Tage der letzten 2 Wochen zu nennen, an denen bestimmte Verhaltensabläufe zu beobachten waren. Eine der fünf Subskalen erfragt die Kontaktangst des Kindes. Diese Subskala hat eine innere Konsistenz nach Kuder-Richardson (KR-20) von rtt=.70 und eine Retestreliabilität nach 31 Tagen von rtt=.80, nach 4 Monaten von rtt=.59. Validitätsstudien gibt es nur für den MVL-Gesamtwert. Es liegen Prozentrangnormen vor. Elternexplorationsbogen für sozial unsichere Kinder. Der
»Elternexplorationsbogen für sozial unsichere Kinder« (Petermann u. Petermann 1996) beinhaltet insgesamt 56 Fragen zur Entwicklung und Problematik des sozial ängstlichen Kindes sowie zu bedingenden und aufrechterhaltenden Faktoren. Es liegen keine Angaben zur Reliabilität und Validität vor.
Erfassung sozialer Angst als mit Maßen zur Erfassung von Depression. Eine deutsche, bislang noch nicht validierte Übersetzung liegt vor.
Erfassung sozial ängstlicher Kognitionen Es gibt eine Reihe von unterschiedlichen Methoden zur Erfassung von Kognitionen bei Kindern (Francis 1988; Kendall u. Ronan 1990; Ollendick u. Francis 1988). 4 Bestätigungsmethode: Das Kind kann anhand einer Liste von Gedanken angeben, wie oft es diese Gedanken in einer bestimmten Situation hatte. 4 Produktionsmethode: Es kann seine Gedanken, mündlich oder schriftlich, selbst berichten. Die Gedanken können losgelöst von spezifischen Situationen erhoben werden, sie können auch in vorgestellten Situationen, videographierten Situationen, während eines Rollenspiels oder in natürlichen Situationen erfasst werden. Kendall und Chansky (1991) untersuchten die Produktionsmethode bei ängstlichen Kindern und berichteten zwei Einschränkungen: Zum einen zeigen ängstliche Kinder ein Antwortmuster, wonach sie nur negative Gedanken nennen, auch wenn positive Gedanken aufgetreten sind. Zum anderen beziehen sie sich häufig auf die angstauslösenden Situationen statt auf die spezifischen Gedanken, die auftraten. Kendall und Chansky (1991) empfehlen deshalb die Bestätigungsmethode für ängstliche Kinder. Fragebogen zur Erfassung sozial ängstlicher Kognitionen bei Kindern und Jugendlichen (SÄKK). Der »Fragebogen
zur Erfassung sozial ängstlicher Kognitionen bei Kindern und Jugendlichen« (SÄKK; Graf et al. 2007), der auf dem »Children’s Cognitive Assessment Questionnaire« (CCAQ; Zatz u. Chassin 1985) basiert, umfasst insgesamt 27 Items, die den Faktoren »positive Selbstbewertung«, »negative Selbstbewertung« und »Bewältigungsgedanken« zugeordnet werden. Ohne Vorgabe eines Zeitfensters soll die Häufigkeit auf einer fünfstufigen Likert-Skala eingestuft werden. Der Fragebogen wurde von 598 Schülerinnen und Schülern vollständig ausgefüllt. Die interne Konsistenz des SÄKK ist hoch (Gesamtskala: Cronbach α=.85; Subskalen: negative Selbstbewertung α=.86 und Bewältigungsgedanken α=.84). Auch die Itemkennwerte, die Trennschärfen und die Itemschwierigkeiten sprechen für die Güte des Fragebogens.
Liebowitz Social Anxiety Scale for Children and Adolescents (LSAS-CA). Die »Liebowitz Social Anxiety Scale for
Selbstbeobachtungsmethoden
Children and Adolescents« (LSAS-CA; Masia-Warner et al. 2003) ist ein Fremdbeurteilungsbogen, der Angst und Vermeidung in 24 Situationen erfasst: 12 sozialen Interaktionssituationen und 12 Leistungssituationen. In einer klinischen Stichprobe von 154 Kindern und Jugendlichen zeigte sich eine hohe interne Konsistenz (Cronbachs α =.83–.95) und eine Retestreliabilität von ICC=.89–.94 der amerikanischen Version. Die LSAS-CA korreliert stärker mit Maßen zur
Eine Studie von Beidel und Turner (1998) zeigte, dass der Einsatz von Tagebüchern bei sozial ängstlichen Kindern sinnvoll sein kann. In diesen Tagebüchern sollte nach Art der durchgeführten sozialen Aktivität (z. B. Telefonat, soziale Interaktion zu Hause, soziale Interaktion an anderem Ort) unterschieden werden. Die Bekanntheit bzw. Unbekanntheit der anderen Person/en sollte erfragt werden sowie das Alter dieser Person/en. Erfasst werden sollte das
31
542
Kapitel 31 · Soziale Phobie
Ausmaß der Anspannung und Beeinträchtigung. Die sozial phobischen Kinder berichten in Tagebüchern ein bedeutsames Ausmaß an täglichen Anspannungen und Beeinträchtigungen, insbesondere nach spezifischen angstauslösenden Ereignissen.
Verhaltensbeobachtung Beobachtungsbogen für sozial unsicheres Verhalten (BSU). Der »Beobachtungsbogen für sozial unsicheres Ver-
halten« (BSU; Petermann u. Petermann 1996) wurde für die Beobachtung des Kindes durch Erwachsene in naturalistischen Situationen konzipiert. Er umfasst 12 Kategorien: 1. Stillsein, 2. Sprechen, 3. Stottern, 4. Gefühle, 5. Gesichtsausdruck, 6. Körperausdruck, Gestik, 7. Bewegungen, 8. Tätigkeit, 9. Sozialkontakt, 10. Sichselbstbehaupten, 11. eigenständige Aktivitäten und 12. sonstige Merkmale. Die Häufigkeit der beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten soll auf einer fünfstufigen Skala eingeschätzt werden. Angaben zur Reliabilität und Validität liegen nicht vor. Behavioral Avoidance Test (BAT). Bei dem »Behavioral Avoidance Test« (BAT; Lang u. Lazovik 1963) handelt es sich um einen Rollenspieltest, der für die Beobachtung phobischer Verhaltensweisen geeignet ist. Darin werden sozial
ängstliche Kinder mit Anforderungssituationen konfrontiert. Beobachtet wird das Vermeidungs- bzw. Annäherungsverhalten. Diesen Verfahren mangelt es jedoch häufig an Standardisierung, so dass sie nicht über verschiedene Studien hinweg vergleichbar sind. Angaben über psychometrische Eigenschaften stehen noch aus. Einen Überblick über die vorgestellten Instrumente gibt . Tab. 31.1.
31.4.3 Abgrenzung zu anderen Angststörungen
Die soziale Phobie muss von der generalisierten Angststörung abgegrenzt werden. Die unrealistischen und exzessiven Ängste und Sorgen einer generalisierten Angststörung können sich auch auf soziale Situationen und Leistungssituationen beziehen, sie sind jedoch nicht darauf beschränkt. Die Kinder haben diese Sorgen und Befürchtungen außerdem unabhängig davon, ob sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und von anderen bewertet werden. Bei der Trennungsangst kann es wie bei einigen Kindern mit einer sozialen Phobie auch zur Schulvermeidung kommen. Sie befürchten jedoch die Trennung von den Eltern bzw. der Bezugsperson. Sozial phobische Kinder
. Tab. 31.1. Instrumente zur Diagnostik der sozialen Phobie bei Kindern und Jugendlichen
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Inventar
Erfasstes Konstrukt
Altersbereich
Anmerkungen
Sozialphobie- und Angstinventar für Kinder (SPAIK) Melfsen et al. 2001
Sozial ängstliches Verhalten
8–16 Jahre
Selbstbeurteilungsbogen 26 Items Gesamtwert
Social Anxiety Scale for Children – Revised (SASC-R-D) Melfsen u. Florin 1997
Sozial ängstliches Verhalten
8–16 Jahre
Selbstberuteilungsbogen 18 Items 2 Subskalen: »Fear of Negative Evaluation«, »Social Avoidance and Distress«
Liebowitz Social Anxiety Scale for Children and Adolescents (LSAS-CA) Masia-Warner et al. 2003
Angst und Vermeidung
Fremdbeurteilungsbogen 24 Items 2 Subskalen: »Leistungssituationen«, »Soziale Interaktionssituationen«
Elternexplorationsbogen für sozial unsichere Kinder Petermann u. Petermann 1996
Entwicklung und Symptomatik
Fremdbeurteilungsbogen 56 Items
Fragebogen zur Erfassung sozial ängstlicher Kognitionen bei Kindern und Jugendlichen (SÄKK) Graf et al. 2007
Sozial ängstliche Kognitionen
Selbstbeurteilungsbogen 27 Items 3 Faktoren: »positive Selbstbewertung«, »negative Selbstbewertung« und »Bewältigungsgedanken«
Beobachtungsbogen für sozial unsicheres Verhalten (BSU) Petermann u. Petermann 1996
Sozial ängstliches Verhalten
Fremdbeobachtung in naturalistischen Situationen Umfasst: 1. Stillsein 2. Sprechen 3. Stottern 4. Gefühle 5. Gesichtsausdruck 6. Körperausdruck 7. Bewegungen 8. Tätigkeit 9. Sozialkontakt
543 31.5 · Therapeutisches Vorgehen
zeigen die Angst vor Bewertung auch in Gegenwart der Bezugsperson. Die Abgrenzung zur Agoraphobie ist meistens unproblematisch. Überschneidungen kann es aufgrund der befürchteten Situationen geben, die auch bei Agoraphobikern soziale Situationen sein können. Abgrenzendes Kriterium sind die zugrunde liegenden Befürchtungen. Bei der Agoraphobie beziehen sich die Befürchtungen auf das eigene Wohlbefinden (Angst verrückt zu werden, die Kontrolle zu verlieren, zu sterben). Die Angst vor der Menschenmenge ist bei der Agoraphobie also vor allem eine Angst, z. B. nicht fliehen zu können, im Notfall nicht schnell genug Hilfe organisieren zu können oder Ähnliches. Bei Sozialphobikern bezieht sich die Angst auf eine negative Bewertung durch andere.
31.4.4 Abgrenzung zum Asperger-Syndrom
Beim Asperger-Syndrom liegt eine schwere und anhaltende Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion vor. Gleichzeitig besteht ein eingeschränktes Muster von Interessen und Aktivitäten. Die Defizite, die im Rahmen von sozialen Phobien zu beobachten sind, lassen sich im Gegensatz zu den sozialen Defiziten von Patienten mit Asperger-Syndrom durch Lernerfahrungen vergleichsweise leicht überwinden. > Fazit Bestandteil der Diagnostik der sozialen Angst sollte eine genaue Analyse der sozialen Ängste sein. Sie sollte vorangehende Bedingungen und Folgen, Schweregrad und Dauer sowie spezifische Reaktionen erfassen. Dazu zählen auch das Sicherheitsverhalten, belastende physiologische Symptome und sozial ängstliche Kognitionen. Die soziale Phobie muss von normalem sozialem Unbehagen und Schüchternheit ebenso wie von Ungeselligkeit abgegrenzt werden. Es ist wichtig, Fremdeinschätzungen zur Ausprägung der sozialen Kompetenz des Kindes einzuholen. Bei den Eltern sollte erfragt werden, wie sie mit eigenen Ängsten umgehen, welche Angstbewältigungsstrategien sie entwickelt haben und wie sie mit den Ängsten ihres Kindes umgehen. Das »Sozialphobie und -angstinventar für Kinder« (SPAIK) und die deutsche Version des »Social Anxiety Inventory for Children Revised« (SASC-R-D) sind störungsspezifische Selbstbeschreibungsbögen zur Erfassung verschiedener Aspekte der sozialen Phobie im Kindes- und Jugendalter. Kognitionen können spezifisch mit dem »Fragebogen zur Erfassung sozial ängstlicher Kognitionen bei Kindern und Jugendlichen« (SÄKK) erfasst werden. Bei der »Liebowitz Social Anxiety Scale for Children and Adolescents« (LSAS-CA) handelt es sich um einen Fremdbeurteilungsbogen, der Angst und Vermeidung in verschiedenen sozialen Situationen erfasst.
31.5
Therapeutisches Vorgehen
31.5.1 Allgemeine Richtlinien Soziale Kompetenztrainings. In Deutschland baute die Behandlung der sozialen Phobie lange Zeit auf Trainingsprogrammen zur sozialen Kompetenz auf. Bei der Beurteilung der Wirksamkeit sozialer Kompetenztrainings stellt sich dabei die Frage, ob z. B. weniger die Vermittlung sozialer Kompetenzen als die Vermittlung positiver Selbstwirksamkeitserwartungen und die Ermutigung zur Konfrontation mit angstauslösenden Situationen bedeutsam sind. Selbst einschränkende Wirkungen sozialer Kompetenztrainings lassen sich vermuten: etwa die in sozialen Kompetenztrainings mögliche Verstärkung von Selbstaufmerksamkeit (»sich richtig verhalten«) oder die Verbindung zwischen der Erwartung von Ablehnung bei Versagen kompetenter Verhaltensweisen. Bei Kindern und Jugendlichen wird diskutiert, ob soziale Kompetenzdefizite in der Entwicklung und Aufrechterhaltung der Störung eine bedeutsamere Rolle spielen als bei erwachsenen Sozialphobikern (Rapee u. Spence 2004). Es liegen aber auch Befunde vor, die darauf hindeuten, dass soziale Kompetenzdefizite keine zentrale Rolle spielen (7 Abschn. »Verhaltensweisen« unter 7 31.2.1). Es erscheint deshalb sinnvoll, die tatsächlich vorhandenen sozialen Fertigkeiten vor Beginn einer Behandlung abzuklären und Kompetenzdefizite vor der Durchführung von Konfrontationsübungen zu bearbeiten. Ein obligatorisches soziales Kompetenztraining erscheint hingegen nicht empfehlenswert. Gruppen- vs. Einzelsetting. Das Gruppensetting wurde in
früheren Publikationen als Methode der Wahl zur Behandlung sozialer Phobien beschrieben (z. B. Hope u. Heimberg 1993). Als Vorteil wird angeführt, dass die Gruppensituation selbst als Konfrontationsübung dienen kann und die Rückmeldung der Gruppenteilnehmer hilft, dysfunktionale kognitive Annahmen zu korrigieren. Auch die Erfahrung, andere Personen mit ähnlichen Problemen kennenzulernen, kann positive Effekte haben. Ein Vorteil des Einzelsettings ist hingegen die stärkere Anpassung an die individuellen Besonderheiten des Patienten. Außerdem beteiligen sich Kinder mit sehr starken sozialen Ängsten am wenigsten in der Gruppe bzw. vermeiden die Teilnahme. Studien weisen darauf hin, dass auch im Einzelsetting vergleichbare (Scholing u. Emmelkamp 1993) oder sogar bessere (Stangier et al. 2003) Resultate erzielt werden können als im Gruppensetting. Flannery-Schroeder und Kendall (2000) überprüften, ob das »Cat-Programm« (s. unten) besser in der Gruppe als in der individuellen Situation dargeboten werden sollte. In der Studie wurden 35 ängstliche Kinder im Alter von 8–14 Jahren untersucht. Das Behandlungsprogramm wurde jedoch mit nur wenigen sozial phobischen Kindern durchgeführt. Die Kinder profitierten sowohl in der Einzel- als auch in der Gruppensituation von der Be-
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544
Kapitel 31 · Soziale Phobie
handlung. Manassis et al. (2002) überprüften in einer neueren Studie ebenfalls, ob eine Variante des Cat-Programms (»Coping Bear Workbook«) größere Effekte im Gruppenoder im Einzelsetting liefert. 78 Kinder mit unterschiedlichen Angststörungen im Alter von 8–12 Jahren wurden zufällig einer Gruppen- oder Einzeltherapie zugewiesen. Beide Behandlungsbedingungen zeigten Erfolge. Eine Untergruppe von Kindern mit sehr stark ausgeprägten sozialen Ängsten schien jedoch stärker vom Einzelsetting zu profitieren. Die Wirksamkeit der australischen Variante des Programms, »Coping Koala« (Barrett et al. 1996), wurde auch als Gruppenversion überprüft (Barrett 1998; 2001) und erwies sich ebenfalls als erfolgversprechend. Wiederum waren es jedoch nur 4 der 60 untersuchten Kinder, die an einer sozialen Phobie litten, so dass auch hier keine Aussage zur Wirksamkeit bei sozial ängstlichen Kindern möglich ist. Barrett et al. (2001) bestätigten diese Befunde auch in einer Follow-up-Untersuchung nach 6 Jahren. Bedeutsamkeit der kognitiven Aspekte in der Behandlung der sozialen Angststörung bei Kindern. Experimentelle
Studien bei Kindern mit sozialer Angststörung belegen, dass kognitive Prozesse auch bei Kindern mit sozialer Angststörung von Bedeutung sind (7 Abschn. »Kognitionen« unter 7 31.2.1). Dies legt die Vermutung nahe, dass eine stärkere Einbeziehung kognitiver Prozesse zu einer verbesserten Wirksamkeit der Expositionsbehandlung führen kann. So könnte etwa ein Aufmerksamkeitstraining zur Externalisierung der Aufmerksamkeit und ihre Lenkung auf aufgabenspezifische Aspekte zu einer Reduktion der sozialen Angst führen (McManus et al. 2000).
31
Einbezug der Eltern bzw. anderer Bezugspersonen. Bei Kindern im Alter von 7–10 Jahren ist der Einbezug der Eltern in die Therapie empfehlenswert. Die australische Variante des Cat-Programms, das »Coping Koala Program« von Barrett und Mitarbeitern (Barrett et al. 1996), beinhaltet die gleichen Elemente wie das Cat in Kombination mit einem Familienangstmanagementtraining. Die Hinzunahme des Familienangstmanagementtrainings verbesserte die Wirksamkeit der Ergebnisse. In der Studie wurden 79 Kinder im Alter von 7–14 Jahren zufällig dem Programm mit und ohne Familienangstmanagement und einer Wartekontrollgruppe zugewiesen. Im Familienangstmanagement wurden beide Elternteile angesprochen. Es ging um Verstärkung und Kontingenzmanagement, Vermittlung von Copingverhalten im Umgang mit eigenen Emotionen, Kommunikations- und Problemlösestrategien. 61,5% der behandelten Kinder waren nach Behandlungsende diagnosefrei. Die Befunde ließen sich auch nach 6 und 12 Monaten bestätigen. Es zeigte sich weiterhin, dass insbesondere jüngere Kinder im Alter von 7–10 Jahren von der Hinzunahme des Familienangstmanagements profitierten. Spence et al. (1999) untersuchten die Wirksamkeit einer kognitiven Verhaltenstherapie, die ein soziales Kompetenztraining beinhaltete,
mit und ohne Beteiligung der Eltern. 50 sozial phobische Kinder im Alter von 7–14 Jahren wurden untersucht. Es zeigte sich die Tendenz, dass sich bessere Ergebnisse mit Beteiligung der Eltern erzielen lassen. Vorbereitung der Übungen. Die Entscheidung für oder gegen eine Konfrontationsbehandlung sollte von den Eltern und »möglichst auch vom Kind« (Schneider u. In-Albon 2004) vorliegen. Bei erwachsenen Sozialphobikern wird im Unterschied zur Behandlung der Agoraphobie empfohlen, nicht mit der Situation anzufangen, die am stärksten angstauslösend ist, sondern mit einer Situation, die ein mittleres Maß an Angst auslöst. Bei Kindern ist es auch aufgrund der ungeklärten Forschungslage sinnvoll, zunächst mit leicht angstauslösenden Situationen zu beginnen. Bei der Auslösung von sehr starken Angstreaktionen kann es sein, dass es dieses Erlebnis nicht im Sinn des Habituationsmodells oder einer kognitiven Umbewertung verarbeitet. Es kann sein, dass das Kind sich nicht daran erinnert, dass die Angst über die Zeit abnahm, sondern nur daran, dass die Situation »schrecklich« war und es nie wieder in eine ähnliche Situation geraten will (Schneider 2004). Auch sollten zu Beginn Übungen durchgeführt werden, die vom Therapeuten gut kontrollierbar sind. ! Ziel ist es, dem Patienten die Wirkweise der Übungen überzeugend zu verdeutlichen. Bei Kindern ist eine sehr intensive Vorbereitung auf die Konfrontationsübungen, z. B. mittels Rollenspielen oder stellvertretenden Rollenspielen, wichtig.
Rollenspiele sind dabei gespielte Situationen, die eine Annäherung an die Realität darstellen, ersetzen aber nicht die reale Situation (Fehm u. Margraf 2005). Der Abbau von Sicherheitsverhalten und einer erhöhten Selbstaufmerksamkeit gehören dabei zu den Vorbereitungen auf die Konfrontationsübungen. Durchführung der Übungen. Ziel aus behavioraler Perspektive ist die Habituation, die den Rückgang von Angstreaktionen bewirken soll, und aus kognitiver Perspektive die Veränderung der Wahrnehmung und Bewertung sozialer Situationen. In einer lerntheoretisch orientierten Sichtweise werden die Kinder somit angeregt, so lange die Übungen durchzuführen bzw. sie zu wiederholen, bis ein merklicher Rückgang der Angstsymptomatik erreicht wurde. ! Nach kognitiver Sichtweise ist der Abgleich der Befürchtungen vor der Situation mit dem tatsächlichen Verlauf entscheidend.
Wesentlich für den Erfolg eines »Verhaltensexperimentes« ist also die Erfassung der Befürchtungen des Kindes und wie ein Erfolg der Übung für das Kind aussehen würde. Die Aufgabe des Therapeuten während der Übung besteht darin, die Aufmerksamkeit des Kindes auf die aktuelle Situati-
545 31.5 · Therapeutisches Vorgehen
on zu lenken und darauf zu achten, dass es Sicherheitsverhaltensweisen unterlässt. Konfrontation in sensu. Bei Situationen, die im Alltag nur
selten auftreten oder bei denen Zwischenschritte für Übungen notwendig sind, sind Konfrontationen in sensu hilfreich. Eine Schwierigkeit besteht hierbei jedoch bei der Antizipation eines Ablaufs von sozialen Situationen. Bei Prüfungsängsten zeigt die systematische Desensibilisierung gute Erfolge. Allerdings ist die Metabotschaft der systematischen Desensibilisierung eine andere als bei der Konfrontation (Fehm u. Margraf 2005). Mittelpunktsübungen. Bei Mittelpunktsübungen (Wlazlo 1995) besteht das Ziel darin zu lernen, dass man im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Beispiele für Mittelpunktsübungen sind, jemandem etwas laut zuzurufen, für andere hörbar ein Gespräch zu führen u. Ä. Das Ausbleiben von (negativen) Reaktionen führt dabei zur Angstreduktion. Eine Steigerung dieser Mittelpunktsübungen sind Übungen, die eindeutige Reaktionen provozieren: lachen, umschauen, hindeuten, abschätzig schauen etc. Die Angstreduktion erfolgt durch die Habituation auf physiologischer und emotionaler Ebene und die kognitive Umbewertung, dass negative Reaktionen keine katastrophalen Folgen haben müssen. »Shame attack«. Eine weitere Variante in der Behandlung sozialer Ängste stellen »shame attacks« dar. Ein bekanntes Beispiel dafür ist, ein lautes Gespräch mit einer an einer Leine befestigten Banane als vermeintlichem Hund Fifi in einer Fußgängerzone zu führen. Bislang gibt es allerdings keine empirischen Befunde zum praktischen Nutzen von Shame attacks, weder bei Erwachsenen noch bei Kindern. Die Übungen zielen darauf ab, ein Höchstmaß an Peinlichkeit zu erzeugen. Der Patient soll die antizipierten Reaktionen auf das auffällige Verhalten überprüfen. Ziel ist es also nicht, den Patienten bloßzustellen oder sich an Peinlichkeit zu »gewöhnen«. Wichtig ist vor allem die Auseinandersetzung mit dem Thema Peinlichkeit, etwa die Frage, ob man ein Leben führen kann, ohne sich je einer peinlichen Situation auszusetzen (Fehm u. Margraf 2005). Mit Kindern liegen kaum klinische Erfahrungen mit dieser Methode vor. ! Es besteht aber die Gefahr, dass Kinder, ähnlich wie bei sehr starken Angstreaktionen während Konfrontationsübungen, Shame-attack-Übungen nicht im Sinne der Auseinandersetzung mit Peinlichkeit verarbeiten, sondern empfindlicher statt unempfindlicher gegenüber peinlichen Situationen werden könnten.
Die Gefahr einer Traumatisierung durch nachträgliche Umbewertung könnte bei Kindern also größer sein. Der Kritikpunkt, dass Shame attacks sehr weit von der Realität entfernt sind, was die Übertragung auf den Alltag schwierig macht, trifft hingegen zwar für die Übungssituation zu, nicht aber für das Gefühl der Peinlichkeit (Fehm u. Margraf 2005).
31.5.2 Kognitiv-behaviorale Ansätze
In der therapeutischen Behandlung sozialängstlicher Kinder und Jugendlicher haben drei Programme stärkere Aufmerksamkeit erlangt: 4 »Coping cat child behavior therapy« (CAT; Kendall 1994; Kendall et al.1997; veränderte Versionen: Barrett et al. 1996; Flannery-Schroeder u. Kendall 2000; Silverman et al. 1999), 4 »Cognitive-behavioral group therapy for social anxiety disorder in adolescents« (CBGT-A; Albano et al. 1991, unveröffentlichtes Manuskript; Hayward et al. 2000) und 4 »Social-effectiveness therapy for children« (SET-C; Beidel et al. 1996, unveröffentlichtes Manuskript).
Coping cat child behavior therapy Kendall (1994) entwickelte ein Programm, genannt »Coping Cat Program« (Cat), das verschiedene Verfahren allgemein zur Angstbehandlung beinhaltet: a) Psychoedukation, bei der die drei zentralen Komponenten der Angst (die somatische, die kognitive und die Verhaltenskomponente) vermittelt werden, b) die Modifikation negativer Kognitionen, c) Expositionen, d) Training sozialer Kompetenzen, e) Copingverhalten im Umgang mit Angst und f) Selbstverstärkung. Verschiedene Autoren übernahmen das Programm und führten nur leichte Abwandlungen ein.
Cognitive-Behavioral Group Therapy for Social Anxiety Disorder in Adolescents (CBGT-A) Ein spezifisches Programm zur Behandlung der sozialen Phobie im Jugendalter wurde von Albano und Mitarbeitern entwickelt (1991, unveröffentlichtes Manuskript; Marten et al. 1991, unveröffentlichtes Manuskript; deutsche Bearbeitung: Joormann u. Unnewehr 2003). Sie bearbeiteten das »Cognitive Behavioral Group Treatment« (CBGT) von Heimberg und Mitarbeitern (1990) für Jugendliche. Es wurde für Gruppen von 4–6 Jugendlichen im Alter von 13–17 Jahren entwickelt. Die Behandlung umfasst 16 Sitzungen. Die erste Phase vermittelt Informationen über die soziale Phobie, beinhaltet eine kognitive Umstrukturierung und führt ein soziales Kompetenztraining durch. Die zweite Phase schließt Invivo-Expositionen und praktische Übungen mit ein.
Social Effectiveness Therapy for Children (SET-C) Das Gruppenprogramm »Social Effectiveness Therapy for Children«, das von Beidel und Mitarbeitern (Beidel et al. 1996, unveröffentlichtes Manuskript) entwickelt wurde, legt seinen Schwerpunkt auf die Expositionsbehandlung kombiniert mit einem sozialen Kompetenztraining, verzichtet jedoch auf kognitive Interventionen. Im Unterschied zu anderen Programmen beinhaltet es eine »Peer-Kompo-
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Kapitel 31 · Soziale Phobie
nente«, bei der die Patienten zusammen mit sozial kompetenten Gleichaltrigen Erlerntes in sozialen Situationen festigen. Es ist ein 12-wöchiges Programm, das 8- bis 12-jährige Kinder behandelt.
Behandlungsprogramme für den deutschen Sprachraum Für den deutschen Sprachraum gibt es bislang zum einen Trainings zur sozialen Kompetenz bei sozial ängstlichen Kindern (Lübben u. Pfingsten 1995; Petermann u. Petermann 1996; Ahrens-Eipper u. Leplow 2003), zum anderen liegt von Joormann und Unnewehr (2003) eine deutsche Übersetzung des Behandlungsprogramms von Albano (1991; Marten et al. 1991, unveröffentlichtes Manuskript) vor, das jedoch auf die Behandlung von Jugendlichen, nicht von Kindern abzielt. Weiteren Studien lag das Cat-Programm von Kendall zugrunde.
Kognitiv-behaviorales Behandlungsprogramm zur Therapie sozialer Ängste bei Kindern (Melfsen et al., in Vorbereitung) Den kognitiven Interventionen wird in der bisher veröffentlichten Literatur zur Behandlung sozial phobischer Kinder entweder kein Stellenwert eingeräumt (vgl. z. B. Beidel et al. 1996, unveröffentlichtes Manuskript), oder die Autoren beschränken sich auf verbale Interventionen zur kognitiven Umstrukturierung (Albano et al. 1991, unveröffentlichtes Manuskript; Kendall 1994). Ein wichtiges Ziel des hier dargestellten Behandlungsprogramms, einem kognitiv-behavioralen Behandlungsprogramm zur Therapie sozialer Ängste bei Kindern (Melfsen et al., in Vorbereitung), war dementsprechend die intensive Bearbeitung von Informationsverarbeitungsprozessen und kognitiver Umstrukturierung.
Kognitiv-behaviorales Behandlungsprogramm zur Therapie sozialer Ängste bei Kindern (Melfsen et al., in Vorbereitung)
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4 Psychoedukation: – Hinführung zum Thema »Normalisierung von Ängsten« und »Angstbewältigung« – Hinführung zum Thema »soziale Ängste« – Therapieziele erarbeiten – Strategien zum Umgang mit Angst aus dem Angstkreis ableiten – Strategien zum Umgang mit Angst, Sicherheitsverhalten und Vermeidung 4 Kognitive Umstrukturierung: – Erfassung und Kategorisierung von Gedanken – Umwandlung von Angst machenden in Mut machende Gedanken – Nachträgliche Umbewertung von sozialen Situationen
Das Manual »Kognitiv-behaviorales Behandlungsprogramm zur Therapie sozialer Ängste bei Kindern« ist für Kinder im Alter von 9–12 Jahren entwickelt worden und wird im Einzelsetting durchgeführt. Kinder dieser Altersstufen unterscheiden sich jedoch sehr stark in ihren kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Bei den Materialien und Vorgehensweisen wird deshalb individuell abgewogen, welches Material für das betreffende Kind entwicklungsangemessen (z. B. durch Materialien gleichen Inhalts, aber mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad) und relevant ist (z. B. ob die Hinzunahme von Sitzungen zur Vermittlung sozialer Kompetenzen erforderlich ist). In regelmäßig stattfindenden Sitzungen wird die Familie in die Therapie einbezogen. Kindgerechte Gestaltung. Ein wichtiges Anliegen bei der Entwicklung des Therapiematerials bestand in seiner kind-
4 Verhaltensexperimente – Vorbereitung der Verhaltensexperimente, um die Schwelle für die In-vivo-Verhaltensexperimente zu senken und mögliche Hindernisse vorweg zu besprechen – Aufmerksamkeitstraining – Verhaltensexperiment in vivo 5 Notfallkoffer und Erinnerungskiste – Vorbereitung auf möglicherweise wieder stärker werdende Ängste 4 Booster-Session – Fragen zum Verlauf der letzten Monate, Besprechung schwieriger Situationen
gerechten Gestaltung, z. B. durch Spiele zur Angstbewältigung wie dem Spiel »Angstopoly«, durch ein Expertenquiz, bei dem bereits vermittelte Inhalte in Anlehnung an Fernsehquizshows spielerisch wiederholt werden, durch ein Angstbewältigungslied zur Ermutigung oder Kreuzworträtsel als Basis für Gespräche.
Die Therapiezielvereinbarung dient zum einen dazu, dem Kind nochmals seine Kontrolle in der Therapie zu verdeutlichen: Es bestimmt, was erreicht werden kann und soll. Die Therapiezielvereinbarung dient auch der Motivierung. Zum anderen sollen aber auch falsche Erwartungen an eine Therapie reduziert werden, so dass dem Kind mögliche Enttäuschungen erspart bleiben. 6
547 31.5 · Therapeutisches Vorgehen
Als indirekter Hinweis auf Therapieziele kann die Wunderfrage (Vogt-Hillmann 1999) gestellt werden: 4 »Stell dir vor, dass dich heute Nacht eine Fee oder ein Zauberer besucht. Du wachst morgens auf und alle Ängste sind weg. Was wäre dann? Was würdest du machen?« 4 »Woran erkennst du, wenn über Nacht ein Wunder geschieht, durch eine Fee oder einen Zauberer, und sich all deine Ängste aufgelöst haben?« 4 »Was ist das erste, was andere (Eltern, Lehrer) dann bemerken würden, das anders ist als sonst?« 4 »Gab es schon mal so ein bisschen was von einem Wunder?«
Eine Froschhandpuppe begleitet durch das Training als Modell und Identifikationsfigur: Sie soll sich mit dem Patienten solidarisieren und Ängste relativieren. Der Frosch dient als Eisbrecher, denn vielen Kindern fällt es leichter, einer Handpuppe zu antworten als einem Therapeuten. Im
Gegensatz zu anderen Programmen wurde keine Identifikationsfigur wie ein Tiger (z. B. »Mutig werden mit Till Tiger« von Ahrens-Eipper u. Leplow 2004) oder Löwe (z. B. »Präventionsprogramm Löwenherz« von Aures et al. 2006) ausgewählt, da solche Tiere zumeist zu weit entfernt vom Selbsterleben sozial ängstlicher Kinder sind, denen es leichter fällt, sich mit ruhigeren, schwächeren Tieren zu identifizieren. Um dem Kind das Entwicklungspotenzial auch eines Frosches zu verdeutlichen, werden in einer therapeutischen Geschichte, die den Rahmen einer jeden Therapiesitzung bildet, die Qualitäten eines Mädchens bzw. Jungen mit dem Nachnamen »Frosch« herausgestellt. Ein wichtiges Ziel bei der therapeutischen Geschichte ist es, dass der Patient einen Bezug zu sich selbst herstellen kann. Deshalb sollen persönliche Parameter des Kindes, wie seine bevorzugten Tätigkeiten, angenehme Erlebnisse, Lieblingsfarben etc. integriert werden. Auch für die Gestaltung eines Helferwesens sollte ein Lieblingstier oder -wesen oder ein Symbol gewählt werden, das für das Kind Schutz bedeutet. Diese Attribute, die einen Bezug zum Kind herstellen sollen, sollen in jeder Erzählung eingefügt werden.
Beispiel Therapiegeschichte (Mädchenversion): Die erste Exposition Teil 1 (Beginn der Therapiestunde): Das Schlimmste war gar nicht der rote Punkt, den sie auf ihre Nase malen musste, stellte X erstaunt fest. Das Schlimmste war die Aufgabe, nicht wie gewohnt mit schnellem Schritt an jedem vorbei zu huschen, sondern langsam und aufrecht vorbeizugehen und den Leuten dabei ins Gesicht zu sehen. Die Therapeutin wartete am unteren Ende der Straße auf sie und verlangte eine genaue Personenbeschreibung von mindestens fünf Personen. Betont langsam ging X also los, schweren Herzens, sie konnte sich wahrlich eine schönere Nachmittagsbeschäftigung vorstellen. Ihr Herz pochte, und ihre Hände waren nass vor Aufregung. Sie wusste, das ist das Angstmonster, das auf sie lauerte. X hatte vor allem Angst, dass sie einen Mitschüler treffen könnte. Und sie war über sich selbst erstaunt, dass sie dennoch losging. Eigentlich eine alberne Aufgabe, dachte X, mit einem roten Punkt auf der Nase die Straße entlanglaufen, um zu überprüfen, wie die Leute reagieren würden. Sie drückte ihren Glücksstein in der Hosentasche ganz fest. Anfangs fiel es ihr sehr schwer, den Blick nicht mehr auf die Füße, sondern nach oben zu richten. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihr Blick sich gen Boden senkte. Sie war es auch nicht gewohnt, so langsam zu laufen. Immer wieder wollten ihr ihre Beine davonrennen. Und es fiel ihr noch schwerer, nicht auf ihr Angstmonster zu hören, sondern sich auf die Leute um sie herum zu
konzentrieren. Wie soll man sich auf die Leute konzentrieren, wenn einem das Herz bis zum Halse pocht? Aber es schien doch zu gehen. Und es war erstaunlich, was sie dabei alles beobachten konnte. Die meisten Leute schienen zum Beispiel gar nicht auf sie zu achten, die meisten eilten vorbei. Nur ein Mädchen, etwas jünger als X selbst, lachte über das ganze Gesicht und rief: »Hey, du hast was auf der Nase!« Und X wunderte sich noch mehr über sich selbst, als sie sich ruhig sagen hörte »Danke, ich weiß.« Sonst schien niemand auch nur die geringste Notiz von ihr und ihrem roten Punkt auf der Nase zu nehmen. → X hat von ihrer ersten Übung berichtet. Was wird deine erste Übung sein? → Welchen Glücksbringer kannst du drücken, bevor du gegen dein Angstmonster ankämpfst? Teil 2 (Ende der Therapiestunde): X war sehr stolz auf sich. Ihre Therapeutin hatte sie gelobt: Nicht jeder würde sich trauen, mit einem roten Punkt auf der Nase durch die Stadt zu laufen! Noch glücklicher machte es sie, dass ihr Angstmonster zum ersten Mal verloren hatte! Tja, mein liebes Angstmonster, dachte X, jetzt brechen härtere Zeiten für dich an! → Glaubst du, dass sich das Angstmonster so einfach geschlagen gibt? Beim nächsten Mal werden wir es erfahren!
31
548
Kapitel 31 · Soziale Phobie
Die Angstphänomene werden als externe Phänomene dargestellt, da den Kindern die Bewältigung ihrer Angst so leichter fällt. Für diesen Zweck wurde das »Angstmonster« gewählt. Es werden nicht wie in einem sozialen Kompetenztraining Themen vorgegeben, sondern nur die Situationen geübt, die dem Kind schwer fallen. Verhaltensexperimente. Wie bei Expositionen verlangen Verhaltensexperimente vom Patienten, sich mit angstauslösenden Situationen zu konfrontieren. ! Anders als bei Expositionen ist das Ziel von Verhaltensexperimenten aber nicht die Habituation, sondern die Überprüfung von Überzeugungen. Sie zielen darauf ab, Gedanken als Hypothesen zu behandeln und zu überprüfen, ob sie realistische Bewertungen darstellen. Die Bearbeitung von kognitiven Verzerrungen erfolgt dabei implizit.
In der Konfrontationsbehandlung wird zunächst mit leicht angstauslösenden Situationen begonnen. Zu Beginn werden Übungen durchgeführt, die vom Therapeuten gut kontrollierbar sind. Ziel ist es, dem Kind die Wirkweise der Übungen überzeugend zu verdeutlichen. Eine sehr intensive Vorbereitung auf die Konfrontationsübungen, z. B. mittels Rollenspielen oder stellvertretenden Rollenspielen, ist wichtig. Ängstliche Kinder ziehen vorhersehbare den unkontrollierbaren Behandlungen vor. Graduierte Behandlungen beinhalten wöchentlich stattfindende Sitzungen, in denen das Kind Kontrolle über die Zielsetzung hat. Obwohl das intensive Vorgehen sehr wirkungsvoll ist, tolerieren Kinder diese graduierte Behandlung besser, zumal ihre Motivationslage zumeist eine andere ist als bei Erwachsenen: Sie werden meistens auf Wunsch ihrer Eltern, nicht auf eigenen Wunsch, eine Therapie machen.
Beipiel Verhaltensexperiment
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Viele sozial ängstliche Kinder befürchten, sich töricht oder albern zu verhalten. In einigen Verhaltensexperimenten ermutigen wir sie deshalb dazu, sich absichtlich albern zu verhalten. Kind: Ich möchte nicht mit den Armen rudernd und auf einem Bein hüpfend an der Bushaltestelle warten! Therapeutin: Was befürchtest Du, wird passieren? Kind: Die anderen werden denken, dass ich verrückt bin. Therapeutin: Woran merkst Du das? Kind: Sie werden Bemerkungen machen, lachen und tuscheln … und mich komisch angucken. Therapeut: Könntest Du das aushalten? Kind: (verzieht das Gesicht, schüttelt den Kopf ) Therapeutin: Bist Du bereit, es auszuprobieren? Kind: (verzieht das Gesicht und zuckt mit den Schultern)
Aufmerksamkeitstraining. Bei Bedarf wird ein Aufmerksamkeitstraining durchgeführt, das darauf abzielt, die Aufmerksamkeit auf die Aufgaben (»nach außen«) zu lenken. Das Training umfasst verschiedene Übungen, die zwei Phasen zugeordnet sind: 4 akustische Übungen, z. B. zunächst ohne Blickkontakt einem Gespräch folgen, Konzentration auf sich selbst, später Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die Aufgabe, 4 Sprechübungen.
Therapeutin: Kind:
Was könnte es dir erleichtern? Wenn es nicht die Bushaltestelle vor dem Haus wäre, wo ich immer auf meinen Bus warten muss. Therapeutin: Einverstanden. Bist Du dann bereit? Kind: (nickt zögernd) Therapeutin: Also los! Kind hüpft an der Bushaltestelle und rudert mit dem Armen, zunächst vorsichtig, dann deutlicher. Therapeutin: Wie war es für dich? Kind: Hm, das hat schon ziemlich blöd ausgesehen! Therapeutin: Wie haben die anderen reagiert? Kind: Eigentlich kaum, sie haben vor sich hingestarrt, eine hat die Augenbrauen gerunzelt. Therapeutin: Konntest du das aushalten? Kind: Zuerst war es schon ganz schön peinlich, dann aber ging’s.
Zunächst soll die Aufmerksamkeit selektiv auf sich selbst gerichtet werden, später wird sie auf die Aufgabe oder soziale Situation verlagert. Diese Trainingsübungen finden zunächst in nicht bedrohlichen Situationen, später in sozial bedrohlichen Situationen statt.
549 31.6 · Fallbeispiel
Beispiel Kognitive Interventionen 4 Stellvertretendes Rollenspiel zum Einfluss von Mut machenden und Angst machenden Gedanken mit Hilfe von Handpuppen, die den Patienten und sein Angstmonster verkörpern. Sobald sich das Kind aufgerafft hat, eine soziale Situation in Angriff zu nehmen, kommt das Angstmonster und flüstert ihm schreckliche Gedanken ein. 4 Das Kind soll Karten mit hilfreichen und nicht hilfreichen Gedanken einander zuordnen, z. B. »Alle Leute machen Fehler« vs. »Nur ich mache das immer falsch«. 4 Das Kind soll auf noch leeren Karten eigene Gedanken und ihr Pendant aufschreiben. Damit werden die Gedankenkarten weiter ergänzt, z. B. »Jedes Mal
Hausaufgaben. Hausaufgaben sind wesentlicher Bestandteil der Therapie zur Generalisierung und Festigung des Erlernten. Wichtig ist, dass das Kind lernt, dass die Übungen sich nicht auf das therapeutische Setting beschränken, sondern Hilfe zur Selbsthilfe geben. Hierzu zählen Selbstbeobachtungen, Lesen von therapeutischen Geschichten, Verhaltensexperimente etc. > Fazit Therapieprogramme sind vor allem im englischsprachigen Raum entwickelt worden: die »Social Effectiveness Therapy for Children (SET-C)« von Beidel et al. (1996, unveröffentlichtes Manuskript), das »Cognitive Behavioral Group Treatment for Adolescents (CBGT-A)« von Albano et al. (1991, unveröffentlichtes Manuskript) oder das »Coping Cat Program (Cat)« von Kendall (1994). Deutsche Programme sind entweder Übersetzungen von englischsprachigen Programmen (z. B. Joormann u. Unnewehr 2003) oder aber Programme, die ihren Schwerpunkt auf die Vermittlung sozialer Kompetenzen legen (z. B. Lübben u. Pfingsten 1995; Petermann u. Petermann 1996; AhrensEipper u. Leplow 2003). Eine individuelle Erfassung und Bearbeitung von sozialen Fertigkeitsdefiziten vor Durchführung von Konfrontationsübungen anstelle eines obligatorischen sozialen Kompetenztrainings erscheint sinnvoll. Zur Einschätzung der sozialen Kompetenz ist die Fremdeinschätzung von großer Bedeutung. Einzel- und Gruppensetting erzielen mindestens vergleichbare Resultate. Bei stark ausgeprägten sozialen Ängsten ist die Behandlung im Einzelsetting vorzuziehen. Besonderheiten in kognitiven Prozessen bei sozial phobischen Kindern weisen auf die Bedeutung von spezifischen kognitiven Interventionen hin wie etwa einem Aufmerksamkeitstraining zur Lenkung der Aufmerksamkeit auf aufgabenspezifische Aspekte. Zumindest bei Kindern im Alter von 7–10 Jahren ist der Einbezug der Eltern in die Therapie
wenn ich meine Angst überwinde, werde ich stärker. Ich bin stärker als meine Angst«. Anschließend wird mit den Karten Schnipp-schnapp gespielt. 4 Viele Kinder fragen sich »Was ist, wenn…«: Was ist, wenn die anderen sich über mich lustig machen? Was ist, wenn ich es nicht schaffe? Was ist, wenn… Wenn man diesem Gedanken zuhört, wird die Angst stärker und schlimmer. Deshalb muss man lernen, diesem Gedanken etwas zu erwidern, z. B. Stimmt das wirklich? Wie sicher bin ich, dass das, was ich befürchte, wirklich eintritt? Was kann ich stattdessen denken? Bei älteren Kindern bietet sich auch der sokratische Dialog an. 4 Einsetzen von Comics, bei denen Mut machende Gedanken formuliert werden müssen.
empfehlenswert. Umfassende Vorbereitungen der Konfrontationsübungen sollten auch das Sicherheitsverhalten einschließen. Sicherheitsverhaltensweisen sind Strategien, die darauf abzielen, innerhalb der gefürchteten Situation Angst zu verringern oder die soziale Bedrohung abzuwehren.
31.6
Fallbeispiel
Die 11-jährige F. ging ungern zur Schule, am liebsten wäre sie überhaupt nicht mehr hingegangen, aber sie wollte nicht ohne Schulabschluss dastehen. Pünktlich mit dem Klingeln erschien sie, das half, so wenig wie möglich aufzufallen. So musste sie nicht zusammen mit anderen Klassenkameraden endlose Minuten verbringen, immer in der Furcht, durch ihr Schweigen und einsames Dasitzen, das sie durch intensives Studieren irgendwelcher Schriftstücke zu verbergen suchte, negativ aufzufallen. Sie saß ganz am Rand des Klassenraumes, in der vorletzten Reihe, die Tür war in der Nähe, und der Lehrer war so weit entfernt wie möglich. Hinter langen Haaren verbarg sie ihr Gesicht. Am liebsten blickte sie auf den Boden, der direkte Blickkontakt erforderte viel Anstrengung. Wenn es ihr denn einmal nicht gelungen war, sich unsichtbar zu machen, und der Lehrer sie aufgerufen hatte, waren ihre Antworten kaum hörbar. Bei Gesprächsrunden, in denen jeder etwas beitragen sollte, stieg bei F. die Angst, den Einsatz zu verpassen und dass die Stimme weg bleibt. Sie sprach in möglichst kurzen Sätzen, die sie vorbereitete und in Gedanken ständig wiederholte. Damit stieg tatsächlich die Gefahr, ihren Einsatz zu verpassen. Während der Schulpausen, die schlimmer noch als der Unterricht waren, lehnte F. steif an der Schulhofmauer und sah starr vor sich auf den Boden. Nach der letzten Schulstunde verließ sie das Gebäude wieder, so schnell sie konnte. Sie war überzeugt, dass nie-
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Kapitel 31 · Soziale Phobie
mand sie mögen konnte, so wie sie sich verhielt. Jeder sähe ihr die Angst an, ihr rotes Gesicht, das Zittern der Hände, wenn sie an die Tafel musste, die krakelige Schrift, die zudem für jedermann ersichtlich blieb bis zum Ende der Schulstunde. Und all das an einem ganz normalen Schultag, so wie sie fünfmal pro Woche vorkamen. Um wie viel schlimmer waren die Tage, an denen noch Geburtstagseinladungen o. Ä. hinzukamen. Nachdem sie sich tagelang mit der Vorstellung, sich zu blamieren, gequält hatte, sah sie meistens keine andere Möglichkeit, als kurz vorher den Termin abzusagen. Nachmittags atmete sie meist auf, doch nur für kurze Zeit, denn den Hauptteil des Nachmittags verbrachte sie damit, sich für die Schule vorzubereiten, und das immer mit der Furcht, trotz sehr guter Leistungen nicht gut genug zu sein, durch die Prüfungen durchzufallen. In der Therapie wurden eine Vielzahl an Übungen und Verhaltensexperimenten durchgeführt, etwa zur Furcht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, zur Furcht vor der Sichtbarkeit körperlicher Symptome, zum Umgang mit Ablehnung durch Mitschüler und zum Umgang mit Prüfungsangst. Beim Umgang mit körperlichen Symptomen ging es weniger um die Diskussion, wie deutlich sichtbar die Symptomatik nun tatsächlich ist, sondern um die befürchteten Konsequenzen dieser Sichtbarkeit körperlicher Symptome. F. befürchtete z. B.. dass sie wegen ihrer körperlichen Symptome als »komisch« und »nicht ernst zu nehmen« bei ihren Mitschülern angesehen werden könnte. Das Erröten wurde durch körperliche Anstrengung vor einer Gesprächssituation herbeigeführt und der Gesprächspartner gebeten, nach Gesprächsende eine Einschätzung über F. abzugeben. Außerdem wurden Entspannungsverfahren eingesetzt, um die erhöhte Erregung zu verringern. Bei der Furcht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, wurden vorrangig Mittelpunktsübungen durchgeführt, bei denen negative Reaktionen ausblieben, z. B. lautes Zurufen über die Straße. In einem weiteren Schritt wurden negative Reaktionen wie ein Lachen provoziert, indem F. z. B. mit einem roten Punkt auf der Nase eine Straße entlang lief und die Reaktionen der Passanten beobachtete. Ihre zuvor genannte Befürchtung lautete »Ich werde für bescheuert gehalten«. Nach Ende des Experimentes korrigierte sie, dass die wenigen Passanten, die den roten Punkt überhaupt bemerkt hätten, kaum reagiert hätten, nur einer habe ein belustigtes Lächeln gezeigt. Weitere Übungen betrafen etwa das Sprechen vor der Klasse und das Schreiben an der Tafel. Auch beim Umgang mit Ablehnung durch Mitschüler ging es primär weniger um die Diskussion, ob Mitschüler sie tatsächlich ablehnten, sondern um die Konsequenzen. In Rollenspielen wurden Situationen geübt, in denen F. vom Gesprächspartner abgelehnt wurde. In weiteren Rollenspielen wurde F. nicht darüber informiert, ob ihr Gesprächspartner sie ablehnen würde oder nicht. Übungen verschiedener konfrontativer Situationen wurden in der Schule
selbst durchgeführt, in denen F. trotz der Angst vor Ablehnung versuchen sollte, in Kontakt zu kommen.
31.7
Empirische Belege
Bislang sind nur wenige empirische Studien zur Behandlung der sozialen Angststörung im Kindes- und Jugendalter veröffentlicht worden. Die bisher vorliegenden Studien beschäftigen sich fast ausschließlich mit der kognitiv-behavioralen Therapie. Es gibt zwar einzelne Berichte über die psychodynamische Psychotherapie bei sozial ängstlichen Kindern (z. B. Fonagy u. Target 1994, Trautman 1986), deren Effektivität wurde bislang jedoch nicht evaluiert. Eine Metaanalyse zu kognitiv-behavioralen Interventionen der sozialen Phobie im Kindes- und Jugendalter (Kremberg u. Mitte 2005), die auf neun Psychotherapiestudien basiert, ergab Belege zur Wirksamkeit kognitiv-behavioraler Therapieverfahren. Aussagen zu spezifischen Wirksamkeitsunterschieden behavioraler und kognitiv-behavioraler Therapien sowie zur Bedeutsamkeit der Elterninvolvierung waren auf der Basis der Befunde jedoch nicht möglich. Die ersten veröffentlichten Studien zur Behandlung sozial ängstlicher Kinder erschienen Anfang der 1980er Jahre (Christoff et al. 1985; Franco et al. 1983; Lowenstein 1983). Sie sind jedoch in ihrer Aussagekraft eingeschränkt, da weder Diagnosekriterien noch Verfahren zur Erfassung des Behandlungserfolges standardisiert waren und meistens keine zufällige Zuweisung zu einem alternativen Behandlungsprogramm oder einer Wartekontrollgruppe erfolgte. Eine der ersten kontrollierten Studien zur kognitiven Verhaltenstherapie bei Angststörungen im Kindesalter führte Kendall (1994) durch. Er berichtet eine erste Studie, bei der nach einer Behandlungszeit von 16 Wochen mit dem Coping-Cat-Programm die 27 untersuchten Kinder der Behandlungsgruppe (Alter 9–13 Jahre) signifikant weniger allgemeine Ängste und ein verbessertes Copingverhalten zeigten. Auch die Eltern schätzten sie hinsichtlich Angst, Depression und sozialer Kompetenz besser ein als die 20 Kinder der Wartekontrollgruppe. Noch nach 3,5 Jahren zeigten die behandelten Kinder eine Symptombesserung (Kendall u. Southam-Gerow 1996). Da jedoch nur neun der untersuchten Kinder soziale Ängste aufwiesen, ist unklar, ob das Programm auch für die Behandlung dieses Störungsbildes wirksam ist. Weitere Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit des Programms sind in . Tab. 31.2 aufgeführt. Bei der Überprüfung des Coping-Cat-Programms von Kendall erfasst nur eine der genannten Studien (FlannerySchroeder u. Kendall 2000) beim Wirksamkeitsnachweis spezifisch soziale Ängste. Eine weitere Einschränkung ist das breite Altersspektrum von 6–16 Jahren. Es stellt sich die Frage, inwieweit ein Behandlungsprogramm, das sowohl auf Kinder als auch auf Jugendliche ausgerichtet ist, für beide Altersgruppen vergleichbare Effektivitätsraten erzielen kann.
551 31.8 · Ausblick
. Tab. 31.2. Evaluationsstudien, die auf dem Coping-Cat-Programm basieren Autoren
Einzel/Gruppe
N
Art der Stichprobe
Alter
Alternative Behandlungsgruppe
Wartekontrollgruppe
Kendall 1994
Einzel
47
Gemische Angstgruppe
9–13
Ja
Barrett et al. 1996
Einzel
79
Gemischte Angstgruppe
7–14
Ja
Kendall et al. 1997
Einzel
27
Gemischte Angstgruppe
9–13
Ja
Silverman et al. 1999
Gruppe
56
Gemischte Angstgruppe
6–16
Ja
Flannery-Schroeder u. Kendall 2000
Gruppe und Einzel
35
Gemischte Angstgruppe
8–14
Ja
Manassis et al. 2002
Gruppe und Einzeln
78
Gemischte Angstgruppe
8–12
Ja
In einer Pilotstudie zur Gruppentherapie bei sozialer Phobie im Jugendalter »Cognitive-Behavioral Group Therapy for Social Anxiety Disorder in Adolescents« (CBGT-A; Albano et al. 1991, unveröffentlichtes Manuskript) mit fünf Jugendlichen zeigte sich eine Verringerung der sozialen Angst (Albano et al. 1996). In einer größeren Evaluationsstudie an 35 weiblichen Jugendlichen mit sozialer Angststörung (Hayward et al. 2000) zeigte sich ein kurzfristiger Effekt, der sich nach einem Jahr jedoch nicht mehr beobachten ließ. Allerdings verringerte sich durch die Behandlung der sozialen Phobie das Risiko für die Entwicklung einer depressiven Erkrankung. Es ist unklar, warum die Follow-up-Ergebnisse weniger günstig ausfallen als bei Therapiestudien mit Erwachsenen (Heimberg et al. 1990). Eine Studie zum Gruppenprogramm »Social Effectiveness Therapy for Children« (SET-C, Beidel et al. 1996, unveröffentlichtes Manuskript) an 16 Kindern mit einer sozialen Phobie erbrachte positive Ergebnisse (Beidel u. Turner 1998). In einer späteren Studie untersuchten die Autoren (Beidel et al. 2000) die Wirksamkeit ihres Behandlungsansatzes mit einer unspezifischen aktiven Intervention (»Testbusters«). 67 Kinder im Alter von 8–12 Jahren wurden zufällig einer der Behandlungsgruppen zugewiesen. Die Ergebnisse zeigen, dass 67% der Kinder der SETC-Gruppe die Kriterien einer sozialen Phobie nicht mehr erfüllten, während es in der Kontrollbedingung lediglich 5% waren. Bei den vorliegenden Behandlungsprogrammen handelt es sich im Wesentlichen um Modifikationen bereits vorliegender Programme für Erwachsene. Die Grundlagen, das Behandlungsrational und die Interventionsstrategien wurden dem Entwicklungsstand der Zielgruppe angepasst. In Anbetracht der wachsenden Literatur, die die Wirksamkeit der zugrunde liegenden Programme belegt, und der Kontinuität sozialer Ängste über die Lebensabschnitte hinweg, erscheint das Vorgehen plausibel. Es bleibt aber nachzuweisen, welche der Interventionen für Kinder und Jugendliche von größtem Nutzen sind. Kritisch erscheint, wenn die »Adaptation« lediglich in einer Vereinfachung der Sprache liegt. Eine stärkere Anpassung der Interventionen an den Entwicklungsstand und die Lebensumwelt von Kin-
dern erscheint sinnvoll. Nur wenige der veröffentlichten Therapiestudien untersuchten ausschließlich die soziale Phobie. Die meisten Studien schlossen sozial phobische Kinder in eine größere Stichprobe mit verschiedenen Angststörungen ein, ohne differenzielle Aussagen zu den unterschiedlichen Störungsbildern machen zu können. Die Evaluation des kognitiv-behavioralen Behandlungsprogramms zur Therapie sozialer Ängste bei Kindern (Melfsen et al., in Vorbereitung) ist noch nicht abgeschlossen.
31.8
Ausblick
Trotz des inzwischen gestiegenen Forschungsinteresses an der sozialen Phobie im Kindes- und Jugendalter sind viele Fragen im Bereich der Grundlagen- ebenso wie der Therapieforschung noch offen. So ist es nach wie vor empirisch nicht abgesichert, welche Besonderheiten im Erscheinungsbild der sozialen Phobie bei Kindern und Jugendlichen in Abgrenzung zu Erwachsenen zu berücksichtigen sind. Auch die Frage, inwieweit es hilfreich ist, in Abgrenzung zum Störungsbild der sozialen Phobie von einer »Störung mit sozialer Ängstlichkeit im Kindesalter« (ICD-10; F93.2) zu sprechen, muss aufgegriffen werden. Weitere reliable und valide Diagnostikinstrumente für das Kindesalter, z. B. körperliche Angstsymptome oder das Sicherheitsverhalten betreffend, sind wichtig, um Erkenntnisse zum Erscheinungsbild der sozialen Phobie, zu ihrem Verlauf etc. gewinnen zu können. Und schließlich ist die Entwicklung kindgerechter Interventionsprogramme zur Behandlung einer sozialen Phobie im Kindesalter von immenser Bedeutung. Das sind insbesondere Interventionsprogramme, die auf empirisch abgesicherten Befunden beruhen, um z. B. über die Bedeutung sozialer Kompetenztrainings oder die Berücksichtigung von Kognitionen auch bei Kindern zu entscheiden. Auch die Langzeitwirkung einer Behandlung ist wesentlich. Gerade in Anbetracht der Einschränkungen und Auswirkungen, die die soziale Phobie im Kindes- und Jugendalter mit sich bringt, sind weitere Untersuchungen von großer Bedeutung.
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Kapitel 31 · Soziale Phobie
Zusammenfassung Die soziale Phobie ist im Kindes- und Jugendalter eine der häufigsten Störungen. Sie ist durch eine dauerhafte, unangemessene Furcht vor sozialen oder Leistungssituationen gekennzeichnet. Anders als bei Erwachsenen können bei einer sozialen Phobie im Kindesalter z. B. als Indikatoren die Vermeidung von altersangemessenen sozialen Aktivitäten, fehlende Reaktionen in sozialen Situationen, Trotzreaktionen und Wutanfälle, körperliche Beschwerden, z. B. Klagen über Kopf- und Bauchschmerzen, ein Abfall in den Schulleistungen oder eine Schulverweigerung gelten. Die Diagnostik umfasst eine genaue Analyse der sozialen Ängste, belastender physiologischer Symptome, des Sicherheitsverhaltens und der Kognitionen. Wichtig ist die Abgrenzung von normalem sozialem Unbehagen und Schüchternheit sowie von Ungeselligkeit. Bei ausgeprägter sozialer Phobie ist die psychotherapeutische Behandlung im Einzelsetting vorzuziehen. Zumindest bei Kindern ist der Einbezug von Eltern wirkungsvoll. Die Vermittlung sozialer Kompetenzen sollte nur in Abhängigkeit vorausgegangener Diagnostik erfolgen. Die Konfrontationsübungen sollten umfassend vorbereitet werden, dazu zählt auch die Berücksichtigung von Sicherheitsverhaltensweisen.
Literatur Weitere Literaturangaben (insbesondere zu den in diesem Kapitel genannten Studien) können bei den Autoren angefordert werden.
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31
32
32 Selektiver Mutismus Siebke Melfsen, Andreas Warnke
32.1
Einleitung
32.2
Darstellung der Störung – 556
32.2.1 32.2.2 32.2.3 32.2.4 32.2.5
Sprachentwicklung und Sprechverhalten – 557 Komorbidität und Begleitsymptome – 557 Untergruppen – 558 Epidemiologie – 558 Störungsverlauf – 558
32.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
32.3.1 32.3.2 32.3.3 32.3.4 32.3.5
Biologische Prädisposition – 560 Sprachliches Überforderungsverhalten – 560 Migration und Bilingualität – 561 Innerfamiliäre Lernerfahrungen – 561 Außerfamiliäre Lernerfahrungen – 561
32.4
Diagnostik – 562
32.4.1 32.4.2
32.4.4 32.4.5
Untersuchungsablauf – 563 Fragebogen- und Interviewverfahren zur Erfassung mutistischen Verhaltens – 564 Erstellung einer Hierarchie von Situationen, in denen das Kind nicht spricht – 564 Abgrenzung zur Sprechangst – 564 Abgrenzung zum Autismus – 565
32.5
Therapeutisches Vorgehen
32.5.1 32.5.2
Allgemeine Richtlinien in der kognitiv-behavioralen Mutismustherapie – 565 Kognitiv-behaviorale Ansätze – 566
32.6
Fallbeispiel
32.7
Empirische Belege
32.8
Ausblick
32.4.3
– 556
– 565
– 569 – 570
– 571
Zusammenfassung – 571 Literatur
– 571
Weiterführende Literatur
– 559
– 572
556
Kapitel 32 · Selektiver Mutismus
32.1
Einleitung
In der aktuellen Literatur wird der Mutismus vermehrt den Angststörungen und der sozialen Phobie zugeordnet, obwohl es im DSM-IV unter »Andere Störungen im Kleinkindalter, in der Kindheit oder Adoleszenz« und im ICD-10 als »Störung sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend« und nicht als Angststörung eingeordnet wird. Wilkins (1985) schrieb, dass der Mutismus eine Manifestation einer zugrunde liegenden Angst oder Depression sein könnte. Alternativ wird der Mutismus auch in dem Bereich der Zwangsstörungen angesiedelt. Die Diskussion um die Klassifikation ist jedoch nicht abgeschlossen. Auch die Ansicht, dass es sich beim Mutismus vielleicht eher um ein Symptom im Rahmen anderer Störungen des Kindesalters, nicht um ein eigenständiges Störungsbild handelt, wird vertreten (Lesser-Katz 1986). Im 18. Jahrhundert war es noch geboten, sich im Kreise von Personen, die älter waren als man selbst, mit dem Reden zurückzuhalten. Mutismus wäre unter diesen Bedingungen kaum aufgefallen. Reden und Schweigen hat auch in verschiedenen Kulturen einen unterschiedlichen Stellenwert. In der westlichen Welt wird das Schweigen vorwiegend als unangenehm empfunden, als Verpflichtung, doch zumindest irgendetwas zu sagen, während es in anderen Kulturkreisen, etwa dem alten Orient, als positiv bewertet wird. Doch das Schweigen eines Mutisten hat damit nicht viel zu tun. Der Mutismus ist ein Störungsbild, mit dem so Unterschiedliches wie Angst und Hilflosigkeit, Trotz und Opposition, Macht und Kontrolle verbunden werden.
32.2
32
Darstellung der Störung
Das Wort »Mutismus« bedeutet Schweigen, doch dieses Schweigen ist an falscher Stelle, es ist zu lang. Das Störungsbild wurde erstmals von Kussmaul (1877) als »aphasia voluntaria« bezeichnet. Gutzmann (1894) sprach von »freiwilliger Stummheit«. Der Begriff »elektiver Mutismus« wurde 1934 von Tramer geprägt. Hesselmann (1983) schlug vor, dass die Bezeichnung »selektiver Mutismus« angemessener sei. Mutistische Kinder besitzen die Fähigkeit zu sprechen. Sie setzen diese jedoch in für sie fremden Situationen, an bestimmten Orten, bei bestimmten Themen und/oder gegenüber einem bestimmten Personenkreis nicht ein. Sie fallen in ein beharrliches Schweigen, erstarren oder verständigen sich ausschließlich mittels Gesten, Mimik oder schriftlichen Mitteilungen (Hartmann 1992). Die umfassende Sprachlosigkeit tritt in mindestens einer spezifischen Situation auf. Das entscheidende diagnostische Kriterium lautet »… das Kind spricht in einigen Situationen fließend, in anderen bleibt es jedoch stumm oder fast stumm.« In der Fachliteratur hat sich in den letzten Jahren ein Übergang vom Begriff des elektiven zum selektiven Mutis-
mus vollzogen. Der Begriff »elektiver Mutismus« suggeriert eine Freiheit der Wahl, in welchen Situationen geschwiegen bzw. gesprochen wird. Beim Begriff des »selektiven Mutismus« ist eine solche Entscheidungsfreiheit nicht gegeben, es wird keine willentliche Kontrolle suggeriert. Der Mutismus scheint in zunehmendem Maße nicht mehr dem Willen zu unterliegen. Der Mutist kann nicht mehr entscheiden, ob, wann und wie lange er schweigt.
Elektiver Mutismus (F94.0 ICD-10) Eine Störung, die durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert ist. Das Kind zeigt seine Sprachkompetenz in einigen Situationen, in anderen definierten Situationen jedoch nicht. Meistens tritt die Störung erstmals in der frühen Kindheit auf. … Meistens ist der Mutismus mit deutlichen Persönlichkeitsbesonderheiten, wie Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden. … Typischerweise spricht das Kind zu Hause oder mit engen Freunden, ist jedoch in der Schule oder bei Fremden mutistisch.
Selektiver Mutismus (DSM-IV) A. Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen (in denen das Sprechen erwartet wird, z. B. in der Schule), wobei in anderen Situationen normale Sprechfähigkeit besteht. B. Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation. C. Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach Schulbeginn beschränkt). D. Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt, die in der sozialen Situation benötigt werden, oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohl fühlt. E. Die Störung kann nicht besser durch eine Kommunikationsstörung (z. B. Stottern) erklärt werden und tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf.
Die Diagnose des selektiven Mutismus setzt voraus, dass das Kind in bestimmten Situationen einigermaßen adäquat spricht. Es gibt jedoch auch Kinder, die den selektiven Mutismus auf immer mehr Situationen und Personen ausdehnen und sich auf diese Weise ein »totaler Mutismus« entwickelt. Beim totalen Mutismus fehlen sämtliche phonische Leistungen, was auch für das Lachen und Husten gilt. Geschwiegen wird in Abhängigkeit vom empfundenen Belastungsgrad der kommunikativen Bedingungen, d. h. in Abhängigkeit:
557 32.2 · Darstellung der Störung
4 von Personen (z. B. autoritären Erwachsenen), 4 Räumlichkeiten bzw. Örtlichkeiten, 4 vom Inhalt der Kommunikation, wenn die Kinder inhaltlich-thematisch überfordert sind oder ihnen das Thema peinlich oder unangenehm ist, 4 von der Sprechleistungsanforderung, 4 Länge der Äußerung, 4 dem Grad der Exponiertheit, 4 dem sozialen Druck. Ein heftiger Gefühlsausbruch kann hingegen zumindest bei jüngeren Mutisten plötzlich zu sprachlichen Äußerungen führen (Hartmann 1997). Häufige Kognitionen sind »Ich kann nicht, ich will nicht, ich muss nicht«. Ausschlussdiagnosen sind nach ICD-10 der passagere Mutismus mit Trennungsangst, Schizophrenie, tiefgreifende Entwicklungsstörungen und umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache. DSM-IV erwähnt hingegen, dass begleitende Sprechstörungen wie eine entwicklungsbezogene Artikulationsstörung, eine expressive oder rezeptive Sprachentwicklungsstörung oder eine körperliche Störung, die die Artikulationsfähigkeit beeinträchtigen, vorhanden sein können.
32.2.1 Sprachentwicklung und Sprechverhalten
In der Vorgeschichte von selektiv mutistischen Kindern findet sich nach Angaben in der Literatur häufig eine Sprachentwicklungsverzögerung. Von den untersuchten mutistischen Personen zeigten 33,3–51,9% Sprach- und Sprechstörungen und weitere 21,4% sprachliche Anpassungsstörungen aufgrund von Migration (Remschmidt et al. 2001). Eine Analyse des Sprechverhaltens mutistischer Kinder (Dobslaff 2005) ergab verschiedene Merkmale: 4 Viele der Kinder zeigen bestimmte retardierte Sprechverhaltensweisen und beherrschen Dialog- und Gestaltungsformen oftmals noch nicht altersgemäß (z. B. unzureichende Kenntnis der Höflichkeitsformen, kleinkindhafte Anreden oder mangelndes Wissen, welche Inhalte es wem und wann erzählen kann). 4 Das beobachtbare sehr positive oder negative Anpassungsverhalten, um sich vor Sprechanforderungen zu schützen, ist für das Alter der mutistischen Kinder oftmals nicht mehr typisch, etwa Streicheln der Lehrerin oder bewusstes Verstoßen gegen Gruppennormen, z. B. Schulsachen vom Mitschüler vom Tisch schieben. 4 Eine asynchrone Verwendung nonverbaler Mittel lässt sich beobachten, z. B. Partnerzuwendung bei gleichzeitiger Blickflucht, Festhalten des Gesprächspartners bei Blickkontaktverweigerung. 4 Auch die Beendigung eines Gesprächs weist häufig Besonderheiten auf, z. B. plötzliches Verstummen, plötzliches Sich-Abwenden.
4 Die phonologischen, stimmlichen und prosodischen Fähigkeiten sind instabiler als bei den Mitschülern, z. B. ließ sich eine »psychogene Dyslalie« beobachten, aber auch objektive Lautfehlbildungen zeigten sich bei 54,3% der mutistischen Kinder. 4 Bei Kindern mit Mutismus sind Unsicherheiten oder Auffälligkeiten in der Wortwahl, der Treffsicherheit des Ausdrucks, der Äußerungslänge, der Wortfindung und der Verwendung der Grammatik anzutreffen. Dobslaff (2005) ermittelte 15,2% Stotterer, 69,6% Schüler mit grammatischen Schwächen und 76,1% mit einer Sprachentwicklungsverzögerung. Süss-Burghart (1999) erwähnt noch eine leichte Verzögerung im Sprechbeginn (Sprechbeginn mit durchschnittlich 13 Monaten). Hatten sich die Schüler »eingesprochen«, dann blieben sie sprachlich unauffällig. Bei mutistischen Kindern ist der »Leierton« oder das nuschelnde oder zu schnelle Sprechen typisch (Dobslaff 2005). 4 Sehr häufig umfasst die Sprechblockierung die gesamte Kommunikation, also Prosodik und nonverbale Zeichengebung. Zu beobachten sind eine verzerrte, unnatürliche Mimik und Gestik, z. B. eine Art »läppisches Grinsen«, eine verarmte Ausdrucksmimik, ein verändertes Blickverhalten mit Blickscheu und Blickflucht, Erröten, Schweißausbrüche, eine verkrampfte Körperhaltung, eingeschränkte Körperbewegungen etc. Es kann vorkommen, dass der Mutist erstarrt und wie eingefroren wirkt oder im Gegenteil, dass sich seine motorische Unruhe besonders der Handmotorik stark steigert (Dobslaff 2005).
32.2.2 Komorbidität und Begleitsymptome
Als häufig auftretende komorbide Störungsbilder werden soziale Ängstlichkeit und Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten genannt. Es besteht also eine enge Komorbidität zu anderen sozialen Störungen. Außerdem werden eine depressive Symptomatik, Regulationsstörungen von Schlaf, Essen, Ausscheidungsfunktion oder Verhaltenskontrolle erwähnt (Kristensen 2000). Rösler (1981) fand bei einer Untersuchung an 32 selektiv mutistischen Kindern als zusätzliche psychopathologische Auffälligkeiten: Angstsymptome (90,6%), passives Rückzugsverhalten (63%), Nägelkauen, Daumenlutschen, Trichotillomanie (40,6%), Stimmungsschwankungen (37,5%), Konzentrations- und Leistungssymptome (37,5%), Enuresis (31,2%), Aggressivität (28,1%), Hypermotorik (28,1%), markante Mimik und Gestik (28,1%), Tics, Jaktationen, Stereotypien (21,9%), Zwänge (21,9%), Hartnäckigkeit (18,8%) und Enkopresis (6,3%). Bezüglich neurologischer Auffälligkeiten wurden bei 50% pathologische und bei 34,4% auffällige Anamnesen berichtet. Ein klinisch-neurologischer Befund fand sich bei 50%, ein pathologisches EEG bei ebenfalls 50% der mutistischen Kin-
32
558
Kapitel 32 · Selektiver Mutismus
der. Außerdem wird häufig eine soziale Überempfindlichkeit berichtet: Nicht nur bei Kritik, Rückfragen oder Meinungsaufforderungen, sondern schon bei neutralen Dialogen können sie sehr empfindlich reagieren (Dobslaff 2005).
32.2.3 Untergruppen
32
Für eine Einteilung des Mutismus in Untergruppen liegen verschiedene Vorschläge vor: 4 Nach ätiologischen Gesichtspunkten lässt sich der Mutismus einteilen in die Untergruppen: 5 Mutismus infolge einer Psychose, 5 Mutismus infolge einer hirnorganischen Auffälligkeit, 5 Mutismus infolge einer psychogenen Störung. 4 Eine weitere Abgrenzung wird nach Alter vorgenommen: 5 Mutismus im Kindesalter, 5 Mutismus bei Erwachsenen (Schizophrenie, katatone Zustände, depressive Zustände, Paranoia und Hysterie). 4 Empirisch abgesichert ist auch eine Einteilung nach dem Auftretensalter bei Kindern. Dabei werden zwei Gruppen unterschieden: 4 Frühmutismus (ab 3;4–4;1 Jahre), 4 Spät-/Schulmutismus (ab 5;5 Jahre). Diese Einteilung zeigt, dass die Störung mit einem Übergang und einer Integration in eine neue soziale Gruppe verknüpft ist (Hartmann 1997). Allerdings gibt es auch Fälle, bei denen der Mutismus im mittleren Schulalter begonnen hat, vereinzelt sogar in der fortgeschrittenen Abiturstufe (Dobslaff 2005). Das gehäufte Auftreten im 3. Lebensjahr wird von Jaeger und Metzker (1960) als Zeichen der altersspezifischen Trotzneigung gewertet. In Angstsituationen verstummen Kleinkinder häufig. Beim Spätmutismus wird vermutet, dass das Kind sich den Anforderungen der Schulsituation durch Schweigen zu entziehen versucht (Weber 1950). 4 Für therapeutische Zwecke hilfreich, wenn auch weniger gut empirisch abgesichert, ist eine Unterscheidung nach dem Erscheinungsbild von Lesser-Katz (1988) 4 die Gruppe gefügiger, scheuer, ängstlicher, anhänglicher und unsicherer Kinder, 4 die Gruppe nicht gefügiger, passiv-aggressiver, vermeidender mutistischer Kinder. 4 Ebenfalls empirisch wenig gut abgesichert ist eine weitere Einteilung von Hayden (1980), die vier Typen unterscheidet: 4 den symbiotischen Mutismus, der durch eine symbiotische Beziehung zu einer Bezugsperson und eine manipulative, negativistische Einstellung ge-
genüber verantwortlichen Erwachsenen charakterisiert ist; 4 den Sprechangstmutismus, der durch die Angst, die eigene Stimme zu hören, charakterisiert ist, begleitet von Zwangsgedanken und/oder -handlungen; 4 den reaktiven Mutismus, verursacht durch eine einmalige Depression und Rückzug; 4 den passiv-aggressiven Mutismus, der durch eine aufsässige Verweigerung und den Gebrauch des Schweigens als Waffe gekennzeichnet ist.
32.2.4 Epidemiologie
Die publizierten Angaben zur Häufigkeit des Störungsbildes schwanken zwischen 0,1% und 0,7% (z. B. KatzBernstein 2005). Je nach Strenge des Kriteriums kommen Kumpulainen et al. (1998) zu unterschiedlichen Häufigkeitsangaben: Bei dem engen Kriterium, dass das Kind überhaupt nicht in der Schule spricht, wird eine Häufigkeit von 30:10.000 genannt, bei einer weiten definitorischen Fassung, nach der das Kind in der Schule lediglich in bestimmten Situationen nicht spricht, werden 190:10.000 genannt. Derzeit lässt sich nicht eindeutig klären, ob häufiger Mädchen oder Jungen betroffen sind. Eine Reihe von Studien gibt ein Verhältnis von Mädchen zu Jungen von 1,6– 2,6:1 an (z. B. Steinhausen u. Juzi 1996). Bei Dummit et al. (1996) wird eine durchschnittliche Störungsdauer von 5,3 Jahren (SD=2,8), bei Black und Uhde (1995) von 5,7 Jahren (SD=2,7) genannt. In Haydens Studie (1980) wurden Jungen durchschnittlich 2;3 Jahre früher behandelt als Mädchen. Dieser Befund wird mit der größeren Toleranz zurückhaltenden Verhaltens bei Mädchen erklärt. Die ermittelte Dauer der Störung beträgt ungeachtet der therapeutischen Versorgung bei Mädchen 5;6 Jahre, bei Jungen 4;0 Jahre (Hartmann 1997).
32.2.5 Störungsverlauf
Frühsymptome können Formen der kommunikativen Unsicherheit sein, die sich vor allem dann zeigen, wenn das Kind mit neuen kommunikativen Bedingungen konfrontiert wird oder wenn die soziale Stütze »Mutter« fehlt. Weitere Frühsymptome sind eine ausgeprägte Kontaktscheu oder eine zeitlich begrenzte Sprechverweigerung (die nicht länger als 3 Monate, aber länger als eine Woche andauert), wofür das Kind sogar gravierende Nachteile in Kauf nimmt (Verzicht auf Erfüllung von Bedürfnissen, soziale Isolation usw.). Weiteres Frühsymptom kann die Tendenz zum Rückzugs- und Vermeidungsverhalten sein, eine gewisse Instabilität von Äußerungsweisen, z. B. flüstert das Kind mal die Antworten, mal verweigert es sie, dann spricht es mit normaler Zimmerlautstärke. Eine zunehmende Verarmung der Ausdrucksmittel setzt ein,
559 32.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
die Äußerungslänge wird in kommunikativen Belastungssituationen zunehmend kürzer. Es wird immer weniger freiwillig geantwortet, Redeflussstockungen nehmen zu. Auch eine mimische Verarmung und Erstarren des Gesichtsausdrucks können hinzukommen. Sprechrhythmische, sprachmelodische und sprechtemporale Monotonie sind mehr und mehr kennzeichnend für die Äußerungen. Die zunehmende Monotonie führt zur anhaltenden Flüsterphase, was schließlich in Schweigen endet (Dobslaff 2005). Anfangs sind Kinder immer noch in der Lage, bei emotional-kommunikativer Überforderung zum prosodischen Normalzustand zurückzufinden, das ist später nicht mehr zu beobachten. Auch eine Veränderung des Spielverhaltens lässt sich beobachten, insbesondere eine zunehmende Isolation. Die Spontanremissionsrate ist im frühen Alter noch recht hoch, im Schulalter jedoch eher die Ausnahme. Im weiteren Verlauf der Störung stagniert die psychosoziale Entwicklung, der Mutist verliert den Anschluss, ist in der Pubertät um Jahre zurückversetzt. Typisch ist eine Einengung der kognitiven und sozialen Entwicklung; dies führt zu einer massiven Verunsicherung bei Gleichaltrigen, bei denen Hilflosigkeit und Unverständnis, Ablehnung oder Wut provoziert wird. Deutlich spürbar ist die Machtlosigkeit der Gesprächspartner. Die meisten mutistischen Kinder finden sich in der Förderschule für Lernbehinderte wieder (Dobslaff 2005). Die Familie zentriert ihre Bedürfnisse oftmals um das mutistische Kind, das sich zu Hause völlig entgegengesetzt zum mutistischen Verhalten ungehemmt, narzisstisch und dominant verhält (Hartmann 2006). Remschmidt (1988) beschreibt eine Beobachtung, wonach alle 35 nachuntersuchten mutistischen Patienten, welche behandelt wurden, ebenso wie diejenigen, die die Behandlung abgebrochen hatten, als Erwachsene das Symptom überwunden hatten. Bei beiden Gruppen zeigten sich jedoch weiterhin Kontakt- und Sprechscheu. Einen ähnlichen Befund berichtet Wright (1968), während Kolvin und Fundundis (1981) zu einer schlechteren Prognose kommen: Nach einem 10-Jahres-Follow-up zeigten nur 11 von 24 selektiv mutistischen Kindern deutliche Verbesserungen. Eine weitere Follow-up-Studie von Remschmidt et al. (2001) ergab, dass nur 16 von 41, also 39%, ehemals selektiv mutistische Patienten eine vollständige Überwindung der mutistischen Hauptsymptome zeigten, während alle anderen Patienten weiterhin Kommunikationsprobleme beobachten ließen. In einer Langzeitstudie zum Verlauf des selektiven Mutismus von Steinhausen et al. (2006) zeigte sich hingegen, dass sich die Symptome des selektiven Mutismus beträchtlich verbesserten, dass aber eine höhere Rate an phobischen Störungen sowie anderen psychischen Störungen als in der Kontrollgruppe zu beobachten ist.
> Fazit Selektiver Mutismus ist eine Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, obwohl die Kinder die Fähigkeit zu sprechen besitzen. Die schulischen und beruflichen Leistungen und die soziale Kommunikation werden dadurch beeinträchtigt. Die Störung hält mindestens einen Monat an. Geschwiegen wird in Abhängigkeit vom empfundenen Belastungsgrad der kommunikativen Bedingungen in Abhängigkeit von Personen, Orten, Inhalten und Sprechleistungsanforderungen. Häufig umfasst die Sprechblockierung auch die nonverbale Kommunikation. Die publizierten Häufigkeiten des selektiven Mutismus liegen unter 1%. Nach dem Auftretensalter werden zwei Gruppen unterschieden: Frühmutismus (ab 3;4 Jahren) und Spät- oder Schulmutismus (ab 5;5 Jahren). Die Störung ist mit einem Übergang in eine soziale Gruppe verknüpft. Häufige komorbide Störungsbilder sind soziale Ängstlichkeit, Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten, depressive Symptomatik, Regulationsstörungen von Schlaf und Essen, Ausscheidungsfunktion oder Verhaltenskontrolle. In der Vorgeschichte mutistischer Kinder findet sich häufig eine Sprachentwicklungsverzögerung. Viele mutistische Kinder zeigen retardierte Sprechverhaltensweisen.
32.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Historisch betrachtet wurde der Mutismus als Antwort auf ein frühes Trauma, auf eine Veränderung der Lebensumwelt oder auf eine innerpersönliche oder innerfamiliäre Dynamik zurückgeführt. Das Schweigen wurde als »Verschweigen« gedeutet. Eine endlose Suche nach einem frühkindlichen Trauma war die Folge, das es mehrheitlich jedoch nicht gibt. Nach wie vor sieht sich die Familie eines Mutisten häufig mit Vorwurfshaltungen konfrontiert, insbesondere die männlichen Familienmitglieder, die des sexuellen Missbrauchs verdächtigt werden. In der Literatur lassen sich zur Ätiologie unterschiedliche Ansätze finden: 4 Psychoanalytischer Ansatz: Das mutistische Verhalten wird als neurotisches Verhalten infolge eines intrapsychischen Konfliktes interpretiert, der durch das Schweigen ausgedrückt wird. 4 Systemischer Ansatz: Mutismus wird gewertet als Ausdruck einer neurotischen Beziehung zwischen Mutter und Kind, die charakterisiert ist durch Abhängigkeit und Ambivalenz gepaart mit einem übermäßigen Bedürfnis nach Kontrolle. Meyers (1999, 197 ff.) fasst Charakteristika von Familien mutistischer Kinder aus der Literatur wie folgt zusammen: Eine Tendenz zu einem starken Bindungsverhalten, vorwiegend zur Mutter, Misstrauen gegenüber der äußeren Umwelt,
32
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Kapitel 32 · Selektiver Mutismus
Angst vor Fremden, eheliche Disharmonie, ein Elternteil, der auf Stress mit einem mutistischen Verhalten reagiert und extreme Scheu. 4 Behavioraler Ansatz: Die Störung wird etwa durch operante Konditionierung erklärt, wonach zunächst auf das Schweigen vermehrte Zuwendung bzw. Aufmerksamkeit und der Verzicht auf die geforderte Leistung erfolgt, erst langfristig kommt es zur Abwendung der Altersgenossen und Isolation des Mutisten. Andere Erklärungsansätze beziehen sich auf das Lernen am Modell oder die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Äußerungen von Mutisten deuten auf eine Blockierung im Sprechvollzug oder auf Behinderungen des Zugriffs auf Denk- oder Sprechinhalte hin. »Die Kehle war wie zugeschnürt« oder »der Kloß wurde immer größer« (Dobslaff 2005). Andere äußerten sich im Sinne eines Gedankenchaos oder Filmriss. Ehlers (1996) berichtet die Beobachtung, dass mutistische Kinder als Grund ihres Schweigens häufig »weil mir nichts einfällt« angeben. Beim derzeitigen Stand der Forschung werden organische, neurologische und biologische Komponenten, Modelllernen, Kulturwechsel sowie Erschwerungen des Spracherwerbs als sich gegenseitig beeinflussende Risikofaktoren angenommen (Hartmann 1997). Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen ursächlichen und aufrechterhaltenden Bedingungen: Viele geschilderte familiäre Auffälligkeiten, etwa die Beantwortung der Fragen, die an das Kind gerichtet waren, durch die Mutter, sind eher als Reaktionen im Umgang mit dem mutistischen Kind zu deuten, die das Störungsbild zwar aufrechterhalten, es aber nicht verursachen.
32
32.3.1 Biologische Prädisposition
In den Familien mutistischer Kinder sind Schüchternheit, selektiver Mutismus und Angststörungen weit verbreitet. In der Studie von Dobslaff (2005) hatten von 24 mutistischen Schülern zwei Drittel einen Elternteil, der als Kind ebenfalls Mutist war oder starke mutistische Züge aufwies, fünf Schüler (10,9%) hatten mutistische Geschwister, und bei zwei weiteren Schülern gab es in der Verwandtschaft mutistische Erscheinungen. ! Das lässt die Annahme zu, dass eine biologische Anlage, etwa in Form eines gehemmten Temperamentes (»behavioral inhibition«), zur Entwicklung eines Mutismus vorliegt. Mutisten reagieren möglicherweise auf Grund dieser spezifischen Anlage schneller, früher, intensiver und langanhaltender auf sprech-kommunikative Stressoren.
Bezüglich neurologischer Auffälligkeiten wurden bei 50% der 32 untersuchten Mutisten pathologische und bei 34,4% auffällige Anamnesen berichtet. Klinisch-neurologische
Befunde fanden sich bei 50%, pathologische EEG bei ebenfalls 50% der mutistischen Kinder (Rösler 1981).
32.3.2 Sprachliches Überforderungsverhalten
Ein Grund für das Verstummen liegt immer wieder in einer Überforderungssituation bei linguistisch anspruchsvolleren Anforderungen, in Übergangssituationen zu fremden Kontexten wie Kindergarten, Schule, Arztbesuch, überall wo das Kind meistens getrennt von seiner Bezugsperson selbstständig über Sachverhalte berichten muss (Katz-Bernstein 2005). Es lässt sich eine Überforderungshypothese daraus ableiten: ! Die Anforderungen, die an das Kind gestellt werden, sind kognitiv, kommunikativ und sozial sehr anspruchsvoll, während das Kind jedoch über unzureichende Erfahrungen verfügt.
Die Anhäufungen der ermittelten Fälle während des Übergangs zum Kindergarten und zur Schule deuten auf solch eine Überforderung. Diese Überforderung kann darin bestehen, dass Mängel im Erwerb dialogischer, kommunikativer, linguistischer und sprachlicher Kompetenzen vorhanden sind. Jede Verunsicherung in der Entwicklung und im Erwerb der Sprache, auf der semantisch-lexikalischen, phonologischen, syntaktisch-morphologischen, phonetischen ebenso wie auf der pragmatischen Ebene stellt einen Risikofaktor für den Mutismus dar (Katz-Bernstein 2005; Hartmann 1997). Das Repertoire an Wortschatz, Syntax und Morphologie, die Fähigkeit zur Ausgestaltung der Sprache oder die Erzählfähigkeiten des Kindes sind nicht ausreichend. Sprachliche Störungen und Defizite können zumindest als Risikofaktor für den selektiven Mutismus angesehen werden. Eine artikulatorische Mangelleistung kann auch ein verstärkender Faktor sein, weil es beim Gesprächspartner zu mehr Kritik und Rückfragen kommt, was eine verstärkte Selbstbeobachtung des Sprechvorgangs nach sich ziehen kann. Katz-Bernstein (2005) vermutet einen Mangel an innerer Repräsentation von Dialogregeln bei Mutisten. Zu diesen Dialogregeln gehören Begrüßungs- und Abschiedsrituale, Blickaustausch und Wechsel von Augenkontakt vor und während des Sprechens, abwechselndes Sprechen und Zuhören (»turn taking«). Die Repräsentanz von Dialogregeln ist ein verinnerlichtes Wissen, wie man mit kommunikativen Situationen umgeht. Sie ist wichtig, um die Fremdheit eines Gegenübers zu überwinden, um Kontakt herzustellen, um den Grad an Bekanntheit, Nähe und Distanz weiterhin zu regulieren (Katz-Bernstein 2005). Ein Großteil der mutistischen Kinder findet keine Mittel und Wege, die Fremdheit des Gegenübers zu überwinden. Mutistische Kinder ziehen eine starre Grenze zwischen »fremd« und »vertraut«, die einen sozialen Lernprozess
561 32.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
verhindert (Katz-Bernstein 2005) und ein starkes Unbehagen gegenüber Fremden nach sich zieht. Im Gegensatz zur Schüchternheit löst sich der Mutismus auch dann nicht auf, wenn eine angstauslösende Situation vertraut geworden ist. Die Trennung zwischen innerem Dialog und den zensierten, sozialisierten Äußerungen bedeutet für das Kind eine Anstrengung. Bei mutistischen Kindern ist der Übergang zwischen dem inneren Dialog zu sozialem und kontrolliertem Sprechhandeln möglicherweise nicht gelungen. Dem Kind fehlt es an der nötigen Flexibilität (Katz-Bernstein 2005). Die Entdeckung, dass nicht alles, was in der Familie gesagt wird, für die Öffentlichkeit bestimmt ist, kann Angst machen.
32.3.3 Migration und Bilingualität ! Migration und die Anforderung, unterschiedliche Sprachen zu erlernen, werden als Risikofaktoren für einen Mutismus genannt. Auch Bilingualität und eine stark dialektgefärbte Sprache in der Familie stellen einen Risikofaktor dar.
Dabei muss auch die kulturelle Komponente beachtet werden, denn einige Kinder bewältigen den Zweitspracherwerb mühelos, bemerken aber die Kulturendiskrepanz. Ein Leben zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen scheint eine sehr schwerwiegende Stressbedingung zu sein. Sich immer wieder von einem Kontext zum anderen umstellen zu müssen, wird umso schwieriger, wenn die eine Kultur von der anderen als fremd oder gar bedrohlich interpretiert wird. Indem diese Kinder außerhalb der Familie nicht sprechen, bewahren sie sich einen Schutzraum, der ihnen die Nähe zu den Eltern und zur Heimat sichert. Bei vielen Kindern, die im Ausland leben, scheint es eine »stille Phase« zu geben, in der viel von der neuen Sprache aufgenommen wird, das Verstehen geht der Sprachbenutzung voran. Zusammen mit der Sprache wird auch eine neue Identität erworben (Bahr 2004).
32.3.4 Innerfamiliäre Lernerfahrungen
Verschiedene Studien (z. B. Schaller u. Schmidtke 1975) verweisen auf das vermehrte Auftreten von Einsilbigkeit, Menschenscheu und Zurückhaltung bei den Eltern, Geschwistern und Großeltern von Mutisten. Neben der Veranlagung (s. oben) können somit fehlende Anregung und Modellwirkung den Mutismus begünstigen oder aufrechterhalten. Mit dem Schweigeverhalten wird dem Kind eine günstige Durchsetzungsstrategie vorgeführt. In sozialen Konfliktsituationen gibt es kaum ein effektiveres Mittel als das Mittel des Schweigens.
! Wenn das mutistische Kind nicht in ausreichendem Maße andere Strategien gelernt hat, wird diese Strategie von ihm bevorzugt werden, insbesondere wenn die Eltern selber das Schweigen wiederholt benutzen, um Konflikten auszuweichen.
Auch eine soziale Isolierung der Kinder ist häufig anzutreffen: Die Wohnlage ist vielfach so, dass soziale Kontakte zu fremden Erwachsenen oder zu anderen Kindern reduziert sind. Relativ wenige Kinder besuchten in der Studie von Dobslaff (2005) den Kindergarten. Häufig gekoppelt ist der Mutismus mit einer Trennungsproblematik von der Mutter. Möglicherweise gelingt es mutistischen Kindern auch nicht, Wertmaßstäbe und Vorschriften der Erwachsenen zu relativieren. Häufig können sie diese Distanzierungsversuche in Form von bockigem, trotzigem und frechem Verhalten nur innerhalb der Familie zum Ausdruck bringen und gegenüber Personen, bei denen am wenigsten Risiken für Sanktionen zu erwarten sind.
32.3.5 Außerfamiliäre Lernerfahrungen
Verursachende oder aufrechterhaltende Defizite können auch im Verhalten der Pädagogen oder in der Gestaltung des pädagogischen Prozesses liegen, z. B. aufgrund unzureichender Sprechlernbedingungen in der Schule, die es dem Schüler nicht ermöglichen, eine angemessene Sprechaktivität zu zeigen, einschüchternde Kommunikationsmerkmale der Lehrer oder Sprechverhaltensweisen, die den Schüler geradezu in die Passivität drängen. Eine aufrechterhaltende Konsequenz mutistischen Verhaltens liegt zumindest anfänglich in mehr Zuwendung, mehr Aufmerksamkeit und weniger oder keinen sprachlichen Anforderungen, die an das Kind gestellt werden. ! Das Schweigen kann als Machtinstrument auch gegenüber Autoritätspersonen entdeckt werden, da es Verunsicherung und Ohnmacht auslöst.
Innerhalb der Schulklasse führt das Fortbestehen einer mutistischen Symptomatik zu einer spezifischen Beziehungsdynamik (Hartmann 2006): Der Mutist wird von einem kleinen Teil der Klassengemeinschaft angenommen. Einige Mitschüler bezeugen Loyalität, indem sie für den mutistischen Schüler antworten. Durch die ungebrochene Konstanz des kommunikativen und sozialen Rückzugs schwächen sich jedoch das Interesse und die emotionale Anteilnahme ab. Eine Nichtbeachtung folgt. Einige Mitschüler, die von Anfang an nicht das Vertrauen des Mutisten besaßen, entwickeln ein aversives Verhalten, das bis zum Mobbing führen kann.
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562
Kapitel 32 · Selektiver Mutismus
Mutismus als Angststörung oder als Extremform der sozialen Phobie?
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Selektiver Mutismus wird seit Kurzem als Manifestation einer Angststörung eingeordnet. In den Fallstudien werden die meisten Kinder mit selektivem Mutismus als schüchtern und extrem ängstlich gegenüber Neuem und Unbekanntem beschrieben. Selektiv mutistische Kinder sprechen in der Regel nicht in der Öffentlichkeit, wo Fremde oder Menschen, die sie nicht gut kennen, zuhören könnten. Es gibt oftmals eine klare Hierarchie von Menschen, mit denen sie sprechen. Das Kind spricht gewöhnlich zu Hause und in sehr vertrauten sozialen Situationen. Ihre Familien werden häufig als schüchtern beschrieben. Es stellt sich somit die Frage, ob es vielmehr Angst als ein oppositionelles, negativistisches, kontrollierendes oder manipulatives Verhalten ist, das diese Kinder vom Sprechen in der Öffentlichkeit abhält. All die oben genannten Hinweise sprechen für eine Zuordnung des selektiven Mutismus zu den Angststörungen. Darüber hinaus geht die Hypothese, dass eine Verbindung zwischen selektivem Mutismus und sozialer Phobie besteht. Black und Uhde (1995) berichten von einer Studie zur sozialen Angst an 30 selektiv mutistischen Kindern. Die Studie bestätigte eine Beziehung mit sozialer Angst. Weitere Studien untersuchten diese Hypothese in Verbindung mit der Wirksamkeit pharmakologischer Behandlungen. Wir vertreten nicht die Ansicht, dass der selektive Mutismus als soziale Phobie zu klassifizieren ist. 4 Unsere Studie (Melfsen et al. 2006) zeigte bei den mutistischen Kindern ein signifikant niedrigeres Ausmaß an sozialer Angst im Vergleich zur Gruppe sozial phobischer Kinder. Dieser Befund unterstützt nicht Blacks und Uhdes Hypothese (1995), dass der Mutismus eine Extremform der sozialen Phobie sei.
> Fazit Beim derzeitigen Stand der Forschung werden organische, neurologische und biologische Komponenten, Schwierigkeiten beim Spracherwerb, operante Konditionierung, Modelllernen sowie Kulturwechsel als sich gegenseitig beeinflussende ätiologische Faktoren angenommen. Ein frühkindliches Trauma als Ursache des Mutismus gibt es mehrheitlich nicht. Häufig genannte Risikofaktoren sind Verzögerungen und Störungen in der Sprachentwicklung, die zur Überforderung führen können, etwa in Übergangssituationen wie Kindergarten und Schule, überall wo das Kind getrennt von der Bezugsperson selbstständig berichten muss. Eine Kulturendiskrepanz bei Migranten kann zu schwerwiegenden Stressbedingungen führen. Viele Studien verweisen auf Einsilbigkeit, Menschenscheu und Zurückhaltung in der Familie. Eine aufrechterhaltende Konsequenz liegt zumindert anfänglich in mehr Aufmerksamkeit, Zuwen-
4 Im Unterschied zur sozialen Phobie liegt der Beginn des selektiven Mutismus im Alter von 3–6 Jahren, also im Kindergartenalter. Bei der sozialen Phobie sind hingegen kognitive Prozesse wesentlich für die Entwicklung des Störungsbildes. Der Störungsbeginn liegt dementsprechend sehr viel später als beim selektiven Mutismus (9–11 Jahre). Bei der Schüchternheit hingegen, als einer weniger stark ausgeprägten Untergruppe der sozialen Angst, ist der Beginn mit etwa 4 Jahren angegeben. Möglicherweise ist der selektive Mutismus eher mit Schüchternheit denn mit der sozialen Phobie verbunden. 4 Die Sprechblockade kann allerdings auch gegenüber vertrauten Personen, etwa aus der Familie, auftreten. Sukzessive werden Personen ausgeschlossen, mit denen zuvor gesprochen wurde. Dieser Verlauf lässt sich nicht mit Schüchternheit oder sozialer Angst erklären. 4 In vielen Fallstudien wird eine oppositionelle und kontrollierende Haltung bei selektiv mutistischen Kindern beschrieben. Diese Verhaltensweisen charakterisieren nicht sozial phobische Kinder. 4 Ebenfalls im Unterschied zur sozialen Phobie überwinden nicht wenige der jüngeren selektiv mutistischen Kinder das Störungsbild spontan. All diese Argumente sprechen gegen eine Klassifizierung des selektiven Mutismus unter eine soziale Phobie. Die soziale Phobie scheint vielmehr eine häufig anzutreffende komorbide Störung zu sein und sollte zusätzlich kodiert werden. Auch das therapeutische Vorgehen bei beiden Störungsbildern ist so unterschiedlich, dass sich die Frage stellt, welchen Gewinn eine Subsumierung des selektiven Mutismus unter die soziale Phobie bringt.
dung und weniger oder keinen sprachlichen Anforderungen, teilweise wird das Schweigen als Machtinstrument entdeckt. Später schwächen sich zumeist die emotionale Anteilnahme und Zuwendung durch andere ab.
32.4
Diagnostik
Der gravierende Unterschied im kommunikativen und psychsozialen Verhalten von Personen mit Mutismus in Abhängigkeit von den Situationen erschwert oftmals eine rechtzeitige Erkennung dieses Störungsbildes. Die häufig beobachtete Redseligkeit in der Familie lässt für die Eltern zunächst kaum Rückschlüsse auf ein mutistisches Verhalten in anderen Situationen zu. Viele Eltern ignorieren oder bagatellisieren das mutistische Verhalten, das so gar nicht in Einklang zu bringen ist mit den Verhaltensweisen, die das Kind im häuslichen Umfeld zeigt.
563 32.4 · Diagnostik
32.4.1 Untersuchungsablauf Psychopathologischer Befund. Erhebung eines psychopathologischen Befundes, um psychotische Symptome, einen Stupor o. Ä. auszuschließen. Medizinische Untersuchung. Im Rahmen einer medizinischen Untersuchung sollte eine HNO-ärztliche Untersuchung erfolgen, um eine periphere oder zentralbedingte Hörstörung auszuschließen. Neurologische Untersuchung. In einer neurologischen Untersuchung sollten etwa motorische Entwicklungsverzögerungen erfasst werden. Ausgeschlossen werden müssen progredient verlaufende hirnorganische Abbauprozesse. Exploration der Eltern. Die Eltern sollten Auskunft zu Beginn, Dauer, Ausmaß, sozialem Kontext und Verlauf des mutistischen Verhaltens geben. Die Fragen sollten außerdem die Sprachentwicklung des Kindes ebenso wie die motorische, kognitive und soziale Entwicklung sowie frühere Verhaltensprobleme, Kontaktprobleme und Trennungs-
ängste betreffen. Erfragt werden sollte, welche kommunikativen Hilfsmittel das Kind benutzt. Wichtig ist auch, wie die Bezugspersonen auf das mutistische Verhalten reagieren. Die Reaktionen können sehr unterschiedlich sein: z. B. vermehrte Zuwendung und Schutzbedürfnis, indem etwa für das Kind geantwortet wird, das Kind lächerlich machen, durch Liebesentzug bestrafen, Ablehnung des Kindes, körperliche Züchtigung etc. Erfasst werden sollte, ob sich ein kritisches Lebensereignis im letzten halben Jahr vor Beginn der Störung ereignet hat. Exploration des Kindes. Es sollte versucht werden, das Kind zu explorieren, ggf. mit Hilfe schriftlicher und nonverbaler Methoden. Wichtig ist die Verhaltensbeobachtung des Kindes, während es exploriert wird (s. Übersicht): Welche Körpergeräusche (z. B. Husten oder Lachen), welche Körpergesten (z. B. Blickkontakt, Nicken, Lächeln), welche Hinweisverhaltensweisen (z. B. Hinweis durch Hinblicken oder durch Kopfbewegung) lassen sich beobachten. Wann spricht es, z. B. im Stimmchor, abgewandt mit gesenkten Augen oder flüsternd. Erfasst werden sollte, welchen Gewinn es durch das mutistische Verhalten hat.
Beobachtungs-Checkliste zur ersten Feststellung eines selektiven Mutismus (Katz-Bernstein 2005, S. 62–63) 4 Das Schweigen dauert über 6 Monate an. 4 Es zeigt sich keine Entwicklung in Richtung Sprechen. 4 Das Schweigen zeigt sich als systematisch und wirkt »eisern«. 4 Beim Ansprechen senkt das Kind den Kopf und/oder erstarrt. 4 Das Kind zeigt ein ritualisiertes Verhalten zur Etablierung des Schweigens. Es wird z. B. stellvertretend ein sprechendes Kind aus der Gruppe organisiert oder ein Zeichensystem für die Verständigung entwickelt.
Familienanamnese. Die Eltern sollten zu eigenen Ängsten und mutistischen Verhaltensweisen, Sprech- oder Sprachstörungen sowie Bewältigungsstrategien im Umgang mit angsterzeugenden Situationen befragt werden. Erfasst werden sollte, ob eine Fremdsprachlichkeit oder ein ausgeprägter Dialekt in der Familie vorliegt. Eine weitere Frage bezieht sich darauf, ob die Familie sozial isoliert lebt. Therapiemotivation. Das Störungskonzept von Eltern und
Kind, ihre Therapieerwartung und die Bereitschaft zur Mitarbeit sollten erfragt werden: Inwieweit fühlen sich Eltern und Kind durch den Mutismus eingeschränkt oder belastet? Intelligenzdiagnostik. Die Durchführung sprachfreier Intelligenztests ist wesentlich zum Ausschluss einer geistigen Behinderung.
4 Das Kind schweigt auch im Spiel mit einzelnen Kindern, in informellen Situationen und im versunkenen Spiel. 4 Es sind sonstige Verhaltensauffälligkeiten, soziale Risikofaktoren, Behinderungen und/oder Störungen zu beobachten. 4 Die Berichte der Eltern zeigen eine Diskrepanz zwischen den Verhaltensweisen in der Einrichtung (z. B. redet das Kind zu Hause »ganz normal« oder »wie ein Wasserfall«, ist ganz frech und aufsässig).
Sprachdiagnostik. Eine ausführliche Sprachdiagnostik sollte erfolgen, die etwa Fragen zur Artikulation, zur rezeptiven und expressiven Sprache klärt. Dabei können Sprachtests zum Einsatz kommen. Von den Eltern sollten auf Tonband aufgenommene Sprechproben des Kindes zur Verfügung gestellt werden. Im Falle einer Migration sollte der Stand des Erst- und Zweitspracherwerbs ermittelt werden. Abgegrenzt werden sollte zwischen einer Unkenntnis der Sprache (d. h. einer absoluten Nichtbeherrschung der Sprache durch Migration) und der Unfähigkeit, das Sprachsystem zu verwenden (z. B. im Zusammenhang mit einer starken kognitiven Beeinträchtigung). In der Praxis ist es allerdings schwierig, zwischen einem Mutismus, der infolge einer Zweisprachigkeit auftritt, und einem »reinen« Mutismus zu unterscheiden (Katz-Bernstein 2005). Zweisprachigkeit ist häufig ein Risikofaktor für die Entwicklung eines Mutismus. Die Störung an sich und die Auswirkungen sind zudem in beiden Fällen identisch (Katz-Bernstein 2005).
32
564
Kapitel 32 · Selektiver Mutismus
Informationen aus Kindergarten oder Schule. Erzieher oder Pädagogen sollten insbesondere zur Integration des Kindes in die Gruppe befragt werden, zu belastenden Bedingungen in Kindergarten oder Schule, zu Ressourcen des Kindes und zum Störungskonzept sowie zur eigenen Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit im therapeutischen Prozess.
32.4.2 Fragebogen- und Interviewverfahren
zur Erfassung mutistischen Verhaltens
32
Zur Erfassung des selektiven Mutismus liegt der Elternfragebogen »Selective Mutism Questionnaire« (SMQ) von Bergman et al. (2001) vor. Der Fragebogen umfasst 27 Items, die inhaltlich den Kategorien »In der Schule« (z. B. »Mein Kind antwortet auf Fragen des Lehrers«), »In der Familie« (z. B. »Zuhause spricht mein Kind frei mit den anderen Familienmitgliedern«), »In sozialen Situationen (außerhalb der Schule)« (z. B. »Wenn es angebracht ist, spricht mein Kind mit seinem Arzt oder Zahnarzt«) und »Andere Fragen« (z. B. »Wenn mein Kind in einer bestimmten Situation nicht spricht, dann flüstert es«) zugeordnet sind und von den Eltern auf einer vierstufigen Skala eingeschätzt werden sollen. An einer Stichprobe von 576 Eltern zeigte sich eine gut interpretierbare Faktorenstruktur, eine akzeptable interne Konsistenz (Cronbachs Alpha: .74) und erwartete Korrelationen zwischen Subskalen (Bergman et al. 2001). Die deutsche Version »EM-Fragebogen (Eltern)« wurde von Bergman und Steinhausen (2005) veröffentlicht (http://www.kjpd.unizh.ch). Der »School Speech Questionnaire« (SSQ, Bergman et al. 2001) ist eine modifizierte Version des SMQ, um Informationen über das Sprechverhalten von Kindern mit Mutismus durch Lehrer zu erfassen. Es liegt ebenfalls eine deutsche Version des Fragebogens »EM-Fragebogen (Lehrer)« von Bergman und Steinhausen (2005) vor, die sieben Items umfasst (http://www.kjpd.unizh.ch), z. B. »Wenn es angebracht ist, spricht das Kind mit ausgewählten Kindern (seinen Freunden/Freundinnen) in der Schule«, »Wenn es angebracht ist, stellt das Kind seinem Lehrer/seiner Lehrerin Fragen«, »Wenn es angebracht ist, spricht das Kind in Gruppen oder vor der Klasse«. Weiterhin liegt von Hartmann (2006) der »Evaluationsbogen für das sozial interaktive Kommunikationsverhalten bei Mutismus« (http://www.mutismus.de) vor, bei dem der kommunikative Belastungsgrad verschiedener sozialinteraktiver Situationen durch das mutistische Kind auf einer dreistufigen Skala eingeschätzt werden soll (z. B. »Sprechen mit Großeltern und weiteren Verwandten«, »Spielen und reden mit Nachbarskindern«, »Telefonieren«). In der revidierten Fassung des »Diagnostischen Interviews bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugend-
alter« (Kinder-DIPS, Schneider et al. 2009) ist eine Sektion zur Erfassung des selektiven Mutismus eingefügt worden. In einer Kinderversion und einer Elternversion werden Symptome des Mutismus erfragt. Bei einem mutistischen Kind ist ein Interview allerdings nur möglich, sofern der Mutismus zum Zeitpunkt des Interviews schon überwunden ist oder die Situationen, in denen das Kind nicht spricht, sich deutlich von der Interviewsituation unterscheiden. Den Eltern werden entsprechende Fragen gestellt. Die beiden Eingangsfragen lauten: »Gibt es Situationen, in denen Ihr Kind nicht spricht, obwohl dies erwartet wird (z. B. in der Schule, wenn andere Kinder dabei sind)?« und »Gibt es daneben Situationen, in denen es ganz normal spricht?«
32.4.3 Erstellung einer Hierarchie von Situati-
onen, in denen das Kind nicht spricht Eine große Bedeutung kommt der Erstellung einer Hierarchie von Situationen zu, in denen das Kind nicht spricht, nur flüstert, sich nonverbal äußert oder normal spricht. Dazu muss der empfundene Belastungsgrad der kommunikativen Bedingungen erfasst werden, d. h. die Abhängigkeit von Personen (z. B. autoritären Erwachsenen), Räumlichkeiten bzw. Örtlichkeiten, vom Inhalt der Kommunikation, wenn die Kinder inhaltlich-thematisch überfordert sind oder ihnen das Thema peinlich oder unangenehm ist, von der Sprechleistungsanforderung, der Länge der Äußerung, dem Grad der Exponiertheit, dem sozialen Druck. Es müssen die Unterscheidungsmerkmale der Kinder erfasst werden, nach der die unterschiedlichen Personen und Situationen als vertraut oder als fremd und bedrohlich eingeordnet werden.
32.4.4 Abgrenzung zur Sprechangst
Die Abgrenzung zur Sprechangst ist oftmals schwierig. Die Hinweise in der Literatur, nach der die Sprechangst als Angst, vor jemandem zu sprechen, interpretiert werden kann, der Mutismus hingegen als Angst, mit jemandem zu sprechen (Bahr 2002), ist insbesondere aufgrund der hohen Komorbidität mit der sozialen Angststörung nur von theoretischem Wert. Meist empfinden Personen mit Mutismus es ebenfalls als belastend, vor anderen zu sprechen. Eine Überwindung der Sprechscheu ist in der Regel schneller möglich. Die Sprechangst kann außerdem eher reflektiert und von den Betroffenen verbal geäußert werden. In den ersten Monaten im Kindergarten und in der Schule ist es Teil eines normalen Verhaltens, mit Schüchternheit und Schweigen zu reagieren. Schweigt ein Kind allerdings über den Zeitraum von 3 Monaten hinaus, so sollte es genauer beobachtet werden.
565 32.5 · Therapeutisches Vorgehen
32.4.5 Abgrenzung zum Autismus
Die Abgrenzung zum Autismus ist sehr viel leichter, und zwar anhand der Konstanz des Verhaltens möglich. Kinder mit Autismus zeigen ihr Verhalten gleichbleibend, Kinder mit Mutismus zeigen unterschiedliche Verhaltensweisen je nach Situation. Außerdem wird emotionaler Kontakt zu Personen des vertrauten Kreises gesucht, insbesondere zur Mutter. Die Entwicklung der (Schrift-)Sprache sollte mindestens altersentsprechend sein. > Fazit Die Diagnostik sollte eine HNO-ärztliche und neurologische Untersuchung ebenso wie eine ausführliche Sprachdiagnostik einschließen. Neben der Exploration der Eltern und des Kindes sollten Informationen aus Kindergarten und Schule eingeholt werden. Die Abgrenzung zur Sprechangst ist schwierig. Anhand der Konstanz des Verhaltens ist hingegen die Abgrenzung zum Autismus in der Regel unproblematisch. Zur Erfassung des selektiven Mutismus liegen als deutsche Version der Elternfragebogen »EM-Fragebogen (Eltern)« und der Lehrerfragebogen »EM-Fragebogen (Lehrer)« von Bergman und Steinhausen vor. Hilfreich kann der »Evaluationsbogen für das sozial interaktive Kommunikationsverhalten bei Mutismus« von Hartmann sein. Das »Diagnostische Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter« (Kinder-DIPS) umfasst eine Sektion zum Störungsbild des selektiven Mutismus.
32.5
Therapeutisches Vorgehen
32.5.1 Allgemeine Richtlinien in der kognitiv-
dern trotz des Schweigens eine normale Beziehung aufbauen. Es wird eine direkte Verhaltensänderung angestrebt, das Schweigen als unerwünscht betrachtet, da das Kind durch das Schweigen in seiner Entwicklung eingeschränkt ist. Die Aufgabe der Therapie besteht deshalb darin, dem Kind einen Weg aus dem Schweigen aufzuzeigen.
Beispiele, um dem Kind Wege aus dem Schweigen aufzuzeigen (Bahr 2004; Hartmann 2006; Katz-Bernstein 2005) 4 Selbsterzeugte interessante Geräusche, z. B. durch den Einsatz von Musik- und Geräuschinstrumenten 4 Musikalischen oder rhythmischen Dialog führen, z. B. durch Vormachen – Nachmachen 4 Dem Kind unterstellen, dass es sehr bald in der Therapie sprechen wird 4 Über die Therapieverläufe anderer Kinder berichten 4 Spielerische Ablenkung, z. B. durch ein spannendes Spiel 4 Einbezug von vertrauten Freunden, mit denen das mutistische Kind spricht 4 Ablenkung von der Hauptentscheidung, den Mutismus zu überwinden, indem eine andere Wahl vorgegeben wird, z. B. in welcher Situation das erste Wort gesprochen werden soll, z. B. in der Therapie oder der Schule 4 Schattensprechen, d. h. die Stimme des Kindes etwa durch andere Stimmen oder Geräusche kaschieren 4 Zugzwang, d. h. bei bekannten, sich wiederholenden Versen an markanten Stellen innehalten, um das Kind den Vers durch Zugzwang vervollständigen zu lassen
behavioralen Mutismustherapie Therapieziele. Das wesentliche Ziel der Therapie besteht darin, das Kind zum Kommunizieren zu bringen, und zwar nicht nur in der therapeutischen Situation, sondern auch in den alltäglichen angstbesetzten Situationen. Daneben bestehen weitere Ziele (Hartmann 1997) in der Stärkung des Selbstbewusstseins, der Therapie einer eventuell vorhandenen Sprachstörung, der Auflockerung negativistisch-trotzigen Verhaltens, der Bearbeitung familiärer Konflikte, der Überwindung von Leistungsinsuffizienzen und dem Abbau sekundärer Symptome. Bei Migrantenkindern sollte ein Umgang mit den unterschiedlichen Kulturen erreicht werden. Behandlungsbeginn. Die Behandlung sollte so bald als möglich begonnen werden, damit das Kind sich nicht als »schweigend« zu fühlen beginnt und die anderen Kinder es nicht als »schweigend« wahrnehmen und behandeln. Therapeutische Beziehung zum Patienten. Die Therapeuten sollten keine Angst vor dem Schweigen zeigen, son-
Motivation. Wichtig ist die Frage, ob das mutistische Kind und seine Eltern unter der Störung leiden, z. B. aufgrund der oftmals nachfolgenden Vereinsamung. Zulassung nichtlautsprachlicher Kommunikation. Wichtig ist, die Kommunikation aufrechtzuerhalten, auch wenn das aktuell nur mit anderen als lautsprachlichen Mitteln möglich ist. Jeder Abbruch jeglicher Kommunikation führt das Kind weiter in die kommunikative Passivität. Abbau mimisch-gestischer Kompensationsstrategien. Es sollte aber keine falsche Schonhaltung gewährleistet werden. Nach den ersten Lautäußerungen sollten die nonverbalen Kompensationsstrategien beim Kind abgebaut werden – je schneller, desto besser. Es gilt dabei das Prinzip, angemessen zu fordern, aber nicht zu überfordern. Positive Erfahrungen der Veränderung müssen schnellstmöglich erlebbar gemacht werden.
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566
Kapitel 32 · Selektiver Mutismus
Loben. Die richtige Dosierung des Lobes, die das Kind ertragen kann, ist wichtig. Als günstig erweist es sich, die Kinder so zu behandeln, als hätten sie immer gesprochen. Nur keine zu große Aufmerksamkeit, die mutistische Kinder häufig mehr als alles andere fürchten. Gerade diese Furcht vor starker Aufmerksamkeit hindert viele mutistische Kinder daran, den Mut zum Sprechen aufzubringen. Andere glauben, sie hätten eine Niederlage erlitten, wenn sie beginnen, wieder zu sprechen. Wichtig ist es deshalb, kein Aufheben zu machen. Nicht der Akt des Sprechens, sondern der Inhalt dessen, was gesagt wurde, verdient Aufmerksamkeit. Stationäre Behandlung. Eine stationäre Behandlung er-
scheint insbesondere bei stark ausgeprägter und chronifizierter Symptomatik, nach einer 6-monatigen ambulanten Behandlung ohne entscheidende Veränderungen und bei sehr stark ausgeprägten komorbiden Störungen hilfreich. Bei einer stationären Behandlung ist die notwendige Erhöhung der Therapiestundenzahl zu Beginn der Therapie problemlos möglich, und Unterrichtsausfall kann durch Besuch der Klinikschule vermieden werden. Beziehung zu den Eltern. Eine supportive Beziehung zu den Eltern ist bedeutsam, da sie sich oftmals durch die Verschlossenheit des Kindes verunsichert und enttäuscht fühlen, mit Versagensängsten zu kämpfen haben und immer wieder mit Schuldvorwürfen konfrontiert werden. Die Beseitigung der aufrechterhaltenden Faktoren in der Familie ist wesentlich, etwa dass sich die Eltern nicht als Sprachrohr zur Verfügung stellen, dass eine gleiche Verteilung von Rechten und Pflichten erfolgt und keine Sonderstellung gewährt wird.
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Förderung sozialer Kontakte. Kontakte zu Gleichaltrigen sollten gefördert werden, aber auch Kontakte zur Restfamilie, die als Modellverhalten fungieren. Interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Fachleuten, etwa HNO-Ärzten zum Ausschluss von Hörproblemen, Bezugspersonen des Kindes aus pädagogischen Einrichtungen und von Freizeitaktivitäten, Sprachtherapeuten oder Logopäden, sofern Sprachentwicklungsstörungen vorliegen, etc. ist wesentlich für den Erfolg der Therapie. ! Viele Erwachsene beginnen den Beziehungsaufbau anfangs mit viel Wärme und Zuwendung in der Annahme, das mutistische Kind brauche nur Selbstvertrauen und würde sprechen, sobald es sich sicher fühle. Bei mutistischen Kindern ist Wärme und Zuwendung allein jedoch nicht ausreichend.
32.5.2 Kognitiv-behaviorale Ansätze
Für die kommunikative Kompetenzentwicklung mutistischer Kinder sind verschiedene Programme entwickelt worden (Brack 1986). In verhaltenstherapeutischen Ansätzen wird die Meinung vertreten, dass das Potenzial für den lautsprachlichen Mittelgebrauch erhöht bzw. gestärkt werden muss. Nach anderen Auffassungen wird der lautsprachlich-kommunikativen Kompetenzentwicklung ein geringer Stellenwert beigemessen (Schaller u. Schmidtke 1975). Diese andere therapeutische Haltung ist eher abwartend, auf Impulse des Kindes wartend und eingehend. Sie sieht das Schweigen als eine Bewältigungsstrategie für widrige Anforderungen, Erfahrungen oder Lebensumstände, daher soll das Kind das Geschehen sowie Nähe und Distanz regulieren können. Kognitiv-behaviorale Interventionsmethoden sind: 1. Psychoedukation, 2. Kontingenzmanagement, 3. Stimulus-Fading, 4. Shaping, 5. Modelllernen, 6. systematische Desensibilisierung, 7. graduierte Exposition.
Ansatz von Brack (2001) Der verhaltenstherapeutische Ansatz von Brack (2001) ist bei vielen mutistischen Kindern ein sehr erfolgreicher Ansatz, der alle wesentlichen Interventionsmethoden umfasst. Er unterliegt dem Prinzip der sukzessiven Approximation. Im Vordergrund steht die operante Ausformung (Shaping), systematische Desensibilisierung kommt hinzu. Zunächst erfolgt Verstärkung für kooperatives Verhalten wie Blickkontakt oder Sitzenbleiben auf dem Stuhl etc. Dann folgt ein Imitationstraining grob-, fein- und später mundmotorischer Bewegungen. Erst danach wird zur Nachahmung von Phonemen, Silben, Wörtern und Sätzen übergegangen. Zugleich, allerdings in getrennten Sitzungen, sollte den Empfehlungen von Brack zufolge ein zweiter Weg beschritten werden, der in einer fein abgestuften Reizüberblendung steht (Fading). In Situationen, in denen das Kind noch relativ gut spricht, werden Elemente von Situationen eingeblendet, in denen es kaum oder gar nicht spricht. Ein Element von Fremdheit könnte z. B. eine offenstehende Tür sein, während das mutistische Kind in dem Raum allein mit seiner Mutter spricht. In der anschließenden Generalisierungsphase erhält das Kind außerhalb der Übungssituationen Aufgaben, die zunehmend komplexer gestaltet sind. Begleitende Maßnahmen betreffen die Organisation des Alltags, das Erziehungsverhalten der Eltern etc. (Brack 2001).
567 32.5 · Therapeutisches Vorgehen
Stimulus-Fading (Muchitsch 1979) 1. Kind wird mit enger Bezugsperson allein gelassen, Therapeut verlässt den Raum, angenehmes Spiel. 2. Der Therapeut ist bei offen gehaltener Tür im Nebenraum. 3. Abmachung zwischen Bezugsperson und Kind, dass es durch Kopfschütteln und Kopfnicken antwortet; Therapeut betritt hin und wieder den Raum. 4. Mutter stellt Alternativfragen. 5. Wenn das Kind im Flüsterton Fragen beantwortet, bleibt der Therapeut im Raum, tut so, als würde er lesen. 6. Therapeut nähert sich immer öfter dem Spieltisch. 7. Therapeut spielt mit, überlässt die Führung aber der Mutter. 8. Therapeut bestimmt die Art der Spiele. 9. Kind beschreibt dem Therapeuten vorgelegte Bilder. 10. Kind erzählt von Ereignissen oder von zu Hause. 11. Freie Gespräche mit dem Therapeuten. 12. Ein oder zwei Kinder werden zum Spielen hinzugenommen.
Eine weitere Intervention, die ergänzend hinzugenommen werden kann, ist das Audiofeedforward (Blum et al. 1998).
Audiofeedforward (Blum et al. 1998) Das Kind erhält auf einer Audiocassette Szenen vorgespielt, die suggerieren, dass es bereits in Situationen spricht, in denen es bisher noch mutistisch ist. Das Kind hört sich dieses Tonband mehrmals täglich an. Beispiel: Mutter stellt auf dem Tonband Fragen, die das Kind beantwortet. Anschließend erfolgt eine Tonbandaufnahme, bei der eine andere Person die gleichen Fragen stellt. Beide Aufnahmen werden dann zusammengeschnitten: Die andere Person stellt die Fragen und das Kind antwortet. Entsprechende Ansätze gibt es zum visuellen und elektronischen Feedforward.
Therapeutisches Vorgehen von Katz-Bernstein (2005) Eingangsgespräch. Die Angst des Kindes vor dem Sprechen wird respektiert. Eine klare Abmachung wird mit dem Kind getroffen, nämlich dass in kleinen Schritten vorgegangen wird, die sich das Kind zutraut. Das Kind behält also die Kontrolle. Ziel und Grund der Therapie werden offengelegt. Dem Kind wird Zuversicht gegeben, dass es zum eigen-
ständigen Sprechen fähig ist. Die allmähliche Trennung von der Sprechvermittlerperson wird gefordert. Bei einigen Kindern erscheint es sinnvoll, dass das Kind einen abgegrenzten Raum innerhalb des Therapieraumes als sein Zuhause für sich besetzen kann (»safe place«). Aufbau eines kommunikativen Verhaltens. Die ersten
Schritte sind durch den Aufbau von Kommunikationsstrukturen im nichtverbalen Austausch gekennzeichnet. Zunächst steht der systematische Aufbau von »Turn-taking-Regeln« im Vordergrund. Viele Kinder mit Mutismus wirken erstarrt, senken den Blick, sitzen abgewandt. Kommunikationspartner werden vor Beginn des verbalen Gesprächs nicht mit einem Blickdialog oder einer Geste registriert. Die Kommunikation wirkt so asymmetrisch. Die Entwicklung des Blickkontakts, der Austausch von Mimik und Gestik sowie interaktive Bewegungen sind deshalb bereits Teil einer ersten Intervention zum Aufbau einer Kommunikation. Hilfsmittel sind etwa Puppen, um eine Ablenkung von der direkten Kommunikation zu ermöglichen. Aufbau der verbalen Kommunikation. Der nächste Schritt besteht darin, Lärm zu erzeugen, den Raum mit selbsterzeugten Geräuschen zu füllen, z. B. unter Einsatz von Musik- und Geräuschinstrumenten. Die Hierarchie des Ortes, an dem geschwiegen wird, wird aufgelockert, indem z. B. ein Freund mit in die Therapiestunde gebracht wird, mit dem das mutistische Kind spricht. Bei jüngeren Kindern hilft manchmal die Ablenkung durch ein spannendes Spiel oder eine Handlung. Es wird eine Hierarchie erstellt, um eine Rangreihe schwieriger Orte, Personen und Sprechweisen bilden zu können. Das Prinzip der Externalisierung wird durch Äußerungen wie: »Wir lassen uns von der Stimme, die nicht sprechen will, nicht so leicht erpressen. Die Stimme, die es neu versuchen will, muss doch zuerst eine Chance bekommen« angewendet. Es besteht keine völlig freie Wahl der zu bewältigenden Angstsituationen, sondern das Kind darf sich zwischen einer eingeschränkten Auswahl vorgegebener Situationen entscheiden. Zu Hause werden Sprechproben erstellt, die auf Tonband in der Klasse vorgespielt werden. Die Methode des Schattensprechens wird eingesetzt: Die Stimme des Kindes wird durch andere Stimmen oder durch Geräusche so kaschiert, dass das Kind sie nicht als exponiert erlebt. Manche mutistische Kinder singen mit, wenn ein Stimmengewirr vorhanden ist, oder sie sprechen mit anderen Kindern, solange weitere laute Gespräche das eigene Sprechen verdecken. Eine andere Aufgabe kann das gemeinsame Vorlesen sein: Die erste Aufgabe kann lauten, still und ohne die Lippen zu bewegen, einen Abschnitt mitzulesen. Beim zweiten Durchgang kann mit Lippenformen mitgelesen werden, beim dritten Mal flüsternd und dann halblaut.
32
568
Kapitel 32 · Selektiver Mutismus
Angstreduzierende Maßnahmen in der Schule (Katz-Bernstein 2005) 1. Das Kind zunächst nicht zum Sprechen zwingen 2. Das Kind als Teil der Klasse an allen Aktivitäten partizipieren lassen 3. Vermehrt nonverbale Aktivitäten in der Klasse einsetzen 4. Kontakte mit anderen Kindern initiieren und fördern 5. Einsatz von Symbolzeichen, Gesten und Karten, um die Partizipation im Unterricht und in der Projektarbeit zu fördern 6. Kleingruppensituationen fördern 7. Kontakte zwischen den Kindern in der Unterrichtsgestaltung einplanen 8. Gemeinsame Aufgaben mit Freunden geben 9. Spezialaufgaben verteilen, die zunächst keine verbalen Äußerungen benötigen 10. Strukturierter Plan zum Aufbau des Sprechverhaltens
Förderansatz von Dobslaff (2005)
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Beim Förderansatz von Dobslaff (2005) handelt es sich um einen schulintegrierten Förderprozess, der vor allem sprachtherapeutischen Charakter trägt. »Fördern durch angemessenes Fordern« wird als Maxime genannt. Der gesamte Prozess soll dabei vom Fachpsychologen geführt und verantwortet sein, Sprachtherapeuten und Pädagogen werden einbezogen. Das Neulernen soll in erster Linie durch Modelllernen erfolgen, das außerunterrichtlich organisiert wird, wobei wesentliche Therapieaspekte eine sprachtherapeutisch-sprecherzieherische Zielsetzung haben. Die sprachlichen Fehlleistungen sollen korrigiert und normale Kommunikationsstrategien vermittelt werden. Die Umsetzung des Förderprozesses schließt Qualifizierungsmaßnahmen der Lehrer ein, bei der z. B. Kenntnisse zur steigenden kommunikativen Anforderung vermittelt werden und ggf. Veränderung eigener Sprech- und Kommunikationsweisen nahegelegt werden. Zum Aufbrechen der Sprechblockierung wird eine neutrale Umgebung (nicht die Schule) gewählt, der Einsatz von Stützpersonen (zumeist der Mutter) ist erlaubt, die Dominanz einer praktischen (Spiel-)Tätigkeit erleichtert die Kommunikation, evtl. wird der Einsatz von Spielpuppen gefördert, Inhalte sind Sachthemen. Der mutistische Schüler soll möglichst häufig in eine entwicklungsstimulierende sprechkommunikative Tätigkeit versetzt werden durch regelmäßiges und häufiges Fordern auf erfüllbarem sprechkommunikativem Niveau. Das schließt z. B. einen gegenständlichen Kode, Kode durch Mimik und Gestik, Einsatz von elektronischen Kommunikationsmitteln oder von Signalkarten, eine Kommunikation nur mit Hilfe eines Dolmetschers, ein Sprechen im Flüsterton, einen Einwort-Antwort-Dialog, Mittel zur Verringerung der exponierten Stellung beim Sprechen, z. B. Blickkontakt ersparen, Lockerungsübungen wie Lachen, entladende Bewegungen, Ruf-Übungen, Stützen, z. B. sich an bestimmten
Gegenständen festhalten, Puppen als Helfer oder imaginäre Stützen mit ein. Das Kind wählt sich ein Unterrichtsfach, einen Lehrer, bei dem es mit dem Sprechen beginnen will. ! Eine Kinderumgebung hat häufig vorteilhafte Wirkung: Kinder mit Mutismus geben ihr Schweigen eher in einer Kindergruppe als in einer anderen Umgebung auf. Der geringere Erwartungsdruck und der spielerische Umgang wirken erleichternd.
Systemische Mutismus-Therapie (SYMUT) von Hartmann (2006) Bei der systemischen Mutismus-Therapie (SYMUT) von Hartmann (2006) handelt es sich um einen ambulanten Therapieansatz, der auf der Interdisziplinarität zwischen Psychiatrie, Psychologie und Sprachtherapie beruht. Die Therapie erfolgt in vier Phasen: 1. Präverbale Phase: Aufbau einer therapeutischen Beziehung; Beratung und Elternarbeit; Bedeutung des Sprechens; Evozierung der ersten Laute. 2. Lexikalisch-syntaktische Phase: Wort- und Satzäußerungen; Begrüßung und Verabschiedung; therapeutischer Vertrag mit Dokumentation der Kommunikation, interdisziplinäre Gesprächsrunden. 3. Kommunikativ-sozialinteraktive Phase: Dialogschema; Vorlesen/Nacherzählen und Versprachlichung von Geschichten; Telefonieren; Training der Sozialkompetenz durch In-vivo-Therapie. 4. Nachbetreuungsphase: erneute Vorstellung nach 3 und 9 Monaten; Nachuntersuchung; Beratung bei aktuellen Fragestellungen; gemeinsame Erarbeitung von Zukunftsperspektiven. Die Evozierung der ersten Laute nach Hartmann (2006) erfolgt z. B. durch ein gemeinsames Eisenbahnspiel. Handmotorik und Bildung eines Geräuschs und ein gut animiertes Spielzeug zum Anfassen üben Faszination aus. Falls das Kind es nicht schafft, einen Laut zu produzieren, übernimmt der Therapeut wieder die Eisenbahn und erklärt, wie die Mundöffnung aussehen muss, um einen sch-Laut zu produzieren (»ganz rund wie ein Schornstein«).
Vorteil neuer Situationen Neue Situationen bieten den Vorteil, dass das Schweigen noch keine Macht gewonnen hat. Torey L. Hayden (1980) empfiehlt für die Therapie mutistischer Kinder, dass jemand auf das Kind zugeht, der ihm unbekannt ist, damit noch keine Beziehung entstanden ist, die das Schweigen mit einschließt. Diese Person sollte eine deutliche Gesprächserwartung spüren lassen und dem Kind unausweichlich Anlass bieten, zu sprechen, und zwar eindringlich, es nicht ausweichen und sich nicht von der Mauer des Schweigens abschrecken lassen.
569 32.6 · Fallbeispiel
Forciertes Sprechen (Krohn et al. 1992; Weckstein et al. 1995) Ein Ansatz zur Unterbindung von Sprechvermeidung ist das forcierte Sprechen (Krohn et al. 1992; Weckstein et al. 1995). Die Autoren dieses Ansatzes gehen von einer Verbindung zwischen selektivem Mutismus und oppositionellem Verhalten aus. Nach der Psychoedukation und dem Beziehungsaufbau (ca. 3–4 Therapiesitzungen) bleibt der Therapeut so lange mit dem Kind zusammen, bis es zumindest ein Wort gesprochen hat. Der Therapeut wechselt dabei zwischen supportivem Verhalten, Verbalisation der Gefühle des Kindes, Spiel und Nichtbeachten des Kindes. Die übliche Dauer der Sitzung beträgt 2–4 Stunden. Danach folgen Interventionen zur Förderung des freien Sprechens.
weise verändert, so dass die Verhaltenweisen zunehmend mehr Elemente mit dem Zielverhalten gemeinsam haben); 4 Modelllernen, insbesondere Self-modelling beim auditiven, visuellen oder elektronischen Feedforward; 4 »Escape-avoidance-Technik« (der Therapeut bleibt so lange mit dem Kind zusammen, bis es zumindest ein Wort gesprochen hat); 4 Expositionsverfahren (die Situationen können sich dabei hinsichtlich der Sprechleistungsanforderung, dem Inhalt der Kommunikation, der situativen Aspekte, Räumlichkeiten, Örtlichkeiten oder Personen unterscheiden). Die pharmakotherapeutische Behandlung des Mutismus bleibt schweren und chronischen Verlaufsformen vorbehalten. Sie ist insbesondere bei komorbiden Angststörungen oder depressiven Störungen indiziert.
Pharmakotherapie Bei schwer therapierbaren Patienten kann das mutistische Verhalten durch eine medikamentöse Therapie verbessert werden. Zielsymptom ist dabei das Störungsbild, in dem das mutistische Verhalten eingebettet ist. So wurden bei depressiven Kindern und Jugendlichen, die einen selektiven Mutismus zeigten, mit einer antidepressiven Pharmakotherapie und psychotherapeutischen Maßnahmen erfolgreiche Ergebnisse erzielt (Nissen 1998; Seifert 2004). Bei ängstlichdepressiven Kindern haben sich Fluoxetin und Imipramin als nützlich erwiesen. In kontrollierten klinischen Studien konnten sowohl für die genannten Antidepressiva als auch für den in Deutschland nicht verfügbaren MAO-Hemmer Phenelzin positive Wirkeffekte nachgewiesen werden (Black u. Uhde 1994). Eine signifikante Wirksamkeit unter Behandlung mit β-Rezeptoren-Blockern, mit Neuroleptika oder mit Benzodiazepinen konnte in klinischen Studien nicht nachgewiesen werden (Seifert 2004). > Fazit Das wesentliche therapeutische Ziel besteht darin, das Kind zum Kommunizieren zu bringen. Die interdisziplinär ausgerichtete Behandlung sollte dabei sobald wie möglich begonnen werden. Wichtig ist es, die Kommunikation aufrechtzuerhalten, auch wenn es zeitweise nur mit anderen als lautsprachlichen Mitteln möglich ist. Die gewohnten gestisch-mimischen Antworten sollten jedoch so schnell wie möglich abgebaut werden. Positive Erfahrungen der Veränderung müssen schnellstmöglich erlebbar gemacht werden. Auch die richtige Dosierung des Lobes, die das Kind ertragen kann, ist wichtig. Die meisten behavioralen Behandlungsansätze beinhalten einen multimodalen Ansatz, bei dem mehrere Techniken angewendet werden: 4 Kontingenzmanagement (für verbales Verhalten erfolgt Verstärkung); 4 Shaping (Kriterium für die Verstärkung wird stufen-
32.6
Fallbeispiel
J. ist das jüngere von zwei Mädchen einer amerikanischen Mutter und eines deutschsprachigen Vaters und wurde zweisprachig erzogen. Die ersten Lebensjahre seien unauffällig verlaufen bis auf einen relativ späten Beginn des Sprechens. J. war laut Angaben der Mutter immer schon schüchterner und sensibler als andere Kinder gewesen. Allem Neuen stand sie sehr ängstlich gegenüber. Auffallend sei gewesen, dass sie sich immer sehr stark an die Mutter klammerte. In fremden sozialen Situationen hatte sie von Anfang an die Neigung, sich zusammenzuziehen und eine verkrampfte Haltung einzunehmen. Aus anfänglichen Anlaufschwierigkeiten wurde ab dem Alter von 3 Jahren ein Schweigen. Nach und nach brach sie auch zu Personen, die sie regelmäßig sah, den verbalen Kontakt ab. Sie sortierte aus, mit wem sie sprechen wollte und mit wem nicht. Besonders große Schwierigkeiten hatte sie, mit Jungen zu sprechen. Mit versteinertem Gesicht, verschlossenen Lippen, Ausdruckslosigkeit im Gesicht, Abweisung, Trotz und Sturheit verbrachte sie die Vormittage im Kindergarten. Zu Hause zeigte sich J. unbekümmert und redselig, so dass die Eltern sich nur schwer vorstellen konnten, wie es zu dieser Wesensänderung im Kindergarten kommen konnte. Die Eltern, die sich auch von den Vorwürfen der Erzieherinnen ihnen gegenüber angegriffen fühlten, entschieden sich, J. vom Kindergarten abzumelden. Die Einschulung brachte nicht das von den Eltern erhoffte Durchbrechen des Schweigens. Sie sprach nicht nur nicht, sondern verwendete auch keine nonverbalen Kommunikationswege. Sie reagierte nur eingeschränkt auf die Umwelt, keine Begrüßung und Verabschiedung erfolgte, Fragen oder Hinweise wurden überhört. In der Schule hätte J. nach Auskunft der Lehrerin ebenso gut ein kleines Phantom sein können. Keiner sprach mit ihr, sah sie an
32
570
32
Kapitel 32 · Selektiver Mutismus
oder nahm auch nur von ihrer Anwesenheit im Klassenzimmer Kenntnis. Und J. verfuhr genauso. Sie ging mit Konzentration ihrer jeweiligen Beschäftigung nach, aber sie tat so, als befände sich außer ihr kein Mensch im Raum. Niemand glaubte mehr ernsthaft, das sie sprechen würde, erwartet wurde das nur noch vordergründig. Nachdem sie so lange geschwiegen hatte, konnte sie sich überhaupt nicht mehr vorstellen, plötzlich anzufangen zu sprechen. Es gab keinen Grund, das Sprechverhalten ändern zu wollen. Es brachte keinerlei Vorteile. In der Pause war sie allein. Zunächst schien es sie nicht zu stören, bis die Phase begann, in der sie geärgert wurde. Die Noten gingen in den Keller. Sie wirkte abweisend, die Augen sahen ins Leere. Sie schien kaum etwas von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Die Welt der anderen Kinder erschien unerreichbarer, je älter sie wurde. Später kam eine Weigerung hinzu, sich an bestimmte Regeln in der Schule zu halten. Diese Weigerung war inzwischen fast schwieriger als das Schweigen geworden. J. tat nicht, was die Klasse tun sollte. Die Lehrerin fühlte sich von J.’s Verhalten provoziert und verärgert. Die Eltern schwankten zwischen besonders behutsamem Verhalten und wütendem, strengem Verhalten. Zu Hause zeigte J. inzwischen neben dem ausgelassenen, redseligen ein teilweise sehr trotziges, tyrannisches Verhalten, insbesondere der Schwester gegenüber. Sehr verärgert reagierte J. immer über Kleinigkeiten, die das Sprechen betrafen. Sie reagierte teilweise wie eine »Prinzessin auf der Erbse«. Später berichtete J. ihren Eltern, dass sie sich einfach nicht erklären konnte, warum sie nicht wie die anderen ausgelassen sprechen konnte. Sie erlebte sich als anders. Oft fragte sie ihre Eltern, ob sie eine schöne Stimme habe. Nach Abbruch einer erfolglos verlaufenen Spieltherapie und Versuchen mit homöopathischen Mitteln entschlossen sich die Eltern zu einer stationären Therapie in der Kinderund Jugendpsychiatrie. J. war inzwischen 10 Jahre alt und besuchte die 4. Klasse. Mittels nonverbaler Kommunikation und Unterstützung durch die Mutter wurde der Leidensdruck ermittelt: Welche Nachteilte brachten J.’s Schweigen und welche Vorteile? J. wollte auf das Gymnasium und wusste, dass sie das nur schaffen konnte, wenn sie zu sprechen beginnt. Eine Hierarchie von Sprechsituationen mit steigendem Schwierigkeitsgrad wurde erstellt. In der Therapie wurde mit dem Sprechen zur Mutter in Anwesenheit der Therapeutin begonnen. Die Patientin durfte mit der Mutter eines ihrer Lieblingsspiele spielen, dabei musste sie mit »ja« antworten, damit das Spiel fortgesetzt werden konnte. In einem weiteren Schritt spielte die Therapeutin beim Spiel mit, schließlich spielte J. mit der Therapeutin allein. Es wurde vereinbart, dass die Mutter nunmehr nicht mehr für J. sprechen sollte und nicht mehr an den Therapien von J. teilnahm. In den nachfolgenden Sitzungen wurden sukzessive mehr Wörter verlangt, damit das Spiel fortgesetzt wer-
den konnte. Das Sprechverhalten von J. wurde belohnt, andere Kontaktversuche in dieser Situation wurden ignoriert. Zum Aufbau des Sprechens im natürlichen Umfeld wurden für verschiedene Lebensbereiche separate Hierarchien erstellt: etwa dem Sprechen mit der Verwandtschaft, in der Schule, am Telefon. Eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern und den Lehrern ihrer Schule war möglich. Mit dem Wechsel auf die neue Schule hatte J. begonnen, in der Schule zu sprechen. Nach wie vor fühlte sie sich in Gegenwart anderer Menschen, insbesondere Kindern, nicht richtig wohl.
32.7
Empirische Belege
Eine Schwierigkeit besteht darin, dass publizierte Therapiestudien sich meist auf individuell strukturierte Therapiemaßnahmen beziehen. Ein Überblick über eine größere Anzahl aufwendig individuell strukturierter Therapiemaßnahmen zeigt, dass operante Verfahren bei allen selektiv mutistischen Kindern Fortschritte erzielten (Brack u. Metzner 1993). Kratochwill (1981) gibt eine Übersicht über 45 Fallberichte und Einzelfallstudien mit überwiegend positiven Ergebnissen. Calhound und König (1973) verglichen acht Kinder, die entweder positive Verstärkung bei Sprechen erhielten oder aber keine Therapie. Der anfänglich positive Effekt durch die Verstärkung war nach einem Jahr nicht mehr nachweisbar. Isensee et al. (1997) geben eine Übersicht über 25 deutschsprachige Fallberichte. Von den zwölf kognitiv-behavioralen Therapiestudien berichteten acht Studien über eine weitgehende, vier von einer teilweisen Symptombesserung. Eine Metaanalyse (Pionek Stone et al. 2002) zeigte, dass eine behaviorale Behandlung besser als keine Behandlung war und dass sich bei zwei unterschiedlichen behavioralen Modellen keine Wirksamkeitsunterschiede nachweisen ließen. In einer Literaturübersicht zu Therapiestudien, die zwischen 1990 und 2005 veröffentlicht wurden, kommen Cohen et al. (2006) ebenfalls zu dem Ergebnis, dass unterschiedliche kognitiv-behaviorale Interventionen in der Therapie des selektiven Mutismus wirksam sind, dass jedoch aufgrund des klinischen Erscheinungsbildes einige Interventionsansätze kontraindiziert sein könnten, etwa das Self-modeling bei sehr ängstlichen mutistischen Kindern. Krohn et al. (1992) berichtet für die Methode des forcierten Sprechens an einer Stichprobe von 20 mutistischen Kindern sehr positive Ergebnisse: 17 der Kinder zeigten eine komplette Remission, drei sprachen zwar in der Schule, zeigten aber Schwierigkeiten in anderen Situationen. Für das auditive, visuelle und elektronische Feedforward gibt es verschiedene Fallberichte, die teilweise Erfolge oder Misserfolge berichten. Die Wirksamkeit von Fluoxetin untersuchten Dummit et al. (1996) und Black und Uhde (1994). Im Elternurteil war Fluoxetin besser als ein Placebo.
571 Literatur
32.8
Ausblick
Der klinische Eindruck vieler mutistischer Kinder lässt vermuten, dass sie das Sprechen weniger im Sinne eines oppositionellen Verhaltens verweigern, sondern sich eher unfähig fühlen, zu sprechen. Studien zum Störungsbild, zu biologischen Grundlagen, familiären Auffälligkeiten und zur Behandlung sind erforderlich, um zu entscheiden, ob der selektive Mutismus tatsächlich als Angststörung klassifiziert werden sollte. Mehr Studien zur Diagnostik, um ein frühzeitiges Erkennen zu ermöglichen, und zur Behandlung sind notwendig, um effektivere Wege zur Überwindung des Mutismus zu finden, der die Entwicklung dieser Kinder so stark gefährdet.
Zusammenfassung Obwohl mutistische Kinder die Fähigkeit zu sprechen besitzen, setzen sie sie in bestimmten Situationen nicht ein. Abhängig ist das Schweigen dabei vom empfundenen Belastungsgrad der kommunikativen Bedingungen. Bislang publizierte Häufigkeiten liegen unter 1%. Es werden nach dem Auftretensalter zwei Gruppen unterschieden: der Frühmutismus (ab 3–4 Jahren) und der Spät- oder Schulmutismus (ab 5,5 Jahren). Die Diskussion, ob der selektive Mutismus als Manifestation einer zugrunde liegenden Angst einzuordnen ist, ist noch nicht abgeschlossen. Soziale Ängste, oppositionelles Trotzverhalten, depressive Stimmungen, Zwangssymptome sind nach derzeitigem Kenntnisstand als begleitende Störungen oder Symptome zu bewerten. Die Phänomenologie des selektiven Mutismus erscheint auch zu komplex, um sie lediglich als Symptom im Rahmen anderer Störungsbilder einzuordnen. In der Diagnostik sollte eine HNO-ärztliche und neurologische Untersuchung erfolgen. Neben der Exploration der Eltern, Erzieher und Lehrer steht die Verhaltensbeobachtung des mutistischen Kindes im Mittelpunkt. Auch eine ausführliche Sprachdiagnostik sollte erfolgen. Die Therapieforschung steht bei diesem Störungsbild noch am Anfang, so dass eine differenzielle Indikation für einzelne Interventionsmethoden noch nicht möglich ist. Die meisten behavioralen Behandlungsansätze wenden mehr als eine Technik an. Als erfolgreich in der Behandlung des selektiven Mutismus haben sich u. a. die sukzessive Approximation, das Shaping, die systematische Desensibilisierung und das Fading erwiesen.
Literatur Weitere Literaturangaben (insbesondere zu den in diesem Kapitel genannten Studien) können bei den Autoren angefordert werden. Bahr, R. (2002). Schweigende Kinder verstehen. Kommunikation und Bewältigung beim selektiven Mutismus. Heidelberg: Winter. Bahr, R. (2004). Wenn Kinder schweigen. Redehemmungen verstehen und behandeln. Ein Praxisbuch. Düsseldorf: Walter.
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32
572
Kapitel 32 · Selektiver Mutismus
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32
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33
33 Prüfungsängste Lydia Suhr-Dachs
33.1
Einleitung
– 574
33.2
Darstellung der Störung – 574
33.2.1 33.2.2 33.2.3
Beschreibung der Symptomatik, Nosologie und Klassifikation der Störung – 574 Epidemiologie – 575 Komorbidität, Verlauf und Prognose – 575
33.3
Pathogenetisches Modell der Prüfungsangst
33.4
Diagnostik – 577
33.4.1 33.4.2 33.4.3
Die Untersuchungsbereiche bei Prüfungsängsten Störungsspezifische Diagnostik – 578 Diagnostik komorbider Störungen – 579
33.5
Therapeutisches Vorgehen
33.5.1 33.5.2 33.5.3 33.5.4
Therapieplanung nach dem Therapieprogramm für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen (»THAZ-Leistungsängste«) – 581 Kindzentrierte Behandlungsmethoden – 582 Elternzentrierte Interventionen – 586 Pädagogische Interventionen – 587
33.6
Fallbeispiel
33.7
Empirische Belege
33.8
Ausblick
– 587 – 589
– 590
– 591
Weiterführende Literatur
– 578
– 580
Zusammenfassung – 591 Literatur
– 576
– 592
574
Kapitel 33 · Prüfungsängste
33.1
Einleitung
33.2.1 Beschreibung der Symptomatik,
Nosologie und Klassifikation der Störung Eine Prüfung zu absolvieren, ist für viele Menschen, unabhängig vom Alter, eine besondere Herausforderung. Über das Kindes- und Jugendalter hinaus findet eine regelmäßige Konfrontation mit Prüfungssituationen statt: Führerscheinprüfung, Prüfungen im Sportverein, Zwischen- und Abschlussprüfungen in der beruflichen Ausbildung, Präsentationen im späteren Berufsleben. Der Anspruch, dass die Prüfungssituationen ganz ohne »Lampenfieber« durchlaufen werden, ist nahezu unhaltbar. Manche Menschen erleben diesen Zustand sogar als angenehmen »Kick«, wie z. B. die Kandidaten zahlreicher Fernsehquizsendungen, die ihr Wissen gerne vor einem möglichst breiten Publikum präsentieren. Im schul- und ausbildungsbezogenen Bereich hingegen wird eine Prüfungssituation vom Prüfling nicht immer als eine reine Wissensabfrage empfunden, sondern oft auch als Bewertung der eigenen Person. Dabei ist ein gewisser Pegel an Aufregung »ganz normal«, wobei die Übergänge fließend sind zwischen normal-psychologischen und übersteigerten Prüfungsängsten. Bei einigen Kindern und Jugendlichen übersteigt die Leistungsorientierung in der Schule das »gesunde« Maß. Anstelle von Leistungsmotivierung kommt es zu regelrechten Leistungsängsten, im schlimmsten Fall zu Leistungsblockaden, bei denen »nichts mehr geht«. Ein Teufelskreis aus leistungsbezogenen Ängsten, Leistungsdefiziten und schulischem Versagen kommt in Gang.
33.2
Darstellung der Störung
Fallbeispiel Miriam (14 Jahre)
33
»Schon eine Woche vor einer Klassenarbeit geht’s los. Mir ist total schlecht, ich kann schlecht schlafen. Trotzdem lerne ich enorm viel, zum Teil mehrere Stunden am Nachmittag. Das Wochenende vor der Arbeit ist Stress, weil ich von morgens bis abends lerne, lerne, lerne. Meine Mutter übt mit mir, was manchmal ziemlich ätzend ist, da sie immer wieder fallen lässt, dass ich ja wohl zu blöd bin, mich mehr anstrengen soll. Am Morgen der Klassenarbeit kriege ich kein Frühstück runter. Dann machen mich auch noch meine Klassenkameraden verrückt, indem sie mich mit Fragen löchern, was ich denn so gelernt habe. Kein Wunder, dass ich ein Brett vor dem Kopf habe, wenn ich vor den Aufgaben sitze. Dann habe ich meistens starkes Herzklopfen, die Aufgaben verschwimmen vor meinen Augen. Was ich gelernt habe, fällt mir dann nicht immer ein. Wenn ich Glück habe, beruhige ich mich irgendwie und es läuft. Richtig panisch werde ich, wenn ich merke, ich komme mit der Zeit nicht aus.
Prüfungsängste bei Kindern und Jugendlichen manifestieren sich entwicklungsbedingt vornehmend im schulischen Kontext. Dieser liefert zahlreiche angstauslösende Momente, so dass die Prüfungsangst von anderen schulbezogenen Ängsten abgegrenzt werden muss. So kann sich hinter der Angst vor der Schule neben der Prüfungsangst auch eine Trennungsangst, eine soziale Phobie oder im Jugendalter auch eine Agoraphobie verbergen. Neben Klassenarbeiten und Tests stellen Referate, aufgerufen zu werden und an die Tafel kommen zu müssen angsteinflößende Bewertungsmomente in der Schule dar. Die belastenden Angstsymptome beschränken sich nicht immer auf die Prüfungssituation, sondern belasten viele Kinder und Jugendliche schon Tage bis Wochen vorher, so dass die Merk- und Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigt ist. Auch nach der Prüfung können Sorgen und Ängste vor schlechten Ergebnissen und entsprechenden Reaktionen der Eltern die Kinder belasten. Die Äußerungsformen der Angst sind vielfältig und können im ungünstigen Fall zu einer Minderung der kognitiven Leistungsfähigkeit führen, die das Prüfungsergebnis mindert und das befürchtete Leistungsversagen hervorruft. Eine weitere Dimension stellt die behaviorale Komponente der Prüfungsangst dar. Diese liegt im Lernverhalten der Kinder und Jugendlichen, was bereits im Vorfeld der Prüfung durch ungünstige Lernstrategien (zu unregelmäßig, zu viel oder zu wenig lernen) oder durch komplette Lernblockaden beeinträchtigt sein kann. In den Klassifikationssystemen ICD-10 (WHO 1994) und DSM-IV (Saß et al. 1996) ist der Prüfungsangst keine eigene Störungskategorie zugeordnet, so dass die Angstform unter einer anderen Störungskategorie klassifiziert werden muss. Da es sich bei der Prüfungsangst im Kern um eine Bewertungsangst handelt, liegt die Diagnose einer sozialen Angststörung nahe. Im DSM-IV (Saß et al. 1996) werden Leistungssituationen explizit als angstauslösende Momente bei sozialer Phobie aufgeführt. Gefordert wird eine ausgeprägte und anhaltende Angst vor einer oder mehreren sozialen oder Leistungssituationen, in denen die Person mit unbekannten Personen konfrontiert ist oder von anderen Personen beurteilt werden könnte. (Saß et al. 1996; Hervorhebungen der Autorin)
Eine »generalisierte« soziale Phobie liegt nach dem DSMIV dann vor, wenn die Angst fast alle sozialen Situationen betrifft. Leider wurde nicht explizit eine »spezifische« Form der sozialen Phobie aufgeführt, wie sie Katschnig (1998) vorschlägt, denn dieser Terminus könnte bei prüfungsängstlichen Kindern deutlicher unterstreichen, dass sich die Ängste der Betroffenen ausschließlich auf die spezi-
575 33.2 · Darstellung der Störung
fische soziale Situation der Leistungsbewertung fokussieren. Damit würde der Tatsache Rechnung getragen, dass ein prüfungsängstliches Kind nicht generell sozial ängstlich sein muss. Im Unterschied zum DSM-IV gibt es die diagnostische Möglichkeit einer sozialen Angst nach der ICD-10 nicht. Bei der »Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F93.2)« leiden die Betroffenen an einer anhaltenden und übermäßigen Ängstlichkeit in sozialen Situationen, in denen eine Konfrontation mit unbekannten Personen stattfindet. Leistungs- bzw. Prüfungssituationen werden in der Umschreibung nicht explizit erwähnt. Die Diagnose einer sozialen Angststörung nach der ICD-10 ist zu komplex und geht in den Symptomkriterien weit über die recht umschriebene Symptomatik der Prüfungsangst hinaus. Somit verbleibt als einzige Möglichkeit, Prüfungsangst in der ICD-10 zu klassifizieren, die Diagnose einer »phobischen Störung des Kindesalters (F93.1)«. Beide Angststörungen verbindet das Kernelement der Umschriebenheit der Angst. So kann Prüfungsangst im engeren Sinn als Phobie vor einer isolierten (Prüfungs- oder Bewertungs-) Situation konzipiert werden. > Fazit 4 Prüfungsängste bei Kindern führen auf verschiedenen Ebenen zu einer starken Beeinträchtigung der Betroffenen über die Prüfungssituation hinaus. 4 In den Klassifikationssystemen wird der Prüfungsangst keine eigene Kategorie zugeordnet, so dass sie unter die phobischen Störungen (ICD-10) oder sozialen Phobien (DSM-IV) subsummiert werden müssen.
33.2.2 Epidemiologie
In der im deutschen Sprachraum bundesweit durchgeführten PAK-KID-Studie (Döpfner et al. 1997; Lehmkuhl et al. 1998) wurde auf Basis des Elternurteils bei 3,7% aller Jungen und 3,8% aller Mädchen im Alter von 4 bis 10 Jahren Ängste, in die Schule zu gehen (bewertet mit etwas/ manchmal oder genau/häufig zutreffend), festgestellt. Weitere Daten wurden in der Studie mit dem Phobiefragebogen für Kinder und Jugendliche (PHOKI) in einer repräsentativen Kölner Stichprobe erhoben (Döpfner et al. 2006). Die Ergebnisse belegen, dass rund 20% aller 8bis 18-jährigen Kinder und Jugendlichen häufig Angst haben, durch eine Prüfung zu fallen, und rund 13% aller Jungen sowie 15% aller Mädchen sich vor schlechten Noten ängstigen. Aktuellere Daten liefern die ersten Ergebnisse der großen repräsentativen Verlaufsuntersuchung des Deutschen Jugendinstitutes (DJI-Kinderpanel 2005) in der sich zeigte, dass die Schule mit unangenehmen Erfahrungen verbunden ist: Über 40% der 8- bis 9-Jährigen haben oft Angst, in der Schule viele Fehler zu machen. Bei jedem 7. Grund-
schulkind kommt es aus der Sicht der Mütter zu zwei und mehr Belastungssymptomen durch die Schule: Kopf- und Bauchschmerzen, Angst vor dem Lehrer, Sorgen um das Abschneiden am nächsten Tag, starke Aufregung beim Aufrufen im Unterricht.
33.2.3 Komorbidität, Verlauf und Prognose
Komorbidität Eine deutliche Komorbidität besteht zwischen Prüfungsängsten und Leistungsdefiziten (Warren et al. 1996). Die Metaanalyse von Seipp (1990), in die 126 neuere Studien aus verschiedenen Ländern (1975–1988) eingingen, belegt bedeutsame negative Korrelationen zwischen Angst und Leistung: Niedrig- und Hochängstliche liegen in ihren Leistungen fast eine halbe Standardabweichung auseinander. Die Datenlage, die lediglich korrelative Zusammenhänge belegt, lässt keine Schlüsse auf die Richtung des Zusammenhanges zu. So bleibt unklar, ob primäre Prüfungsangst Leistungsdefizite nach sich zieht, oder aber Leistungsdefizite entsprechende Ängste generieren. In diversen Studien zeigte sich eine erhöhte Prävalenz anderer Angst- und phobischer Störungen bei Kindern mit Prüfungsängsten (Silverman 1995). Kinder mit Prüfungsängsten leiden an (mindestens einer) weiteren Angststörung (Essau 2003). Depressivität stellt eine weitere komorbide Störung bei Prüfungsängsten dar (King et al. 1995).
Verlauf und Prognose Die Daten zum Verlauf und zur Prognose von Prüfungsängsten sind dürftig. Aus der klinischen Erfahrung kann jedoch festgestellt werden, dass unbehandelte Prüfungsängste persistieren, da die Betroffenen auch noch nach der schulischen Ausbildung immer wieder mit vergleichbaren Situationen konfrontiert werden. Auch wenn die Frequenz solcher Situationen eventuell abnimmt, so werden Leistungssituationen mit zunehmendem Alter tendenziell als immer bedeutsamer und bei entsprechend ängstlichen Personen als immer (selbstwert-) bedrohlicher erlebt. Hinzu kommt, dass »mangelndes Training« mit Leistungssituationen eher zu einer Angstverstärkung führt. Die dringende Notwendigkeit frühzeitiger therapeutischer Maßnahmen geht auch aus Katamnesen phobischer Störungen im Kindes- und Jugendalter hervor, die eine Persistenz der sog. einfachen Phobien belegen. In einer katamnestischen Studie von Petersen u. Lehmkuhl (1990) hatten nach fünf Jahren lediglich 61% der ehemaligen Patienten mit einer Phobie keine Angstsymptomatik mehr. ! Obwohl es Hinweise darauf gibt, dass Prüfungsängste relativ weit verbreitet sind und mit komorbiden Störungen einhergehen, liegen leider nur unzureichende aktuelle Angaben zu Prävalenzen und zum Verlauf des Störungsbildes vor.
33
576
Kapitel 33 · Prüfungsängste
33.3
Pathogenetisches Modell der Prüfungsangst
Fallbeispiel Miriam »An dem Tag vor einer Klassenarbeit gehen mir beständig Gedanken darüber durch den Kopf, wie schlecht ich wieder abschneiden werde, dass ich wieder ein ‚mangelhaft’ bekomme. In der Arbeit ist es dann so, dass ich mich nur noch mit diesen Gedanken beschäftige, dass ich versage. Wie soll ich mich denn da noch auf die Aufgaben konzentrieren! Wenn ich an diesen ganzen Horrorfilm denke, habe ich manchmal schon gar keine Lust mehr, in die Schule zu gehen. Das führt dann zum Streit mit meiner Mutter, die sich doch so wünscht, dass ich Medizin studiere. Deshalb drängt sie auch immer, am Wochenende mit mir zu üben, was aber immer zum Streit führt. Ich blockiere dann ganz, weil ich merke, wie sauer sie auf mich wird.«
Obwohl es sich bei Prüfungsangst um ein relativ umschriebenes Störungsbild handelt, kann seine Pathogenese nicht monokausal konzipiert werden. Die dürftige Forschungslage erlaubt noch keine kausalen Schlüsse, dennoch stehen bestimmte kindzentrierte Faktoren (wie z. B. angstgetönte Kognitionen, unzureichendes Lernverhalten) sowie Prozesse in Familie und Schule nachweislich in Zusammenhang mit Prüfungsängsten. Offensichtlich erhöhen spezifische Bedingungen auf der Ebene des Kindes, der Familie und der Schule das Risiko für das Auftreten leistungsbezogener Ängste. Diese Bedingungen wurden auf Basis diverser empirischer Erkenntnisse und theoretischer Annahmen in einem allgemeinen pathogenetischen Modell der Prüfungsangst integriert (. Abb. 33.1). Für die effektive Behandlung der Prüfungsangst ist es wichtig, das individuelle Bedingungsgefüge herauszuarbeiten.
33 . Abb. 33.1. Pathogenetisches Modell der Prüfungsangst. (Mod. nach Suhr-Dachs u. Döpfner 2005)
Die Prüfungsangst manifestiert sich in emotionalen Symptomen (Angst, mangelndes Selbstwertgefühl), in kognitiven Inhalten (angstgetönten Gedanken, beeinträchtigte Informationsverarbeitung), in behavioralen Problemen (gestörtes Lernverhalten) und in physiologischen Beschwerden (vegetative Anzeichen der Angst). Zwischen den Komponenten bestehen funktionale Zusammenhänge. So wird die Prüfungsangst von typischen angstschürenden Kognitionen begleitet, wie z. B. einer bedrohlichen Situationsbewertung (»Die Arbeit wird bestimmt wieder schwierig«), einer negativen Selbsteinschätzung (»Ich bin zu dumm dafür«) und geringem Bewältigungszutrauen (»Meine Angst kriege ich sowieso nicht in den Griff«). In den unmittelbaren mündlichen und/oder schriftlichen Prüfungssituationen behindern diese nichtaufgabenbezogenen Kognitionen eine effektive Informationsverarbeitung und die nötige Aufmerksamkeit, woraus objektive Leistungsdefizite resultieren. Ein schlechtes Resultat (z. B. in Form einer Zensur oder negativen Lehrerrückmeldung) verschärft wiederum die Prüfungsängste und untermauert eine negative Selbst- und Situationsbewertung. Ungünstige kognitive Strukturen beeinflussen neben der emotionalen auch die behaviorale Komponente der Prüfungsangst. Ein negatives Selbstkonzept, ungünstige Attributionen schulischer Misserfolge (internal/stabil: »Ich bin einfach zu dumm dafür«) und geringe Erfolgserwartungen bezüglich einer gründlichen Vorbereitung (»Das bringt sowieso nichts«) können Resignation und Demotivation hervorrufen. Durch ein unzureichendes Lernverhalten akkumulieren Wissenslücken und Rückstände im Lernstoff. Neben den kindzentrierten müssen aber auch die elternzentrierten Faktoren analysiert werden, z. B. unrealistische Kognitionen im Leistungsbereich (überzogene Leistungsansprüche, Überbewertung von Leistung und Leistungsergebnissen), soziale Lernprozesse und Erzie-
577 33.4 · Diagnostik
. Abb. 33.2. Schulzentrierte Bedingungsfaktoren der Prüfungsangst. (Mod. nach Rost u. Schermer 1998)
hungspraktiken (Modellverhalten, Verstärkungsprozesse, negatives Bewertungsverhalten), da über diese Mediatoren den Kindern kognitive Angstschemata vermittelt und entsprechende Prüfungs- und Versagensängste hervorgerufen werden können. Im Zusammenhang mit der individuellen Bedingungsanalyse der Prüfungsangst sollte stets eine partielle oder generelle schulische Überforderung des Kindes ausgeschlossen werden. So kann die Prüfungsangst neben den aufgeführten kind- und elternzentrierten Faktoren auch in einer grundsätzlich unangemessenen Beschulung oder in Teilleistungsstörungen des Kindes begründet liegen. In diesem Fall stellt die Prüfungsangst des Kindes eine angemessene Reaktion dar, der die in der Realität begründete Ursache zunächst entzogen werden muss. Für die effektive Behandlung der Prüfungsangst ist eine adäquate Beschulung
33.4
grundlegend und muss im Rahmen der Diagnostik abgeklärt werden (7 Abschn. 33.4). Um eine Überfrachtung des Modells zu vermeiden und seine Übersichtlichkeit zu wahren, wurden bedeutsame schulzentrierte Faktoren nicht in das Modell eingebunden. Als flankierendes Modell wird die Zusammenstellung schulzentrierter Bedingungsfaktoren der Prüfungsangst von Rost u. Schermer (1998) empfohlen (. Abb. 33.2). > Fazit Die Pathogenese von Prüfungsängsten lässt sich multifaktoriell darstellen. Dabei kommen kognitive, emotionale und behaviorale Faktoren auf der Seite des Kindes und auch der Eltern zum Tragen. Auch die pädagogischen Einflussfaktoren sollten beleuchtet werden. Grundlegend erscheint vor allem die adäquate schulische Platzierung des Kindes.
Diagnostik
Fallbeispiel Miriam Bei Miriam, die von ihren Eltern wegen allgemeiner Prüfungsangst und schlechten Schulleistungen vorgestellt wurde, läuft der diagnostische Prozess wie folgt ab: Zunächst wird in einer umfassenden Intelligenz- und Leistungsdiagnostik abgeklärt, ob Miriam auf dem Gymnasium adäquat beschult ist, und ob eventuelle Aufmerksamkeitsprobleme vorliegen. In einem Fragebogen über psychische und Verhaltensprobleme beschreibt Miriam neben der Prüfungsangst weitere Ängste vor unbekannten Gleichaltrigen, vor fremden Erwachsenen und vor allem vor kritischer Bewertung und Beobachtung durch andere. Aus diesem Grund wird Miriam ein Fragebogen zu sozialen Ängsten vorgelegt, dessen Beantwortung auf eine allgemeine soziale Angst schließen lässt. 6
Da die Ergebnisse der Intelligenzdiagnostik auf ein überdurchschnittliches Potenzial in der Intelligenz verweisen und sich eine Teilleistungsstörung ausschließen lässt, ist von einer angemessenen Beschulung auszugehen. In der Exploration ihres Lernverhaltens beschreibt Miriam stundenlanges Lernen, auch am Wochenende, ohne Pausen und ohne einen Ausgleich in entspannenden Tätigkeiten. Diese Angaben werden von den Eltern bestätigt. In einer separaten Befragung werden Miriams Eltern zu eigenen Ängsten, zu ihrer Einstellung im schul- und ausbildungsbezogenen Bereich exploriert. Darin äußert Miriams Mutter, sich von ihrer Tochter einen »erfolgreicheren« Bildungsweg zu wünschen als ihren eigenen. Aus diesem Grund bringe sie ihre Missbilligung über die »mäßigen«
33
578
Kapitel 33 · Prüfungsängste
Leistungen ihrer Tochter auch zum Ausdruck, was aber ja nur ein »Ansporn« sein solle. Gleichzeitig beschreibt die Mutter in einem Fragebogen für Eltern zu allgemeinen
33.4.1 Die Untersuchungsbereiche
bei Prüfungsängsten Da Prüfungsängste mit anderen komorbiden Störungen vergesellschaftet sind (7 Abschn. 33.2.3) müssen diagnostische Maßnahmen über die störungsspezifische Diagnostik hinausgehen und auch komorbide Ängste (z. B. soziale Phobie, generalisierte Angststörung) und andere psychische Störungen (z. B. Depression) untersuchen (. Tab. 33.1). Angesichts der weiten Verbreitung von Leistungsproblemen bei Prüfungsängsten müssen Aufmerksamkeits- oder Teilleistungsstörungen sowie eine grundsätzliche intellektuelle Überforderung im Rahmen einer (zumindest orientierenden) Leistungsdiagnostik abgeklärt werden. Da das Leistungsergebnis zudem von einem effektiven Lern- und Arbeitsverhalten abhängt, sollte auch der Lernstil systematisch erfasst werden. Aufseiten der Eltern liegen wesentliche diagnostische Themen in den spezifischen Symptomen der Prüfungsängste ihres Kindes, in komorbiden Auffälligkeiten, in dem
Verhaltensproblemen und psychischen Auffälligkeiten ihrer Kinder, dass Miriam in sozialen Situationen häufig unsicher sei und sehr empfindsam auf Kritik reagiere.
elterlichen Umgang mit der Prüfungsangst, in ihren Einstellungen in Bezug auf Schule, Ausbildung und Leistung.
33.4.2 Störungsspezifische Diagnostik
Allgemeine Exploration von Prüfungsängsten Die allgemeine Exploration von Prüfungsängsten kann mithilfe eines standardisierten Schemas erfolgen, z. B. mit dem EAZ-Leistungsängste (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005), das entweder gemeinsamen oder getrennt mit Eltern und Kind durchgeführt wird. Die Exploration dient vor allem dazu, eine Übersicht über den Vorstellungsanlass, die Entwicklungsgeschichte, komorbide Auffälligkeiten, die vorschulische und schulische Laufbahn (einschließlich des Leistungsprofils), die soziale Integration und das familiäre und psychosoziale Umfeld des Kindes zu bekommen. Zudem werden eine detaillierte Krankheitsanamnese und eine Symptom- bzw. Verhaltensanalyse (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005) erstellt. Von Interesse sind auch die Einstel-
. Tab. 33.1. Untersuchungsbereiche und diagnostische Verfahren bei Prüfungsängsten. (Mod. nach Suhr-Dachs u. Döpfner 2005)
33
Untersuchungsbereich
Diagnostisches Verfahren
Prüfungsängste
4 Allgemeines Explorationsschema für Leistungsängste, EAZ-Leistungsängste (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005) 4 Angstfragebogen für Schüler, AFS (Wieczerkowski 1981) 4 Differentielles Leistungsangst Inventar, DAI (Rost u. Schermer 1997) 4 Gedankenprotokolle (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005) 4 Fragebogen zu Leistungsangstgedanken (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005) 4 »Angstthermometer« (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005) 4 Leitfragen zur Exploration dysfunktionaler elterlicher Gedanken (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005)
Screening anderer Auffälligkeiten
4 Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen, CBCL (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998a) 4 Fragbogen für Jugendliche, YSR (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998b) 4 Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen, TRF (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1993)
Differenzierte Untersuchung anderer Auffälligkeiten Andere Ängste
4 Phobiefragebogen für Kinder und Jugendliche, PHOKI (Döpfner et al. 2006) 4 SBB- und FBB-Angst aus dem DISYPS-KJ (Döpfner et al. 2008) 4 Sozialphobie und -angstinventar für Kinder, SPAIK (Melfsen et al. 2001)
Depression
4 SBB- und FBB-Depression aus dem DISYPS-KJ (Döpfner et al. 2008) 4 Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche, DIKJ (Stiensmeier-Pelster et al. 2000)
Intelligenz und Leistungsstörungen 4 Orientierend
4 Eindimensionale Verfahren: CFT1, CFT20, CPM, SPM
4 Differenziert
4 Mehrdimensionale Verfahren: K-ABC, HAWIK III
Lernverhalten
4 Lern- und Arbeitsverhaltensinventar, LAVI (Keller u. Thiel 1998) 4 Arbeitsverhaltensinventar, AVI (Thiel et al. 1978) 4 Explorationsschema für das Lernverhalten (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005)
579 33.4 · Diagnostik
lungen von Eltern und Kind zu der Symptomatik und ihre Therapieerwartungen. Zur Vermeidung übermäßiger Fokussierung auf Defizite werden auch Interessen, Aktivitäten, Kompetenzen und positiven Eigenschaften des Kindes abgefragt.
Fragebogenverfahren Der »Angstfragebogen für Schüler« – AFS (Wieczerkowski et al. 1981) und das »Differentielle Leistungsangst Inventar« (DAI; Rost u. Schermer 1997) sind normierte Verfahren zur Untersuchung von Prüfungs- bzw. Leistungsängsten bei Kindern und Jugendlichen. Der Angstfragebogen für Schüler erfasst mit entsprechenden Skalen situationsspezifische Prüfungsängste (wie z. B. situative Versagensängste, Gefühle der Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit) sowie andere generelle bzw. habituelle Angsttendenzen (manifeste Angst) bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 9–16 Jahren. Zwei zusätzliche Skalen erheben Schulunlust und die Tendenz zu sozialer Erwünschtheit. Die Beantwortung erfolgt mit einer zweikategorialen Antwortvorgabe (stimmt/stimmt nicht). Zur normierten Auswertung liegen alters- und geschlechtsunabhängige Prozentrangwerte und T-Werte vor. Obwohl der Fragebogen aufgrund des simplen Antwortmodus und seiner geringen Itemanzahl ein recht zeitökonomisches Verfahren hinsichtlich Durchführung und Auswertung darstellt, ist die mangelnde Aktualität des Fragebogens und der Normen als kritisch zu bewerten. Dem »Differentiellen Leistungsangst Inventar« – DAI von Rost u. Schermer (1997) liegt eine multidimensionale Konzeption zugrunde, die in einer differenzierten Fragebogenbatterie zur Erfassung beratungs- und therapierelevanter Aspekte der Leistungsängstlichkeit für Schüler der 8. bis 13. Klassenstufe umgesetzt wird. Es liegen eine Kurzform für Forschungs- und eine Langform für Therapiezwecke vor. Die Autoren unterscheiden zwischen verschie-
. Abb. 33.3. Diagnostischer Prozess bei Prüfungsängsten
denen Manifestationsformen der Leistungsangst, vorausgehenden (auslösenden) Bedingungen, stabilisierenden Folgen und Copingstrategien. Für jede der aufgeführten Komponenten der Leistungsangst liegt ein Fragbogen vor. Die Beantwortung für die auslösenden Bedingungen, die Copingstrategien und stabilisierenden Bedingungen erfolgt mit Häufigkeitsratings, für die Manifestationsformen mit Intensitätsratings. Für die Skalen-Auslöser, Manifestation, Copingstrategien und stabilisierende Bedingungen liegen geschlechtsspezifische Normen (Prozentrangwerte und T-Werte) vor, ebenso für die Subskalen der einzelnen Skalen. Leider bestand die Normierungsstichprobe ausschließlich aus gymnasialen Schülern, was die Interpretationsgüte für Schüler andere Schulen einschränkt.
33.4.3 Diagnostik komorbider Störungen
Erhält man im Rahmen der allgemeinen Exploration der Prüfungsangst und nach dem Einsatz diverser ScreeningFragebögen Hinweise auf weitere klinische Symptome, müssen diese durch entsprechende störungsspezifische Verfahren untersucht werden (. Abb. 33.3). Stets sollten Selbst- und Fremdurteile kombiniert werden, um ein umfassendes Bild komorbider Störungen zu erhalten. Für das allgemeine Screening von komorbiden Störungen bei Prüfungsängsten können die Achenbach-Skalen, bestehend aus dem Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen »CBCL-Child Behavior Checklist 4–18« (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998a), dem Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen »TRF« (Arbeitsgruppe Deutsche dem Child Behavior Checklist 1993) und dem Fragebogen für Jugendliche »YSR-Youth Self Report« (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998b) eingesetzt werden (7 Kap. III/8).
33
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33
Kapitel 33 · Prüfungsängste
Liegen nach Abschluss des Screenings Hinweise auf zusätzliche Ängste (in der Regel isolierte Phobien, soziale Ängste oder generalisierte Angststörung) vor, sollten im nächsten Schritt verschiedene Verfahren eingesetzt werden, die auf eine spezifische Erfassung der Ängste zielen. Der »Phobiefragebogen für Kinder und Jugendliche – PHOKI« (Döpfner et al. 2006) ist eine deutsche Version der revidierten »Fear Survey Schedule for Children – FSSC-R« (Ollendick 1983) und kann das Ausmaß der verschiedensten phobischen Ängste messen. Die Befragten geben für 96 Situationen die Angststärke auf einer dreistufigen Skala an. Es liegt eine Normierung für den Altersbereich von 8–18 Jahren vor. Zusätzlich zum PHOKI können Selbst- und Fremdbeurteilungsbogen für Angststörungen »SBB- und FBBAngst« aus dem »Diagnostik-System für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV« (DISYPS-KJ) nach Döpfner et al. (2008) durchgeführt werden (7 Kap. III/8). Da Prüfungsängste auch Teilsymptom einer generellen sozialen Phobie sein können, sollte ein entsprechendes Verfahren eingesetzt werden, anhand dessen eine soziale Phobie als Differenzialdiagnose oder als komorbide Störung untersucht wird. Das »Sozialphobie und -angstinventar für Kinder« (SPAIK; Melfsen et al. 2001) basierend auf einer amerikanischen Fassung von Beidel et al. (1998) kann zur Diagnostik kindlicher Sozialphobien eingesetzt werden und entspricht den internationalen Diagnosekriterien (7 Kap. III/31). Liegen Hinweise auf eine depressive Störung vor, kann mit dem »Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche« (DIKJ) nach Stiensmeier-Pelster et al. (2000) eine depressive Störung bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 8–17 Jahren hinsichtlich ihres Schwere- und Ausprägungsgrades anhand von 26 Items erfasst werden. Vorgegeben werden jeweils drei Antwortalternativen, die die Ausprägung des Symptoms in drei Stufen (liegt nicht vor, liegt in mittelstarker Ausprägung vor, liegt in starker Ausprägung vor) abbilden. Zusätzlich zum DIKJ können der Selbst- und Fremdbeurteilungsbogen für Depression
33.5
(SBB- und FBB-Depression) aus dem DISYPS-KJ (Döpfner et al. 2008) eingesetzt werden. Da bei der Behandlung von Prüfungsängsten stets Teilleistungsstörungen ausgeschlossen und eine adäquate schulische Platzierung vorausgesetzt werden sollten, müssen diese im Rahmen einer Leistungs- und Intelligenzdiagnostik abgeklärt werden (7 Kap. III/9). Wenn die Analyse des Teilleistungsprofils Hinweise auf Teilleistungsstörungen liefert, müssen diese durch weitere diagnostische Maßnahmen abgeklärt werden müssen (7 Kap. III/9). Den Leistungsproblemen und -ängsten können aber auch mangelnde Lern- und Arbeitstechniken zugrunde liegen, die bei Jugendlichen mit dem »Lern- und Arbeitsverhaltensinventar« (LAVI) von Keller u. Thiel (1998) oder dem »Arbeitsverhaltensinventar« (AVI) von Thiel et al. (1978) erfasst werden können. Für beide Verfahren liegen (geschlechtsspezifische) T-Werte für die Auswertung vor. Die Befragung erfolgt anhand situationsspezifischer Items oder in Form von Aussagen über das eigene Lernverhalten, die im Hinblick auf ihren Zustimmungsgrad zu beantworten sind. Von Nachteil beim AVI ist die Einschränkung, dass es ausschließlich in der 11. bis 13. Klasse einsetzbar ist. Außerdem beanspruchen die 206 Items eine Testzeit von ca. einer Stunde. Das LAVI kann bei Schülern der 5. bis 10. Klasse durchgeführt werden. Zudem ist der LAVI ökonomischer gestaltet und die Itemformulierung ist stärker auf typische Lernsituationen ausgerichtet. Bei der normorientierten Auswertung des LAVI ist einschränkend zu berücksichtigen, dass ein Fünftel der Normierungsstichprobe aus Gymnasialschülern bestand. > Fazit Vor der Therapieplanung sollte eine multidimensionale Diagnostik erfolgen, die über die störungsspezifischen psychodiagnostischen Verfahren zu (Prüfungs-) Ängsten hinausgeht. Flankierend sollten auch allgemeine Screening-Verfahren eingesetzt werden, die Hinweise auf komorbide Störungen liefern können. Mit Hilfe einer ergänzenden Leistungsdiagnostik können Teilleistungsstörungen und eine intellektuelle Überforderung des Kindes ausgeschlossen werden.
Therapeutisches Vorgehen
Fallbeispiel Miriam Die diagnostischen Ergebnisse deuten darauf hin, dass Miriams Prüfungsangst weder in einer unangemessenen Beschulung noch in Teilleistungsstörungen begründet liegt. Vielmehr scheint die Prüfungsangst in eine allgemeine soziale Angst eingebettet zu sein. So ist Miriam ängstlich und unsicher in sozial-evaluativen Situationen, 6
wie z. B. im Kontakt mit unbekannten Gleichaltrigen oder Erwachsenen. Schulische Leistungssituationen stellen dabei spezielle Bewertungssituationen dar. Im Rahmen der Besprechung der diagnostischen Ergebnisse und der Behandlungsplanung wird mit Miriam und ihren Eltern besprochen, sowohl an den sozialen als auch an
581 33.5 · Therapeutisches Vorgehen
leistungsbezogenen Bewertungsängsten zu arbeiten. Dazu soll eine Konfrontationsbehandlung sowie die Bearbeitung angstauslösender Gedanken erfolgen. Zudem wird Miriam das Erlernen einer Entspannungstechnik empfohlen. Im Bereich des Lernverhaltens erscheint es sinnvoll, das übermäßige tägliche Lernpensum in kleinere Portionen aufzuteilen. Neben den Behandlungsbausteinen, die mit Miriam alleine durchgeführt werden, soll es in Gesprächen mit
33.5.1 Therapieplanung nach dem Therapie-
programm für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen (»THAZ-Leistungsängste«) Falls im Rahmen der diagnostischen Untersuchungen mehrere Symptombereiche aufgedeckt werden, muss die Abfolge der Behandlungsschritte sinnvoll geplant und aufeinander abgestimmt werden. Dabei wird das Symptom in der ersten Behandlungsphase anvisiert, das im Vordergrund steht. Dieses Symptom kann, aber muss nicht die Prüfungsangst sein, z. B., wenn die Angst vor Prüfungen durch eine andere Störung (z. B. soziale Phobie) besser erklärbar ist. Unter diesen Umständen sollte zunächst an den Hintergründen der Prüfungsangst gearbeitet werden und im Zuge dieser Bearbeitung, falls überhaupt noch erforderlich, sollte dann die spezifische Behandlung der Prüfungsangst erfolgen. Da Teilleistungsstörungen häufig ursächlich oder aufrechterhaltend an Prüfungsängsten beteiligt sind, sollte eine entsprechende Übungsbehandlung vorgeschaltet oder zumindest parallel zur Behandlung der Prüfungsangst erfolgen. Wesentlich komplexer gestaltet sich der Umgang mit Leistungsproblemen globalerer Natur, die häufig aus einer generellen intellektuellen Überforderung resultieren. Diese . Abb. 33.4. Indikationen für die Behandlungsbausteine des »THAZLeistungsängste«. (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005)
Miriams Mutter darum gehen, den übermäßigen mütterlichen Druck, den Miriam in Bezug auf die Schule erfährt, zu erötern. Die Mutter erklärt sich damit einverstanden, dass auf diese Weise auch an ihrer kritischen und perfektionistischen Einstellung gearbeitet wird, um Miriam zu einer gelasseneren Leistungseinstellung und einer geringeren Bewertungsangst zu verhelfen.
kann mehr oder weniger stark ausgeprägt sein, so dass es bei weniger eindeutigen Fällen schwierig ist, eine Umschulung als definitive und ausschließliche Lösung der Prüfungsangst und der Leistungsprobleme zu vertreten. Auf jeden Fall sollte mit den Eltern und dem Kind ein ausführliches Gespräch stattfinden, in dem aus fachlicher Sicht und auf Basis der Ergebnisse der Leistungsdiagnostik alle Vor- und Nachteile einer Nicht- bzw. Umschulung erläutert werden. Im Rahmen des mehrbändigen Therapieprogramms für Kinder und Jugendliche mit Angst- und Zwangsstörungen (THAZ; Döpfner u. Suhr-Dachs 2005) wurde der erste Band den Leistungs- bzw. Prüfungsängsten gewidmet. Das Therapiemanual ist dem multimodalen Ansatz mit kindund elternzentrierten Interventionen verpflichtet und als Bausteinsystem konzipiert, das keiner festgelegten Sitzungsabfolge unterliegt. Entsprechend der individuellen Angstsymptomatik auf der emotionalen, kognitiven und behavioralen Ebene und den komorbiden Störungen wird ein individuelles Behandlungskonzept erstellt, in dem die Behandlungselemente in Abhängigkeit von vorhandenen Symptomen auf den verschiedenen Symptomebenen gezielt kombiniert werden (. Abb. 33.4). Elternzentrierte kognitive und/oder behaviorale Interventionen stellen flankierende Maßnahmen zu den kind-
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582
Kapitel 33 · Prüfungsängste
zentrierten Behandlungselementen dar, falls sich in der Exploration der Eltern dysfunktionale Kognitionen im Leistungsbereich und/oder ungünstige Erziehungspraktiken im Umgang mit schlechten Zensuren und leistungsbezogenen Ängsten eruieren lassen.
33.5.2 Kindzentrierte Behandlungsmethoden
Kognitive Interventionen Fallbeispiel Miriam
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In der ersten Behandlungsstunde wird Miriam gebeten, ein Leistungsangstprotokoll auszufüllen, das sich auf eine Mathematikarbeit der letzten Woche bezieht. Dieses Protokoll wird gemeinsam mit Miriam analysiert, in dem das allgemeine Diagramm zur Entstehung von Prüfungsängsten hinzugezogen wird. Dabei erkennt Miriam, dass sie sich mit ihren eigenen Gedanken selbst beunruhigt, sie sehr angespannt ist und sich mit dem Lernstoff überfrachtet und so in der Klassenarbeit keinen klaren Kopf mehr hat. Mit Miriam wird vereinbart, sich im nächsten Schritt genauer die Gedanken anzusehen, die die Angst verstärken bzw. hervorrufen. In einem Gedankenprotokoll listet Miriam alle Gedanken auf, die ihr spontan einfallen, wenn sie an eine Klassenarbeit denkt. Um Miriam die Wirkung der Gedanken zu verdeutlichen, liest die Therapeutin Miriam ihre eigenen Gedanken laut vor. Dabei ist Miriam erstaunt darüber, wie sie mit sich selbst redet und sich so selbst ängstigt. In einem anschließenden Rollenspiel soll Miriam »als Therapeutin« der Therapeutin in der Rolle ihres Patienten, mögliche Gegengedanken vorschlagen. In der darauf folgenden Stunde werden Miriams Angstgedanken einer intensiveren Bearbeitung in Form altersgemäßer sokratischer Fragen unterzogen: »Helfen dir die Gedanken, dich weniger ängstlich zu fühlen? Bist du dir sicher, dass du die Arbeit verhaust, dass du viele Fehler machst? Was kann im schlimmsten Fall passieren?«
Informationen über die allgemeinen und individuellen Symptome und Bedingungen der Prüfungsangst. Zu Be-
ginn der Behandlung wird im Rahmen einer Psychoedukation das Störungsbild der Prüfungsangst erläutert, um eine Grundlage für alle weiteren therapeutischen Maßnahmen zu schaffen. Zur Herstellung eines individuellen Bezugs werden Instrumente zur Selbstbeobachtung, wie z. B. Leistungsangstprotokolle, eingeführt, anhand derer die erlebten Angstsymptome auf der kognitiven, emotionalen/physiologischen und behavioralen Ebene herausgearbeitet werden. Dem Kind wird vermittelt, dass sich die Prüfungsangst im Denken, Fühlen und Handeln äußern kann, und dass sich
. Abb. 33.5. Psychoedukation: Entstehung der Prüfungsangst. (Mod. nach Suhr-Dachs u. Döpfner 2005)
die verschiedenen Komponenten gegenseitig verstärken können. Anhand eines übersichtlichen Diagramms (. Abb. 33.5) wird dem Kind ein allgemeines Modell der Leistungsangstentstehung vermittelt, in dem angstmachende Gedanken und eine mangelnde oder schlechte Vorbereitung als wesentliche Entstehungsbedingungen herausgestellt werden. Anhand des allgemeinen Modells werden gemeinsam mit dem Kind die individuellen Faktoren herausgearbeitet, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung seiner Prüfungsangst beitragen. Anschließend werden geeignete Ansatzpunkte für die Behandlung abgeleitet. Vermittlung eines kognitiv-behavioralen Therapiekonzeptes. Zur Vorbereitung der kognitiven Interventionen
wird das allgemeine Erklärungsmodell der Prüfungsangst an dem Bedingungsfaktor der »Angstgedanken« vertieft. Das Kind soll verstehen, dass (angstmachende) Gedanken häufig (Angst-) Gefühle hervorrufen können. Dies wird anhand einer aktuellen Prüfungssituation (Klassenarbeit, Test, Referat) herausgearbeitet, indem das Kind möglichst detailliert seine körperlichen Vorgänge, seine Gedanken und Gefühle beschreibt und die Angststärke auf dem »Angstthermometer« einschätzt. Anschließend führt der Therapeut anhand eines Cartoons (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005) das Konzept des »Selbstgesprächs« (negative Selbstund Situationsbewertungen, Katastrophenerwartungen) ein. Der Cartoon stellt in Form einer simplen Grafik dar, dass Ereignisse und Gefühle von bestimmten Gedanken begleitet werden und dass man in Abhängigkeit von den Gedanken in einer bestimmten Situation unterschiedliche Gefühle haben kann. Wenn das Kind das kognitive Angstrational verstanden hat, werden die individuellen »Angstgedanken« beleuchtet und geeignete Bewältigungsmöglichkeiten eröffnet, die auf die Veränderung der »Angstgedanken« in Richtung hilfreicher »Angstkillergedanken« zielen. Zum Abschluss dieses Behandlungsschrittes kann ein Rollenspiel durchge-
583 33.5 · Therapeutisches Vorgehen
führt werden, in dem das Kind die Therapeutenrolle übernimmt und seinem »Patienten« (dem Therapeuten) die Ursachen seiner Prüfungsangst und die notwendigen Behandlungsschritte erklärt. Exploration der individuellen Angstgedanken. Auf die Vermittlung des kognitiven Störungskonzepts folgt die Exploration der individuellen Angstgedanken, die z. B. mit entsprechenden Cartoons (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005) erfolgen kann. Die zentrale Frage lautet dabei: Welche Gedanken gehen Dir unmittelbar vor oder während der Prüfung durch den Kopf? Diese werden entweder retrospektiv in der Therapiestunde oder kurz vor einer Prüfungssituation aufgeschrieben (bei jüngeren Kindern mit Unterstützung der Eltern). Wenn das Gedankenprotokoll vorliegt, wird gemeinsam mit dem Kind der Einfluss seiner Gedanken auf seine Gefühle, speziell auf die Angst und sein Verhalten in der Prüfung analysiert. Mit dem »Angstthermometer« soll ein Angstrating in Bezug auf jeden einzelnen Angstgedanken durchgeführt werden: Wie viel Angst macht der Gedanke …? Modifikation der situativen negativen Kognitionen. Im
nächsten Schritt geht es darum, für jeden der Angstgedanken einen »Angstkillergedanken« zur »Umprogrammierung« zu finden. Dabei helfen die folgenden Leitfragen: 4 Was kannst du dir sagen, um dich weniger ängstlich zu fühlen? 4 Wie denken Kinder/Jugendliche darüber, die weniger Angst haben? 4 Was würdest du deinem besten Freund zu einem solchen Angstgedanken sagen? Die Angstkillergedanken können als Memo aufgelistet werden und sollten außerdem in einem kindgemäßen sokratischen Dialog gemeinsam beleuchtet werden. Durch die Fragen des Therapeuten lernt das Kind, seine Angstgedanken zu hinterfragen und durch funktionalere Gedanken zu ersetzen. Fragen zur kognitiven Umstrukturierung von situativen Angstgedanken
4 Helfen dir die Gedanken, dich weniger ängstlich und nervös zu fühlen? 4 Helfen dir die Gedanken, die Aufgaben gut bearbeiten zu können? 4 Wozu führen die Gedanken? 4 Bist du dir sicher, dass … (»Angstgedanke«: z. B., dass du bestimmt wieder viele Fehler machst)? Welche Beweise gibt es dafür? 4 Woher weißt du, dass … (»Angstgedanke«: z. B., dass du wieder eine Fünf schreibst)?
Emotional/physiologische Interventionen Diese Techniken zielen auf die Regulation unangenehmer emotionaler und physiologischer Symptome der Prüfungsangst. Die Exposition dient der intensiven Auseinandersetzung mit den emotionalen und physiologischen Angstsymptomen durch ihre Provokation in der gedanklichen und/oder realen Konfrontation mit der Leistungssituation. Demgegenüber stellen Entspannungstechniken eher supportive Maßnahmen oder Copingstrategien dar, um Prüfungssituationen erträglicher zu gestalten. Beide Techniken können aber auch kombiniert eingesetzt werden, z. B. ein Referat halten mit Anwendung der Bauchatmung. Exposition. Bei der Exposition in »Reinform« wird auf den flankierenden Einsatz von angstregulierenden Maßnahmen (wie z. B. Entspannung oder positive Selbstinstruktionen) verzichtet, um eine maximale Angststärke zu erzielen, die eine möglichst schnelle und nachhaltige Habituation ermöglicht (7 Kap. III/30). Aufgrund der Besonderheiten von angstbesetzten Prüfungssituationen, in denen Leistungsanforderungen an das Kind gestellt werden, wird im eigenen Behandlungsmanual ein »milderes« Expositionskonzept vertreten, in dem während der Exposition auch Techniken zur Angstbewältigung eingesetzt werden dürfen. Dies erscheint erforderlich, da die kognitive Leistungsfähigkeit des Kindes, vor allem in der Exposition in vivo, erhalten bleiben muss. Dazu müssen dem Kind Möglichkeiten zur Regulation der emotionalen und physiologischen Begleitsymptome vermittelt werden. So können z. B. der Einsatz von »Angstkillergedanken« oder geeigneten Entspannungstechniken die Konfrontation mit realen Leistungssituationen erträglicher gestalten, so dass das Leistungspotenzial in der Konfrontation nicht geschmälert wird. Durchführung der Exposition Fallbeispiel Miriam Mit Miriam wird eine graduierte Angsthierarchie für ihre Prüfungsängste erstellt, so dass anhand des »Angstthermometers« besprochen werden kann, welcher Angstbereich zuerst im Rahmen einer Konfrontationsbehandlung anvisiert werden soll. Aktuell beschäftigen Miriam besonders ihre Ängste vor einem Referat in Deutsch, das sie noch bis zu den nächsten Ferien halten soll. Gemeinsam einigen sich Miriam und die Therapeutin darauf, das Halten eines Referates im Rahmen der ersten Expositionsübung zu trainieren. Das Habituationsrational ist Miriam bereits bekannt. In der Grundschulzeit litt sie an Ängsten vor Hunden, die sie selbst überwunden hatte, indem sie sich schrittweise mit dem Hund einer Freundin vertraut 6
33
584
Kapitel 33 · Prüfungsängste
machte, der ihr schließlich regelrecht ans Herz gewachsen war. Anhand dieses Beispiels wurden die Prinzipien der stufenweisen Annäherung an angstauslösende Reize erklärt, im Rahmen derer man erfahren kann, dass sich die Angst über eine gewisse Zeit von alleine zurückbildet.
Die Exposition kann entweder in sensu (gedankliche Vorstellung einer Klassenarbeit) oder in vivo (Durchleben einer realen Klassenarbeit) durchgeführt werden. Der Therapeut fordert aufgrund des Anforderungscharakters der Prüfungssituation nicht, dass die maximale Angst bis zu ihrem spontanen Verschwinden ausgehalten wird, sondern zeigt dem Kind, dass es seine Angstsymptome aktiv beeinflussen und damit seine kognitive Leistungsfähigkeit erhalten kann. Dazu werden z. B. geeignete »Angstkillergedanken« erarbeitet oder eine praktikable Entspannungstechnik vermittelt (7 Kap. III/16).
Ausgangspunkt für die Exposition stellt die individuell abgestufte Angsthierarchie dar, die graduiert abgearbeitet wird. Zunächst werden Reize (Situationen, Vorstellungen) auf geringem bis mittlerem Angstniveau anvisiert, bevor Reize auf einem hohen Angstlevel bearbeitet werden. Der Therapeut versucht dabei, die emotionale Verarbeitung und Auseinandersetzung mit der angstauslösenden Situation oder Vorstellung durch gezielte Fragen zu fördern: 4 Wie geht es dir jetzt? 4 Wie stark ist die Angst? 4 Was geht dir dabei durch den Kopf? Die spontane Abnahme der Angst wird mit intermittierenden Ratings auf dem »Angstthermometer« verfolgt. Für die Aufstellung einer passenden Angsthierarchie werden sämtliche Angstbereiche bezüglich ihrer Angstintensität abgetragen. Stets wird in der ersten Expositionseinheit ein Bereich im unteren Angstniveau anvisiert. In Abhängigkeit von den Expositionserfolgen werden sukzessiv sämtliche Bereiche der Prüfungsangst entlang der jeweiligen Angsthierarchie abgearbeitet.
Exposition in sensu Fallbeispiel Miriam
33
Die Therapeutin erarbeitet mit Miriam ein »Drehbuch« für das Halten eines Referates in der Vorstellung. Dabei wird eine lebendige Beschreibung davon entwickelt, wie Miriam in der Schulstunde darauf wartet, mit ihren Notizen nach vorne zu gehen und dabei die Angst langsam in ihr hochkriecht. Der gesamte Ablauf wird bis zur Rückkehr an ihren Platz durchgespielt, inklusive aller körperlichen Symptome, Gefühle und Gedanken, die auftreten könnten. Auch »heikle« Punkte, wie z. B. kritisches Nachfragen des Lehrers, werden in die Szene mit eingebaut. Nachdem die Therapeutin eine schriftliche Vorlage für die Exposition in sensu erstellt hat, wird diese in der darauffolgenden Stunde durchgeführt. Miriam will dabei auf den Einsatz von angstregulierenden Techniken (wie z. B. »Angstkillergedanken«, Bauchatmung) verzichten. Die Therapeutin verhilft Miriam zum Einstieg in die Vorstellung, indem sie sämtliche Sinnesmodalitäten anspricht (z. B. Geruch und Geräusche im Klassenzimmer, Sitzgefühl
In der Exposition in sensu wird das Kind mit der angstbesetzten Prüfungssituation in Form einer vorgestellten Szene konfrontiert, die detailliert von Anfang bis zum Ende durchlaufen wird. Vor allem bei den stärker prüfungsängstlichen Kindern ist die vorgestellte Leistungssituation bereits ausreichend, um das ganze Spektrum der Angstsymptome zu provozieren. Dies unterstützt der Therapeut, indem er die Aufmerksamkeit des Kindes gezielt auf die Gefühle, Gedanken und physiologischen Reaktionen lenkt. Außerdem
auf dem harten Stuhl etc.). Anhand der aufkommenden Gesichtsröte bemerkt die Therapeutin, dass Miriam in die Szene eintauchen kann. Die Therapeutin lässt ein Tonbandgerät zur Aufnahme mitlaufen. Zudem hat sie ein »Angstthermometer« bereitgelegt, auf dem sie Miriams Angstratings in bestimmten Abständen einträgt. Die Therapeutin beschreibt mündlich die Szene und gibt Miriam dabei genügend Zeit, die aufkommenden Reaktionen zu erfahren. Miriam berichtet zunächst von hohen Angstwerten im Bereich von 85–100 und von feuchten Händen. Dennoch ist sie bereit, die Übung bis zum Ende durchzuführen. Die Szene endet mit der Einnahme ihres Sitzplatzes im Klassenzimmer. An diesem Punkt berichtet Miriam von Angstwerten um die 30 auf dem »Angstthermometer«. Gemeinsam mit Miriam bespricht die Therapeutin die Erfahrungen der Übung und bittet Miriam, sich täglich die Tonbandaufnahme zu Hause anzuhören und dabei ihre Angstwerte zu dokumentieren.
fragt der Therapeut in regelmäßigen Abständen nach der Angststärke, die er auf einem »Angstthermometer« abträgt. Die Vorstellung wird konsequent bis zum Ende und »ohne Filmriss« durchgespielt, so lange, bis die Angst auf ein niedriges Niveau abgesunken ist. Das Vorstellungsszenario wird erst dann beendet, wenn das Kind entweder durch die spontane Angstabnahme oder aktive Angstbewältigung einen Angstpegel auf niedrigem Niveau erreicht hat (Angstthermometer-Werte zwischen 0 und 30).
585 33.5 · Therapeutisches Vorgehen
Das Kind kann den Tonbandmitschnitt zur regelmäßigen Durchführung von Selbstexpositionen zu Hause mitnehmen. Der nächste Bereich der Angsthierarchie wird
dann angegangen, wenn der »leichtere« Angstbereich kein Problem mehr darstellt.
Exposition in vivo Fallbeispiel Miriam Da der Termin für das Deutschreferat näher rückt, schlägt die Therapeutin Miriam vor, sich zu Hause darauf vorzubereiten und ein »Probereferat« in der Therapiestunde vor der Therapeutin zu halten. In der nächsten Stunde erscheint Miriam mit ihren Notizen für das Referat. Die Therapeutin lässt Miriam nochmals zusammenfassen, worum es in der Exposition geht, was dabei wichtig ist und legt ein »Angstthermometer« bereit. Miriam stellt sich abseits von der Therapeutin an einem Flipchart auf. Da Miriam einverstanden ist, wird ihr »Auftritt« auf Video aufgenommen. Analog zur Exposition in sensu durchläuft Miriam die Referatsübung mit anfänglicher Nervosität und Angst, beruhigt sich aber mit zunehmender Erfahrung, »dass es gut läuft«. Die Übung wird beendet mit einem Angstrest bei Stärke 10.
Die Exposition in vivo sollte weniger die spontane Angstabnahme durch Fokussieren und Aushalten der Angst, sondern vielmehr die aktive Bewältigung bzw. Regulation emotionaler und physiologischer Reaktionen zum Ziel haben, da das Kind in der angstbesetzten Prüfungssituation in vivo auch noch eine Leistung erbringen muss. Eine Regulation der Angst und gleichzeitig die Gewährleistung der Leistungsfähigkeit lässt sich somit am ehesten in Form eines Angstbewältigungstrainings erzielen, bei der das Kind zuvor effektive Strategien zur Angstreduktion erlernt hat, z. B. im Rahmen einer vorgeschalteten Exposition in sensu. Ganz wichtig ist auch die Vergewisserung des Therapeuten über die entsprechenden Kompetenzen, die die »Ernstsituation« erfordert (z. B. inhaltliches Wissen über den abgefragten Stoff, kommunikative Fertigkeiten bei Referaten). Die therapeutische Begleitung soll das Kind auch darin unterstützen, das »Angebot« an Expositionsgelegenheiten positiv zu nutzen, indem es effektive Bewältigungsstrategien zur Angstregulation einsetzt und die Situationen nicht mehr unter dysfunktionalem Aufschaukeln der Angst über sich ergehen lässt. Gemeinsam mit dem Therapeuten wird herausgearbeitet, mit welchen Maßnahmen die emotionalen und physiologischen Symptome reguliert werden können, so dass die Leistungsfähigkeit erhalten bleibt. Dazu können die bereits beschriebenen kognitiven Techniken zur Modifikation situativer Angstgedanken zur Anwendung kommen. Einige Kinder erleben auch praktikable Entspannungstechniken, wie z. B. die Bauchatmung, als hilfreich. Nach dem Bewältigungstraining wird aus der individuellen Angsthierarchie gemeinsam mit dem Kind eine Situation auf moderatem
Die Therapeutin lobt Miriam für die gelungene Übung und schaut mit ihr gemeinsam das Video an. Miriam ist überrascht, wie »locker« sie da steht, wie wenig man ihr die Nervosität ansieht. Die Therapeutin gibt Miriam noch ein paar Tipps zum Kommunikationsverhalten (etwas lauter sprechen, Blickkontakt halten) und entlässt Miriam mit gutem Zuspruch für die Exposition in vivo in der nächsten Deutschstunde. Nach 14 Tagen erscheint Miriam stolz in der Therapiestunde und zeigt der Therapeutin freudig ihr Expositionsprotokoll, das sie für die Exposition in vivo angefertigt hat. Tatsächlich hat Miriam das Deutschreferat mit Bravour gemeistert. In die Aufregung zu Beginn habe sie sich nicht weiter reingesteigert, da sie ja schon in Übungen gelernt habe, dass diese sich wieder legt.
Angstlevel (bei etwa 30–40) für die erste Selbstexposition in vivo ausgewählt. Zeit und Ort der Exposition obliegen in der Regel den schulischen Rahmenbedingungen (z. B. Termine für Referate). Entspannungstraining. Entspannungstechniken können
physiologische Anspannung und Erregung in der (Vor-) Phase der Prüfung mildern. Als flankierende Maßnahme der Exposition haben Entspannungsmethoden die Funktion, aufkommende Angst aushalten und regulieren zu können. Dabei erfährt das Kind, dass es etwas gegen seine Angst unternehmen kann und ihr nicht hilflos ausgeliefert ist. Auf eine inhaltliche Darstellung der umfangreichen Materialien zu diesem Thema wird an dieser Stelle verzichtet und auf 7 Kap. III/16 verwiesen. Die Auswahl der geeigneten Methode unter den zahlreichen Möglichkeiten zur Entspannung obliegt letztlich den Präferenzen des Therapeuten und natürlich auch denen des Kindes.
Behaviorale Interventionen Fallbeispiel Miriam Da die Analyse des Lernverhaltens auf eine schlechte Zeitstruktur verweist, indem Miriam stundenlang ohne Pause lernt, wird mit Miriam ein Wochenplan für die zeitliche Lernstrukturierung besprochen. Miriam wird 6
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Kapitel 33 · Prüfungsängste
erklärt, dass die Konzentrationsfähigkeit spätestens nach 1,5 Stunden absinkt, so dass längere Lerneinheiten durch umschriebene Pausen unterbrochen werden sollten. Anhand des Wochenplans wird mit Miriam gemeinsam analysiert, zu welchen Zeiten sich Miriam am besten konzentrieren kann, zu welchen Zeiten sie Pausen einlegen sollte und wie sie diese gestalten kann. Miriam entscheidet sich dafür, in den kurzen Lernpausen kurz in den Garten zu gehen oder aber in ihrem Zimmer über fünf Minuten die Bauchatmung durchzuführen.
Liefert die Exploration Hinweise auf ein verbesserungswürdiges Lernverhalten, werden dem Kind die Zusammenhänge des bereits erarbeiteten Erklärungsmodells der Prüfungsangst an der Stelle des Lernverhaltens vertieft und im nächsten Schritt gemeinsam analysiert, welche
Aspekte des Lernens veränderungsbedürftig sind. Im »THAZ-Leistungsängste« (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005) werden detailliert Methoden zur Verbesserung der zeitlichen und räumlichen Bedingungen dargestellt. Zur Förderung fachspezifischer Schwächen oder zum Training von Gedächtnis und Konzentration können computergestützte Lernprogramme und die Fördermaterialien verschiedener Autoren herangezogen werden (Keller et al. 1997).
33.5.3 Elternzentrierte Interventionen
Flankierend zu den kindzentrierten Interventionen sollten auch Interventionen bei den Eltern der betroffenen Kinder durchgeführt werden, da ungünstige kognitive und behaviorale Merkmale der Eltern pathogenetische oder stabilisierende Bedingungen der Prüfungsangst darstellen können (7 Abschn. 33.3).
Fallbeispiel Miriam
33
Miriams Mutter wird erklärt, wie auch Faktoren aufseiten der Eltern Prüfungsängste bei Kindern stabilisieren und aufrechterhalten können. Die Mutter wird anhand eines Fragebogens zu elterlichen Leistungseinstellungen exploriert. Darin werden perfektionistische Ansprüche an Miriams Schul- und Ausbildungsweg deutlich. Miriams Mutter bekennt sich offen dazu, dass sie sich von Miriam das wünscht, was sie selbst nicht erreicht hat, nämlich ein Studium der Medizin. In mehreren Sitzungen wird der Mutter erklärt, welche Auswirkungen die mütterlichen Leistungsanforderungen auf Miriam haben können. So werden Miriams allgemeine Kritikempfindlichkeit und Bewertungsangst auf diesem Hintergrund verständlich, zumal die Mutter zugibt, gegenüber ihrer Tochter kein Geheimnis aus ihren Anforderungen zu machen. In sokratischen Dialogsequenzen gelingt es, die mütterlichen Erwartungen in die Richtung zu modifizieren, dass die Mutter Miriams individuelle Stärken im schulischen und außerschulischen
Die Eltern sollten zunächst über die vielfältigen Entstehungsbedingungen von Prüfungsängsten aufgeklärt werden. Aus dem Modell wird auch gemeinsam mit den Eltern ihre Bedeutung in der Therapie herausgearbeitet: Die Eltern können durch konstruktive Einstellungen und realitätsangemessene Erwartungen, aber auch durch konkrete Erziehungspraktiken an dem Abbau der Prüfungsangst wesentlich mitarbeiten. Neben dem Abbau elterlicher »Katastrophenvorstellungen« (»Aus meinem Kind wird nie etwas«) sollte der Therapeut eine Ausrichtung der elterlichen Leistungsansprüche an dem objektiven Leistungspotenzial des Kindes fördern. Dies erfolgt auf der Grundlage der Ergebnisse der Leis-
Bereich stärker fokussiert. Sie erkennt dabei auch, dass es wichtig ist, sich von ihren eigenen unerfüllten Träumen zu verabschieden, um Miriam Raum für ihren eigenen Weg zu lassen. Dadurch kann sie die übermäßige Bedeutungszuschreibung »perfekter« Schulleistungen reduzieren und in positiveren, unkritischeren Kontakt mit Miriam treten. Mit Miriams Mutter wird außerdem vereinbart, sich in das Lernen nicht mehr einzumischen. Auch ohne die mütterliche Kontrolle lernt Miriam genug. Eventuelle Unklarheiten kann Miriam auf Wunsch mit ihrer Mutter besprechen. Sie wird aber auch von der Therapeutin dazu ermuntert, bei ihren Mitschülern und Lehrern nachzufragen, wenn sie sich bei bestimmten Themen unsicher fühlt. Neben der Abgabe von Kontrolle lernt Miriams Mutter auch, anstehenden Klassenarbeiten nicht mehr panisch entgegen zu fiebern, da sie Miriams Nervosität dadurch unnötig verstärkt. Vielmehr sind Tage mit Klassenarbeiten und Tests so »normal« wie möglich zu gestalten.
tungsdiagnostik, anhand derer realistische, dem individuellen Leistungspotenzial angemessene, Leistungserwartungen formuliert werden. Wenn bei den Eltern eine ausschließlich leistungsfokussierte Beurteilung des Kindes vorliegt, sollte gemeinsam eine »Realitätsprüfung« im Hinblick auf die ausgeblendeten (außer-) schulischen Stärken des Kindes erfolgen. Dazu werden absolutistische Bewertungen (wie z. B. »Mein Kind macht immer nur Fehler«, »Nichts gelingt«) kritisch hinterfragt. Der Therapeut regt die Eltern zum Nachdenken darüber an, ob wirklich nur (schulische) Misserfolge produziert wurden und in welchen anderen Bereichen ihr Kind »Talente« hat.
587 33.6 · Fallbeispiel
Zusätzlich zu einer kognitiven Umstrukturierung ist häufig auch eine Veränderung ungünstiger Erziehungspraktiken erforderlich, um die Prüfungsangst des Kindes einzudämmen. Die elterliche Unterstützung in schulischen Angelegenheiten besteht nicht in kontrollierenden Methoden gegen den Willen des Kindes, wie z. B. elterliche Einmischung in die Hausaufgaben. Vielmehr sollten die Eltern für eine positive Lernatmosphäre sorgen. Diese wird maßgeblich dadurch beeinflusst, dass die Eltern ihrem Kind Anerkennung und Wertschätzung ungeachtet seiner schulischen Leistungen zukommen lassen, z. B., indem sie außerschulische Stärken hervorheben und loben oder das Kind gezielt zu solchen Aktivitäten ermuntern, die ihm Spaß machen und in denen es seine Stärken einbringen kann. Das Eingreifen der Eltern sollte nach dem Prinzip »so wenig wie möglich« und »so viel wie nötig« bemessen sein. Bei umfassenderen Hausaufgabenproblemen kann der Trainingsbaustein »Bewältigung von Problemen während der Hausaufgaben« aus dem »Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten« (THOP; Döpfner et al. 2007) durchgeführt werden.
ein weiteres Fremdurteil über die Symptomatik zu erhalten. Oftmals muss dabei erst einmal das Bewusstsein des Lehrers für das emotionale Problem seines Schülers geweckt werden, da ängstliche Schüler in der Regel nicht unangenehm auffallen. Meistens sind es Leistungsprobleme, mangelnde mündliche Mitarbeit Fehlstunden, die das Augenmerk des Lehrers auf den prüfungsängstlichen Schüler lenken. > Fazit Die Therapie der Prüfungsangst orientiert sich an den verschiedenen Ebenen des individuellen Bedingungsgefüges. Demnach werden die Bausteine der Behandlung in Abhängigkeit von der spezifischen Problemkonstellation kombiniert und können kindzentrierte kognitive, emotional/physiologische und/oder behaviorale Interventionen beinhalten. Auch die Eltern werden in die Behandlung einbezogen, wenn dysfunktionale kognitive und/oder behaviorale Muster vorhanden sind. Weitergehende Maßnahmen können in Interventionen im schulischen Umfeld ansetzen.
33.6
Fallbeispiel
33.5.4 Pädagogische Interventionen
In Anlehnung an Rost u. Schermer (1998) können Ansatzpunkte beschrieben werden, wie Prüfungsängste von pädagogischer Seite präventiv und therapeutisch behandelt werden können. Um die Kompatibilität mit dem eigenen Manual »THAZ-Leistungsängste« zu gewährleisten, wurden die Konzepte von Rost u. Schermer in das multidimensionale Konzept (Emotionen/Physiologie, Kognition und Verhalten) transformiert (. Abb. 33.6). Die Kontaktaufnahme des Therapeuten zum Lehrer des prüfungsängstlichen Kindes sollte bereits in der diagnostischen Phase beginnen, um neben dem Elternurteil
. Abb. 33.6. Empfehlungen für pädagogische Interventionen. (Suhr-Dachs u. Döpfner 2005)
Angaben zur spontan berichteten und erfragten Symptomatik Der 12-jährige Sebastian besucht die 6. Klasse einer Montessori-Hauptschule. Er hat starke Angst vor Klassenarbeiten und Tests im Fach Englisch. In diesem Fach stehe er momentan »mangelhaft«. Auch wenn er viel geübt habe, vergesse er vor Aufregung viele Dinge. Zuhause sei er noch ganz ruhig, aber in der Schule bekomme er ein »mulmiges« Gefühl und Angst davor, mit den Aufgaben nicht klarzukommen und wieder eine »Fünf« zu schreiben. Die Mutter berichtet, dass Sebastian an den Tagen vor einer Klassenarbeit in Englisch besonders still und zurückgezogen sei und
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588
Kapitel 33 · Prüfungsängste
einen bekümmerten Eindruck mache. Im Allgemeinen habe er häufig Angst, etwas Falsches zu machen. Beide Eltern setzen Sebastian nicht unter Leistungsdruck, da sie sehen, dass er sich Mühe gebe. Die Mutter reagiert verständnisvoll auf die Ängste ihres Sohnes, da sie selbst »ziemlich sensibel« sei.
Anamnestische Daten Sebastian hat einen zwei Jahre älteren Bruder. Seine Mutter arbeitet als Krankenpflegerin, der Vater als Verwaltungsangestellter. Die Schwangerschaft und Geburt verliefen problemlos. Die kleinkindliche Entwicklung verlief unauffällig. Im Kindergarten fiel Sebastian durch sein stilles, in sich gekehrtes und schüchternes Wesen auf. Immer wieder litt er unter starken, unerklärbaren Fieberanfällen. In der 2. Grundschulklasse kam es zu Leistungsproblemen, die sich nach diagnostischer Abklärung ursächlich auf eine »Wahrnehmungsstörung« zurückführen ließen, die die Mutter nicht spezifizieren konnte. Daraufhin wurde Sebastian bis zum 4. Schuljahr ergotherapeutisch in einem Frühförderverein behandelt. Im Zuge der Behandlung besserten sich die Leistungsprobleme deutlich. Da die Klassenlehrerin wenig Verständnis für das »Handicap« des Jungen zeigte und überstreng auf seine Schwäche reagierte, entwickelte Sebastian zunehmend schulische Ängste, und beklagte immer wieder, »zu dumm zu sein« und die Schule nicht zu schaffen. Bei der Entscheidung für eine weiterführende Schule entschlossen die Eltern sich aufgrund der beschriebenen Probleme für eine Montessori-Hauptschule. Dort entwickelte sich Sebastian sehr gut in Bezug auf sein soziales Kontaktverhalten und seine Leistungsprobleme. Die Noten in den Haupt- und Nebenfächern lagen, abgesehen von Englisch, im durchschnittlichen Bereich. Im 6. Schuljahr
kam es zu einem stetigen Leistungsabfall in Englisch. Sebastian entwickelte erneut schulische Ängste und Misserfolgsbefürchtungen insbesondere in diesem Fach. Seine alten Ängste, »zu dumm zu sein«, traten wieder auf. Die beschriebene Angstsymptomatik belastet Sebastian mittlerweile so stark, dass er zur ambulanten psychotherapeutischen Behandlung vorgestellt wurde. Sozial ist Sebastian sehr gut integriert. Die Freizeit verbringt er überwiegend mit gleichaltrigen Freunden. Seine Freizeitinteressen liegen im sportlichen Bereich. Die familiären Beziehungen verlaufen bis auf gelegentliche Geschwisterrivalitäten harmonisch.
Psychischer Befund zum Zeitpunkt des Erstgespräches Im Erstkontakt wirkt der 12-jährige Sebastian sowohl körperlich als auch im Verhalten seinem Alter entsprechend. Er ist sehr offen und mitteilungsbereit in Bezug auf seine Ängste. . Tab. 33.2 zeigt die leistungs- und psychodiagnostischen Ergebnisse.
Diagnose zum Zeitpunkt der Antragstellung Phobische Störung des Kindes- und Jugendalters (ICD-10: F93.1)
Funktionelle Analyse Es ist anzunehmen, dass Sebastians Prüfungsängste in den Grundschuljahren ihren Ursprung haben. Sebastian erfuhr mangelndes Verständnis, Ablehnung und Strenge seiner Klassenlehrerin im Hinblick auf seine Wahrnehmungsstörung. Die Erfahrungen schlechter Englischzensuren im 6. Schuljahr reaktivierten die alten Ängste vor Leistungsver-
. Tab. 33.2. Leistungs- und psychodiagnostische Ergebnisse
33
Orientierende Intelligenzdiagnostik
IQ = 86
Angstfragebogen für Schüler
Prüfungsangst: 97 (PR) Manifeste Angst: 82 (PR) Schulunlust: 50 (PR)
SBB-Angst
Leistungsangst wird als »besonders zutreffend« und »sehr problematisch« erlebt Ansonsten unauffällige Subskalen und Gesamtskala
FBB-Angst
Starke Symptomausprägung in »spezifischer Phobie«, hohe Symptomausprägung und subjektive Problemstärke in »Leistungsangst«
PHOKI
Überdurchschnittliche Werte (PR: 78–89) in den Skalen »Angst vor Bedrohlichem« und »soziale Angst«, deutlich überdurchschnittlicher Wert (PR: 90–96) in der Skala »Angst vor Schule/Leistung«
DIKJ
Erhöhte Depressivität (T-Wert = 68)
Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter »KinderDIPS« (Schneider et al. 2009)
Die Diagnosekriterien einer phobischen Störung des Kindes- und Jugendalters (ICD-10: F 93.1) werden erfüllt
PR Prozentrang
589 33.7 · Empirische Belege
sagen. Sebastian entwickelte daraufhin ein immer geringeres Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit in diesem Fach. Aktuell bestehen dysfunktionale kognitive Strukturen (negative Selbst- und Situationsbewertungen) in Prüfungssituationen, die sich vermutlich in den ersten Schuljahren durch die Erfahrungen mit der Klassenlehrerin herausbildeten. Das »Handicap« der Wahrnehmungsstörung sensibilisierte ihn für Misserfolge und schulisches Versagen. Sebastians Prüfungsängste manifestieren sich am deutlichsten in der partiellen Leistungsschwäche in Englisch. Leistungsprobleme in diesem Fach werden verschärft durch die Angstproblematik, die insbesondere in Prüfungssituationen zu leistungsbeeinträchtigenden Denkblockaden führt. Schlechte Leistungsergebnisse wiederum stabilisieren Sebastians Misserfolgsorientierung und sein negatives Fähigkeitsselbstkonzept.
sogar noch weiter zu verbessern. An diese Erfolgsmotivation wurde im Zuge der weiteren Behandlung angeknüpft. Durch die wiederholte Hervorhebung der vergangenen Erfolge konnte Sebastians einstige Misserfolgsorientierung zunehmend abgebaut und eine erfolgsorientiertere Grundhaltung stabilisiert werden. Im neuen Schuljahr wurden die bereits erarbeiteten Lernstrategien und die Methode der »Angstkillergedanken« wieder aufgegriffen und ihre konsequente Anwendung gefördert. Die gemeinsamen Lernzeiten mit der Mutter wurden fortgeführt. Sebastians Noten in Englisch pendelten sich bei einer »Drei« bis »Vier« ein, womit er zufrieden war. Seine Ängste vor Tests und Arbeiten hatten sich vollständig zurückgebildet. Mit diesem Behandlungsergebnis wurde die Therapie mit der Vereinbarung einer bedarfsabhängigen Wiedervorstellung beendet.
Therapieverlauf
33.7
In der ersten Therapiestunde wurde mit Sebastian ein Erklärungsmodell seiner Prüfungsangst entwickelt, in dem »Angstgedanken« und mangelnde Lerntechniken als Verursacher seiner Angst herausgestellt wurden. Daraus abgeleitet wurden die Therapieziele, die in der Veränderung seiner Angstgedanken und in der Verbesserung seiner Lerntechniken bestehen sollten. Zunächst wurde die Zeitplanung des Lernens, insbesondere für das Fach Englisch, verbessert. Es wurde eine feste Lernzeit für Englisch vereinbart und ein wöchentlicher Lernplan aufgestellt. Es stellt sich heraus, dass Sebastian in der Vergangenheit immer nur im Schulbus für Englisch gelernt hatte. Er wurde dazu angehalten, sich zu Hause einen festen Lernplatz einzurichten, und nur noch dort täglich zu lernen. Mit Sebastian und seiner Mutter wurden zwei wöchentliche Termine vereinbart, zu denen regelmäßig Vokabel abgehört oder Englischtexte übersetzt wurden. Der jeweils letzte Englischtest und die letzte Englischarbeit sollten einer gemeinsamen Fehleranalyse unterzogen werden. Ergänzend zur Verbesserung der Lerntechniken wurden in einer Exposition in sensu die verschiedenen Angstgedanken in Bezug auf eine Englischarbeit exploriert. In einem Cartoon wurde daraufhin zu jedem Angstgedanken ein »Angstkillergedanken« erarbeitet. Den Cartoon trug Sebastian in seinem Schulranzen mit sich, so dass er vor Englischtests oder -arbeiten immer wieder einen Blick darauf werfen konnte. Die Technik des »Gedankenstopps« half Sebastian zusätzlich, mit seiner Angst umzugehen. Im Verlauf der Behandlung verbesserten sich Sebastians Leistungen in Englisch von »mangelhaft« bis auf »ausreichend/befriedigend«, was Sebastians Selbstvertrauen in Bezug auf seine Leistungsfähigkeit in diesem Fach stärkte. Auf dem Zeugnis erhielt er statt der erwarteten »Fünf« eine »Vier« in Englisch. Die Mutter berichtete, dass Sebastian auf seine eigenen Leistungen in Englisch und in den anderen Fächern so stolz sei, dass er sich vorgenommen habe, im neuen Schuljahr regelmäßig zu lernen, um sich vielleicht
Eine eigene überarbeitete Literaturrecherche macht deutlich, dass es vorhandenen Studien größtenteils an Aktualität und an homogenen Stichproben mangelt, was eine Ableitung von gültigen Behandlungsleitlinien erschwert (. Tab. 33.3). Zudem werden in den referierten Studien in der Regel isolierte Behandlungsmethoden untersucht, die dem komplexen Bedingungsgefüge der Prüfungsangst nur unzureichend gerecht werden. Aus . Tab. 33.3 geht hervor, dass sich diverse (kognitiv-) verhaltenstherapeutische Behandlungsmethoden, wie z. B. systematische Desensibilisierung, Modelllernen, Rollenspiele, als hilfreich erwiesen, um Prüfungsängste zu reduzieren sowie eine Leistungssteigerung zu erzielen. Es wird deutlich, dass nicht eine singuläre Technik als »die Methode der Wahl« zur Behandlung von Prüfungsängsten herausgestellt werden kann. Die empirische Zusammenfassung deckt sich mit den vorangestellten Erläuterungen zur Symptomatik und zu den Entstehungsbedingungen der Prüfungsangst, die auf eine Komplexität der Symptomatik und ihrer Pathogenese verweisen, der in einem entsprechend multimodalen Behandlungsansatz Rechnung getragen werden sollte. Dieser Anspruch wurde in dem erläuterten Behandlungsmanual »THAZ-Leistungsängste« (Suhr 2001; SuhrDachs u. Döpfner 2005) umgesetzt. Um vorläufige Hinweise auf seine Effektivität zu erhalten, wurden in einer explorativ angelegten Studie (Suhr 2001) die Therapieeffekte an einer kleinen Stichprobe, von zehn prüfungsängstlichen Kindern und Jugendlichen im Alter von 8–18 Jahren, die im Rahmen der Schwerpunktambulanz für Angststörungen an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln vorgestellt wurden. Die statistische Analyse ergab sehr signifikante bis hoch signifikante Veränderungen zwischen den Messzeitpunkten in den prüfungsangstbezogenen Untersuchungsvariablen, die sich als eine deutliche Abnahme prüfungsbezogener Ängste im Zuge der Behandlung inter-
Empirische Belege
33
590
Kapitel 33 · Prüfungsängste
. Tab. 33.3. Überblick über Therapiestudien zur Behandlung der Prüfungsangst. (Mod. nach Suhr-Dachs u. Döpfner 2005)
33
Autor
Probanden
Intervention
Ergebnis
Grindler (1988)
66 prüfungsängstliche Schüler
Selbstinstruktionstraining (SI) Kontrollgruppe (K)
Subjektive Maße und Verhaltensmaße: (SI) = (K)
Leal et al. (1981)
30 prüfungsängstliche Schüler
Selbstinstruktionstraining (SI) Systematische Desensibilisierung (SD) Unbehandelte Kontrollgruppe (K)
Subjektiv: (SI) > (SD), (K) Leistung: (SD) > (SI), (K)
Raskind u. Nagle (1980)
96 prüfungsängstliche Kinder (9–11 Jahre)
Film: Copingmodell (CM) Film: verstärktes Modell (VM) Kontrollfilm (K)
Leistung: (CM) = (VM) = (K)
Ribordy et al. (1981)
48 prüfungsängstliche Kinder (9–12 Jahre)
Aufmerksamkeitstraining (A) Placebo-Aufmerksamkeitstraining (P) Unbehandelte Kontrollgruppe (K)
Zielleistung: (A) > (P), (K) Allgemeine Leistungsfähigkeit: (A) = (P), (K)
Stevens u. Pihl (1983)
42 prüfungsängstliche Schüler
Verhaltensübungen, Rollenspiele, Modelllernen, Förderung der Selbstkontrolle (KVT) Verhaltensübungen, Rollenspiele, Modelllernen, Förderung der Selbstkontrolle + Problemlöse- und Selbstinstruktionstraining (KVT + P + SI) Unbehandelte Kontrollgruppe (K)
(KVT), (KVT + P + SI) > (K)
Van der Ploeg-Stapert u. Van der Ploeg (1986)
29 prüfungsängstliche Schüler
Kognitiv-behaviorale Gruppentherapie: Rational-emotive Techniken, Konzentrationsübungen, Entspannung, Förderung der Studierfähigkeit (KVT) Wartekontrollgruppe (K)
(KVT) > (K)
Wilson u. Rotter (1986)
54 prüfungsängstliche Schüler
Angstbewältigungstraining (A) Lerntraining (L) Kombiniertes Angstbewältigungs- und Lerntraining (A + L) Placebogruppe (P) Unbehandelte Kontrollgruppe (K)
Subjektive Maße: (A), (L), (A + L) > (P), (K) (A) = (L) = (A + L)
pretieren lässt. Die Analyse der 20-wöchigen Verlaufsmessung (inklusive sechswöchiger Baseline) der Angststärke in einer aktuellen Prüfungssituation (»Angstthermometer«) und der zugehörigen Stärke der subjektiven Angstbewältigungskompetenz belegte eine deutliche Reduktion der aktuellen Prüfungsangst und einen bedeutsamen Zuwachs in der subjektiven Angstbewältigungskompetenz. Eine eingeschränkte Aussagekraft der Studie in Bezug auf die therapeutische Effizienz des »THAZ-Leistungsängste« ergibt sich aus der kleinen Stichprobengröße, die ein Experimental-Kontrollgruppendesign nicht zuließ. Die Intention der Studie lag jedoch von vorneherein darauf, erste Hinweise auf die effektive Behandlung von Prüfungsängsten bei Kindern und Jugendlichen zu erhalten. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen an einer größeren Stichprobe mit Experimental-Kontrollgruppendesign überprüft werden. > Fazit Ungeachtet der Verbreitung von Prüfungsängsten bei Kindern und Jugendlichen und ihrer Beeinträchtigung für den aktuellen und weiteren Schul- und Ausbildungsweg widmen sich wenige empirische Studien der systematischen Untersuchung effektiver Behandlungsmethoden für die Angstform.
33.8
Ausblick
Prüfungsängste stellen über die Kindheit hinaus ein ubiquitäres Phänomen dar, wobei es ein Kontinuum zwischen aktivierendem Lampenfieber und lähmender Prüfungsangst gibt. Letztere ist als klinisch bedeutsam einzustufen, da sie in der Regel mit einem hohen Leidensdruck und weiteren Problemen, insbesondere Leistungsminderung, bei den Betroffenen vergesellschaftet ist. Obwohl wenige epidemiologische Daten vorliegen, ist von einer hohen Dunkelziffer an behandlungsbedürftigen Prüfungsängsten auszugehen. Dies steht in krassem Gegensatz zu der Vernachlässigung dieser Angststörung in Forschung und Praxis. Die mangelnde Beachtung im Bereich der epidemiologischen, pathogenetischen und Therapieforschung mag im Wesentlichen darin begründet liegen, dass der Prüfungsangst keine eigene Störungskategorie in den Klassifikationssystemen zugeordnet ist. In der Praxis ist die unzureichende Aufmerksamkeit in Bezug auf die Relevanz der Störung dadurch erklärbar, dass nicht direkt die Prüfungsängste von Eltern und Lehrern bemerkt werden, sondern vielmehr begleitende oder sekundäre Probleme wie Leistungsminderung und Aufmerksamkeitsstörungen. Prüfungsangst ist selten primärer Vorstellungsanlass in der Therapie. Erst
591 Literatur
eine gründliche Diagnostik kann die der Leistungsminderung oder den Aufmerksamkeitsproblemen zugrunde liegende Prüfungsangst aufdecken. Da zu diesem Zeitpunkt oftmals schon ein Teufelskreis aus Leistungsängsten und -versagen in Gang gekommen ist und die betroffenen Kinder bereits dabei sind, schulisch »auf der Strecke zu bleiben«, sollte die Identifikation prüfungsängstlicher Kinder bereits im schulischen Alltag erfolgen. Mangelnde mündliche Beteiligung, Introversion, physiologische Anzeichen von Erregung und Anspannung in Leistungssituationen und psychosomatische Probleme können, aber müssen nicht zwangsläufig Indikatoren einer Prüfungsangst sein. Der Einsatz entsprechender Screening-Instrumente in der Schule wäre sinnvoll, um Prüfungsängsten dort möglichst frühzeitig entgegen wirken zu können.
Zusammenfassung Prüfungsängste bei Kindern und Jugendlichen sind weit verbreitet und können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der schulischen Laufbahn führen. Neben Leistungsproblemen treten auch andere Ängste und Depressivität als häufige komorbide Störungen auf. Die Pathogenese der Prüfungsangst ist multifaktoriell. Als Bedingungsfaktoren aufseiten des Kindes kommen dysfunktionale Kognitionen, ein unzureichendes Lernverhalten und ein Mangel an emotionsregulierenden Strategien in Frage. Aufseiten der Eltern spielen überzogene Leistungsanforderungen und unangemessene Erziehungspraktiken in Bezug auf schlechte Leistungen und prüfungsbezogene Ängste eine Rolle. Neben kind- und elternzentrierten Faktoren können auch schulische Aspekte, wie z. B. das Schüler-Lehrer-Verhältnis oder das Klassenklima, Prüfungsängste hervorrufen. Eine effektive Behandlung der Prüfungsangst setzt eine sorgfältige Diagnostik voraus. Insbesondere dann, wenn Leistungsprobleme mit der Prüfungsangst vergesellschaftet sind, sollte unbedingt eine Leistungsdiagnostik durchgeführt werden zum Ausschluss von Teilleistungsschwächen oder intellektueller Überforderung. Die Behandlung der Prüfungsangst sollte multidimensional erfolgen und an kind-, elternund schulzentrierten Bedingungsfaktoren ansetzen.
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33
592
Kapitel 33 · Prüfungsängste
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33
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34
34 Generalisierte Angststörung Tina In-Albon
34.1
Sorgen im Kindesalter – gibt es das?
34.2
Darstellung der Störung – 594
34.2.1 34.2.2 34.2.3 34.2.4 34.2.5 34.2.6
Klinisches Erscheinungsbild – 594 Weitere Merkmale der GAS – 595 Epidemiologie und Störungsbeginn Komorbidität – 595 Klassifikation – 596 Differenzialdiagnostik – 596
34.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
34.3.1 34.3.2 34.3.3 34.3.4 34.3.5
Genetische Faktoren – 597 Temperament – 597 Umweltfaktoren – 597 Ein Modell für die Entwicklung der GAS – 597 Verlauf der GAS vom Kindes- ins Erwachsenenalter
34.4
Diagnostik – 599
34.5
Therapeutisches Vorgehen
34.5.1 34.5.2 34.5.3 34.5.4 34.5.5 34.5.6 34.5.7 34.5.8 34.5.9 34.5.10 34.5.11
Therapiegestaltung – 600 Psychoedukation – 600 Kognitive Umstrukturierung – 601 Konfrontation in vivo – 602 Konfrontation in sensu (Sorgenkonfrontation) – 603 Elterntraining – 604 Entspannungstraining – 604 Rückfallprophylaxe – 604 Therapiesetting – 604 Umgang mit Komorbidiät – 605 Schwierigkeiten in der Therapie – 605
34.6
Fallbeispiel
34.7
Empirische Belege
34.8
Ausblick – 607
Literatur
– 607
– 607
– 607
Weiterführende Literatur
– 595
– 597
– 599
– 599
– 605
Zusammenfassung
– 594
– 608
594
Kapitel 34 · Generalisierte Angststörung
34.1
Sorgen im Kindesalter – gibt es das?
In klinischen Einrichtungen und spezialisierten Angstkliniken für Kinder und Jugendliche wird die Diagnose einer generalisierten Angststörung (GAS) häufig vergeben (7 Abschn. 34.2.3). Im Gegensatz dazu steht die Erforschung der GAS erst in den Anfängen. Dies spiegelt sich wider in der Aussage von Masi und Kollegen (2004), wonach die »generalisierte Angststörung bei Kindern häufiger diagnostiziert als erforscht« wird. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, fehlen störungsspezifische Ätiologiemodelle und Therapieprogramme für die GAS. Dieser Rückstand lässt sich teilweise darauf zurückführen, dass die Definition der GAS im Verlauf der Entwicklung des DSM immer wieder verändert wurde. So wurde beim Übergang vom DSM-III-R zum DSM-IV die »Störung mit Überängstlichkeit« in die Erwachsenenkategorie GAS aufgenommen.
34.2
Darstellung der Störung
34.2.1 Klinisches Erscheinungsbild
Bezeichnend für die generalisierte Angststörung (GAS) ist das exzessive Sich-Sorgen über unterschiedliche Themenbereiche oder Tätigkeiten. ! Sorgen sind Gedankenketten, welche als unangenehm, relativ unkontrollierbar und schwierig zu stoppen erlebt werden.
34
Kinder mit GAS werden häufig als »kleine Erwachsene« beschrieben, weil ihre Sorgen sich um Pünktlichkeit, Familie, Finanzen, Gesundheit, Sicherheit (sowohl die eigene als auch die der Familie) oder katastrophale Ereignisse wie Erdbeben oder Krieg drehen – Themen, welche eigentlich für Erwachsene typisch sind. Kinder mit GAS können sich durch perfektionistisches Verhalten auszeichnen, beispielsweise durch sehr sorgfältiges oder mehrmaliges Durchführen der Hausaufgaben. Viele dieser Verhaltensweisen werden grundsätzlich von Eltern und Lehrern wertgeschätzt. Erwachsene beurteilen daher solche Kinder häufig als reifer oder gewissenhafter als gleichaltrige Kinder. Dadurch können entsprechende Verhaltensweisen bei Kindern durch Erwachsene unabsichtlich verstärkt werden. Neben den eher erwachsenentypischen Sorgen machen sich Kinder mit GAS auch Sorgen über altersangemessene Themen. Diese Sorgen beziehen sich häufig auf ihre Kompetenzen im schulischen, sozialen oder sportlichen Bereich. Sie sind ständig darum bemüht, Anerkennung und Rückversicherung von anderen einzuholen. Durch dieses Verhalten wiederum können ihre Leistungen beeinträchtigt werden, wenn das Kind z. B. nicht in der Lage ist, eine Aufgabe zu beenden, weil es keine Rückmeldung erhält. Unabhängig davon, ob Kinder mit GAS eher erwachsenenspezifische oder altersangemessene Sorgen zeigen, sind
sie in ihrem Verhalten häufig sehr angepasst. Einige dieser Kinder können ihren Leidensdruck in Stresssituationen (z. B. bei Konfrontation mit unerwarteten Situationen) jedoch auch mit Wutausbrüchen zeigen. Da mehrere Merkmale der GAS (z. B. Perfektionismus, Pünktlichkeit) in vernünftigem Ausmaß sozial erwünscht sind, ist es schwierig, die Störung bei Kindern wahrzunehmen und zu erkennen. Meist suchen die Eltern erst dann therapeutische Hilfe, wenn das Kind zunehmend verzweifelt ist, die schulischen Leistungen abnehmen oder die Eltern keine Geduld mehr haben, die ständigen Fragen zu beantworten. Ein weiteres Kennzeichen der GAS sind körperliche Beschwerden. Die betroffenen Kinder können Kopf- und Muskelschmerzen, Schlafschwierigkeiten, Ruhelosigkeit oder gastrointestinale Probleme haben, für die es keine medizinischen Ursachen gibt. Zusätzlich zu den genannten Symptomen sind bei Kindern mit GAS auch Enuresis, Schwitzen und Zittern zu beobachten. Eine Studie von Kendall und Pimentel (2003) zeigte, dass Kinder mit GAS zwischen 11 und 13 Jahren mehr körperliche Symptome angaben als 9- bis 11-jährige Kinder und dass Eltern signifikant mehr körperliche Symptome berichteten als die Kinder. Die häufigsten körperlichen Symptome waren: Unfähigkeit, still zu sitzen oder zu entspannen, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit, Muskelverspannungen und Schlafprobleme. Dabei ist zu bedenken, dass die Kriterien der körperlichen Symptome für eine GAS-Diagnose an Erwachsenen entwickelt wurden und somit die Kopf- und Bauchschmerzen nicht als Kriterien aufgeführt sind, obwohl diese von den betroffenen Kindern am häufigsten genannt werden.
Aus Sicht der Kinder sind die am häufigsten angegebenen Symptome im Rahmen einer GAS (Masi et al. 2004): 4 Gefühle der Anspannung (100%), 4 angespannte Erwartungen (96%), 4 Wunsch nach Rückversicherung (92%), 4 negatives Selbstbild (90%), 4 körperliche Beschwerden (82%), 4 Reizbarkeit (72%), 4 Grübeln (64%), 4 Konzentrationsschwierigkeiten (62%), 4 psychomotorische Agitiertheit (62%), 4 Schlafprobleme (56%), 4 Müdigkeit (56%). Der Wunsch nach Rückversicherung und Schlafprobleme werden häufiger von jüngeren Kindern berichtet, während Jugendliche (12 Jahre und älter) häufiger Grübeln, Reizbarkeit, Müdigkeit und Konzentrationsprobleme berichten. Inhalt und Anzahl der Symptome scheinen sich somit mit dem Alter zu ändern (Kendall u. Pimentel 2003).
34
595 34.2 · Darstellung der Störung
34.2.2 Weitere Merkmale der GAS
34.2.3 Epidemiologie und Störungsbeginn
Verhaltensprobleme. Zu den typischen Verhaltensproble-
Insgesamt liegen erst wenige Informationen zur Prävalenz der GAS im Kindes- und Jugendalter in der Allgemeinbevölkerung vor. . Tab. 34.1 zeigt die Prävalenzraten von neueren epidemiologischen Studien bei Kindern und Jugendlichen. Bolton et al. (2005) untersuchten 854 6-jährige Zwillingspaare. Die Autoren nahmen auch subklinische Fälle auf, bei denen das Kriterium der Beeinträchtigung nicht gegeben sein musste. In klinischen Einrichtungen tritt das Störungsbild mit Häufigkeitsraten zwischen 24% (Last et al. 1996) und 58% (Kendall et al. 1997) häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung. Über die Geschlechterverteilung der GAS im Kindes- und Jugendalter lassen sich derzeit keine abschließenden Schlussfolgerungen ziehen. So fanden sowohl Kendall et al. (1997) als auch Bolton et al. (2005) keine Geschlechterunterschied in der Häufigkeitsrate der GAS. Der Beginn der GAS ist meist schleichend, so dass gerade bei der GAS die Bestimmung des Erstauftretensalters schwierig ist. Kessler et al. (2005) erhoben anhand des National Comorbidity Survey Replication in den USA retrospektiv das Erstauftretensalter von psychischen Störungen bei 9282 erwachsenen Probanden. Der Median des Erstauftretensalters bei Angststörungen lag bei 11 Jahren, wobei der Range sehr weit war. Bei der GAS zeigte sich ein später Auftretensbeginn mit einem Median bei 31 Jahren. In der Literatur wird teilweise auch von einem zweigipfligen Auftretensbeginn mit einem ersten Beginn in der Kindheit/Jugend und einem späteren Beginn im Erwachsenenalter ausgegangen (Wittchen et al. 1994).
men von Kindern mit GAS zählt die Schulvermeidung, die häufig auf einzelne Tage beschränkt ist, an denen etwas Neues, Ungewöhnliches stattfindet (z. B. Aushilfelehrer, Schulsporttag). Kinder mit GAS berichten auch, Hausaufgaben zu vermeiden, aus Angst davor, Fehler zu machen. Um Prüfungssituationen aus dem Weg zu gehen, werden häufig körperliche Beschwerden vorgeschoben. Kognitive Merkmale. Kinder mit GAS zeigen auch kognitive Merkmale. Sie tendieren dazu, negative Konsequenzen von Ereignissen sowie die Wahrscheinlichkeit, dass ein negatives Ereignis eintritt, zu überschätzen. Beispielsweise können sich die betroffenen Kinder über die Folgen einer mittelmäßigen Note in einer Prüfung große Sorgen machen. Die Note wird von ihnen als Ausdruck eigener Inkompetenz erlebt und führt zu Sorgen über die eigene Zukunft (z. B. nicht an der Universität zugelassen zu werden oder den Berufswunsch nicht ausüben zu können, was jedoch erst in einigen Jahren aktuell wird). Der Hang zum Perfektionismus scheint mit diesen kognitiven Verzerrungen in Zusammenhang zu stehen, wobei ein kleiner Fehler als Beweis für völliges Versagen interpretiert wird. Generell neigen ängstliche Kinder dazu, mehrdeutige Reize als bedrohlich zu interpretieren und voreilig Schlüsse zu ziehen. Studien mit Kindern mit GAS zeigten, dass diese häufiger negativere Aussagen über sich selbst äußern als nichtängstliche Kinder. In diesem Zusammenhang sind auch die geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung und das geringe Selbstvertrauen von Kindern mit GAS zu nennen. Dieses unsichere Selbstbild kann dazu führen, dass das Kind Geburtstagsfeste, Essen bei Freunden und andere außerschulische Aktivitäten vermeidet, da es sich über unwahrscheinliche Ausgänge viele Sorgen macht. Falls die Kinder dann doch an solchen Aktivitäten teilnehmen, zeigen sie vor allem zu Beginn wenig Begeisterung. Dieses zurückhaltende Verhalten kann dazu führen, dass die Kinder weniger eingeladen werden, was dann wiederum ihr negatives Selbstbild aufrechterhält. Es kann jedoch auch sein, dass das Kind zunächst von den Eltern zum Hingehen überredet werden muss, sich aber nach einer Eingewöhnungszeit wohl fühlt und sich keine Sorgen mehr macht.
34.2.4 Komorbidität
Die Komorbiditätsrate bei der GAS ist hoch. In der Studie von Masi et al. (2004) hatten gerade 7% der klinischen Stichprobe eine »reine« GAS-Diagnose. 75% hatten komorbide Angststörungen, 56% depressive Störungen und 21% externalisierende Störungen. Kinder und Jugendliche mit komorbid externalisierenden Störungen waren häufiger männlich, psychomotorisch unruhig und hatten eine erhöhte Rate an bipolaren Störungen.
. Tab. 34.1. Prävalenzraten der GAS bei Kindern und Jugendlichen Bolton et al. 2005
Federer et al. 2000
Steinhausen et al. 1998
Essau et al. 1998
Wittchen et al. 1998
Alter [Jahre]
6
8
7–16
12–17
14–24
Prävalenz
3 Monate
6 Monate
GAS [%]
1,8 (subklinisch 2,4)
1,4
0,6 (OAD= 2,1)
OAD »overanxious disorder« (Störung mit Überängstlichkeit); LZ Lebenszeitprävalenz.
1 Jahr
LZ
1 Jahr
LZ
0,2
0,4
0,5
0,8
596
Kapitel 34 · Generalisierte Angststörung
34.2.5 Klassifikation
Im DSM-IV wurde die »Störung der Überängstlichkeit« des DSM-III-R unter die Erwachsenenkategorie GAS subsumiert. Forschungsbefunde, die mit der Diagnose »Störung mit Überängstlichkeit« erhoben wurden, gelten für die GAS als übertragbar (Kendall u. Warman 1996). Die diagnostischen Kriterien nach DSM-IV-TR und ICD-10 sind in . Tab. 34.2 aufgeführt (nach Angaben aus APA 1987, 1994; WHO 1992). Zwischen DSM-IV-TR und ICD-10 gibt es in den Diagnosekriterien keine grundsätzlichen Unterschiede. Bei der DSM-Diagnose der GAS ist zu beachten, dass im Unterschied zur Diagnosevergabe bei Erwachsenen bei Kindern nur ein körperliches Symptom vorliegen muss.
34.2.6 Differenzialdiagnostik
Da die GAS und andere Angststörungen viele gemeinsame Merkmale haben, kann die diagnostische Einordnung zu Schwierigkeiten führen. Des Weiteren ist auch zu beach-
ten, dass die GAS eine hohe Komorbidität mit anderen Störungen aufweist und somit andere Störungen komorbid auftreten können. Für die Vergabe einer GAS-Diagnose ist es wichtig, dass die Sorgen sich nicht auf einen Bereich beschränken, sondern verschiedene Themen beinhalten. Beziehen sich die Sorgen ausschließlich auf soziale Situationen oder Leistungsaspekte, wäre eher die Diagnose soziale Phobie zu berücksichtigen. Beziehen sich die Sorgen auf die Trennung von der Bezugsperson, sollte eine Störung mit Trennungsangst abgeklärt werden. Zwangsgedanken und Sorgen werden beide als nicht kontrollierbar und als sehr unangenehm erlebt. Inhaltlich können sie dadurch unterschieden werden, dass Zwangsgedanken häufig Themen wie Verunreinigung, Ansteckung und Kontrolle beinhalten. Sie sind eher stereotyp und bestehen nicht aus Gedankenketten wie die Sorgen der GAS. Des Weiteren werden Zwangsgedanken häufig durch Zwangshandlungen »neutralisiert«. Kinder mit ADHS können ähnlich wie Kinder mit GAS nervös und ruhelos wirken und Konzentrationsprobleme haben. Hingegen machen sich Kinder mit ADHS keine übermäßigen Sorgen,
. Tab. 34.2. Diagnostische Kriterien der GAS nach DSM-IV-TR und ICD-10 (Generalisierte Angststörung des Kindesalters) DSM-IV-TR (300.02)
ICD-10 (F93.80)
A.
Übermäßige Angst und Sorge (furchtsame Erwartung) bezüglich mehrerer Ereignisse oder Tätigkeiten (wie Arbeit oder Schulleistungen), die während mindestens 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage auftraten.
A.
Intensive Ängste und Sorgen (ängstliche Erwartung) über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten an mindestens der Hälfte der Tage. Die Ängste und Sorgen beziehen sich auf mindestens einige Ereignisse und Aktivitäten (wie Arbeits- oder Schulleistungen).
B.
Die Person hat Schwierigkeiten, die Sorgen zu kontrollieren.
B.
Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, mit den Sorgen fertig zu werden.
C.
Die Angst und Sorgen sind mit mindestens 3 Symptomen, die an der Mehrzahl der Tage vorlagen, verbunden. Beachte: Bei Kindern genügt ein Symptom
C.
Die Ängste und Sorgen sind mit mindestens drei der folgenden Symptome verbunden (mindestens zwei Symptome an mindestens der Hälfte der Tage):
34
1.
Ruhelosigkeit
1.
Ruhelosigkeit, Gefühl überdreht, nervös zu sein
2.
Leichte Ermüdbarkeit
2.
Gefühl von Müdigkeit, Erschöpfung oder leicht ermattet zu sein durch die Sorgen und Ängste
3.
Konzentrationsschwierigkeiten
3.
Konzentrationsschwierigkeiten oder Gefühl, der Kopf sei leer
4.
Reizbarkeit
4.
Reizbarkeit
5.
Muskelspannung
5.
Muskelverspannung
6.
Schlafstörungen
6.
Schlafstörung wegen Ängsten und Sorgen
D.
Ausschlusskriterium: Merkmale einer anderen Achse-I-Störung.
D.
Die vielfältigen Ängste und Befürchtungen treten in mindestens zwei Situationen, Zusammenhängen oder Umständen auf.
E.
Die Angst, Sorgen oder körperlichen Symptome verursachen klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
E.
Beginn in der Kindheit oder in der Adoleszenz (vor dem 18. Lebensjahr).
F.
Ausschlusskriterium: direkte körperliche Wirkung einer Substanz oder eines medizinischen Krankheitsfaktors, affektive Störungen, psychotische Störung oder tiefgreifende Entwicklungsstörung.
F.
Die Ängste, Sorgen oder körperlichen Symptome verursachen klinisch deutliches Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder in anderen wichtigen Lebens- und Funktionsbereichen.
G.
Ausschlusskriterium: direkte Folge einer Substanzaufnahme oder einer organischen Krankheit, z. B. Hyperthyreose, affektive oder psychotische Störung oder tiefgreifende Entwicklungsstörung.
Anmerkung: GAS (ICD-10): Kinder und Jugendliche klagen meist weniger über die für die GAS typischen Beschwerden als Erwachsene (F41.1), und die spezifischen Symptome der vegetativen Stimulierung stehen oft weniger im Vordergrund.
597 34.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
während Kinder mit GAS nicht vergleichbar starke Aufmerksamkeitsprobleme haben. Das Grübeln bei der Depression beschäftigt sich häufig mit der Vergangenheit, während die Sorgen der GAS auf die Zukunft gerichtet sind.
34.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Die Erforschung der Risiko- und Vulnerabilitätsfaktoren der GAS steckt erst in den Anfängen. Gründe dafür sind einerseits die Veränderungen der Diagnosekriterien im DSM als auch die Tatsache, dass sich die Grundlagenforschung meistens den verschiedenen Angststörungen gemeinsam widmete und somit Aussagen über störungsspezifische Risikofaktoren bisher ausblieben.
34.3.1 Genetische Faktoren
Zahlreiche Studien belegen den genetischen Einfluss für die Entwicklung von Angststörungen, welche eine Varianz von 30–40% aufklärt (Kendler et al. 1992). Zwillingsstudien weisen darauf hin, dass eher von einer allgemeinen Prädisposition für Angst und Depression statt von einer störungsspezifischen genetischen Vermittlung ausgegangen werden kann. Für weibliche Zwillingspaare fanden sich je ein genetischer Faktor für GAS/Depression und ein weiterer für Panik/Phobie und Bulimie (Kendler et al. 1992).
34.3.2 Temperament
Temperamentseigenschaften werden als Basis für die Persönlichkeitsentwicklung betrachtet, die schon früh im Leben auftreten, stabil über die Zeit bestehen bleiben und durch biologische Faktoren beeinflusst werden. Von den Längsschnittstudien des Harvard Infant Study Laboratory ging die Initiative aus, die Temperamentseigenschaft Verhaltenshemmung (»behavioral inhibition«) als möglichen Risikofaktor für Angststörungen zu untersuchen. Das Temperamentsmerkmal Verhaltenshemmung ist charakterisiert durch Schüchternheit, emotionale Zurückhaltung und Vermeidung unbekannter Menschen oder unvertrauter Situationen (Kagan 1994). Dieses Verhalten kann schon ab dem Alter von 8 Monaten beobachtet werden. Insgesamt lässt sich festhalten, dass eine über mehrere Zeitpunkte stabile Verhaltenshemmung mit mehr Angststörungen bei Kindern einhergeht (Biederman et al. 1990) und dass Verhaltenshemmung bei Kindern von Eltern mit Angststörungen häufiger auftritt. Es steht noch aus, ob Verhaltenshemmung ein allgemeiner Risikofaktor für die Entwicklung von Angststörungen oder ein störungsspezifischer Risikofaktor ist.
34.3.3 Umweltfaktoren
Gerade die genetischen Studien verweisen auf den Einfluss von Umweltfaktoren. Dabei wird zwischen gemeinsamen Umweltfaktoren (»shared environmental factors«) und nichtgemeinsamen Umweltfaktoren (»non-shared environmental factors«) unterschieden. Nichtgemeinsame Umweltfaktoren sind Faktoren außerhalb der Familie, z. B. belastende Lebensereignisse oder Freundschaften. Gemeinsame Umweltfaktoren sind solche, die die Familienmitglieder miteinander teilen. Gemeinsame Familienerfahrungen haben ihre größten Effekte, wenn die Kinder noch jünger sind und nehmen mit zunehmendem Alter der Kinder ab. Im Vergleich mit Studien zu Angststörungen im Erwachsenenalter, welche keinen signifikanten Einfluss von gemeinsamen Umweltfaktoren fanden, konnte bei Kindern und Jugendlichen ein signifikanter gemeinsamer Umweltfaktor nachgewiesen werden (Eley 2001). Ergebnisse von Familienstudien legen nahe, dass Kinder von Eltern mit GAS ein höheres Risiko zur Ausbildung einer GAS haben als Kontrollfamilien (Newman u. Bland 2006). Es besteht jedoch noch Unklarheit darüber, wie die Störung übertragen wird.
34.3.4 Ein Modell für die Entwicklung der GAS
Das Modell von Hudson und Rapee (2004; Rapee 2001; vgl. Lyneham u. Rapee 2004) integriert verschiedene Faktoren, die für die Entwicklung der GAS relevant sein könnten (. Abb. 34.1). Die Autoren gehen dabei von drei globalen Faktoren aus, die an der Entwicklung der GAS beteiligt sind: Genetik, Temperament und Umwelteinflüsse. Im inneren Teil der Abbildung wird die Vulnerabilität mit den Faktoren Temperament (Erregung und Emotionalität), Vermeidungsverhalten und Verzerrung der Informationsbearbeitung dargestellt. Diese Faktoren beeinflussen sich gegenseitig, so dass Merkmale wie erhöhte Sensitivität und größere Emotionalität die Tendenz, Situationen als bedrohlich zu interpretieren und neue Reize zu vermeiden, erhöhen. Durch die Vermeidung findet wiederum keine Habituation an potenziell bedrohliche Reize statt. Dieses Verhalten kann zu einer eingeschränkten Entwicklung von sozialen Fertigkeiten und Bewältigungsstrategien führen. Bei der Entstehung der GAS hat sich gezeigt, dass Annahmen über eigene Kompetenzen und Ressourcen zur Problemlösung von Bedeutung sind. Die Vulnerabilität steht in Wechselwirkung mit der Verstärkung des Vermeidungsverhaltens durch die Umwelt (z. B. Eltern, Lehrer) und weiteren Umweltfaktoren. Eltern von Kindern mit ängstlichem Temperament werden gegenüber ihrem Kind ein eher überengagiertes Verhalten entwickeln. Dieses elterliche Überengagement verstärkt die kindliche Vulnerabilität für Angst, indem beim Kind die Wahrnehmung von Gefahr erhöht, die wahrgenommene
34
598
Kapitel 34 · Generalisierte Angststörung
. Abb. 34.1. Modell der Entwicklung einer generalisierten Angststörung. (Aus Lyneham u. Rapee 2004)
34
Kontrolle über Gefahr reduziert wird und schlussendlich Situationen vermieden werden, die Gefahr bedeuten könnten. Damit können Eltern, die ihr Kind vor stressreichen Erfahrungen schützen oder ihm die Kontrolle in stressreichen Situationen abnehmen, dem Kind beibringen, dass die Welt gefährlich ist und dass sie selbst keine Kontrolle darüber haben. Im Gegensatz dazu können Eltern, die die Selbstständigkeit ihrer Kinder fördern, indem sie den Kindern soviel Unterstützung wie nötig geben und vor schwierigen Situationen nicht überbeschützen, die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind eine Angststörung entwickelt, reduzieren. Unabhängig vom ängstlichen Temperament des Kindes und der elterlichen Angst kann sich das ängstliche Kind ein Umfeld suchen, dass die Wahrscheinlichkeit für die Exposition mit ängstlichen Modellen erhöht. Beispielsweise können sich ängstliche Kinder ängstliche Spielkameraden suchen. Genetische Faktoren beeinflussen die Vulnerabilität des Kindes. Die elterliche Angst hat dabei einen Einfluss auf genetische und soziale Faktoren. Ängstliche Eltern neigen aufgrund der erhöhten Wahrnehmung von Gefahr und einer erhöhten Sensitivität gegenüber Belastungen des Kindes zur Überbehütung ihres Kindes. Verbale Instruktionen oder ängstliches Modellverhalten halten die Vulnerabilität für Angst aufrecht. Ein Kind ahmt das ängstliche Verhalten einer Bezugsperson nach und lernt durch die Beobachtung dieser Person, wie es sich in beängstigenden oder uneindeutigen Situationen verhalten soll.
Belastende Lebensereignisse können unabhängig von der Vulnerabilität des Kindes auftreten. Während es möglich ist, dass ein belastendes Ereignis eine Angststörung auslösen kann, ist dies wahrscheinlicher, wenn eine Vulnerabilität für Angst vorhanden ist. Bei belastenden Ereignissen ist vor allem die Kontrollierbarkeit des Ereignisses von Bedeutung: Je unkontrollierbarer ein Ereignis, desto größer die Angst (Chorpita u. Barlow 1998). Des Weiteren hat sich gezeigt, dass Ereignisse in Verbindung mit Gefahr und nicht Verlust, Auslöser für Angst und nicht für Depression darstellen (Finlay-Jones u. Brown 1981). Zusammengefasst halten Hudson und Rapee (2004) fest, dass das Modell als vorläufig und zur Anregung für zukünftige Forschung verstanden werden sollte. Zudem ist festzuhalten, dass die Rolle und Funktion der Sorgen noch zu wenig Berücksichtigung in der Entwicklung der kindlichen GAS finden. > Fazit Zukünftig sollte die Forschung von Risikofaktoren vermehrt die Wechselbeziehungen zwischen den Faktoren (Genetik, Temperament, Umwelteinflüsse) untersuchen. Zudem fehlen klare Hinweise auf protektive Faktoren. Störungsspezifische Modelle sollten zudem Aufschluss geben, wie sich die Entstehung der GAS von anderen Angststörungen unterscheidet.
599 34.5 · Therapeutisches Vorgehen
34.3.5 Verlauf der GAS vom Kindes-
ins Erwachsenenalter Studien, die den Verlauf der GAS in Längsschnittstudien vom Kindes- ins Erwachsenenalter untersucht haben, sind selten. Allgemein kann festgehalten werden, dass immer mehr Längsschnittstudien nachweisen, dass das Vorliegen einer Angststörung im Kindesalter, Angststörungen, affektive Störungen und Substanzabhängigkeiten im Erwachsenenalter zur Folge hat (Brückl et al. 2007; Woodward u. Fergusson 2001). Die Studie von Pine et al. (1998) zeigte, dass GAS im Jugendalter einen hohen Vorhersagewert für eine Reihe von Angststörungen und Major Depression im Erwachsenalter hat. Einen Übergang der GAS in eine Major Depression belegte neben Lewinsohn et al. (1997) auch eine genetische Studie von Silberg et al. (2001), die nachweisen konnte, dass Überängstlichkeit in der Kindheit der Depression vorausgeht. In einer prospektiven Studie von Bittner et al. (2004) konnte das Vorhandensein einer Angststörung das Risiko, eine Major Depression zu entwickeln, erhöhen, wobei zwischen GAS und Major Depression der stärkste Zusammenhang bestand. ! Eine adäquate Behandlung der GAS im Kindes- und Jugendalter kann somit auch als Prävention für die Entwicklung psychischer Störungen im Jugend- und Erwachsenenalter angesehen werden.
34.4
Diagnostik
Das diagnostische Vorgehen kann 7 Kap. III/8 sowie den Leitlinien zur Diagnostik und Psychotherapie bei Angststörungen im Kindes- und Jugendalter (Schneider u. Döpfner 2004) entnommen werden. Bei der GAS sind normale Sorgen von klinisch auffälligen Sorgen zu unterscheiden. Mehrere Studien belegen, dass Sorgen ein weit verbreitetes Phänomen bei Kindern sind. Muris et al. (1998) untersuchten die Sorgen von 8- bis 13-jährigen Schulkindern und fanden, dass sich 70% der Kinder 2–3 Tage die Woche sorgten. Die Sorgen waren mit moderater Angst und Beeinträchtigung verbunden, lösten ein vergleichsweise hohes Ausmaß an Widerstand aus und waren eher schwer zu kontrollieren. Der Inhalt der Sorgen bezog sich auf Schulleistungen, soziale Kontakte, Tod und Gesundheit. Der Unterschied zwischen normalen Sorgen und einer GAS liegt vor allem im Schweregrad der Symptome und der Beeinträchtigung durch diese. Eine neuere Studie zur Eltern-Kind-Übereinstimmung von Foley et al. (2005) zeigte, dass die Übereinstimmung bei der GAS nicht besser als der Zufall war. Daher wird empfohlen, mehrere Informationsquellen und diagnostische Methoden miteinander zu kombinieren. Die diagnostische Einordnung einschließlich Differenzialdiagnostik sollte mit Hilfe reliabler und valider standar-
disierter Verfahren erfolgen (z. B. CASCAP-D: Döpfner et al. 1999; DISYPS-II: Döpfner et al. 2008; Kinder-DIPS: Schneider et al. 2009). Das Kinder-DIPS ist ein strukturiertes Interview, welches sich aus einer Eltern- und einer Kindversion zusammensetzt. Hervorzuheben ist, dass das Kinder-DIPS neben einer differenzierten Klassifikation der im Kindes- und Jugendalter häufigsten auftretenden psychischen Störungen nach ICD-10 und DSM-IV-TR auch die Erfassung therapierelevanter Daten erlaubt.
Fragebogen Der »Penn State Worry Questionnaire for children and adolescents« (PSWQ-C; Adams u. Hoyer 2003, 2005; Chorpita et al. 1997) ist bislang der einzige störungsspezifische Fragebogen zur Erhebung von GAS-Symptomen bei Kindern und Jugendlichen. Der Fragebogen enthält 16 Items, mit einer 4-Punkte-Skala (stimmt nie – stimmt immer), welche von 0 bis 3 bewertet werden. Beispielsweise enthält der Fragebogen Items wie »Ich finde es einfach, Sorgen zu beenden, wenn ich möchte« oder »Ich sorge mich immer über irgendetwas«. Der Fragebogen kann als reliabel und valide eingestuft werden. Für eine ausführlichere Beschreibung wird auf Band 4 dieses Lehrbuchs verwiesen. Die »Spence Children’s Anxiety Scale« (SCAS; Spence 1998) und der »Screen for Childhood Anxiety Related Emotional Disorders (SCARED; Birmaher et al. 1997) sind Angstfragebogen, welche mit Subskalen verschiedene Angstbereiche erfassen. Der SCAS umfasst 38 Items, wovon 6 Items GAS-Symptome erfassen. Die Items werden auf einer 4-Punkte-Skala (niemals – immer), mit einem Wertebereich von 0 bis 3 geratet. Ein GAS-Item lautet z. B.: »Wenn ich ein Problem habe, bekomme ich ein komisches Gefühl im Bauch.« Die Gütekriterien der SCAS können als gut beurteilt werden. Der SCARED ist ein reliables und valides Selbstauskunftsinstrument mit 38 bzw. 41 Items. Der SCARED existiert als Kinder- und als Elternversion. Für den Bereich der GAS lautet ein Item: »Ich sorge mich darüber, ob ich gleich gut bin wie andere Kinder.« Der SCARED kann auch zur Messung des Therapieerfolgs eingesetzt werden.
34.5
Therapeutisches Vorgehen
Im Folgenden werden die Therapiebausteine, die für die Behandlung der GAS zentral sind vorgestellt. Im ersten Schritt geht es um allgemeine Informationsvermittlung. Neben allgemeinen Informationen über Angst und die GAS wird ein Bedingungsmodell erarbeitet und das Kind wird angeleitet, sich mittels Sorgentagebuch selbst zu beobachten. Danach wird die kognitive Umstrukturierung mit verschiedenen kognitiven Techniken wie Realitätsüberprüfung, Entkatastrophisieren und Vorhersage Testen beschrieben. Weitere wesentliche Therapiekomponenten sind die Konfrontation in vivo, die Sorgenkonfrontation und das
34
600
Kapitel 34 · Generalisierte Angststörung
Elterntraining zum Umgang mit Rückversicherung und Vermeidungsverhalten. Die angewandte Entspannung wird für Kinder mit GAS beschrieben, bei denen körperliche Symptome wie Anspannung und Schlafprobleme im Vordergrund stehen. Zum Abschluss wird auf die Rückfallprophylaxe eingegangen. Derzeit stehen drei empirisch validierte Interventionen zur Verfügung, die bei Kindern mit GAS durchgeführt werden können. Bei allen Behandlungsprogrammen ist anzumerken, dass sie für Kinder mit unterschiedlichen Angststörungen konzipiert wurden, d. h. störungsspezifische Therapiemanuale zur Behandlung von Kindern mit GAS sind nicht vorhanden. Das Therapiemanual von Kendall (2000; Kendall et al. 2002) »Coping Cat« wurde in mehreren Therapiestudien eingesetzt und konnte seine Effektivität bei Kindern mit unterschiedlichen Angststörungen nachweisen. Die beiden Programme »FRIENDS« oder »FREUNDE« (Barrett et al. 2000; deutsche Übersetzung: Barrett et al. 2003) und »Cool Kids«(Rapee u. Wignall 2001; Lyneham et al. 2003) sind auf »Coping Cat« aufgebaut. Folgende Interventionen sind gemäß der vorliegenden Therapiestudien für die Therapie wesentlich (vgl. Schneider u. Döpfner 2004): Psychoedukation, kognitive Umstrukturierung eventuell mit Selbstinstruktionstraining, Konfrontation in vivo zum Abbau von Vermeidungsverhalten und Rückversicherungsverhalten, Konfrontation in sensu (Sorgenkonfrontation), Entspannungstraining und Rückfallprophylaxe. Für eine ausführliche Beschreibung der Interventionen wird auf Schneider (2004) und Becker und Margraf (2002) verwiesen. Wenn die Eltern in die Therapie einbezogen werden, sollte mit ihnen der Umgang mit ängstlichem Verhalten diskutiert werden. Es kann auch hilfreich sein, den Lehrer des Kindes über Ziele und Inhalte der Therapie zu informieren, so dass der Lehrer bei Konfrontationsübungen (z. B. in Hausaufgaben einen Fehler machen) sich angemessen verhalten kann.
erfolgen dann Informationen und Techniken zum Umgang mit Sorgen und Ängsten oder Konfrontationsübungen. Am Ende der Sitzung werden die wichtigsten Inhalte kurz zusammengefasst. Am besten lässt man das Kind die Sitzung zusammenfassen, so wird für den Therapeuten ersichtlich, ob das Kind das Wesentliche der Sitzung verstanden hat. Gegebenenfalls ergänzt der Therapeut die Zusammenfassung oder klärt Unklarheiten auf. Zum Abschluss werden die neuen Hausaufgaben besprochen. Um zu schauen, ob das Kind die Hausaufgaben verstanden hat, kann das Kind gebeten werden, die Hausaufgaben den Eltern zu erklären.
34.5.2 Psychoedukation
Falls nicht bereits geschehen, sollten dem Kind und gegebenenfalls den Eltern die Ergebnisse der Diagnostik mitgeteilt werden. Vor allem für die Eltern kann es entlastend sein, zu wissen, dass das Problem ihres Kindes einen Namen hat und es mehrere Kinder gibt, die dieses Problem haben. Die typischen Symptome der GAS können genannt und mit den Symptomen des Kindes verglichen werden. Zur Erhöhung der Therapiemotivation des Kindes kann die Wunderfrage gestellt werden: »Woran würdest du merken, wenn eine Zauberfee in der Nacht all deine Ängste und Sorgen wegnehmen würde?« oder »Was würdest du tun, wenn du keine Ängste oder Sorgen mehr hättest?« Zunächst sollen interaktiv allgemeine Informationen über Angst vermittelt werden. Ein wichtiger Punkt ist, das Kind über normale und krankhafte Angst sowie den Sinn der Angst als etwas Überlebensnotwendiges, aufzuklären. Dazu lässt sich anschauliches Bildmaterial oder Bücher verwenden (z. B. Boie 2001). Die Komponenten der Angst (Gedanken, Körpersymptome, Verhalten) und deren Zusammenhänge können mit Fragen nach Erfahrungen des Kindes aufgezeigt werden.
Beispiel 34.5.1 Therapiegestaltung
34
Ziel zu Beginn einer jeden Therapie ist der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zum Kind und gegebenenfalls den Eltern. Zum Thema Erstkontakt und Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen 7 Kap. III/11. Falls die Therapie in einer Gruppe durchgeführt wird, sollten Rahmenbedingungen, Schweigepflicht, Gruppenregeln und Termine besprochen und festgelegt werden. Generell sollte jede Sitzung mit einer Begrüßung und einem kurzen Überblick über die Sitzung beginnen. Dabei wird kurz auf die letzte Sitzung zurückgeblickt und eventuelle Fragen oder Unklarheiten geklärt. Ein wichtiger Punkt ist das Besprechen der Hausaufgaben. Durch das regelmäßige Besprechen der Hausaufgaben wird dem Kind die Wichtigkeit der Hausaufgaben vermittelt. Je nach Sitzung
Beispielfragen lauten: »Wenn du dir Sorgen machst, spürst du dann etwas in deinem Körper?« oder »Was machst du, wenn du dir viele Sorgen machst?« Dabei sollte an Vermeidungs- und an Rückversicherungsverhalten gedacht werden. Die Frage nach den Gedanken z. B. »Was geht dir durch den Kopf, wenn du ängstlich bist?« ist für Kinder oft schwierig. Es kann hilfreich sein, wenn sich das Kind an eine kürzlich stattgefundene Situation erinnert und sich in diese Situation hineinversetzt, in der es Angst hatte und sich Sorgen machte.
Die Körpersymptome bei Angst können erklärt werden als ein wichtiges Signal für bedrohliche Situationen. Über die Evolutionsgeschichte hinweg hat sich die Angst als notwendige Reaktion auf tatsächliche Bedrohung entwickelt. Phy-
601 34.5 · Therapeutisches Vorgehen
siologische Reaktionen wie erhöhter Herzschlag, stärkere Durchblutung der Skelettmuskulatur haben eine Alarmfunktion und dienen dazu, den Körper auf Handlungen – Kampf oder Flucht – vorzubereiten.
kann herausgearbeitet werden, dass in einer Situation verschiedene Gedanken auftreten können. Die Konsequenzen dieser Gedanken, das Gefühl und das Vermeidungsverhalten werden anhand der verschiedenen möglichen Gedankengänge erörtert.
Beispiel
Realitätsüberprüfung
Mit dem Kind können die Funktionen der körperlichen Reaktionen besprochen werden: z. B. dass das Herzrasen einen darauf vorbereitet, dass man schnell (weg-) laufen kann. Das Schwitzen könnte dazu dienen, dass die Haut glitschig wird und es im Falle eines Kampfes für den Gegner schwierig ist, einen zu greifen oder zu packen, da er aufgrund der glitschigen Haut immer wieder abrutscht. Solche Beispiele sind für Kinder anschaulich und unterhaltend.
Zur Realitätsüberprüfung der Sorgen müssen diese zunächst identifiziert werden z. B. mit Hilfe des Sorgentagebuchs. Die Überprüfung und Modifikation der angstauslösenden Gedanken kann mit Hilfe eines Detektivs veranschaulicht werden. Zur Beweissuche für die Sorgen können beispielsweise folgende Fragen gestellt werden (Rapee et al. 2000; s. Beispiel unten):
Die Ursachen und aufrechterhaltenden Faktoren der GAS sind vor allem ein Bestandteil für die Therapie mit Jugendlichen und den Eltern. Wichtig ist dabei herauszuarbeiten, dass es viele mögliche Faktoren gibt, die zu einer Störung führen können. Dabei sollte beachtet werden, dass die meisten Eltern ihre eigene Theorie darüber haben und dass diese Theorien vom Therapeuten aufgenommen werden sollten. Als eine erste Aufgabe kann dem Kind ein Sorgentagebuch abgegeben werden. Dem Kind sollte vermittelt werden, dass man damit Auslöser für Sorgen erkennen kann und auch Veränderungen während der Therapie sichtbar werden (. Tab. 34.3). Das Kind sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Ausfüllen Zeit kostet, das Sorgentagebuch aber für die Therapie sehr wichtig ist. Da das Kind meistens nur eine Stunde pro Woche zur Therapie kommt, möchte der Therapeut wissen, wie es dem Kind in der übrigen Zeit geht.
34.5.3 Kognitive Umstrukturierung
Ziel der kognitiven Umstrukturierung ist es, den ängstlichen Kindern zu zeigen, wie die Gedanken, die sie haben, häufig die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses oder die Konsequenzen des Ereignisses überschätzen und dabei die Möglichkeit alternativer Gedanken zu betonen. Wichtig dabei ist die Ausarbeitung der Verbindung zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten. Mit Hilfe von Cartoons
Was ist früher in dieser Situation geschehen? Häufig hat
sich das Kind in der Situation schon mehrmals Gedanken über negative Konsequenzen gemacht. Es kann nun gefragt werden, was bisher geschah, z. B. hatte die Mutter schon einmal einen schweren Autounfall? Wenn sich das Kind nur an negative Konsequenzen einer Situation erinnert, ist es wichtig, nach genauen Details der Situation zu fragen. Was sind die Fakten? Wenn sich das Kind Sorgen darüber macht, dass bei der Familie eingebrochen wird, kann das Kind gefragt werden, wie viele Personen es kennt, bei denen bereits eingebrochen wurde. Das Kind könnte auch gefragt werden, wie viele Nächte es schon im Haus geschlafen hat und wie häufig eingebrochen wurde. Bei älteren Kindern kann man die Aufgabe erteilen, dass im Internet nach der Einbruchrate im entsprechenden Quartier gesucht werden soll. Was könnte sonst passieren? Häufig ist das Kind auf eine negative Konsequenz fokussiert und alternative Erklärungen fehlen. Das gewünschte Ziel ist, das Kind erkennen zu lassen, dass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens des befürchteten Ereignisses verhältnismäßig gering ist und daher die Konsequenzen viel weniger bedrohlich sind als vorhergesagt. Zum Beispiel kann es sein, dass die Mutter wegen eines Verkehrsstaus nicht pünktlich zu Hause ist und nicht, weil ein Unfall passierte. Wie sehen das andere? Für Jugendliche kann es hilfreich sein, die Perspektive von anderen einzunehmen, wie diese die Situation einschätzen. Für jüngere Kinder kann eine Strategie sein, wie »ihr« Detektiv oder sonst eine Heldenfigur die Situation betrachten würde.
. Tab. 34.3. Beispiel für ein Sorgentagebuch Datum
Sorge
Wie stark war die Angst? (1-10)
Wie hast du dich gefühlt/körperliche Reaktionen?
Wo warst du?
Was hast du gemacht?
Kommentar
14.8.06
Ich komme zu spät zur Schule
8
Nervös, Bauchschmerzen
Zu Hause
Meine Mutter nach der Zeit gefragt
1. Schultag nach den Ferien
34
602
Kapitel 34 · Generalisierte Angststörung
Beispiel Arbeitsblatt für kognitive Umstrukturierung Was ist meine Sorge? Wie stark ist meine Angst?
Ich könnte zu spät zur Schule kommen, und dann schickt mich der Lehrer wieder nach Hause. Angst: 8
Was sind die Beweise? Was ist früher in dieser Situation geschehen?
Der Lehrer hat noch nie jemanden nach Hause geschickt, der zu spät kam.
Was sind die Fakten?
Ich bin noch nie zu spät zur Schule gekommen. Ich laufe immer pünktlich von zu Hause los.
Was könnte sonst passieren?
Der Lehrer sagt, dass die Schule pünktlich beginnt. Die anderen Kinder könnten lachen. Es passiert nichts.
Wie sehen das andere?
Meine Oma sagt: Es kann passieren, dass man verschläft. Wenn es nicht immer passiert, ist das nicht so schlimm.
Was könnte ein realistischer Gedanke sein?
Wahrscheinlich schickt mich der Lehrer nicht wieder nach Hause, wenn ich einmal zu spät zur Schule komme.
Selbstinstruktionen Neben alternativen Gedanken können auch Selbstinstruktionen erarbeitet werden, die helfen sollen, die angstauslösenden Situationen zu bewältigen. Die Selbstinstruktionen tragen zur Steigerung der Selbstwirksamkeit bei und können auf Karteikärtchen geschrieben werden. Beispiele für solche Selbstinstruktionen sind: »Ich bin mutig!«, »Ich schaff das!«. Bei jüngeren Kindern können auch mutmachende Objekte (z. B. Mut-Stein) oder mutmachende Figuren (z. B. Pippi Langstrumpf, Superman) eingesetzt werden.
Entkatastrophisieren
34
Mit dem Verfahren des Entkatastrophisierens wird überprüft, ob es sich beim Eintreffen der Befürchtung wirklich um eine »Katastrophe« handeln würde. Mit der Frage »Was wäre, wenn…« kann die Befürchtung hinterfragt werden. Wobei darauf geachtet werden sollte, dass die Sorge nicht verharmlost wird. Neben der Bedeutung der Katastrophe ist auch die Bedeutung der Katastrophe für die Zukunft wichtig. Häufig werden die naheliegenden Gedanken übersprungen, so dass mit der Frage »und dann…« aufgezeigt werden kann, dass es auch nach einer »Katastrophe« weiter geht. Beispielsweise machen sich Kinder und Jugendliche häufig über Dinge sorgen, die noch Jahre entfernt sind, wie z. B. wegen einer schlechten Note, nicht an die Uni gehen zu können. Dabei kann es hilfreich sein, mit der Frage »und dann?« über die »Katastrophe« hinaus in die Zukunft zu schauen.
Vorhersage testen Ein erster Schritt zur Konfrontation ist das Testen von Vorhersagen. Es beinhaltet das Herausfordern von negativen Vorhersagen und das Sammeln von »Real-life-Erfah-
rungen«. Die Aufgabe besteht darin, sich der angstauslösenden Situation zu stellen, um herauszufinden, ob die Vorhersage wahr wird und dabei hilfreiche Beweise gegen den angstauslösenden Gedanken zu sammeln (s. Beispiel).
Beispiel Jennifer macht sich jeden Morgen exzessive Sorgen, zu spät zur Schule zu kommen. Ihre Vorhersage »Ich werde große Schwierigkeiten bekommen« wird getestet, indem sie absichtlich zu spät kommt, um herauszufinden, ob ihre Befürchtung tatsächlich eintritt. Üblicherweise ist der tatsächliche Ausgang nicht so schlimm, wie der befürchtete. Diese Erfahrung liefert wichtige Beweise gegen den angstauslösenden Gedanken.
34.5.4 Konfrontation in vivo
Kinder mit GAS haben viele verschiedene Ängste und Sorgen, die sich über die Zeit immer wieder verändern und als vage erscheinen. Trotzdem gibt es meist eine Reihe von Sorgen, die spezifisch genug sind, dass sie Ziel der Konfrontation werden können wie z. B. Sorgen über Pünktlichkeit, Fehlermachen und neue, ungewohnte Situationen. Situationen, die das Kind fürchtet, werden in einer Angsthierarchie zusammengestellt. Die Situationen sollten spezifisch und praktikabel sein. Dabei sollte jeder Schritt auf einer Angstskala danach eingeschätzt werden, wie ängstlich sich das Kind in dieser Situation fühlen wird. Ein Beispiel für eine Angsthierarchie ist im Folgenden aufgeführt.
603 34.5 · Therapeutisches Vorgehen
34.5.5 Konfrontation in sensu Beispiel Angsthierarchie zur Sorge, in der Schule Fehler zu machen 1. Absichtlich einen Fehler in den Hausaufgaben machen. 2. Mich in der Schule melden, auch wenn ich mir bei der Antwort nicht 100% sicher bin. 3. Absichtlich eine falsche Antwort geben. 4. Absichtlich das falsche Lehrbuch in die Schule mitnehmen. 5. Die Hausaufgaben nicht von den Eltern korrigieren lassen.
Kinder, die sich über Katastrophen wie Krieg oder AIDS Sorgen machen, reagieren gut auf die Konfrontation von Auslösern dieser Sorgen. Beispielsweise vermeiden Kinder mit diesen Sorgen häufig das Lesen oder Schauen von Nachrichten. Dieses Vermeidungsverhalten kann in der Konfrontation angegangen werden. Gleichzeitig sollten Eltern und Kinder aufgefordert werden, anzuerkennen, dass manchmal schlechte Ereignisse auf der Welt vorkommen, dass jedoch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens solcher Ereignisse realistisch bedacht werden sollte. Ziel der Konfrontation ist die Vermittlung der Erfahrung, dass angstauslösende Situationen ertragen werden können, ohne dass die befürchteten Konsequenzen eintreten. Zur Durchführung der Konfrontationsübungen ist eine sorgfältige Vorbereitung essenziell. Zur Erklärung, weshalb man sich den gefürchteten Situationen stellen sollte, ist die Anwendung des graphischen Angstverlaufs hilfreich (7 Kap. III/30). Anhand des Verlaufs an einem Alltagsbeispiel, z. B. Fahrradfahren, kann aufgezeigt werden, dass die Schwierigkeit kontinuierlich abnimmt, je häufiger das Fahrradfahren geübt wird. Mit solch einem Beispiel wird an bisherige Erfahrungen des Kindes angeknüpft. Mit dem gleichen Verfahren werden dann angstauslösende Situationen besprochen. Dabei sollte herausgearbeitet werden, dass das Vermeidungsverhalten die Angst kurzfristig reduziert, jedoch langfristig aufrechterhält und verstärkt. Für die Durchführung der Konfrontationsübungen können Regeln festgelegt werden: z. B. dass Flucht und Vermeidungsverhalten verhindert werden und, falls das Kind doch flüchtet, es wichtig ist, die angstauslösende Situation möglichst rasch wieder aufzusuchen. Für den Erfolg der Konfrontation ist es wesentlich, dass die Übungen systematisch und dicht genug aufeinander durchgeführt werden. Die erste Übung sollte sehr sorgfältig geplant werden, da diese für den weiteren Therapieverlauf entscheidend sein kann. Es kann von Vorteil sein, wenn die erste Übung von der Therapeutin begleitet wird. Dabei lernen die Eltern am Modell, wie sie sich während der Übung verhalten sollen. Für die Planung der Übungen ist der Einbezug der Eltern wichtig, da genügend Zeit für Übungen in den Alltag eingeplant werden muss.
(Sorgenkonfrontation) Da nicht alle Sorgen konkret mit einem Auslöser konfrontiert werden können, wird die Sorgenkonfrontation – mit Hilfe von Vorstellungsbildern – durchgeführt. Wie bei der Konfrontation in vivo ist das Ziel, Angst zu erzeugen, um eine Habituation zu ermöglichen. Sorgenketten werden durchbrochen, indem die einzelnen Sorgen isoliert werden. Für die Herleitung des Behandlungskonzepts wird auch hier mit dem Kind erarbeitet, dass Ablenkung, Vermeidung und Versuche, nicht an die Sorgen zu denken, die Sorgen aufrechterhalten bzw. verstärken. Mit Hilfe eines Gedankenunterdrückungsexperiments kann dieser Mechanismus gut verdeutlicht werden:
Gedankenunterdrückungsexperiment »Bitte versuche eine Minute nicht an einen rosa Elefanten zu denken« Woran denkst du jetzt? Was denkst du, weshalb du trotzdem daran denkst« (7 Kap. III/36).
Besonders häufig vermieden wird das Zu-Ende-Denken der Sorgen, indem von einer Sorge zur nächsten gesprungen wird, den sog. Sorgenketten. Um die Erwartungen der Kinder zu erfahren, kann nachgefragt werden: »Was würde wohl passieren, wenn du diese Sorge zu Ende denken würdest?« Wie bei der Konfrontation in vivo können Angstverlaufs- und Erwartungskurven mit dem Kind erarbeitet werden. Für die Sorgenkonfrontation wird dann für eine Sorge ein Sorgendrehbuch entwickelt. Dabei sollte die Situation bis zum schlimmstmöglichen Ende gedacht werden, und das Kind sollte möglichst emotional beteiligt sein, d. h. Gedanken, Gefühle und körperliche Reaktionen sollten im Drehbuch enthalten sein. Mit Kindern kann das Drehbuch auch aufgezeichnet oder auf Kassette aufgenommen werden. Die Übungen sollten ausführlich nachbesprochen werden. Ist es dem Kind gelungen, sich in die Situation hineinzuversetzen und wurde Angst empfunden?
Nachbesprechung der Sorgenkonfrontation 4 »Wie ging es dir während der Übung?« 4 »Wieviel Angst hattest du während der Übung von 0 (= keine Angst) bis 10 (= starke Angst)?« 4 »Gab es eine Stelle, wo du besonders viel Angst hattest?« 4 »Können wir die Geschichte noch lebendiger machen?« 4 »Wie hat sich dein Körper angefühlt?« 4 »Was ging dir durch den Kopf?«
34
604
Kapitel 34 · Generalisierte Angststörung
34.5.6 Elterntraining
Im Training mit den Eltern von Kindern mit GAS sollten folgende Punkte besprochen werden: Umgang mit Rückversicherung und Vermeidungsverhalten. Da bei Kindern mit GAS das Rückversicherungsverhalten sehr häufig ist, sollte dieses sorgfältig mit dem Kind und den Eltern besprochen werden. Dabei ist herauszuarbeiten, dass das Verlangen nach Rückversicherung und das ständige Fragen einem Vermeidungsverhalten entspricht und das Beantworten der Fragen und Rückversicherung-Geben die Angst des Kindes aufrechterhält und verstärkt. Durch die Rückversicherung lernt das Kind, dass es selber nicht in der Lage ist, schwierige Situationen selbstständig zu meistern. Dies erhöht die Abhängigkeit und den Glauben, dass vielleicht doch etwas Schlimmes passieren könnte. Das Abbauen des Rückversicherungsverhaltens kann mit dem Erstellen einer Hierarchie erfolgen. Die »schlimmste« Situation auf der Hierarchieliste wäre dann, die Fragen zu ignorieren und keine Rückversicherung zu geben. Zu Beginn der Konfrontation könnte beispielsweise eine Übung stehen, in der die Eltern dem Kind sagen, dass sie die Frage einmal beantworten, dann aber nicht mehr auf die Fragen eingehen werden. Die Eltern sollten dem Kind dabei zu verstehen geben, dass sie dem Kind zukünftig nicht deshalb keine Antwort mehr geben, weil sie es nicht mehr lieb haben, sondern weil sie der Angst nicht weiter helfen wollen. Ähnlich wie bei der Behandlung der Zwangsstörung kann auch das Kind mit GAS gefragt werden, wie oft man eine Frage beantworten muss, bis die Angst weg ist bzw. wie lange die Angst weg bleibt, wenn man die Frage einmal oder zehnmal beantwortet (s. Box). Dadurch soll erreicht werden, dass das Kind zu einer realistischeren Einschätzung kommt, wie sinnvoll das Rückversichern ist.
Umgang mit Rückverversicherung
34
»Wie oft muss ich dir die Frage beantworten, damit es bis morgen reicht?« »Wie lange bleibt die Angst weg, wenn ich dir die Frage einmal oder zehnmal beantworte?«
der Durchführung der progressiven Muskelentspannung werden einzelne Muskelpartien für etwa 5–7 Sekunden angespannt und anschließend etwa 30 Sekunden lang entspannt. Das Kind soll dabei auf den Unterschied zwischen An- und Entspannung achten, z. B. »Wie fühlt sich deine entspannte Hand an?« Anzuspannende Muskelpartien sind bevorzugt die Hand, die Augenregion, die Schultern, der Rumpf, die Beine und der Fuß. Zur Verdeutlichung der anzuspannenden Muskeln können Imaginationen eingesetzt werden. Für das Anspannen der Hand soll sich das Kind beispielsweise vorstellen, einen Schwamm auszudrücken. Für die Anspannung der Augenregion soll das Kind die Stirn runzeln, wie beim angestrengten Nachdenken. Bei jüngeren Kindern empfiehlt es sich, die Übung auf drei bis vier Muskelgruppen zu beschränken. Für einen hilfreichen Einsatz der Entspannungsübungen braucht es die Bereitschaft des Kindes regelmäßig zu üben. Um die Übungen auch für zu Hause zugänglich zu machen, empfiehlt es sich, die Übungen auf Tonband aufzunehmen und dem Kind mitzugeben. Für eine ausführlichere Beschreibung wird auf 7 Kap. III/16 verwiesen.
34.5.8 Rückfallprophylaxe
Am Ende der Therapie sollte von Seiten des Therapeuten darauf hingewiesen werden, dass es immer wieder Zeiten gibt, in denen Ängste und Sorgen stärker sein können. Mögliche zukünftige schwierige Situationen können angesprochen und mit dem Kind gemeinsam überlegt werden, wie es diese bewältigen könnte. Dies dient gleichzeitig der Repetition der gelernten Strategien. Bei Unsicherheit beim Kind oder den Eltern am Ende der Therapie können Auffrischungssitzungen vereinbart werden.
Folgende Fragen könnten mit dem Kind zum Thema Rückfallprophylaxe besprochen werden: 4 »Was hast du in der Therapie gelernt?« 4 »Was hat dir geholfen?« 4 »Was würdest du einem Freund raten, der Angst hat?« 4 »Was machst du, wenn die Angst wieder kommt?«
34.5.7 Entspannungstraining
Wenn körperliche Symptome wie Anspannung oder Schlafprobleme bei der GAS im Vordergrund stehen, kann das Einführen der angewandten Entspannung indiziert sein. Die progressive Muskelentspannung mit ihren Komponenten Anspannung und Entspannung der Muskeln hat sich beim Einsatz bei Kindern als hilfreich erwiesen und lässt sich auch von Kindern gut erlernen. Ziel der progressiven Muskelentspannung ist, eine bessere willkürliche Kontrolle über den Spannungszustand der Muskeln zu erlangen. Bei
34.5.9 Therapiesetting
Bislang fehlen klare Hinweise darauf, wer, wann, von welchem Therapiesetting am meisten profitiert. In einer von uns erstellten Metaanalyse (7 Abschn. 34.7; In-Albon u. Schneider 2007) konnten keine Unterschiede in der Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie bei Kindern mit Angststörungen gefunden werden, wenn die Therapie ausschließlich mit dem Kind oder familienzentriert oder indi-
605 34.6 · Fallbeispiel
viduell oder als Gruppentherapie durchgeführt wurde. Es gibt Studien, die zeigen, dass der Einbezug der Eltern zu einer besseren Wirksamkeit der Therapie führt, wenn die Eltern selber ängstlich sind bzw. die Kinder jünger sind. Hingegen gibt es Hinweise, dass ein kindzentrierter Ansatz vor allem für Kinder deren Eltern überfürsorglich sind, hilfreich sein könnte (Kendall et al. 2003). Die Vor- und Nachteile einer individuellen oder in Gruppe durchgeführten Therapie gleichen sich wahrscheinlich aus. So scheint das individuelle Eingehen auf die Problematik und das Teilen von Erfahrungen mit der Gruppe sowie das Erkennen, das man mit der Angstproblematik nicht alleine ist, sich auszugleichen (s. unten).
Gruppensetting Lyneham und Rapee (2004) nennen folgende Gründe, Gruppen aufgrund des Alters und nicht aufgrund der spezifischen Angstdiagnose zu bilden. Durch unterschiedliche Ängste in der Gruppe erhalten die Kinder und gegebenenfalls die Eltern Informationen über den Umgang mit unterschiedlichen Sorgen und Ängsten. Aufgrund der oft wechselnden Angstsymptomatik über den Entwicklungsverlauf eines Kindes können so zukünftige Ängste des Kindes besser bewältigt werden. Durch die Kombination von Kindern mit verschiedenen Angststörungen in einer Gruppe können Kinder, die eine bestimmte Situation nicht fürchten, den Kindern helfen, die diese Angst haben und ihnen ihre Gedanken oder Ideen für alternative Bewältigungsmöglichkeiten mitteilen.
34.5.10
Umgang mit Komorbidiät
Die meisten durchgeführten Therapiestudien erheben vor und nach der Therapie neben störungsspezifischen Bereichen auch andere Störungen. Zusammengefasst kann aus den Ergebnissen der Metaanalyse (In-Albon u. Schneider 2007) festgehalten werden, dass sich bei der Therapie von Angststörungen auch im Bereich der depressiven Symptomatik Verbesserungen zeigten. Dieser Effekt wurde von Kendall und Flannery-Schroeder (1998) als »treatment spillover« bezeichnet. Dieser Effekt ist auch bei der Therapieplanung zu beachten. Bei Kindern mit komorbiden Störungen kann zunächst die primäre Störung störungsspezifisch behandelt werden. Bei komorbiden Angststörungen können auch verschiedene Ängste innerhalb einer einzigen Hierarchie angesprochen werden. Ist komorbide zur GAS eine Depression vorhanden und das Kind aufgrund der Depression nicht in der Lage, an der Behandlung der GAS zu arbeiten, sollte die Behandlung der Depression im Vordergrund stehen.
34.5.11
Schwierigkeiten in der Therapie
Kinder mit GAS sind oft sehr leistungsorientiert. »Hausaufgaben« in der Therapie können beim Kind Ängste auslösen, dass sie den Erwartungen des Therapeuten nicht genügen. Die perfektionistische Einstellung des Kindes kann sich auch auf die Therapiemotivation des Kindes niederschlagen. Durch kleine Schritte kann das Kind erkennen, dass Fehlermachen keine Katastrophe bedeutet. Den Eltern sollte dieser Mechanismus aufgezeigt werden, damit sie das Kind angemessen unterstützen können. Eine mangelnde Therapiemotivation auf Seiten der Eltern kann aufgrund eigener Schuldvorwürfe oder eigener Ängste vorhanden sein. Bei eigenen Ängsten sollten die Eltern auf eine eigene Therapie aufmerksam gemacht werden. Bei Schuldgefühlen der Eltern sollte in der Therapie empathisch herausgearbeitet werden, dass sie die Experten für ihr Kind sind und dass verschiedene Faktoren für die Entwicklung von Ängsten verantwortlich sind, das elterliche Verhalten also nicht alleinige Ursache sein kann.
34.6
Fallbeispiel
Symptomatik Daniel ist ein 12-jähriger Junge, welcher immer annahm, dass das Schlimmste eintreten würde. Er sorgte sich darum, dass seiner kleinen Schwester etwas passiert, seine Eltern sich scheiden lassen, dass er in den Hausaufgaben etwas übersieht, er zu spät in die Schule kommt oder sonst eine Katastrophe eintritt. Seine Sorgen wechselten oft von einem Thema zum nächsten. Er hatte immer den Anspruch, perfekt zu sein, und musste sich ständig rückversichern, ob alles in Ordnung ist. Unerwartete oder unvorhersehbare Ereignisse bereiteten ihm Kopf- und Bauchschmerzen. Abends hatte er häufig Mühe einzuschlafen. Da er sich großen Druck auferlegte, die Schularbeiten perfekt zu machen, führte dies dazu, dass er dafür sehr viel Zeit benötigte. Weil er sich jeden Morgen Sorgen machte, dass er zu spät zur Schule kam, war er meistens bereits eine halbe Stunde vor Schulbeginn dort. Die Eltern von Daniel gaben im Kinder-DIPS an, dass Daniel schon immer ein »Grübler« gewesen sei, der sich über Dinge Sorgen machte, die ihn nicht betrafen, wie z. B. die Finanzen der Eltern. Sie hätten begonnen, sich Sorgen zu machen, als Daniel äußerte, dass er denke, er werde das Abitur nicht bestehen, weil er im letzten Test wahrscheinlich einen Fehler gemacht habe. Zudem würden sie manchmal beinahe die Nerven verlieren, weil Daniel so viele Fragen stelle. Die Eltern berichteten, dass sie aufgrund der Bauch- und Kopfschmerzen bereits mehrmals beim Kinderarzt waren, dieser aber keine organische Ursache habe finden können. Die elterliche Beziehung wurde als gut und stabil bezeichnet. Der Vater berichtete, dass die Mutter Daniel sehr oft Unanehmlichkeiten abnehmen würde. Seine Sorgen beeinträchtigten seine Freizeit (da er aufgrund der Zeitdauer, die die Sorgen beanspruchten, fast keine Zeit mehr hatte, mit Freunden etwas zu unternehmen), seine Schularbeiten und forder-
34
606
Kapitel 34 · Generalisierte Angststörung
ten von seinen Eltern und Lehrer viel Geduld. Daniel selber berichtete, dass ihn das ständige Sorgenmachen stören würde, da er häufig nicht damit aufhören könne. Gemäß dem KinderDIPS wurde nach DSM-IV-TR eine GAS diagnostiziert.
Therapie Aufgrund der selbst berichteten Ängstlichkeit der Mutter wurde eine Kombination von kind- und familienzentrierten Interventionen vorgeschlagen. Das Ziel der familienzentrierten Interventionen war der Abbau von Sorgen aufrechterhaltenden und verstärkenden Verhaltensweisen der Bezugspersonen und von Daniel. Die Interventionen bestanden aus der Anleitung der Eltern zum Umgang mit Ängsten und Rückversicherung und zur Förderung von Daniels Selbstständigkeit. Die ersten Therapiesitzungen wurden mit Daniel und den Eltern getrennt durchgeführt. Inhalte waren
der Aufbau einer guten Beziehung, die Vermittlung allgemeiner Informationen zu Angst und Sorgen und die Besprechung aufrechterhaltender und auslösender Faktoren der GAS. Beim Besprechen des Erklärungsmodells wurde die Ängstlichkeit der Mutter, ihr ängstliches Verhalten und ihre Tendenz, Daniel vor schwierigen Situationen zu beschützen, als mögliche erklärende und aufrechterhaltende Faktoren diskutiert. Den Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und körperlichen Symptomen konnte Daniel schnell verstehen und an eigenen Beispielen erläutern. Mit Hilfe des Sorgentagebuches konnten angstauslösende Gedanken identifiziert und mit Hilfe der Fragen zur kognitiven Umstrukturierung (vgl. Arbeitsblatt unter 7 Abschn. 34.5.3) bearbeitet werden. Der Umgang mit Rückversicherung wird an der Sorge, dass Daniel zu spät zur Schule kommt und dann der Lehrer eine Szene macht, erläutert (s. Beispiel).
Beispiel Nach der Einführung in die kognitive Umstrukturierung füllten Daniel und seine Mutter am Morgen vor der Schule das Arbeitsblatt zum realistischen Denken aus. Als Beispiel wurde die Sorge »Ich komme zu spät zur Schule und dann macht der Lehrer eine Szene«, ausgewählt. Bei der Frage nach den Fakten hielt Daniel fest, dass er noch nie zu spät zur Schule gekommen sei. Bei der Frage was passiere, wenn andere Kinder zu spät kommen, erinnerte sich Daniel daran, dass andere Kinder nur sehr selten in Schwierigkeiten gerieten, wenn sie zu spät kamen. Daniel und seine Mutter dachten auch darüber nach, was das Schlimmste wäre, was passieren könnte. Die Mutter besprach mit Daniel, dass sie nicht antworten wird, wenn Daniel nachfragt, ob er nicht doch zu spät kommen wird. Sie werde ihm das Detektivblatt zu lesen geben und ihm sagen, dass er diese Frage selber beantworten kann. Sie
34
Mit zunehmender Übung konnte er die kognitive Umstrukturierung selbstständig und erfolgreich anwenden. Das Konfrontationsrational wurde mit Hilfe der Angstverlaufskurven aufgezeigt. Zur Vorbereitung der Konfrontationsübungen wurde eine Angsthierarchie erstellt (s. Beispiel). Die Konfrontationsübungen wurden graduell von mittel zu stark angstauslösenden Situationen durchgeführt. Mit Daniel wurden folgende Regeln ausgearbeitet: Er sollte so lange in der angstauslösenden Situation bleiben, bis die Angst von allein geringer wird oder wenigstens so lange, bis er merkt, dass die negative Befürchtung nicht eintritt. Die Liste konnte erfolgreich abgebaut werden, wobei sich der Abbau des Rückversicherungsverhaltens als sehr hartnäckig erwies.
sagte: »Auch wenn du mich mehrmals fragen wirst, werde ich dir nicht antworten, da ich weiß, dass du das selber schaffst!« Im Auto auf dem Weg zur Schule stellt Daniel seiner Mutter eine Reihe von Fragen übers Zuspätkommen. Die Mutter antwortete »Lies, was du heute Morgen aufgeschrieben hast. Erinnere dich auch daran, was ich dir gesagt habe, dass ich dir nicht auf deine Fragen antworte, bis du die Beweise auf dem Detektivblatt vorgelesen hast.« Als Daniel sehr nervös und ängstlich wiederholt nach Rückversicherung fragt, antwortet die Mutter nicht. Für die Mutter war es sehr schwierig, Daniel leiden zu sehen und nicht zu sagen, dass sie pünktlich sein werden, aber sie wartete bis Daniel sein Detektivblatt vorlas. Nachdem er die Punkte vorgelesen hat, lobte die Mutter Daniel, indem sie ihm sagte »Ich wusste, dass du das kannst. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Beispiel Angsthierarchie von Daniel (1 = keine Angst, 10 = sehr starke Angst) 10 10 9 8 7 6 5
4 3
In den Hausaufgaben einen Fehler machen Hausaufgaben vergessen Meine Mutter beruhigt mich nicht Zu spät zur Schule kommen Ein falsches Schulbuch mitnehmen Hausaufgaben einmal machen, nicht wieder ausradieren Sich in der Schule melden, obwohl ich bei der Antwort nicht 100% sicher bin, ob die Antwort stimmt Wenn die Schwester weggeht, nicht fragen, wohin sie geht Die Eltern um Taschengeld bitten
607 Literatur
Eine Reduktion der körperlichen Symptome wurde durch das Einführen der progressiven Muskelrelaxation erreicht. Gleichzeitig wurde den Eltern mitgeteilt, dass sie körperliche Beschwerden ignorieren und nicht mit Zuwendung reagieren sollten. Im Verlauf der Therapie traute sich Daniel vermehrt, neue Sachen auszuprobieren und verabredete sich mit Klassenkameraden. Insgesamt wurde er immer selbstsicherer und selbstständiger.
34.7
Empirische Belege
Eine von uns erstellte Metaanalyse (In-Albon u. Schneider 2007) untersuchte die Wirksamkeit von Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Angststörungen. In die Metaanalyse gingen 24 Therapiestudien ein. Außer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Therapiestudien konnten keine anderen Therapiestudien gefunden werden. Die eingesetzten Interventionen in den Studien bestanden aus Konfrontationsverfahren, kognitiven Interventionen und Entspannungstechniken. Mit einer durchschnittlichen Prä-post-Effektstärke von 0.86 für die Angstsymptomatik zeigte sich für die Behandlungsgruppe ein großer Therapieeffekt. Erwartungsgemäß konnte kein Effekt der Wartezeit auf die Angstsymptome der Kinder beobachtet werden: Die durchschnittliche Prä-post-Effektstärke für die Wartelistenkontrollgruppe betrug 0.13. Nach der Behandlung erfüllten 69% der Kinder die Diagnosekriterien einer Angststörung nicht mehr, während es in der Wartelistekontrollgruppe 13% waren. Zum Katamnesezeitpunkt nach durchschnittlich 10 Monaten erfüllten 72% der Kinder die Diagnosekriterien einer Angststörung nicht mehr. Die Prä-Follow-up-Effektstärke ergab auch hier mit einer durchschnittlichen Effektstärke von 1.36 einen großen Effekt.
34.8
Ausblick
Für die GAS wird dringend störungsspezifisches Wissen benötigt. Wie zu Beginn des Kapitels erwähnt, wird die GAS bei Kindern häufig diagnostiziert, aber die Forschung dazu steht erst in den Anfängen. Dies zeigt sich auch in der Schwierigkeit, die GAS von anderen Angststörungen abzugrenzen, und in der hohen Komorbidität mit anderen Angststörungen. Für die Entwicklung von Angststörungen sind mehrere Risikofaktoren bekannt, es sollten jedoch verstärkt Anstrengungen unternommen werden, um ihre Spezifität zur GAS im Vergleich zu anderen Angststörungen zu untersuchen. Nur mit diesen Grundlagenerkenntnissen können störungsspezifische Präventionsansätze und Interventionen entwickelt werden, welche dann im Hinblick auf ihre Effektivität überprüft werden müssen.
Zusammenfassung Kinder mit einer GAS machen sich übermäßig starke, unbegründete und nicht kontrollierbare Sorgen über verschiedene Situationen und Lebensbereiche. Sorgen betreffen Kleinigkeiten wie Pünktlichkeit, gut genug in der Schule oder im Sport zu sein, sich richtig verhalten zu haben oder genug Freunde zu haben. Viele Kinder haben ein starkes Bedürfnis nach Rückversicherung. Charakteristisch für die GAS ist auch das Auftreten von körperlichen Symptomen der Anspannung, Ein- und Durchschlafproblemen, Konzentrationsschwierigkeiten sowie Kopf- und Bauchschmerzen. Da die GAS im Kindes- und Jugendalter ein bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung einer Reihe von Angststörungen und vor allem der Depression darstellt, sind wirksame und effektive Behandlungen der GAS zentral. Die derzeit am besten untersuchten Behandlungsmethoden für Kinder mit GAS sind Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie.
Literatur Weitere Literaturangaben (insbesondere zu den in diesem Kapitel genannten Studien) können bei der Autorin angefordert werden. American Psychiatric Association. (1987). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (3rd edn.). Washington, D.C: American Psychiatric Association. American Psychiatric Association. (1994). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (4th edn.). Washington, D.C.: American Psychiatric Association. Barrett, P., Webster, H. & Turner, C. (2000). Friends for children. Bowen Hills: Australian Academic Press. Barrett,P., Webster, H., Turner, C., Essau ,C., E. & Conradt, J. (2003). Freunde für Kinder. München: Reinhardt. Becker, E. & Margraf, J. (2002). Generalisierte Angststörung. Ein Therapieprogramm. Weinheim: Beltz. Biederman, J., Rosenbaum, J. F., Hirshfeld, D. R. et al. (1990). Psychiatric correlates of behavioral inhibition in young children of parents with and without psychiatric disorders. Archives of General Psychiatry, 47, 21–26. Birmaher, B., Khetarpal, S., Brent, D., Cully, M., Balach, A., Kaufman, A. M. & McKenzie Neer, N. (1997). The Screen for Child Anxiety Related Emotional Disorders (SCARED): Scale construction and psychometric characteristics. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 36(4), 545–553. Boie, K. (2001). Kirsten Boie erzählt vom Angsthaben. Hamburg: Oetinger. Chorpita, B. F. & Barlow, D. H. (1998). The development of anxiety: The role of control in the early environment. Psychological Bulletin, 124(1), 3–21. Chorpita, B. F., Tracey, S. A., Brown, T. A., Collica, T. J., & Barlow, D. H. (1997). Assessment of worry in children and adolescents: An Adaptation of the Penn State Worry Questionnaire. Behaviour Research and Therapy, 35(6), 569–581. Döpfner, M., Berner, W., Flechtner, H., Lehmkuhl, G. & Steinhausen, H. C. (1999). Psychopathologisches Befund-System für Kinder und Jugendliche (CASCAP-D). Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M., Görtz-Dorten, A. & Lehmkuhl, G. (2008). DISYPS-II. Diagnostik-System für Psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-IV für Kinder und Jugendliche II. Bern: Huber.
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Kapitel 34 · Generalisierte Angststörung
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35
35 Posttraumatische Belastungsstörung Markus A. Landolt
35.1
Klassifikation
35.2
Darstellung der Störung – 611
35.2.1 35.2.2
Phänomenologie – 611 Epidemiologie und Verlauf
35.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
35.3.1 35.3.2
Ausgangspunkt – 615 Transaktionales Traumabewältigungsmodell
35.4
Diagnostik – 617
35.4.1 35.4.2 35.4.3
Allgemeine Bemerkungen – 617 Diagnostische Verfahren zur Erfassung posttraumatischer Symptome Hinweise zur Auswahl geeigneter Instrumente – 618
35.5
Therapeutisches Vorgehen
35.6
Fallbeispiel
35.6.1 35.6.2
Traumaanamnese und diagnostische Befunderhebung Therapeutisches Vorgehen – 623
35.7
Empirische Belege
– 625
Zusammenfassung
– 626
Literatur
– 610
– 614
– 615 – 615
– 618
– 622
– 626
Weiterführende Literatur
– 628
– 622
– 617
610
Kapitel 35 · Posttraumatische Belastungsstörung
35.1
Klassifikation
Noch bis weit in die 1980er Jahre herrschte bei vielen Fachleuten die Meinung vor, dass Kinder nur mit vorübergehenden und milden Störungen auf psychisch traumatisierende Ereignisse reagieren (Garmezy u. Rutter 1985). Aufgrund unangepasster Untersuchungsmethoden, unklarer diagnostischer Konzepte und der alleinigen Abstützung auf Informationen von Eltern und Lehrern war das Ausmaß kindlicher Reaktionen auf psychische Traumata lange Zeit nicht wahrgenommen bzw. massiv unterschätzt worden. Dies zeigt sich auch in den internationalen Klassifikationssystemen psychischer Störungen. Als Ergebnis umfangreicher Studien bei amerikanischen Vietnamkriegveteranen wurde die Diagnosekategorie der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) im Jahre 1980 ins DSM-III eingeführt und war zunächst eigentlich nur für das Erwachsenenalter definiert. Es dauerte bis ins Jahr 1987, bis die Fachwelt mit der Einführung des DSM-III-R das Auftreten dieser Störung auch bei Kindern anerkannte und einige kindspezifische Symptome wie das traumatische Spiel beschrieben wurden. Wenige Jahre nach der Publikation des DSM-III-R wurde die PTBS als eigene Diagnosekategorie auch ins Klassifikationssystem ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen, allerdings ohne spezifische Nennung kindlicher Symptome. Systematische Beschreibungen psychotraumatischer Symptome im Kindesalter finden sich in der Fachliteratur seit Beginn der 1990er Jahre, und die Befunde zeigen sehr deutlich, dass ein erheblicher Teil von Kindern nach einem Trauma posttraumatische Belastungsstörungen entwickelt. Die Spannbreite potenziell traumatisierender Ereignisse ist groß und reicht von körperlicher und sexueller Gewalt, Unfällen und lebensbedrohlichen Krankheiten bis
. Abb. 35.1. Klassifikation traumatischer Ereignisse. (Aus Landolt 2004)
hin zu Naturkatastrophen. . Abb. 35.1 zeigt, wie die Vielzahl verschiedener Traumata anhand der Häufigkeit ihres Auftretens und anhand der Ursache klassifiziert werden können. Auf Terr (1991) geht die Unterscheidung in Typ-1und Typ-2-Trauma zurück. ! Unter Typ-1-Traumata werden akute, unvorhersehbare und singuläre Ereignisse subsumiert, wie beispielsweise ein Verkehrsunfall oder eine Geiselnahme. Typ-2-Traumata treten dagegen wiederholt auf und sind teilweise vorhersehbar. Dazu gehören beispielsweise Traumatisierungen, wie sie im Rahmen einer chronischen sexuellen Ausbeutung oder auch beim Aufenthalt in Kriegsgebieten vorkommen.
Weiter können Psychotraumata auch anhand ihrer Ursache klassifiziert werden, wobei durch Menschen verursachte Ereignisse einerseits (z. B. Krieg, Vergewaltigung) von Naturkatastrophen (z. B. Erdbeben, Flutkatastrophe) und akzidentellen Traumata (z. B. Atomkraftwerkunglück) andererseits unterschieden werden.
Exkurs
35
Die Kinder von Chowchilla Am 15. Juli 1976 wurden in Chowchilla, einem kleinen Ort in Kalifornien, 26 Schulkinder und ihr Fahrer entführt. Die Kinder waren mit dem Schulbus auf der Rückreise von einem Ausflug, als sie von drei Männern überfallen wurden. Die Entführten wurden nach langer Fahrt schließlich in einem großen, mit Erde zugedeckten Loch eingesperrt. Nach 16 Stunden gelang ihnen die Flucht, nachdem sie sich mit vereinten Kräften selbst aus dem Loch herausgegraben hatten. Alle Kinder und auch der Fahrer überstanden die Entführung körperlich unversehrt und waren nach ihrer Befreiung, gemäß Aussagen eines Kinderarztes, »weder hysterisch noch in einem offensichtlichen Schockzustand«. Der Beizug von Psychologen wurde deshalb nicht als nötig erachtet. Fachleute und Bevölkerung freuten sich, dass alle Kinder die Entführung so gut überstanden hatten, und auch die Medien befassten sich intensiv mit 6
dem Ereignis. Innerhalb von 2 Wochen waren die Täter gefasst. Es dauerte mehr als 4 Monate, bis zwei Journalisten im Rahmen von Interviews mit Eltern auf das psychische Leiden der entführten Kinder aufmerksam wurden und darüber in der lokalen Zeitung berichteten. Über einen Hinweis eines in der Region tätigen Fachmannes erfuhr schließlich die Kinderpsychiaterin Lenore Terr von diesen Fällen. Sie wollte schon seit längerer Zeit eine Feldstudie zu den Auswirkungen psychischer Traumatisierung bei Kindern machen und sah in den Kindern von Chowchilla eine ideale Möglichkeit. 154 Tage nach der Entführung war sie erstmals in Chowchilla und interviewte in der Folge 23 der betroffenen Kinder. Vier bis fünf Jahre später erfolgte eine weitere Befragung von Kindern und Eltern. Damit war die ChowchillaStudie die erste kontrollierte prospektive Studie zu den Auswirkungen eines Traumas auf Kinder und bleibt in ihrer
611 35.2 · Darstellung der Störung
Sorgfalt und Genauigkeit bis heute wegweisend für das Gebiet der Kinderpsychotraumatologie. Lenore Terr beschrieb in mehreren Publikationen in allen Details die psychologischen Folgen der Entführung für die betroffenen Kindern und ging auf Symptome wie Ängste, posttraumatisches Spiel, Schlafstörungen, Intrusionen sowie auch auf
35.2
kognitive Phänomene wie Schuld und Scham ein, welche sie bei vielen Kindern auch Jahre nach dem Ereignis noch beobachtete (Terr 1981, 1983, 1990). Auch die von Terr später eingeführte Unterscheidung von Typ-1- und Typ-2Trauma geht in ihrem Ursprung auf die Chowchilla-Kinder zurück (Terr 1991).
Darstellung der Störung
35.2.1 Phänomenologie
Kinder und Jugendliche können nach psychisch traumatisierenden Ereignissen verschiedene kurz und länger dauernde Traumafolgestörungen entwickeln, von denen die posttraumatische Belastungsstörung die bekannteste und häufigste ist. . Abb. 35.2 zeigt eine auf dem Klassifikationssystem ICD-10 basierende Klassifikation von Traumafolgestörungen. Die folgende Übersicht zeigt die Diagnosekriterien einer PTBS gemäß DSM-IV-TR (Sass et al. 2003). 4 Im Kriterium A erfolgt zunächst die Definition des traumatischen Ereignisses, die einen objektiv-situativen und einen subjektiven Anteil enthält. Ein traumatisierendes Ereignis wird als ein direkt erlebtes oder beobachtetes Ereignis beschrieben, welches mit Todesgefahr oder einer Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen einhergeht. Zusätzlich muss die betroffene Person mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen reagieren. Es wird darauf hingewiesen, dass sich dies bei Kindern auch durch aufgelöstes oder agitiertes Verhalten zeigen kann. 4 Im Kriterium B werden die zur PTBS gehörenden Symptome des Wiedererlebens beschrieben, von welchen mindestens eines vorhanden sein muss. Unterschieden werden dabei wiederkehrende und belastende
4
4
4
4 . Abb. 35.2. Klassifikation von Traumafolgestörungen
Erinnerungen an das Trauma, Albträume, dissoziative Flashback-Episoden sowie intensive psychische und körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit traumabezogenen Hinweisreizen. Im Gegensatz zu Erwachsenen können bei Kindern Albträume ohne erkennbaren inhaltlichen Zusammenhang mit dem erlebten Trauma auftreten. Symptome des Wiedererlebens können sich bei jüngeren Kindern auch in Form des sog. traumatischen Spiels zeigen, in welchem belastende Szenen wiederholt nachgespielt und reinszeniert werden, ohne dass dies einen kathartischen Effekt hätte. Kriterium C: Weil die Symptome des Wiedererlebens sehr belastend und quälend sind, entwickelt das traumatisierte Kind bzw. der Jugendliche eine Reihe unterschiedlicher Strategien und Verhaltensweisen, um den belastenden traumabezogenen Hinweisreizen auszuweichen. Für die Diagnose einer PTBS gemäß DSMIV-TR werden dabei mindestens drei verschiedene Vermeidungssymptome verlangt. Es handelt sich hierbei beispielsweise um das bewusste Vermeiden von Gedanken, Gefühlen, Gesprächen, Aktivitäten, Orten oder Personen, welche Erinnerungen an das Trauma wachrufen. Im Extremfall kann die Vermeidung so weit gehen, dass es zu einer partiellen oder vollständigen Amnesie für bestimmte Aspekte des Traumas kommt. Mit der Vermeidungssymptomatik geht oft eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität sowie im Jugendalter ein Gefühl einer eingeschränkten Zukunft einher. Kriterium D: Die dritte Gruppe von PTBS-Symptomen umfasst jene der vegetativen Übererregung, die in Folge einer posttraumatischen neurobiologischen Dysregulation auftreten. Von diesen Symptomen werden für die PTBS-Diagnose mindestens zwei vorausgesetzt. Es handelt sich hierbei um Ein- und/oder Durchschlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Hypervigilanz, erhöhte Reizbarkeit sowie Schreckhaftigkeit. Die Diagnose einer PTBS wird gestellt, wenn die Symptome des Wiedererlebens, der Vermeidung und der physiologischen Übererregung mindestens einen Monat andauern (Kriterium E) und klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in wichtigen Funktionsbereichen des alltäglichen Lebens verursachen (Kriterium F).
35
612
Kapitel 35 · Posttraumatische Belastungsstörung
4 Anhand der Störungsdauer und des Symptomverlaufs können akute PTBS (<3 Monate), chronische PTBS (>3 Monate) sowie PTBS mit verzögertem Beginn (Ent-
wicklung der Symptomatik frühestens 6 Monate nach Trauma) unterschieden werden.
Diagnosekriterien der posttraumatischen Belastungsstörung gemäß DSM-IV-TR (Sass et al. 2003) Kriterium A
Kriterium B
Kriterium C
Kriterium D
35
A1
Erleben eines traumatischen Ereignisses
A2
Reaktion mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit, Entsetzen oder bei Kindern mit aufgelöstem und agitiertem Verhalten
Wiedererleben des Traumas (mindestens 1 Symptom) B1
Wiederkehrende belastende Erinnerungen. Bei Kindern: traumatisches Spiel
B2
Wiederkehrende belastende Träume
B3
Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt. Bei Kindern: traumaspezifische Neuinszenierung
B4
Intensive psychische Belastung bei Konfrontation mit traumabezogenen Hinweisreizen
B5
Körperliche Reaktionen bei Konfrontation mit traumabezogenen Hinweisreizen
Anhaltende Vermeidung von Traumahinweisreizen; Abflachung der allgemeinen Reagibilität (mindestens 3 Symptome) C1
Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen
C2
Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen
C3
Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern
C4
Vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten
C5
Gefühl der Losgelöstheit oder Fremdheit von anderen
C6
Eingeschränkte Bandbreite des Affekts
C7
Gefühl einer eingeschränkten Zukunft
Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (mindestens 2 Symptome) D1
Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlafen
D2
Reizbarkeit oder Wutausbrüche
D3
Konzentrationsschwierigkeiten
D4
Hypervigilanz
D5
Übertriebene Schreckreaktion
Kriterium E
Das Störungsbild dauert länger als 1 Monat
Kriterium F
Das Störungsbild verursacht klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigung in wichtigen Lebensbereichen
Im Unterschied zum DSM-IV-TR sind die Diagnosekriterien einer PTBS im ICD-10 etwas weniger spezifisch (s. Übersicht), weshalb in der wissenschaftlichen Literatur fast ausschließlich die genauer definierten DSM-Kriterien verwendet werden. Unterschiede ergeben sich bei der Definition eines traumatischen Ereignisses, der Spezifität der
einzelnen Symptome sowie auch in Bezug auf die Zeitangaben zum Beginn und zur Dauer der Störung. Im ICD-10 besteht zudem keine Notwendigkeit einer durch die Störung bedingten, klinisch bedeutsamen Beeinträchtigung in wichtigen Lebensbereichen.
613 35.2 · Darstellung der Störung
Diagnosekriterien der posttraumatischen Belastungsstörung gemäß ICD-10 (Dilling et al. 1991) A. Die Betroffenen sind einem kurzen oder längeren Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung und mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Flashbacks (Nachhallerinnerungen), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch Unbehagen (Leiden) in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen. C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden (dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis).
D. Entweder (1) oder (2): 1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern 2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale: a) Ein- und Durchschlafstörungen b) Reizbarkeit c) Konzentrationsschwierigkeiten d) Hypervigilanz e) Erhöhte Schreckhaftigkeit E. Die Kriterien B, C und D treten innerhalb von 6 Monaten nach der Belastung oder nach Ende einer Belastungsperiode auf (in einigen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, die sollte aber vermerkt werden).
Posttraumatische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern Nachdem sich die Fachwelt lange Zeit nicht mit der Möglichkeit posttraumatischer Belastungssymptome bei Säuglingen und Kleinkindern befasst hat, gibt es in jüngster Zeit vertiefte Versuche, die Validität der Diagnosekriterien einer PTBS auch bei dieser Patientengruppe zu überprüfen. Eine Schwierigkeit, die sich hier bei der Diagnose posttraumatischer Störungen stellt, sind die eingeschränkten kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten sehr junger Kinder. Studien kamen erwartungsgemäß zum Schluss, dass Kinder auch in diesem jungen Alter posttraumatische Belastungssymptome aufweisen, diese jedoch mit den herkömmlichen Diagnosekriterien nur ungenügend erfasst werden. So fanden Scheeringa et al. (2001), dass durch die Verhaltensbeobachtung des traumatisierten Kindes und durch die Interaktion mit diesem lediglich 12% der diagnostischen Kriterien gemäß DSM-
IV-TR identifiziert werden können. Es wurden deshalb Alternativkriterien für Säuglinge und Kleinkinder entwickelt, welche eine deutlich bessere Validität aufweisen. Symptome, die nicht über das kindliche Verhalten und die Beobachtung desselben erfasst werden können, wurden dabei weggelassen oder alternativ formuliert. Die Anzahl der zur PTBS-Diagnose nötigen Symptome in den einzelnen Symptomgruppen wurde zudem auf je eines reduziert. Außerdem wurde ein zusätzlicher Symptomcluster eingefügt, welcher neu auftretende Aggressionen und Ängste beinhaltet. Landolt (2004) hat diese Alternativkriterien in deutscher Übersetzung publiziert und auch das auf diesen Kriterien beruhende Erhebungsinstrument (»Semistrukturiertes Interview und Beobachtungsbogen für Säuglinge und Kleinkinder PTSDSSI«) ist in autorisierter deutscher Fassung verfügbar (Graf et al. 2008).
Fallbeispiel Ein 11-jähriger Junge wird als Fußgänger von einem Auto angefahren. Er erleidet eine leichte Gehirnerschütterung sowie einige Prellungen. In den ersten Tagen nach dem Unfall zeigen sich bei ihm Symptome einer akuten Belastungsreaktion mit vegetativer Unruhe, Desorientierheit und eingeschränkter Aufmerksamkeit. Zwei Monate nach dem Unfall wird der Patient mit dem Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung in die Traumaambulanz eingewiesen. Er leidet unter regelmäßig auftretenden
Albträumen und angstauslösenden Bildern vom Unfall, hat ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten auslösenden Reizen (Straße, Auto) gegenüber entwickelt und zeigt weiterhin ein hohes physiologisches Erregungsniveau, welches sich in Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz und ausgeprägter Schreckhaftigkeit äußert. Die Symptomatik geht mit einem erheblichen Leidensdruck und einer eingeschränkten Funktionsfähigkeit in verschiedenen Alltagsbereichen (z. B. Schule) einher.
35
614
Kapitel 35 · Posttraumatische Belastungsstörung
. Abb. 35.3. Lebenszeitprävalenz (%) traumatischer Ereignisse im Leben von deutschen Jugendlichen (Originaldaten in Essau et al. 1999)
35.2.2 Epidemiologie und Verlauf
35
Im deutschsprachigen Raum sind zwei epidemiologische Studien zur PTBS-Prävalenz im Jugendalter bzw. im jungen Erwachsenenalter verfügbar. In der Bremer Jugendstudie (Essau et al. 1999) berichteten 22,5% der befragten Jugendlichen, irgendwann in ihrem bisherigen Leben ein traumatisches Ereignis erlebt zu haben. Am häufigsten wurden körperliche Angriffe, Verletzungen und schwerwiegende Unfälle genannt (. Abb. 35.3). Jungen erlebten signifikant häufiger traumatische Ereignisse als Mädchen. Die Lebenszeitprävalenz der PTBS betrug 1,6%. Zu vergleichbaren Befunden kam eine andere epidemiologische Studie aus Deutschland, in welcher 26% der jungen Männer und 17,7% der jungen Frauen im Alter von 14 bis 24 Jahren über mindestens ein traumatisches Ereignis in ihrem Leben berichteten (Perkonigg et al. 2000). Die Lebenszeitprävalenz der PTBS betrug in dieser Untersuchung 1,3%, war also vergleichbar mit den Zahlen aus Bremen. In beiden Studien fällt die hohe Komorbidität der PTBS mit affektiven Störungen, Angststörungen, Somatisierungsstörungen und Substanzmittelmissbrauch auf. Verglichen mit den Befunden aus Deutschland zeigen internationale epidemiologische Studien teilweise deutlich höhere PTBS-Lebenszeitprävalenzraten. In einer repräsentativen Stichprobe dänischer Jugendlicher betrug die entsprechende Rate beispielsweise 9% (Elklit 2002). In amerikanischen Studien schwanken die Prävalenzraten zwischen 6,3% (Giaconia et al. 1995) und 9,2% (Breslau et al. 1991). Studien bei traumatisierten Kindern zeigen naturgemäß sehr viel höhere Raten an PTBS, als sie in bevölkerungsrepräsentativen Stichproben gefunden werden. Untersucht wurden Kinder nach gewalttätigen Ereignissen wie Kindsmisshandlungen, Entführungen, Schießereien oder Krieg, nach Naturkatastrophen und technischen Katastrophen sowie nach Unfällen und lebensbedrohlichen Krankheiten. Je nach Art des erlebten Traumas erfüllen hierbei teilweise über die Hälfte der betroffenen Kinder und Jugendlichen die Diagnosekriterien einer PTBS. Die Präva-
lenz der Störung nimmt zwar in der Regel im zeitlichen Abstand zum Trauma ab, kann aber auch nach vielen Jahren noch bemerkenswert hoch liegen und mit einer deutlichen Beeinträchtigung im Alltag einhergehen. Eine detaillierte Übersicht über die Forschungslage findet sich bei Landolt (2004). Die in bisherigen Studien gefundenen Spannbreiten . Tab. 35.1. PTBS-Prävalenzraten nach verschiedenen Formen von Traumatisierungen Art des Traumas
PTBS-Prävalenzraten [%]
Gewalt Geiselnahme, Schießerei, Überfall
38–100
Kindesmisshandlung (körperlich/sexuell)
18–58
Krieg
27–74
Terrorismus
28–50
Naturkatastrophen Wirbelstürme
5–56
Erdbeben
24–91
Flutkatastrophen
30–40
Technische Katastrophen Kernkraftwerksunfall
Keine erhöhten Raten gefunden
Explosion einer Chemiefabrik
29–45
Unfälle Verkehrsunfälle
14–42
Brandunfälle
15–19
Fährschiffunglück
50
Sportunfälle
<5
Lebensbedrohliche Krankheiten/invasive Behandlungen Krebs
10–71
Organtransplantationen
16
Meningokokkensepsis
15
Schweres Asthma
20
Herzchirurgische Eingriffe
12
615 35.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
der PTBS-Prävalenzraten bei verschiedenen Traumatisierungen sind in . Tab. 35.1 dargestellt.
35.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
35.3.1 Ausgangspunkt
Obwohl PTBS in direktem ätiologischem Zusammenhang mit einem Trauma stehen, gibt es eine Vielzahl verschiedener Variablen, welche die Entstehung und den Verlauf solcher Störungen mitbeeinflussen. Diese vielfältigen Einflussfaktoren bieten eine Erklärung dafür, warum nicht alle einem Trauma ausgesetzten Individuen psychische Störungen entwickeln. Für das Erwachsenenalter identifizierten Brewin et al. (2000) in einer Metaanalyse von 77 Studien nicht weniger als 14 verschiedene Faktoren, die einen signifikanten prädiktiven Wert hinsichtlich der Entwicklung einer PTBS haben. Als besonders bedeutsame Risikofaktoren erwiesen sich dabei der Mangel an sozialer Unterstützung, das Vorhandensein zusätzlicher Lebensbelastungen, der Schweregrad des Traumas, eine belastetete Kindheit sowie eine verminderte Intelligenz. In Bezug auf das Kindesalter fehlt zum heutigen Zeitpunkt sowohl ein systematischer Überblick über die Determinanten posttraumatischer psychischer Reaktionen als auch die Entwicklung von spezifischen Modellen der Traumaadaptation. Studien zur Entstehung und zum Verlauf von PTBS im Kindesalter sind meistens nicht auf theoretischen Modellvorstellungen basiert oder übernehmen psychodynamische, lerntheoretische oder neurobiologische Modelle aus dem Erwachsenenalter. Letzteres ist problematisch, da dabei oft die für das Kindesalter typischen und dynamischen Aspekte der Entwicklung oder auch der Einfluss der Eltern nicht oder zu wenig berücksichtigt werden. Hilfreich zur Erklärung der zur PTBS gehörenden Vermeidungssymptomatik sind sicherlich die aus dem Bereich der phobischen Störungen bekannten lerntheoretischen Vorstellungen zur Störungsentstehung. Es wird dabei postuliert, dass das traumatische Ereignis in einem ersten Schritt durch klassische Konditionierung zu einer Kopplung von neutralen Reizen an eine bedrohliche Erfahrung führt. Dies führt dazu, dass bei Einwirkung der konditionierten Reize reflexhaft eine intensive Angstreaktion ausgelöst wird. In einem zweiten Schritt lernen die Betroffenen, durch Vermeidung der auslösenden Reize die konditionierte Angstreaktion zu vermindern bzw. zu verhindern. Diese Art des Lernens geschieht durch operante Konditionierung, d. h. die Vermeidungsreaktion wird durch die kurzfristig angstreduzierenden Konsequenzen aufrechterhalten. Eine wichtige Rolle in kognitiv-behavioralen Modellen posttraumatischer Symptome spielen zudem veränderte kognitive Schemata und dysfunktionale Kognitionen. Es wird postuliert, dass eine Traumatisierung grundlegende
Vorstellungen und Erwartungen von sich und der Welt erschüttert und dysfunktional verändert. Die Vermeidung traumaspezifischer Reize verhindert dabei eine Veränderung dieser dysfunktionalen Kognitionen, wie es durch korrigierende Erfahrungen an sich möglich wäre. Das in der Folge dargestellte transaktionale Traumabewältigungsmodell (Landolt 2003) versucht, unter Einbezug der erwähnten Rolle von Bewertungs- und Bewältigungsprozessen die bisherigen Befunde der Kinderpsychotraumatologie zur Entstehung und zum Verlauf von PTBS zu integrieren.
35.3.2 Transaktionales
Traumabewältigungsmodell Im Bereich der Stress- und Copingforschung ist das transaktionale Stressbewältigungsmodell von Lazarus und Folkman (1984) heute auch im Bereich der Kinder- und Jugendpsychologie anerkannt und breit untersucht. Ein Trauma kann, in Anlehnung an die klassische Definition, als außergewöhnliches Stressereignis betrachtet werden, welches die Bewältigungsmöglichkeiten einer Person übersteigt. . Abb. 35.4 zeigt die Anwendung des transaktionalen Stressbewältigungsmodells für den Bereich der Kinderpsychotraumatologie. Die Bewältigung eines Traumas wird dabei als aktiv gestaltetes, transaktionales Geschehen verstanden. Das Modell impliziert, dass Merkmale des traumatischen Ereignisses, Merkmale des Kindes sowie Variablen des sozialen Umfeldes als Prädiktoren der psychosozialen Folgen fungieren, deren Wirkungen mindestens teilweise durch kognitive Bewertungs- und Bewältigungsprozesse vermittelt und modifiziert werden. Solche subjektiven Einschätzungen und Bewertungen beeinflussen direkt und indirekt den biopsychosozialen Status des Individuums, werden aber – durch Feedbackprozesse – auch von diesem beeinflusst. Die subjektiven Bewertungsprozesse – ob das Ereig-
. Abb. 35.4. Transaktionales Traumabewältigungsmodell. (Adaptiert nach Landolt 2003)
35
616
Kapitel 35 · Posttraumatische Belastungsstörung
nis beispielsweise als bedrohlich oder als Herausforderung interpretiert wird – werden von Merkmalen des Traumas (z. B. Art des Traumas), des Kindes (z. B. Alter, Persönlichkeit) und des Umfeldes (z. B. Traumareaktion der Eltern) geformt. Objektiv vergleichbare Traumata können somit interindividuell völlig unterschiedliche Konsequenzen haben. Das transaktionale Traumabewältigungsmodell sieht vor, dass die einzelnen Prädiktorenmerkmale sowohl als Risikofaktoren als auch als protektive Faktoren wirken können. Neben den indirekten Wirkungen über Bewertungen und Bewältigungsprozesse sind auch direkte Wirkungen möglich, welche die indirekten Wirkungen komplementieren. Die einzelnen Modellkomponenten werden in der Folge erläutert und in Bezug auf die Befunde aus der Literatur diskutiert. Merkmale des Traumas. Gut belegt ist die Tatsache, dass das Ausmaß der Traumaexposition (»Traumadosis«) für die Entwicklung einer PTBS von Bedeutung ist. Das Risiko, eine PTBS zu entwickeln, ist besonders hoch, wenn das Trauma mit Lebensgefahr, extremem Kontrollverlust sowie interpersonaler Gewalt verbunden ist und wenn es lange andauert (Typ-2-Trauma). Während ein Monotrauma typischerweise zu einer PTBS führt, haben Typ-2-Traumatisierungen oft komplexere Störungen und eine höhere Komorbidität zur Folge. Interessanterweise scheint dieser direkte Zusammenhang zwischen dem objektiven Schweregrad des Traumas und der Entwicklung einer PTBS nicht für den Schweregrad etwaig erlittener somatischer Verletzungen zu gelten. So zeigen beispielsweise Studien bei Kindern nach Verkehrs- und Vebrennungsunfällen sehr konsistent, dass das Ausmaß einer Verletzung nicht oder nur minimal mit dem Auftreten einer PTBS assoziiert ist.
35
Merkmale des Kindes. Diese Komponente des Traumabewältigungsmodells beinhaltet einerseits biologische Merkmale wie beispielsweise die neurobiologische Vulnerabilität, das Alter, den Entwicklungsstand und das Geschlecht des Kindes. Andererseits werden hierunter auch psychologische Konstrukte wie Persönlichkeit, Temperament, Intelligenz und psychopathologischer Status sowie die psychopathologische Vorgeschichte subsumiert. Ein hohes schulisches Bildungsniveau gilt als protektiver Faktor in Bezug auf die Entwicklung einer PTBS, wobei dies kein störungsspezifischer Effekt ist. Vorbestehende psychische Auffälligkeiten und auch frühere Traumatisierungen haben sich wiederholt als erheblicher Risikofaktor für die Entwicklung von PTBS herausgestellt. Mehrfach belegt ist auch das höhere Risiko von Mädchen. Hinsichtlich der Bedeutung des kindlichen Entwicklungsstandes werden zwei unterschiedliche entwicklungspsychopathologische Hypothesen diskutiert. Einerseits wird das junge Alter als Schutzfaktor betrachtet, da das Kleinkind häufig die Tragweite und den Schweregrad eines potenziell traumatisierenden Ereignisses noch nicht wirklich zu erfassen vermag. Andererseits wird
argumentiert, dass jüngere Kinder aufgrund ihrer noch nicht abgeschlossenen Entwicklung vulnerabler sind. Da Studien zur Rolle des Entwicklungsalters kaum je Kinder mit unterschiedlichen Traumata miteinander vergleichen, kann aus heutiger Sicht nur spekuliert werden, dass der Einfluss des Alters auf die Ausbildung posttraumatischer Symptome wahrscheinlich von der Art des Traumas abhängig ist und deshalb nicht allgemein beschrieben werden kann. Noch kaum untersucht ist die Rolle der kindlichen Persönlichkeit im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Verlauf von PTBS. Merkmale des Umfeldes. Von großer Bedeutung für die Entwicklung und den Verlauf von PTBS ist das soziale Umfeld des Kindes. Eine besondere Bedeutung kommt dabei den Eltern zu, welche in der Regel die engsten Bezugspersonen des Kindes sind. Kinder aus unterstützenden, ressourcenreichen und konfliktarmen Familien entwickeln weniger Störungen. Dagegen erhöht die Präsenz psychischer Symptome oder gar psychiatrischer Krankheiten bei den Eltern das Erkrankungsrisiko bei den Kindern, wobei auch dieser Zusammenhang komplex zu sein scheint. Auch elterliche Bewertungsprozesse sind von Bedeutung. So zeigten beispielsweise Stuber et al. (1997) bei Kindern und Jugendlichen nach erfolgreicher Krebsbehandlung, dass mütterliche Bewertungen der Lebensbedrohung und der Behandlungsintensität zu Angstsymptomen beim Kind beitrugen und die traumabezogenen Bewertungen der Kinder beeinflussten. Noch wenig Befunde gibt es zur Bedeutung von Schule und Gleichaltrigengruppe für die Bewältigung von Traumata. Insbesondere bei älteren Kindern und Jugendlichen spielen diese Bereiche jedoch eine zweifellos wichtige Rolle. Bewertungsprozesse. Kognitive Bewertungsprozesse in
Bezug auf das traumatische Ereignis (z. B. Lebensbedrohlichkeit, Schuldgefühle, Kausalattributionen usw.) spielen eine bedeutende Rolle in der Störungsgenese. Kognitionen beeinflussen die traumabezogenen Affekte und spielen eine entscheidende Rolle für die Auswahl der Strategien, welche zur Traumabewältigung eingesetzt werden. Fast in allen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass insbesondere die während des Ereignisses erlebte Todesangst und Hilflosigkeit die höchste Aussagekraft in Bezug auf die Pathogenese haben. Je größer die Angst, die Hilflosigkeit und der Kontrollverlust gewesen sind, desto höher ist das Risiko, an einer PTBS zu erkranken. Auch Schuldgefühle in Bezug auf das Ereignis haben ähnlich negative Effekte. Bedeutsam ist die Tatsache, dass subjektive Bewertungsprozesse meistens stärker mit der Entwicklung einer PTBS korrelieren als objektive Merkmale des traumatischen Ereignisses. Bewältigungsstrategien. Mit der Bedeutung spezifischer Bewältigungsstrategien für den Verlauf von PTBS im Kin-
617 35.4 · Diagnostik
des- und Jugendalter hat sich die Forschung bisher noch kaum befasst. Dies hat auch damit zu tun, dass es zwischen dem Syndrom der PTBS und dem Copingkonzept eine Konstruktüberschneidung gibt. Ein beobachtetes Verhalten (z. B. Vermeidung) kann sowohl als Copingstrategie als auch als Symptom der PTBS interpretiert werden. Die wenigen verfügbaren Studien bestätigen, dass dysfunktionale Bewältigungsstrategien eine wichtige Rolle in der Störungsgenese spielen. Sozialer Rückzug und die Vermeidung der Auseinandersetzung mit dem Erlebten gehen mit einem erhöhten PTBS-Risiko einher.
35.4
Diagnostik
35.4.1 Allgemeine Bemerkungen
Eine individuell auf das betroffene Kind zugeschnittene Traumatherapie setzt eine vorangehende, breit angelegte und sorgfältige Diagnostik voraus, wozu auch die Identifizierung komorbider Störungen gehört. Die Grundlagen der Diagnostik sind an anderer Stelle in diesem Band ausführlich dargestellt (7 Kap. III/8). Eine diagnostische Besonderheit bei Kindern mit PTBS betrifft die Notwendigkeit einer möglichst genauen Traumaanamnese. Dabei müssen einerseits objektive Informationen zum Geschehenen erfasst werden (Tatsachenwissen). Andererseits muss jedoch in jedem Fall auch in Erfahrung gebracht werden, wie das Kind selbst das traumatische Ereignis erlebt hat. Dies verlangt vom Therapeuten eine besondere Vorsicht, damit es nicht im Rahmen des diagnostischen Prozesses zu einer übermäßigen Belastung oder sogar Retraumatisierung des Kindes kommt. Es ist in jedem Fall sehr hilfreich, wenn der Psychologe über möglichst viele vorgängige Informationen zum Trauma verfügt. Das diagnostisch-explorative Gespräch mit dem Kind über das Trauma gibt auch sehr oft wichtige Hinweise in Bezug auf das spätere therapeutische Vorgehen. Bei Kindern, die verhältnismäßig gut über das Ereignis berichten können, kann die therapeutische Traumabearbeitung und -exposition meist schneller erfolgen. ! Kinder, welche im Rahmen des diagnostischen Prozesses nicht über das Geschehene sprechen wollen, dürfen auf keinen Fall dazu gedrängt werden!
Hier soll die Traumaanamnese auf Fremdinformationen beschränkt werden, da ansonsten die Gefahr besteht, dass das Kind weiter traumatisiert wird. Für die nachfolgende Therapie bedeutet dies, dass in der Regel langsamer und behutsamer vorgegangen werden muss und das Kind oft erst nach einer längeren Stabilisierungsphase in der Lage ist, sich mit den traumatischen Erfahrungen direkt auseinanderzusetzen. Im Anschluss an die Traumaanamnese folgt die störungsspezifische Psychodiagnostik, welche neben einer
umfassenden verhaltensanalytischen Erfassung des Problemverhaltens auch den Einsatz störungsspezifischer Instrumente beinhalten sollte. Klinische Screening-Verfahren zur Erfassung der allgemeinen Psychopathologie, wie sie in der kinderpsychologischen Diagnostik häufig eingesetzt werden (z. B. die »Child Behavior Checklist« oder der »Strengths and Difficulties Questionnaire«), sind in der Regel nicht in der Lage, die spezifischen posttraumatischen Symptome der betroffenen Kinder zu identifizieren (Sim et al. 2005). Die PTBS-Symptomatik muss stets im Rahmen eines klinisch-psychologischen Interviews mit dem Kind sowie im Rahmen eines Gesprächs mit den Eltern erfasst werden. Die alleinige Abstützung der PTBS-Diagnose auf fremdanamnestische Hinweise ist zu unterlassen, da Eltern nachgewiesenermaßen die Symptomatik ihrer Kinder häufig unterschätzen (Scheeringa et al. 2006). Es ist zu begrüßen, wenn auch Lehrer oder andere wichtige Bezugspersonen des Kindes zu ihrer Einschätzung des kindlichen Verhaltens und Befindens befragt werden. Neben allgemeinen, auf der Basis von ICD-10 und DSMIV entwickelten hochstrukturierten Interviewverfahren (z. B. »Kinder-DIPS« von Schneider et al. 2009) empfiehlt sich der Einsatz traumaspezifischer Diagnoseinstrumente.
35.4.2 Diagnostische Verfahren zur Erfassung
posttraumatischer Symptome Eine Übersicht der aktuell verfügbaren Verfahren zur Erfassung der PTBS-Symptomatik findet sich bei Hawkins und Radcliffe (2006). Leider sind zum jetzigen Zeitpunkt nur zwei Verfahren in deutscher Sprache verfügbar.
Interviews zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (IBS-KJ) Die von Steil und Füchsel (2006) veröffentlichten »Interviews zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (IBS-KJ)« bestehen aus zwei im Aufbau sehr ähnlichen Erhebungsinstrumenten: dem Interview zur Erfassung der akuten Belastungsstörung (IBS-A-KJ) in den ersten 4 Wochen nach einem Trauma und dem Interview zur Erfassung der posttraumatischen Belastungsstörung (IBS-P-KJ). Bei Letzterem handelt es sich um die deutschsprachige Version der im angelsächsischen Raum weit verbreiteten »Clinician Administered PTSD Scale for Children and Adolescents (CAPS-CA)«, welche auf den PTBS-Kriterien des DSM-IV-TR beruht und bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 7 bis 18 Jahren eingesetzt werden kann. Das Kind wird im Interview zunächst zur Präsenz traumatischer Ereignisse in der Anamnese und zu seinen damit zusammenhängenden Gedanken und Gefühlen befragt. Danach werden alle Symptome der PTBS gemäß DSM-IVTR einzeln abgefragt, einschließlich der Zusatzkriterien für Kinder. Im IBS-A-KJ werden zusätzlich Fragen zu dissozi-
35
618
Kapitel 35 · Posttraumatische Belastungsstörung
ativen Symptomen gestellt, die für die Diagnose einer akuten Belastungsstörung von Bedeutung sind. Spezielle einführende Übungen mit Beispielen machen das Kind mit Ablauf und Struktur des Interviews vertraut. Zudem sind für jede Fragestellung je nach Alter und Bildungsstand des Kindes alternative Formulierungs- und Erklärungsmöglichkeiten vorgesehen. Die Symptome sollen vom Kind nach Häufigkeit und Intensität auf einer fünfstufigen visuell-analogen Skala eingeschätzt werden. Neben der momentanen und/oder der Lebenszeitdiagnose einer PTBS erlaubt diese Skala auch eine Einschätzung des Schweregrades der PTBS. Psychometrische Untersuchungen weisen dem IBS-PKJ zufriedenstellende bis sehr gute Ergebnisse zu, so dass man von einer gesicherten Reliabilität und Validität des Instrumentes ausgehen kann. Das IBS-A-KJ, welches zur Erfassung der akuten Belastungsstörung dient, weist eine zufriedenstellende Reliabilität auf. Studien zur Validierung dieses Instrumentes sind zum heutigen Zeitpunkt noch ausstehend.
folgt werden soll. Zur Erfassung akuter Symptome in den ersten paar Wochen nach einem Trauma empfiehlt sich der Gebrauch des IBS-A-KJ von Steil und Füchsel (2006). Geht es um die Erfassung von länger dauernden Symptomen (>4 Wochen), drängt sich der Einsatz des IBS-P-KJ (Steil u. Füchsel 2006) auf, welches neben der kategorialen Diagnose auch den Schweregrad einer PTBS zu erfassen vermag. Dieses Verfahren ist auch im wissenschaftlichen Kontext zum heutigen Zeitpunkt der Goldstandard zur Erfassung der PTBS-Symptomatik. Sind statt der kategorialen PTBS-Diagnose eher die Art und der Schweregrad der Symptome von Interesse, kann der Einsatz des »Child Posttraumatic Stress Disorder Reaction Index (CPTSD-RI)« empfohlen werden. Die Möglichkeit, diese Skala sowohl in Form eines Fragebogens (z. B. für Reihenuntersuchungen von traumatisierten Gruppen von Kindern) als auch im Rahmen eines Interviews durchzuführen, erhöht die Attraktivität für den klinischen und wissenschaftlichen Einsatz dieses auch in ökonomischer Hinsicht vorteilhaften Verfahrens.
Child PTSD Reaction Index
35
Der »Child Posttraumatic Stress Disorder Reaction Index (CPTSD-RI)« (Frederick et al. 1992) ist das schon am längsten im Einsatz stehende und weltweit am weitesten verbreitete Verfahren zur Erfassung von selbstberichteten PTBSSymptomen im Kindes- und Jugendalter. Der CPTSD-RI ist auch in einer deutschen Übersetzung verfügbar (Landolt et al. 2003). Das Instrument besteht aus 20 Items mit wahlweise einer 3- oder 5-stufigen Antwortskala und kann ab dem Alter von ungefähr 7 Jahren eingesetzt werden. Durch Summierung der einzelnen Itemwerte wird ein Gesamtschweregrad der Störung errechnet. Trotz hoher Korrelation dieses Gesamtscores mit der PTBS-Diagnose gemäß DSM-IV ermöglicht dieses Instrument allerdings keine kategoriale PTBS-Diagnose. Stattdessen können die Summenwerte aufgrund publizierter Grenzwerte verschiedenen PTBS-Schweregraden zugeordnet werden. In den bisherigen Studien mit der deutschen Version des CPTSD-RI betrug die internale Konsistenz zwischen α=.78 und α=.82 (Landolt et al. 2003, 2005). Seit kurzer Zeit liegt unter der Bezeichnung »UCLA PTSD Reaction Index« eine englischsprachige revidierte Version des CPTSD-RI vor, welcher DSM-IV-konform ist und auch eine kategoriale PTBS-Diagnose erlaubt (Steinberg et al. 2004). Eine deutsche Übersetzung dieses Verfahrens sollte in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen (Ruf et al. 2006).
35.4.3 Hinweise zur Auswahl geeigneter
Instrumente Die Auswahl eines störungsspezifischen Verfahrens richtet sich einerseits nach der Symptomatik des Kindes und andererseits nach dem Ziel, welches mit der Diagnostik ver-
35.5
Therapeutisches Vorgehen
Überblick Die Techniken und Methoden der kognitiv-behavioralen Therapie wurden seit etwa Mitte der 1990er Jahre von verschiedenen Autoren auf die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen mit PTBS angepasst. Sicherlich am besten konzeptualisiert und evaluiert ist zum heutigen Zeitpunkt die von Cohen et al. (2006) entwickelte, hochstrukturierte und manualisierte traumafokussierte kognitiv-behaviorale Therapie (TF-KBT), welche im Folgenden detailliert dargestellt werden soll. Die folgende Übersicht zeigt schematisch den Ablauf einer TF-KBT bei Kindern mit einer PTBS. Insgesamt werden acht verschiedene Therapiephasen unterschieden, welche sich in der Regel auf 12–16 Sitzungen verteilen, die im Abstand von ungefähr einer Woche stattfinden.
Phasen der traumafokussierten kognitiv-behavioralen Therapie 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Aufbau eines Rapports und Stabilisierung Psychoedukation Affektbenennung und Affektregulation Übung eines Entspannungsverfahrens Traumaexposition und Traumanarrativ Identifikation und Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen 7. Einübung alternativer Verhaltens- und Copingstrategien 8. Abschluss
619 35.5 · Therapeutisches Vorgehen
Aufbau eines Rapports und Stabilisierung In der TF-KBT wird zunächst großer Wert auf den Aufbau eines guten Rapports zum Kind sowie auf eine somatopsychische Stabilisierung gelegt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die sehr belastende Arbeit am Trauma. Gerade für traumatisierte Kinder und Jugendliche ist es besonders wichtig, dass sie sich vom Therapeuten verstanden und in seiner Anwesenheit sicher fühlen. Bevor mit der Traumabearbeitung im eigentlichen Sinne begonnen werden kann, muss das Kind somatisch, psychisch und sozial genügend stabilisiert sein. Im somatischen Bereich müssen die Kinder medizinisch so gut versorgt sein, dass eventuell vorhandene körperliche Leiden eine Traumatherapie nicht behindern. Dies ist insbesondere bei verletzten Kindern von immenser Bedeutung, wo beispielsweise sichergestellt werden muss, dass das Kind schmerztherapeutisch optimal versorgt ist. Im sozialen Bereich muss sich das traumatisierte Kind auf ein sicheres Beziehungsnetz abstützen können, bevor mit der Traumabearbeitung begonnen werden kann. Bei Gewaltverbrechen ist ein Abbruch des Kontaktes zwischen Kind und Täter wichtig. Bei intrafamiliärer Gewalt benötigt die Etablierung der sozialen Sicherheit oft sehr viel Zeit. Schließlich muss auch im affektiven Bereich vor Beginn der Traumabearbeitung eine Stabilisierung erfolgen. Diese kann insbesondere bei komplex traumatisierten Kindern oder bei Vorhandensein komorbider Störungen manchmal viel Zeit in Anspruch nehmen. Vor Beginn der eigentlichen Behandlung müssen Kind und Eltern ausführlich über die Therapie als Ganzes, ihre theoretischen Grundlagen sowie über die Arbeitsmethode und die einzelnen Behandlungsschritte informiert werden, so dass sie ihr informiertes Einverständnis geben können. Es soll erwähnt werden, dass es im Rahmen der Therapie zu einer graduierten Traumaexposition kommt und warum dies für eine erfolgreiche Behandlung der Traumafolgestörung von Bedeutung ist. Im Anschluss an die Darlegung des Therapiekonzeptes wird mit Kind und Eltern in der Regel ein mündlicher Behandlungsvertrag abgeschlossen. Besonders hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der therapeutischen Schweigepflicht. Das Kind soll wissen, dass die Inhalte der Therapiestunden den Eltern nicht mitgeteilt werden. Von dieser Regel gibt es allerdings eine Ausnahme, bei welcher die Schweigepflicht durch den Therapeuten übergangen wird, nämlich wenn das Kind selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten zeigt. Kind und Eltern werden informiert, dass in diesen Fällen der Therapeut die therapeutische Schweigepflicht dem Kind gegenüber bricht, um das Wohl des Kindes sicher zu stellen.
Psychoedukation Die zweite Phase der TF-KBT beinhaltet eine ausführliche Psychoedukation von Kind und Eltern über die typischen Symptome von Traumafolgestörungen. Bei jüngeren Kin-
dern geschieht dies in einem gemeinsamen Gespräch mit Kind und Eltern. Bei Kindern ab dem Schulalter erfolgt die Psychoedukation in altersentsprechender Weise auch mit dem Kind allein in ein bis zwei Einzelsitzungen. Die wichtigsten Inhalte der Psychoedukation sind in der folgenden Übersicht dargestellt. Entsprechende Informationen können zusätzlich auch in schriftlicher Form (Broschüren, Elternratgeber usw.) abgegeben werden. Der Therapeut entpathologisiert die kindliche Traumareaktion, indem er betont, dass es auch andere Kinder und Jugendliche gibt, die Ähnliches erlebt und vergleichbare Schwierigkeiten entwickelt haben. Damit einher geht oft eine veränderte Haltung der Eltern der Symptomatik ihres Kindes gegenüber. Im Rahmen der Psychoedukation werden sodann auch generelle Informationen zum Trauma gegeben.
Beispiel Es werden beispielsweise bei einem sexuell missbrauchten Kind folgende Fragen besprochen: 4 »Was ist sexueller Missbrauch?« 4 »Wie häufig ist sexueller Missbrauch?« 4 »Warum beuten Erwachsene Kinder sexuell aus?« 4 »Wer hat die Verantwortung?« 4 »Wie geht es Kindern, die Gewalt erlebt haben?«
Man kann hierzu, je nach Thema, auf Bilderbücher oder andere Materialien zurückgreifen, die im Handel erhältlich sind. Natürlich kann jeder Therapeut auch selbst solche Hilfsmittel entwickeln und diese dann in der Behandlung einsetzen (z. B. Kartenspiel mit Fragen und Antworten).
Inhalte der Psychoedukation 4 Erläuterung der PTBS und deren Symptome 4 Entpathologisierung der Symptomatik 4 Generelle Informationen zum spezifischen Trauma des Kindes
Affektbenennung und Affektregulation Kinder, die an einer PTBS leiden, haben sehr häufig Schwierigkeiten in der Affektregulation, d. h. sie sind schlecht oder gar nicht in der Lage, Inhalt und Intensität ihrer Affekte zu modulieren. Die mit dem Trauma in Verbindung stehenden Gefühle sind für das betroffene Kind oft sehr diffus. Im Rahmen der Therapie soll deshalb dem Kind in einem ersten Schritt geholfen werden, seine Gefühle besser wahrzunehmen und zu benennen. Hierfür wird mit Hilfe von geeigneten Materialien (Spiele und Bilderbücher über Gefühle) zunächst die ganze Spannbreite möglicher Gefühle angeschaut.
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Kapitel 35 · Posttraumatische Belastungsstörung
Beispiel Sehr bewährt hat sich der Gebrauch von kleinen Karteikärtchen, auf welche das Kind möglichst viele verschiedene Gefühle schreiben soll. Mit Hilfe des Therapeuten versucht das Kind die einzelnen Gefühle mit Situationen aus seinem Alltag in Verbindung zu bringen. Die zu den einzelnen Gefühlen gehörenden Alltagserlebnisse können dann auf die Rückseite des jeweiligen Kärtchens geschrieben werden. Kind oder Therapeut können die einzelnen Gefühle auch mimisch und szenisch nachahmen und daraus ein Ratespiel machen.
Mit Hilfe des Therapeuten soll das Kind nun auch Strategien der Affektregulation kennenlernen. Zunächst sind das solche, die es aus seinem Alltag kennt, aber auch neue, die es vielleicht noch nie angewendet hat. In einem zweiten Schritt wird das Thema »Gefühle« in der nächsten Therapiestunde auf den bisher noch nicht thematisierten Bereich des Traumas angewendet. Das Kind wird ermutigt, die mit seinem spezifischen traumatischen Erlebnis assoziierten Emotionen wie Angst, Wut, Trauer oder Hass zu benennen. Dank der oben dargestellten Vorbereitung der Affektwahrnehmung und -benennung in Alltagssituationen gelingt es den meisten Kindern nun erstmals, die mit dem Trauma verbundenen Gefühle zu benennen. Das Kind kann dazu beispielsweise wieder seine Gefühlskärtchen zu Hilfe nehmen und darunter die zum Trauma gehörenden Emotionen identifizieren. ! Es ist wichtig, dass der Therapeut die mit dem Trauma verbundenen Gefühle des Kindes normalisiert und betont, dass viele Kinder und Erwachsene nach schlimmen Ereignissen solche Gefühle haben. Die Auseinandersetzung mit den traumabezogenen Affekten ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche PTBS-Behandlung und eine notwendige Vorbedingung einer verbesserten Affektregulation.
Auf die verschiedenen Möglichkeiten der Regulierung unangenehmer Affekte wird in den folgenden Phasen der Therapie immer wieder eingegangen.
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Einübung eines Entspannungsverfahrens Im Rahmen der graduierten Traumaexposition, welche ein zentrales Element der TF-KBT darstellt, treten beim Kind oft Ängste auf. Die Einübung eines altersentsprechenden Entspannungsverfahrens zur Angstbewältigung ist deshalb von großer Bedeutung und muss in jedem Falle vor der Exposition stattfinden (Pine u. Cohen 2002). Wichtig ist, dass der Therapeut dem Kind den Zweck des Entspannungsverfahrens und besonders auch die Inkompatibilität von Angst und Entspannung genau erklärt. Petermann (1999) unterscheidet sensorische, imaginative und kognitive Entspannungsverfahren (7 Kap. III/16).
4 Sensorische Verfahren (z. B. progressive Muskelrelaxation) führen über körperbezogene, aktive Instruktionen zu einer Entspannung. 4 Zu den imaginativen Verfahren zählen die Phantasiegeschichten und -reisen (z. B. sicherer Ort), welche vom Therapeuten erzählt bzw. geführt werden. 4 In kognitiven Verfahren (z. B. autogenes Training) erfolgt die Entspannung primär passiv, oft durch entsprechende Instruktionen von außen. Es ist in der klinischen Praxis darauf zu achten, dass einfache, dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes angepasste Entspannungsverfahren eingesetzt werden, die das Kind auch in Abwesenheit des Therapeuten im Alltag anwenden kann. Bei traumatisierten Kindern haben sich besonders sensorische und imaginative Verfahren bewährt.
Beispiel Besonders einfach sind Atemübungen, die sowohl zu einer physiologischen Entspannung führen als auch durch die Konzentration auf die Atmung eine kognitive Ablenkung beinhalten. Jüngere Kinder können sich allerdings oft noch schlecht allein auf die Atmung konzentrieren. Ihnen hilft es, wenn sie aufgefordert werden, beim Ein- und Ausatmen langsam bis fünf zu zählen und sich beispielsweise vorzustellen, wie sie in ihrem Bauch einen Ballon aufblasen und diesem dann wieder die Luft herauslassen.
Das Training und die Durchführung von Entspannungsverfahren bei Kindern mit PTBS und anderen Traumafolgestörungen wird teilweise auch kontrovers diskutiert. So weisen verschiedene Autoren zu Recht darauf hin, dass die Gefahr von Flashbacks und dissoziativen Zuständen besteht, welche durch die physiologische Relaxation ausgelöst werden können (z. B. Krampen 2000). Diese Gefahr ist bei Anwendung passiver Entspannungsverfahren zweifellos vorhanden, weshalb ihr Einsatz bei traumatisierten Kindern nicht empfohlen wird. Beim Einsatz von Entspannungsverfahren, die vom Kind aktive Verhaltensweisen (z. B. Zählen, innere Dialoge usw.) verlangen, kann die Gefahr unerwünschter Nebenwirkungen allerdings sehr stark minimiert werden.
Traumaexposition Der nächste und zentrale Schritt der TF-KBT besteht in einer im Verlauf mehrerer Sitzungen zunehmend detailgetreueren Exploration des Traumas, was einer graduierten Exposition in sensu entspricht. Der positive Effekt solcher Traumaexpositionstechniken ist in der Literatur auch für das Kindesalter gut belegt (z. B. Cohen et al. 2006). Trotz einiger Fallbeschreibungen in der Fachliteratur
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wird von einer massierten Konfrontation bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen abgeraten, da hierbei die reale Gefahr einer Retraumatisierung und damit einer Aggravierung der Symptomatik besteht. Die graduierte Traumaexposition erstreckt sich meistens über zwei bis vier Sitzungen. Der Therapeut sollte in dieser Phase der Therapie stark führen und dem Kind so Struktur und Sicherheit vermitteln. Bei hohem Angstniveau des Kindes erfolgt die graduierte Exposition unter Einsatz des früher eingeübten Entspannungsverfahrens. In Abhängigkeit von Alter und Trauma gibt es verschiedene Techniken, wie die Exposition durchgeführt werden kann. In der Regel sollte die mündliche Erzählung des traumatischen Ereignisses durch einen schriftlichen Bericht (sog. Traumaskript) oder durch kreative Darstellungen (Zeichnungen, Skizzen, Bildergeschichte, Comic usw.) ergänzt werden. ! Das Ziel besteht immer in der Erstellung eines ausführlichen und kohärenten Traumanarrativs, dessen Anfang und Ende vom betroffenen Kind definiert werden.
Es ist sinnvoll, mit dem Traumanarrativ dort zu beginnen, wo alles noch gut war, und an jenem, nur vom individuellen Kind bestimmbaren Punkt aufzuhören, wo sich der Patient wieder sicher gefühlt hat. Durch gezieltes Fragen kann das Kind unterstützt werden, sich auf die Einzelheiten des traumatischen Erlebnisses (z. B. die verschiedenen Sinnesmodalitäten) zu konzentrieren. Der Therapeut sollte möglichst offene, aber klare Fragen stellen und dem Kind so helfen, das Erlebte in eigene Worte oder Bilder zu fassen. Meistens wird ein graduiertes Vorgehen gewählt, bei dem das traumatische Ereignis zunächst auf einer rein sachlichen Ebene, unter Einbezug aller Sinnesmodalitäten, erzählt und aufgeschrieben wird. Anschließend werden – unterstützt durch gezielte Fragen des Therapeuten – traumabezogene Kognitionen und Emotionen ergänzt. Beim älteren Kind oder Jugendlichen besteht die Möglichkeit, das Traumanarrativ auf Tonband aufzunehmen. Das mehrmalige Anhören dieser Aufnahme zwischen den Sitzungen führt zu einer Ausdehnung der Expositionszeit und einer schnelleren Habituation. Zur graduierten Exposition können auch andere Techniken verwendet werden, wie die von Weinberg (2005) beschriebene »strukturierte Traumaintervention« oder die »narrative Expositionstherapie für Kinder« (Ruf et al. 2008).
Korrektur dysfunktionaler Kognitionen Im Anschluss an die Traumaexposition geht es in der Therapie um die Identifikation und Korrektur dysfunktionaler Kognitionen. Es ist in dieser Phase der Behandlung zunächst ratsam, mit dem etwas älteren Kind anhand von alltäglichen Beispielen zu erarbeiten, wie Gedanken, Gefühle und Verhalten zusammenhängen.
Beispiel Ein alltägliches Beispiel, das fast alle Kinder kennen, betrifft die Schule. Das Kind soll sich vorstellen, dass die Lehrerin nach der Begrüßung zum Kind sagt, dass sie nach der Schulstunde noch kurz mit ihm sprechen möchte. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten, wie das Kind auf diese Nachricht reagiert und zwar in Abhängigkeit seiner Kognitionen. Wenn es denkt, dass es vielleicht etwas falsch gemacht hat und die Lehrerin ihm deshalb eine Strafaufgabe geben will, wird es angespannt und ängstlich sein. Wenn es dagegen denkt, dass die Lehrerin ihm mitteilen wird, dass es wegen seiner guten Schulleistungen in eine höhere Schulstufe versetzt wird, wird es sich freuen. Durch solche Beispiele kann das Kind erkennen und lernen, dass Gefühle die Folge von bestimmten Kognitionen sind, die oft automatisch da sind, manchmal aber nicht unbedingt stimmen müssen.
Ausgehend von diesen alltagsbezogenen Beispielen wird das Kind nun aufbauend auf seinem individuellen Traumanarrativ ausführlich zu seinen Gedanken, Bewertungen und Interpretationen im Zusammenhang mit dem Trauma befragt. Häufig anzutreffende dysfunktionale Kognitionen bei traumatisierten Kindern sind das Katastrophisieren, die Übergeneralisierung, das Schwarz-Weiß-Denken, die Personalisierung sowie das selektive Filtern von Informationen. Es ist wichtig, dass der Therapeut Verständnis für eventuelle unangemessene Interpretationen des Patienten zeigt und diese zunächst nicht in Frage stellt, da sonst die Gefahr besteht, dass sich das Kind nicht ernst genommen fühlt. Unter Berücksichtigung des Entwicklungsstandes des Kindes werden die dysfunktionalen Bewertungen im Rahmen von mehreren Sitzungen mit Hilfe kognitiver Verfahren angegangen. Hierbei werden beispielsweise Verfahren der Realitätsüberprüfung, der sokratische Dialog oder Selbstkontrollverfahren wie das Einüben positiver Selbstinstruktionen oder der Gedankenstopp eingesetzt. ! Das Kind soll lernen, dysfunktionale Gedanken zu identifizieren, diese zu stoppen, sie zu hinterfragen und sodann mit alternativen, positiven Kognitionen zu ersetzen. Ziel ist die Veränderung dysfunktionaler Annahmen, die Reattribution von Schuld und Verantwortung sowie eine Restrukturierung des oft negativ veränderten Selbstbildes des Kindes.
Einübung alternativer Verhaltensstrategien In einem nächsten Schritt der traumafokussierten kognitivbehavioralen Therapie werden nun mit dem Kind, in Abhängigkeit des identifizierten Problemverhaltens, alternative Verhaltensweisen eingeübt. Das Kind hat in den früheren Phasen der Therapie gelernt, dass Gedanken, Gefühle und
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Kapitel 35 · Posttraumatische Belastungsstörung
Handlungen zusammenhängen. Anhand von bereits besprochenen Beispielen wird mit dem Kind zunächst in alltäglichen Situationen, dann in Bezug auf traumabeeinflusstes Verhalten nach Alternativen zu ungünstigen Verhaltensstrategien gesucht. Oft stehen dabei Verhaltensweisen der Vermeidung im Vordergrund, da diese für das Kind mit bedeutsamen Einschränkungen im Alltag einhergehen. In Abhängigkeit vom Alter, von der Situation und vom Problemverhalten können hierbei Techniken des Rollenspiels, der Stimulus- und Konsequenzkontrolle u. Ä. eingesetzt werden. Die alternativen Verhaltensweisen können zunächst im therapeutischen Kontext eingeübt werden, um dann in einem zweiten Schritt in vivo eingeübt und durchgeführt zu werden. Die Kinder sollen merken, dass es dabei sowohl auf die Regulation der stressbegleitenden Emotionen (sog. emotionszentriertes Coping) als auch auf stresslösendes Problemverhalten (sog. handlungsorientiertes Coping) ankommt. Auch in dieser Phase der Behandlung ist der Einbezug der Eltern von großer Wichtigkeit.
Abschluss Den Abschluss der Behandlung bildet eine Zusammenfassung wichtiger Therapieinhalte. Diese beinhaltet neben einer Verstärkung der Neubewertung des Traumas und der eingeübten Verhaltensstrategien auch eine Rückfallprophy-
laxe. Bei älteren Kindern wird dies zunächst in einer Einzelsitzung erfolgen. Empfehlenswert ist jedoch stets, zu Beginn der Therapie ebenso wie zum Abschluss, eine gemeinsame Sitzung mit den Eltern. Sofern das Kind einverstanden ist, können die Eltern im Rahmen einer solchen Sitzung ausführlich über den Therapieprozess informiert werden, und das Kind kann sein Traumanarrativ mit ihnen teilen. Das Kind soll von Therapeut und Eltern ausführlich für seine Leistungen im Rahmen der Therapie gelobt werden, und die erreichten Veränderungen werden explizit festgehalten. Kind und Eltern werden darauf hingewiesen, dass es manchmal in bestimmten Situationen (z. B. Jahrestage) zu einem vorübergehenden Wiederauftreten von Symptomen der PTBS kommen kann. Dies stellt dann eine gute Gelegenheit dar, die im Rahmen der Therapie gelernten Techniken erneut anzuwenden. Die Überprüfung des Behandlungserfolges soll zum Abschluss der Therapie auch mittels eines standardisierten Verfahrens zur Erhebung von posttraumatischen Symptomen objektiviert werden (7 Abschn. 35.4.2). In der klinischen Praxis wird eine Follow-up-Sitzung ungefähr 3 Monate nach Abschluss der Behandlung empfohlen, in welcher der Therapieprozess nochmals unterstützt sowie Verlauf und eventuelle Schwierigkeiten wiederum mit Kind und Eltern besprochen werden können.
Exkurs TF-KBT – Internetbasiertes Lernmodul Unter der Adresse http://tfcbt.musc.edu bietet die Universität von South Carolina in Zusammenarbeit mit den Begründern der TF-KBT ein internetbasiertes Lernmodul in englischer Sprache an. Das Angebot ist kostenlos, didaktisch hervorragend aufbereitet und wird wissenschaftlich begleitet. Die einzelnen Phasen der TF-KBT werden der Reihe nach dargelegt und mit Videobeispielen und transkribierten Therapieauszügen ergänzt. Jede Phase
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Fallbeispiel
35.6.1 Traumaanamnese und diagnostische
Befunderhebung
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Die 10-jährige Anna wird Zeugin eines Suizidversuches ihres Onkels, bei dem sie in den Ferien weilt. Sie findet diesen, an einem Kabel hängend, in einem Zimmer der Wohnung. Dank der schnellen und geistesgegenwärtigen Reaktion von Anna, die den Onkel losbindet und den Notarzt verständigt, überlebt der Onkel und ist in der Folge während mehrerer Wochen in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert, wo die Diagnose einer Depression gestellt wird. Vier Monate nach diesem für das Mädchen subjektiv sehr bedrohlichen und ängstigenden Ereignis wird Anna von der Kinderärztin mit Verdacht auf eine PTBS in die Kindertraumaambulanz ein-
wird mit einem Multiple-Choice-Test abgeschlossen, dessen erfolgreiches Bestehen Voraussetzung für die weitere Bearbeitung des Lernmoduls ist. Der Abschluss des gesamten internetbasierten Kurses wird mit einem Zertifikat bestätigt. Dieses Angebot ersetzt keine herkömmliche Ausbildung in traumafokussierter kognitiv-behavioraler Therapie, gibt aber einen guten Einblick in das Therapieverfahren.
gewiesen. Im Rahmen der diagnostischen Befunderhebung zeigt sich, dass Anna am Vollbild einer PTBS leidet und einen erheblichen Leidensdruck aufweist. Sie berichtet von regelmäßigen, mit massiver Angst einhergehenden Flashbacks, welche durch traumabezogene Erinnerungsreize ausgelöst werden. Auslösende Reize sind beispielsweise die Stühle am Esstisch, die jenem ähnlich sehen, welcher der Onkel für seinen Suizidversuch verwendet hatte. Aber auch der Anblick von Stromkabeln löst bei Anna starke Ängste aus. Besonders ausgeprägt ist die Vermeidungssymptomatik, die dem Mädchen dazu dient, Erinnerungsreizen aus dem Weg zu wegen. So vermeidet Anna jeglichen Kontakt zum Onkel und dessen Familie, hat große Mühe, über das Erlebte zu sprechen und äußert Ängste, dass ihre Mutter oder ihr Vater auch Selbstmord begehen könnten. Aus dem Symptomcluster der physiologischen Übererregung zeigt Anna
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eine erhöhte Schreckhaftigkeit, Schlafprobleme sowie ausgeprägte Konzentrationsschwierigkeiten mit einem begleitenden Leistungsabfall in der Schule. Anna stammt aus einer vollständigen Familie und hat einen 14-jährigen Bruder. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater ist leitender Angestellter in einer Versicherungsgesellschaft. Der Suizidversuch des Onkels wird von den Eltern als Ausdruck einer depressiven Dekompensation beschrieben. Seit Entlassung aus der psychiatrischen Klinik ist der Onkel in psychotherapeutischer Behandlung und seit Kurzem wieder berufstätig. Die Entwicklungsanamnese von Anna ist mit Ausnahme einer erhöhten Sensibilität auf Belastungen unauffällig, insbesondere zeigen sich in der Vorgeschichte keine psychischen Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten. Anna weist gute Schulleistungen auf und ist im sozialen Bereich gut integriert.
35.6.2 Therapeutisches Vorgehen
Aufbau eines Rapports und Stabilisierung (2 Sitzungen) Der Aufbau einer therapeutischen Beziehung beginnt bereits im Erstgespräch und während der anschließenden diagnostischen Befunderhebung mit Anna und ihren Eltern. Anna zeigt sich nach einer anfänglichen Scheu im Kontakt gut zugänglich. Sie berichtet zurückhaltend und mit deutlichen Anzeichen psychischer Belastung vom traumatischen Ereignis und den in der Folge aufgetretenen Symptomen, weshalb dem Aufbau eines sicheren Rapportes besondere Beachtung gewidmet wird. Annas Eltern sind beim ersten Gespräch dabei und zeigen sich sehr bemüht, ihrer Tochter in der Traumabewältigung zu helfen. Allerdings erleben sie sich als zunehmend hilflos, da ihre bisherigen Bemühungen und Hilfestellungen zu keiner Symptomverbesserung bei Anna geführt haben. Anna und ihre Eltern werden nach der Befunderhebung ausführlich über die vorgesehene Therapie, ihre theoretischen Grundlagen sowie über die einzelnen Behandlungsschritte informiert. Der Therapeut erläutert das kognitiv-behaviorale Verständnis der Behandlung von PTBS mit Anwendung von Expositionsverfahren und betont die Notwendigkeit des Einbezugs der Eltern für eine erfolgreiche Behandlung. Es wird sodann ein mündlicher Behandlungsvertrag abgeschlossen, der eine Dauer von 12–16 Sitzungen im Abstand von jeweils ungefähr einer Woche vorsieht. Die zweite Sitzung findet mit Anna allein statt und dient dem möglichst unbeschwerten Aufbau eines therapeutischen Rapports zwischen Kind und Therapeut.
Psychoedukation (je 1 Sitzung mit Anna und ihren Eltern) Nachdem Anna und ihre Eltern bereits nach Abschluss der diagnostischen Befunderhebung über das Vorliegen einer PTBS informiert wurden, erfolgt nun eine ausführliche In-
formation zu Traumafolgestörungen, zu ihrer Entstehung und ihrem Verlauf. Hierzu wird Anna und ihren Eltern eine Informationsbroschüre zum Thema mitgegeben. Die Vermittlung solcher spezifischer Informationen führt bei Anna und ihren Eltern zu einer deutlichen Entpathologisierung der Symptomatik und damit bereits zu einer gewissen Entlastung. Insbesondere nimmt der Therapeut Bezug auf andere Kinder und Jugendliche, die ängstigende Ereignisse erlebt haben und auf diese sehr ähnlich wie Anna reagiert haben. Ebenfalls wird eine positive Erwartungshaltung in Bezug auf die Therapie geschaffen, indem das Mädchen erfährt, dass die bei ihm auftretenden Symptome wie bei den anderen Kindern behandelt werden können. Ein wichtiger Punkt der Psychoedukation besteht sodann im ausführlichen Eingehen auf die depressive Störung des Onkels. Es stellt sich heraus, dass Anna diesbezüglich nur über ungenügende Informationen verfügt und sich eigene, teilweise inadäquate Vorstellungen gemacht hat. So berichtet das Mädchen von Gedanken, dass sie selbst mitschuldig am Suizidversuch des Onkels sein könnte. Diese inadäquaten Kognitionen werden zu einem späteren Zeitpunkt der Behandlung nochmals aufgenommen. Anhand eines für Kinder geeigneten Büchleins werden Ursachen, Verlauf und Behandlung depressiver Störungen bei Erwachsenen mit Anna besprochen.
Affektbenennung und Affektregulation (2 Sitzungen) Die Phase der Affektbenennung und -regulation beginnt zunächst mit der Identifizierung und Benennung von Gefühlen in Alltagssituationen. Anna wird aufgefordert, möglichst viele unterschiedliche Gefühle auf kleine Karteikärtchen zu schreiben. Zusammen mit dem Therapeuten werden fehlende wichtige »Gefühlskärtchen« ergänzt. Anna soll anschließend auf der Rückseite der Kärtchen stichwortartig Beispiele für Situationen aus dem Alltag aufführen, wo sie solche Gefühle schon erlebt hat. In einem nächsten Schritt nehmen Anna und auch der Therapeut jeweils abwechselnd ein Gefühlskärtchen und versuchen das aufgeschriebene Gefühl mit Mimik und Gestik darzustellen bzw. bei der anderen Person zu erkennen. Dieses Gefühlserkennungsspiel bereitet Anna großen Spaß. Im Folgenden wird nun mit Anna angeschaut, welche Möglichkeiten sie kennt, um Gefühle zu regulieren, wiederum mit Bezug auf ihren eigenen Alltag. Das Mädchen bringt Beispiele und der Therapeut macht Ergänzungen, die zeigen sollen, dass Anna ihren Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert ist. In der Folgesitzung wird das Thema Affekte wieder aufgenommen, und Anna wird nun aufgefordert, die mit ihrem Trauma assoziierten Gefühle anhand der Gefühlskärtchen zu identifizieren. Es geht hierbei nicht um eine detaillierte Schilderung des traumatischen Ereignisses, sondern um die Benennung der damit verbundenen Gefühle. Der Therapeut unterstützt Anna dabei, da es dem Mädchen, wie vielen traumatisierten Kindern, schwerfällt, die erlebten
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Kapitel 35 · Posttraumatische Belastungsstörung
Gefühle differenziert zu benennen. Anna wählt schließlich die Kärtchen mit den Gefühlen Angst und Hilflosigkeit. Der Therapeut normalisiert diese Gefühle ausführlich und nimmt dabei auch auf andere Kinder und Jugendliche Bezug, die ähnliche Situationen erlebt haben. Schließlich werden die in der vorigen Stunde besprochenen Möglichkeiten der Affektregulation auf jene Gefühle angewendet, welche aufkommen, wenn Anna an das Trauma erinnert wird.
Einübung eines Entspannungsverfahrens (2 Sitzungen) Der Therapeut erläutert Anna zunächst den Zweck von Entspannungsverfahren im Kontext der Behandlung und stellt Verfahren näher vor, die für Annas Alter in Frage kommen. Anna entscheidet sich für eine Atemübung, welche mit einer Imaginationsübung eines sicheren Ortes kombiniert wird. Anna wählt als sicheren Ort ihr Zimmer zuhause, wo sie sich besonders gerne auf einem bequemen Polsterstuhl aufhält. Dieses Bild wird in allen sensorischen Aspekten entfaltet und aktualisiert und anschließend an einem selbstgewählten externen Stimulus (Glaskugel) verankert. Im Rahmen einer Sitzung wird dieses Verfahren eingeübt, und Anna wird ermuntert, zuhause täglich zu bestimmten Zeiten zu üben und dies zu protokollieren. In der Folgesitzung werden Annas Erfahrungen besprochen und die Entspannungs- und Imaginationsübung weiter trainiert, so dass Anna diese selbstständig und wirksam selbst einsetzen kann. Anna ist stolz, dass sie nun einen Trick kennt, den sie zur Angstbewältigung anwenden kann.
Traumaexposition (2 Sitzungen)
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Die genaue Exploration des traumatischen Ereignisses stellt den eigentlichen Kern der Behandlung dar. Bevor damit begonnen wird, versichern sich Anna und der Therapeut, dass die Entspannungsübung wirkt und Anna damit in der Lage ist, aufkommende Ängste wirksam zu bekämpfen. Der Therapeut erläutert verschiedene Möglichkeiten der Traumaexposition. Anna entscheidet sich dafür, ein Traumanarrativ in Form einer Bildergeschichte (Comic) zu verfassen. Auf einem A3-Papier werden zunächst das Anfangs- und das Schlussbild der Bildergeschichte bestimmt und anschließend gezeichnet. Anna beginnt mit ihrer Geschichte dort, wo sie sich in entspannter Stimmung ihre Lieblingssendung im Fernsehen anschaut, und beendet sie dort, wo ihre Eltern sie in der Wohnung des Onkels in die Arme schließen und sie sich wieder sicher fühlt. In insgesamt zwei Sitzungen wird nun – in Anlehnung an das von Weinberg (2005) geschilderte Vorgehen – die Bildergeschichte nach und nach ergänzt, zunächst mit den alle Sinnesmodalitäten berücksichtigenden Fakten und sodann mit den begleitenden Emotionen und Kognitionen. Anna wirkt bei der Schilderung des Ereignisses und dem Zeichnen einzelner Bilder zwar belastet, kann die Angst jedoch aushalten. Der Therapeut interveniert in dieser Phase klar strukturierend und direktiv und sorgt dafür, dass Anna
nicht allzu lange bei einzelnen Bildern bleibt. Beim schlimmsten Teil der Bildergeschichte, jenem Moment, als Anna ihren Onkel findet, ist Anna deutlich belastet. Die Exposition wird deshalb an dieser Stelle für einen kurzen Moment unterbrochen und Anna führt die früher gelernte Entspannungsübung durch. Nachdem sie in der ersten Expositionssitzung das Geschehene auf der Sachebene gezeichnet hat, erfolgt in der zweiten Sitzung die schrittweise Ergänzung von Kognitionen und Emotionen zu jedem Bild. Die Benennung der traumabezogenen Gefühle geschieht dabei mit Rückbezug auf die in einer früheren Therapiephase durchgeführten Übungen mit den Gefühlskärtchen.
Korrektur dysfunktionaler Kognitionen (2 Sitzungen) Zunächst wird anhand einer Skizze des »kognitiven Dreiecks« mit Anna nochmals angeschaut, wie Gedanken die Gefühle und das Verhalten steuern. Im Rahmen der Erstellung der Bildergeschichte haben sich bei Anna eine Reihe von dysfunktionalen Kognitionen gezeigt, die nun einzeln bearbeitet werden. So macht sich Anna Vorwürfe, dass sie im Vorfeld des Suizidversuches nicht gemerkt hat, dass es dem Onkel nicht gut ging. Sie fragt sich auch immer wieder, ob sie den Suizidversuch nicht hätte verhindern können oder zumindest ihren Eltern hätte mitteilen können, dass es dem Onkel nicht gut ging. Anna deutet auch an, dass der Onkel vielleicht ihretwegen belastet war, da er während des mehrtägigen Besuches nach ihr habe schauen müssen und dies vielleicht nicht gewohnt sei, da er keine eigenen Kinder habe. Der Therapeut nimmt Bezug auf die zu Beginn der Therapie besprochenen Informationen zu depressiven Störungen und deren Ursachen. Zusammen mit Anna wird die Situation nochmals detailliert betrachtet, so dass deutlich wird, dass sich das Mädchen aufgrund des damaligen Wissens und als Kind absolut richtig verhalten hat. Anna wird klar, dass ihre heutige Einschätzung der Situation auf Informationen beruht, die sie vor dem Trauma nicht gehabt hatte. Diese Informationen und Einsicht ermöglicht Anna eine Korrektur der dysfunktionalen Kognitionen. Unter Einbezug der Eltern wird außerdem in einer weiteren Sitzung eine andere unangemessene Kognition ausführlich analysiert und korrigiert, nämlich Annas Sorge, dass ein Elternteil auch Suizidgedanken haben könnte.
Einübung alternativer Verhaltensstrategien (2 Sitzungen mit Anna, 1 Sitzung mit Eltern) Nach Bearbeitung der dysfunktionalen Kognitionen und Erörterung ihrer Bedeutung für Annas Verhalten liegt das Schwergewicht der Therapie in dieser Phase nun in der Identifizierung problematischer Verhaltensweisen und der Erarbeitung und Einübung alternativer Strategien. Bei Anna hat insbesondere das Vermeidungsverhalten ungünstige Auswirkungen. Ähnlich wie beim systematischen Desensibilisieren wird mit Anna eine Hierarchie der angstauslösenden Situationen erstellt, und für jede Situation werden
625 35.7 · Empirische Belege
alternative Verhaltensweisen besprochen bzw. Möglichkeiten, die Angst auszuhalten und die Situation ohne Vermeidung durchzustehen. Dabei wird auf das in einer früheren Phase eingeführte Entspannungsverfahren zurückgegriffen, und es werden mit Anna auch Rollenspiele durchgeführt, in welchen alternative Verhaltensmöglichkeiten ausprobiert und eingeübt werden. Das Mädchen erhält von einer Therapiestunde zur anderen entsprechende Hausaufgaben zur In-vivo-Exposition. Hierzu werden auch die Eltern von Anna involviert. Ein wichtiges Thema ist die Vermeidung des Kontakts zum Onkel, der sich mehrfach schriftlich und auch schon telefonisch gemeldet hat und zu dem Anna eigentlich immer eine sehr gute Beziehung hatte. In einem Gespräch mit Anna und den Eltern wird ein graduiertes Vorgehen mit zunächst brieflicher, dann telefonischer und schließlich In-vivo-Kontaktaufnahme mit dem Onkel besprochen. Das Schwergewicht der Elternberatung liegt dabei auf den Möglichkeiten, wie Mutter und Vater ihre Tochter bei dieser Kontaktaufnahme unterstützen können. Durch die in früheren Phasen der Therapie erfolgte Traumaexposition und die Korrektur der dysfunktionalen Kognitionen gelingt es Anna, innerhalb von 4 Wochen wieder mit ihrem Onkel Kontakt aufzunehmen. Das erste Treffen erfolgt im Beisein der Eltern und löst wichtige Traumabewältigungsprozesse aus.
Abschluss (1 Sitzung mit Anna alleine, 1 Sitzung mit Anna und ihren Eltern) Der Abschluss von Annas Therapie erfolgt mit einer Einzelsitzung sowie einer gemeinsamen Sitzung mit den Eltern. In der Einzelsitzung wird zunächst der Therapieerfolg mit einem standardisierten Verfahren zur Erfassung von Traumafolgestörungen bestätigt. Dann wird der Therapieprozess rückblickend noch einmal ausführlich angeschaut. Der Therapeut betont die großartige Leistung, welche Anna im Laufe der letzten Monate erbracht hat und lobt sie für das Erreichte. Besonderes Gewicht wird auf ihre neu gewonnenen Kompetenzen gelegt, und es wird auch zusammen angeschaut, wie weit diese Kompetenzen sie stärker und selbstsicherer gemacht haben. Das Mädchen lernt, dass ihm diese Kompetenzen auch helfen werden, eventuelle Rückfälle der Symptomatik erfolgreich zu bewältigen. Abschließend wird mit Anna besprochen, wie die Eltern über die Therapie und das Ergebnis der Behandlung informiert werden sollen. Anna möchte, dass der Therapeut ihren Eltern ausführlich in ihrem Beisein vom Therapieprozess erzählt und ihnen auch die erstellte Bildergeschichte erläutert. In einer gemeinsamen Abschlusssitzung wird den Eltern detailliert dargelegt, wie Anna es geschafft hat, das schlimme Erlebnis zu überwinden. Auch den Eltern wird ein großes Lob für ihre Unterstützung des Therapieprozesses ausgesprochen. Die von den Eltern geäußerte aufrichtige Bewunderung für Annas Leistung ist ein schöner Abschluss der erfolgreichen Behandlung.
35.7
Empirische Belege
Es gibt erfreulicherweise eine Reihe von methodisch anspruchsvollen Studien zur Überprüfung des Nutzens kognitiv-behavioraler Therapieverfahren bei Kindern mit Traumafolgestörungen. . Tab. 35.2 zeigt eine Zusammenstellung aller bisher durchgeführten randomisierten Kontrollgruppenstudien. Die meisten dieser Untersuchungen wurden bei sexuell misshandelten Kindern durchgeführt. Ein bedeutsamer Teil der in den Studien behandelten Kinder waren dabei mehrfach traumatisiert. Die Effektivität der TF-KBT wurde in der Regel mehrdimensional überprüft und beschränkte sich nicht nur auf die Kontrolle der PTBS-Symptome. In den meisten Studien wurden zusätzlich die Auswirkungen der Behandlung auf Angst, Depression und Verhaltensauffälligkeiten untersucht. Die Befunde zeigen sehr deutlich und konsistent, dass kognitiv-behaviorale Behandlungstechniken erfolgreich zur Behandlung von PTBS eingesetzt werden können und anderen Therapieformen bzw. einer Wartelistebedingung klar überlegen sind. Die dabei erzielten Effektstärken sind hoch (>1) und belegen, dass die TF-KBT ein hochwirksames Behandlungsverfahren ist. Trotz dieser erfreulichen Datenlage muss einschränkend festgehalten werden, dass in die bisher vorhandenen Studien fast ausschließlich Kinder ab dem Schulalter einbezogen worden sind und deshalb kaum etwas über die Effektivität der TF-KBT bei Kindern unter dem Alter von 5 Jahren gesagt werden kann (Stallard 2006). Auch sind die Mädchen in fast allen Untersuchungen in der großen Mehrzahl, so dass keine Aussagen zu geschlechtsspezifischen Effekten der Interventionen gemacht werden können. Um die Homogenität der Stichproben möglichst hoch zu halten, wurde in vielen Untersuchungen zudem eine Reihe von Patienten von der Studienteilnahme ausgeschlossen (z. B. Kinder mit Entwicklungsrückständen, fremdsprachige Kinder usw.) oder schieden im Verlaufe der Therapie aus. Dies hat zur Folge, dass die in den Studien behandelten Gruppen keine unselektierten klinischen Stichproben darstellen und es deshalb unklar bleiben muss, ob die traumafokussierte KBT bei diesen ähnlich erfolgreich wäre. Schließlich gilt auch einschränkend festzuhalten, dass einige der randomisierten Kontrollstudien sehr kleine Stichproben untersucht haben (z. B. Celano et al. 1996; King et al. 2000), die über ungenügende statistische Power verfügen, um sinnvolle Gruppenvergleiche durchzuführen. Genügend große Stichproben sind auch eine wichtige Voraussetzung für heute noch fehlende, differenzielle Analysen der Bedeutung einzelner Komponenten der TF-KBT für die Behandlung von Traumafolgestörungen (Komponentenanalyse). Zurzeit wird eine Reihe von Studien durchgeführt, die diese methodischen Einschränkungen zu überwinden versuchen und so in absehbarer Zeit die Befundlage zur Effektivität der TF-KBT weiter verbessern werden.
35
626
Kapitel 35 · Posttraumatische Belastungsstörung
. Tab. 35.2. Randomisierte Kontrollgruppenstudien zu kognitiv-behavioraler Traumatherapie im Kindesalter Referenz
Design
Alter
Trauma
Untersuchte Variablen
Befunde
32
KBT vs. supportive Therapie
8–13 Jahre
Sexuelle Ausbeutung
Traumasymptome; Kognitionen
Kein Unterschied zwischen den Gruppen
248
Individuelle KBT vs. Gruppen-KBT; mit Warteliste
M=8,2 Jahre
Naturkatastrophe
Traumasymptome
Individuelle KBT = Gruppen-KBT > Warteliste
Cohen u. Mannarino 1996
67
KBT vs. supportive Therapie
3–6 Jahre
Sexuelle Ausbeutung
Trauma-Symptome; Verhaltensauffälligkeiten
KBT > supportive Therapie
Cohen u. Mannarino, 1998
49
KBT vs. supportive Therapie
8–14 Jahre
Sexuelle Ausbeutung
Traumasymptome; Depression; soziale Kompetenz
KBT > supportive Therapie
Cohen, Deblinger, Mannarino, Steer, 2004
229
KBT vs. kindzentrierte supportive Therapie
8–14 Jahre
Sexuelle Ausbeutung, 90% mehrfach traumatisiert
PTBS; Depression; Verhaltensauffälligkeiten; Schamgefühle
KBT > kindzentrierte supportive Therapie
Cohen, Mannarino, Knudsen, 2005
82
KBT vs. kindzentrierte supportive Therapie
8–15 Jahre
Sexuelle Ausbeutung, 60% mehrfach traumatisiert
Trauma-Symptome; Depression; Angst
KBT > nondirektive supportive Therapie
Deblinger et al. 1996, 1999
100
KBT-Kind vs. KBT Eltern vs. keine Behandlung
7–13 Jahre
Sexuelle Ausbeutung
PTBS; Depression; Verhaltensauffälligkeiten
KBT-Kind > KBT Eltern > keine Behandlung
King et al. 2000
36
Individuelle KBT vs. Familien-KBT vs. Warteliste
5–17 Jahre
Sexuelle Ausbeutung
PTBS; Angst
KBT > Warteliste
Smith et al. 2007
24
Individuelle KBT vs. Warteliste
8–18 jahre
Verschiedene Typ-1Traumata
PTBS, Depression, Angst
KBT > Warteliste
Stein et al. 2003
126
KBT vs. Warteliste
M=11 Jahre
Gewalt
PTBS, Depression, psychosoziale Auffälligkeiten
KBT > Warteliste
Celano et al. 1996 Chemtob et al. 2002
n
KBT kognitiv-behaviorale Therapie; PTBS posttraumatische Belastungsstörung; M mittleres Alter.
35
Zusammenfassung
Literatur
Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine im Kindesalter nach traumatischen Erlebnissen häufig auftretende psychische Störung. Sie ist gekennzeichnet durch das gleichzeitige Vorhandensein von Symptomen des Wiedererlebens, der Vermeidung und der vegetativen Übererregung. Säuglinge und Kleinkinder zeigen ein etwas unspezifischeres Symptombild. In der Pathogenese der PTBS spielen Merkmale des traumatischen Ereignisses, des Kindes sowie Variablen des sozialen Umfeldes eine wichtige Rolle, deren Wirkungen durch kognitive Bewertungs- und Bewältigungsprozesse vermittelt und modifiziert werden. Kognitiv-behaviorale Therapieansätze stellen heute die Therapie der Wahl von PTBS im Kindesalter dar, und ihre Effektivität ist gut belegt. Das Kapitel schildert das Erscheinungsbild, die Diagnostik sowie die Ätiologie der PTBS. Ausführlich wird sodann auf die traumafokussierte kognitiv-behaviorale Therapie eingegangen. Das konkrete Vorgehen wird zusätzlich anhand eines Fallbeispiels dargestellt. Den Abschluss des Kapitels bildet eine Zusammenstellung der Befunde zur empirischen Effektivität kognitiv-behavioraler Therapieansätze bei PTBS im Kindesalter.
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35
628
Kapitel 35 · Posttraumatische Belastungsstörung
Weiterführende Literatur Cohen, J. A., Mannarino, A. P. & Deblinger, E. (2006). Treating trauma and traumatic grief in children and adolescents. New York: Guilford. Krüger, A. (2007). Erste Hilfe für traumatisierte Kinder. Düsseldorf: Patmos. Landolt, M. A. (2004). Psychotraumatologie des Kindesalters. Göttingen: Hogrefe. Landolt, M. A. & Hensel, T. (Hrsg.) (2008). Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Hogrefe.
35
36
36 Zwangsstörung Michael Simons
36.1
Einleitung
– 630
36.2
Darstellung der Störung – 630
36.2.1 36.2.2 36.2.3 36.2.4 36.2.5 36.2.6 36.2.7 36.2.8
Phänomenologie – 630 Inhalte von Zwangsgedanken – 630 Zwangshandlungen – 631 Vermeidung und Verheimlichung – 631 Klassifikation – 631 Epidemiologie – 632 Komorbide und Differenzialdiagnosen – 632 Verlauf und Prognose – 632
36.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
36.3.1 36.3.2
(Meta)kognitiv-behaviorale Ansätze – 632 Neurobiologische Ansätze – 634
36.4
Diagnostik – 635
36.4.1 36.4.2
Exploration und Verhaltensanalyse – 635 Verhaltensbeobachtung – 636
36.5
Therapeutisches Vorgehen
36.5.1 36.5.2 36.5.3 36.5.4 36.5.5 36.5.6 36.5.7 36.5.8
Übersicht – 636 Beziehungsgestaltung – 637 Psychoedukation und Aufbau von Veränderungsmotivation – 637 Exposition mit Reaktionsverhinderung – 638 Metakognitive Interventionen – 639 Narrativ-metakognitve Rollenspiele – 640 Familienbezogene Interventionen – 641 Pharmakotherapie – 641
36.6
Fallbeispiel: »Mr. Bean macht es richtig falsch« – 641
36.7
Empirische Belege
36.8
Ausblick
– 636
– 643
– 643
Zusammenfassung – 644 Literatur
– 644
Weiterführende Literatur
– 632
– 645
630
Kapitel 36 · Zwangsstörung
Ich wusste, dass dies alles völliger Unsinn war. Und ich wusste auch, dass jeder, der mich dabei sah, wie ich Ritzen zählte, zu dem Schluss kommen musste, dass etwas mit mir nicht stimmte. Deshalb war ich vollkommen durcheinander. Und schämte mich. Aber es war vollkommen unmöglich, nicht daran zu denken. Und es war unmöglich, die Ritzen nicht zu zählen. (Hesser 2001)
abgeschlossen und die Elektrogeräte ausgestellt sind, folgen Kontrollrituale. Auf Befürchtungen, sich vor Gott versündigt zu haben, folgen Beichtrituale. In manchen Fällen dienen Rituale der Abwehr vermeintlicher Gefahren, ohne dass ein sinnhafter Zusammenhang offensichtlich wäre.
Beispiel 36.1
Einleitung
Zwanghaft anmutende Verhaltensweisen sind im Vorschulalter verbreitet: Kinder zählen Treppenstufen, vermeiden es, auf Ritzen zwischen den Wegplatten zu gehen, sortieren ihre Spielzeugautos nach ganz bestimmten Regeln, bestehen darauf, dass das Zubettgeh-Ritual strengstens eingehalten und die Gute-Nacht-Geschichte »richtig« erzählt wird. All dies sind normale, die Entwicklung des Kindes fördernde oder zumindest stabilisierende Handlungen. Sie sind in der Regel nicht belastend, obwohl es Eltern manchmal als Last erscheint, alles genau und ritualgemäß »richtig« machen zu müssen. Zwangsstörungen dagegen gehen mit hohem Leidensdruck einher: Kinder haben das Gefühl, sie müssten sich noch einmal die Hände waschen, obwohl sie schon wund gewaschen sind, oder sie müssten noch einmal die Tür kontrollieren, obwohl sie es schon zehnmal gemacht haben. In der Mehrzahl handelt es sich um tatsächlich sinnvolle Handlungen, deren Sinnhaftigkeit jedoch mit der Anzahl der Wiederholungen nachlässt. Der Leidensdruck entsteht durch die Unsicherheit, es nicht »richtig« oder »oft genug« gemacht zu haben. Insbesondere bei jüngeren Kindern kommt es vor, dass die nicht direkt Betroffenen (z. B. die Eltern) mehr unter dem Problem leiden als die Kinder selbst. Manche Eltern verzweifeln an dem Versuch, dem Kind zu erklären, dass es keiner weiteren Wiederholung des Rituals bedarf. Andere Eltern reagieren zunehmend ungehalten und aggressiv auf die kindlichen Zwänge: Sie unterstellen dem Kind, die Rituale nur durchzuführen, um sie zu ärgern. Ältere Kinder und Jugendliche sind sich zunehmend der Unsinnigkeit der Zwangsgedanken und -handlungen bewusst. Häufig schämen sie sich für ihre »peinlichen« Gedanken und die Handlungen und achten darauf, dass weder Eltern noch Freundeskreis etwas davon erfahren. In extremen Fällen erachten sie ihre Lage als aussichtslos und werden suizidal.
36
36.2
Darstellung der Störung
Ein 16-jähriger Patient fühlte sich für katastrophale Ereignisse, die er in Fernsehnachrichten sah, verantwortlich. Immer, wenn solche Ereignisse berichtet wurden, musste er seine aktuelle Handlung wiederholen.
Zwangsgedanken werden als aufdringliche (»intrusive«), unwillkürliche Gedanken, bildhafte Vorstellungen oder dranghafte Impulse erlebt, die mehr oder weniger Ich-fremd, häufig den eigenen Wertvorstellungen widersprechend und unsinnig sind. Sie werden als quälend empfunden und führen zu einer Zunahme von Angst und Unsicherheit. Zwangshandlungen sind dagegen willkürliche, aber unfreiwillig (»wie aus einem inneren Zwang heraus«) ausgeführte Handlungen, die helfen, Angst und Unsicherheit zu reduzieren. Insofern werden sie häufig subjektiv als (zumindest kurzfristige) Lösung gegen die Zwangsgedanken erlebt. Allerdings können Zwangshandlungen auch als quälend empfunden werden, insbesondere, wenn sie die Lebensqualität und das Zusammensein in der Familie, in der Schule und im Freundeskreis beeinträchtigen. In der Regel treten Zwangsgedanken und -handlungen gemeinsam auf. Insbesondere bei jüngeren Kindern und bei Patienten mit komorbider Ticstörung können jedoch auch Zwangshandlungen ohne vorausgehende Zwangsgedanken auftreten. Häufig handelt es sich dabei um Berührungsoder andere taktile Zwänge, die durch einen Impuls, ein Unvollständigkeitsempfinden oder durch ein Bedürfnis nach Richtigkeit (»Just-right-Zwänge«; vgl. Coles et al. 2005) ausgelöst werden. Zwangsgedanken ohne nachfolgende Zwangshandlungen treten eher im Jugend- und Erwachsenenalter auf. In beiden Fällen kann allerdings kritisch diskutiert werden, ob nicht doch beide Elemente der Zwangsstörung vorhanden sind: So lassen sich bei scheinbar reinen Zwangshandlungen Unvollständigkeitsempfindungen oder perfektionistische Ansprüche durchaus als Zwangsgedanken konzeptualisieren. Und bei scheinbar reinen Zwangsgedanken bezieht sich das vermeintliche Fehlen von Zwangshandlungen auf offen sichtbare, nicht jedoch auf verdeckte kognitive Rituale.
36.2.1 Phänomenologie
Zwangsstörungen bestehen in der Regel aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, welche oft aufeinander bezogen sind. Auf Zwangsgedanken mit Kontaminationsbefürchtungen (»Ich bin verseucht«) folgen zumeist Waschrituale. Auf Zwangsgedanken mit Unsicherheit, ob die Türe
36.2.2 Inhalte von Zwangsgedanken
Zwangsgedanken berühren Tabus. Bei Kindern drehen sich Zwangsgedanken inhaltlich zumeist um Verunreinigung/ Kontamination, Aggression (Schaden oder Tod), Symmet-
631 36.2 · Darstellung der Störung
rie und Genauigkeit. Im Jugendalter können blasphemische und sexuelle Gedanken dazukommen.
36.2.3 Zwangshandlungen
Die häufigsten Zwangshandlungen im Kindesalter sind Waschen, Kontrollieren, Ordnen, Berühren und Wiederholen. Daneben finden sich auch interpersonelle Zwangshandlungen, d. h. andere Personen werden aktiv in die Zwänge mit eingebunden. Häufig sind Fragerituale und Rückversicherungen. Neben diesen offenen gibt es auch verdeckte Zwangshandlungen (mentale oder kognitive Rituale) wie das Unterdrücken von Zwangsgedanken, ein stilles Gebet oder das Denken eines »Gegengedankens«. ! Die Unterscheidung zwischen Zwangsgedanken und mentalen Ritualen ist für Kliniker – und erst recht für die betroffenen Patienten – häufig nicht leicht, jedoch von größter Bedeutung. Der wesentliche Unterschied besteht in ihrer funktionalen Bedeutung: Zwangsgedanken sind unwillkürlich und rufen Angst und Unsicherheit hervor. Mentale Rituale dienen dazu, den Zwangsgedanken entgegenzuwirken und dadurch Angst und Unsicherheit zu neutralisieren.
36.2.4 Vermeidung und Verheimlichung
Zwangsrituale haben eine aktiv vermeidende Funktion: Sie wirken der bereits geschehenen Verunreinigung/Verunsicherung entgegen. Funktional äquivalent ist passives Vermeidungsverhalten: Die Betroffenen bemühen sich, gar nicht erst schmutzig oder unsicher zu werden. Bei Waschzwängen werden beispielsweise häufig direkte Berührungen wie Händeschütteln vermieden oder die Türklinke nicht mit der Hand, sondern mit dem Ellenbogen heruntergedrückt. Bei Kontrollzwängen sorgen die Betroffenen dafür, dass andere Personen mit darauf achten, dass die Türe abgeschlossen oder der Herd ausgestellt ist.
Beispiel Ein Jugendlicher, der zu Hause die Elektrogeräte ausstellen musste, achtete immer darauf, dass er nicht als Letzter das Haus verließ. Etwaige Schäden durch nicht ausgestellte Geräte lagen damit nicht mehr in seiner Verantwortung.
Eine besondere Form der Vermeidung ist das Verheimlichen besonders peinlicher Gedanken aus Scham und Angst, in der Achtung der anderen zu sinken, oder in Erwartung negativer Reaktionen. Auch diese Form der Vermeidung dient funktional kurzfristiger Entlastung.
Beispiel Ein Jugendlicher hatte große Angst, andere Gleichaltrige könnten ihn für homosexuell halten. Über diese Befürchtungen sprach er nicht; in seinem Verhalten zeigte er sich betont maskulin.
36.2.5 Klassifikation
Nach der ICD-10 wird eine Zwangsstörung (F42) nach folgenden Kriterien diagnostiziert: A. Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen bestehen mindestens zwei Wochen lang B. Die Zwangsgedanken/-handlungen erfüllen die Punkte 1–4: 1. Zwangsgedanken/-handlungen werden als eigene Gedanken/Handlungen angesehen und nicht als von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben. 2. Sie wiederholen sich dauernd, werden als unangenehm empfunden und meist als übertrieben oder unsinnig erkannt. 3. Die Betroffenen versuchen, Widerstand gegen die Zwangsgedanken/-handlungen zu leisten. 4. Die Ausführung eines/einer Zwangsgedanken/ -handlung ist unangenehm. C. Die Zwangsgedanken/-handlungen führen zu einer erheblichen psychosozialen Beeinträchtigung D. Häufigste Ausschlusskriterien stellen die Schizophrenie und die affektiven Störungen dar.
In der ICD-10 wird die Zwangsstörung als eigenständige Entität klassifiziert, während sie im DSM-IV als eine (eigenständige) Angststörung aufgefasst wird. Die Subtypisierungen in der ICD-10 mit »Zwangsstörungen mit vorwiegend Zwangsgedanken« (F42.0) und »Zwangsstörungen mit vorwiegend Zwangshandlungen« (F42.1) erscheint wenig brauchbar und wird entsprechend im DSM-IV/ DSM-IV-TR nicht gemacht. Insbesondere für das Kindesalter sind die ICD-10-Kriterien nur mäßig geeignet. Steinberger und Schuch (2002) konnten zeigen, dass gerade jüngere Patienten häufig das Einsichtskriterium (B2) nicht erfüllen, obwohl ansonsten alle Kriterien der Zwangsstörung erfüllt sind. Die DSM-IV-Kriterien sind mit dem Zusatz »mit wenig Einsicht« als wesentlich angemessener für Kinder einzuschätzen. In den letzten Jahren werden zunehmend Subtypen der Zwangsstörung diskutiert (McKay et al. 2004). Phänomenologisch orientierte Untersuchungen fanden folgende vier Subtypen:
36
632
Kapitel 36 · Zwangsstörung
4 Kontamination und Waschen, 4 aggressive und schadensbezogene Befürchtungen und Kontrollieren, 4 Zwangsgedanken ohne offene Zwangshandlungen, 4 Horten und Sammeln. Zu bemängeln ist an dieser phänomenologischen Aufteilung die mäßige zeitliche Stabilität der genannten Kategorien. Zudem lassen sich manche Patienten in mehreren Kategorien einordnen. Andere Subtypisierungen fragen nach neurobiologischen und neuropsychologischen Profilen, komorbiden Störungen – insbesondere begleitender Ticstörung – oder nach dem Zeitpunkt des Erkrankungsbeginns. Insbesondere ein früherer Erkrankungsbeginn (»early onset«) geht mit einer höheren genetischen Belastung, begleitender Ticstörung und einer Geschlechterverteilung zulasten des männlichen Geschlechts einher. Ein Subtyp, der in den letzten Jahren zunehmend Beachtung gefunden hat, wird mit dem Akronym PANDAS (»pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infections«) bezeichnet (7 Abschn. 36.3.2).
36.2.8 Verlauf und Prognose
Bereits bei 3- bis 4-jährigen Kindern lassen sich Zwangsstörungen finden, in früher Kindheit sind sie jedoch selten. Mit steigendem Alter nehmen sie zu und erreichen in der Pubertät die Prävalenzraten Erwachsener von 2–4% (Heyman et al. 2003). Im Kindes- und Jugendalter liegt das mittlere Alter bei Erkrankungsbeginn bei etwa 10,4 Jahren (Range: 6,9–12,5 Jahre). Ein präpubertärer Beginn findet sich eher bei Jungen (3:2), im Jugend- und Erwachsenenalter findet sich eine ausgeglichene Geschlechterverteilung.
Frühe Verlaufsstudien verwiesen eher auf einen chronischen Verlauf, während eine jüngere Metaanalyse (Stewart et al. 2004) ein wesentlich optimistischeres Bild zeichnet: Danach erreichten 40% der Patienten eine vollständige Remission, 59% berichteten entweder vollständige Remission oder subklinische Auffälligkeiten. Die entsprechenden Katamnesezeiträume variierten dabei zwischen einem und 15,6 Jahren. Ein Persistieren der Zwangssymptome ging mit anfänglich schlechtem Ansprechen auf die Therapie einher. Prädiktoren für ausgeprägtere Zwänge nach Therapieende waren komorbide Tic- oder affektive Störungen, initiale Symptomschwere, früher Erkrankungsbeginn, längere Erkrankungsdauer vor Diagnosestellung, die Notwendigkeit einer stationären Behandlung und eine psychiatrische Belastung in der Herkunftsfamilie. Besonders die prognostisch ungünstige lange Erkrankungsdauer vor Diagnosestellung verweist auf die Notwendigkeit frühzeitiger Interventionen. Neuartige psycho- und pharmakotherapeutische Interventionen dürften noch unzureichend in die vorliegenden Verlaufsstudien eingegangen sein. Es ist zu hoffen, dass die weitere Verbreitung der unten dargestellten Therapiemethoden zu einem deutlich verbesserten Krankheitsverlauf beiträgt.
36.2.7 Komorbide und Differenzialdiagnosen
36.3
Komorbide Diagnosen sind bei Zwangsstörungen häufig, teilweise sind sie von den Zwängen schwer abzugrenzen. Die häufigsten komorbiden Störungen sind Angststörungen (25–60%), depressive Erkrankungen (30%) sowie Ticund Tourette-Störungen (25–30%) (Geller et al. 2003). Teilweise sind Zwangsstörungen kaum von komplexen Tics zu unterscheiden (Mansueto u. Keuler 2005). Bei Zwängen stehen bei Unterlassung eher Angst und Unsicherheit in höherer kognitiver Ausgestaltung im Vordergrund, bei Tics eher eine körperliche Anspannung. Auch die Abgrenzung von einer generalisierten Angststörung, die durch übermäßige Sorgen und Rückversicherungsversuche gekennzeichnet ist, kann schwierig sein. Bei der Zwangsstörung sind die Sorgen bildhafter, bizarrer und Ichdystoner, während sie bei der generalisierten Angststörung eher verbal ausgestaltet und durch alltagsnähere Sorgen ge-
36.3.1 (Meta)kognitiv-behaviorale Ansätze
36.2.6 Epidemiologie
36
kennzeichnet sind (Comer et al. 2004). Bei bizarreren Zwangsgedanken Jugendlicher ist die Abgrenzung zur schizophrenen Psychose wichtig. Auch hier spielt die Ich-Dystonie als Merkmal der Zwangsstörung eine herausragende Rolle. Schließlich können Zwangsrituale auch im Rahmen einer geistigen Behinderung oder eines Asperger-Autismus auftreten, in Einzelfällen bestehen Zwangsstörung und Asperger-Autismus nebeneinander.
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Auf der Grundlage von Beobachtungen an erwachsenen Zwangspatienten entwickelte Salkovskis Mitte der 1980er Jahre einen kognitiv-behavioralen Erklärungsansatz für Zwangsstörungen (Salkovskis 1999). An dieser Stelle sollen seine und andere wesentlich durch ihn geprägte Ansätze (Wells 2000) zusammenfassend dargestellt werden, ohne dabei die Unterschiede dieser Ansätze zu betonen. Interpretation der Gedanken. Ausgangspunkt sind ganz
normale aufdringliche (intrusive) negative Gedanken, wie sie auch bei der großen Mehrzahl von gesunden Personen vorkommen. Der metakognitiv-behaviorale Ansatz muss demnach erklären, warum Zwangspatienten diese an sich normalen Gedanken häufiger und quälender erleben. Ent-
633 36.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
scheidend ist dafür die Interpretation dieser Gedanken. Salkovskis betont, dass sie im Sinn erhöhter Gefahr und persönlicher Verantwortung interpretiert werden.
Beispiel Ein 15-jähriger Patient mit Kontrollzwang erklärte: »Wenn ich nicht abends kontrolliere, ob alle Stecker aus der Steckdose gezogen sind, dann könnte es zu einem Kurzschluss und dadurch zu einem Feuer kommen – und ich wäre schuld.«
Zudem neigen Zwangspatienten in zweierlei Hinsicht dazu, Gedanken und Handlungen gleichzusetzen: 4 Gedanken-Handlungs-Fusion (Wahrscheinlichkeit): Die Betroffenen glauben, etwas zu denken steigere die Gefahr, dass man entsprechend handelt (»Wenn ich denke, ich könnte meine Lehrer beleidigen, steigt die Gefahr, dass ich das tatsächlich tue«). 4 Gedanken-Handlungs-Fusion (moralisch): Hier werden Gedanken und Handlungen moralisch gleichgesetzt (»Jemanden in Gedanken zu beleidigen ist genauso schlimm, wie es tatsächlich zu tun«). Weitere Gedankenfusionen können sein (Purdon u. Clark 1999; Wells 2000): 4 Gedanken-Ereignis-Fusion: Die Betroffenen glauben, etwas zu denken bewirke eine tatsächliche Veränderung (»Wenn ich daran denke, dass meine Eltern einen Unfall haben könnten, steigt die Gefahr, dass sie tatsächlich einen Unfall haben«). 4 Gedanken-Absichts-Fusion/Gedanken-Persönlichkeits-Fusion: Die Betroffenen glauben, die Gedanken verrieten die eigentlichen Absichten oder Persönlichkeitszüge (»Wenn ich daran denke, Sex mit Opa zu haben, heißt das, dass ich das eigentlich will«). Das Erleben dieser Gedanken wird entsprechend unangenehm erlebt, denn schon allein der Gedanke impliziert Gefahr. Ein häufiger Lösungsversuch der Zwangspatienten besteht darin, diese Gedanken gar nicht erst zu denken oder sie zu unterdrücken. Diese Versuche schlagen in der Regel fehl: Zum einen fokussiert man in dem Versuch, diese Ge-
danken gar nicht erst zu denken, seine Aufmerksamkeit bereits auf diese Gedanken, so dass sie erst recht gedacht werden müssen. Zum anderen konnte experimentell mehrfach nachgewiesen werden (Purdon 2004), dass Gedankenunterdrückung eher zu einer Zunahme der Gedanken führt (»Rebound-Effekt«). Diese mentalen Rituale führen ebenso wie offen ausgeführte Zwangshandlungen zu einer kurzfristigen Entlastung, im Sinne der negativen Verstärkung (Vermeidungslernen) jedoch zu einer Zunahme der Rituale. Den Fehlschlägen dieser Versuche, die Gedanken zu kontrollieren, wird in der Regel mit noch mehr Versuchen (»mehr desselben« im Sinne von Watzlawick et al. 1988) begegnet, so dass sich bald ein Teufelskreis entwickelt. Bei der Gedanken-Handlungs-Fusion wird zudem die Unfähigkeit, diesen Gedanken zu kontrollieren, häufig als weiterer Hinweis gedeutet, dass auch dem Handlungsimpuls nicht widerstanden werden könnte. Unklares oder dysfunktionales »Stopp-Signal«. Zwangspatienten verwenden häufig dysfunktionale Kriterien, nach denen sie die Rituale beenden dürfen: Viele Patienten geben an, das Ritual so lange durchführen zu müssen, bis der auslösende Gedanke abgeklungen ist. Um zu überprüfen, ob er tatsächlich abgeklungen ist, muss er gleichsam wieder gedacht werden, ist also wieder im Bewusstsein. Viele Patienten verwenden Gefühle als Indikator (emotionales Schlussfolgern): »Ich führe mein Ritual so lange aus, bis ich mich sicher/sauber fühle.« In dem Teufelskreis aus Zwangsgedanken und -handlungen sind sie jedoch so sehr verunsichert, dass sich ein Gefühl von Sicherheit und Sauberkeit nur schwerlich einstellt.
Die Stärke dieser metakognitiv-behavioralen Ansätze besteht darin, dass sie sich (»bottom-up«) aus empirischen Bebachtungen ableiten, dass sich aus ihnen überprüfbare Hypothesen ableiten (die sich zum großen Teil tatsächlich bestätigten) und wichtige Anregungen für die Therapie gewinnen ließen. Die Top-down-Übertragung dieser Ansätze auf Kinder und Jugendliche ist allerdings problematisch (Turner 2006) und – wie bereits von der Arbeitsgruppe um Paula Barrett (s. Exkurs) begonnen – empirisch zu überprüfen. Noch besser sind nach Turner Ansätze einzuschätzen, die sich direkt aus Beobachtungen an Kindern und Jugendlichen ableiteten.
Exkurs Farrell und Barrett (Farrell u. Barrett 2006) legten 34 Kindern (6–11 Jahre), 39 Jugendlichen (12–17 Jahre) und 38 Erwachsenen (18–66 Jahre) mit Zwangsstörungen verschiedene Fragebögen vor, um zwangstypische kognitive Filter und Prozesse zu überprüfen. Dabei stellte sich heraus, dass einige – aber nicht alle – kognitiven Faktoren altersabhängig waren. Zentrale kognitive Prozesse fanden sich überein6
stimmend in allen drei Altersgruppen: Gedanken-HandlungsFusion, Selbstzweifel und geringe (meta-)kognitive Kontrolle. Bei den Kindern fanden sich allerdings weniger intrusive Gedanken, die auch weniger stark und unkontrollierbar empfunden wurden als von den Jugendlichen und Erwachsenen. Im Jugendalter nahmen Verantwortungsüberschätzung, Risikoeinschätzung und Gedankenunterdrückung deutlich zu;
36
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Kapitel 36 · Zwangsstörung
die Angaben waren vergleichbar mit denen der Erwachsenen. Zudem fand sich ein leichter bis mäßiger statistischer Zusammenhang zwischen den genannten kognitiven Prozessen und dem Schweregrad der Zwangsstörung, der bei den Erwachsenen insgesamt höher war.
36.3.2 Neurobiologische Ansätze
Neurobiologische Studien (ausführliche Übersicht bei Wewetzer et al. 2008) beleuchten unterschiedliche Ebenen: Genetik. (Molekular-)genetische Studien verweisen darauf, dass etwa 50% der Betroffenen eine familiäre Belastung aufweisen. Insbesondere ein früher Erkrankungsbeginn (also im Kindes- und Jugendalter) scheint mit einer höheren genetischen Belastung einherzugehen. Neurochemie. Auf neurochemischer Ebene wurde aus dem Erfolg von Medikamenten, die die Serotoninwiederaufnahme hemmen, geschlossen, dass dem Serotoninsystem eine ursächliche Bedeutung in der Genese der Zwangsstörung beikommt. Die »Serotoninmangelhypothese« wird allerdings mittlerweile als zu reduktionistisch eingeschätzt.
36
Neuroanatomie und Neuroradiologie. Neuroanatomische und neuroradiologische Befunde verweisen auf eine gestörte Informationsverarbeitung in einem oder mehreren kortikostriatothalamokortikalen Kreisläufen. Die für die Zwangsstörung typischen intrusiven Gedanken werden mit einer Hyperaktivierung des orbitofrontalen Kortex (OFC) erklärt. Von dort werden Impulse über verschiedene Kerne der Basalganglien (z. B. Striatum) zum Thalamus geleitet, was entweder eine Freischaltung (direkter Pfad) oder eine Hemmung (indirekter Pfad) von Verhaltensprogrammen, die halbautomatisch in bestimmten Situationen aktiviert werden, bewirkt. Bei der Zwangsstörung werden Verhaltensprogramme, die sich auf Aggression, Hygiene und Sexualität beziehen, übermäßig aktiviert (direkter Pfad), ohne dass die situativen Bedingungen dafür vorliegen. Dadurch wird der OFC weiter hyperaktiviert und kann immer schlechter seiner Funktion, Verhaltensprogramme zu steuern, nachkommen. Das Verhalten verliert zunehmend seine Passung zum Kontext, die Patienten »sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr«. An erwachsenen Zwangspatienten konnte gezeigt werden, dass sich die gesteigerte Aktivität im OFC sowohl durch Pharmakotherapie (selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer, SSRI) als auch durch Verhaltenstherapie (Exposition mit Reaktionsverhinderung) vermindern ließ (Baxter et al. 1992). In einer Metaanalyse fanden sich über die untersuchten Studien hinweg Auffälligkeiten in OFC, Nucleus caudatus und Thalamus (Whiteside et al. 2004). Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass es sich dabei um Aktivierungsmuster han-
Die Ergebnisse der Studie verweisen darauf, dass das metakognitiv-behaviorale Modell für Erwachsene und Jugendliche recht gut, für Kinder mit Zwangsstörungen jedoch nur teilweise geeignet ist.
delt, die bei der Zwangsstörung beteiligt sind, ohne dass diese Aktivierungsmuster notwendig als pathologisch oder ursächlich für die Zwangsstörung einzuschätzen seien. Dass die erhobenen Befunde heterogen und teilweise widersprüchlich sind, führen Mataix-Cols et al. (2005) darauf zurück, dass zu wenig zwischen den einzelnen Subtypen (Waschen, Kontrollieren etc.) differenziert worden sei. Sie plädieren für ein multidimensionales Modell der Zwangsstörung. PANDAS Als PANDAS (»pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infections«) werden präpubertäre Zwangs- oder Ticstörungen mit plötzlichem und sehr heftigem Erkrankungsbeginn (oder Exazerbation) und teilweise episodischem Verlauf in Folge einer Streptokokkeninfektion bezeichnet. Das durchschnittliche Ersterkrankungsalter liegt hier bei etwa 7 Jahren und damit früher als bei der üblichen kindlichen Zwangsstörung. Typische Anzeichen für PANDAS sind: 4 plötzliches und dramatisches Einsetzen (oder Zunehmen) von Zwängen oder Tics, 4 Erkrankungsbeginn zwischen dem 3. Lebensjahr und der Pubertät, 4 episodischer Verlauf, 4 anamnestischer Zusammenhang des Symptomverlaufs mit einer typischen Streptokokkenerkrankung (z. B. Pharyngitis oder Scharlach) und ein positiver Antistreptolysintiter (mikrobiologische Untersuchung), 4 begleitende Stimmungs- und Verhaltensänderungen mit Reizbarkeit, Hyperaktivität, Schlafstörung und Trennungsangst. Erhöhte Streptokokkentiter sind allerdings in der Normalbevölkerung weit verbreitet, sie allein beweisen noch nicht das Vorliegen einer PANDAS bei einer bekannten Zwangs- oder Ticerkrankung. Daher sind in jedem Fall die oben genannten Anzeichen zu berücksichtigen und eine Wiederholung der mikrobiologischen Untersuchung durchzuführen. Bei der Behandlung einer PANDAS-Erkrankung empfiehlt sich neben der kognitiv-verhaltenstherapeutischen (Storch et al. 2004) eine antibiotische Therapie mit langfristiger Prophylaxe (Snider et al. 2005).
635 36.4 · Diagnostik
Neuropsychologie. Neuropsychologische Untersuchungen fanden Hinweise auf Störungen in den Exekutivfunktionen (Greisberg u. McKay 2003) – insbesondere bei Aufgaben zur Reaktionsunterdrückung. Plausibel wäre es, zu therapeutischen Zwecken diese Defizite zu kompensieren. Untersuchungen dazu liegen bislang allerdings nicht vor. Gedächtnisdefizite wie man sie beispielsweise bei Kontrollzwängen hätte vermuten können (»Habe ich wirklich den Herd ausgemacht?«), ließen sich nicht durchgehend finden. Eher scheint es so zu sein, dass Zwangspatienten weniger ihrem Gedächtnis vertrauen – und dass wiederholtes Kontrollieren das Vertrauen in das eigene Gedächtnis weiter unterminiert (Radomsky et al. 2006). > Fazit Insgesamt gilt sowohl für die neurobiologischen als auch die metakognitiv-behavioralen Befunde und Modelle, dass alle gefundenen Zusammenhänge korrelativer Natur sind und nicht ohne Weiteres kausal interpretiert werden dürfen. Einiges spricht dafür, dass sich die gefundenen neurobiologischen Korrelate erst im Verlauf der Zwangsstörung herausbilden. Zudem gibt es Hinweise, dass sich diese neurobiologischen Aktivierungsmuster durch erfolgreiche Psychotherapie und Pharmakotherapie verändern lassen.
36.4
Diagnostik
Eine umfassende klinisch-psychologische bzw. kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik umfasst einen ausführlichen psychopathologischen Befund, Eigen- und Familienanamnese, einen körperlich-neurologischen und einen testpsychologischen Befund. Insbesondere bei Kindern mit plötzlichem und heftigem Erkrankungsbeginn sollte anhand von Laboruntersuchungen (Antikörper gegen Streptokokken) eine PANDAS-Erkrankung überprüft werden. Child Behavior Checklist (CBCL). Als Breitband- und Screeningverfahren empfiehlt sich die Child Behavior Checklist (CBCL). Die Symptom-Items werden mit 0 (»nicht zutreffend«), 1 (»etwas/manchmal«) oder 2 (»genau/häufig zutreffend«) gewertet. In jüngerer Zeit wurden einige Studien (Hudziak et al. 2006) veröffentlicht, die aus der Skala »schizoid/zwanghaft« (11 Items) eine Subskala Zwangsstörung aus folgenden acht Items bildeten: 4 »Kommt von bestimmten Gedanken nicht los« (Item 9) 4 »Befürchtet, er/sie könnte etwas Schlimmes denken oder tun« (Item 31) 4 »Glaubt, perfekt sein zu müssen« (Item 32) 4 »Hat starke Schuldgefühle« (Item 52) 4 »Wiederholt bestimmte Handlungen immer wieder (wie unter Zwang)« (Item 66) 4 »Verhält sich eigenartig« (Item 84)
4 »Hat seltsame Gedanken/Ideen« (Item 85) 4 »Macht sich Sorgen« (Item 112) Ein kritischer Wert von 5 gilt dabei als hochsensibler und hinlänglich spezifischer Hinweis für das Vorliegen einer Zwangsstörung. Children’s Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (CYBOCS). Die Children’s Yale-Brown Obsessive Compulsive
Scale (CY-BOCS) ist das international am weitesten verbreitete Diagnostikum für Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (Scahill et al. 1997). Der erste Teil ist eine Checkliste für Zwangsgedanken und -handlungen, im zweiten Teil werden auf einer fünfstufigen Skala jeweils für Zwangsgedanken und -handlungen der Zeitaufwand, der Grad der Beeinträchtigung, Leidensdruck, Resistenz gegen die Gedanken respektive Handlungen und der Grad der Kontrolle darüber erfragt. Der ermittelte Gesamtwert liegt zwischen 0 und 40 mit folgender Schweregradzuordnung: 4 leichte Zwangsstörung (10–18), 4 mittelgradige Zwangsstörung (19–29), 4 schwere Zwangsstörung (30 und höher). Zusätzlich werden Krankheitseinsicht, Vermeidungsverhalten, Entscheidungsunfähigkeit, übersteigertes Verantwortungsgefühl, zwanghafte Langsamkeit und pathologisches Zweifeln eingeschätzt, im Gesamtwert der CYBOCS jedoch nicht berücksichtigt.
36.4.1 Exploration und Verhaltensanalyse
Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen schämen sich häufig für ihre Symptome. In der Diagnostik ist entsprechend zu berücksichtigen, dass die Betroffenen im Erstgespräch nicht unbedingt alle Symptome offenbaren. Eine transparente und normalisierende Gesprächsführung (7 Abschn. 36.5.2) kann hier hilfreich sein. Spontan werden meist die offensichtlichen Zwangshandlungen des Kindes/Jugendlichen berichtet. Zur Erstellung der Verhaltensanalyse sollte konkret eine typische oder die letzte Episode der Symptomatik erfragt werden. Die folgende . Tab. 36.1 gibt eine Übersicht über die Aspekte, die zur Verhaltensanalyse und zur Entwicklung eines gemeinsamen Störungsmodells wichtig sind; diese werden exemplarisch am Beispiel eines Waschzwanges verdeutlicht. Lösungsanalyse. Erfragt wird, woran Kind und Eltern merken werden, dass der Zwang überwunden ist. Es ist konkret nachzufragen, wer dann was wie genau tun wird. Wenn an dieser Stelle nur wenig konkrete Vorstellungen genannt werden, ist zu prüfen, ob der Zwang (im systemischen Sinne) familiäre Beziehungsmuster stabilisiert und aufrechterhält. In der Therapie sollten diese dann thematisiert
36
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Kapitel 36 · Zwangsstörung
. Tab. 36.1. Verhaltensanalyse Elemente der Verhaltensanalyse
Beispiele
Auslöser
»Was muss passieren, damit du dir die Hände waschen musst?«
Zwangsgedanken
»Was denkst du, wenn du eine Türklinke angefasst hast?«
Metakognitive Bewertung des Zwangsgedankens
»Und wenn du denkst, […], was bedeutet das dann?« »Könnte was Schlimmes passieren, wenn du diesen Gedanken hast?« »Wie sehr glaubst du, dass dieser Gedanke Sinn macht? Wie sehr glaubst du das jetzt? Wie sehr glaubst du das in dem Moment, wenn du etwas Schmutziges angefasst hast?«
Zwangsritual und Vermeidung
»Und wenn du denkst […], was musst du dann tun?« »Was darfst du auf keinen Fall tun, wenn du den Gedanken hast?«
Metakognitionen zum Ritual
»Wie sehr bist du davon überzeugt, dass es dann sinnvoll ist, dass du dir die Hände wäschst?« »Wenn du dir dann nicht die Hände waschen würdest, was würde dann deiner Meinung nach passieren?« »Wie geht es dir, wenn du dir die Hände wäschst? Wie danach?«
»Stopp-Signal« und Aufmerksamkeitsfokussierung
»Was sagt dir, dass dein Ritual funktioniert?« »Woher weißt du, dass du dir lange genug die Hände gewaschen hast?« »Wie sicher bist du dir dann, dass du dir dann nicht mehr die Hände waschen musst? Wie lange?« »Was geht dir durch den Kopf, nachdem du dir die Hände gewaschen hast?«
und modifiziert werden. Wenn das Kind bzw. der Jugendliche selbst kaum Ideen hat, wie sein Leben ohne Zwang aussähe, ist zu überprüfen, welche weiteren Faktoren (z. B. Vermeidung von Langeweile oder sozialen Kontakten bei geringen sozialen Kompetenzen) die Zwänge negativ verstärken könnten. Diese sind in der Ziel- und Therapieplanung zu berücksichtigen (z. B. Förderung sozialer Kompetenzen).
36.4.2 Verhaltensbeobachtung
Manche Zwänge, insbesondere Waschzwänge, lassen sich bereits schon im Erstkontakt beobachten. So kann es vorkommen, dass der Patient zögert (oder sich weigert), dem Untersucher die Hand zu geben, die Türklinke herunterzudrücken oder Fragebögen anzunehmen, die der Untersucher angefasst hat. Verhaltenstests bestehen darin, zunächst die Symptome zu provozieren (z. B. Kontamination, Türe offen stehen lassen, Gegenstände unordentlich platzieren) und dann zu beobachten, wie sehr und auf welche Weise der Patient Dinge vermeidet oder mit Hilfe eines Rituals versucht ungeschehen zu machen.
36.5
36
Therapeutisches Vorgehen
36.5.1 Übersicht
Eine wirksame Therapie der Zwangsstörung beinhaltet Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie, insbesondere Exposition mit Reaktionsverhinderung, und gegebenenfalls eine zusätzliche Pharmakotherapie. In dem ersten Therapiemanual für Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen verknüpften March und Mulle (1998) Exposition mit Reaktionsverhinderung mit kognitiven und familien-
bezogenen Interventionen, Angstmanagement (z. B. Entspannung) und Elementen der narrativen Therapie nach White und Epston (1990). Exposition beinhaltet die Konfrontation mit den Auslösern der Zwangshandlungen, also beispielsweise das Berühren von kontaminierten Gegenständen oder das absichtliche Denken der Zwangsgedanken, so dass es in aller Regel zu einer heftigen Zunahme von Angst und Unsicherheit kommt (7 Abschn. 36.5.4). Die Ausführung des Rituals soll dabei unterlassen werden (Reaktions- bzw. Ritualverhinderung). Auch andere neutralisierende oder angstreduzierende Maßnahmen wie Ablenkung oder Entspannungstechniken sollten unterbleiben, damit die Patienten die Erfahrung machen, dass die Angst von selbst nachlässt (Habituation). ! Ein Vorgehen, das Exposition und Reaktionsverhinderung kombiniert, ist einer alleinigen Exposition und einer alleinigen Reaktionsbehinderung überlegen (Foa et al. 1984).
Die Dauer der Expositionsübung hängt von der Stärke des Angsterlebens ab. Sie sollte erst nach deutlicher Angstreduktion beendet werden. Bei vorzeitiger Beendigung besteht die Gefahr, den Patienten für die Ängste zu sensibilisieren und seine Vermeidung zu fördern. Die Exposition kann massiert durchgeführt werden, indem auf der höchsten Schwierigkeitsstufe begonnen wird (Reizüberflutung, Flooding). Weil die meisten jungen Zwangspatienten sich damit überfordert sehen, wird in der Regel bei einem mittleren Schwierigkeitsgrad begonnen, um dann sukzessive die nächstschweren Herausforderungen zu meistern (graduierte oder gestufte Exposition). Ebenso kann die Reaktionsverhinderung gestuft durchgeführt werden. So können die Rituale ganz unterlassen oder auch nur zeitlich verschoben oder hinsichtlich ihres Ablaufs verändert werden.
637 36.5 · Therapeutisches Vorgehen
In diesem Abschnitt steht die Exposition mit Reaktionsverhinderung im Mittelpunkt, während Angstmanagement als verzichtbar eingeschätzt und folgerichtig nicht weiter ausgeführt wird. Die hier dargestellten narrativen und (meta-) kognitiven Techniken (7 Abschn. 37.5.5 und 37.5.6) gehen deutlich über die von March und Mulle (1998) vorgestellten hinaus. Sie spielen bereits in der Psychoedukation eine große Rolle. Metakognitive Interventionen verhelfen insbesondere jugendlichen Patienten zu einem besseren Verständnis der Störung. Narrative Techniken fördern die Ich-Dystonie, die gerade bei Kindern nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. Zudem unterstützen sie die Veränderungsmotivation. Zwangsstörungen gehen mit einer Aktivierung des »Vermeidungssystems« (Grawe 2004) einher, während in der Expositionstherapie das »Annäherungssystem« gestärkt werden soll. Dazu bedarf es allerdings eines hohen motivationalen Anreizes. Narrative Techniken helfen, dem Zwang mit Humor und »Angriffslust« proaktiv zu begegnen.
36.5.2 Beziehungsgestaltung
Kinder und Jugendliche sind aufgrund ihrer Zwänge häufig sehr verunsichert und beschämt. Therapeuten sollten sich zu Beginn der Therapie und im weiteren Verlauf um eine freundlich-wertschätzende, akzeptierende und humorvolle Atmosphäre bemühen. Unbedingt notwendig ist ein sehr transparentes Vorgehen, das dem Patienten ein hohes Maß an Kontrolle über den therapeutischen Prozess überlässt. So erklärt der Therapeut auf verständliche Art, warum er etwas fragt oder empfiehlt. Ferner macht er deutlich, dass er das Kind zu nichts zwingen wird, wozu es nicht bereit ist. Scham bezüglich »peinlicher Gedanken« kann vorweggenommen und normalisiert werden.
Beispiel »Du hast gesagt, dass du Gedanken hast, die dir so peinlich sind, dass du sie gar nicht erzählen kannst. Neulich war ein Mädchen bei mir, die hat sich auch für ihre Gedanken geschämt. Weißt du, was für Gedanken sie hatte? Sie musste immer daran denken, Sex mit ihrem Vater zu haben. Kannst du verstehen, dass ihr das peinlich war? Sie hat befürchtet, dass ich entsetzt bin, so was zu hören. Ehrlich gesagt, ich höre so etwas häufiger. Aber es hat sie ganz schön Überwindung und Mut gekostet, mir davon zu erzählen. Wie viel Mut brauchst du?«
Der Therapeut bemüht sich darum, weniger direktive Vorgaben zu machen als vielmehr so zu fragen, dass die Patienten selbst auf die Lösung kommen (geleitetes Entdecken). Quasi als »vertrauensbildende Maßnahme« wird Vertrauen nicht vorausgesetzt, sondern »erarbeitet«: »Du
musst mir nichts glauben, sondern du kannst selbst herausfinden, ob da was dran ist oder nicht.«
36.5.3 Psychoedukation und Aufbau von
Veränderungsmotivation Vor der eigentlichen Therapie wird mit den jungen Patienten und den Eltern ein gemeinsames Störungsmodell entwickelt, um daraus das Therapiemodell abzuleiten. Das oben beschriebene metakognitiv-behaviorale Erklärungsmodell bietet viele Möglichkeiten, die verschiedenen beteiligten Prozesse normalpsychologisch zu erklären (z. B. selektive Aufmerksamkeit, Gedankenunterdrückung). Im Sinne der narrativen Therapie werden Zwangsgedanken externalisiert als »Befehle« des Zwangs (z. B.: »Der Zwang will, dass du dir die Hände wäschst«). Zwangshandlungen sind demnach die Dinge, die der Patient tut, »weil der Zwang es so will«. Sie helfen kurzfristig dabei, dass das Drängen des Zwangs nachlässt, ermutigen ihn andererseits dazu, auch zukünftig Befehle zu geben. Metaphorische Beschreibungen sollen das Verständnis für Zwangsgedanken und -handlungen verbessern und zur Normalisierung der verschiedenen Symptome beitragen.
Brauchbare Metaphern für Zwangsgedanken betonen die Aspekte des unwillkürlichen (ungewollten) und des intrusiven (aufdringlichen) Erlebens und damit einhergehende Ängste: 4 »Gedanken-Schluckauf«, 4 ungebetene Besuche, Telefonanrufe oder »SpamMails«, 4 Überredungsversuche einer lästigen Versicherungsvertreters (»Wir verkaufen absolute Sicherheit«), 4 Erpressungsversuche eines älteren Jugendlichen (»Entweder du tust, was ich dir sage, oder es geht dir schlecht!«).
Zwangshandlungen lassen sich zunächst als Lösungsversuche normalisieren und validieren, um dann jedoch auch den »hohen Preis« dieser Lösungsversuche herauszuarbeiten:
Beispiel »Ist es nicht verständlich, dass du dem Erpresser gibst, was er will? Das Problem ist, dass er wahrscheinlich wiederkommt und mehr will.« »Das ist aber auch schwierig, mit einem Versicherungsvertreter zu diskutieren. Der ist einfach zu gut vorbereitet und weiß sofort, was er dir antworten kann. Denkst du, du könntest eine Diskussion mit ihm gewinnen? Was könntest du stattdessen tun?«
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Kapitel 36 · Zwangsstörung
Gemeinsam mit dem Kind/Jugendlichen werden geeignete (metaphorische) Beschreibungen für den Zwang entwickelt. Jüngere Kinder sind häufig leicht dazu zu motivieren, »den Zwang« zu malen, beispielsweise als Tier, Monster oder Außerirdischen. Mit Hilfe der genannten Techniken soll die Vermeidungsmotivation (Angst vor…) transformiert werden in eine Annäherungsmotivation: Die »Befehle des Zwangs« sollen zunehmend als »unverschämte Einmischung« in die Autonomie des Patienten gedeutet werden, worauf mit Wut und Gegenangriff reagiert werden soll. Typische Aussagen unserer Patienten sind: 4 »Ich lasse mir nicht länger gefallen, dass der Zwang mir Vorschriften macht.« 4 »Ich streike! Für den tue ich nichts mehr!«
Beispiel Der oben erwähnte Jugendliche, der Angst hatte, für homosexuell gehalten zu werden, nahm im Rahmen der stationären Behandlung eines Tages seinen gesamten Mut zusammen, lief über die Station und rief dabei laut: »Ich bin schwul, ich bin schwul.«
Die ersten Übungen sollten in Gegenwart des Therapeuten durchgeführt werden. Schrittweise gehen sie in Form von »Hausaufgaben« in die Regie des Kindes/Jugendlichen über. Diese werden am Ende der Therapiestunde geplant:
Beispiel
Auf die Frage des Therapeuten, wie der Zwang am besten geärgert werden könnte, wissen die meisten Patienten von sich aus die Grundzüge der Exposition mit Reaktionsverhinderung zu erklären: »Ich tue einfach das Gegenteil von dem, was der Zwang will.« Für die Therapiemotivation ist es sehr förderlich, wenn die Patienten nicht den Vorschlägen des Therapeuten nachkommen müssen, sondern selbst die Idee entwickeln, was sie tun müssen, und damit eigenen Zielen folgen (Selbstwirksamkeitserleben).
36.5.4 Exposition mit Reaktionsverhinderung
Zunächst wird eine Hierarchie erarbeitet, wie belastend die einzelnen Zwangsgedanken bzw. wie schwierig die Zwangshandlungen zu unterlassen sind. Diese werden auf einer Schweregradskala (z. B. Angstthermometer) von 0 bis 100 verortet. Anschließend wird mit dem Kind/Jugendlichen überlegt, welche Aufgabe er sich zutraut. Danach wird wie in einer Regieanweisung genau durchgesprochen, wie die Expositionsübung auszusehen hat. Dies lässt sich teilweise mit einem Verstärkerentzugsprogramm (Wettkampf mit dem Zwang) kombinieren, bei dem Patient und Zwang »gegeneinander spielen«. Beispiele dafür gibt . Tab. 36.2.
»Wie genau wirst du den Zwang in der kommenden Woche ärgern? Was genau wirst du dann tun? – Was schätzt du, wie darauf der Zwang reagiert? Wie könnte er versuchen, dich zu überreden, das zu tun, was er will? – Was wirst du ihm dann entgegnen?«
Zu Beginn der nächsten Therapiestunde werden die Hausaufgaben besprochen. Für jeden Fortschritt wird der Patient intensiv gelobt. Für Rückschritte und ausbleibende Fortschritte übernimmt zunächst der Therapeut die Verantwortung, bittet dann den Patienten jedoch um aktive Unterstützung:
Beispiel »Das hat nicht geklappt, was wir uns überlegt haben? – Dann lass uns überlegen, was ich falsch gemacht habe. Was habe ich übersehen? … Damit es das nächste Mal klappt, brauche ich deine Hilfe: Was genau würdest du dir für die nächste Woche zutrauen? Was könnte dabei schief gehen? Was kannst du tun, damit es nicht schief geht?«
. Tab. 36.2. Exposition mit Reaktionsverhinderung
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Zwang
Exposition
Reaktionsverhinderung
Waschen
Ich fasse einen schmutzigen Lappen an. Therapeut und Patient sitzen während der Sitzung auf dem Zimmerboden.
Ich wasche mir so lange nicht die Hände, bis sich die Angst halbiert hat.
Kontrollieren der Hausaufgaben
Ich mache meine Hausaufgaben in einem Durchgang. (Variante: Ich baue zusätzlich absichtlich einen kleinen Fehler ein.)
Ich weigere mich, die Hausaufgaben zu kontrollieren. Wettkampf: Ich spiele mit dem Zwang um drei Punkte. Jedes Mal, wenn ich kontrolliere, erhält er einen Punkt. Die restlichen gehören mir.
Zwangsgedanken
Ich führe die Gedanken absichtlich herbei. Ich spreche die Gedanken auf ein Tonband (CD etc.) und höre sie mir immer wieder an.
Ich konzentriere mich voll auf diese Gedanken. Ich lenke mich nicht ab.
639 36.5 · Therapeutisches Vorgehen
. Tab. 36.3. Metakognitive Therapie Metakognition
Metakognitive Intervention
Gedanken-Handlungs-Fusion, z. B.: »Wenn ich denke, ich könnte meine Schwester abstechen, dann tue ich das wirklich.«
»Was denkst du, wie genau deine Gedanken dazu führen könnten, dass du das tust?« »Hast du schon mal etwas gedacht, ohne dass du es in die Tat umgesetzt hast?« Experiment: »Denke intensiv daran, auf meine Hand zu schlagen!« – [nichts passiert] – »Jetzt schlage auf meine Hand!« [Jugendliche schlägt auf die Hand] – »Wie kommt es, dass du beim zweiten Mal geschlagen hast, beim ersten Mal aber nicht?« – Jugendliche: »Beim zweiten Mal habe ich mich dazu entschieden.«
Gedanken-Absichts-Fusion: »Wenn ich denke, dass ich mit Papa Sex habe, heißt das, dass ich das eigentlich will.«
Metakognitive Umstrukturierung: »Machst du dir manchmal Sorgen, eine 5 zu schreiben? Heißt das, dass du eigentlich eine 5 haben willst?« Vermittele, dass Gedanken nicht nur etwas über Absichten, sondern auch über das Wertesystem verraten: Nur religiöse Menschen können unter blasphemischen Zwangsgedanken leiden.
Sicherheitsstreben: »Ich muss 100% sicher sein, dass nichts passiert, wenn ich nicht kontrolliere. Können Sie mir das nicht versprechen?«
Führe das übertriebene Sicherheitsstreben ad absurdum: »Kannst du mir zu 100% versprechen, dass mir heute nichts auf dem Heimweg passieren wird?« »Wie geht es deiner Schwester? Gut? Wann hast du sie zuletzt gesehen. Heute morgen? Und wie kannst du 100% sicher sein, dass es ihr jetzt gut geht?« »Ich verspreche dir, dass nichts passieren wird – wenn du mir versprichst, dass du bis Weihnachten kein weiteres Versprechen brauchst.«
36.5.5 Metakognitive Interventionen
Traditionell zielen kognitive Interventionen darauf ab, den Inhalt von Gedanken zu verändern oder Risikowahrscheinlichkeiten zu überprüfen. Dies erweist sich bei Zwangsstörungen jedoch selten als sinnvoll. Häufig haben Angehörige und die Patienten selbst sich schon wiederholt gesagt, dass die Gedanken eigentlich unsinnig sind oder die Risikowahrscheinlichkeit bei Unterlassung der Rituale äußerst gering ist. Als hilfreicher hat es sich erwiesen, nicht den Inhalt,
sondern – metakognitiv – die Interpretation dieser Gedanken und den Umgang mit diesen Gedanken (metakognitive Strategien/Prozesse) zu verändern (. Tab. 36.3). Paradoxe kognitive Interventionen. Anstatt den Patienten die Zwangsgedanken und -handlungen als unsinnig ausreden zu wollen, können paradoxe kognitive Interventionen hilfreich sein, um den Zwang ad absurdum zu führen. Dabei versucht man, die Logik des Zwangs quasi von innen heraus auszuhöhlen.
Beispiel Ein 14-Jähriger mit stark ausgeprägten Kontaminationsbefürchtungen hatte Angst, mit der Kleidung, die er in der Schule getragen hatte, den Schulschmutz nach Hause zu tragen. Folglich musste er sich umziehen, sobald er nach Hause gekommen war. In der Therapie wurde hinterfragt, ob es dem Zwang tatsächlich um Vermeidung von Schmutz gehen könne. Denn dann hätte er den Jugend-
Kognitive Defusion. Eine Technik aus der Akzeptanz- und Commitment Therapie (ACT) (Hayes et al. 1999), die kognitive Defusion (Masuda et al. 2004) zielt darauf ab, die Fusion von Gedanken und deren metakognitiver Bedeutung aufzuheben. Sie ist der kognitiven Exposition sehr ähnlich. Für viele Zwangspatienten sind bestimmte Gedanken und Begriffe mit unangenehmen Bedeutungen verknüpft. So assoziieren Patienten mit Waschzwang häufig den Begriff »Schmutz« mit »Gefahr«. Zudem setzen sie häufig Gedanken mit Handlungen, Ereignissen oder Absichten gleich (Gedanken-Fusionen). Durch Übungen der kognitiven Defusion sollen diese Verknüpfungen und Fusionen aufgelöst oder zumindest reduziert werden, wie das folgende Beispiel illustriert:
lichen auch dazu zwingen müssen, die anderen Familienmitglieder dazu zu bringen, ihre Kleidung wechseln, sobald sie das Haus betraten. Dies tat der Zwang aber offensichtlich nicht. Der Jugendliche zog daraus den Schluss, dass es dem Zwang nicht um Schmutz, sondern um reine »Selbsterhaltung« und Macht über den Jugendlichen ging. Dies weckte bei ihm neuerlich Widerstand gegen den Zwang.
Beispiel Therapeut:
Patient: Therapeut: Patient: Therapeut:
6
Ich möchte mit dir ein kleines Experiment machen. Was fällt dir beim Wort »Milch« ein? Hmm, da denke ich an »Kuh«, »weiß«, »trinken«, »gesund«, »Müsli«, »Schokolade«… Noch mehr? »lecker«, »kalt«, »Eiweiß«… Ich sehe, beim Wort »Milch« fällt dir eine ganze Menge ein. – Lass uns ein kleines Experiment versuchen. Ich möchte, dass
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Kapitel 36 · Zwangsstörung
du für eine Minute ganz schnell und laut das Wort »Milch« wiederholst. Patient: Milch, Milch, Milch,… Therapeut (nach einer Minute): Okay, das reicht. Woran denkst du jetzt beim Wort »Milch«? Patient: Milch, eben Milch. Therapeut: Was ist mit den anderen Gedanken zu »Milch«? Patient: Die sind weg. Es ist nur noch ein Wort. Therapeut: Es ist nur noch ein Wort, das ist interessant. Dann möchte ich dir ein weiteres Experiment vorschlagen. Könntest du die Übung wiederholen, aber diesmal mit einem Wort, das dich belastet? [Wenn der Patient dazu bereit ist, wiederholt er ein – oder mehrere – Worte, die für seinen Zwang von besonderer Bedeutung sind – »Schmutz«, »Türe offen«, »Hitler«, »Sex mit Papa«…]
Veränderung metakognitiver Strategien. Zwangspatienten neigen dazu, zwangsassoziierte Gedanken und externe Auslöser zu vermeiden. Damit fokussieren sie ihre Aufmerksamkeit jedoch gerade auf das zu Vermeidende, sie sind quasi »ständig auf der Hut«. Bei jugendlichen Patienten finden sich zudem gehäuft Versuche, Zwangsgedanken zu unterdrücken. Hier eignen sich Gedankenunterdrückungsexperimente, um den Gedanken-Rebound zu illustrieren.
Beispiel »Bitte versuche für eine Minute nicht daran zu denken, dass auf meinem Kopf ein rosa Kaninchen sitzt! – Woran denkst du jetzt? Weißt du noch, woran du nicht denken sollst? – Wie kommt es, dass dir das nicht gelingt? Hast du dich nicht genug angestrengt?«
Dass die Kontrolle unliebsamer Gedanken in der Regel nicht funktioniert, lässt sich durch eine ebenfalls aus der Akzeptanz- und Commitment-Therapie adaptierte Intervention demonstrieren.
Beipiel »Man kann auf unterschiedliche Arten mit Zwangsgedanken umgehen. Ich schreibe auf dieses Blatt ›Zwangsgedanke‹. (Therapeut faltet das Blatt dreimal). Jetzt überprüfen wir verschiedene Möglichkeiten, damit umzugehen. Eine Möglichkeit ist, den Gedanken auszuweichen, wenn sie angeflogen kommen. (Der Therapeut bewirft den Patienten mit dem gefalteten Zettel, der Patient versucht auszuweichen. Der Patient lernt, dass er sich sehr auf diese Gedanken konzentrieren muss, um ihnen auszuweichen.) Eine andere Möglichkeit ist, wenn die Gedanken schon mal da sind, dass man sie wegdrückt. Lass uns das auch
36.5.6 Narrativ-metakognitve Rollenspiele
36
Wenn es Kindern und Jugendlichen schwerfällt, dem Zwang zu widerstehen (beispielsweise bei geringer Ich-Dystonie), bieten sich narrativ-metakognitive Rollenspiele an. Dabei spielt der Therapeut als Advocatus diaboli den Zwang und versucht den Patienten zu Zwangshandlungen überreden. Er tut dies offensichtlich humorvoll übertreibend (z. B.: »Du bist doch mein bester Freund. Dann wasch dir bitte die Hände!«), um das Kind herauszufordern, dagegenzuhalten. Es ist allerdings damit zu rechnen, dass der Patient sich dabei zu sehr auf Diskussionen einlässt und emotional er-
einmal ausprobieren. (Therapeut und Patient drücken ihre Hände gegeneinander, zwischen denen sich der Zettel befindet. Auch hier macht der Patient die Erfahrung, dass es all seine Energie braucht, um gegen den Gedanken zu kämpfen.) Eine letzte Möglichkeit ist, dass du den Gedanken einfach annimmst (der Therapeut legt dem Patienten den Zettel in die offene Hand). Wie fühlt sich das jetzt an? Behalte den Zettel noch eine Weile in der Hand, ich frage dich nachher noch einmal, wie sich das anfühlt.« – Der Patient macht hierbei die Erfahrung, dass es leichter ist, den Gedanken zu haben als ihn zu bekämpfen.
regt ist (z. B. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass meine Hände sauber sind. Wie oft soll ich dir das noch sagen?«). In diesen Fällen bietet sich ein Rollentausch an, bei dem der Therapeut in der Rolle des Patienten einen anderen Umgang mit dem Zwang demonstriert (Modelllernen). Zu beachten ist dabei, 4 dass der Zwang auf der inhaltlich-kognitiven Ebene (z. B. Thema »Schmutz«) »Heimspiel« hat und daher nur metakognitiv zu schlagen ist 4 dass der Zwang darin frustriert werden muss, die Gefühle des Patienten zu beeinflussen.
641 36.6 · Fallbeispiel: »Mr. Bean macht es richtig falsch«
Beispiel Wasch dir gefälligst die Hände! Ach, du möchtest, dass ich mir die Hände wasche? Zwang: Ja, los, mach schon. Therapeut: Geht’s dir dann besser? Zwang: Ja, und dir auch. Also los! Therapeut: Netter Versuch, Zwang. Aber wenn es dir gut geht, geht es mir schlecht. Also: Pech gehabt, ich mach das nicht. Zwang: Aber deine Hände sind schmutzig. Was da alles passieren kann … Therapeut: Na, erzählst du wieder Horrorgeschichten? Wird dir das nicht langsam langweilig? Zwang: Deine Hände sind dreckig! Therapeut (demonstrativ gähnend): Sonst noch was?
helfen), ist dies im Sinne der narrativen Therapie wie folgt zu interpretieren:
Zwang: Therapeut:
Anschließend werden die Rollen erneut getauscht, und das Kind versucht nun, das Gelernte im Dialog mit dem Zwang umzusetzen.
36.5.7 Familienbezogene Interventionen
Häufig sind Angehörige in die Zwangssymptomatik mit involviert, sei es, dass sie unter den Folgen der Zwänge des Familienmitgliedes leiden, sei es, dass sie aktiv in die Zwänge eingebunden sind (familiäre Akkomodation) oder den Patienten durch kritische und abwertende Äußerungen zusätzlich verunsichern. Je jünger die Zwangspatienten sind und je mehr Familienmitglieder durch die Symptomatik belastet und in sie eingebunden sind, desto intensiver sind familienbezogene Interventionen angezeigt. Zunächst sind die Eltern – gegebenenfalls auch weitere Familienmitglieder – über die Störung aufzuklären (Psychoedukation). Unbedingt ist dabei zu betonen, dass weder die Eltern noch das zwangskranke Kind an der Erkrankung schuld sind. Ferner werden die Reaktionen der Familienmitglieder auf die Zwänge des Kindes und die Auswirkungen dieser Reaktionen exploriert. Überprüft wird dabei, ob diese Reaktionen die Zwänge positiv (z. B. durch vermehrte Zuwendung) oder negativ (durch Förderung von Vermeidungsverhalten) verstärken. Entsprechend werden die Familienmitglieder instruiert, Zwangshandlungen weniger zu beachten, und angemessenes Verhalten (im Sinne von Exposition mit Reaktionsverhinderung) positiv zu verstärken (differenzielle Verstärkung). Insbesondere bei jüngeren Kindern bieten sich Methoden des Kontingenzmanagements an, um das Kind zu seinen therapeutischen Fortschritten zu motivieren. Wenn Familienmitglieder in die kindlichen Rituale mit eingebunden sind (z. B. dadurch, dass sie ausreichend Waschmittel zur Verfügung stellen oder beim Kontrollieren
Beispiel »Sie tun dies, weil der Zwang das von Ihnen will. Wie könnten Sie dem Zwang klar machen, dass Sie nicht mehr länger ihm, sondern ihrem Kind helfen?«
36.5.8 Pharmakotherapie
Eine zusätzliche Pharmakotherapie ist indiziert bei unzureichender Wirkung der Psychotherapie oder wenn sehr hohes Arousal bei dem Kind/Jugendlichen eine alleinige verhaltenstherapeutische Behandlung unmöglich macht. Empfohlene Medikamente sind Antidepressiva, die auf das Serotoninsystem wirken (Serotoninwiederaufnahmehemmer, SRI). Im Vergleich zum SRI Clomipramin werden selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) besser vertragen, wenngleich ihre Wirkung auf die Zwangsstörung etwas schwächer sein könnte (March 2004). SSRI sind daher die Medikamente der ersten Wahl. Bislang ist in Deutschland allein das SSRI Fluvoxamin (Fevarin) zur Behandlung von Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen zugelassen. Andere SSRI können im Rahmen eines individuellen Heilversuchs eingesetzt werden, dies erfordert jedoch eine gute Aufklärung und das schriftliche Einverständnis der Patienten und Sorgeberechtigten.
36.6
Fallbeispiel: »Mr. Bean macht es richtig falsch«
Vorstellungsanlass und Vorgeschichte Lisa wurde mit 8 Jahren wegen multipler Zwänge und Trennungsängste von ihren Eltern in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz vorgestellt. Die Zwänge bestanden neben übermäßig langem und ritualisiertem Zähneputzen in zwanghaftem symmetrischem Ordnen, Sortieren und Kontrollieren. Ihre Stoffpuppen musste sie abends lange (etwa 30 Minuten) auf eine vorgeschriebene Art und Weise anordnen. Dinge, die auf dem Zimmerboden lagen, mussten genauso liegen bleiben. Ihren Schreibtisch musste sie jeden Tag ausführlich aufräumen. Ihre Schultasche musste sie wiederholt auf Vollständigkeit kontrollieren, danach musste sie sie auf eine ganz bestimmte Weise an einen bestimmten Ort stellen. Die Stifte in ihrem Federmäppchen mussten farblich sortiert sein. Ihre Matratze, die wegen der Trennungsängste neben dem Elternbett lag, musste eine ganz bestimmte Position einnehmen. Die Frühstücksteller mussten ebenfalls eine festgelegte Position haben. Ihre Strümpfe musste sie auf ganz bestimmte Weise anziehen. Lisa brauchte allein für die abendlichen Rituale etwa 2 Stun-
36
642
Kapitel 36 · Zwangsstörung
den. Sie zeigte sich zunehmend verzweifelt über diese Rituale: Einerseits müsse sie sie ausführen, weil das ihr Gewissen befehle, andererseits hasse sie sich zunehmend deswegen und wolle lieber sein wie die anderen Kinder. Die beschriebenen Symptome seien etwa ein halbes Jahr zuvor aufgefallen und nähmen stetig an Heftigkeit zu. Schon im Kleinkindalter seien beim Toilettengang spezielle Rituale aufgefallen, im Kindergartenalter habe sie sich oft vergewissern müssen, dass die Eltern noch da sind. Zwischenzeitlich habe sie sich geweigert, den Kindergarten zu besuchen.
Diagnostik Im Kontakt wirkte Lisa verunsichert, schnell irritierbar und sehr gequält. Die Diagnostik ergab durchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten und leichte Probleme in der motorischen Koordination. In der CBCL der Eltern ergab sich ein auffälliger Wert (8) auf der Subskala Zwänge (s. oben). In der CY-BOCS wurden Symmetrie- und Ordnungszwänge, Kontrollzwänge und zwanghaftes Zähneputzen ermittelt. Lisas eigene Angaben verwiesen auf eine mäßige Ausprägung der Zwänge (CY-BOCS: 18), allerdings wurden bei ihr ausgeprägte Tendenzen, die Symptome zu bagatellisieren, deutlich. Die Eltern schätzten die Zwänge als schwer ein (CY-BOCS: 26). Testdiagnostisch fanden sich keine Hinweise auf depressives Erleben oder Trennungsangst, wohl aber im klinischen Interview mit den Eltern. Neben der Zwangsstörung wurden daher eine emotionale Störung mit Trennungsangst, eine leichte depressive Episode und eine leichte motorische Koordinationsstörung diagnostiziert.
Behandlung
36
Über einen Zeitraum von 5 Monaten wurde eine narrativmetakognitive Verhaltenstherapie durchgeführt. Die insgesamt zehn Sitzungen wurden anfangs wöchentlich, am Ende in größeren Abständen durchgeführt. In der ersten Behandlungsstunde wurden Lisa und ihre Eltern über das Störungsbild und Therapiemöglichkeiten aufgeklärt. Der Zwang wurde dabei externalisiert. Darauf wurde diskutiert, was den Zwang stark macht, nämlich dass Lisa genau das tut, was der Zwang befiehlt. Lisa erkannte spontan, dass ihre Chance darin bestehen könnte, dass sie sich weigerte, dem Zwang zu gehorchen. Anschließend wurden die einzelnen Zwangsrituale tabellarisch in zwei Spalten aufgelistet: In der ersten Spalte wurden unter der Überschrift »Der Zwang will…« die einzelnen Zwangshandlungen notiert. In der zweiten Spalte wurden alternative Zielverhaltensweisen (»Lisa will…«) aufgeführt, sofern Lisa sie schon benennen konnte. Als erste Veränderung wurde vereinbart, dass Lisa sich statt 10 nur noch 2 Minuten die Zähne putzte. In der zweiten Sitzung berichtete sie von ersten kleinen Erfolgen, aber auch davon, dass sie es nicht immer geschafft habe. Der Vater berichtete davon, dass er versucht habe, Lisa herauszufordern, gegen den Zwang zu kämpfen. Der Therapeut gratulierte Lisa zu ihren Erfolgen und normalisierte die gelegentlichen Rückschläge. Lisa berichtete spontan davon,
dass sie den TV-Komiker »Mr. Bean« sehr lustig fände und dass dieser auch oft versuche, alles genau richtig zu machen – und dabei regelmäßig scheitere. In der Folge wurde die Therapie als »fröhliches Scheitern« des Zwangs definiert. Auf die Frage, was Mr. Bean mit dem Federmäppchen machen würde, meinte Lisa: »Chaos! Er würde alles durcheinander bringen.« Für die nächste Woche wurde vereinbart, dass Lisa genau dies mit dem Federmäppchen machte. In den folgenden Sitzungen wurden diesem Muster folgend die weiteren Zwänge schrittweise abgebaut: Die Stoffpuppen wurden absichtlich unordentlich angeordnet, der Schreibtisch unordentlich gelassen, die Schultasche nur noch einmal überprüft und dann bewusst falsch abgestellt, Dinge, die auf dem Boden liegen mussten, weggeräumt. Der Vater unterstützte seine Tochter dadurch, dass er – wie der Therapeut in der Therapiestunde – immer wieder in die Rolle des Zwangs schlüpfte und versuchte, Lisa zum Ausführen der Rituale zu überreden. Zudem wurde ein Kontingenzmanagement eingeführt: Lisa konnte sich »Mutpunkte« verdienen, wenn sie dem Zwang widerstanden hatte. Lisa gewann zunehmend Spaß daran, gegenüber dem Zwang frech zu werden. In der sechsten Sitzung wurden auch die nächtlichen Trennungsängste in die Behandlung einbezogen. Die Trennungsangst wurde als »Kumpel des Zwangs« eingeführt, der Lisa drängte, unbedingt im Elternschlafzimmer zu schlafen. Lisa entschloss sich, auch gegenüber der Trennungsangst frech zu werden. Im Verlauf der Behandlung reduzierten sich die bekannten Zwänge stetig, vorübergehend entstanden jedoch neue: So hatte Lisa auf einmal den Gedanken, dass defekte Gegenstände (ein Radio, eine verbogene Büroklammer) Unglück brächten. Eigentlich müssten diese Dinge weggeschmissen werden, der Zwang bestehe jedoch darauf, dass sie im Zimmer an ihrem Ort blieben. Diese neuen Zwänge, die Lisa sehr verunsichert hatten, wurden vom Therapeut normalisiert: »Weißt du, wenn ich der Zwang wäre, hätte ich auch gedacht, ich müsste mir was Neues einfallen lassen. Mit den anderen Sachen kriegt man dich ja nicht mehr rum. Nicht nur du hast Angst vor dem Zwang – er hat auch Angst vor dir. Seine größte Sorge ist, dass du nicht mehr auf ihn hereinfällst und nicht mehr tust, was er will.« In der achten Sitzung berichtete Lisa, dass sie den Zwang nur noch gelegentlich und schwach bemerke. Die beiden letzten Sitzungen wurden in größeren Abständen (4–6 Wochen) durchgeführt, worunter sich eine Stabilisierung des Therapieerfolges zeigte. Lisa wurde darauf vorbereitet, dass der Zwang möglicherweise noch einmal ein »Comeback« versuche. Entscheidend sei nicht, diesen Versuch zu verhindern, sondern dass Lisa wisse, wie sie dann reagieren könne. Die einzelnen Techniken, die sie in der Therapie erfolgreich angewendet hatte, wurden dazu rekapituliert. Lisa und ihren Eltern wurde am Ende der Therapie nahegelegt, sich zeitig zu melden, wenn der Zwang erneut an Macht gewinnen sollte. In der CY-BOCS wurden bei der Abschlussuntersuchung keine klinischen Zwänge mehr ermittelt (Gesamtwert: 1).
643 36.8 · Ausblick
Bei der Katamneseuntersuchung ein halbes Jahr nach Therapieende berichtete Lisa von gelegentlichen Zwängen, die sich jedoch schnell zurückdrängen ließen. Lisa wirkte fröhlich, selbstbewusst, unbeschwert und zuversichtlich, auch weiterhin dem Zwang widerstehen zu können.
36.7
Empirische Belege
Amerikanische und deutsche Behandlungsleitlinien (http:// www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/028-007.htm) weisen die kognitive Verhaltenstherapie – speziell Exposition mit Reaktionsverhinderung – als Therapie der Wahl
mit guter Evidenzbasierung aus. In der ersten Metaanalyse zur Therapie von Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (Abramowitz et al. 2005) wurden für die kognitive Verhaltenstherapie sehr große Prä-post-Effektstärken (ES) (durchschnittliche ES=1,98; 95%-Konfidenzintervall [KI] =1,40–2,56) und klinisch signifikante Verbesserungen bei 63% der Patienten ermittelt, die größer waren und auch höhere Raten klinisch signifikanter Verbesserungen erbrachten als die medikamentöse Behandlung mit SSRI (durchschnittliche ES=1,13; KI=0,82–1,25; klinisch signifikante Verbesserungen bei 38%). Die erste größere randomisierte und kontrollierte Studie (Pediatric OCD Treatment Study 2004) wird im folgenden Exkurs beschrieben.
Exkurs In einer multizentrischen Studie (POTS 2004) wurde die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) nach dem Manual von March und Mulle (1998), SSRI (Sertralin), einer Kombination von beiden sowie Placebo miteinander verglichen. 97 der ursprünglich 112 Patienten beendeten die Therapie regulär nach 12 Wochen (14 Sitzungen). Alle drei aktiven Behandlungen waren der Behandlung mit Placebo überlegen (. Tab. 36.4). . Tab. 36.4. POTS-Ergebnisse
Behandlung
Remissionsrate [%]
Effektstärke (gegen Pacebo)
Kombination KVT und SSRI
53,6
1,4
KVT
39,3
0,97
SSRI
21,4
0,67
Placebo
3,6
Die kombinierte Behandlung war der einfachen Pharmakotherapie, nicht jedoch der KVT signifikant überlegen. KVT war der Pharmakotherapie nicht signifikant überlegen. Interessant sind zudem divergierende Ergebnisse der einzelnen Behandlungszentren. In der Duke-Universität (Leitung: John March) zeigten sich hohe ES für die kombinierte Behandlung (1,29) und die Pharmakotherapie (0,8), während für KVT nur mittlere ES (0,51) ermittelt wurden. In der Universität von Pennsylvania (Leitung: Edna Foa) zeigten sich ganz andere Ergebnisse: Hohe ES ergaben sich für KVT (1,6) und die kombinierte Behandlung (1,5), mittlere ES für die Pharmakotherapie (0,53). KVT in Pennsylvania erwies sich der KVT in der Duke-Universität als signifikant überlegen und der kombinierten Behandlung in Pennsylvania als gleichwertig.
–
Für kognitive bzw. metakognitive Interventionen wurden bislang nur kleinere Fallserien veröffentlicht (Williams et al. 2002; Simons et al. 2006), deren Ergebnisse jedoch vielversprechend sind. In einer eigenen Untersuchung (Simons et al. 2006) wurden fünf Patienten mit narrativer Exposition und Reaktionsverhinderung, fünf Patienten metakognitiv behandelt. Alle zehn Patienten zeigten unter der kurzen Therapie (durchschnittlich zehn Sitzungen) sehr große Erfolge, die auch in der Zweijahreskatamnese anhielten. > Fazit Sowohl Abramowitz‘ Metaanalyse als auch die Ergebnisse der POTS bestätigen internationale wie nationale Behandlungsleitlinien: Die empfohlene Behandlung von Zwangserkrankungen im Kindes- und Jugendalter umfasst kognitive Verhaltenstherapie allein oder in Kombination mit einer Pharmakotherapie mit SSRI (s. auch March 2004). Unter Abwägung von Risiken und Nutzen ist die Behandlung mit kognitiver Verhaltenstherapie vorzuziehen (Brown et al. 2008).
36.8
Ausblick
Durch die Entwicklung geeigneter kognitiv-verhaltenstherapeutischer Techniken und wirksamer Medikamente haben sich die Behandlungsmöglichkeiten von Zwangsstörungen in den letzten Jahren deutlich verbessert, was sich auch in ersten qualitativ hohen Wirksamkeitsstudien niedergeschlagen hat. John March (de Haan 2006) weist darauf hin, dass noch zu wenigen Patienten diese nachweislich effektiven Behandlungen angeboten werden und daher daran gearbeitet werden sollte, diese weiter zu verbreiten. Über die langfristigen Wirkungen dieser neuen Therapien wissen wir bislang noch zu wenig. Die Studienkriterien für einen Therapieerfolg bedeuten nicht notwendig ein vollständiges Abklingen der Zwangssymptome (de Haan 2006), d. h. nach Beendigung der beispielsweise 12-wöchigen Therapie behält ein Teil der erfolgreich behandelten Patienten subklinische oder sogar klinisch bedeutsame Symptome bei. Das bedeutet, dass eine gute Therapie reali-
36
644
Kapitel 36 · Zwangsstörung
ter länger dauern sollte, als es vorliegende Studiendesigns nahelegen. Um die Behandlung effektiver zu machen, könnten die Möglichkeiten der (meta-)kognitiven Therapie weiter ausgelotet werden. Zudem sollte die Behandlung spezifischer für einzelne Subtypen formuliert werden. Speziell zwanghaftes Horten und Sammeln stellt dabei eine große Herausforderung für verhaltenstherapeutische Konzepte und auch für die Pharmakotherapie dar: Beide gelten bei diesem Subtyp als nicht sonderlich erfolgreich.
Zusammenfassung Zwangsstörungen sind relativ häufige und bereits im Kindes- und Jugendalter sehr belastende Störungen, die unbehandelt in vielen Fällen chronisch verlaufen. Obwohl die Ursachen von Zwangsstörungen letztlich ungeklärt sind, kann davon ausgegangen werden, dass psychologische (Lernen, metakognitive Bewertungen und Strategien) und neurobiologische Faktoren beteiligt sind. Für die Therapie sind insbesondere psychologische Erklärungsmodelle, die eine Normalisierung der Symptome erlauben, hilfreich. Als Therapie der Wahl gilt die Exposition mit Reaktionsverhinderung, gegebenenfalls mit zusätzlichen metakognitiven Interventionen. Je jünger die Kinder sind und je mehr die Familie in die Symptome mit eingebunden ist, desto mehr sind die Eltern (und weitere Familienmitglieder) in die Therapie einzubinden. Bei unzureichendem Ansprechen auf die Verhaltenstherapie und bei schweren Zwangsstörungen ist eine zusätzliche Pharmakotherapie mit SSRI indiziert. Neuere Entwicklungen im Bereich der Psycho- und Pharmakotherapie haben erheblich dazu beigetragen, die Behandlungsmöglichkeiten von Zwangsstörungen zu verbessern. Dennoch bedarf es weiterer Anstrengungen, therapeutische Konzepte zu verbessern.
Literatur
36
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645 Weiterführende Literatur
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Weiterführende Literatur Abramowitz, J. S. (2006). Understanding and treating obsessive-compulsive disorder. A cognitive-behavioral approach. London: Erlbaum. Lakatos, A. & Reinecker, H. (2007). Kognitive Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen. Ein Therapiemanual (3. Aufl.). Göttingen: Hogrefe March, J. & Benton, C.M. (2007) Talking back to OCD: The program that helps kids and teens say »no way« – and parents say »way to go«. New York: Guilford. Piacentini, J., Langley, A. & Roblek, T. (2007). Cognitive-behavioral treatment of childhood OCD: it’s only false alarm. Therapist guide. Oxford: Oxford University Press Storch, E., Geffken, G. & Murphy, T. (Eds.) (2007) Handbook of child and adolescent obsessive-compulsive disorder. London: Erlbaum.
36
37
37 Ticstörungen Manfred Döpfner
37.1
Einleitung
– 648
37.2
Darstellung der Störung – 648
37.2.1 37.2.2
Symptomatik und Klassifikation Epidemiologie – 650
37.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
37.3.1 37.3.2
Ätiologie – 651 Verlauf – 652
37.4
Diagnostik – 652
37.5
Therapeutisches Vorgehen
37.5.1 37.5.2
Indikationen – 653 Verhaltenstherapie – 655
37.6
Fallbeispiel
37.7
Empirische Belege
37.8
Ausblick
– 653
– 658 – 660
– 660
Zusammenfassung Literatur
– 648
– 661
– 661
Weiterführende Literatur
– 662
– 651
648
Kapitel 37 · Ticstörungen
37.1
Einleitung
. Tab. 37.1. Einteilung von Tics Motorisch
Vokal
Einfach
Blinzeln, Schulterzucken, Kopfrucken
Räuspern, Pfeifen, Husten, Schnüffeln
Komplex
Hüpfen, Klatschen, Berühren
Wörter, Sätze, Kurzaussagen
Besonderheiten
Echokinesie, Kopropraxie
Palilalie, Echolalie, Koprolalie
Witty Ticcy Ray ist glücklich mit Tourette-Syndrom
Der US-amerikanische Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks wurde durch seine populärwissenschaftlichen Bücher bekannt, in denen er komplexe Krankheitsbilder anhand von Fallbeispielen in einem humorvoll-anekdotischen Stil allgemeinverständlich beschreibt. In seinem Bestseller Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« erzählt er die Geschichte des gefeierten 24-jährigen Schlagzeugers Witty Ticcy Ray, der am Tourette-Syndrom leidet. In den 1980er Jahren suchte der Musiker Oliver Sacks in seiner New Yorker Praxis zur Behandlung seiner Tourette-Symptomatik auf. Sacks verschreibt ihm Haloperidol, ein hochpotentes Neuroleptikum, das auch heute noch mitunter eingesetzt wird – und tatsächlich schlägt es an. Doch das Medikament befreit Witty Ticcy Ray nicht nur weitgehend von den Tics, der junge Mann verliert auch seine schnelle Reaktionsfähigkeit beim Tischtennis und – was viel schlimmer ist – seine Genialität am Schlagzeug. Obendrein wird ihm unter Haloperidol ein merkwürdiges, zwanghaft anmutendes »Hobby« zum Verhängnis: Drehtüren ziehen den Musiker nämlich geradezu magisch an, und er liebt es, in letzter Sekunde in die Drehtür hineinzuspringen, um sie ebenso schnell wieder zu verlassen. Doch genau dieser Spaß hat nach Einnahme des Medikamentes dramatische Folgen – er springt eine Sekunde zu spät und findet sich im Krankenhaus mit mehreren Knochenbrüchen wieder. »Nehmen wir an, Sie könnten die Tics vollkommen wegbekommen«, sagte Witty Ticcy Ray nach diesem Erlebnis zu seinem Arzt. »Was würde dann übrig bleiben? Ich bestehe aus Tics. Nichts würde übrig bleiben.«
37.2
Darstellung der Störung
37.2.1 Symptomatik und Klassifikation
Tics sind unwillkürliche, rasche, wiederholte, nichtrhythmische motorische Bewegungen, die umschriebene Muskelgruppen betreffen (motorische Tics), oder vokale Produktionen, die plötzlich einsetzen und keinem offensichtlichen Zweck dienen (vokale Tics). Sowohl motorische als auch vokale Tics können in ihrer Art, Häufigkeit, Intensität und Komplexität und inter- und intraindividuell erheblich variieren. . Tab. 37.1 zeigt Beispiele von einfachen und komplexen motorischen und vokalen Tics sowie von besonderen Phänomenen, die allerdings selten auftreten.
37
Motorische Tics. Augenblinzeln, Grimassieren, Kopfwerfen, Schulterzucken gehören zu den häufigsten einfachen motorischen Tics, die meist ruckartig ausgeführt werden. Komplexe motorische Tics sind dagegen oft langsamer und wirken deshalb in ihrem Erscheinungsbild eher einem Ziel zugeordnet, wie z. B. im Kreis herumwirbeln, Hüpfen, in
die Hände klatschen, Stoßen, Nacken und Armmuskulatur angespannt verziehen, den Fuß strecken, Trippelbewegungen durchführen oder die Faust ballen. Fast immer entwickeln sich motorische Tics zuerst und am häufigsten im Gesicht, Kopf-, Nacken- und Schulterbereich. Später können Tics im distalen Körperbereich an den Armen, den Beinen oder am Rumpf hinzukommen. Das sehr selten auftretende zwangartige Wiederholen von Gesten (oder Tics) anderer nennt man Echopraxie, das Zeigen obszöner Gesten Kopropraxie. Vokale Tics. Auch bei den vokalen Tics gibt es eine immense Vielfalt. Der Komplexitätsgrad variiert von Räuspern, Bellen, Grunzen, Schnüffeln und Zischen bis hin zur Wiederholung bestimmter Wörter (Echolalie) und dem Gebrauch sozial unannehmbarer, oft obszöner Wörter (Koprolalie) sowie der Wiederholung eigener Laute oder Wörter (Palilalie). Typischerweise ist eine erhebliche Spontanfluktuation in Art, Intensität und Häufigkeit der Tics über einen Zeitraum von Wochen und Monaten zu beobachten. Tics lassen meist unter nicht angstbesetzter Ablenkung und Konzentration nach, sie interferieren nur bei sehr schwerer Ausprägung mit intendierten Bewegungen, vermindern sich im Schlaf und nehmen unter emotionaler Erregung (freudig oder ärgerlich) zu. Tics können auch in andere Bewegungen verschoben und in ihrer Ausprägung beeinflusst werden. Besonders unangenehme Tics können verschleiert, in Willkürhandlungen eingebaut, verlangsamt und geordnet werden. Die meisten Patienten erleben ihre Tics als nicht unterdrückbar, dennoch können sie meist zumindest für kurze Zeit, mitunter auch mehrere Stunden lang unterdrückt werden. Häufig und vor allem bei massiveren Ticsymptomen geht dem Tic ein sensorisches Phänomen voraus, das als Anspannung oder innere Unruhe beschrieben wird und meist der entsprechenden Körperregion zugeordnet ist. Der motorische oder vokale Tic löst meist diese Anspannung, mitunter jedoch erst nach mehrfacher Ausführung des Tics und oft nur für eine kurze Zeit – die Spannung baut sich dann erneut auf und die Tics müssen wieder ausgeführt werden (Banaschewski et al. 2003; Döpfner et al. 2009a). Die zentralen Klassifikationsmerkmale von Ticstörungen nach ICD-10 (WHO 2004, 2005) und DSM-IV-TR (Saß et al. 2003) sind ihr Chronifizierungsgrad und das isolierte
649 37.2 · Darstellung der Störung
bzw. gemeinsame Auftreten von motorischen und vokalen Tics. Daher unterscheiden die Klassifikationssysteme zwischen den folgenden Störungen: 4 Vorübergehende Ticstörung (F95.0): hält nicht länger als ein Jahr an. Am häufigsten kommen Blinzeln, Grimassieren oder Kopfschütteln vor; 4 Chronische motorische oder vokale Ticstörung (F95.1): motorische oder vokale Tics (aber nicht beide gemeinsam) persistieren zumindest über ein Jahr. 4 Tourette-Syndrom (F95.2): Kombination von vokalen und multiplen motorischen Tics, die länger als ein Jahr andauern, aber nicht notwendigerweise gleichzeitig auftreten müssen. Die Störung verschlechtert sich meist während der Adoleszenz und neigt dazu, bis in das Erwachsenenalter anzuhalten. Die vokalen Tics sind häufig multipel mit explosiven repetitiven Vokalisationen, Räuspern und Grunzen und Gebrauch von obszönen Wörtern oder Phrasen (Koprolalie). Manchmal besteht
eine begleitende gestische Echopraxie, die ebenfalls obszöner Natur sein kann (Kopropraxie). 4 Nicht näher bezeichnete Ticstörung (F95.9): wird diagnostiziert, wenn nicht alle Kriterien einer spezifischen Ticstörung erfüllt sind (z. B. wenn die Störung nach dem 18. Lebensjahr begonnen hat). Die folgende Übersicht gibt die Diagnosekriterien wieder und lehnt sich dabei an das DSM-IV-TR an, das präziser in der Wortwahl ist als das ICD-10. Die inhaltlichen Abweichungen zwischen beiden Klassifikationssystemen sind minimal und in der Übersicht markiert. Hauptunterschied ist, dass das DSMIV jeweils das Kriterium des Leidensdrucks oder der Funktionseinschränkung durch die Tics einführt, gemäß der allgemeinen Richtlinie in DSM-IV, dass für die Diagnose einer psychischen Störung nicht nur Symptome vorliegen müssen, sondern dass diese auch einen Leidensdruck oder eine Funktionseinschränkung nach sich ziehen müssen.
Diagnosekriterien für Ticstörungen nach DSM-IV-TR und ICD-10 (Forschungskriterien) F95.0 Vorübergehende Ticstörung 4 Der Beginn der Störung liegt vor dem 18. Lebensjahr. 4 Einzelne oder multiple motorische und/oder vokale Tics treten, jedoch nicht gleichzeitig, zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf der Störung auf. 4 Die Tics treten mindestens 4 Wochen lang fast jeden Tag mehrmals auf. Der Zeitraum, in dem die Tics auftreten, ist jedoch niemals länger als 12 aufeinander folgende Monate. 4 Die Störung führt zu starker innerer Anspannung oder verursacht deutliche Beeinträchtigungen im sozialen, beruflichen oder in anderen wichtigen Funktionsbereichen. 4 Der Beginn der Störung liegt vor dem 18. Lebensjahr. 4 Die Störung ist nicht auf die direkte Wirkung einer Substanz (z. B. Stimulanzien) oder einer anderen Erkrankung (Chorea Huntington oder postvirale Enzephalitis) zurückzuführen. 4 Die Kriterien einer Tourette-Störung oder einer chronischen motorischen oder vokalen Ticstörung waren zu keinem Zeitpunkt erfüllt.
F95.1 Chronische motorische oder vokale Ticstörung 4 Einzelne oder multiple motorische und/oder vokale Tics treten, jedoch nicht gleichzeitig, zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf der Störung auf. 4 Die Tics treten mehrmals täglich entweder fast jeden Tag oder intermittierend im Verlauf eines Jahres auf. In dieser Zeit gab es keine ticfreie Phase, die länger als [2] {3 aufeinanderfolgende} Monate andauerte. 4 {Die Störung führt zu deutlichem Leiden oder verursacht bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.}
4 Die Störung ist nicht auf die direkte Wirkung einer Substanz (z. B. Stimulanzien) oder einer anderen Erkrankung (Chorea Huntington oder postvirale Enzephalitis) zurückzuführen. 4 Die Kriterien der Tourette-Störung waren zu keinem Zeitpunkt erfüllt.
F95.2 Kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Tourette-Syndrom) 4 Multiple motorische sowie mindestens ein vokaler Tic treten im Verlauf der Störung auf, jedoch nicht unbedingt gleichzeitig. 4 Die Tics treten mehrmals täglich entweder fast jeden Tag oder intermittierend im Verlauf eines Jahres auf. In dieser Zeit gab es keine ticfreie Phase, die länger als [2] {3 aufeinanderfolgende} Monate andauerte. 4 {Die Störung führt zu starker innerer Anspannung oder verursacht bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.} 4 Der Beginn der Störung liegt vor dem 18. Lebensjahr. 4 Die Störung ist nicht auf die direkte Wirkung einer Substanz (z. B. Stimulanzien) oder einer anderen Erkrankung (Chorea Huntington oder postvirale Enzephalitis) zurückzuführen. Anmerkungen: Die Wortwahl vom DSM-IV-TR wurde übernommen; inhaltliche Abweichungen: { } = nur DSM-IV, [ ] = nur ICD-10.
37
650
Kapitel 37 · Ticstörungen
37.2.2 Epidemiologie
Ticstörungen sind häufig – etwa 4–12% der Kinder im Grundschulalter weisen vorübergehend und 3–4% chronisch Symptome einer Ticstörung auf. Die Prävalenz des Tourette-Syndroms wird mit etwa 0,05–3,0% angegeben (Robertson 2008). Ticstörungen sind etwa dreimal häufiger bei Jungen als bei Mädchen, und eine familiäre Häufung von Tics ist nachgewiesen. Tics können als isolierte Phänomene auftreten; in klinischen Stichproben weisen jedoch bis zu 90% aller vom Tourette-Syndrom Betroffenen neben der Ticstörung auch andere, komorbide Störungen auf (Freeman 2007). Die am häufigsten beobachteten komorbiden Störungen sind Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen in 50–75% aller Fälle (7 Übersicht), während etwa 20% der Kinder mit ADHS eine Ticstörung aufweisen (Spencer et al. 2001). In der Regel treten erste Tics 2–3 Jahre nach Beginn der ADHS-Symptomatik auf.
Prävalenz komorbider Störungen (Döpfner et al. 2009a) 50–75%
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen
30–60%
Zwangsstörungen
20–25%
Affektive, vor allem depressive Störungen
15–20%
Angststörungen
4–60% 15–40%
Selbstverletzendes Verhalten Schlafstörungen
Zwischen 30 und 60% der Patienten mit Tourette-Syndrom zeigen Zwangsgedanken und -handlungen, und etwa 30% erfüllen die diagnostischen Kriterien einer Zwangsstörung. . Abb. 37.1. Funktionalität von Tics, Just-right-Zwängen und klassischen Zwangshandlungen. (Aus Döpfner u. Rothenberger 2007a)
37
Obwohl der Zwang eine intendierte Handlung beschreibt und Tics nicht absichtliche Bewegungen sind, kann der Übergang vom Tic zum Zwang fließend sein (Döpfner u. Rothenberger 2007). Insbesondere bei Patienten mit Tourette-Symptomatik können sich im Verlauf der Störung außerdem zusätzlich Zwänge entwickeln, die sich jedoch in ihrer Art von den Zwängen unterscheiden, die üblicherweise bei Zwangspatienten auftreten. Zielen die klassischen Zwänge von Zwangspatienten auf die Verminderung von Ängsten oder Ekel (z. B. durch Waschen) oder auf die Abwendung von drohendem Unheil (durch Kontrollen oder durch Wiederholungen von Handlungen), so zeichnen sich die bei Ticstörungen entwickelten Zwänge vor allem dadurch aus, dass Handlungen so häufig wiederholt werden müssen, »bis es gut ist«, d. h. bis sich ein gutes Gefühl einstellt; Ängste und Ekel spielen dabei in der Regel keine Rolle. Solche Zwänge werden als »Just-rightZwänge« bezeichnet. Diese Zwänge treten so gut wie immer erst nach der Entwicklung der Ticstörung und meist erst im Jugendalter auf. Sie können das gesamte Symptombild dominieren. Wenn die Diagnosekriterien für eine Zwangsstörung bei Patienten mit einer Ticstörung erfüllt sind, werden beide Diagnosen vergeben. ! Just-right-Zwänge bei Patienten mit Ticstörungen zeichnen sich durch Zwangshandlungen aus, die so häufig wiederholt werden müssen, bis sich ein »gutes Gefühl« einstellt, also bis es »genau richtig« ist. Sie unterscheiden sich damit deutlich von den typischen Zwangshandlungen bei Patienten mit Zwangsstörungen, die meist der Reduktion von Angst- oder Ekelgefühlen dienen oder dazu, drohendes Unheil abzuwenden. . Abb. 37.1 fasst noch einmal die Funktionalität von Tics, Just-right-Zwängen und klassischen Zwängen zusammen. Von Ticstörungen Betroffene weisen gehäuft vor allem zusätzliche depressive Merkmale (Niedergeschlagenheit,
651 37.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Selbstwertprobleme, Rückzugsverhalten, Somatisierungsneigung), aber auch Ängstlichkeit, Panikattacken und Phobien auf. Bei Patienten mit massiver Tourette-Symptomatik wird außerdem selbstverletzendes Verhalten beobachtet. Außerdem werden auch Defizite in der visuellen Perzeption und visuomotorischen Integration, der Feinmotorik und der Sprachrezeption und -flüssigkeit sowie vermehrtes Auftreten von Legasthenie und Dyskalkulie beschrieben (Como 2005).
37.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
37.3.1 Ätiologie
Trotz zunehmender Forschungsanstrengungen sowie neu entwickelter und verbesserter Verfahren zur Erforschung der Ursachen der Ticstörungen konnten diese nur in Ansätzen geklärt werden. Man nimmt an, dass die Störung durch vielfältige Wechselwirkungen genetischer, neurobiologischer, psychologischer Faktoren und Umwelteinflüsse determiniert wird (Leckman et al. 2006; Leckman u. Cohen 1999). Genetische Faktoren. In Zwillings- und Familienuntersuchungen zeigt sich der Einfluss genetischer Faktoren bei etwa 30–50% der Betroffenen. Etwa 20% der zweieiigen Zwillingspaare sind konkordant für das Tourette-Syndrom oder chronische Ticstörungen, wohingegen die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen bei etwa 90% liegt (Pauls et al. 1991). In mehreren Studien wurden molekulargenetische Hinweise gefunden. Die meisten dieser Studien untersuchten Kandidatengene mit einem Bezug zum serotonergen oder dopaminergen Stoffwechsel, wobei sowohl positive als auch negative Ergebnisse gefunden wurden und die Befunde insgesamt noch unklar sind (Roessner u. Rothenberger 2007).
strittig bleibt, besteht hier noch großer Klärungsbedarf (vgl. Roessner u. Rothenberger 2007). Neuroanatomische und funktionelle Auffälligkeiten. Bei Patienten mit Ticstörung zeigten sich im Vergleich zu Gesunden abweichende Volumina bzw. Asymmetrien in verschiedenen Hirnbereichen (Nucleus caudatus, Putamen und Globus pallidus); aber auch das Fehlen von Unterschieden wurde berichtet. Die gefundenen Abweichungen des Volumens der präfrontalen, prämotorischen sowie orbitofrontalen Kortexareale weisen auf strukturelle Veränderungen von weit verzweigten Regelkreisen im Gehirn hin. In funktionellen Untersuchungen mit Positronen-Emissions-Tomographie (PET) in Ruhe zeigte sich ein räumliches Muster mit teils erhöhter und teils verminderter Aktivität in den Basalganglien, thalamischen und hippokampalen Regionen bei Patienten mit Ticstörung verglichen mit Gesunden (vgl. Roessner u. Rothenberger 2007). Psychosoziale Faktoren. Psychosoziale Faktoren können vermutlich im Sinne eines Vulnerabilitäts-Stress-Modells die Entwicklung und den Verlauf von Ticsymptomen bei biologisch vulnerablen Personen beeinflussen. Ticsymptome können sich unter psychosozialem Stress verstärken und bei Stressreduktion ebenso vermindern. Psychosoziale Belastungen können sich aber auch als Folgen der Ticstörung entwickeln, z. B. Belastungen in der Eltern-Kind-Beziehung oder sozialer Rückzug und Depressivität des Patienten als Folge negativer Reaktionen des Umfeldes (vgl. Döpfner et al. 2009a). . Abb. 37.2 zeigt ein Modell zur Pathogenese der Ticstörungen (Rothenberger et al. 2007a), in dem Funktionsdefizite innerhalb des dopaminerg modulierten sensomotorischen kortikostriatopallidothalamokortikalen Regulationssystems im Bereich der Basalganglien und des Motorkortex postuliert werden. Eine erhöhte dopaminerge
ZNS-Schädigungen. Verschiedene Faktoren während Schwangerschaft und Geburt werden mit Schädigungen des Zentralnervensystems in Zusammenhang gebracht. Dies sind z. B. starke Übelkeit oder Erbrechen während der ersten 3 Monate der Schwangerschaft, übermäßiger Koffeinund Nikotingenuss, Alkoholabusus sowie Hypoxie, vorzeitige Geburt und Einsatz mechanischer Hilfsmittel bei der Geburt. Allerdings sind auch hier die Zusammenhänge eher schwach, und die Spezifität der Befunde bezüglich der Entwicklung von Ticstörungen ist sehr fraglich (vgl. Döpfner et al. 2009a). Infektionen. In 5–10% der Fälle wird die Ticstörung mit Infektionen β-hämolysierender Streptokokken der Gruppe A in Verbindung gebracht (PANDAS, »pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infection). Da die Phänomenologie von PANDAS wie auch die Spezifität der entsprechenden Laborbefunde
. Abb. 37.2. Inhibitionsmodell der Ticstörungen. (Aus Rothenberger et al. 2007a)
37
652
Kapitel 37 · Ticstörungen
Aktivität im Striatum führt zu einer Störung der subkortikalen Eigenhemmung und der automatischen Bewegungskontrolle (Ziemann et al. 1997). Um das Auftreten von Tics zu verhindern, wird der Betroffene durch Aktivierung anderer (kortikaler) Kontrollinstanzen versuchen, die mangelnde Eigenhemmung möglicher subkortikaler Spontanentladungen gegenzuregulieren. . Abb. 37.3 zeigt ein funktionales Störungsmodell für Ticstörungen. Danach können mitunter (nicht immer) externe Auslöser, wie erhöhte Belastungen in der Schule, aber auch Entspannung zu Hause, identifiziert werden. Gelegentlich lassen sich auch interne Auslöser (z. B. Stimmung) finden. Diese externen und internen Bedingungen lösen Ticimpulse, ein Druckgefühl oder ein anderes unangenehmes Vorgefühl aus. Dieses wird vor allem bei ausgeprägten Tics und von älteren Patienten (Jugendlichen) berichtet. Dem Patienten gelingt es aufgrund seiner mangelhaften motorischen Inhibitionsmöglichkeiten nicht, den Tic zu unterdrücken, und es kommt schließlich zur Ticreaktion, die mitunter auch in Serien auftritt, also mehrmals wiederholt werden muss. Daraufhin reduziert sich der Ticimpuls, das unangenehme Vorgefühl, wodurch die Ticreaktion negativ verstärkt wird – der Tic ist also eine zumindest kurzfristig erfolgreiche Möglichkeit, die unangenehmen Spannungsgefühle zu vermindern. Allerdings bleiben auch negative Konsequenzen nicht aus – die Umwelt kann irritiert oder auf andere Weise negativ reagieren, der Patient entwickelt kurzfristig Schamgefühle und langfristig ein negatives Selbstkonzept. Folgestörungen im emotionalen Bereich stellen sich daher auch häufig ein.
37.3.2 Verlauf
37
Der Beginn der Ticsymptomatik liegt so gut wie immer in der Kindheit oder der Adoleszenz. Erste Tics treten in der Regel im Alter zwischen 2 und 15 Jahren auf. Der Häufigkeitsgipfel liegt im Alter von 6 bis 7 Jahren. Motorische Tics treten meist mit vorübergehenden Phasen von verstärktem Augenblinzeln oder anderen Bewegungen im Gesichtsbereich auf. Wenn sich auch vokale Tics entwickeln, dann folgen erste vokale Tics, wie Räuspern oder Schniefen, üblicherweise mit einer Verzögerung von einigen Jahren (Leckman u. Cohen 1999). In der Mehrzahl der Fälle kommt es im zweiten Lebensjahrzehnt (oft synchron mit der Pubertätsentwicklung) zu einer Zunahme der Tics, während um das 20. Lebensjahr meist eine deutliche Abnahme bis hin zum Sistieren der Ticsymptomatik zu beobachten ist. Schätzungen zu Spontanremissionsraten für chronische Tics gehen von 50–70%, für das Tourette-Syndrom von 3– 40% aus (Roessner et al. 2007). Die schwerste Ausprägung des Tourette-Syndroms ist allerdings im Erwachsenenalter meist bei den nicht während des 18.–20. Lebensjahrs remittierenden Fällen zu finden. Entsprechend Betroffene leiden häufig unter anfallsar-
. Abb. 37.3. Funktionales Störungsmodell für Ticstörungen
tigen Salven selbstverletzender motorischer Tics wie Schlagen, Kratzen und Beißen sowie sozial stigmatisierenden, obszönen, teilweise auch sehr lauten Äußerungen (Koprolalie) und Gesten (Kopropraxie). Die Kenntnis des schwankenden natürlichen Verlaufs ist für die Therapie von größter Wichtigkeit. Denn nur aufgrund der adäquaten Einschätzung der längerfristigen Symptomausprägung und keinesfalls aufgrund einer kurzfristigen, evtl. dramatischeren Ticsymptomatik können valide Informationen zum Behandlungsverlauf gewonnen werden. . Abb. 37.4 zeigt die typischen Spontanschwankungen und macht deutlich, dass nach einer Intervention, die zum Zeitpunkt 1 durchgeführt wird, schon allein aufgrund der Spontanschwankung zunächst einmal dem Anschein nach positive Effekte erkennbar sind. Wird eine Intervention dagegen zum Zeitpunkt 2 begonnen, lassen sich zunächst keine positiven Effekte feststellen, vielmehr hat es den Anschein, dass die Intervention eher schadet. Unglücklicherweise können weder Patient noch Therapeut erkennen, an welcher Stelle in diesem phasischen Verlauf sie sich befinden, und nur längerfristige Beobachtungen über Wochen hinweg können einen Trend erkennen lassen.
37.4
Diagnostik
Die Diagnostik bei Ticstörungen ist in einem Band der Reihe Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie ausführlich beschrieben (Döpfner et al. 2009a). Danach steht die Exploration der Eltern, des Kindes/Jugendlichen und der Erzie-
653 37.5 · Therapeutisches Vorgehen
. Abb. 37.4. Phasischer Verlauf von Tics und Problematik der Einschätzung von Therapieeffekten
her/Lehrer im Zentrum der Diagnostik. Das allgemeine »Explorationsschema für Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen« (EPSKI) (Döpfner u. Petermann 2008) kann als Grundlage auch für die Exploration von Ticstörungen verwendet werden. Die »Checkliste zur Exploration von Tic-Störungen« (Checkliste-Tic) (Döpfner et al. 2009a) gibt konkrete Hinweise auf die Anwendung von EPSKI bei Ticstörungen. Die »Diagnose-Checkliste für TicStörungen« (DCL-Tic) dient der klinischen Beurteilung der Diagnosekriterien für Ticstörungen, sie ist Bestandteil des umfassenden »Diagnostik-Systems für Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV«, DISYPS-II (Döpfner et al. 2008), das aus mehreren Diagnose-Checklisten (DCL) zur klinischen Beurteilung sowie aus Fremdbeurteilungsbogen (FBB) zur direkten Einschätzung von Eltern, Lehrern oder Erziehern und aus Selbstbeurteilungsbogen (SBB) zur Selbsteinschätzung von Kindern und Jugendlichen im Alter von 11 bis 18 Jahren besteht. Die Exploration des Kindes/Jugendlichen bezieht auch die Verhaltensbeobachtung des Kindes/Jugendlichen während der Exploration und während anderer Untersuchungen (z. B. testpsychologische Untersuchung) sowie seine psychopathologische Beurteilung mit ein. Standardisierte Fragebögen und Beobachtungsverfahren für die Eltern, für das Kind/den Jugendlichen und für den Erzieher/Lehrer können die Exploration ergänzen und erleichtern. Falls eine Exploration der Erzieher/Lehrer nicht möglich ist, können Fragebögen diese auch ersetzen. Der »Fremdbeurteilungsbogen für Tic-Störung« (FBB-TIC) und der »Selbstbeurteilungsbogen für Tic-Störung« (SBBTIC) sind Bestandteil des »Diagnostik-Systems für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-IV für Kinderund Jugendliche« (DISYPS-II; Döpfner et al. 2008). Er kann von Eltern, Erziehern und Lehrern beurteilt werden und besteht aus sechs Teilen, in denen die aktuelle Ticsymptomatik, die Beeinträchtigung, die Kontrollierbarkeit und die Dauer der Ticsymptomatik sowie die häufigsten komorbiden Symptome erfragt werden. Da die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen mit diesem Störungsbild weitere Auffälligkeiten zeigt, empfiehlt es sich, im Rahmen einer multimodalen Diagnostik (Döpfner u. Petermann 2008) auch Interview- und Fragebogenverfahren anzuwenden, die ein breites Spektrum psychischer
Störungen erheben, z. B. den »Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen«, CBCL 4–18 (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998) und davon abgeleitete Instrumente oder für das Vorschulalter den »Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder«, VBV 3–6 (Döpfner et al. 1993, 7 Kap. III/8). Eine differenzierte Intelligenz-, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik ist vor allem dann indiziert, wenn Hinweise auf Intelligenzminderungen, Entwicklungsdefizite oder schulische Leistungsprobleme vorliegen (7 Kap. III/9). Eine spezifische Anamnese bezüglich körperlicher Symptome, neurologisch-internistische Untersuchung und bei Bedarf weitergehende somatische Diagnostik sind notwendig, um Hinweise auf etwaige komorbide Störungen oder auch Ursachen der Ticstörung zu gewinnen und um differenzialdiagnostisch andere körperliche Erkrankungen auszuschließen, bei denen eine ticähnliche Symptomatik auftreten kann. Mittels familiendiagnostischer Methoden werden zudem Störungen der familiären Beziehungen und andere familiäre Belastungen erhoben, die bei Kindern mit diesem Störungsbild ebenfalls gehäuft auftreten und entweder Teilursache oder Folge der Symptomatik sein können (vgl. Döpfner u. Petermann 2008, 7 Kap. III/8).
37.5
Therapeutisches Vorgehen
37.5.1 Indikationen
Bei der Therapie der Ticstörungen haben sich kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen sowie Pharmakotherapie bewährt. Behandlungsleitlinien wurden von Rothenberger und Mitarbeitern (2007b) vorgelegt und ausführlich im Leitfaden Tic-Störungen (Döpfner et al. 2009a) ausgearbeitet. . Abb. 37.5 zeigt einen Entscheidungsbaum, dem die Indikationen für die einzelnen Behandlungsansätze entnommen werden können. Nicht jede Ticstörung stellt auch eine Behandlungsindikation dar. Aufgrund der hohen Spontanremissionsrate genügt bei einer Ticstörung im Kindesalter, die weniger als ein halbes Jahr besteht und in ihrer Intensität nur gering ausgeprägt ist, im Allgemeinen eine eingehende Beratung des Kindes und der Familie. Eine langfristig angelegte
37
654
Kapitel 37 · Ticstörungen
. Abb. 37.5. Differenzialtherapeutischer Entscheidungsbaum für die Komponenten einer multimodalen Therapie der Ticstörungen. (Mod. nach Döpfner 1999)
Verlaufskontrolle ist jedoch auf jeden Fall indiziert, da eine Vorhersage eines günstigen Verlaufs (Spontanremission) oder einer ungünstigen Entwicklung (Entwicklung einer chronischen Ticstörung, eines Tourette-Syndroms oder weiterer Verhaltensauffälligkeiten) nicht möglich ist.
37
Interventionen bei koexistierenden Störungen. Liegen koexistierende Störungen oder Belastungen vor, so ist zu entscheiden, ob zunächst eine Intervention zur Verminderung dieser Auffälligkeiten oder Belastungen indiziert ist. Stehen andere Verhaltensprobleme oder familiäre und schulische Belastungen im Vordergrund oder tragen diese vermutlich wesentlich zur Aufrechterhaltung der Ticsymptomatik bei, dann werden zunächst diese Auffälligkeiten und Belastungen im Zentrum der Therapie stehen. Werden dagegen andere Verhaltensauffälligkeiten oder familiäre Probleme in starkem Maße als Folgen der Ticsymptomatik interpretiert, beispielsweise eine durch die Tics bedingte soziale Isolation des Patienten oder familiäre Konflikte, dann wird die Behandlung der Ticstörung eher im Vordergrund stehen.
Beispiel Behandlungsindikationen bei koexistierenden Störungen und Problemen Der achtjährige Rolf leidet neben einem KopfschüttelTic an einer sehr stark ausgeprägten ADHS-Symptomatik, die zu regelmäßigen Auseinandersetzungen mit der Lehrerin, den Klassenkameraden und den Eltern führt. Die Tics nehmen bei solchen Auseinandersetzungen deutlich zu. Dies sind deutliche Hinweise dafür, dass die Tics zumindest teilweise durch den Stress aufrechterhalten werden. In diesem Fall würde man zunächst die ADHS behandeln und nachrangig die Tics.
Primäre symptomzentrierte verhaltenstherapeutische Interventionen. Eine primäre symptomzentrierte verhaltens-
therapeutische Intervention ist dann angezeigt, wenn die Ticsymptomatik mindestens seit 6 Monaten besteht und die Symptomatik entweder eine geringe bis mittlere Intensität aufweist oder wenn sie auf wenige Tics begrenzt ist. Bei massiver und vielfältiger Ticsymptomatik sinkt im Allgemeinen
655 37.5 · Therapeutisches Vorgehen
die Compliance des Patienten und der Bezugspersonen für verhaltenstherapeutische Maßnahmen und damit die Chance eines Behandlungserfolges. Wird durch die symptomzentrierte verhaltenstherapeutische Intervention in einem überschaubaren Zeitraum (maximal 6 Monate) keine substanzielle Verminderung der Symptomatik erzielt oder liegen trotz Symptomminderung noch stark ausgeprägte Tics vor, dann sollte mit Pharmakotherapie kombiniert werden. Primäre pharmakotherapeutische Interventionen. Eine
primäre pharmakotherapeutische Intervention ist dann angezeigt, wenn die Ticsymptomatik länger als 12 Monate mit hoher Intensität persistiert und mit deutlichen Belastungen und Funktionseinschränkungen des Patienten einhergeht. Zeigt sich trotz medikamentöser Behandlung weiterhin eine ausgeprägte Ticsymptomatik oder erweist sich die medikamentöse Intervention als nicht erfolgreich, dann sind verhaltenstherapeutische Interventionen als ergänzende oder als alternative Behandlung indiziert.
In der Pharmakotherapie von Ticstörungen spielen Medikamente, die den Dopamin-2-Rezeptor blockieren (z. B. Tiaprid, Sulpirid, Risperidon, Pimozid, Ziprasidon, Aripiprazol) eine entscheidende Rolle. Sämtliche medikamentöse Therapieempfehlungen basieren bis heute auf offenen Studien oder kontrollierten randomisierten Studien mit eher geringer Patientenzahl. Die Studien weisen auf deutliche Effekte hin – Häufigkeit und Schweregrad der Tics verringern sich in durchschnittlich 70% der Fälle in erheblichem Umfang, eine Symptomfreiheit kann jedoch meist nicht erreicht werden. Außerdem treten z. T. erhebliche Nebenwirkungen auf (Müdigkeit, deutliche Gewichtszunahme) (Döpfner et al. 2009a; Roessner et al. 2004). Nach langsamer, optimaler Titration des Medikamentes sollte dieses (bei guter Wirkung und Verträglichkeit) über einen Zeitraum von einem Jahr verabreicht werden, ehe über eine eventuelle Fortsetzung der Medikamentengabe entschieden wird.
Wie . Abb. 37.5 zu entnehmen ist, können nach der symptomzentrierten verhaltenstherapeutischen und/oder medikamentösen Intervention weitere Maßnahmen indiziert sein, wenn komorbide Störungen (beispielsweise Depression) oder andere Belastungen (beispielsweise Familienkonflikte) weiterhin bestehen oder wenn die Ticsymptomatik nicht soweit vermindert werden konnte, dass sie für den Patienten keine wesentliche Belastung mehr darstellt. In diesem Fall ist es häufig notwendig, dem Patienten Hilfestellungen bei der Bewältigung jener Probleme zu geben, die unmittelbar aus der Ticsymptomatik resultieren (beispielsweise selbstsichere Reaktion, wenn die Umgebung auf die Tics beleidigend oder erschreckt reagiert).
37.5.2 Verhaltenstherapie
Die verhaltenstherapeutische Intervention der Reaktionsumkehr (»habit reversal«) hat sich unter den psychotherapeutischen Verfahren als wirkungsvollstes Verfahren etabliert (7 Kap. I/43). Früher wurden die Patienten häufiger mit massierten Übungen (»massed negative practice«) behandelt. Bei diesem Verfahren versucht der Patient, die Ticbewegung so rasch und kraftvoll wie möglich etwa 15–30 Minuten lang pro Tag willentlich auszulösen. Dabei wechseln etwa 4-minütige Übungsphasen mit Ruhepausen von einer Minute ab. Durch die häufige Wiederholung ermüdet der Patient und entwickelt eine reaktive Hemmung, die eine Verminderung der Ticsymptomatik bewirken kann. Nach dem heutigen Stand der Erkenntnis stellen massierte Übungen jedoch nicht die primäre Interventionsstrategie dar. Diese Intervention hat in kontrollierten Studien zwar bei etwa der Hälfte der untersuchten Patienten eine Symptomminderung bewirkt, doch wurde auch von Symptomsteigerungen berichtet (vgl. Döpfner et al. 2009a). Bevor einzelne verhaltenstherapeutische Techniken zur Anwendung kommen, sollten Störungskonzepte und die bisherige Störungsbewältigung mit dem Patienten und der Familie thematisiert und bearbeitet werden. Ziel ist es, inadäquate Störungskonzepte beim Patienten und den Bezugspersonen abzubauen (etwa dass die Symptomatik willkürlich eingesetzt werde und Ausdruck von Aggressionen gegenüber Familienmitgliedern darstelle) und das komplexe Zusammenspiel organischer und psychischer Faktoren zu erarbeiten. Diese psychoedukativen Interventionen können auch durch Ratgeber unterstützt werden (Döpfner et al. 2009b). Azrin und Nunn (1973) entwickelten eine Kombinationsbehandlung, die sie als Reaktionsumkehr (Habit Revearsal) bezeichnen und die aus 5 Komponenten besteht (7 Übersicht).
Komponenten der Reaktionsumkehr (Habit Reversal) 1. 2. 3. 4. 5.
Selbstwahrnehmungstraining Entspannungstraining Training inkompatibler Reaktionen Kontingenzmanagement Generalisierungstraining
1. Selbstwahrnehmungstraining. Das Selbstwahrnehmungstraining besteht aus fünf Bausteinen (s. unten) und zielt darauf ab, die Selbstwahrnehmungsfähigkeit des Patienten hinsichtlich Häufigkeit und Intensität der Tics sowie situativer Bedingungen, welche die Symptomatik beeinflussen, zu verbessern und die Wahrnehmung der spezifischen Einzelbewegungen bei der Ausführung des Tics zu schärfen.
37
656
Kapitel 37 · Ticstörungen
Bausteine des Selbstwahrnehmungstrainings a) Selbstbeobachtung: Der Patient erhält die Aufgabe, die Häufigkeit jedes einzelnen Tics täglich für einen bestimmten Zeitraum zu zählen und aufzuzeichnen. b) Beschreibung der Ticreaktionen: Der Patient beschreibt dem Therapeuten alle Details jedes einzelnen Tics, am besten unter Verwendung eines Spiegels oder von Videoaufzeichnungen. Er soll sich dabei seiner einzelnen Ticsymptome und der motorischen Teilreaktionen eines jeden Tics gewahr werden. c) Training der Reaktionserkennung: Während der Therapiesitzung erhält der Patient die Aufgabe, immer dann dem Therapeuten ein Signal zu geben, wenn ein Tic auftritt. Der Therapeut macht den Patienten auf das Auftreten einzelner nicht selbst wahrgenommener Tics aufmerksam. d) Training der Wahrnehmung früher Zeichen einer Ticreaktion: Der Patient versucht, gemeinsam mit dem Therapeuten die frühesten Anzeichen oder Vorgefühle vor einem Tic herauszufinden. e) Training der Wahrnehmung situativer Einflüsse: zusammen mit dem Patienten werden jene Situationen identifiziert, in denen die Symptomatik besonders intensiv oder besonders schwach ausgeprägt ist.
2. Entspannungsverfahren. Entspannungstechniken kön-
nen zur allgemeinen Verminderung von Stress und Anspannung beitragen und können so auch eine Reduktion der Ticsymptomatik bewirken. Am häufigsten wird dabei die progressive Muskelentspannung nach Jacobson eingesetzt. Als besonders hilfreich gelten diese Entspannungsverfahren, wenn sie als Selbstkontrolltechnik bei der Wahrnehmung von Ticimpulsen oder unmittelbar nach der Ausführung eines Tics angewandt werden. 3. Training inkompatibler Reaktionen. Das Training in-
37
kompatibler Reaktionen ist die zentrale Methode des gesamten Behandlungsprogramms. Dabei wird eine motorische Gegenbewegung zur Ticreaktion eingeübt, die gegen das Auftreten des Tics gerichtet ist. Diese Muskelreaktion sollte folgende drei Merkmale aufweisen: 4 sie sollte der Ticbewegung entgegengerichtet sein; 4 sie sollte für 1–2 Minuten aufrechterhalten werden können; 4 sie sollte weitgehend unauffällig durchgeführt werden können und sich in gerade ausgeübte Aktivitäten eingliedern lassen. Die isometrische Anspannung der Antagonisten, also jener Muskelgruppen, die gegensinnig zur Ticbewegung arbei-
ten, wird bei den meisten motorischen Tics als inkompatible Reaktion ausgewählt. Der Patient spannt diese Muskelgruppen gerade so stark an, dass die Ticbewegung nicht durchgeführt werden kann, selbst wenn er willentlich die Ticbewegung auszuführen versucht. Bei vokalen Tics haben sich ein spezielles Atemmuster und bei Blinzel-Tics ein systematisches Augenblinzeln bewährt. Die individuelle Gegenreaktion wird gemeinsam mit dem Patienten für jeden einzelnen Tic erarbeitet. Der Patient erhält schließlich die Aufgabe, diese Gegenreaktion immer dann etwa 1– 2 Minuten lang auszuführen, wenn ein Ticimpuls wahrgenommen oder ein Tic ausgeführt wird.
Beispiel Inkompatible Reaktionen 4 Augenblinzeln: Öffnen und Schließen der Augen alle 3–5 Sekunden. Der Blick wird dabei alle 5–10 Sekunden langsam und intensiv nach unten gerichtet. 4 Naserümpfen: Oberlippe etwas nach unten ziehen und Lippen zusammenpressen. 4 Kopfschütteln: Langsame isometrische Kontraktion der Nackenmuskeln. Die Augen bleiben geradeaus gerichtet, der Kopf wird ganz still gehalten. Ist der Kopfschüttel-Tic nur auf eine Körperseite gerichtet, dann kann eine Kontraktion der Nackenmuskeln durchgeführt werden, die den Kopf in die entgegengesetzte Richtung bewegt. 4 Schulterzucken nach oben: Isometrische Kontraktion der Muskelgruppen, die die Schulter herunterdrücken als Gegenreaktion zu der nach oben gerichteten Ticbewegung. 4 Einfache Lautäußerungen: Langsames rhythmisches tiefes Atmen durch die Nase. Die kontinuierliche Ausatmung (ca. 7 Sekunden) sollte etwas länger dauern als das Einatmen (ca. 5 Sekunden).
4. Kontingenzmanagement. Die beschriebene Behandlungsstrategie verlangt sehr viel Einsatz vom Patienten und erfordert daher eine hohe Behandlungsmotivation, die von vornherein bei den meisten Patienten nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann. Deshalb nimmt das Kontingenzmanagement im Rahmen des Gesamtprogrammes eine bedeutende Stellung ein. Mithilfe von Token-Systemen können Symptomverminderungen und vor allem die Durchführung der einzelnen Behandlungskomponenten im natürlichen Umfeld positiv verstärkt werden. Am wichtigsten erscheint jedoch die intensive soziale Verstärkung und Zuwendung durch Bezugspersonen – Eltern, Lehrer oder auch gute Freunde – wenn einzelne Behandlungsschritte erfolgreich bewältigt werden. Beim Einsatz von positiver Verstärkung zur unmittelbaren Symptomreduktion können auch die Anwendung von milden aversiven Konsequenzen in die
657 37.5 · Therapeutisches Vorgehen
Überlegungen einbezogen werden. Die klinische Erfahrung zeigt, dass spielerisch gestaltete Response-cost-Systeme bei jüngeren Kindern erfolgreich eingesetzt werden können (Döpfner et al. 2009a, 7 Kap. III/13). 5. Generalisierungstraining. Über das gesamte Behandlungsprogramm hinweg muss der Unterstützung der Generalisation der in der Therapiesitzung erworbenen Techniken auf das natürliche soziale Umfeld eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Während jeder Behandlungssitzung wird der Patient damit vertraut gemacht, wie er seine Tics in Alltagssituationen kontrollieren kann. Zuerst übt er so lange, bis er die entsprechende Vorgehensweise in der Behandlungssitzung vollkommen beherrscht. Dann werden Alltagssituationen herausgearbeitet, in denen der Patient die Methode erproben kann.
Bei der Integration der Reaktionsumkehr in einem Selbstmanagementansatz werden folgende drei Situationen unterschieden (7 Übersicht): 1. kritische Situationen, in denen gehäuft Tics auftreten, 2. wenn ein Ticimpuls wahrgenommen wird und 3. wenn der Impuls nicht zu unterdrücken ist und eine Ticreaktion ausgeführt wird. Die einzelnen Handlungskomponenten werden zunächst in der Therapie zusammen mit dem Patienten erarbeitet und auf seine individuelle Symptomatik abgestimmt. Danach setzt der Patient diese Selbstkontrollstrategien im Alltag ein. . Abb. 37.6 verdeutlicht abschließend die verhaltenstherapeutischen Ansatzpunkte anhand des bereits dargestellten funktionalen Störungsmodells.
Selbstkontrolltechniken bei Ticstörungen (nach Döpfner et al. 2009a) 1. Bevor der Ticimpuls kommt (in kritischen Situationen) a) Selbstinstruktion, z. B.: – »Ich bemühe mich, den Tic nicht aufkommen zu lassen.« – »Wenn der Impuls kommt, werde ich mich ihm stellen…« b) Ablenkende Tätigkeit/Entspannung und Selbstverstärkung 2. Wenn der Impuls wahrgenommen wird a) Selbstinstruktion, z. B.: – »Ich spüre wie er kommt, jetzt Gegenbewegung einsetzen«
. Abb. 37.6. Funktionales Störungsmodell und verhaltenstherapeutische Ansatzpunkte
b) Impulsabbauende Technik – Gegenbewegung aufbauen (Muskelgruppen anspannen) c) Entspannung und Selbstverstärkung d) Protokollierung 3. Wenn der Impuls nicht zu unterdrücken ist a) Selbstinstruktion, z. B.: – »Der Tic kommt, jetzt abbremsen.« b) Gegenbewegung aufbauen: – Tic abbremsen – Gegenbewegung durchführen c) Entspannung und Selbstverstärkung d) Protokollierung
37
658
Kapitel 37 · Ticstörungen
37.6
Fallbeispiel
(gekürzte Fassung aus Döpfner u. Reister 2000)
Symptomatik und Entwicklungsgeschichte
37
Der 16-jährige Rolf leidet seit dem 4. Lebensjahr an einer chronischen Ticstörung, die sich unter medikamentöser Behandlung zwar verbessert habe, aber weiterhin sehr belastend sei. Bei einer mehrtägigen Sportfreizeit seien die bestehenden Tics (Blinzeln, Naserümpfen, Umstülpen der Unterlippe, Unterkieferbewegungen und Schulterrucken) wieder sehr viel stärker aufgetreten. Außerdem habe sich in dieser Zeit erstmalig ein Räuspern entwickelt. Einzelne Tics seien jetzt extrem heftig. Durch das Umstülpen der Unterlippe platze diese auf und blute stark; auch die Unterkieferbewegungen seien sehr schmerzhaft und Rolf befürchte, sich den Unterkiefer auszurenken. Außerdem sei es für Rolf besonders quälend, wenn die Tics in der Öffentlichkeit auftreten und von anderen Personen bemerkt werden. Auch sei es ihm sehr peinlich, wenn er das Räuspern im Schulunterricht nicht unterdrücken kann und seine Mitschüler ihn dann überrascht, entsetzt oder abwertend anschauen würden. Das Räuspern trete besonders dann auf, wenn er sich melde und einen Satz beginnen wolle; während des Sprechens trete es dagegen eher selten auf. Allerdings sei ihm das Räuspern im Beisein der Mitschüler so peinlich, dass er sich nun kaum noch freiwillig melde. Viele Klassenkameraden hänselten ihn dagegen ständig. »Blinzler« oder auch »Spastiker« seien die gängigen Spitznamen. Rolf schildert, dass er in letzter Zeit ganz erschöpft von der Schule nach Hause komme; dann ziehe er sich zunächst in sein Zimmer zurück und müsse sich erst einmal »richtig austicken«. Das bedeutet, dass er dann die Tics »frei herauslässt« und so den »angestauten Druck etwas abbauen« könne. In der Schule versuche er mit allen Mitteln, die Tics vor den anderen zu verbergen; es gäbe einige Tricks, die ihm helfen, die Symptome für wenige Minuten zu kontrollieren. Zu Hause ermahnten ihn seine Eltern öfter, die Tics stärker zu unterdrücken, was er überhaupt nicht ausstehen könne. Er habe dadurch immer wieder das Gefühl, von seiner Mutter extrem kontrolliert zu werden. Gelegentlich schreie er dann seine Eltern an und werde richtig wütend. Die Mutter berichtet erstaunt, dass Rolf bei manchen Aktivitäten, beispielsweise bei Sport oder beim Klavierspielen, die Tics auch für längere Zeit völlig kontrollieren könne, so dass sie manchmal den Eindruck habe, er könnte die Tics wesentlich besser unterdrücken, wenn er nur wollte. Rolf sei als Kleinkind eher ruhig und »pflegeleicht« gewesen, habe gut gegessen, getrunken und ausreichend geschlafen. Die Mutter berichtet, einem Kinderarzt sei aufgefallen, dass das Kind häufig und intensiv blinzle, als Rolf etwa 4 ½ Jahre alt war. Mit der Zeit seien dann immer mehr Tics hinzugekommen. Nach regelrechter Einschulung habe Rolf wegen des Umzugs der Familie in der 4. Klasse die Schule gewechselt. Dort habe er große Schwierigkeiten ge-
habt, sich in die Klassengemeinschaft einzufinden. Es sei zu massiven Hänseleien durch Mitschüler gekommen. Gegen Ende des 4. Schuljahres seien die Tics extrem stark geworden. Weitere Bewegungen – Schulterrucken, Hände verkrampfen, Bauch einziehen und sich nach vorne neigen, Hacken beim Gehen ans Gesäß schlagen und Hand an den Kopf schlagen – seien in dieser Zeit aufgetreten. Mit der Schwester habe es zu dieser Zeit zu Hause jedoch wegen jeder Kleinigkeit Streit und auch Raufereien gegeben. An den Wochenenden seien die Tics jedoch regelmäßig besser geworden. Schließlich habe sich Rolf geweigert, weiter in die Schule zu gehen, was auch zu ziemlichen Auseinandersetzungen mit dem Vater geführt habe. Mittlerweile nehme Rolf seit 3 Jahren Medikamente (Tiapridex) ein. Die Ticsymptome seien jedoch nie völlig verschwunden und es habe immer wieder bessere und schlechtere Wochen gegeben, ohne dass Rolf dafür eine Ursache angeben könne. Insgesamt hat Rolf aber den Eindruck, dass die Wirkung des Medikamentes deutlich nachgelassen habe. Beim Erstgespräch neigte Rolf dazu, seine Symptome zu bagatellisieren, versuchte die Tics zurückzuhalten oder zu verbergen und führte verschiedene Handbewegungen durch, mit denen er Tics im Gesichtsbereich verdecken konnte. In der Untersuchungssituation waren hochfrequentes Augenblinzeln, Naserümpfen und Umstülpen der Lippe sowie etwa alle 5 Minuten ein deutliches Räuspern beobachtbar. Aufgrund der Exploration und ergänzender Fragebögen konnte die Diagnose einer Tourette-Störung (F95.2) gestellt werden.
Therapie Eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung zwischen Rolf und dem Therapeuten ließ sich relativ rasch entwickeln. Zunächst wurden Rolfs Fähigkeiten (Sport, Beschäftigung mit EDV) und Interessen (Turniertanzen, Treffen mit Freunden) angesprochen. Dabei wurde auch thematisiert, in welchen Situationen die Ticsymptomatik vermindert war. Beim Tennis- und beim Fußballspielen traten kaum Tics auf. Außerdem wurde auch Rolfs Beziehung zu Freunden, Familie, Klassenkameraden und Lehrern thematisiert. Dabei wurden auch immer wieder die externen sowie die internen Konsequenzen der Ticstörung analysiert. Es zeigte sich im Verlauf der ersten Stunden, dass Rolf relativ rasch Vertrauen gewann und mehr und mehr über seine aktuelle und frühere Symptomatik sprechen konnte. Dabei wurde beobachtet, dass Rolf innerhalb der Therapiestunden ungezwungener und offener mit seinen Tics umging und diese immer weniger vor dem Therapeuten zu verstecken suchte. Im Rahmen des Selbstwahrnehmungstrainings wurde zunächst die Selbstbeobachtung der Ticsymptomatik mit dem für Rolf am meisten störenden Tic (Augenblinzeln) begonnen. Zuerst wurde Rolf dazu aufgefordert, innerhalb einer Zeitspanne von 5 Minuten bei jedem auftretenden Augenblinzeln den Ticimpuls (sensorische Komponente)
659 37.6 · Fallbeispiel
sowie die Ticreaktion (motorische Komponente) mittels einer Strichliste zu zählen. Übersehene Tics wurden vom Therapeuten zurückgemeldet. Rolf bewältigte diese Selbstbeobachtungsaufgabe relativ rasch, so dass die Übung schrittweise auf die übrigen Tics (Naserümpfen, Lippenumstülpen, Räuspern) ausgedehnt werden konnte. Rolf lernte dabei, die verschiedenen Ticreaktionen sowie die dazugehörigen sensorischen Ticimpulse präzise zu beschreiben. Auch übte er, die zeitliche Abfolge (Beginn des Impulses, Aufbau der Spannung, Beginn der Ticbewegung, Dauer der Spannungsreduktion) zu erfassen. Dabei wurden Videoaufnahmen und das Arbeiten vor einem Spiegel als Rückmeldetechniken eingesetzt. Danach wurde mit Rolf besprochen, wie er die Selbstbeobachtung der Ticsymptomatik zu Hause täglich durchführen konnte. Dazu wurde ein standardisiertes Tagebuch eingesetzt. Neben der Häufigkeit der Tics sowie der subjektiven Belastung durch die Symptomatik sollte Rolf in diesem Tagebuch auch Beobachtungen zu auslösenden Bedingungen und zu Situationen notieren, in denen die Tics vermindert auftreten. Im Verlauf der ersten Wochen des Selbstwahrnehmungstrainings ließ sich bereits eine deutliche Verminderung in der Auftretenshäufigkeit der Tics »Naserümpfen« und »Lippeumstülpen« sowie »Räuspern« feststellen. Parallel zu dieser Entwicklung verminderte sich auch die subjektive Belastung durch diese Tics. Während einer schulfreien Woche waren diese Symptome kaum noch ausgeprägt. Bereits in dieser Phase wurden Probleme beim Umgang mit der Symptomatik aufgegriffen und thematisiert. So zeigte sich, dass Rolf sehr unsicher und verärgert reagierte, wenn er von fremden Jugendlichen auf die Tics angesprochen wurde. Gemeinsam mit Rolf wurden Verhaltensalternativen für diese Situationen gegenüber Freunden, Lehrern, Mitschülern und Fremden erarbeitet und im Rollenspiel eingeübt. Die Klassenlehrerin wurde telefonisch und anhand eines Informationsblattes über die Symptomatik unterrichtet. Nachdem mit den Eltern die negativen Auswirkungen ihrer engmaschigen Kontrolle der Symptomatik besprochen wurden und sich die Tics vermindert hatten, konnten die Eltern ihre Kontrollen ebenfalls verringern, worüber Rolf sichtlich erleichtert war. Die schriftliche tägliche Selbstbeobachtung der Ticsymptomatik wurde bis zum Therapieende weitergeführt. Zum Training inkompatibler Reaktionen wurde zunächst der Blinzel-Tic als der am meisten störende Tic herausgegriffen. Da beim Blinzeln nicht nur ein repetitiver Augenlidschluss, sondern auch Kontraktionen der benachbarten mimischen Muskulatur auftraten, wurde als motorische Gegenbewegung ein forciertes Zukneifen der Augen für 30 Sekunden gewählt. Dieses wurde innerhalb der Therapiestunde trainiert. Dabei wurde besonders darauf geachtet, dass die Durchführung der Gegenbewegung in verschiedenen sozialen Situationen kaum auffiel und für Rolf akzeptabel war. Während der Einübung signalisierte Rolf, wenn die sensorische Empfindung »trockene Augen« an-
kündigte, dass ein Blinzeln bevorstand. Wurde der sensorische Impuls stärker, dann führte Rolf die entsprechende Gegenbewegung für mindestens 30 Sekunden durch. Danach lernte Rolf, sich durch eine Atemübung (tief einatmen, ganz langsam ausatmen) zu entspannen. Anhand eines Übungsprotokolls wurde mit Rolf vereinbart, wann und wie lange er zu Hause täglich übt. Rolf entschied sich dafür, jeweils nach der Schule in seinem Zimmer 30 Minuten lang die Trainingsaufgabe durchzuführen. Innerhalb der folgenden Wochen konnte Rolf den Blinzel-Tic deutlich vermindern, so dass die Frequenz bei durchschnittlich einige Male in 10 Minuten lag und es ticfreie Intervalle von 3–10 Minuten gab. Allerdings stieg in dieser Zeit die Frequenz des Räusper-Tics und des Naserümpf-Tics deutlich an. Eine solche Verschiebung der Symptomatik ist in der Anfangsphase des Trainings der Reaktionsumkehr häufiger zu beobachten. Daher wurden in den folgenden Wochen die zur Entspannung eingeübte Atemtechnik (tief einatmen, langsam ausatmen) als Gegenreaktion zum Räusper-Tic eingesetzt. Schließlich wurde auch eine Gegenbewegung zum Naserümpf-Tic (Oberlippe herunterziehen und Lippen zusammenpressen) eingeübt. Die nächsten Wochen gestalteten sich als problematisch, da der deutliche Anfangserfolg sich zunächst nicht fortsetzte. Die subjektive Belastung durch die Ticsymptomatik hatte sich jedoch deutlich vermindert, und für Rolf stand in dieser Phase die Arbeitsbelastung durch zahlreiche anstehende Klassenarbeiten im Vordergrund. Gerade der Versuch, die Übungszeiten des Reaktionsumkehrtrainings auszuweiten und mehr und mehr auf den gesamten Alltag (Schulbesuchszeit, zu Hause, Freizeit) auszudehnen, gelang zunächst nicht. Die Motivation zur Durchführung der Übungen sowie die Bereitschaft zu wöchentlichen Therapiekontakten sank, so dass in zwei Therapiestunden der Schulstress und Leistungsdruck, die Erwartungen der Eltern hinsichtlich der Schulleistungen und der Zusammenhang von Schulstress und Ticsymptomatik thematisiert wurden. Rolf konnte erkennen, dass er in den Schulstunden bei geringer Symptomatik auch besser lernen und sich mündlich beteiligen konnte, so dass sich die schulischen Leistungen auch verbesserten. Durch die Festlegung kurzfristiger Therapieziele und die Vereinbarung einer telefonischen Rückmeldung der Trainingserfolge an den Therapeuten konnte die Motivation insgesamt verbessert und die Durchführung der Reaktionsumkehr im Alltag ausgeweitet werden. Mit der daraus resultierenden Verminderung der Ticsymptomatik konnte Rolf auch seinen sozialen Rückzug zunehmend aufgeben. Die Streitigkeiten in der Klasse verminderten sich, weil auch die Klassenkameraden die Veränderungen feststellten und die Klassenlehrerin mit Zustimmung von Rolf in einer Unterrichtsstunde das Tourette-Syndrom mit der Klasse besprach und damit eine konstruktive Diskussion über den angemessenen Umgang mit der Problematik durch die Klassenkameraden und zur Fairness gegenüber Rolf angestoßen wurde.
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Kapitel 37 · Ticstörungen
Nachkontrolle Nach 16 Therapiestunden innerhalb von 18 Wochen wurde die intensive Therapiephase beendet und zwei Nachsorgetermine nach 6 und nach 12 Wochen vereinbart. Dabei zeigte sich, dass sich die Ticsymptomatik weiter verringert hatte. Erleichtert zeigte sich Rolf auch, dass nun die Tics von seinen Mitschülern nicht mehr bemerkt wurden und er von verschiedenen Jugendlichen positiv darauf angesprochen wurde. Die medikamentöse Behandlung mit Tiapridex wurde weitergeführt, Nebenwirkungen bestanden nicht. Bei einer weiteren Nachuntersuchung, 4 Monate nach Behandlungsende erwies sich die beschriebene Symptomminderung weiterhin als stabil.
37.7
37
Empirische Belege
Die Wirksamkeit der Reaktionsumkehr ist mittlerweile gut belegt (vgl. Döpfner u. Rothenberger 2007b; Döpfner et al. 2009a). Seit den ersten Untersuchungen von Azrin und Mitarbeitern (Azrin u. Nunn 1973; Azrin et al. 1980) wurden mehr als 100 Wirksamkeitsstudien veröffentlicht, die in mehreren Übersichtsarbeiten zusammenfassend beurteilt wurden (Azrin u. Peterson 1988; Carr u. Chong 2005; Peterson et al. 1994). Peterson und Mitarbeiter (1994) zeigen in ihrer Übersichtsarbeit, dass Reaktionsumkehr zu Reduktionen in der Ticfrequenz von bis zu 90% in der Familie und bis zu 80% in klinischen Beobachtungssituationen führen kann. Allerdings müssen bei den vorliegenden Studien verschiedene methodische Schwächen berücksichtigt werden. So sind überwiegend Einzelfallanalysen mit begrenzter Aussagekraft durchgeführt worden. In den 20 von Carr und Chong (2005) analysierten Studien wurden insgesamt 114 Patienten (zumeist Erwachsene) untersucht. Davon wurden 108 erfolgreich behandelt – mit einer Erfolgsrate von 95% kann dies zunächst als deutlicher Beweis der Wirksamkeit von Reaktionsumkehr gelten. Allerdings wurden nur in 15 der 20 Studien experimentelle Wirksamkeitskontrollen eingesetzt, und in nur 12 Studien wurden die Ticsymptome direkt über Beobachtungsverfahren erfasst. Diese Studien schlossen 90 Teilnehmer ein (Alter: 6–66 Jahre), davon wurden 73% in drei Studien behandelt (Azrin u. Peterson 1988; Miltenberger et al. 1985; O’Connor et al. 2001). Von den 90 in die 12 Studien eingeschlossenen Patienten wurde bei 85 (94%) eine Reduktion der Ticsymptomatik im Verlauf der Behandlung festgestellt. Zehn der zwölf Studien führten eine Nachuntersuchung nach durchschnittlich 10 Monaten (1 Monat bis 2 Jahre) durch, bei denen sich überwiegend eine Stabilisierung der Behandlungseffekte nachweisen ließ. Zwei neuere nicht in die Übersichtsarbeit von Carr und Chong (2005) eingeschlossene Studien sind erwähnenswert. Wilhelm et al. (2003) zeigen an einer Stichprobe von 32 Erwachsenen mit Tourette-Syndrom, dass Reaktionsumkehr wirksamer ist als supportive Psychotherapie, wobei sich die Effekte über weitere
10 Monate hinweg stabilisierten. In Deutschland wurden erfolgreiche Therapien mit Reaktionsumkehr in Einzelfallanalysen und Kasuistiken beschrieben (Döpfner 1996; Döpfner u. Reister 2000). Erste Ergebnisse aus einer groß angelegten multizentrischen Studie in den USA (Comprehenisve Behavioral Interventions for Tics Study, CBITS) sind kürzlich veröffentlicht worden (Piacentini 2008). In dieser randomisierten Kontrollgruppenstudie wurden 61 Patienten mit TouretteSyndrom oder chronisch motorischer Ticstörung im Alter von 9 bis 16 Jahren mit Reaktionsumkehr (10 Sitzungen) behandelt und mit 65 Patienten verglichen, die eine allgemeine Psychoedukation und supportive Psychotherapie erhielten. Auf allen primären Erfolgsmaßen konnte eine deutlich stärkere Verminderung der Ticsymptomatik unter Reaktionsumkehr nachgewiesen werden. Global wurde unter der verhaltenstherapeutischen Intervention bei 52% zumindest eine deutliche Verbesserung der Symptomatik gefunden, im Vergleich zu 19% bei supportiver Psychotherapie. Die Effektstärke bei der Verminderung der Ticsymptome lag mit d=.55 im Bereich einer mittleren Wirksamkeit. Die der Reaktionsumkehr zugrunde liegenden Mechanismen sind bislang nicht geklärt. Azrin und Nunn (1973) vermuteten ursprünglich, dass die Behandlungseffekte durch Stärkung der ticinkompatiblen Muskeln und neuronalen Bahnen sowie durch die erhöhte Aufmerksamkeit für die Tics durch die inkompatiblen Reaktionen ausgelöst werden. Miltenberger und Fuqua (1985) nehmen dagegen an, dass die aversive Qualität der Gegenbewegung als Bestrafungsreiz auf die Ticreaktion wirkt. Danach kann die Gegenbewegung als Selbstbestrafung interpretiert werden, die kontingent auf die Ticreaktion erfolgt. Für diese Hypothese spricht, dass Gegenbewegungen, die in anderen Körperregionen als der Tic durchgeführt werden, ebenfalls wirkungsvoll sind (Sharenow et al. 1989). Diese Effekte lassen sich nämlich nicht auf die Stärkung von spezischen Muskelgruppen oder neuronalen Bahnen zurückführen, die an der Ticsymptomtatik beteiligt sind. Zudem kann diese Hypothese der Selbstbestrafungseffekte auch mit neurobiologischen Befunden in Einklang gebracht werden, nach denen Frontalhirnaktivitäten zur Kompensation gestörter subkortikaler Netze eingesetzt werden (Leckman et al. 2006).
37.8
Ausblick
Obwohl Ticstörungen im Kindes- und Jugendalter häufig auftreten, ist ihre Behandlung mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen im deutschsprachigen Raum sehr selten. Diese haben jedoch, wenn sie konsequent durchgeführt werden, deutliche Effekte, die den pharmakologischen Effekten nicht nachstehen, wie die jüngste umfassende Studie von Piacentini (2008) zeigt. Die klinische Erfahrung lehrt
661 Literatur
jedoch auch, dass die Therapiemotivation einen entscheidenden Faktor beim Therapieerfolg darstellt, da in der Therapie vom Patienten genau das verlangt werden muss, was er am wenigsten kann – nämlich Selbstkontrolle. Weitere Therapiestudien sind notwendig, um Möglichkeiten zur Verbesserung der Therapiemotivation und zur Förderung der Umsetzung der Reaktionsumkehr im Alltag zu untersuchen. Bei Kindern unterhalb des Alters von 8 bis 9 Jahren sind andere Methoden notwendig, die bislang nicht systematisch untersucht worden sind (z. B. Verstärkerentzugstechniken). Sowohl verhaltenstherapeutische als auch pharmakologische Methoden scheinen zudem bei jenen Patienten weniger hilfreich zu sein, die extrem stark von der Symptomatik betroffen sind. In diesen sehr seltenen Fällen sind möglicherweise auch neurochirurgische Eingriffe indiziert, deren Wirksamkeit jedoch noch genauer untersucht werden muss.
Zusammenfassung Tics werden als unwillkürliche, rasche, wiederholte, nichtrhythmische motorische Bewegungen definiert, die umschriebene Muskelgruppen betreffen (motorische Tics) oder vokale Produktionen, die plötzlich einsetzen und keinem offensichtlichen Zweck dienen (vokale Tics). In der Klassifikation wird zwischen der vorübergehenden Ticstörung, der chronischen motorischen oder vokalen Ticstörung und dem Tourette-Syndrom (F95.2) unterschieden. Etwa 3–4% aller Kinder zeigen chronische Symptome einer Ticstörung, die Prävalenz des Tourette-Syndroms liegt deutlich darunter. So gut wie immer liegt der Beginn der Ticsymptomatik in der Kindheit oder Adoleszenz, im Erwachsenenalter nimmt die Symptomatik meist ab. Der Einfluss genetischer Faktoren liegt bei 30–50%. Es wird eine Störung der subkortikalen Eigenhemmung und der motorischen Bewegungskontrolle vermutet. Sowohl verhaltenstherapeutische Methoden als auch Pharmakotherapie haben sich als wirkungsvoll erwiesen. In der Verhaltenstherapie ist die Wirksamkeit der Methode der Reaktionsumkehr (Habit Reversal) in vielen Studien belegt. In der Pharmakotherapie haben sich Dopamin-2-Rezeptor-blockierende Medikamente bewährt.
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Weiterführende Literatur Döpfner, M., Rössner, V., Bätz, K.& Rothenberger, A. (2009). Tic-Störungen (Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Bd. 13). Göttingen: Hogrefe. Döpfner, M.& Rothenberger, A. (2007). Behavior therapy in tic-disorders with co-existing ADHD. European Child and Adolescent Psychiatry, 16(Suppl. 1), 89–99. Rothenberger, A., Banaschewski, T. & Roessner, V. (2007). Ticstörungen (F95). In Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie Psychosomatik und Psychotherapie, Bundesarbeitsgemeinschaft Leitender Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie Psychosomatik und Psychotherapie & Berufsverband der Ärzte für Kinderund Jugendpsychiatrie Psychosomatik und Psychotherapie (Hrsg.), Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (3. überarb. und erw. Aufl., S. 319–325). Köln: Deutscher Ärzte Verlag.
38
38 Depression/Suizidalität Patrick Pössel
38.1
Einleitung
– 664
38.2
Darstellung der Störung – 664
38.2.1 38.2.2 38.2.3 38.2.4
Phänomenologie – 664 Epidemiologie und Verlauf – 666 Komorbidität und psychosoziale Begleiterscheinungen – 667 Diagnostik – 668
38.3
Kognitiv-verhaltenstherapeutische Störungskonzepte – 672
38.3.1 38.3.2 38.3.3
Das kognitive Modell der Depression von Beck Hoffnungslosigkeitsmodell – 674 Multifaktorielles Depressionsmodell – 676
38.4
Therapeutisches Vorgehen
38.4.1 38.4.2
Ziele und Grundlagen – 678 Therapeutische Maßnahmen – 679
38.5
Fallbeispiel
38.5.1 38.5.2 38.5.3
Krankheitsgeschichte – 682 Differenzialdiagnostik – 683 Verhaltenstherapeutische Behandlung
38.6
Empirische Belege
38.7
Ausblick
– 678
– 682
– 685
– 686
Zusammenfassung – 686 Literatur
– 686
Weiterführende Literatur
– 687
– 683
– 672
664
Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
38.1
Einleitung
Schattentag Die Sonne erhellt einen neuen Tag Und ich weiß, dass ich heute wieder nicht mag. Gedanken kreisen, mein Körper ist schwer. Die Unruh’ der Nacht belastet mich sehr. Den Wunsch hätt’ ich schon, jetzt aufzustehen, den Tag zu genießen, die Sonne zu sehen. Doch Steine sind Berge, Sträucher sind Wald Und alles, was ist, ist unwirklich kalt. Um mich herum ist alles still Und niemand, der wissen will, wie es mir heute wirklich geht, der mich begreift und mich versteht. Draußen wär’ Sonne, im Herzen ist Nacht. Ich teile den Tag mit einer Macht, die in mir wohnt, die zu mir gehört, die mein Leben verändert; vielleicht auch zerstört. Es fehlt mir die Kraft, um aufzustehen Und die Welt mit meinen Augen zu sehen. Stunden vergehen – der Tag ist verlebt, die Seele bleibt mit Schleiern belegt. Was bleibt ist die Hoffnung, dass irgendwann Ich zu mir finden und froh sein kann. Ich bleibe liegen, weil ich nicht mag. Heute ist wieder Schattentag. (http://www.depressionen.ch)
38
Depressionen bei Kindern und Jugendlichen stellen noch immer ein oft unterschätztes Problem dar. Das individuelle Leid und der innere Kampf mit einer Depression kann dabei kaum anschaulicher dargestellt werden als in dem einleitenden Gedicht eines Betroffenen. Äußerst plastisch werden darin die Kardinalsymptome einer Depression (7 Abschn. 38.2.1) beschrieben und damit auch gleichzeitig die Anforderungen verdeutlicht, mit denen sich Psychotherapeuten zu Beginn einer Therapie konfrontiert sehen. Neben dem individuellen Leid muss jedoch auch die gesellschaftliche Bedeutsamkeit von Depressionen berücksichtigt werden. So kommt Depression eine zunehmend größere Bedeutung für die Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft zu (WHO 2001). Bereits 1990 stand die unipolare Depression weltweit an vierter Stelle aller Ursachen gesundheitlicher Beeinträchtigung und vorzeitiger Mortalität (Murray u. Lopez, 1996). Nach den Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation werden Depressionen bis zum Jahr 2020 sogar auf den zweiten Platz vorrücken, nur noch übertroffen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dadurch wachsen die Gesundheitsausgaben in eine Höhe, die selbst für wohlhabende Gesellschaften kaum mehr finanzierbar sind, bedenkt man, dass Depressionen schon jetzt in Deutschland allein Kosten von etwa 17 Mrd. Euro pro Jahr verursachen (Kompetenznetz Depression 2005).
Verantwortlich für diese Situation ist neben dem oftmals chronisch rezidivierenden Verlauf, dass bis zu drei Viertel der depressiven Kinder und Jugendlichen nicht oder nicht angemessen behandelt werden. Von den verbleibenden Jugendlichen erhalten viele auch erst dann eine Behandlung, nachdem sie bereits in der Schule gescheitert oder juristisch auffällig geworden sind und ihre Probleme damit schon deutlich eskaliert und kompliziert worden sind. Dennoch wurde Depression bei Kindern und Jugendlichen bis vor wenigen Jahrzehnten kaum zur Kenntnis genommen. Dabei wurde davon ausgegangen, dass depressive Störungen im Kindes- und Jugendalter aufgrund verschiedener Entwicklungsaspekte keine klinische Relevanz haben. Erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden erste Studien publiziert, die die Bedeutung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen hervorhoben. So veröffentlichten Poznanski und Zrull 1970 einen Artikel, in dem die Autoren jugendliche Patienten darstellten. Im Jahre 1973 übertrugen Weinberg und Mitarbeiter die Kriterien zur Diagnose und medikamentösen Therapie von erwachsenen Depressiven auf Kinder. Damit war der Weg frei für die Anwendung der Diagnosekriterien klassicher Klassifikationssysteme auf jugendliche Patienten. In der Folgezeit gelang es zunehmend häufiger, die für Erwachsene typischen depressiven Symptome auch bei Kindern und Jugendlichen zu verifizieren und zu erfassen. Auf diesen Grundlagen setzte sich zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts zunehmend die Erkenntnis durch, dass Depressionen bei Kindern und Jugendlichen denen im Erwachsenenalter vergleichbar sind, entsprechend eine bedeutsame Problematik darstellen und demnach auch behandlungsbedürftig sind. Jedoch erst seit Einführung des DSM-III wurde Depression im Kindes- und insbesondere im Jugendalter eine größere Aufmerksamkeit zuteil. Die Aufmerksamkeit von Fachkreisen beschränkt sich dabei bisher überwiegend auf Major Depression, während bipolare Störungen und Dysthymie nach wie vor unbeachtet bleiben. Entsprechend liegen bis heute ausschließlich Manuale oder Behandlungsrichtlinien für Major Depression vor. Aus diesem Grund ist im Folgenden die Verwendung des Begriffes Depression entsprechend als Synonym zu Major Depression zu verstehen. Sollten Informationen auf andere depressive Störungen generalisierbar sein, werden diese explizit genannt.
38.2
Darstellung der Störung
38.2.1 Phänomenologie
Depression wird den sog. internalisierenden Störungen zugerechnet. Störungen dieser Gruppe sind nach außen häufig schwer zu erkennen, da sich ihre Kernsymptome auf Beeinträchtigungen des inneren Erlebens und der Gefühlsund Stimmungslage sowie auf passives, defensives und vermeidendes Verhalten beziehen. Bei Depression sind diese
665 38.2 · Darstellung der Störung
. Tab. 38.1. Klassifikation von depressiven Störungen nach ICD-10 (Dilling et al. 2004) und DSM-IV-TR (APA 2000) ICD-10
DSM-IV-TR
Depressive Episode (F32)
Major Depression, einzelne Episode (296.2x)
Rezidivierende depressive Störung (F33)
Major Depression, rezidivierend (296.3x)
Anhaltende affektive Störung (F34)
Dysthyme Störung (300.4)
Sonstige affektive Störung (F38)
Nicht näher bezeichnete depressive Störung (311)
Nicht näher bezeichnete affektive Störung (F39) Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43.2)
Anpassungsstörung mit depressiver Verstimmung (309.0) Anpassungsstörung mit gemischter Angst und depressiver Verstimmung (309.28)
Angst und Depression, gemischt (F41.2) Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0)
Kernsymptome a) eine deutliche emotionale Niedergeschlagenheit bzw. Traurigkeit (depressive Verstimmung), b) eine eingeschränkte Möglichkeit, Freude, Spaß, Lust und Interesse zu erleben (Anhedonie), und c) ein verminderter Antrieb, weniger Aktivität und eine leichtere Erschöpfbarkeit. Nach der ICD-10 (Dilling et al. 2004) müssen bei den meisten Formen einer Depression (. Tab. 38.1) mindestens zwei dieser Kernsymptome über eine Dauer von mindestens 2 Wochen vorliegen, um als depressive Störung diagnostizierbar zu sein. Die Ausnahme von dieser Regel stellt die dysthyme Störung (in der ICD-10 »anhaltende affektive Störung«, F34) dar. Hierbei handelt es sich um eine chronische, aber weniger schwere Verlaufsform der Depression. Entsprechend ist hier das Vorliegen eines Kernsymptoms
für die Dauer von mindestens 2 Jahren für eine Diagnose notwendig (im DSM-IV-TR ist die notwendige Zeitdauer für Kinder auf ein Jahr herabgesetzt). Weitere Symptome einer Depression sind 1. Verlust von Selbstvertrauen oder Selbstwertgefühl, 2. unbegründete Selbstvorwürfe, 3. wiederkehrende Gedanken an den Tod oder an Suizid oder suizidales Verhalten, 4. Kopfschmerzen, gastrointestinale Beschwerden, 5. Schlafstörungen (typisch sind Ein- und Durchschlafstörungen sowie Früherwachen), 6. Störungen des Appetits, 7. vermindertes Denk- oder Konzentrationsvermögen. Von diesen Symptomen müssen je nach Schwere der Störung mindestens zwei weitere gleichzeitig zu den Kernsymptome vorliegen.
Unterschiede in der Klassifikation zwischen ICD-10 und DSM-IV-TR Die symptomatischen und Zeitkriterien der beiden Klassifikationssysteme zur Diagnose depressiver Störungen stimmen weitestgehend überein, wobei bei Kindern und Jugendlichen grundsätzlich dieselben Kriterien wie für Erwachsene zugrunde gelegt werden. Das DSM-IV-TR berücksichtigt jedoch im Gegensatz zur ICD-10 einige Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen auf der einen und Erwachsenen auf der anderen Seite. So wird im DSM-IV-TR explizit darauf hingewiesen, dass Symptome von Depression in Abhängigkeit vom Alter und Entwicklungsstand der Betroffenen in unterschiedlicher Form und unterschiedlich deutlich ausgeprägt auftreten kön-
Entwicklungsspezifische Symptomatik Von nicht zu unterschätzender Praxisrelevanz ist die in . Tab. 38.2 aufgeführte entwicklungsspezifische Symptomatik von Depression im Kindes- und Jugendalter, die sich z. T. erheblich von der dargestellten Symptomatik in
nen. Weiterhin kann nach dem DSM-IV-TR neben Traurigkeit auch reizbare oder übellaunige Verstimmung als Kernsymptom einer Depression im Kindes- und Jugendalter kodiert werden. In der ICD-10 wird stattdessen eher der Idee der Komorbidität von Externalisierungsstörungen und Depression durch die Möglichkeit einer kombinierten Diagnose »Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung« (F92.0) Rechnung getragen. Abschließend wird im DMS-IVTR im Gegensatz zur ICD-10 die Mindestdauer einer dysthymen Störung von 2 Jahren bei Erwachsenen auf 1 Jahr für Kinder herabgesetzt.
den – (hauptsächlich) auf erwachsene Patienten fokussierenden – Klassifikationssystemen unterscheiden (DGKJP 2003). Betrachtet man die entwicklungsspezifische Symptomatik, so zeigt sich, dass – trotz weitgehender Überein-
38
666
Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
. Tab. 38.2. Veränderung der Symptome einer Depression im Entwicklungsverlauf. (Aus DGKJP 2003) Entwicklungszeitraum
Symptome
Kleinkindalter (1–3 Jahre)
Wirkt traurig Ausdrucksarmes Gesicht Erhöhte Irritabilität Gestörtes Essverhalten Schlafstörungen Selbststimulierendes Verhalten: Jactatio capitis, exzessives Daumenlutschen Genitale Manipulation Auffälliges Spielverhalten, reduzierte Kreativität und Ausdauer Spielunlust Mangelnde Phantasie
Vorschulalter (3–6 Jahre)
Trauriger Gesichtsausdruck Verminderte Gestik und Mimik Leicht irritierbar und äußerst stimmungslabil Mangelnde Fähigkeit, sich zu freuen Introvertiertes Verhalten, aber auch aggressives Verhalten Vermindertes Interesse an motorischen Aktivitäten Essstörungen bis zu Gewichtsverlust/-zunahme Schlafstörungen, Albträume, Ein- und Durchschlafstörungen
Schulkinder
Verbale Berichte über Traurigkeit Suizidale Gedanken Befürchtungen, dass Eltern nicht genügend Beachtung schenken Schulleistungsstörungen
Pubertät und Jugendalter
Vermindertes Selbstvertrauen Apathie, Angst, Konzentrationsmangel Leistungsstörungen Zirkadiane Schwankungen des Befindens Psychosomatische Störungen Kriterien der depressiven Episode
stimmungen der Diagnosekriterien für Depressionen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen – Kinder in der Regel ein atypisches depressives Erscheinungsbild mit Angstsymptomen, körperlichen Beschwerden und Verhaltensproblemen zeigen, während kognitive Symptome frühestens ab dem mittleren Kindesalter offenkundig werden. Jugendliche hingegen neigen eher zu Gereiztheit als erwachsene Betroffene. Darüber hinaus berichten sie im Vergleich zu depressiven Kindern vermehrt über Schlaf- und Appetitstörungen sowie Suizidgedanken.
38.2.2 Epidemiologie und Verlauf
Störungsbeginn und Epidemiologie Während depressive Symptome in der Kindheit zwar auftreten, aber nur selten in ein vollständiges Bild einer Depression eingebettet sind, stellen Depressionen bei Jugendlichen eine der häufigsten und schwerwiegendsten psychischen Erkrankungen dar. Die Prävalenzrate von bis zu 5% bei Depressionen im Kindesalter steigt nach nationalen wie internationalen epidemiologischen Studien bei Jugendlichen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres auf 15–20% an (Überblick s. Groen et al. 2003). Insgesamt schwanken die Altersangaben zwischen epidemiologischen Studien, wann es zu diesem dramatischen Anstieg der Prävalenzrate kommt, wobei Anstiege zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr benannt werden (Übersicht s. Essau u. Conradt 2007). In Studien zur Geschlechtsverteilung von Depression bei Kindern und Jugendlichen zeigt sich bei nichtadulten Betroffenen ein gemischtes Bild. Während sich im Kindesalter noch keine konsistenten Geschlechtsunterschiede finden lassen – oder sogar ein Überwiegen bei Jungen vorzuliegen scheint – treten ab der Pubertät depressive Störungen gehäuft bei Mädchen auf. Wie auch später bei Frauen im Erwachsenenalter, sind Mädchen dabei etwa ab dem mittleren Jugendalter doppelt so häufig depressiv wie Jungen. Hierbei ist unklar, ob die Ursache hierfür ausschließlich darin zu sehen ist, dass Mädchen deutlich verstärkt von Depression betroffen sind oder aber die Rate der depressiven Jungen mit der Pubertät überhaupt nicht ansteigt (z. B. Wade et al. 2002).
Exkurs
38
Warum sind Mädchen ab der Pubertät häufiger von Depression betroffen als Jungen? Die Frage nach der Ursache für den starken Anstieg der und affektive Differenzen in der Stresswahrnehmung und -verarbeitung (stärkere Beeinträchtigung von Mädchen Prävalenz von Depression bei Mädchen in der Pubertät durch belastende Lebensereignisse, z. B. Scheidung der Elhat erhebliches Forschungsinteresse ausgelöst, dennoch tern) diskutiert (Petersen et al. 1991). Weiterhin werden Unist sie bis heute nicht eindeutig geklärt. So werden neben terschiede in den biologischen Veränderungen während geschlechtsspezifischer Sozialisation von Mädchen und der Pubertät, der Zeitpunkt der Pubertät wie auch UnterJungen auch erhöhte Anforderungen an Mädchen in der schiede in den sozialen Konsequenzen von früher bzw. späfrühen Adoleszenz und geschlechtsspezifische kognitive 6
667 38.2 · Darstellung der Störung
ter körperlicher Reifung bei Mädchen und Jungen als Risikofaktor für die Entwicklung von Depression im Jugendalter untersucht. Auch bezüglich dieser Frage scheint nicht nur ein Faktor für die höhere Prävalenzrate von Depressi-
Verlauf Der Verlauf einer unbehandelten Depression im Kindesund Jugendalter ist meist chronisch rezidivierend, so dass nach zwischenzeitlicher Besserung zwischen 40% und 90% der betroffenen Kinder und Jugendlichen mindestens eine weitere depressive Episode erleben. Dieser Verlauf setzt sich nach empirischen Studien bis ins Erwachsenenalter fort, so dass das Auftreten einer depressiven Episode im Kindesoder Jugendalter das Risiko weiterer depressiver Episoden, aber auch anderer psychischer Störungen sowohl im Jugend- als auch im Erwachsenenalter erheblich erhöht. Das Risiko des Wiederauftretens einer Depression wird dabei nicht beeinflusst von Geschlecht, Alter und Länge der ersten Episode oder dem Vorhandensein komorbider Angstbzw. Verhaltensstörungen. Alllerdings ist die Zeitspanne bis zu einen Rückfall bei einem frühen Ausbruch der Depression und dem Vorhandensein komorbider Dysthymie kürzer (Übersicht s. Essau u. Conradt 2007).
38.2.3 Komorbidität und psychosoziale
Begleiterscheinungen Im Folgenden werden kurz die häufigsten komorbiden Störungen, diesbezügliche Erklärungsmodelle und psychosoziale Begleiterscheinungen dargestellt, da diese Relevanz sowohl für die (Differenzial-)Diagnostik als auch für die Therapieplanung haben. Sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Situation wird oft durch diese mit Depression im Kindes- und Jugendalter einhergehenden Komorbiditäten und psychosozialen Begleiterscheinungen verkompliziert. Insgesamt leiden dabei 40–70% der depressiven Kinder und Jugendlichen unter mindestens einer weiteren psychischen Störung (Angold et al. 1999). Diese Kinder und Jugendlichen, die zusätzlich zu einer Depression weitere komorbide Diagnosen erfüllen, leiden dabei häufig unter stärkeren psychischen und psychosozialen Beeinträchtigungen und Komplikationen als ihre Peers mit reiner Depression. Die häufigsten komorbiden Störungen bei depressiven Kindern sind Angststörungen wie etwa Störung mit Trennungsangst, Externalisierungsstörungen (Störung des Sozialverhaltens, oppositionelles Trotzverhalten) und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Bei depressiven Jugendlichen kommen neben sozialen Phobien und generalisierter Angststörung vor allem Störungen durch Substanzkonsum und Essstörungen als häufige Komorbiditäten hinzu. Die zeitlichen und ätiologischen
on bei Mädchen ab der Pubertät verantwortlich zu sein, sondern alle genannten (und wahrscheinlich eine Reihe bisher nicht untersuchter) Faktoren scheinen im Sinne einer multifaktoriellen Verursachung zu partizipieren.
Zusammenhänge zwischen depressiven und anderen psychischen Störungen können dabei im Einzelnen stark variieren. Im Hinblick auf Geschlechtsunterschiede beim Auftreten komorbider Störungen scheinen sich weitgehend die Grundverteilungen der einzelnen Störungen bei beiden Geschlechtern widerzuspiegeln. So zeigen sich bei depressiven Mädchen häufiger zusätzlich Angst- und Essstörungen, bei Jungen hingegen treten vermehrt Externalisierungsstörungen, ADHS und Substanzkonsum auf (Übersicht siehe Groen et al. 2003). Angststörungen. Angststörungen gehören bei depressiven Kindern und Jugendlichen zu den häufigsten komorbiden psychischen Störungen und treten in der Regel vor der ersten depressiven Episode auf. Als ein Grund für die ausgeprägte Komorbidität werden neben Symptomüberlappungen ätiologische Zusammenhänge vermutet, wobei auch entwicklungsbezogene Variablen berücksichtigt werden. Demnach lassen sich beide Störungen auf eine dysfunktionale Emotionsregulation bzw. negative Affektivität als eine gemeinsam zugrunde liegende Fehlanpassung oder Persönlichkeitsdisposition zurückführen. Eine entsprechende Disposition zeichnet sich durch verschiedene physiologische, verhaltensbezogene, kognitive und soziale Beeinträchtigungen aus, die mit einer unangemessenen Regulation und Bewältigung negativer Erfahrungen und Gefühle einhergehen. Je nach Entwicklungsstand der betroffenen Kinder und Jugendlichen kann diese Problematik zu Angst, Depression oder gemischten Symptomkonstellationen als dem primären äußeren Ausdruck der dysfunktionalen Emotionsregulation führen, wobei Angststörungen der entwicklungsgemäß frühere Ausdruck dieser basalen Beeinträchtigung zu sein scheinen. Externalisierungsstörungen. Auch für die hohen Komorbiditätsraten zwischen Depression und Externalisierungsstörungen werden unterschiedliche Erklärungsmodelle diskutiert. Als klassische Erklärung des Zusammenhangs von Depression und aggressivem Verhalten gilt die »lavierte« Depression, bei der insbesondere jüngere Kinder Traurigkeit und Niedergeschlagenheit in aggressiven Verhaltensweisen ausagieren (APA 2000). Eine andere Erklärung geht davon aus, dass das gemeinsame Auftreten beider Störungen als ein neues, eigenständiges Störungsbild anzusehen ist, das auf einer eigenen, spezifischen Ätiopathogenese und Nosologie beruht. Andere Autoren beziehen sich darauf, dass Depression häufig nach Externalisierungsstö-
38
668
Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
rungen auftritt und schließen daraus, dass mögliche psychosoziale Begleiterscheinungen der Externalisierungsstörungen (z. B. schulische Probleme, soziale Ablehnung) die Entwicklung einer depressiven Störung begünstigen können. Allerdings erscheint auch eine umgekehrte Verursachung möglich, wobei eine vorbestehende Depression das Risiko für eine Externalisierungsstörung ebenfalls erhöhen kann. Dabei können mögliche depressive Begleiterscheinungen wie etwa Gleichgültigkeit und ein reduziertes Sicherheitsbedürfnis, Ablehnung durch Peers sowie der Rückzug von prosozialen Verhaltensweisen sowohl aggressives als auch delinquentes Verhalten oder den Anschluss an entsprechende Cliquen begünstigen. Substanzmissbrauch. Auch im Hinblick auf das komorbide Auftreten von Depression mit Substanzmissbrauch werden unterschiedliche Zusammenhänge vermutet. Ein Entwicklungsweg von Depression zu Substanzmissbrauch kann darin bestehen, dass depressive Jugendliche versuchen, im Sinne einer »Selbstmedikation« ihre negativen Gefühle und Selbstwertprobleme mit Hilfe von Alkohol, Drogen oder Medikamenten zu bewältigen. In umgekehrter Richtung können durch einen missbräuchlichen Konsum von Alkohol oder Drogen verschiedene negative Begleiterscheinungen wie Schwierigkeiten mit Eltern und Peers oder finanzielle Probleme entstehen bzw. gefördert werden. Diese Begleiterscheinungen erhöhen dann wiederum die Wahrscheinlichkeit einer depressiven Entwicklung (z. B. Deykin et al. 1992). Essstörungen. Ebenso können auch Essstörungen nach
heutigen Forschungsergebnissen depressiven Erkrankungen vorangehen oder aber eine sekundäre Störung darstellen.
38
Suizidalität. Bei depressiven Erkrankungen muss in jedem Lebensalter auch Suizidalität berücksichtigt werden. Insbesondere bei Jugendlichen zeigt sich dabei eine hohe Korrelation zwischen Depression und Suizidalität. Erfolgreiche Suizide stellen mit 12% der Todesursachen bei Jugendlichen nach Verkehrsunfällen die zweithäufigste Todesursache dieser Altersgruppe dar, wobei die Inzidenz von Suizidversuchen im mittleren Jugendalter am höchsten ist. In der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen lag die Suizidrate (Anzahl der Suizide auf 100.000 Personen der gleichen Altersgruppe) bei den männlichen Jugendlichen bei 9,68, bei den weiblichen Jugendlichen bei 2,48 (Ihle et al. 2006), wobei vor allem Jugendliche mit komorbiden Störungen des Sozialverhaltens und/oder mit Substanzmissbrauch betroffen sind. Den Ergebnissen verschiedener Studien zufolge stehen generell über 90% der Selbstmorde im Jugendalter mit einer psychischen Störung (Birmaher et al. 1996) und mehr als 50% mit einer depressiven Störung in Verbindung (Hollon et al. 2002). Damit stellt juvenile Depression den bedeutsamsten Risikofaktor für Suizidalität in dieser Altersgruppe dar.
Psychosoziale Beeinträchtigungen. Zahlreiche Studien belegen heute, dass depressive Kinder und Jugendliche deutlich mehr psychosoziale Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebens- und Funktionsbereichen zeigen als ihre Peers (s. Übersicht). So weisen depressive Kinder und Jugendliche häufig erhebliche Schwierigkeiten bei der Bewältigung alltäglicher Anforderungen auf. Dabei handelt es sich bei den psychosozialen Begleiterscheinungen überwiegend um unspezifische Probleme, die häufig auch als Komplikationen bei anderen psychischen Störungen im Kindesund Jugendalter auftreten. Im weiteren Verlauf können diese psychosozialen Probleme dann die kognitive und emotionale Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen substanziell beeinträchtigen. Häufig kann nur schwer differenziert werden, ob sich die beobachteten psychosozialen Beeinträchtigungen erst als Begleiterscheinung bzw. Folge der Depression entwickelt oder bereits vor ihrem Auftreten vorgelegen haben und dann durch die Depression verfestigt oder verstärkt wurden. Jedoch überdauern viele dieser psychosozialen Begleiterscheinungen die depressiven Phasen (Reviews s. Kaslow u. Racusin 1990) und führen damit sogar zu einer Verlängerung bestehender depressiver Episoden bzw. fördern das Auftreten einer erneuten Episode.
Mit Depression verbundene psychosoziale Begleiterscheinungen (nach Groen et al. 2003) 4 Weniger soziale Kompetenzen und mehr zwischenmenschliche Probleme (z. B. schlechtere Beziehungen zu Gleichaltrigen, Eltern und Geschwistern, geringere Beliebtheit, soziale Ablehnung, häufiger Konflikte mit Polizei und Gerichten) 4 Rückzug, Passivität und weniger Freizeitbeschäftigungen 4 Reduzierte Leistungsfähigkeit, verringertes Konzentrations- und Durchhaltevermögen 4 Schulische Probleme (wie z. B. schlechtere Durchschnittsnoten, schlechtere Lehrer-Kind-Beziehung, mehr Fehlzeiten, vorzeitige Schulabbrüche).
38.2.4 Diagnostik
Da Diagnostik allgemein in Band 1 (7 Kap. I/20–I/26) und das diagnostische Vorgehen bei Kindern und Jugendlichen im Speziellen in 7 Kap. III/8 und III/9 des vorliegenden Lehrbuchs ausführlich besprochen wird, werden im Folgenden nur diagnostische Fragestelllungen von spezieller Relevanz für Depression und Suizidalität im Kindes- und Jugendalter behandelt. Dennoch sei an dieser Stelle insbesondere auf die zentrale Bedeutung von strukturierten Interviews (z. B. Kinder-DIPS, Kiddie-SADS-PL, 7 Kap. III/8), Problemanalysen (7 Kap. I/21) und Tagebüchern (7 Kap. I/22) für die
669 38.2 · Darstellung der Störung
Diagnostik und Therapie von Depression und Suizidalität auch bei Kindern und Jugendlichen hingewiesen.
Besonderheiten bei der Diagnostik von Depression Bei der Diagnostik von Depression im Kindes- und Jugendalter sind zwei entgegengesetzte Schwierigkeiten zu berücksichtigen: Einerseits sind die zentralen Symptome einer Depression – wie bei anderen internalisierenden Störungen auch – prinzipiell nur dem Erleben der Betroffenen zugänglich. Dies erklärt nicht nur die starken Abweichungen zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung der Schwere der Symptomatik (Achenbach et al. 1987), sondern auch die geringe Rate an Kindern und Jugendlichen, die therapeutische Hilfe erhalten (7 Abschn. 38.2.1). So gelten die betroffenen Kinder und Jugendlichen bei ausreichender Fähigkeit zu Selbstreflexion, sprachlichen Fertigkeiten und Erinnerungsvermögen häufig als die zuverlässigste Informationsquelle (Merrell 1999), wobei im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass diese Fähigkeiten erst in der späteren Kindheit ausreichend entwickelt sind (Garber u. Kaminski 2000). Andererseits steht der Diagnostiker vor dem Problem, dass (insbesondere) Kinder mit einer depressiven Störung eine Verleugnungstendenz aufweisen und Schamgefühle haben können, welche die Exploration erschweren (DGKJP 2003). Daher ist es bedeutsam, Informationen zum Schlafund Essverhalten sowie zum Verlauf des Leistungsverhaltens (vor allem zu schulischen Leistungsproblemen, aber auch zu verringerter Aktivität und Leistung in der Freizeit oder beim Sport) auch durch Bezugspersonen bzw. Verhaltensbeobachtungen zu gewinnen. Mit zunehmender Schwere der depressiven Symptomatik gewinnt darüber hinaus psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung an fremddiagnostischer Bedeutsamkeit, da es nicht mehr nur subjektiv erlebt wird, sondern auch außenstehender Beobachtung zugänglich ist. Weiterhin ist bei der Diagnostik von Depression zu beachten, dass betroffene Kinder und Jugendliche durch Symptome auffällig werden können, die nicht unmittelbar auf eine depressive Störung hinweisen. Hierbei sollten die bereits unter 7 Abschn. 38.2.1 genannten entwicklungsbedingten Symptome Beachtung finden, insbesondere sind hier Reizbarkeit, Verärgerung, trotziges bzw. aggressives Verhalten zu nennen, welche im DSM-IV-TR (APA 2000) als mögliche depressive Symptome bei Kindern und Jugendlichen aufgeführt werden.
Differenzialdiagnostik Neben den bereits genannten häufigen komorbiden Störungen sind weitere Ursachen für depressive Symptome zu berücksichtigen s. Übersicht), welche andere als die im Folgenden dargestellten therapeutischen Interventionen notwendig machen können (DGKJP 2003):
Differenzialdiagnostik: Weitere Ursachen für depressive Symptome 4 Über- oder Unterforderung (Passung von Intelligenz und Schultyp) 4 Teilleistungsstörungen (Dyskalkulie, Dyslexie: ausführliche neuropsychologische Diagnostik) 4 Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen (standardisierte Eltern- und Lehrereinschätzungen und neuropsychologische Diagnostik) 4 Schlafstörungen: häufiges Symptom; bei Anamnese ist zu erfragen, inwieweit die Schlafstörung im Vorfeld der Symptomatik aufgetreten ist (Umwelteinflüsse) 4 Anpassungsstörungen (Liegen anamnestische Hinweise auf akute oder länger zurückliegende Belastungen vor?) 4 Chronisches Erschöpfungssyndrom: anamnestische Hinweise auf anhaltende Erschöpfung, z. B. Überforderung in der Schule oder am Arbeitsplatz; liegen außergewöhnliche Stressoren (Eu- und Disstress) vor? 4 Depressive Symptome im Rahmen einer schizophrenen oder schizoaffektiven Psychose (Erhebung eines genauen und ausführlichen psychopathologischen Befundes, z. B.: Liegen Denkstörungen vor?) 4 Emotional instabile und ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung (Gibt es Hinweise auf vermeidendes Verhalten, welches in Hinblick auf Dauer und Intensität außergewöhnlich ist?) 4 Angststörungen (Vermeidungsverhalten und mögliche physiologische Korrelate, z. B. Panikattacken) 4 Organische Befunde: schwere Infektionskrankheiten, hirnorganische Erkrankungen (Ist die depressive Symptomatik erst nach oder während einer entsprechenden Erkrankung aufgetreten? Hierfür sind die Vorbefunde unbedingt anzufordern) 4 Endokrine Störungen (z. B. Hypothyreose) 4 Nebenwirkungen von Antikonvulsiva, Psychostimulanzien, Neuroleptika oder auch Zytostatika (Sind die Beschwerden bei Änderung der Medikation reduziert oder nicht mehr vorhanden bzw. treten die Beschwerden erst seit Ansetzen der Medikation auf?)
Fragebögen Fragebögen erlauben eine erste zeitökonomische, dimensionale Einschätzung depressiver Symptome und können über den Behandlungsverlauf auch zur standardisierten Veränderungsmessung bzw. Prozess- und Erfolgskontrolle eingesetzt werden. Der Informationsgewinn ist aber dahingehend begrenzt, dass bedeutsame Zusatzinformationen, wie etwa das Ausmaß der psychosozialen Beeinträchtigung, die Mindeststärke und Mindestdauer der Symptome oder
38
670
Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
auch differenzialdiagnostische Ausschlusskriterien in der Regel nicht überprüft werden können. ! Somit ist das Ableiten kategorialer Störungsdiagnosen allein auf Basis von Fragebogenergebnissen nicht möglich.
Für den Einsatz von Selbstbeurteilungsfragebogen ist es darüber hinaus wichtig abzuwägen, ob die Kinder und Jugendlichen von ihrem kognitiven Entwicklungsniveau dazu in der Lage sind, das eigene Befinden angemessen zu reflektieren und in Form von Symptomen einzuschätzen. Garber und Kaminski (2000) halten daher bei Kindern unter 8 Jahren die Verwendung entsprechender Instrumente generell für nicht zuverlässig. Spezifische, in deutscher Sprache vorliegende Selbstbeurteilungsfragebogen sind das »Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche« (DIKJ; Stiensmeier-Pelster et al. 2000), der »Depressionstest für Kinder« (DTK; Rossmann 1993) und der Beurteilungsbogen SBB-DES aus dem »Diagnostik-System für Psychische Störungen im Kindes-
und Jugendalter nach ICD-10 und DSM-IV« (DISYPS-KJ; Döpfner u. Lehmkuhl 2000). Das DISYPS-KJ, mit dessen Hilfe verschiedene Störungsbereiche erfasst werden können, enthält neben einem Selbstbeurteilungsbogen auch parallel konzipierte Fragebögen zur Fremdbeurteilung durch Bezugspersonen wie Eltern oder Lehrer. Weiterhin können für das klinische Urteil des Diagnostikers Checklisten sowie differenzialdiagnostische Entscheidungsbäume herangezogen werden. Neben einer dimensionalen Beschreibung der vorliegenden Symptomatik ermöglicht das DISYPS-KJ auch die Stellung kategorialer Diagnosen nach ICD-10 und DSM-IV. Allerdings liegen bisher weder für die Selbst- noch für die Fremdbeurteilungsbögen des DISYPS-KJ Daten zu psychometrischen Kennwerten oder Normwerten vor. Für Jugendliche können sich außerdem auch Verfahren eignen, die ursprünglich für Erwachsene konzipiert wurden. So liegt etwa für die »Allgemeine Depressionsskala« (ADS) auch eine Normierung für Jugendliche im Alter von 13–17 Jahren vor (Meyer u. Hautzinger 2001).
Beispielitems und normierter Altersbereich zu Selbstbeurteilungsfragebögen zur Erfassung von Depression bei Kindern und Jugendlichen (nach Groen et al. 2003) 1. DIKJ (Stiensmeier-Pelster et al. 2000) Alter: 8–16 Jahre »Mach ein Kreuz vor den Satz, der dich am besten beschreibt.« a) »Ich habe an vielen Dingen Freude«; »Ich habe nur an einigen Dingen Freude«; »Ich kann mich über nichts richtig freuen« b) »Ich könnte die ganze Zeit weinen«; »Ich könnte in der letzten Zeit oft weinen«; »Mir ist nur manchmal nach Weinen zumute« 2. DTK (Rossmann 1993) Alter: 9–13 Jahre »Ja« oder »Nein« a) »Bist Du oft unglücklich?« b) »Denkst Du oft, dass andere Kinder besser sind als Du?«
Verhaltensbeobachtung
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Obwohl sich die zentralen depressiven Symptome vor allem im inneren Erleben der betroffenen Kinder und Jugendlichen manifestieren, sind verschiedene Störungsmerkmale auch einer Verhaltensbeobachtung zugänglich. So können Verhaltensbeobachtungen aus diagnostischen Gesprächen und Testungen, aber auch aus Spielsituationen mit dem Diagnostiker oder den Eltern und Peers wichtige und vergleichsweise objektive diagnostische Informationen liefern. Darüber hinaus sind insbesondere Verhaltensbeobach-
3. SBB-DES (Teil des DISYPS-KJ; Döpfner u. Lehmkuhl 2000) Alter: vorgesehen für 11–18 Jahre, aber bisher keine Normdaten Wie zutreffend ist die Beschreibung? (»gar nicht«, »ein wenig«, »weitgehend« oder »besonders«) Wie sehr ist das ein Problem für Dich? (»gar nicht«, »ein wenig«, »ziemlich« oder »sehr«) a) »Ich habe die meiste Zeit über kein Interesse oder keine Freude an allem oder fast allem, was ich mache« b) »Ich denke immer wieder an den Tod oder daran, mich selbst umzubringen.« 4. ADS (Hautzinger u. Bailer 1993) Alter: 13–18 Jahre »Selten«, »manchmal«, »öfter« oder »meistens« a) »Während der letzten Woche haben mich Dinge beunruhigt, die mir sonst nichts ausmachen« b) »Während der letzten Woche hatte ich kaum Appetit«
tungen von natürlichen Situationen (z. B. im familiären Alltag, in der Schule, in bestimmten Gruppen- und Freizeitsituationen) von hoher externer Validität. Verhaltensbeobachtungen in kontrollierten Situationen, in denen beipielsweise problematische Themen besprochen oder bestimmte Probleme gelöst werden sollen, bieten gegenüber Verhaltensbeobachtungen in natürlichen Situationen den Vorteil, dass sie zeitlich begrenzt sind, aufgrund des Designs das Auftreten von Problemen garantieren und mit ausreichender Erfahrung einen Vergleich über verschie-
671 38.2 · Darstellung der Störung
dene Patienten ermöglichen, was dem geübten Diagnostiker eine konkrete Einordnung der individuellen Problematik ermöglicht. Außerdem kann durch die Einführung eines standardisierten Kodierungssystems die Vergleichbarkeit von einzelnen Verhaltensbeobachtungen erhöht werden. Sowohl kontrollierte als auch natürliche Verhaltensbeobachtungen können im Rahmen des diagnostischen Prozesses dazu genutzt werden, dezidierte Verhaltensanalysen zu erstellen. Darüber hinaus können sie als Hilfsmittel dienen, um den betroffenen Kindern und Jugendlichen, ihren Eltern und ggf. ihren Lehrern/Kindergärtnern zu helfen, problematische Verhaltensweisen zu identifizieren und deren Konsequenzen zu verstehen. Gerade hierbei ist die Bedeutung von – durch Videoaufnahmen sichtbar gemachtem und durch Kodierung quantifiziertem – Verhalten nicht zu unterschätzen. Insgesamt neigen depressive Kinder und Jugendliche im Vergleich zu Peers dazu, sich weniger kooperativ zu verhalten, weniger zur Lösung von Problemen beizutragen und eine schlechtere Emotionsregulation zu zeigen (Garbe u. Kaminski 2000). Dies trägt dazu bei, dass sich soziale Interaktionen insgesamt vergleichsweise konflikthafter und angespannter darstellen. Darüber hinaus neigen Eltern depressiver Kinder eher dazu, sich über ihre Kinder negativ zu äußern, was wiederum wahrscheinlich die Ausbildung von negativen Einstellungen der Kinder und Jugendlichen sich selbst gegenüber begünstigt (Frye u. Garber 2005).
Beispiel Verhaltenskodierung Garber und Kaminski (2000) kodieren, wie häufig ein spezifisches Verhalten in einem Zeitraum von jeweils 20 Sekunden auftritt: Verhaltenskategorien: 1. Ausdruck von Emotionen: Lächeln/lachen, die Stirn runzeln, traurig gucken, weinen, traurig, ärgerlich, böse, ängstlich sein etc. 2. Emotionsregulation: Gefühle kontrollieren, offen ausdrücken etc. 3. Problemlösen: Probleme erkennen, Lösungen vorschlagen etc. 4. Nonverbales Verhalten: Blickkontakt, Gestik, Körperhaltung etc. 5. Konfliktbewältigung: Probleme ignorieren, überwinden, sich fordern, sich verweigern etc. 6. Kognitive Inhalte: Sich oder andere loben, kritisieren, herabsetzen etc. 7. Engagement: Begeisterung, Beteiligung, Beharrlichkeit/Ausdauer etc. 8. Sprache: Lautstärke, Stimmlage, Tonfall, Häufigkeit etc. 9. Körperkontakt: Zuneigung, andere berühren, sich abwenden, bedrohen, schlagen etc. 10. Symptome: Reizbar, agitiert, verlangsamt, erschöpft, unkonzentriert etc.
Diagnostik von Suizidalität Die Bedeutung einer ausführlichen Erfassung suizidaler Gedanken und Handlungen kann im Hinblick auf ihre hohe Prävalenz und die Konsequenzen nicht deutlich genug betont werden. Dies gilt insbesondere, da das größte Hemmnis zur Erfassung suizidaler Tendenzen keineswegs darin besteht, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht über ihre Gedanken und Handlungen sprechen wollen, sondern vielmehr in der Vermeidung der Diagnostiker, diesen Bereich ausreichend zu erörtern. ! Jeder Diagnostiker sollte daher für sich selbst eigenen Tabuisierungstendenzen dieses Themas, die die dringend notwendige Abklärung suizidaler Risiken beeinträchtigen, entgegenwirken.
Basierend auf dem enormen Risiko für insbesondere jugendliche Patienten sollte eine direkte Frage wie »Hast du schon einmal daran gedacht, dass du nicht mehr leben willst?« zur Einleitung des Themas Suizidalität unbedingt ein integraler Bestandteil der Diagnostik von Depression bei Kindern und Jugendlichen sein. Als stärkste Prädiktoren für ein erhöhtes Suizidrisiko gelten Hoffnungs- und Perspektivenlosigkeit. Diese Variablen können durch Fragen wie »Gibt es irgendjemanden oder irgendetwas, was dir in deiner jetzigen Situation helfen kann?« und »An wen würdest du dich in deiner Not mit deinen Problemen wenden?« erfasst werden. Unbedingt abzuklären ist auch die Konkretheit berichteter suizidaler Gedanken, Handlungen und Impulse, was durch Fragen wie »Wann, wie, wo würdest du dich selbst töten?« erfragt werden kann. Weitere wichtige Hinweise für mögliche zugrunde liegende suizidale Tendenzen (Ihle et al. 2006) liefert die folgende Übersicht.
Fragen zur Abklärung von Suizidalität Folgende Fragen sollten selbst- und fremdanamnestisch abgeklärt werden: 4 Gab es vorangegangene Suizidversuche? 4 Wie ist die Verfügbarkeit bzw. Anschaffungsmöglichkeit geeigneter Mittel zur Umsetzung der gewählten Methode einzuschätzen? 4 Wie viel Zeit am Tag nehmen suizidale Gedanken in Anspruch? 4 Zeigt sich eine Zunahme von risikoreichem Verhalten (»drauf ankommen lassen«)? 4 Zeigen sich deutliche Verhaltensänderungen (z. B. ein geselliges Kind zieht sich zurück)? 4 Wird das eigene Aussehen vernachlässigt? 4 Werden persönliche Wertgegenstände verschenkt? 4 Werden persönliche Angelegenheiten geregelt? 4 Zeigt sich eine starke Beschäftigung mit dem Thema »Tod« (in Zeichnungen, Gedichten und 6
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672
Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
Aufsätzen, offene oder verhüllte Selbstmorddrohungen, wie z. B.: »Ohne mich wärt ihr besser dran!«)? 4 Werden übermäßig Alkohol oder Drogen konsumiert? 4 Zeigt sich eine plötzlich gehobene Stimmung bei einem bis dahin depressiven Kind (es könnte in Form von Selbstmordabsichten eine Lösung für seine Probleme gefunden haben)? 4 Hat der junge Patient häufige Unfälle oder körperliche Beschwerden ohne medizinische Erklärung?
38.3
Kognitiv-verhaltenstherapeutische Störungskonzepte
Kognitive Störungsmodelle der Depression stellen heute – wie bei Erwachsenen – auch bei depressiven Kindern und Jugendlichen einflussreiche Erklärungskonzepte dar. Ihre Bedeutung gewinnen diese Störungskonzepte hierbei weniger durch die Berücksichtigung aller Risiko- und Schutzfaktoren, die eine Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen spielen, sondern insbesondere dadurch, dass aus ihnen zentrale Bestandteile kognitiv-verhaltenstherapeutischer Therapieansätze abgeleitet werden können, welche heute wiederum die effektivsten psychotherapeutischen Ansätze zur Behandlung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen darstellen (Pössel u. Hautzinger 2006). Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die kognitive Verhaltenstherapie werden im Folgenden das kognitive Modell der Depression von Beck (Beck et al. 1996), die Hoffnungslosigkeitstheorie (Abramson et al. 1989) sowie das multifaktorielle Depressionsmodell (Lewinsohn
38 . Abb. 38.1. Kognitives Modell der Depression von Beck
et al. 1985) dargestellt. Alle drei Störungskonzepte zur Erklärung von Depression sind dabei ursprünglich für Erwachsene aufgestellt worden und beinhalten daher keine entwicklungspsychologischen oder -pathologischen Elemente. Dennoch wird ihre Gültigkeit auch für Kinder und Jugendliche durch empirische Forschung gestützt.
38.3.1 Das kognitive Modell
der Depression von Beck Nach der kognitiven Theorie von Beck et al. (1996) ist Depression eine kognitive Störung mit den Komponenten »Schemata«, »kognitive Fehler« und »kognitive Triade«. Depressive Personen neigen hiernach bei der Verarbeitung und Bewertung ihrer Erfahrungen (Schemata) durch kognitive Fehler zu irrationalen, negativ geprägten dysfunktionalen Grundannahmen (kognitive Triade), welche negative Gedanken auslösen (. Abb. 38.1). Unter Schemata versteht Beck hierbei Strukturen, durch die eine Person die Reize bestimmter Situationen wahrnimmt, bewertet und neue Erfahrungen idiosynkratisch strukturiert. Typische kognitive Fehler depressiver Jugendlicher bestehen darin, positive Erfahrungen herunterzuspielen (Minimierung), negative Erfahrungen und selbst kleinere Mängel überzubewerten (Maximierung). Weiterhin wird einzelnen isolierten negativen Ereignissen eine grundlegende Bedeutung beigemessen (Übergeneralisierung), und ohne entsprechende Anhaltspunkte oder Beweise werden negative Schlussfolgerungen (willkürliche Schlussfolgerungen) gezogen. Schließlich werden Erfahrungen ausschließlich in eine von zwei gegensätzlichen Kategorien eingeordnet (absolutistisches, dichotomes Denken oder »Schwarz-Weiß-Denken«). Das Denken depressiver Jugendlicher wird durch eine negative Sicht des Selbst, der Umwelt und der eigenen Zukunft – der sog. kognitiven
673 38.3 · Kognitiv-verhaltenstherapeutische Störungskonzepte
Triade – dominiert, welche den Kern dysfunktionaler Grundannahmen bildet. In ihrem negativen Selbstbild beurteilen sich die Betroffenen als fehlerhaft, schlecht und unzulänglich. Die Ursachen negativer Erfahrungen werden dabei der eigenen Person zugeschrieben. Nach Beck führt die negative Selbstsicht zur Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten, übermäßiger Selbstkritik und einem geringen Selbstwertgefühl. Bei der Interpretation ihrer Umwelt messen die Betroffenen generell nachteiligen Aspekten, möglichen Schwierigkeiten und Hindernissen eine überzogene Bedeutung bei. Genauso erwarten sie auch im Hinblick auf ihre Zukunft standardmäßig Probleme, Fehlschläge und Niederlagen, was sich im Symptom der Hoffnungslosigkeit manifestiert, welches wiederum der beste Prädiktor für Suizidalität ist. Die Entwicklung einer Depression erfolgt nach Beck et al. (1996), indem latente kognitive Schemata durch ein auslösendes Ereignis aktiviert werden. Diese aktivierten Schemata führen dann zum Auftreten von entsprechenden kognitiven Fehlern und der Aktivierung der kognitiven Triade. Letztere hat das Auftreten »automatischer Gedanken« zur Konsequenz, die nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand der kognitiven Psychologie im Arbeitsgedächtnis anzusiedeln sind. Negative automatische Gedanken lösen wiederum negative Gefühle wie Traurigkeit oder Ärger sowie die somatischen und motivationalen Symptome einer Depression aus. Umgekehrt können belastende Erlebnisse und ungünstige Erfahrungen zur Entwicklung dysfunktionaler Grundannahmen und Schemata führen.
Beispiel So kann ein Jugendlicher die Grundannahme entwickeln, dass andere Menschen ihn generell ablehnen, weil er nicht liebenswert, attraktiv oder kompetent genug ist. Sozialen Situationen wird dieser Jugendliche prinzipiell mit entsprechend negativ gefärbten Erwartungen gegenübertreten und jede Erfahrung entsprechend seinen Grundannahmen deuten, womit er deren Gültigkeit gleichzeitig erneut für sich bestätigen kann.
Beck nimmt an, dass sich derartige negative Denkschemata bereits im frühen Kindesalter durch belastende Erlebnisse und ungünstige Erfahrungen entwickeln können. Nachdem sie unter Umständen über Jahre lediglich latent bleiben, können sie durch erneute, vergleichbare Belastungen und Stresssituationen reaktiviert werden und zu kognitiven Fehlern sowie zur Auslösung der kognitiven Triade führen. Verschiedene empirische Befunde bestätigen heute sowohl die Störungsspezifität der Schemata, kognitiven Fehler und kognitiven Triade nach Becks Modell für depressive Störungen als auch deren Gültigkeit für Kinder und Jugendliche (z. B. Mazur et al. 1999). Wenig genaue Erkenntnisse liegen bisher dazu vor, auf welchem Wege sich negative Kognitionsmuster in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen herausbilden und stabilisieren können. Gewisse familiäre Erfahrungen (z. B. Aspekte der Erziehung und der Eltern-Kind-Bindung, die Depression eines Elternteils), mangelnde soziale Kompetenzen und daraus resultierende Probleme sowie belastende Lebensereignisse scheinen dabei eine Rolle zu spielen (z. B. Garber u. Flynn 2001).
Fallbeispiel Becks Modell am Beispiel von Peggy, einer 15-jährigen Realschülerin mit Major Depression Peggy berichtet, dass ihre Interessenlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Suizidgedanken am Ende des Schuljahres besonders schlimm sind, wenn viele Klassenarbeiten anstehen. Sie erzählt, dass sie in der 5. Klasse unerwartet eine Vier in einer Mathematikarbeit bekommen hat, obwohl sie viel gelernt hatte. Seitdem wird sie vor Klassenarbeiten von Gedanken geplagt wie »Mathematik verstehe ich sowieso nicht!«, »Ich habe es mir mit dem Lehrer verdorben!« und »Ich werde von der Schule fliegen!«. Im Rahmen von Becks Modell können diese Gedankengänge als negative automatische Gedanken interpretiert werden. Die Exploration der kognitiven Schemata von Peggy ergibt, dass sie sich für einen »kompletten Versager« hält. Dieses kognitive Schema wird durch eine Vielzahl von Situationen aktiviert, in diesem Falle von den anstehenden 6
Klassenarbeiten. Hinweisreize wie Übungsaufgaben für die anstehenden Klassenarbeiten triggern Peggys Informationsverarbeitung mit den für sie typischen kognitiven Fehlern. So ist Peggy fest davon überzeugt, dass sie in der anstehenden Mathematikarbeit eine Fünf bekommen wird, auch wenn sie 8 von 10 Übungsaufgaben korrekt lösen kann (willkürliche Schlussfolgerung). Dies geht Hand in Hand damit, dass Peggy glaubt, akademisch und sozial unbegabt zu sein. Aufgrund ihrer Unbegabung hat sie es sich in ihren Augen nicht nur mit dem Mathematiklehrer verdorben, sondern kann dies auch nicht durch gute Leistungen wettmachen (kognitive Triade: negatives Selbstbild). Weiterhin glaubt sie, dass der Lehrer die Klassenarbeit extra schwer macht, damit sie eine schlechte Note bekommt (kognitive Triade: negatives Weltbild) und ist überzeugt, dass sie es sich auch mit dem nächsten Leh-
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Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
rer verderben wird (kognitive Triade: negatives Zukunftsbild). Diese verzerrte Informationsverarbeitung führt nach Becks Modell schließlich zu den bereits berichteten nega-
tiven automatischen Gedanken, welche wiederum die Symptome einer depressiven Episode auslösen (. Abb. 38.2).
. Abb. 38.2. Kognitives Modell der Depression von Beck am Beispiel von Peggy
38.3.2 Hoffnungslosigkeitsmodell
38
Bei der Hoffnungslosigkeitstheorie (Abramson et al. 1989) ist der gestaltende Einfluss von Forschung deutlich. So stellt diese Theorie das derzeitige Endergebnis der Entwicklungslinie von der Attributionstheorie über das Modell der erlernten Hilflosigkeit zur Hoffnungslosigkeitstheorie dar. Ihre Gültigkeit wird auch für Kinder und Jugendliche überwiegend empirisch gestützt (Überblick bei Joiner u. Wagner 1995). Die Hoffnungslosigkeitstheorie postuliert, dass alle Menschen prinzipiell motiviert sind, wahrheitsgetreue Erklärungen für ihre Erfahrungen zu finden, wobei diese Erklärungssuche hoch subjektiv und idiosynkratisch ist. Eine Bedeutungszuschreibung erfolgt laut Hoffnungslosigkeitstheorie in Bezug auf das Selbst (verantwortlich für ein Ereignis bin ich oder andere; internal vs. external), auf die Zukunft (wird das Ereignis in Zukunft wiederholt auftreten oder nicht?; stabil vs. variabel) und die Generalisierbarkeit auf andere Situationen (global vs. spezifisch). Hierbei hat die wahrgenommene Ursache für Ereignisse wichtige Implikationen sowohl für die psychische als auch für die physische Gesundheit. Nach der Hoffnungslosigkeitstheorie kann es dann zur Entwicklung einer Depression kommen, wenn es zu einer
Interaktion bestimmter Vulnerabilitätsfaktoren und belastender Ereignisse kommt. Die Hoffnungslosigkeitstheorie benennt dabei drei unterschiedliche Vulnerabilitätsfaktoren: 1. die Tendenz, stabile und globale Erklärungen für belastende Ereignisse zu geben; 2. die generelle Tendenz, nach dem Eintreten belastender Ereignisse einen negativen Schluss über das Selbst bezüglich des eigenen Wertes, der Fähigkeiten, Persönlichkeit etc. zu ziehen (z. B. »Ich bin in der Prüfung durchgefallen und bin deshalb wertlos.«); 3. die Folgerung, dass belastende Ereignisse zu schrecklichen Konsequenzen führen (»Ich bin in der Prüfung durchgefallen und werde deshalb niemals studieren können!«). Als belastende Ereignisse werden kritische Lebensereignisse (z. B. Verlust des Partners) und »daily hassles« (alltägliche Belastungen, wie z. B. andauernde Streitigkeiten mit Familienangehörigen) verstanden. Hierbei ist von Bedeutung, dass es sich um ein persönlich relevantes Ereignis handelt und dass es den gleichen Lebensbereich (interpersonale Ereignisse vs. Leistungsbereich) wie der interagierende Vulnerabilitätsfaktor betrifft.
675 38.3 · Kognitiv-verhaltenstherapeutische Störungskonzepte
. Abb. 38.3. Hoffnungslosigkeitstheorie nach Abramson et al. (1989)
Anders als in der ursprünglichen und reformulierten Hilflosigkeitsstheorie ist es für die Entstehung einer Depression nicht von Bedeutung, ob ein belastendes Ereignis internal oder external attribuiert wird. Die internale Attribution dient nur noch dazu, den geringen Selbstwert zu erklären, der mit einer Depression verbunden ist. Geringer Selbstwert entsteht der Hoffnungslosigkeitstheorie nach, indem durch internale Attribution ein sozialer Aufwärtsvergleich ausgelöst wird, so dass die Betroffenen glauben, andere Personen könnten etwas erreichen, was sie nicht schaffen (. Abb. 38.3). Als Resultat der Erkenntnis, dass die Hoffnungslosigkeitstheorie nicht alle depressiven Störungen erklären kann,
wurde als ein Subtyp depressiver Störungen die sog. »Hoffnungslosigkeitsdepression« entwickelt. Dieser Depressionssubtyp zeichnet sich aus durch die Erwartung negativer Ergebnisse und das Ausbleiben positiver Reaktionen sowie die wahrgenommene Unfähigkeit, zukünftige Ereignisse beeinflussen zu können. Suizidalität ist ein wichtiges weiteres Symptom dieses Subtyps. Die Wahrscheinlichkeit einer Hoffnungslosigkeitsdepression wächst mit zunehmender Wahrnehmung der Unfähigkeit, die eigene Umgebung beeinflussen zu können. Neben der Theorie kann auch dieser Subtyp der Depression bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als inzwischen empirisch belegt angesehen werden.
Fallbeispiel Hoffnungslosigkeitsmodell am Beispiel von Peggy Dass unter 7 Abschn. 38.3.1 dargestellte Fallbeispiel von Peggys Major Depression kann ebenfalls genutzt werden, um das Hoffnungslosigkeitsmodell zu veranschaulichen: So berichtet sie nach einer schlechten Schulnote (Vier in einer Mathematikarbeit), dass sie sich für akademisch und sozial unbegabt hält, weshalb Peggy es sich nicht nur mit dem Mathematiklehrer verdorben hat, sondern dies auch nicht durch gute Leistungen wettmachen kann. Eine solche Erklärung ist ein gutes Beispiel für einen stabilen, glo6
balen und internalen Attributionsstil. Weiterhin erwartet Peggy aufgrund einer Vier in einer Mathematikarbeit »Ich werde von der Schule fliegen!«, was eindeutig der Schlussfolgerung entspricht, dass das belastende Ereignis zu schrecklichen Konsequenzen führen wird. Schließlich erfüllt Peggies Erklärung, dass sie akademisch und sozial unbegabt ist, die Kriterien für einen negativen Schluss über das eigene Selbst (. Abb. 38.4).
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Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
. Abb. 38.4. Hoffnungslosigkeitstheorie nach Abramson et al. (1989) am Beispiel von Peggy
38.3.3 Multifaktorielles Depressionsmodell
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Das multifaktorielle Depressionsmodell (Lewinsohn et al. 1985) integriert epidemiologische, experimentelle und sozialpsychologische Ergebnisse und stellt die Grundlage für jede moderne multimodale kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung dar. Nach dem Modell ist Depression eine Folge des Zusammenwirkens von dispositionellen und Umweltfaktoren. Hierbei erhöhen insbesondere soziale Isolation und kritische Lebensereignisse oder »daily hassles« im Bereich intimer Sozialbeziehungen die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung oder das Wiederauftreten einer Depression. Diese auslösenden Ereignisse begünstigen die Entwicklung einer Depression, indem sie zunächst unmittelbar zur Unterbrechung automatisierter Handlungsabläufe führen. Weiterhin rufen sie spontane, aber wenig differenzierte affektive Reaktionen hervor und aktivieren negative Erinnerungen, wenn diese ausreichende Ähnlichkeit zur aktuellen Situation aufweisen. Der hierdurch ausgelöste Zustand zunehmender Selbstaufmerksamkeit kann bei Vorliegen ausreichender Resilienzfaktoren Bewältigungsmechanismen aktivieren, die den Teufelskreis zur Entwicklung einer Depression unterbrechen können. Alternativ kann es durch den internalen Fokus zur selbstkritischen Betrachtung der eigenen Person und der eigenen Fähigkeiten kommen, wodurch die Blockierung von regulären Verhaltensabläufen weiter gefördert wird, was die Entwicklung einer Depression begünstigt. Sowohl die auslösenden Bedingungen selbst als auch
die zunehmende selbstkritische Selbstaufmerksamkeit führen zu einer Vermehrung unangenehmer Lebenserfahrung und zu einer Reduktion positiver Verstärkung. Die unmittelbaren, noch undifferenzierten affektiven Reaktionen werden durch die beschriebenen Prozesse intensiviert und in Richtung dysphorischer Stimmung spezifiziert. Diese depressive Stimmung mündet unter Beibehaltung zunehmender Selbstaufmerksamkeit, vermehrter negativer Konsequenzen, reduzierter positiver Verstärker und zunehmender Selbstkritik in die kognitiven, emotionalen, physiologischen, interpersonalen und psychomotorischen Symptome einer Depression. In dem Modell werden darüber hinaus bestimmte Vulnerabilitätsfaktoren, wie etwa weibliches Geschlecht, Pubertät, abhängige und selbstbezogene Persönlichkeitszüge, mangelnde Fertigkeiten, familiäre und schulische Belastungen, Vorgeschichte einer Depression oder subklinischer depressiver Symptome eine Bedeutung sowohl bei der Entwicklung wie auch der Aufrechterhaltung der depressiven Symptomatik zugeschrieben. Dieser Einfluss erfolgt durch die Bereitstellung von Erinnerungen und affektiven Reaktionsmustern, welche die Bereitschaft zur Selbstaufmerksamkeit beeinflussen und die frühzeitige Kontrolle und Unterbrechung dieses Entwicklungsprozesses verhindern. Andererseits nimmt das multifaktorielle Modell auch Resilienzfaktoren an, welche den Teufelskreis unterbrechen oder eine Chronifizierung verhindern. Solche Immunitäten sind z. B. funktionale Copingmechanismen, adäquate soziale Unterstützung, alternative Ressourcen und Extraversi-
677 38.3 · Kognitiv-verhaltenstherapeutische Störungskonzepte
. Abb. 38.5. Multifaktorielles Depressionsmodell
on. Die Depression hält die betroffene Person nach dem multifaktoriellen Modell in einem sich selbst stabilisierenden Teufelskreis, was die Voraussetzung für eine Chro-
nifizierung der psychopathologischen Prozesse darstellt. Das multifaktorielle Modell ist in . Abb. 38.5 graphisch dargestellt.
Fallbeispiel Multifaktorielles Modell am Beispiel von Marc, einem 13-jährigen Gymnasiasten mit Major Depression Marcs Eltern berichten, dass ihr Sohn sich seit ihrem Umzug vor 6 Monaten von Hamburg in die Nähe von Tübingen zunehmend allein in sein Zimmer zurückzieht, keine Kontakte zu anderen Jugendlichen hat und dass seine Schulnoten schlechter werden. Marc selbst beschreibt sich als niedergeschlagen, resignativ und antriebslos. Er gibt weiterhin an, grundsätzlich »ein grüblerischer Charakter« zu sein, in letzter Zeit aber erheblich mehr Zeit mit Nachdenken über sich selbst zu verbringen als sonst. Auf Nachfrage gibt Marc an, dass er sich einsam fühlt und seine Freunde aus Hamburg sehr vermisst. In Tübingen hat er noch keine Kontakte aufgebaut, auch versteht er den Dialekt nicht, den viele der Jugendlichen in seiner neuen Umgebung sprechen. Nach dem Wegzug aus Hamburg hat Marc anfangs oft und lange mit seinen Freunden telefoniert und SMS geschickt, aber das ist zunehmend weniger geworden. Marc macht sich selbst Vorwürfe, dass er für das Ende der Freundschaften verantwortlich sei, da er sich nicht genug angestrengt habe, die Freundschaften aufrechtzuerhalten. Auch seine Eltern hätten ihm schließlich gesagt, »es sei 6
heute kein Problem mehr, wenn Freunde weit weg leben, mit all den technischen Möglichkeiten«. Auf Nachfrage geben Marcs Eltern an, dass sie selbst eher zurückgezogen lebten und keinen Kontakt mehr zu ihren alten Freunden in Hamburg hätten. Im Rahmen des multifaktoriellen Modells kann Marcs »grüblerischer Charakter« als Prädisposition und der Umzug von Hamburg in die Nähe von Tübingen als kritisches Lebensereignis gesehen werden. Letzteres isolierte Marc von faktisch all seinen sozialen Kontakten. Ob die folgende Abnahme seiner Kontakte zu alten Freunden und das Ausbleiben neuer Kontakte zu Jugendlichen in Tübingen Teil der Ursache für Marcs depressive Episode oder Symptom der Depression ist, kann in diesem Fall – wie häufig in der Realität – nicht geklärt werden. Als sicher kann jedoch angenommen werden, dass der Umzug zur Unterbrechung automatisierter Handlungsabläufe wie alltäglichen Kontakten mit Freunden führte, was im multifaktoriellen Modell angenommen wird. Hierdurch verbringt Marc mehr Zeit in seinem Zimmer damit, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass er für die Probleme in seinem sozialen Leben
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Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
allein verantwortlich ist. Sowohl der Umzug nach Tübingen als auch der Rückzug von Marc in sein Zimmer führt weiterhin zu der im multifaktoriellen Modell postulierten Reduktion positiver Verstärkung durch soziale Interaktionen mit anderen Jugendlichen. Es kann als sicher angesehen werden, dass die beschriebenen Prozesse bestehende affektive Reaktionen intensiviert und in Richtung
38.4
Therapeutisches Vorgehen
38.4.1 Ziele und Grundlagen
Basierend auf der Empfehlung von Ihle et al. (2006) sollte prinzipiell das niedrigstschwellige therapeutische Vorgehen ausgewählt werden, das für den Betroffenen erfolgversprechend ist. Bezüglich der Kombinationsbehandlung von depressiven Kindern und Jugendlichen mit Psychound Pharmakotherapie sei an dieser Stelle auf die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (2003) zu depressiven Episoden und rezidivierenden depressiven Störungen (F32, F33) sowie Suizidalität im Kindes- und Jugendalter verwiesen, ebenso wie auf einen Übersichtsartikel von Pössel und Hautzinger (2006).
dysphorischer Stimmung spezifiziert haben. Nach dem multifaktoriellen Modell mündet diese depressive Stimmung wiederum in die kognitiven, emotionalen, physiologischen, interpersonalen und psychomotorischen Symptome einer Depression, die sich bei Marc eindeutig in Form seiner Niedergeschlagenheit, Antriebslosikeit und resignativen Haltung zeigen.
Die Entscheidung, ob die Behandlung stationär oder ambulant erfolgen sollte, hängt von der Compliance des Patienten und der Eltern, den sozialen und familiären Ressourcen des Patienten und dessen aktueller Suizidalität ab. Eine teilstationäre oder stationäre Behandlung ist dann indiziert, wenn eine vermutete Suizidalität nicht sicher eingeschätzt werden kann, während eine stationäre Behandlung in besonders schweren Fällen, bei akuter Suizidalität und ausgeprägten Selbstverletzungstendenzen sowie bei chronisch rezidivierenden Verlaufsformen und ausgeprägter Komorbidität indiziert scheint (DGKJP 2003). Darüber hinaus können auch mangelnde Versorgung und Vernachlässigung des Kindes bzw. Jugendlichen durch die Eltern sowie körperlicher und/oder sexueller Missbrauch eine stationäre Behandlung sinnvoll erscheinen lassen (Ihle et al. 2006).
Therapieziele Basierend auf dem multifaktoriellen Depressionsmodell sollte das therapeutische Vorgehen einerseits die alltäglichen familiären, schulischen und sozialen Belastungen reduzieren und andererseits die Wahrscheinlichkeit des Auftretens positiver Erfahrungen und Erfolgserlebnisse erhöhen. Außerdem sollten Defizite im sozialen, Verhaltens- und Leistungsbereich ausgeglichen sowie ungünstige Copingstrategien durch effektivere ersetzt werden. Weiterhin stellen die Korrektur von kognitiven Fehlern, dysfunktionalen Schemata, negativen Attributionsmustern und Selbstzweifeln mit Blick auf das kognitive Modell von Beck bedeutsame Ziele nicht nur der Akutbehandlung, sondern ebenso der Rückfallprophylaxe dar.
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Zum effektiven Einsatz der genannten Grundmodule sind regelmäßiges Ausfüllen von Stimmungsprotokollen sowie die Erklärung des Zusammenhanges von Gedanken, Gefühlen und Verhalten als grundlegende Maßnahmen notwendig. Außerdem werden häufig weitere Elemente wie der bereits erwähnte Einbezug der Eltern, Reduktion von Belastungen oder die Vermittlung von Entspannungstechniken in eine kognitive Verhaltenstherapie von Depressionen bei
Entsprechend den genannten relevanten Variablen sollte eine kognitive Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen heute mindestend drei Grundmodule umfassen: 4 Aufbau positiver Aktivitäten, 4 Kompetenztraining (soziale Kompetenzen, Problemlösetraining etc.), 4 Aufbau funktionaler Kognitionen. Bei Vorliegen substanzieller suizidaler Gedanken und/oder Handlungen muss darüber hinaus noch ein spezielles Behandlungsmodul für diese Symptomatik vor die drei Behandlungsmodule eingefügt werden.
Kindern und Jugendlichen einbezogen. Im Folgenden soll insbesondere auf diese grundlegenden Maßnahmen sowie die drei Grundmodule eingegangen werden. Der Einbezug der Eltern wird nur kurz angeschnitten, um einen allgemeinen Eindruck der Elternarbeit speziell bei der Behandlung von depressiven Kindern und Jugendlichen zu vermitteln. Abschließend wird auf den Umgang mit suzidalen Patienten eingegangen.
679 38.4 · Therapeutisches Vorgehen
38.4.2 Therapeutische Maßnahmen
Stimmungsprotokolle Als Grundlage zur Erfassung der Effekte jeder Intervention bzw. zur Erfassung des Einflusses von Ereignissen und Gedanken ist es notwendig, dass die Patienten ihre Stimmung regelmäßig protokollieren. Hierzu liegen eine Vielzahl an unterschiedlichen Skalen vor. Neben den auch im Erwachsenenbereich üblichen Skalen sollte bei der Auswahl immer das Alter der Patienten berücksichtigt werden. Prinzipiell sollten die Skalen bei jüngeren Kindern weniger Abstufungen enthalten. Darüber hinaus ist auf eine kindgerechte Gestaltung zu achten. Bei Jugendlichen hingegen ist eher darauf zu achten, dass die Stimmungsprotokolle nicht zu kindlich wirken, da sich Jugendliche hierdurch möglicherweise nicht ernst genommen fühlen. Gute Erfahrungen liegen mit Skalen vor, die von den Kindern und Jugendlichen individuell selbst gestaltet wurden. So kann bereits die Möglichkeit, eine Stimmungseinschätzung in Form von »Smileys« selbst zu malen oder farbig auszumalen, die Motivation zur Mitarbeit deutlich steigern. Je nach Fähigkeiten
und Vorlieben können solche Skalen dann von einfachen Visualisierungen (z. B. handgemalte Smileys) bis zu am Computer gestalteten Instrumenten reichen.
Denken, Fühlen und Handeln Zu Beginn einer Verhaltenstherapie ist es notwendig, den Zusammenhang zwischen Denken, Fühlen und Handeln zu vermitteln, um den jungen Patienten Ansatzmöglichkeiten zur Beeinflussung ihrer negativen Stimmung aufzuzeigen. Hierzu ist es insbesondere notwendig, dass die Kinder und Jugendlichen bereits Denken und Fühlen unterscheiden können. Schon einem Kind kann die Regel vermittelt werden, dass Gedanken hinterfragt oder angezweifelt werden können, während das für Gefühle nicht möglich ist. Alternativ können anhand von Beispielen aus dem Leben der Jugendlichen Übungen wie der aus dem Programm »LARS&LISA« (Pössel et al. 2004) entnommene Text »Gedanken oder Gefühle« hilfreich sein. Beispiele, wie sich Gedanken, Gefühle und Handlungen gegenseitig beeinflussen, sollten ebenfalls möglichst dem Leben der Kinder und Jugendlichen entnommen sein.
Beispiel Verschiedene mögliche Verbindungen können mit Hilfe des »Unterscheidungs-Verbindungs-Spiels« durchgespielt werden. Hierbei sollen die Patienten überlegen, wie sie sich fühlen würden, wenn sie einen bestimmten Gedanken hätten und wie sie sich dann verhalten würden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, eine uneindeutige Situation unter unterschiedlichen Annahmen durchzuspielen. So können sich die Jugendlichen beispielsweise vor-
Sowohl das »Unterscheidungs-Verbindungs-Spiel« als auch die Geschichte ermöglichen es, die Diskriminierung zwischen Gedanken und Gefühlen zu trainieren. Die VasenGeschichte ermöglicht es den Kindern und Jugendlichen, weiterhin zu erkennen, dass die gleiche Situation in Abhängigkeit von ihren Gedanken von unterschiedlichen Gefühlen und Verhaltensweisen gefolgt werden kann, was der Vorbereitung des Aufbaus funktionaler Kognitionen dient.
Aufbau positiver Aktivitäten und Entspannung Basierend auf den Stimmungsprotokollen und den Aussagen der Kinder und Jugendlichen wird ermittelt, welche aktuell aufrechterhaltenen Aktivitäten von den Patienten positiv, neutral und negativ erlebt werden. Weiterhin wird zwischen notwendigen und freiwilligen Aktivitäten unterschieden. Dies ist erforderlich, da die Häufigkeit von notwendigen Aktivitäten kaum veränderbar ist und entsprechend nur negative freiwillige Aktivitäten reduziert und positive freiwillige Aktivitäten in ihrer Auftretensrate erhöht werden können. Um dies zu tun werden – basierend auf den Rückmeldungen durch die Stimmungsprotokolle – positive Aktivitäten ge-
stellen, abends allein zu sein und plötzlich zu hören, wie eine Vase in einem anderen Zimmer herunterfällt. Sie können dann mit Unterstützung des Therapeuten überlegen, welche Gefühle und welches Verhalten durch unterschiedliche in dieser Situation logisch erscheinende Gedanken, wie etwa »Das ist ein Einbrecher« bzw. »Das war der Wind/ unsere Katze« ausgelöst würden.
sammelt und verstärkt in den Tagesablauf integriert. Dieses Grundmodul der Therapie strukturiert den Tagesablauf und verschafft Rückmeldungen über Erfolge. Da es depressiven Kindern und Jugendlichen oft schwerfällt, positive Aktivitäten zu benennen, kann hierzu eine der vielen zur Verfügung stehenden Listen positiver Aktivitäten genutzt werden. Gerade bei Depressionen im Kindes- und Jugendalter muss beachtet werden, dass die Einschätzung, ob eine Aktivität als positiv bewertet wird, nicht nur zwischen Personen variieren, sondern auch intraindividuell starken Schwankungen unterworfen sein kann. Diese intraindividuellen Schwankungen können dadurch ausgeglichen werden, dass im Verlauf einer Therapie wiederholt überprüft wird, ob die selegierten Aktivitäten weiterhin als positiv bewertet werden. Dieses Vorgehen hat mehrere Vorteile. So hilft es, im Verlauf der Therapie mehr positive Aktivitäten zu generieren, als dies bei nur einmaliger Erstellung einer Liste möglich wäre. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass die Patienten meistens unterschiedliche positive Aktivitäten generieren, abhängig von der aktuellen Schwere ihrer Symptomatik. Auf diese Weise liegen
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Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
auch nach Beendigung der Therapie Aktivitäten vor, die in unterschiedlichen Stimmungen als positiv angesehen und durchgeführt werden. Schließlich können die ausgeführten Aktivitäten (auch für Eltern, Freunde und Therapeuten) als Signale für die vorliegende Stimmung und ggf. notwendige weitere Interventionen dienen.
Beispiel Liste positiver Aktivitäten von Katharina, einer 16-jährigen Patientin mit rezidivierender depressiver Störung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Besuch einer Hundeausstellung Bravo lesen Teilnahme am Tanzkurs Teilnahme am Spinning-Kurs im Fitnessstudio Musikhören Teilnahme an der Haushaltsklasse in der Schule »Deutschland sucht den Superstar« im Fernsehen ansehen 8. Mit Freunden Brot backen 9. Teilnahme an der Theater-AG
Die Liste von Katharina enthält eine Reihe von sozialen Aktivitäten, die von Therapeuten meist als positiv angesehen werden, da sie über den Kontakt mit anderen die Möglichkeit des Erhalts sozialer Verstärker bieten, weshalb Patienten in der Regel zu sozialen Aktivitäten ermuntert werden. Als weitere Möglichkeit einer neuen positiven Aktivität wird im therapeutischen Rahmen häufig aktiv generierte Entspannung gesehen, weshalb die Vermittlung von Entspannungstrainings oft Teil einer kognitiven Verhaltenstherapie von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen ist. Weiterhin stellt die Fähigkeit, sich entspannen zu können, eine wichtige Ressource beim Umgang mit belastenden Ereignissen dar. Hierbei ist es von besonderer Bedeutung, wiederum die individuellen Vorlieben der jungen Patienten zu beachtet, so dass neben den eher traditionellen Entspannungstechniken wie autogenem Training und progressiver Muskelrelaxation auch Yoga oder bestimmte Meditationsformen in Betracht gezogen werden können. Insbesondere bei jüngeren Kindern kann das Erzählen oder Vorlesen von Geschichten (z. B. Die Kapitän-Nemo-Geschichten von U. Petermann) durch die Eltern eine gute Methode der Entspannung darstellen. Hierdurch wird neben den positiven Effekten der Entspannung selbst gleichzeitig noch positive Eltern-Kind-Interaktion ermöglicht, die häufig bei kindlicher Depression deutlich reduziert sind.
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Kompetenztraining (Training sozialer Kompetenzen, Problemlösetraining etc.) Im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen können je nach Defiziten verschiedene Arten von kompetenzsteigernden
Verfahren zur Anwendung kommen. Neben Kommunikationstrainings und Trainings sozialer Kompetenzen werden dabei häufig Problemlösetrainings, aber auch eine Kombination dieser Trainings eingesetzt. Meist stehen soziale Fähigkeiten im Fokus dieses Grundmoduls, da diesbezügliche Mängel neben Verlusten sozialer Partner durch kritische Lebensereignisse als eine der Ursachen für den Verlust an sozialen Verstärkern angesehen und soziale Netzwerke als Resilienzfaktor gegen die Entstehung von Depressionen verstanden werden (Bennett u. Bates 1995). Entsprechend sind auch Problemlösetrainings oft darauf fokussiert, insbesondere Interaktions- bzw. Kommunikationsprobleme zu lösen (ausführliche Darstellung allgemeiner Trainings sozialer Kompetenz bzw. Kommunikations- und Problemlösetrainings 7 Kap. I/37 und I/38). ! Die Unterscheidung zwischen selbstsicherem, unsicherem und aggressivem Verhalten sollte generell ein wichtiges Element von Kompetenztrainings bei Kindern und Jugendlichen sein, da in diesen Altersgruppen unabhängig von Geschlecht und psychischer Stabilität deutliche Schwierigkeiten bei der Unterscheidung dieser Verhaltensweisen auffällig sind.
Insbesondere der Unterschied zwischen selbstsicherem und aggressivem Verhalten fällt vielen Jugendlichen schwer. Weiterhin nehmen Kinder und Jugendliche die negativen Konsequenzen aggressiven Verhaltens nicht wahr, so dass diese ausführlich thematisiert werden sollten. Um den Kindern und Jugendlichen zu helfen, die verschiedenen Verhaltensweisen zu unterscheiden, können entweder im Rollenspiel zwischen Therapeut und Patient, mit Hilfe von Videoaufnahmen oder anhand der Erfahrungen des Patienten typische Merkmale von selbstsicherem, unsicherem und aggressivem Verhalten herausgearbeitet werden. Nur so erscheint eine positive Wirkung des Trainings sozialer Kompetenzen möglich. Um Widerstand gegen das Aufzeigen von negativen Konsequenzen von aggressivem Verhalten zu vermeiden und die Kinder und Jugendlichen von den Vorteilen selbstsicheren Verhaltens zu überzeugen, ist es notwendig, den jungen Patienten wirklich die Möglichkeit zu bieten, alle ihre Gedanken zu Vor- und Nachteilen aller drei Verhaltensweisen zu artikulieren. Hierzu sind nicht nur eine offene Atmosphäre und eine gute therapeutische Allianz notwendig. Als günstige Reihenfolge hat es sich hierbei erwiesen, mit den Vorteilen aggressiven Verhaltens zu beginnen. Normalerweise beginnen die Kinder und Jugendlichen von selbst nach einiger Zeit auch Nachteile von aggressivem Verhalten zu berichten. Nachdem Vor- und Nachteile aggressiven Verhaltens benannt sind, sollte mit unsicherem und selbstsicherem Verhalten genauso verfahren werden. So wie es wichtig ist, die Vorteile von aggressivem Verhalten wertzuschätzen, sollten auch die Nachteile von selbstsicherem Verhalten wahrgenommen und evaluiert werden. Ne-
681 38.4 · Therapeutisches Vorgehen
ben der Reduktion von Widerstand gegen das Aufzeigen der negativen Konsequenzen von aggressivem Verhalten und einer leichteren Akzeptanz der Vorteile von selbstsicherem Verhalten ermöglicht dies auch eine Diskussion darüber, warum es schwierig sein kann, selbstsicheres Verhalten zu zeigen und Umgangsmöglichkeiten mit diesen Schwierigkeiten zu erarbeiten.
Aufbau funktionaler Kognitionen Da dysfunktionale Kognitionen sowohl als Vulnerabilitätsals auch als aufrechterhaltende Faktoren für Depression gelten, kommt ihrer Bearbeitung sowohl für die akute Behandlung als auch für die Rückfallprophylaxe besondere Bedeutung zu. Im Zentrum steht hierbei meistens das ABCSchema (»activating events« – »beliefs« – »consequences«, 7 Kap. I/41), welches dafür genutzt wird aufzuzeigen, dass nicht eine bestimmte Situation, sondern deren kognitive Interpretation des Patienten zu spezifischen emotionalen und Verhaltenskonsequenzen führt. Eine Möglichkeit, das ABC-Schema zu veranschaulichen, kann die bereits weiter oben dargestellte Geschichte (»zerbrochene Vase«) sein. Nach Beck et al. (1996) sind dysfunktionale Kognitionen durch eine Reihe von »Merkmalen« identifizierbar, zu denen Formulierungen wie »muss/sollte«, »nie«, »keiner« oder »alle« gehören. Einige kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme nutzen diese typischen Formulierungen daher zur Identifizierung dysfunktionaler Kognitionen. Aufbauend auf dem Verständnis der Bedeutung der eigenen Kognitionen (ABC-Schema), können diese bewusst wahrgenommen und hinterfragt werden. Hierzu dient meist ein Prozedere (»Realitätscheck«), bei dem folgende oder ähnliche Fragen gestellt werden (vgl. hierzu auch 7 Kap. III/14): 4 Hilft mir der Gedanke (z. B. mein Ziel zu erreichen, mich gut zu fühlen)? 4 Ist dieser Gedanke realistisch? 4 Gibt es Merkmale von dysfunktionalen Kognitionen (z. B. »muss«, »immer«, »furchtbar«)? 4 Was spricht gegen die dysfunktionale Kognition? Gibt es andere Erklärungen für die Situation/das Verhalten der anderen etc.? Basierend auf der aus dem Realitätscheck resultierenden Destabilisierung einer dysfunktionalen Kognition können neue funktionalere Kognitionen formuliert werden.
Beispiel Eine relativ simple Art dies zu erreichen ist es, typische Formulierungen dysfunktionaler Kognitionen durch weniger extreme Formulierungen zu ersetzen. So kann eine extreme und dogmatische Formulierung wie »Keiner mag mich!« in »Einige mögen mich nicht« sehr erleichternd für die jungen Patienten sein.
Auch wenn diese Veränderung noch nicht ausreichend erscheinen mag, ist zu beachten, dass es häufig nur schwer möglich ist, eine dysfunktionale (extreme) Kognition direkt durch einen – in den Augen des Therapeuten – positiven Gedanken zu ersetzen. Der Aufbau positiver Kognitionen ist sicher der schwierigste und »trockenste« Teil in einer modernen kognitiven Verhaltenstherapie von Depressionen. Entsprechend müssen gerade bei Kindern und Jugendlichen in diesem Bereich Motivatoren bereitgehalten werden, um die Mitarbeit an diesem zeitaufwendigen und schwierigen Thema sicherzustellen. Um dies zu berücksichtigen, können kindgerechte Methoden der Beschäftigung mit Gedanken und deren Konsequenzen Anwendung finden.
Beispiel Das Arbeitsblatt »Runterzieher-Aufbauer-Comic« ist ein Vorschlag, das kindliche Interesse an Fantasiespielen, Malen und Comics in diesem Rahmen zu nutzen. In diesem Arbeitsblatt sollen die Patienten in den Kasten auf der linken Seite eine für sie mit negativen Gefühlen verbundene Situation malen. Weiterhin soll dort ein dysfunktionaler Gedanke (»Runterzieher«) eingetragen werden. Im Kästchen oben rechts wird das Ergebnis dieses dysfunktionalen Gedankens eingetragen (eigene Gefühle und Verhalten, Verhalten anderer etc.). Im nächsten Schritt wird mit dem Patienten zusammen ein Realitätscheck für diesen dysfunktionalen Gedanken durchgeführt und ein funktionalerer Gedanke (»Aufbauer«) entwickelt. Der funktionale Gedanke wird in den Kasten unten in der Mitte eingetragen, und schließlich kann der Patient in den Kasten unten rechts die Konsequenzen des neuen funktionaleren Gedanken malen.
Trotz aller Bemühungen, den Aufbau positiver Kognitionen kindgerecht zu gestalten, setzt dieser Teil die größten kognitiven Fähigkeiten auf Seiten der Kinder und Jugendlichen voraus. Bis Methoden entwickelt sind, die es ermöglichen, auch mit jüngeren Kindern erfolgreich positive Kognitionen aufzubauen, bietet vor allem Elternarbeit einen wichtigen Ansatzpunkt zur Arbeit an Kognitionen jüngerer Kinder.
Elternarbeit Die Elternarbeit im Rahmen einer Therapie von Depression bei Kindern und Jugendlichen sollte verschiedene Punkte berücksichtigen: 4 Häufig ist die Unterstützung der Eltern notwendig, um familiäre, schulische und soziale Belastungen der jungen Patienten zu reduzieren. Bespielsweise ist eine Umschulung bei Über- oder Unterforderung ohne die Einwilligung der Eltern faktisch ausgeschlossen. 4 Eltern sind – insbesondere im Kindesalter – die wichtigste Quelle von Verstärkern. Dies gilt sowohl für
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682
Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
direkte Zuwendung als auch wiederum für die notwendige Zustimmung der Eltern zu von ihren Kindern als verstärkend erlebten Aktivitäten. 4 Eltern sind für ihre Kinder relevante Modelle, was die erheblich erhöhte Rate von Depressionen bei Kindern von depressiven Eltern erklären könnte. Entsprechend sollte sich Elternarbeit auch mit dem Vorbildverhalten der Eltern beschäftigen. Weiterhin kann die Elternarbeit genutzt werden, eine Therapie eines oder beider Elternteile vorzubereiten, wenn eine solche notwendig erscheint. Um das Vorbildverhalten der Eltern wie auch problematische Interaktionen zu verändern, sind Videoaufnahmen von Verhaltensbeobachtungen sehr hilfreich. Mit Hilfe dieser Aufnahmen können sowohl Eltern als auch Kindern die problematischen Verhaltensweisen aufgezeigt, mit ihnen diskutiert sowie notwendige Veränderung trainiert werden. Da Kinder ihr Selbstbild und ihre kognitiven Muster häufig von ihren Eltern übernehmen (Alloy 2001), scheint es weiterhin eine erfolgversprechende Strategie zu sein, die elterliche Kommunikation über den eigenen Selbstwert und den Wert ihrer Kinder zu beeinflussen. Allerdings liegen bisher keine systematischen Studien zur Effektivität solcher Maßnahmen vor. Wie Elternarbeit allgemein kommt auch diesem Element bei jüngeren Kindern eine größere Bedeutung zu als bei Jugendlichen. ! Im Gegensatz zur Arbeit mit Kindern kann es bei Jugendlichen eher wichtig sein, den Anteil der Elternarbeit an der Therapie möglichst gering zu halten.
Das liegt z. T. daran, dass die Eltern zunehmend weniger bedeutsam als Rollenvorbilder sind, andererseits kann gerade eine von den Eltern unabhängige Therapiebeziehung entscheidend sein für den Aufbau einer tragfähigen Therapieallianz, die Ablösung der Jugendlichen von einem möglicherweise problematischen Elternhaus und den Selbstwert der Jugendlichen allgemein, was letztlich relevant für die Effektivität einer Therapie sein kann.
In dieser ersten Therapiephase ist zunächst die Kontrolle des Zugangs zu weichen Suizidmethoden, wie der Einnahme von Substanzen (z. B. Medikamente oder Drogen) und dem Einatmen von Gas, Hilfestellung bei der Abgrenzung von der Suizidalität und beim Abbau der akuten suizidalen Symptomatik sowie die Entwicklung alternativer Problemlösungen besonders wichtig. ! In der zweiten Phase stellt neben der Klarifizierung der intrapsychischen Ursachen der suizidalen Tendenzen (Selbstentwertung, Schuldgefühle, Verluste, Bestrafungsbedürfnis) die Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen einen Schwerpunkt dar.
Entsprechend sei auf die Darstellung des Grundmoduls zum Aufbau positiver Kognitionen bei Depressionen verwiesen. Weiterhin schlägt die DGKJP (2003) die Berücksichtigung folgender Maßnahmen vor: 4 Einbeziehung der Familie (Kontraindikation: desorganisierte Familien), 4 Gruppentherapie (Kontraindikation: Gruppe mit chronisch krisenanfälligen Personen), 4 Herausnahme aus dem bisherigen Umfeld (Kontraindikation: Unterbringung in problematischer Umgebung, z. B. Wohngruppe mit parasuizidalen Bewohnern), 4 Beachtung drohenden Therapieabbruchs mit mangelnder Compliance (Gegenmaßnahme: feste Termine vereinbaren). Obwohl die Therapiemethoden bei der Behandlung von Depression und Suizidalität vergleichbar sind und auch die Themenfelder überlappend sein können, ist zu beachten, dass bei akuter Suizidalität immer erst die mit suizidalen Tendenzen in Verbindung stehenden Themenfelder bearbeitet werden sollten, bevor sich die Intervention den anderen individuellen Depressionsthemen zuwenden sollte.
38.5
Fallbeispiel
38.5.1 Krankheitsgeschichte
Behandlung von suizidalen Gedanken und Handlungen Wie bereits oben erwähnt, ist das Suizidrisiko bei Vorliegen einer Depression insbesondere bei Jugendlichen deutlich erhöht, woraus sich therapeutisch die Notwendigkeit eines besonderen Fokus auf die Behandlung suizidaler Tendenzen ergibt. Die Behandlung von suizidalen Tendenzen sollte auch bei depressiven Kindern und Jugendlichen einem Stufenmodell folgen.
38
! Die Therapie der Suizidalität selbst steht im Mittelpunkt der ersten Phase, gefolgt von akut mit der Suizidalität in Verbindung stehenden Hintergrundfaktoren und der Therapie begleitender psychischer Störungen.
Bei der Patientin handelt es sich um eine 15-jährige Realschülerin. Ihre Eltern bringen sie zur Psychotherapie, da sich die Schulleistungen der Patientin in den letzten Monaten erheblich verschlechtert haben. Im Interview gibt sie an, alles um sich herum nur noch als »grau« zu erleben. Sie beschreibt sich selbst als energie- und lustlos, wertet sich selbst und ihr Aussehen ab, berichtet von Hoffnungslosigkeit und Pessimismus. Weiterhin gibt sie an, schlecht zu schlafen, und morgens falle es ihr schwer aufzustehen, da sie »wie gerädert« sei. Sie könne sich nur schwer auf etwas konzentrieren, so dass es ihr schwerfalle zu lernen und Schule keinen Spaß mehr mache. Auf Nachfrage gibt die Patientin an, bereits vor einigen Monaten von anderen unbemerkt einen Selbstmordversuch mit Alkohol und »gro-
683 38.5 · Fallbeispiel
ßen Mengen« von Schmerztabletten unternommen zu haben. Jedoch sei nichts weiter passiert, als dass sie wie eine Leiche geschlafen und sich danach erleichtert gefühlt habe, dass es nicht geklappt habe. Die Patientin versichert glaubhaft, seitdem keine weiteren Suizidgedanken oder -absichten gehabt zu haben. Ein Ziel für eine Therapie kann die Patientin nicht benennen, hat aber auch nichts dagegen, wenn es ihr wieder besser gehen würde. Ihre Eltern berichten neben der Verschlechterung der schulischen Leistungen, dass ihre Tochter auffällig ruhig und zurückgezogen sei. Die Patientin spreche kaum noch mit ihnen und wenn die Eltern mit ihr sprächen, sei sie sehr »kratzbürstig«, was die Eltern auf die Pubertät zurückführen. Als Ziel einer Therapie wünschen sich die Eltern jedoch vor allem eine schnelle Verbesserung der Schulnoten, da sich die Tochter mit dem nächsten Zeugnis um eine Ausbildungsstelle bewerben müsse. Übereinstimmend mit den Eltern wird die Patientin von ihrem Klassenlehrer als schwer zugänglich, schüchtern und unkonzentriert beschrieben. Auf die Frage nach weiteren Hobbys und Interessen berichtet die Patientin, dass sie gerne Bogenschießen lernen und Klettern würde, die Eltern das aber nicht möchten, da sie sich »sozialere Aktivitäten« für sie wünschten und das nicht die geeignete Beschäftigung für ein Mädchen wäre. Sowohl im Gespräch mit als auch ohne Eltern wirkt die Patientin schüchtern und spricht oft leise. Von ihrem Leben und ihren Problemen berichtet die Patientin offen und mit adäquater emotionaler Beteiligung. Psychopathologische Auffälligkeiten im Sinne von Bewusstseins- und Denkstörungen sowie Wahnsymptomen liegen nicht vor. Die Patientin lebt mit den Eltern und einem älteren Bruder zusammen. Die Mutter ist Hausfrau und hat ihren Lebensfokus vollständig auf ihre Kinder und den Ehemann ausgerichtet. Der Vater arbeitet als Verwaltungsbeamter in einer Landeseinrichtung. Nach Angaben der Patientin sei der 2 Jahre ältere Bruder der Liebling der Eltern und mache immer alles richtig, obgleich er von der Schule abgegangen sei und eine Ausbildungsstelle »geschmissen« habe. Die Patientin berichtet, zuhause immer nur kritisiert und abgelehnt zu werden. Weiterhin müsse sie bei der Hausarbeit helfen, während dies von ihrem Bruder nicht erwartet wird. Sowohl Schwangerschaft als auch Geburt der Patientin sind nach Angaben der Eltern problemlos verlaufen. Auch die motorische und sprachliche Entwicklung sei unauffällig gewesen. Die Eltern der Patientin berichten weiterhin, dass sie im Kindergarten alle Kinderkrankheiten gehabt habe, aber ansonsten immer sehr gesund gewesen sei. Die Patientin hat einen Montessori-Kindergarten und anschließend eine entsprechende Grundschule besucht. Im Kindergarten habe es ihr gut gefallen. In der Grundschule habe sie eine sehr strenge Klassenlehrerin gehabt, sei aber mit den anderen Kindern gut zurechtgekommen. Das habe sich jedoch mit dem Wechsel auf die Realschule geändert, wo sie kaum Kinder gekannt habe. Sie sei dort von Anfang an von ihren Klassenkameraden wegen ihrer Kleidung aufgezogen wor-
den, weil sie mit der oft teuren und modischen Kleidung ihrer Mitschüler nicht habe konkurrieren können. Die Kontakte zu ihren Mitschülern seien bestenfalls oberflächlich gewesen, weshalb sie sich darauf konzentriert habe, gute Schulleistungen zu erbringen, um ihre Eltern damit zufriedenzustellen sowie Lob und Anerkennung der Lehrer zu bekommen. Auch außerhalb der Schule habe sie kaum Kontakte, sie sei viel zu Hause, lerne, höre Musik und lese.
38.5.2 Differenzialdiagnostik
Hinweise auf manische oder hypomanische Symptome liegen nicht vor, weshalb die vorgestellte Symptomatik vor allem Hinweise für das Vorliegen einer unipolaren affektiven Störung liefert. Für weitere mögliche Ursachen der depressiven Symptome wie Teilleistungsstörungen, schizophrene oder schizoaffektive Psychose oder organische Befunde liegen keine Hinweise vor (s. auch Abschn. »Differenzialdiagnostik« unter 7 38.2.4). Mit dem Kinder-DIPS lässt sich der Verdacht einer depressiven Episode bestätigen. Zwar liegen auch Hinweise darauf vor, dass die Patientin bereits seit Längerem wiederholt unter depressiven Verstimmungen leidet, jedoch erreicht keine der berichteten Phasen den Krankheitswert einer depressiven Episode, so dass eine rezidiverende depressive Störung möglich, aber derzeit nicht diagnostizierbar ist. Die depressive Episode ist gegenwärtig mittelschwer ausgeprägt (F32.10 nach ICD-10). In Becks Depressionsinventar (BDI) erreicht die Patientin einen Wert von 34, was einer schweren Depression entspricht. Weitere diagnostizierbare psychische Störungen liegen nicht vor.
38.5.3 Verhaltenstherapeutische Behandlung
Da zum Zeitpunkt des Beginns der Therapie glaubhaft keine suizidalen Tendenzen vorlagen, folgte die Therapie hauptsächlich dem Muster einer kognitiven Verhaltenstherapie nach dem oben beschriebenen Vorgehen. So wurde mit der Patientin zunächst vereinbart, dass diese an jedem Abend ein Stimmungsprotokoll ausfüllt. Da sich bereits in der ersten Woche starke und von der Patientin vorher nicht erwartete Schwankungen zwischen den unterschiedlichen Tagen zeigten, konnte die Neugierde der Patientin geweckt werden, was sich positiv auf die Therapiemotivation auswirkte. Es zeigte sich, dass eine am Wochenende aufgetretene Stimmungsaufhellung an einem weiteren Tag in der normalen Schulwoche durch sogar noch bessere Stimmung übertroffen wurde. Im Rahmen der Aufarbeitung der Stimmungsprotokolle zeigte sich erwartungsgemäß, dass die positivere Stimmung am Wochenende durch den Wegfall der Schule und damit der fehlenden Konfrontation mit Klassenkameraden verbunden war. Die Stimmung in der Woche war dadurch aufgehellt, dass die Patientin von ihrer
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684
38
Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
Mutter einkaufen geschickt wurde, was mit – wenn auch nur kurzen – sozialen Kontakten mit den der Patientin wohlbekannten Mitarbeitern in dem Supermarkt verbunden war. Hierauf aufbauend gelang es in den folgenden Wochen die Mutter zu motivieren, der Tochter verstärkt Arbeiten außerhalb der elterlichen Wohnung zu geben, was regelhaft zu einer Stimmungsaufhellung auf Seiten der Patientin führte. Im nächsten Schritt wurden die Eltern und die Patientin gebeten, gemeinsam über die Wünsche der Patientin bezüglich ihrer Freizeitaktivitäten zu sprechen, wobei diese Interaktion per Video aufgezeichnet wurde. In den folgenden Sitzungen wurden vom Therapeuten ausgewählte Ausschnitte genutzt, um positive Interaktionen aufzuzeigen und zu verstärken. Auf diese Weise wurden positive Ansätze in der Eltern-Kind-Interaktion in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt, die dann als Beispielverhaltensweisen im Rahmen eines Trainings sozialer Kompetenzen sowohl der Eltern als auch der Patientin verwendet werden konnten. Weiterhin konnte der Patientin mit diesem Video aufgezeigt werden, dass ihre Eltern nicht immer kritisch und negativ sind, so dass ihre eigenen dysfunktionalen Kognitionen aufgeweicht wurden. Weitere Hinweise darauf, dass ihre Kognitionen bezüglich ihrer Eltern nicht durchgängig korrekt sind, konnte die Patientin sammeln, indem sie begann, die im Video gesehenen positiven Verhaltensweisen ihrer Eltern in Interaktion mit ihr im Alltag zu zählen, was ihren Aufmerksamkeitsfokus weiter auf diese positiven Ansätze richtete. In einer weiteren Sitzung mit den Eltern wurde ein ähnliches Vorgehen mit den Eltern vereinbart, so dass diese positives Verhalten der Tochter zählen sollten. Leider zeigte sich in den nächsten Wochen, dass die Eltern diese Hausaufgaben nicht regelmäßig durchführten. Dennoch konnten sie immerhin motiviert werden, an weiteren Sitzungen zum Training sozialer Kompetenzen teilzunehmen. Basierend auf den ersten Verbesserungen fühlte sich die Patientin stark genug, sich wieder besser auf ihre Hausaufgaben zu konzentieren. Da dies im Rahmen eines vom Therapeuten organisierten Gesprächs zwischen den Eltern und dem Klassenlehrer zu einer positiven Rückmeldung an die Eltern führte, erklärten sich diese einverstanden, dass die Patientin an einem Nachmittag in der Woche in einen Sportverein zum Klettern gehen durfte, solange die Lehrer keinen erneuten Abfall in den Schulleistungen der Tochter rückmeldeten. Obwohl diese Verknüpfung von schulischen Leistungen und positiven sozialen Aktivitäten der Patientin nicht unbedingt als günstig anzusehen ist, erschien es zu diesem Zeitpunkt als einzige Möglichkeit, das notwendige Einverständnis der Eltern zum Beginn dieser als äußerst positiv eingeschätzten Aktivität zu erwirken. Um Probleme in dieser für die Patientin neuen sozialen Situation im Sportverein zu vermeiden, wurde mit ihr vereinbart, antizipierbare und als schwierig bewertete soziale Situationen, wie etwa den Kontaktaufbau zu unbekannten
Menschen und das Erfragen von Unterstützung beim Klettern, zu trainieren. Hierbei zeigte die Patientin eine überraschende Offenheit und Experimentierfreude. Wie zu erwarten war, kam es zu einigen Problemen in den Interaktionen mit Peers und Trainern im Sportverein, die jedoch durch Hinterfragen der Kognitionen der Patientin, der Vorbereitung und dem Training von Interaktionen im Sportverein sowie einem Problemlösetraining so kontrolliert werden konnten, dass die Patientin den Sportverein als positiv erlebte und dort zunehmend positivere Interaktionen hatte. Als großen persönlichen Erfolg konnte sie erleben, dass sie schließlich auch zu Aktivitäten außerhalb des Vereins eingeladen wurde. Wahrscheinlich aufgrund des bereits gefestigten Bildes, welches sich ihre Klassenkameraden in der Schule gebildet hatten, gelang es der Patientin nicht, ihre Beziehungen in der Schule signifikant zu verbessern, was eine dauerhafte Belastung für sie darstellte und mit einer deutlich negativen Stimmung an den Vormittagen verbunden war. Da die Eltern einen erneuten Rückgang der Schulleistungen ihrer Tochter bei stärkeren Umweltveränderungen befürchteten, stimmten sie einem Schulwechsel nicht zu. Auch der Wiederholung einer Klasse stimmten sie nicht zu, da sie befürchteten, dies könne zu einem schlechten Eindruck bei potenziellen Arbeitgebern ihrer Tochter und damit verschlechterten Chancen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz führen. Entsprechend erwies es sich für die Patientin als besonders wichtig, außerhalb des schulischen Rahmens positive Sozialkontakte zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Ein Rückschlag in der allgemein positiven Entwicklung der Patientin trat auf, als sie sich in einen neuen Klassenkameraden in ihrer Schule verliebte und dieser ihre Zuneigung nicht nur nicht erwiderte, sondern schnell das gleiche Interaktionsverhalten wie ihre anderen Schulkameraden zeigte und sie bestenfalls ignorierte. Allerdings gelang es der Patientin, ihr Stimmungstief mit der Unterstützung einer Freundin aus dem Sportverein zu überwinden. Während der über ein Vierteljahr gestreckten letzten drei Sitzungen zum Ausschleichen der Therapie traten erneut verstärkt negative Stimmungen bei der Patientin auf. Diese waren damit verbunden, dass die ersten von ihr versendeten Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz nicht zu einem positiven Ergebnis führten. Dies führte nicht nur zu Selbstzweifeln auf Seiten der Patientin, sondern auch zu verstärkten negativen Interaktionen mit den Eltern und der Drohung, ihr zu verbieten, weiterhin in den Sportverein zu gehen. Ein von der Patientin arrangierter Termin im Arbeitsamt half ihr, mehrere berufliche Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen und objektive Informationen einzuholen, wie z. B. dass viele Jugendliche zahlreiche Bewerbungen verschicken müssen, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Diese Informationen und ein Gespräch mit den Eltern, in welchem es gelang, diesen aufzuzeigen, dass eine Einschränkung der positiven Interaktionen ihrer Tochter wahrscheinlich wieder zu einer Verschlechterung der Situ-
685 38.6 · Empirische Belege
ation führen würde, endete in der Zusage, dass die Patientin weiterhin Klettern gehen dürfe, unabhängig davon, wie erfolgreich ihre Suche nach einem Ausbildungsplatz sei. In einem Brief etwa ein Jahr nach Beendigung der Therapie berichtet die Patientin, dass es ihr inzwischen gelungen sei, einen Ausbildungsplatz in einem Reisebüro zu bekommen. Die Ausbildung mache ihr sehr viel Spass, und sowohl im Büro als auch in der Berufsschule sei es ihr gelungen, Freundschaften zu schließen. Nach eigenen Angaben ruft die Patientin Freunde an, um sich abzulenken und mit diesen etwas zu unternehmen, wenn sie von schlechter Stimmung gequält werde. Weiterhin berichtet sie, dass es ihr besonders geholfen habe, ihre eigenen Gedanken einem Realitätscheck zu unterziehen, d. h ihre Gedanken zu hinterfragen und nicht als absolute Wahrheit zu akzeptieren. Dies erleichtere ihr den Umgang mit ihren Eltern und führe in ihrem neuen Freundeskreis dazu, dass sie als vorurteilsfrei gelte, so dass andere oft mit ihren Sorgen und Problemen zu ihr kämen, wodurch sie sich als wertvoll und kompetent erlebe. Der Einsatz der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Techniken und die Verbesserung der allgemeinen Situation der Patientin spiegelten sich auch in ihren BDI-Werten wider. Am Ende der Therapie erreichte die Patientin einen BDI-Wert von 11, was zwar weiterhin auf das Vorhandensein einiger depressiver Symptome hinweist, aber nicht mehr einem auffälligen Wert entspricht. Ein Jahr nach Beendigung der Therapie verbesserte sich der BDIWert weiter auf 5, was deutlich im normalen Bereich liegt.
38.6
Empirische Belege
Kognitive Verhaltenstherapie von Depressionen bei Jugendlichen kann heute sowohl im individuellen als auch im Gruppensetting als gut untersucht gelten. Im Prä-post-Vergleich erzielt die kognitive Verhaltenstherapie dabei im Vergleich zu Kontrollgruppen überwiegend positive Effekte. So zeigen drei von fünf Studien zu individueller Verhaltenstherapie und drei von vier Studien zu Verhaltenstherapie in Gruppen positive Effekte im Vergleich zu einer Kontrollgruppe. Auch in Follow-up-Studien zeigen sich hohe Remissionsraten bei den mit kognitiver Verhaltenstherapie behandelten Jugendlichen. Leider liegen nur bei sechs von zehn Studien Follow-up-Daten auch für die Kontrollgruppe vor. In diesen wenigen Studien lässt sich jedoch in fünf von sechs Studien langfristig keine Überlegenheit der kognitivverhaltenstherapeutischen Interventionen mehr nachweisen. Aber nicht nur die geringe Anzahl der Studien mit Follow-up-Daten erschwert die Interpretation, sondern auch die unzureichende Länge der Interventionen, die in jeweils etwa 25% der vorliegenden Studien weniger als 10 bzw. 20 Sitzungen beträgt, so dass sich die Frage der Übertragbarkeit dieser Ergebnisse in die klinische Praxis stellt. Weiterhin sind die Stichprobengrößen in allen vorliegenden Studien sehr gering, so dass sich die über die Dauer der
Erhebungen aufsummierenden Drop-outs insbesondere in den Follow-ups negativ auswirken. Auf diese Weise wird es zunehmend schwieriger, möglicherweise vorhandene Unterschiede zwischen den Jugendlichen in der kognitivverhaltenstherapeutischen Gruppe und der Kontrollgruppe nachzuweisen (ausführliche Darstellung s. Pössel u. Hautzinger 2006). Berücksichtigt man insgesamt die kurze Dauer der Interventionen und die geringen Stichprobenzahlen in einigen Studien, ist es eher überraschend, dass überhaupt positive Ergebnismuster dargestellt werden konnten. Entsprechend können die vorliegenden Daten im Sinne eines Wirksamkeitsnachweises zugunsten kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen interpretiert werden. Bezüglich der Effekte von kognitiver Verhaltenstherapie auf Suizidalität bei depressiven Jugendlichen liegen bisher nur zwei Studien vor (Birmaher et al. 2000; »Treatment for Adolescents with Depression Study«, TADS 2007). In beiden Studien zeigte sich zumindestens kein negativer Einfluss der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen auf Suizidalität, was in Anbetracht der aktuellen Diskussion bezüglich medikamentöser Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern von erheblicher Relevanz ist (ausführliche Darstellung s. Pössel u. Hautzinger 2006). Wichtig ist, insbesondere für die Versorgungsrealität, die empirische Überprüfung der Kombination von Psychound Pharmakotherapie sowohl in der Behandlung depressiver Symptomatik als auch bezüglich suizidaler Gedanken. Bisher liegen erste Daten einer Studie aus den USA zu diesem Thema vor (TADS 2007). Diese Daten demonstrieren sehr klar die Überlegenheit der Kombinationsbehandlung über Fluoxetin- und kognitive Verhaltenstherapie. Während in der Kombinationsbehandlung 73% der Jugendlichen nach 12 Wochen intensiver Therapie (bis zu 15 Sitzungen Einzeltherapie) die Kriterien einer Diagnose nicht mehr erfüllten, waren es in der Fluoxetinbedingung 62% und in der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Bedingung 48%. Am Ende der Behandlung (36 Wochen, bis zu 24 Sitzungen Einzeltherapie) zeigten sich hingegen keine signifikanten Unterschiede mehr. So waren in der Kombinationsbehandlung 86% und in der Fluoxetin- und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Bedingung jeweils 81% der Jugendlichen diagnosefrei. Weiterhin zeigten sich im Verlauf der Therapie suizidale Ereignisse etwa doppelt so häufig in der Fluoxetin-Bedingung (14,7%) verglichen mit der Kombinationsbehandlungs- (8,4%) und mit der kognitivverhaltenstherapeutischen Bedingung (6,3%). Sollten sich diese Ergebnisse in den Follow-up-Daten stabilisieren und die Ergebnisse der TADS-Studie repliziert werden können, belegt dies eindeutig, dass die Kombinationsbehandlung nicht nur höhere Erfolgsraten aufweist als Psycho- und Pharmakotherapie getrennt, sondern dass sie dies auch schnell und ohne Nebenwirkungen auf suizidale Ereignisse erreicht.
38
686
Kapitel 38 · Depression/Suizidalität
38.7
Ausblick
Obwohl heute effektive kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionsmethoden für Jugendliche mit Depressionen vorliegen, gibt es noch ausreichend Bedarf für weitere Veränderungen und Anpassungen der vorliegenden Verfahren. So sind die Grundmodule und die Methoden zu ihrer Umsetzung aus der Therapie bisher durchgängig von erwachsenen Patienten abgeleitet. Dies lässt entwicklungspsychologische Überlegungen unberücksichtigt. Dieses Manko zeigt sich insbesondere in der Therapie von Depressionen bei präpubertären Kindern. So liegen bisher kaum Vorschläge dazu vor, wie kognitiv-verhaltenstherapeutische Konzepte in einer kindgerechten Form vermittelt werden können. Auch im Bereich der Effektivitätsforschung gibt es noch viele offene Fragen. So existieren fast keine Studien, die die Effekte von kognitiver Verhaltenstherapie bei depressiven Kindern untersuchen. Eine weitere wichtige Aufgabe für die Zukunft ist es, die Kombinationsbehandlung von depressiven Kindern und Jugendlichen mit kognitiver Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie zu untersuchen. So liegt bisher ausschließlich die bereits erwähnte Studie der TADS-Arbeitsgruppe zur Kombinationbehandlung bei Jugendlichen vor. Wie bei den meisten psychischen Störungen im Kindesund Jugendalter – aber auch im Erwachsenenbereich – ist die Effektivität vorliegender therapeutischer Maßnahmen bei Vorliegen komorbider Störungen fast nicht untersucht. Obwohl wie dargestellt komorbide Patienten auch bei depressiven Kindern und Jugendlichen in den Praxen und Kliniken einen bedeutsamen Anteil ausmachen, ist so bisher zumeist unklar, ob und unter welchen Bedingungen eine Therapie der Depression trotz komorbider Störungen effektiv sein kann und wie ggf. die Therapien der Depression und der komorbiden Störung kombiniert werden sollte. Entsprechend müssen sich Kliniker heute noch auf ihr eigenes klinisches Wissen und Verständnis stützen und im individuellen Fall entscheiden, welche Störung zuerst behandelt werden sollte.
Zusammenfassung
38
Mit einer Prävalenzrate von bis zu 5% bei Kindern und 15–20% bei Jugendlichen gehören Depressionen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen, insbesondere ab der Pubertät. Der Verlauf einer unbehandelten Depression im Kindes -und Jugendalter ist meist chronisch rezidivierend, so dass nach zwischenzeitlicher Besserung zwischen 40% und 90% der betroffenen Kinder und Jugendlichen mindestens eine weitere depressive Episode erleben. Dieser Verlauf setzt sich nach empirischen Studien bis ins Erwachsenenalter fort, so dass das Auftreten einer depressiven Episode im Kindes- oder Jugendalter das Risiko weiterer depressiver Episoden wie auch anderer psychischer Störungen und von
Suiziden sowohl im Jugend- als auch im Erwachsenenalter erheblich erhöht. Für die Diagnose von depressiven Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ist zu beachten, dass grundsätzlich dieselben Kriterien wie für Erwachsene gelten, jedoch beschreibt das DSM-IV-TR einige Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen auf der einen Seite und Erwachsenen auf der anderen Seite. So kann nach dem DSM-IVTR neben Traurigkeit auch reizbare oder übellaunige Verstimmung als Kernsymptom einer Depression im Kindesund Jugendalter kodiert werden. Weiterhin ist die Mindestdauer einer dysthymen Störung von 2 Jahren bei Erwachsenen auf 1 Jahr für Kinder herabgesetzt. Die ICD10 weist keine dieser Möglichkeiten auf, stattdessen wird hier der Idee der Komorbidität von Externalisierungsstörungen und Depression durch die kombinierte Diagnose »Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung« Rechnung getragen. Basierend auf den relevanten Variablen zur Entstehung und Aufrechterhaltung einer Depression nach dem multifaktoriellen Modell umfasst eine kognitive Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen in der Regel die drei Grundmodule 4 Aufbau positiver Aktivitäten, 4 Kompetenztraining (soziale Kompetenzen, Problemlösetraining, etc.) und 4 Aufbau funktionaler Kognitionen. Abhängig von dem Auftreten und der Schwere suizidaler Gedanken und Handlungen muss diese Symptomatik als eigenes und primäres Behandlungselement berücksichtigt werden. Nach den derzeit vorliegenden Daten ist die kognitive Verhaltenstherapie auch bei Depressionen im Kindes- und Jugendalter eine der effektivsten Behandlungsmethoden, unabhängig davon, ob es sich hierbei um individuelle oder Gruppeninterventionen handelt. Bezüglich der Effekte von kognitiver Verhaltenstherapie auf Suizidalität bei depressiven Kindern und Jugendlichen liegen bisher zwar nur wenige Studien vor, jedoch zeigen sich in diesen Studien keine negativen Einflüsse der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen auf Suizidalität, was in Anbetracht der aktuellen Diskussion bezüglich medikamentöser Behandlung (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) von erheblicher Relevanz ist.
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687 Weiterführende Literatur
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38
39
39 Adipositas und Binge Eating Disorder Simone Munsch
39.1
Einleitung
– 690
39.2
Darstellung der Störungsbilder – 690
39.2.1 39.2.2
Phänomenologie – 690 Epidemiologie und Komorbidität
39.3
Ätiologie – 695
39.3.1 39.3.2
Entstehung und Manifestation der Adipositas und BED – 695 Ätiologie der Binge Eating Disorder – 695
39.4
Diagnostisches Vorgehen sowie Instrumente bei Adipositas und BED – 696
39.5
Therapeutisches Vorgehen – 697
39.5.1 39.5.2
Therapeutisches Vorgehen bei Adipositas – 697 Therapeutisches Vorgehen bei BED – 709
39.6
Empirische Belege zur Wirksamkeit der Behandlung
39.6.1 39.6.2
Behandlung der Adipositas – 714 Behandlung der BED im Kindes- und Jugendalter
39.7
Ausblick
– 715
Zusammenfassung Literatur
– 693
– 715
– 716
Weiterführende Literatur
– 717
– 715
– 714
690
39
Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
39.1
Einleitung
Während Übergewicht früher als ein Symbol der Schönheit und des Reichtums galt, sieht sich heute eine steigende Zahl übergewichtiger Kinder mit den Auswirkungen vielfältiger sozialer Stigmatisierung konfrontiert. Übergewicht im Kindes- und Jugendalter stellt längst nicht mehr die Problematik einer Randgruppe dar, sondern ist in den meisten westlichen Ländern weit verbreitet. Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund einer Umwelt zu sehen, in der nicht länger das Suchen und Finden, sondern das Entscheiden, wann, welche und wie viele Nahrungsmittel eingenommen werden sollen von Bedeutung ist. Neue Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass eine nicht zu unterschätzende Anzahl übergewichtiger Kinder eine weitere Vulnerabilität aufweist: die Tendenz zum anfallsartigen Essen. Das Erleben des Kontrollverlustes über das Essen tritt gehäuft mit weiterer psychopathologischer Beeinträchtigung auf und kann zur Manifestation regelmäßiger Essanfälle im Sinne einer »Binge Eating Disorder« (BED) im Kindesalter führen. Ein gutes Verständnis der Ätiologie, Prävention und Behandlung der Adipositas und den damit assoziierten abweichenden Essverhaltensweisen gehören daher heute zu den wichtigsten Herausforderungen im Bereich der Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen.
39.2
Darstellung der Störungsbilder
39.2.1 Phänomenologie
Adipositas Übergewicht und Adipositas im Kindesalter werden meist mittels des Body-Mass-Index (BMI, kg/m2) erhoben, der mit dem Anteil der Körperfettmasse positiv korreliert. Bei
der Erfassung des BMI bei Kindern und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr wird dem fortschreitenden Längenwachstum Rechnung getragen, indem die BMI-Werte zu Alters- und Geschlechtsreferenzen in Beziehung gesetzt werden. Die Entwicklung des BMI in Abhängigkeit des Alters verläuft bei Mädchen und Jungen ähnlich. So kommt es nach der Geburt zu einem Anstieg des BMI, der bei Jungen im Alter von 8 Monaten seinen Höhepunkt erreicht. Bei Mädchen steigt das Gewicht weniger deutlich an und erreicht im Alter von 9 Monaten seinen Höhepunkt. Danach sinkt der BMI bei Jungen bis zum Alter von ca. 5 Jahren und bei Mädchen bis zum Alter von ca. 4,5 Jahren wieder ab. Nach diesem Abstieg steigt der BMI bei beiden Geschlechtern bis zum Erwachsenenalter an. Diese erneute Zunahme des BMI vor der Pubertät wird »Adipositas-Rebound« genannt. Im Altersabschnitt zwischen 11 und 16 Jahren weisen Mädchen einen höheren BMI auf als Jungen. Aufgrund vermehrter Streuung der Individualwerte nivelliert sich dieser Geschlechtsunterschied mit zunehmendem Alter. Prognose des Gewichtsverlaufs
Grundsätzlich steigt mit zunehmendem Alter die Korrelation des kindlichen BMI mit dem BMI des späteren Erwachsenenalters an. So weisen adipöse Kinder vor dem 3. Lebensjahr ein geringes Risiko auf, auch im Erwachsenenalter unter Adipositas zu leiden. Dieses Risiko steigt jedoch mit zunehmendem Alter und beträgt bei einem 10- bis 14Jährigen bereits 80%, wenn zusätzlich ein Elternteil ebenfalls adipös ist. Als ein weiterer wichtiger prognostischer Faktor hat sich der Zeitpunkt der erneuten Zunahme des BMI bis zur Pubertät erwiesen (»Adipositas-Rebound«) erwiesen. Kinder mit einem früheren Umkehrpunkt (vor dem 6. Lebensjahr) haben ein höheres Risiko später Adipositas aufzuweisen als Kinder mit einem späteren Umkehrpunkt.
Definition der Adipositas im Kindes- und Jugendalter Alters- und geschlechtsparallelisierte Vergleichswerte zur Bestimmung von Übergewicht und Adipositas im Kindesund Jugendalter sind vom »US Center of Disease Control and Prevention« (CDC) sowie von der »International Obesity Task Force« (IOFT) erhältlich. Gemäß den CDC-Richtlinien werden Kinder ab dem 85. BMI-Perzentil als gefährdet übergewichtig zu werden und ab dem 95. BMI-Perzentil als übergewichtig klassifiziert. Die IOFT dagegen schlägt vor, »Kindheits-Äquivalente« des »ErwachsenenBMI« zu verwenden, die Übergewicht bei einem BMI >25 und Adipositas bei einem BMI >30 diagnostizieren und in einem internationalen Cut-off-Index abgelesen werden können. Eine Überprüfung der Spezifität und Sensitivität der CDC- und IOTF-Kriterien für Übergewicht und Adipo6
sitas im Kindesalter an schweizer Kindern weist auf eine Überlegenheit der CDC-Klassifikation hin (Zimmermann et al. 2004). In Deutschland liegen von der Arbeitsgemeinschaft für Adipositas im Kindes- und Jugendalter BMI-Perzentile vor, die den Alterszeitraum von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr umfassen. Diese basieren auf Querschnittsuntersuchungen, die die BMI-Verteilung von Jungen und Mädchen nach 1985 widerspiegeln (Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter, AGA 2009; Kromeyer-Hauschild 2005; . Abb. 39.1a,b). Auf diese Weise wird versucht, der Tendenz der Verschiebung der statistischen Norm in den Bereich eines höheren Körpergewichts entgegenzuwirken und somit die Unterschätzung der Prävalenz der Adipositas zu verhindern.
691 39.2 · Darstellung der Störungsbilder
. Abb. 39.1a,b. Darstellung der BMI-Verteilung. Perzentile für den BMI für Jungen (a) und Mädchen (b) im Alter von 0–18 Jahren. (Mod. nach Kromeyer-Hauschild 2005)
Somatische und psychosoziale Folgeerscheinungen
Bereits adipöse Kinder und Jugendliche weisen ein erhöhtes Risiko auf, an den somatischen Folgen der Adipositas zu erkranken. Gemäß der WHO »Consultation on Obesity« (WHO 1998) treten Folgeerscheinungen wie schnelleres Wachstum, Stabilität der Adipositas, Fettstoffwechselstörungen, d. h. erhöhtem LDL-Cholesterin und Triglyzeride sowie erniedrigtem HDL-Cholesterin, erhöhter Blutdruck bereits bei Kindern mit hoher Wahrscheinlichkeit auf. Weiter leiden Kinder häufig unter Schlafapnoe, Gelenkproblemen sowie Diabetes mellitus. Schweres Übergewicht ist schon bei Kindern mit Gefäßveränderungen und damit verbundenen erhöhtem Arterioskleroserisiko assoziiert.
Die 30%ige-Zunahme des Diabetes mellitus bei Jugendlichen in den USA zwischen 1982 und 1992 wird den wachsenden Übergewichtsraten zugeschrieben und auch in Europa nimmt die Zahl der übergewichtigen Kinder, die unter beeinträchtigter Glukoseintoleranz und Diabetes leiden, ständig zu. Die erwähnten Folgeerscheinungen sind durch Gewichtsreduktion teilweise reversibel. Neben dem Vorliegen von Übergewicht und den damit assoziierten somatischen Gesundheitsrisiken umfasst die Beeinträchtigung adipöser Kinder und Jugendlicher jedoch noch weitere Bereiche. So hat in den letzten Jahrzehnten die Stigmatisierung adipöser Kinder zugenommen, was zu realen sozioökonomischen Benachteiligungen im Erwachse-
39
692
39
Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
nenalter führt. Zudem kann bei adipösen Kindern eine eindrückliche Beeinträchtigung der Lebensqualität festgestellt werden, die nur noch von Kindern übertroffen wird, die eine Chemotherapie erhalten (Schwimmer et al. 2003). Das Erscheinungsbild der Adipositas im Kindes- und Jugendalter umfasst weiter eine erhöhte Psychopathologie. So weisen adipöse Kinder und Jugendliche eine Vielzahl von Problemen wie z. B. Ängstlichkeit und Depressivität sowie Rückzug und Somatisierung auf.
Binge Eating Disorder (BED) Aus aktuellen Untersuchungen ergeben sich Hinweise, dass bereits Kinder und Jugendliche unter den Symptomen einer BED leiden. Das Erscheinungsbild der BED bei Erwachsenen ist durch regelmäßige Essanfälle gekennzeichnet, während derer sie große Nahrungsmittelmengen verzehren und dabei das Gefühl haben, die Kontrolle über ihr Essverhalten zu verlieren. Im Unterschied zur Bulimia nervosa bleiben dabei kompensatorische Verhaltensweisen bei der BED aus. Essanfälle treten oft vor dem Hintergrund chaotischer Essgewohnheiten auf und erfolgen als Reaktion auf emotionale Reize. Die BED ist weiter durch eine erhöhte Essstörungspathologie, wie z. B. Gewichts- und Figursorgen sowie von Sorgen rund um das Essen, gekennzeichnet. Zudem leiden Erwachsene mit BED unter einer erhöhten allgemeinen Psychopathologie, Komorbidität psychischer Störungen sowie unter der Beeinträchtigung der psychosozialen Anpassung. Im Erwachsenenalter ist das Vorliegen einer BED meist mit Übergewicht und Adipositas assoziiert (Übersicht 7 Kap. II/15)). Die Essanfallsymptomatik bei Kindern ist, ähnlich wie bei den Erwachsenen, mit einer erhöhten essstörungsspezifischen und allgemeinen Psychopathologie sowie mit ständig steigendem Übergewicht assoziiert (Hilbert u. Munsch 2005; Tanofsky-Kraff et al. 2008). Erscheinungsbild der BED
Das Kernsymptom der Binge Eating Disorder (BED) besteht auch bei Kindern in regelmäßigen Essanfällen ohne nachfolgende unangemessene kompensatorische Verhaltensweisen (z. B. Erbrechen, Fasten, exzessive körperliche Betätigung). Bereits bei Kindern treten Essanfälle mit Kontrollverlust auf. Aus diesem Grund wird bei Kindern neben dem Begriff »Essanfall« (»binge eating«: definiert als der Verzehr einer objektiv großen Nahrungsmenge in Kombination mit einem subjektiven Gefühle des Kontrollverlusts) häufig auch der Begriff »Essen mit Kontrollverlust« (»loss of control eating«, LOC, definiert als Essen in Verbindung mit einem subjektiven Gefühl des Kontrollverlusts unabhängig von der gegessenen Menge) verwendet (TanofskyKraff et al. 2008). So berichten Kinder bei regulären Mahlzeiten/Snacks oder besonderen Gelegenheiten wie
Restaurantbesuch oder Feiern über das Erleben eines Kontrollverlusts. Übergewichtige Kinder mit Kontrollverlust bezüglich des Essverhaltens (»binge eating« oder »LOC eating«) können als besonders gefährdete Population bezeichnet werden: sie erreichen auf Skalen zu figur-, gewichts- und essensbezogenen Sorgen signifikant höhere Werte als Kinder ohne Kontrollverlust, und ihr Essverhalten ist durch emotionales und external gesteuertes Essen charakterisiert. Essen mit Kontrollverlust ist zudem mit einer erhöhten allgemeinen Psychopathologie (Ängstlichkeit und Depressivität, geringem Selbstwert und von Eltern berichteten externalisierenden Schwierigkeiten) assoziiert. Ähnlich wie bei Erwachsenen scheinen Essanfälle auch im Kindes- und Jugendalter mit unstrukturiertem Essverhalten, Auslassen von Mahlzeiten, häufigem Naschen sowie häufigeren Diätversuchen einherzugehen. Im Gegensatz zu Erwachsenen berichten Kinder über eine erhöhte Zufuhr von kohlenhydratreicher sowie proteinärmerer, aber nicht energiereicherer Nahrung während Essanfällen. Exkurs Diagnose der BED bei Kindern und Jugendlichen Die aktuellen DSM-IV-Kriterien erlauben keine adäquate Abbildung des Erscheinungsbildes der BED. Kinder mit Essanfällen werden häufig der Diagnosekategorie der »nicht näher bezeichneten Essstörungen« zugeordnet. Diese Diagnose umfasst eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Symptomen, bei welchen die Kriterien für eine etablierte Essstörung nach DSM-IV nicht erfüllt sind, oder die sich in einer subklinischen Ausprägung zeigen. Durch die Heterogenität der Diagnosekategorie ergeben sich jedoch wenig Informationen für eine störungsspezifische Behandlung und es können keine prognostischen Aussagen über den Verlauf der Essstörung gemacht werden. Aus diesem Grund wurden für die Beschreibung und Klassifikation von Essstörungen im Kindesalter vermehrt altersadaptierte spezifische Kriterien empfohlen, die sich für diese Altersgruppe als günstiger und reliabler erweisen als internationale Diagnosesysteme wie das DSM-IV oder die ICD-10 (Workgroup for Classification of Eating Disorders in Children and Adolescents (WCEDCA) 2007). Die Anwendung dieser Kriterien kann dazu beitragen, Kinder mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Essstörung frühzeitig zu erkennen. Für die BED im Kindesalter wurden kindspezifische Diagnosekriterien vorgeschlagen, die von TanofskyKraff et al. (2008) revidiert und dem neuesten Forschungsstand angepasst wurden (7 folgende Übersicht).
693 39.2 · Darstellung der Störungsbilder
Vergleich der vorläufigen Forschungskriterien für die BED im Kindesalter nach Marcus u. Kalarchian (2003) und Tanofsky-Kraff et al. (2008) Vorläufige Forschungskriterien für die BED bei Kindern unter 14 Jahren. (Mod. nach Marcus u. Kalarchian 2003)
Provisorische Forschungskriterien für die Essstörung mit Kontrollverlust (»loss of control eating disorder«, LOCED) bei Kindern unter 12 Jahren. (Mod. nach TanofskyKraff et al. 2008)
A. Wiederkehrende Essanfälle. Ein Essanfall ist gekennzeichnet durch beide der folgenden Merkmale:
A. Wiederkehrende Episoden von Essen mit Kontrollverlust. Essen mit Kontrollverlust ist gekennzeichnet durch beide der folgenden Merkmale:
1. Suchen nach Nahrung in Abwesenheit von Hunger (z. B. nach einer Mahlzeit). 2. Das Gefühl, dass die Kontrolle über das Essen fehlt (z. B. »Wenn ich einmal mit dem Essen an-
1. Subjektives Gefühl des Kontrollverlusts über das Essen 2. Suchen nach Nahrung in Abwesenheit von Hunger oder nach der Sättigung
fange, kann ich nicht mehr aufhören«) B. Die Essanfälle treten gemeinsam mit einem oder mehreren der folgenden Merkmale auf: 1. Suchen nach Nahrung auf negativen Affekt hin (z. B. Traurigkeit, Langeweile oder Unruhe) 2. Suchen nach Nahrung als Belohnung 3. Heimlich essen oder Nahrungsmittel verstecken
B. Die Episoden von Essen mit Kontrollverlust treten gemeinsam mit mindestens drei oder mehreren der folgenden Merkmale auf: 1. Essen als Reaktion auf negativen Affekt 2. Heimliches Essen 3. Gefühle von Benommenheit/Taubheit (fehlende Bewusstheit) während des Essens 4. Essen größerer Nahrungsmengen im Vergleich mit anderen oder die Wahrnehmung, dass mehr gegessen wird im Vergleich mit anderen 5. Negativer Affekt als Folge des Essens mit Kontrollverlust (z. B. Schuld- und Schamgefühle)
C. Die Symptomatik besteht während 3 Monaten
C. Episoden von Essen mit Kontrollverlust treten durchschnittlich an mindestens 2 Tagen pro Monat während 3 Monaten auf
D. Essanfälle gehen nicht mit dem regelmäßigen Einsatz unangemessener kompensatorischer Verhaltensweisen einher, und sie treten nicht ausschließlich im Verlauf einer Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa auf
D. Die Essanfälle gehen nicht mit dem regelmäßigen Einsatz unangemessener kompensatorischer Verhaltensweisen einher, und sie treten nicht ausschließlich im Verlauf einer Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder Binge Eating Disorder auf
> Fazit Das Erscheinungsbild der Adipositas im Kindes- und Jugendalter umfasst nebst dem Vorliegen von Übergewicht auch soziale Benachteiligung, eine generell verringerte Lebensqualität sowie eine Vielzahl von psychischen Symptomen (insbesondere Ängstlichkeit und Depressivität, Rückzug und Somatisierung). Die BED bei Kindern ist im Unterschied zur BED bei Erwachsenen durch Überessen oder Essen in Abwesenheit von Hunger bzw. durch Essen assoziiert mit dem Erleben von Kontrollverlust als spezifische Merkmale für anfallsartiges Essen gekennzeichnet. Ähnlich wie bei Erwachsenen liegen auch bei Kindern mit den Symptomen einer BED erhöhte essspezifische Psychopathologie sowie ein erhöhtes Körpergewicht vor.
39.2.2 Epidemiologie und Komorbidität
Epidemiologie der Adipositas Eine Reihe breit angelegter epidemiologischer Studien weisen auf einen weltweiten, ständigen Anstieg der Adipositas im Kindesalter hin. So verdreifachte sich in den USA die Prävalenz der Adipositas bei 6- bis 11-Jährigen, von ca. 4% in den Jahren 1971–1974 (1. National Health and Nutrition Examination Survey, NHANES) bis zu 16% in Erhebungsjahren 1999–2002 (Ogden et al. 2002). Ähnlich, wenn auch nicht gleich ausgeprägt, steigt die Adipositas im Kindesund Jugendalter in westeuropäischen Ländern ständig an. In der Schweiz verfünffachte sich die Prävalenz für Übergewicht und Adipositas seit 1980. Die Prävalenz des Übergewichts beträgt gemäß den CDC-Richtlinien (Übergewicht
39
694
39
Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
ab dem 85. Perzentil; Adipositas ab dem 95. Perzentil) bei 6- bis 12-jährigen Jungen 20,3% bzw. der Adipositas 7,6%. Bei den Mädchen liegt Übergewicht bei 19,1% und Adipositas bei 5,9% vor (Zimmermann et al. 2004). In Deutschland und Österreich sind in Anlehnung an die BMI-Perzentile von Kromeyer-Hauschild (2005) zwischen 10–15% der Mädchen und Jungen im Alter zwischen 5 und 16 Jahren übergewichtig (BMI >90) und 4–8% adipös (BMI >97). Die in Deutschland durch das Robert-Koch-Institut durchgeführte Kinder- und Jugendgesundheitserhebung »KIGGS« belegt diese Daten und stellt eine Prävalenz von kindlichem Übergewicht (BMI >90. Perzentil) von 15% bzw. von Adipositas von 6,3% fest. Dies bedeutet eine 50%ige Zunahme des Vorkommens seit 1999. Ähnlich wie in der Schweiz ist auch in Deutschland sowie in Österreich in den letzten 10 Jahren ein ständiger Anstieg der Prävalenz von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter festzustellen.
Epidemiologie der BED In der erwachsenen Bevölkerung zeigen epidemiologische Studien zur BED eine Punktprävalenz von 1–3%. Bei Kindern wurde das Vollbild einer BED mittels eines strukturierten klinischen Interviews (»Child Eating Disorder Examination«; Bryant-Waugh et al. 1996) bei ca. 1% adipöser Kinder und Jugendlicher erfasst. Ähnlich wie bei Erwachsenen treten regelmäßige Essanfälle (»binge eating«) bzw. Essen mit Kontrollverlust (»LOC eating«) auch bei Kindern häufiger auf als das Vollbild der BED und sind mit Prävalenzraten von 15% (»binge eating«; Levine 2006) und 37% (»LOC eating«) beachtlich. Wie bei Erwachsenen zeigt sich auch bei Kindern, dass die Prävalenz regelmäßiger Essanfälle mit hohem Körpergewicht korreliert. Studien weisen auf eine Prävalenz regelmäßiger Essanfälle von ca. 6% in nichtklinischen sowie von bis zu 35–40% in klinischen Stichproben adipöser Kinder hin. Regelmäßige Essanfälle scheinen bei Mädchen tendenziell häufiger vorzukommen als bei Jungen und treten insgesamt mit zunehmendem Alter der Kinder gehäuft auf. Komorbide psychische Störungen bei Adipositas und BED Adipöse Kinder. Mehrere Untersuchungen zeigen, dass
übergewichtige und adipöse Kinder, die um Behandlung nachsuchen, besonders deutlich unter Verhaltensauffälligkeiten leiden (Roth et al. 2008). Neben Essstörungen sind externalisierende Störungen, insbesondere die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in klinischen Stichproben übergewichtiger Kinder am häufigsten zu finden (Holtkamp et al. 2004). Weitere Befunde weisen zudem auf eine erhöhte Prävalenz psychischer Beeinträchtigungen wie z. B. soziale Probleme, Ängstlichkeit und Depressivität sowie Rückzug und Somatisierung hin. Die Befunde dieser Untersuchung müssen jedoch unter verschiedenen methodischen Aspekten kritisch diskutiert werden.
So weisen einige der früheren Untersuchungen geringe Fallzahlen auf und der Vergleich mit einer Kontrollstichprobe normalgewichtiger Kinder bzw. der Vergleich zwischen adipösen Kindern, die eine Behandlung in Anspruch nahmen und adipösen Kindern aus der Allgemeinbevölkerung wurde bisher nur selten durchgeführt. Kinder mit BED. Bis jetzt liegen nur wenige Studien zur Komorbidität der BED im Kindes- und Jugendalter mit anderen psychischen Störungen vor. Die Befunde zum Zusammenhang von ADHS und BED bei Erwachsenen wurden bisher an Kindern und Jugendlichen noch nicht untersucht. In einer Studie mit erwachsenen Patienten mit ADHS erfüllten 10,4% eine Diagnose einer Essstörung, wobei die BED bei 8,13% der Patienten diagnostiziert wurde und somit die häufigste Diagnose darstellte. Eine neuere Studie an schwer adipösen Jugendlichen im Alter von 12–17 Jahren ergab deutliche Hinweise auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von ADHS-Symptomen bei Jugendlichen mit bulimischen Verhaltensweisen. Dieses Ergebnis könnte ein Hinweis für ein gehäuftes Vorkommen von ADHS bei Kindern und Jugendlichen mit Essanfällen darstellen. Zusammengefasst weisen die Ergebnisse darauf hin, dass das Vorliegen einer komorbiden ADHS bei übergewichtigen und adipösen Kindern und/oder Kindern mit einer BED sorgfältig erfasst werden sollte.
Verlauf der Adipositas Der Verlauf der Adipositas im Kindesalter muss als chronisch angesehen werden, wobei das Risiko der Persistenz der Störung parallel zum Alter ansteigt (7 Abschn. 39.2.1. »Prognose des Gewichtsverlaufs«). Damit assoziiert ist ein steigendes Risiko zur Entwicklung von somatischen Begleiterkrankungen sowie psychosozialer Begleiterscheinungen.
Verlauf der BED Zum Verlauf der BED im Kindes- und Jugendalter liegen keine Befunde vor. Tanofsky-Kraff et al. (2008) referieren jedoch Ergebnisse verschiedener epidemiologischer und Behandlungsstudien, die aufzeigen, dass das Auftreten von Essanfällen bzw. das Erleben von Kontrollverlust einerseits mit einer kontinuierlichen Gewichtszunahme und andererseits mit erhöhter Essstörungspsychopathologie einhergeht. Weiter scheint das Vorhandensein einer Essanfallssymptomatik die Bereitschaft zur Teilnahme und Beendigung einer Behandlungsmaßnahme negativ zu beeinflussen. Eine prospektive Studie zu Essstörungssymptomen im Übergang von Kindheit zum Erwachsenenalter zeigte eine moderate Stabilität der Essstörungen Anorexia nervosa und Bulimia nervosa. Verschiedene Autoren fanden in ihrer Längsschnittuntersuchung ebenfalls eine moderate Stabilität essanfallsartiger Symptome für einen früheren Altersbereich, d. h. zwischen der Geburt und dem Alter von 5 Jahren. In-
695 39.3 · Ätiologie
wieweit diese Befunde auf die BED im Kindesalter übertragbar sind, ist jedoch unklar.
39.3
Ätiologie
39.3.1 Entstehung und Manifestation
der Adipositas und BED Das Verständnis der ätiologischen Faktoren der Adipositas im Kindes- und Jugendalter ist zentral für jegliche Bemühungen, der epidemischen Zunahme dieses Störungsbildes entgegen zu wirken. Der Einfluss genetischer Faktoren ist in zahlreichen Studien gut belegt; Zwillings- und Adoptionsstudien weisen darauf hin, dass 60–80% der Varianz des BMI durch genetische Prädisposition erklärt werden kann. Als Mechanismen für die Expression der genetischen Disposition werden Fettpräferenz sowie Energieverbrauch und Anzahl der angelegten Fettzellen diskutiert (WHO 1998). Bei der Manifestation der Adipositas kommt jedoch Umgebungsfaktoren eine entscheidende Rolle zu. Mögliche korrelative Zusammenhänge mit der zunehmenden Prävalenz der Adipostias umfassen die Verbreitung eines passiven Lebensstils (»sedentary behavior«), der mit einer Verringerung der körperlichen Aktivität sowie
einer zunehmenden Verbreitung von Fernsehkonsum und Computerspielen in Zusammenhang gebracht werden kann (Bar-Or et al. 1998). Bei der Entwicklung von Bewegungsgewohnheiten des Kindes kommt dem familiären Bewegungsstil eine wichtige Rolle zu. Eltern beeinflussen das Bewegungsverhalten ihrer Kinder durch das Generieren von Möglichkeiten zur körperlichen Aktivität im Alltag und in der Freizeit und sind damit wichtige Modelle für ihre Kinder. Korrelative Zusammenhänge lassen sich auch zwischen dem Anstieg der Adipositasprävalenz und einem vermehrten Verzehr von Fett und raffinierten Lebensmitteln sowie einer erhöhten Tendenz zu großen Portionen und häufigeren Mahlzeiten feststellen. Weiter weisen Untersuchungen darauf hin, dass Zugehörigkeit zu einer niedrigen sozialen Schicht die Manifestation von Übergewicht und Adipositas bei Kindern begünstigt. Es kann angenommen werden, dass sozial schwache Eltern möglicherweise weniger hochwertige Nahrungsmittel einkaufen und ihren Kindern weniger Möglichkeiten zur körperlichen Aktivität zur Verfügung stellen können. Weiter kann auch das mit niedrigem sozioökonomischen Status verbundene gehäufte Vorkommen psychischer Störungen eines Elternteils das Auftreten und Aufrechterhalten von Übergewicht begünstigen.
Psychologische Mechanismen der Ätiologie der Adipositas im Kindesalter Die Entwicklung von Übergewicht kann auch durch psychologische Faktoren beeinflusst werden. Ein negatives Körperkonzept, Angst und affektive Störungen sind mit Übergewicht assoziiert, wobei die Richtung des UrsacheWirkung-Zusammenhangs ungeklärt bleibt. In prospektiven Studien konnten sowohl Depressivität als auch Störung des Sozialverhaltens als Prädiktoren isoliert werden. Gehäuft wurden negativer Affekt und gestörtes Essverhalten als Auslöser von Übergewicht identifiziert (Stice et al. 2005). Ungünstige Essverhaltensweisen begünstigen zudem die Entwicklung und Manifestation von Übergewicht. Adipöse Kinder machen sich oftmals Sorgen um ihr Gewicht und versuchen, mittels phasenweiser Einschränkung der Nahrungszufuhr bzw. durch Diäten, ihr Gewicht zu reduzieren. Es liegen Hinweise auf vermehrte Versuche vor, die Nahrungszufuhr mittels kognitiver Kontrolle in Sinne von kognitiven, internalen Diätgrenzen zu zügeln »restrained eating«, restriktives Essverhalten. Diese Strategien zur
39.3.2 Ätiologie der Binge Eating Disorder
Untersuchungen weisen darauf hin, dass zur Ätiologie der BED zwei Hauptfaktorengruppen beitragen: zum einen das Vorliegen von Vulnerabilitätsfaktoren zur Entwicklung einer psychischen Störung (z. B. psychische Erkrankungen in
Kontrolle der Energiezufuhr beeinträchtigen die internale Regulation von Hunger und Sättigung und sind höchstens kurzfristig wirksam und erhöhen zudem das Risiko für anfallsartiges Essverhalten. Verschiedene Forschungsergebnisse weisen auf die wichtige Rolle des familiären Umfelds bei der Vermittlung von Essverhaltensweisen hin. Mütter sind wichtige Modelle für den Umgang mit Nahrung und Gewicht. Es zeigt sich, dass der mütterliche Umgang mit Nahrung bzw. die Frequenz des Nahrungsangebotes und die Häufigkeit, mit der verbale Essensaufforderungen gemacht werden, das kindliche Essverhalten beeinflussen. Wird dem Kind ein Essverhaltensstil vorgelebt, bei dem Nahrungszufuhr vermehrt als Reaktion auf externale Stimuli eintritt, z. B. als Tröster, Belohnung oder als Folge von mütterlichen Aufforderungen zur Nahrungszufuhr, so kann die Wahrnehmung von Hunger und Sättigung sowie die Selbstregulation der Nahrungsaufnahme beeinträchtigt werden (Munsch et al. 2008).
der Familie, Missbrauchserlebnisse, negatives Selbstbild, kritische Lebensereignisse) und zum anderen das Vorhandensein von Faktoren, die die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas in der Kindheit begünstigen (Übersicht s. Vögele 2005).
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Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
Ätiologische Faktoren bei der BED Genetische Transmission von Essanfällen bzw. der BED.
Hierzu liegen bis jetzt nur wenige Studien vor. Während Familienstudien an kleinen Stichproben von Frauen mit BED widersprüchliche Ergebnisse in Bezug auf eine familiale Aggregation der BED erbrachten, zeigte eine populationsbasierte Zwillingsstudie aus dem »Virginia Twin Registry« eine moderate Heritabilität für Essanfälle und eine substanzielle Heritabilität für Adipositas. Die Überlappung der genetischen Risikofaktoren für beide Traits war gering. Eine molekular-genetische Studie zeigte, dass Essanfälle durch Mutationen im Menalocortin-4-Rezeptor-Gen verursacht werden können. Eine aktuelle Untersuchung von Lilienfeld et al. (2008), in der die Häufung einer BED sowie anderer psychischer Störungen bei Verwandten ersten Grades von BED-Patientinnen untersucht wurde, ergab deutliche Hinweise auf eine familiäre Aggregation einer BED unabhängig vom Gewicht. BED-Patientinnen wiesen zudem gehäuft affektive Störungen und Angststörungen auf. Insgesamt sprechen die meisten der Befunde aus der Studie von Lilienfeld et al. (2008) für eine unabhängige Transmission der BED und somit für eine genetische Beteiligung von Essanfällen. Da die BED jedoch inkonsistent erhoben wurde, lassen sich bisher keine Aussagen über eine Erblichkeit der BED treffen. Retrospektive Risikostudien. Diese fanden bei Frauen mit BED im Vergleich zu nichtessgestörten Frauen eine erhöhte psychische Vulnerabilität in der Kindheit, z. B. negative Selbstbewertung, Schüchternheit, Verhaltensauffälligkeiten sowie prämorbide Depression. Frauen mit BED waren darüber hinaus einem erhöhten Risiko physischen und sexuellen Missbrauchs ausgesetzt, ihr Elternhaus war durch eine Reihe elterlicher und familiärer Probleme gekennzeichnet (z. B. Streit, Kritik, hohe Erwartungen, Überbehütung, wenig Zuwendung), und sie berichteten häufiger von figur- und gewichtsbezogener Kritik oder Hänseleien. Figur- und gewichtsbezogene Kritik und Adipositas in der Kindheit zeigten sich als störungsspezifische Risikofaktoren für die Entstehung einer BED im Vergleich zu anderen psychischen Störungen. Anfallsartigem Essverhalten bei der BED gingen häufiger einschneidende Veränderungen in Lebensumständen und sozialen Beziehungen (z. B. Umzug, Verlust einer nahestehenden Person, Ende einer Paarbeziehung), physischen oder sexuellen Missbrauch, negative Kommentare über Figur oder Gewicht und Stress in der Schule oder bei der Arbeit voran. In den wenigen bisher vorhandenen prospektiven Studien zur Entstehung von Essanfällen konnten bei weiblichen Jugendlichen eine Reihe unabhängiger Risikofaktoren, darunter Unzufriedenheit mit der Figur, Diäthalten, Verfügbarkeit von Modellen eines gestörten Essverhaltens, negativer Affekt, Schlankheitsdruck, emotionales Essen, erhöhter BMI, geringes Selbstwertgefühl und mangelnde soziale Unterstützung bestätigt werden. Weiter sind Merkmale eines gestörten Essverhaltens der Mutter bei der
Geburt des Kindes (z. B. bulimische Symptome, Unzufriedenheit mit der Figur, gezügeltes Essverhalten und Schlankheitsdrang der Mutter, Störbarkeit des Essverhaltens) sowie Übergewicht der Eltern prädiktiv für das Auftreten geheimen Essens des Kindes. Restriktive Ernährungspraktiken der Mutter, z. B. eine Begrenzung von Portionsgrößen der Tochter, prognostizierten vermehrtes Essen der Tochter in Abwesenheit von Hunger. Übergewicht der Tochter moderierte diesen Effekt. So aßen Mädchen, die im Alter von fünf Jahren bereits übergewichtig waren, später größere Kalorienmengen, ohne hungrig zu sein, als normalgewichtige Mädchen, obwohl restriktive Ernährungspraktiken gleichermaßen bei Normal- und Übergewicht eingesetzt wurden. > Fazit Zusammenfassend weisen die vorliegenden Befunde auf eine multifaktorielle Ätiologie der Adipositas im Kindesalter hin. Entscheidend für präventive Interventionen und Behandlungsansätze ist, dass sowohl bei der Entwicklung des Ernährungsstils, der Essverhaltensgewohnheiten sowie bei der Etablierung des Bewegungsstils dem familiären Umfeld eine bedeutende Rolle zukommt. Die Familie steht demnach im Fokus der Behandlung adipöser Kinder. Der Überblick über die aktuelle Forschung zur Ätiologie der BED im Kindesalter bietet in vielen Bereichen noch ein lückenhaftes Bild. In Bezug auf die Frage nach den ätiologischen Faktoren bleibt es z. B. offen, welche unmittelbaren Faktoren anfallsartigem Essen vorausgehen. Zusammenfassend legen diese Befunde ein Zusammenwirken einer defizitären Emotions- und Impulsregulation in Interaktion mit einer Prädisposition zur Manifestation von Übergewicht und Adipositas nahe. Es ist bislang jedoch weitgehend ungeklärt, wie diese Faktoren pathogenetisch interagieren, z. B. wie sich Adipositas, Diäthalten und Essanfälle wechselseitig beeinflussen.
39.4
Diagnostisches Vorgehen sowie Instrumente bei Adipositas und BED
Im Rahmen der somatischen Diagnostik werden das Ausmaß des Übergewichts bzw. der Adipositas beim Kind erhoben und differenzialdiagnostisch ursächliche somatische Grunderkrankungen vom Pädiater ausgeschlossen. In einer gründlichen Anamnese und Befunderhebung können auch bereits vorhandene medizinische Folgeerscheinungen erkannt und gegebenenfalls behandelt werden. Die strukturierte Erhebung möglicher Grunderkrankungen kann z. B. in Anlehnung an die evidenzbasierten Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA 2009) erfolgen. Zu den primären Grunderkrankungen, die sich u. a. in Übergewicht und Adipositas manifestieren, gehören z. B. das Prader-Willi-Syndrom, eine sehr seltene, auf einem genetischen Defekt beruhende Krankheit, die bereits in der frühen Kindheit zur Entwick-
697 39.5 · Therapeutisches Vorgehen
lung einer deutlichen Adipositas bei gleichzeitiger motorischer Entwicklungsstörung führt. Die Symptomatik der Betroffenen zeichnet sich unter anderem durch den ständigen, den Alltag bestimmenden Drang nach Essen, fehlender Kontrolle über das Essverhalten und ein nicht vorhandenes Sättigungsgefühl aus. Die Betroffenen zeigen eine starke Fixierung auf das Essen, die z. T. auch mit heimlichem Essen und der Entwendung von Nahrungsmitteln einhergeht (Pankau 2005). Noch seltener kommen auf Genmutationen beruhende Krankheiten wie das Bardet-Biedl-Syndrom, das Cohen-Syndrom, das Alström-Syndrom sowie die Mixoploidie, die u. a. auch mit mentaler Retardierung assoziiert sind (Übersicht s. Pankau 2005). Die psychologische Befunderhebung beinhaltet die Erfassung gestörten Essverhaltens bei adipösen Kindern und Kindern mit BED. Unter Berücksichtigung aktueller Befunde zur psychischen Belastung adipöser Kinder und Kinder mit BED sollte neben der störungsspezifischen Diagnostik ein umfassendes klinisches Interview wie z. B. das »Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter« (Kinder-DIPS; Schneider et al. 2009) zur Erfassung komorbider psychischer Störungen durchgeführt werden. Zur standardisierten Erfassung von Verhaltensaufälligkeiten, wie sie ebenfalls bei adipösen Kindern beschrieben werden, eignet sich z. B. die Durchführung der »Child Behavior Checklist« (CBCL; Achenbach 1991) oder des Fragebogens zu Stärken und Schwächen (»Strengths and Difficulties Questionnaire«, SDQ; Goodman 1997). Idealerweise erfolgt die standardisierte Exploration sowohl mit dem Kind als auch mit der Hauptbezugsperson. Im Jugendalter kann auf die Exploration der Bezugsperson verzichtet werden. Ab ca. 9–11 Jahren kann das Selbsturteil über Fragebogen reliabel erhoben werden (7 Kap. III/8). Strukturierte Interviews erlauben eine standardisierte klinische Beurteilung der diagnose- und therapierelevanten Essstörungspathologie. Im Hinblick auf die Therapieplanung sowie auf die kontinuierliche Evaluierung im Therapieprozess kommen Selbstbeobachtungsprotokolle zur Erfassung des charakteristischen Ess-, Ernährungs- und Bewegungsstils zur Anwendung. Diese liefern Informationen über die Nahrungsmittelwahl, das Bewegungsverhalten sowie über das Auftreten von Essanfällen, die die Grundlage der individuellen Verhaltens- bzw. Problemanalyse darstellen. Das Ziel einer Verhaltensanalyse stellt die Eruierung der auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen des ungünstigen Verhaltens, z. B. heimliches Essen oder zu wenig körperliche Aktivität, dar. Gemeinsam mit dem Kind bzw. den Eltern können Auslöser und entsprechende kurz- und langfristige Konsequenzen erarbeitet werden. Dieser Prozess der Individualisierung des Störungsmodells begünstigt die Motivation für die notwendigen Verhaltensänderungen und erlaubt die Planung individuell geeigneter Interventionen sowie deren Überprüfung im Therapieverlauf.
. Tab. 39.1 gibt einen Überblick über die aktuell in deutscher Sprache verfügbaren Fragebogen und klinischen Interviews zur standardisierten Erfassung der Essstörungspathologie bei Kindern mit BED oder reiner Adipositas.
39.5
Therapeutisches Vorgehen
39.5.1 Therapeutisches Vorgehen bei Adipositas
Die Behandlung der Adipositas im Kindesalter erfolgt multimodal, um möglichst alle auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren zu berücksichtigen. Die besten Erfolge lassen sich mit einer Kombination aus Ernährungstherapie, Steigerung der körperlichen Aktivität und Verhaltenstherapie erzielen. Eine Reihe gut kontrollierter Studien hat zudem gezeigt, dass der Einbezug der Eltern die Effektivität der Behandlung steigert, wobei bis anhin noch unklar ist, ob eine alleinige Behandlung der Eltern in bestimmten Altersgruppen adipöser Kinder ausreichend ist, die entsprechenden Veränderungen im Alltag zu etablieren (Barlow u. Dietz 1998; Summerbell et al. 2003). Eine wirksame Behandlung der Adipositas im Kindesalter (gleich bleibendes Körpergewicht bei fortschreitendem Längenwachstum) führt erfreulicherweise meist zu einer Verbesserung somatischer Komplikationen. Bei Vorliegen schwerwiegender somatischer Folgeerscheinungen – wie z. B. Schlafapnoe, Bluthochdruck, Diabetes mellitus – muss vor Beginn der Adipositasbehandlung geprüft werden, ob allenfalls eine spezifische Therapie parallel stattfinden oder vorgeschaltet werden sollte. Liegen zusätzlich zur Adipositas komorbide psychische Störungen mit schwerem Ausprägungsgrad (z. B. schwerwiegende Angst- oder affektive Störungen oder Störungen der Aufmerksamkeit, der Aktivität oder des sozialen Verhaltens) vor, so sollte diese psychische Störung prioritär behandelt werden. Für die Durchführung der Behandlung adipöser Kinder und Jugendlicher in Gruppen sprechen nicht nur die Hinweise auf eine verbesserte Kosteneffektivität, sondern vor allem auch Hinweise auf eine erhöhte Wirksamkeit im Vergleich mit der Individualtherapie. Gerade für adipöse Kinder und Jugendliche, die oft auch die Erfahrung der Randständigkeit und sozialen Ausgrenzung gemacht haben, ist es hilfreich, in der Gruppe ein »Wir-Gefühl« zu erleben, an Modellen zu lernen sowie aktiv an der Problemlösung von anderen Gruppenmitgliedern beteiligt zu sein. Aus ähnlichen Gründen bietet sich auch für die Eltern adipöser Kinder die Durchführung von Gruppen an, wobei entsprechende Belege für eine Überlegenheit der Gruppenbehandlung hinsichtlich der Wirksamkeit noch ausstehen. Für bestimmte Module, wie das Explorieren und Erarbeiten der individuellen Motivation oder wenn schwierige psychosoziale Bedingungen vorliegen, erscheint jedoch eine Kombination mit einer Individualtherapie sinnvoll.
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Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
. Tab. 39.1. Für Kinder und Jugendliche adaptierte Verfahren zur Diagnostik und Erfassung der Essstörungspathologie. (Mod. nach Hilbert u. Munsch 2005) Instrument
Alter
Aufbau und diagnostische Informationen
Psychometrische Gütekriterien
Anmerkungen
Hinweise auf diskriminante und konvergente Validität; Skalenergebnisse konsistent mit Erwachsenen
Adaptierte Version des »Eating Disorder Examination« (EDE; Fairburn u. Cooper 1993; Hilbert et al. 2004).
Strukturierte Essstörungsinterviews für Kinder und Jugendliche »Eating Disorder Examination« für Kinder (ChEDE; BryantWaugh et al. 1996)a
8–14 Jahre
35 Items (diagnostische Items und Items zur Beschreibung der Essstörungspathologie); Subskalen »Restraint«, »Eating Concern«, »Shape Concern«, »Weight Concern« zugeordnet; Auswertung: Diagnosen, Subskalenwerte und Gesamtwert
Selbstbeurteilungsfragebögen für Kinder und Jugendliche »Body Image Assessment« für Kinder und Präadoleszente (BIA-C, BIA-P; Veron-Guidry u. Williamson 1996)
Ab 8 Jahren
Alters- und geschlechtsspezifische Körperbildsilhouetten zur Erfassung eines negativen Körperbildes; Auswertung: Selbst-Ideal-Diskrepanz
Hinweise auf Retest-Reliabilität und konvergente Validitätb
–
»Dutch Eating Behavior Questionnaire« für Kinder (DEBQ-K; Franzen u. Florin 1997)
7–13 Jahre
30 Items; Subskalen extern bestimmtes Ernährungsverhalten, gefühlsinduziertes Ernährungsverhalten, restriktives Ernährungsverhalten; Auswertung: Subskalenwerte
Retest-Reliabilität, interne Konsistenzen der Subskalen (Cronbach α>0,80), faktorielle Validität, und Referenzwerte für 11bis 12-jährige Kinderb
Adaptation für Kinder des »Dutch Eating Behavior Questionnaire« (DEBQ; Van Strien et al. 1986)
»Eating Disorder Examination-Questionnaire« für Jugendliche (EDE-Q; Carter et al. 2001)a
12–14 Jahre
36 Items; Subskalen »Restraint«, »Eating Concern«, »Shape Concern«, »Weight Concern« und diagnostische Items; Auswertung: Essstörungsdiagnosen, Subskalenwerte und Gesamtwert
Normen für Adoleszentenb
Der für Jugendliche adaptierte EDE-Q (Fairburn u. Beglin 1994; Hilbert, in Vorbereitung)
»Body Image Assessment« für Kinder und Präadoleszente (BIA-C, BIA-P; Veron-Guidry u. Williamson 1996)
Ab 8 Jahren
Alters- und geschlechtsspezifische Körperbildsilhouetten zur Erfassung eines negativen Körperbildes; Auswertung: Selbst-Ideal-Diskrepanz
Hinweise auf Retest-Reliabilität und konvergente Validitätb
–
a Liegt nicht deutschsprachiger Übersetzung vor. b Gütekriterien für Anwendungen im nichtklinischen Bereich.
Indikation zur Behandlung adipöser Kinder Die Indikation einer Behandlung hängt insbesondere vom Alter des Kindes ab. Dabei besteht das primäre Therapieziel darin, die Manifestation der Adipositas zu verhindern. Folgende Richtlinien können zur Indikationsstellung herbeigezogen werden (. Tab. 39.2): Neben den Überlegungen betreffend einer prinzipiellen Indikation zur Behandlung stellt sich in Abhängigkeit des Alters auch die Frage nach der Zielperson der Interventionen. So richten sich Interventionen zur Steigerung der Bewegung, Umstellung der Ernährung oder verhaltenstherapeutische Strategien zur Veränderung des Essverhaltens bei kleinen Kindern bis zu ca. 8 Jahren fast ausschließlich an die primären Bezugspersonen. Auch im Alter zwischen 8 und ca. 12 Jahren sollten aufgrund internationaler Richtlinien für die Steigerung der Wirksamkeit der Behandlung adipöser Kinder die Eltern die primären Ansprechpartner der Behandlung darstellen (Barlow u. Dietz 1998; Summerbell et al. 2003). Die Veränderung des familiären Lebensstils ist in dieser Altersspanne eine Be-
dingung, ohne die die meisten therapeutischen oder präventiven Bemühungen langfristig wirkungslos bleiben. Bei älteren adipösen Kindern und Jugendlichen sollte jedoch die Behandlung auf eine schrittweise Übernahme der Selbstverantwortung und -kontrolle durch die Jugendlichen »unabhängig« vom Umfeld ausgerichtet werden.
. Tab. 39.2. Richtlinien zur Indikationsstellung adipöser Kinder Kinder im Alter von 0–2 Jahren
Kinder im Alter von 2–6 Jahren
Ältere Kinder
4 Präventive Beratung
Ohne Begleiterkrankungen
Ohne Begleiterkrankungen
4 Aktuelles 4 Aktuelles Gewicht halten Gewicht halten Mit Begleiterkrankungen
Mit Begleiterkrankungen
4 Gewichtsabnahme
4 Gewichtsabnahme
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Behandlungsziele bei Adipositas ! Das Ziel einer erfolgreichen Adipositasbehandlung besteht in einer schrittweisen, aber umfassenden Veränderung des Lebensstils des Kindes und dessen Familie.
Dieses Ziel umfasst folgende Behandlungsschritte: 4 Aufbau der Motivation für Verhaltensänderungen und deren langfristige Aufrechterhaltung beim Kind und der Familie; 4 Veränderung des Ess- und Ernährungsverhaltens des adipösen Kindes unter Einbezug der Familie: Einführen eines ausgewogenen Ernährungsstils, Normalisieren des Essverhaltens;
4 Veränderung des Bewegungsverhaltens des Kindes und in der Familie: Steigerung der körperlichen Aktivität, Reduktion passiver Verhaltensweisen (für eine ausführliche Besprechung des Einflusses von körperlicher Aktivität auf die psychische Befindlichkeit bei Kindern 7 Kap. III/51). Daraus folgt die Voraussetzung für eine langfristige Reduktion des Körpergewichts; 4 Gewichtsstabilisierung bzw. Gewichtsreduktion: Die Behandlung adipöser Kinder strebt bei noch wachsenden adipösen Kindern ein Gewichtsstillstand bei fortschreitendem Längenwachstum an (Definition einer erfolgreichen Gewichtsreduktion in Anlehnung an Barlow u. Dietz 1998). Die maximale Gewichtsreduktion pro Woche bei Jugendlichen mit abgeschlossenem Längenwachstum beträgt analog den Erwachsenen 0,5 kg.
Stationäre Behandlung Bei massiver Adipositas im Kindes- und Jugendalter bzw. bei gleichzeitig vorliegenden psychosozialen Schwierigkeiten, die die Wirksamkeit einer ambulanten Behandlung voraussichtlich beeinträchtigen werden, ist eine stationäre Behandlung angezeigt. Die Vorteile eines stationären Rahmens umfassen die Möglichkeit einer externen Kontrolle des Essverhaltens, des Nahrungsmittelangebots sowie des Bewegungsverhaltens. Bei Kindern kann somit eine beschleunigte und deutlichere Gewichtsreduktion erzielt werden als in vergleichbaren ambulanten Behandlungskonzepten. Daraus kann eine Steigerung der Motivation für das langfristige Aufrechterhalten neuer Verhaltenswei-
Training für adipöse Kinder und deren Eltern (TAKE) Die im folgenden Abschnitt ausgewählten Inhalte des Trainings für adipöse Kinder und deren Eltern (TAKE; Roth u. Munsch 2009, im Druck) basieren auf den Empfehlungen der »Cochrane Library« (Summerbell et al. 2003) sowie des Berichts des »Expert Committee for Obesity Evaluation and Treatment« (Barlow u. Dietz 1998) und wurde auf seine Wirksamkeit überprüft (Munsch et al. 2008). Die Behandlungsempfehlungen wurden für Kinder im Alter zwischen 8–12 Jahren entwickelt. Die Behandlung umfasst die Psychoedukation über das Störungsbild, die Veränderung der Ernährungs- bzw. Bewegungsgewohnheiten sowie die Veränderung des Essverhaltens und die Förderung der sozialen Kompetenz. Das Training kann in Anlehnung an die differenzielle Indikation ausschließlich auf die Eltern, auf beide parallel bzw. ausschließlich auf die Kinder bzw. Jugendlichen ausgerichtet werden.
sen resultieren. Die Nachteile der Behandlung im stationären Rahmen sind jedoch ebenfalls offensichtlich. Neben den hohen Kosten können die individuellen aufrechterhaltenden Bedingungen im stationären Rahmen zwar umgangen, aber nicht verändert werden. Zudem erweist sich der Transfer der im stationären Bereich erreichten Verhaltensänderungen in den Alltag meist als schwierig. In der ambulanten Behandlung hingegen lassen sich Alltagsschwierigkeiten antizipieren, Lösungsstrategien planen und deren Wirksamkeit überprüfen. Auch der Einbezug der Eltern, der zur Steigerung der Wirksamkeit der Methoden unerlässlich ist, findet im stationären Setting nur unzureichend statt.
Adipositas im Kindesalter: Wer soll behandelt werden, Eltern oder Kinder? Eltern sind die wichtigsten Modelle, wenn es darum geht, langfristige Veränderungen in den Bereichen Essverhalten, Ernährung und Bewegungsverhalten zu implementieren. Aktuelle Forschungsergebnisse werfen die Frage auf, inwiefern die Kinder überhaupt in die Behandlung einbezogen werden müssen.
Die Eltern- und Kinderbehandlung besteht aus thematischen Einheiten, in denen aufeinander aufbauend Informationsblöcke, Zielvereinbarungen und Übungen durchgeführt werden. Die Inhalte der Behandlung können in der Eltern- und in der Kinderbehandlung parallel angeboten werden (. Abb. 39.2). Der Ablauf der einzelnen Sitzungen ist immer gleich aufgebaut (7 Übersicht »Sitzungsablauf«). Das Training der Eltern bzw. die Behandlung der Kinder erfordert ein hohes Maß an aktiver Mitarbeit. Des Weitern wird insbesondere bei den Eltern eine ausgeprägte Bereitschaft zur Durchführung von Verhaltensänderungen im familiären Alltag vor-
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Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
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. Abb. 39.2. Sitzungsinhalte. a KVT kognitive Verhaltenstherapie
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ausgesetzt. Dies bedeutet, dass Eltern eigene Ess-, Ernährungs- oder Bewegungsgewohnheiten verändern müssen, um den Kindern entsprechende Verhaltensänderungen zu ermöglichen. Solche für viele Familien einschneidende Interventionen betreffen auch Geschwister der Patienten und gegebenenfalls das weitere Umfeld (Mittagstisch, Tagesmütter, Großeltern usw.). Aus diesem Grund ist eine vorgängige ausführliche Information über die Bedeutung der Teilnahme an der Behandlung, den Aufwand sowie die zu erreichenden realistischen Gewichtsveränderungen unabdingbar. ! Eine der wichtigsten Aufgaben der Behandlungspersonen besteht somit in der Informationsvermittlung, aber auch in der ständigen Unterstützung und Würdigung der Bemühungen der Familien.
Sitzungsablauf Der Ablauf der Sitzungen der Eltern-, wie auch der Kinderbehandlung, erfolgt standardisiert nach folgendem Muster: 4 Übersicht über die Behandlungsinhalte 4 Besprechen der Übungen für zu Hause 4 Information über störungsspezifische wichtige Inhalte 4 Einüben neuer Interventionen 4 Übungen für zu Hause und Ausblick auf die nächste Sitzung 4 Schwierigkeiten erkennen, Bewältigung planen 4 Notizzettel »Adipositas«
Spezifische Inhalte des TAKE für Eltern Psychoedukation und Motivationsförderung. Die Psycho-
edukation umfasst die Informationsvermittlung an Eltern und Kinder, die zum Verständnis der Problematik des Übergewichts und Adipositas sowie der dazugehörigen Interventionen notwendig ist. Dabei ist es wichtig, Eltern einerseits für ihre bereits geleisteten Bemühungen mit dem Problem umzugehen, Anerkennung zu zeigen. Andererseits ist es notwendig, möglichst wertfrei Zusammenhänge zwischen den familiären Gewohnheiten und dem Aufrechterhalten des Übergewichts aufzuzeigen. Die Interventionen zur Behandlung der Adipositas erfordern von den Familien und insbesondere von den Eltern einen hohen zeitlichen und emotionalen Einsatz, da sie oftmals tiefgreifende Veränderungen im Alltag implizieren. Weiter ist es wichtig, Eltern über die Bedeutung realistischer Gewichtsziele und die dazu notwendigen langfristigen Verhaltensänderungen zu informieren. Viele Eltern und Kinder erhoffen sich eine rasche Gewichtsreduktion und laufen Gefahr, schnell enttäuscht zu werden und die Behandlung abzubrechen.
Der Einsatz von Interventionen zur Ernährungsumstellung, Veränderung des Essverhaltens, des Bewegungsstils sowie der Steigerung der sozialen Kompetenz und des Selbstwerts erfordern eine umfassende Information der Eltern und Kinder über die Grundlagen der Techniken, deren Anpassung an individuelle Umstände und deren Evaluierung im Verlauf. Auf diese Weise können langfristig überdauernde Veränderungen unterstützt werden. Weiter sollten die Eltern und ihre Kinder vor Behandlungsbeginn unbedingt über die zeitliche Beanspruchung durch die Teilnahme an der Behandlung (ca. 1 Stunde pro Tag) bedingt durch die Übungen für zu Hause sowie die Frequenz und Dauer der Sitzungen (10 wöchentliche Sitzungen und 6 monatliche Nachbehandlungssitzungen von jeweils 90 Minuten Dauer) informiert werden. Entstehungsmodell der Adipositas. Viele Eltern adipöser Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass Ihnen die »Schuld« für das Übergewicht ihrer Kinder unterstellt wurde. Ziel des Vermittelns des Erklärungsmodells ist es, den Eltern keine Schuld zuzuweisen, sondern aufzuzeigen, in welchen Bereichen sie Erziehungskompetenz übernehmen können. Anschließend erarbeitet jedes Elternpaar die für ihre Familie spezifische auslösenden und insbesondere aufrechterhaltenden Faktoren in den Bereichen Bewegung, Ernährung und Essverhalten, die später die Ansatzpunkte für die therapeutischen Interventionen darstellen.
Fallbeispiel Entstehung und Aufrechterhaltung des Übergewichts in der Familie M. Prädisposition: Ähnlich wie der Vater leidet Patrick (10 Jahre) schon seit frühester Kindheit unter Übergewicht. Psychosoziale Faktoren: Beide Elternteile sind nicht besonders sportlich, und obwohl sie versucht haben, Patrick zum regelmäßigen Fußballtraining zu motivieren, spielt auch er in seiner Freizeit lieber Computerspiele oder schaut Fernsehen. Patrick hat nicht viel Kontakt mit Gleichaltrigen und ist am Nachmittag oft alleine zu Hause. Je nach Lust und Laune isst Patrick manchmal gar nichts und manchmal viel. Besonders stark zugenommen hat Patrick vor einem Jahr, als sein jüngerer Bruder einen schweren Unfall hatte, mehrere Monate im Krankenhaus lag und die Eltern sich fast ausschließlich um ihn kümmern mussten.
Beim Erarbeiten des persönlichen Entstehungsmodells treten oftmals typische Schwierigkeiten auf:
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Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
Schwierigkeiten 4 Individuelles Erklärungsmodell der Adipositas: »Alles Schicksal«, viele Eltern leiden selbst unter Übergewicht und haben wiederholt die Erfahrung gemacht, beim Lösen des Problems Adipositas bei sich selber und bei ihrem Kind unwirksam zu sein. Die Ursachenzuschreibung erfolgt dann meist ausschließlich auf den prädisponierenden Faktor Gene, der unveränderbar ist. Lösungsvorschlag für die Behandlungsperson: Validieren der unveränderbaren Komponente und im sokratischen Dialog erfragen, wie der weitere Gewichtszuwachs beim Kind verhindert werden kann. Hinweis darauf, dass Untersuchungen gezeigt haben, dass die Gewichtsreduktion der Kinder auch ohne Reduktion des Körpergewichts der Eltern erfolgen kann. 4 »Keine Ahnung warum …«: Manche Eltern nehmen dysfunktionale Bewegungs-, Ess- und Ernährungsgewohnheiten in der Familie unzureichend war. Lösungsvorschlag für die Behandlungsperson: Im sokratischen Dialog werden die Eltern über mögliche aufrechterhaltende Faktoren exploriert. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass die Eltern weder überredet noch in die Enge getrieben werden. Manche Eltern befürchten auch, dass Ihnen mit dem Identifizieren von auslösenden oder aufrechterhaltenden Bedingungen, die Schuld am Übergewicht ihrer Kinder zugeschrieben wird und vermeiden deswegen die aktive Mitarbeit.
des Kindes. Dabei ist es wichtig, dass die Behandlungsperson nicht versucht, die Eltern zu überzeugen, sondern im sokratischen Dialog auf die Vorteile einer realistischen Zielsetzung für den Behandlungsverlauf hinweist. Ein mögliches therapeutisches Vorgehen wird im folgenden 7 Beispiel aufgeführt.
Beispiel Realistische Zielsetzungen Der Therapeut lässt die wichtigsten Argumente, die für das Setzen von realistischen Gewichtszielen sprechen, erarbeiten. Anschließend fasst sie die negativen Konsequenzen unrealistischer Gewichtsziele zusammen. Dies kann anhand von Beispielen geschehen: David wiegt 60 Kilo und möchte 50 Kilo wiegen. Miriam möchte ihr Gewicht über die nächsten zwei Jahre halten können. In der nächsten Sitzung haben beide 2 Kilo abgenommen. 4 Was löst dieses Resultat bei beiden Familien und im Speziellen bei den beiden Kindern für Gefühle aus? 4 Was glauben Sie, denken die beiden Familien und im Speziellen die beiden Kinder? 4 Welche Folgen hat dieser Gewichtsverlust für beide Familien und im Speziellen für die beiden Kinder in Bezug auf ihr zukünftiges Verhalten? Anhand dieser Fragen soll in der Gruppe erarbeitet werden, dass Kinder und Eltern, die sich ein unrealistisches Gewichtsziel setzen, schnell enttäuscht werden können und somit Gefahr laufen, einmal aufgenommene Verhaltensänderungen nicht langfristig durchhalten zu können.
Realistische Gewichtsziele
Viele Familien haben eigene hohe Erwartungen an eine schnelle und sichtbare Gewichtsreduktion bei ihrem Kind und werden zusätzlich von der Umgebung unter Druck gesetzt. Die Definition einer erfolgreichen Behandlung der Adipositas im Kindesalter muss jedoch individuell vorgenommen werden. Liegt relevantes Übergewicht vor, so kann eine absolute Gewichtsreduktion notwendig sein. Oftmals ist jedoch eine Reduktion des Risikos für die Entwicklung somatischer Begleiterkrankungen (z. B. Diabetes Typ 2, erhöhter Blutdruck) bereits durch eine Stabilisierung des Gewichts bei fortlaufendem Längenwachstum zu erreichen. Realistische Gewichtsziele entwickeln, bedeutet für manche Familien, dass die gewünschte Gewichtsreduktion beim Kind nicht, oder nur auf lange Sicht hin erreicht werden kann. Unter Berücksichtigung des hohen Aufwands, den die Familien leisten müssen, ist es unerlässlich, dass neben den Gewichtszielen, andere, schneller erreichbare und sichtbare Zielsetzungen formuliert werden. Beispiele dafür sind die Umstellung des Essverhaltens in der Familie, Veränderungen in der Ernährung und in der Bewegung sowie auch im Umgang mit psychosozialen Schwierigkeiten
Motivation zur Behandlung
Das Training für Eltern adipöser Kinder fordert von den Eltern viel Flexibilität, Bereitschaft zur Veränderung von gewohnten eigenen Verhaltensweisen. Eltern, die an der Behandlung teilnehmen möchten, müssen sich bewusst sein, dass sie entweder alleine für die Veränderungen bei ihren Kindern zuständig sind (falls ausschließlich ein Training der Eltern durchgeführt wird), oder eine wichtige Rolle bei der Implementierung neuen Verhaltens im familiären Alltag einnehmen (bei einer gleichzeitigen Behandlung von Eltern und Kind). Es ist entscheidend, dass Eltern in ihrer Entscheidung für oder gegen eine Behandlung gleichermaßen unterstützt werden. So kann es unter Umständen sinnvoll sein, sich aktuell gegen die Therapie zu entscheiden, wenn verschiedene negative Prädiktoren für den Behandlungsverlauf wie z. B. Zeitmangel, Überforderung, psychosoziale Beeinträchtigung vorliegen. Im folgenden Text wird beispielhaft das Vorgehen bei der »Advocatus-Diaboli-Übung« dargestellt, die zum Ziel hat, die Motivation der Eltern zu explorieren, Für und Wi-
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der der Behandlung aufzuzeigen und die Eltern zu einem individuell passenden Entscheid zu führen. Durchführung der »Advocatus-Diaboli-Übung«
Ziel dieser Übung ist, dass die Eltern die Gründe »für« und »wider« einer Teilnahme an der Behandlung im Rollenspiel erarbeiten. Der Therapeut übernimmt dabei die Rolle, die Argumente dagegen zu vertreten. Sie erwähnt: die hohen Anforderungen, die an Eltern und Kind gestellt werden, Stabilisierung des Körpergewichts, Umstellung der Gewohnheiten der Familie im Alltag, Bewegungssteigerung, Akzeptanz des Körpers unabhängig vom Gewicht als ein Modul der Behandlung, Zeitaufwand, Dauer der Behandlung usw. Aufgabe der Eltern ist es, den Therapeuten davon zu überzeugen, dass tatsächlich genügend Gründe für eine Teilnahme am Behandlungskonzept sprechen. Konkret wird dabei so vorgegangen, dass sich der Therapeut in die Mitte eines Kreises setzt und die Eltern einer nach dem anderen das Wort erhalten, um ein Argument zu liefern, das sie persönlich besonders von der Richtigkeit der Entscheidung überzeugt hat. Wird ein Kotherapeut in die Behandlung miteinbezogen, so hat dieser die Aufgabe, die genannten Argumente für und gegen die Behandlung aufzulisten. Am Ende der Übung fasst der Kotherapeut nochmals die Gründe der Eltern für eine Teilnahme am Behandlungskonzept zusammen. Er bittet sie aber auch, die Gründe, die dagegen sprechen zu berücksichtigen. Essverhaltensregeln
Eltern sind oftmals verunsichert, was und wie viel ihr Kind essen soll. Solche Unsicherheiten werden häufig am Familientisch ausgetragen, was für Spannungen während der Mahlzeiten sorgt und somit dem Einführen eines günstigen Essstils nicht zuträglich ist. Das Einführen und Implementieren familiärer Essensregeln durch die Eltern hat zwei Funktionen. Die Eltern werden in ihrer Erziehungsfunktion verstärkt und die Einnahme der Mahlzeiten verläuft spannungsfreier. Zudem gelten die Essregeln für alle Familienmitglieder und erlauben auch für alle ein Essen aus Hunger und bis zur Sättigung. Dies bedeutet, dass für alle ausreichend, jedoch ausgewogene Nahrung zur Verfügung steht. Wichtig ist, dass die Eltern die Essensregeln vorgängig mit ihren Kindern besprechen. Grundlagen einer ausgewogenen Ernährung
Gemäß den Essverhaltensregeln sind die Eltern dafür verantwortlich, dass ausreichend fettnormalisierte Nahrung, die schmeckt, und nur wenig fettreiche Nahrung sowie nur ausnahmsweise Süßgetränke auf dem Tisch vorhanden sein sollten. In Anlehnung an die Nahrungsmittelpyramide der schweizerischen oder deutschen Gesellschaft für Ernährung (Schweizerische Gesellschaft für Ernährung; Deutsche Gesellschaft für Ernährung 2009) werden die Eltern in
die Grundlagen einer fettnormalisierten und kohlenhydratliberalen Ernährung eingeführt. ! Die Umstellungen in der Ernährung am Familientisch und während des Tages gelten nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Geschwister und die Eltern. Die Einführung neuer Ernährungsgewohnheiten ist meist mit viel Aufwand verbunden und stößt manchmal bei den restlichen Familienmitgliedern auf Ablehnung. Entsprechende Schwierigkeiten sollten in der Behandlung antizipiert und entsprechende Lösungsmöglichkeiten geplant werden.
Schwierigkeiten 4 Einführen einer ausgewogenen Ernährung: »Wir sind doch nicht übergewichtig, weshalb sollen wir unsere Ernährung umstellen«, insbesondere Geschwister oder Elternteile, die selbst nicht unter Übergewicht oder Adipositas leiden, befürchten, mit dem Einführen der Grundlagen einer ausgewogenen Ernährung einen Verzicht leisten zu müssen. Lösungsvorschlag für die Behandlungsperson: Validieren des Aufwands, aber auch der Befürchtungen und Zweifel der Familienmitglieder. Hinweis darauf, dass die Ernährungsumstellung keinen Verzicht auf fettreiche Nahrungsmittel (wie z. B. Carbonara-Soße) darstellt, sondern lediglich eine Normalisierung des Angebots bedeutet. Zudem kann die Familie gemeinsam entscheiden, welche fettarmen Nahrungsmittel bevorzugt in ausreichendem Maße (z. B. die entsprechende Pasta) angeboten werden sollen.
Zielvereinbarungen und Verstärkerplan
Um kontinuierliche Verhaltensänderungen in den familiären Alltag zu integrieren, werden die Eltern angeleitet, wöchentlich je ein Ziel im Bereich Ernährung/Essverhalten und ein Ziel im Bereich Bewegungssteigerung zu formulieren. Um neues, günstiges Verhalten zu verstärken, erarbeiten die Eltern in der Sitzung geeignete wöchentliche bzw. monatliche Belohnungen. Zu Beginn sollte wöchentlich belohnt werden. Anschließend, bei fortschreitender Automatisierung der neuen Verhaltensweisen, kann zu einer monatlichen Belohnung übergegangen werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die vereinbarten Ziele konkret und realistisch formuliert werden. Die Ziele haben einen aufeinander aufbauenden Charakter, d. h., einmal erreichte Ziele werden aufrechterhalten und darauf aufbauende, neue Ziele vereinbart bzw. verstärkt. Damit soll ein schrittweises Vorgehen sichergestellt werden, mit dem über die Zeit neue Ess-, Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten in den familiären Alltag implementiert werden.
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Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
Bei den Belohnungen empfiehlt es sich, in Abhängigkeit der Möglichkeiten der Familie, gemeinsame Aktivitäten wie z. B. gemeinsames Radfahren, Zoobesuch, mit dem Fahrrad ins Kindertheater, in Aussicht zu stellen. Es
können aber auch kleine (Lieblingssticker, Farbstifte) oder sofern monatlich belohnt wird, größere Geschenke in Aussicht gestellt werden, z. B. Schal der Lieblingsfußballmannschaft usw.
Schwierigkeiten 4 Ziele werden von den Eltern vorgegeben und nicht gemeinsam erarbeitet: Die Eltern entscheiden ohne Rücksprache mit den Kindern, welche Verhaltensweisen wie verändert werden sollen. Lösungsvorschlag für die Behandlungsperson: Es wird mit den Eltern erarbeitet, dass der Einbezug des Kindes in die Zielformulierungen die Autonomie und die Motivation des Kindes bei der Zielerreichung fördert. 4 Verhaltensänderungen werden nicht beobachtet und vereinbarte Belohnungen nicht eingehalten: Manchen Eltern fällt es schwer, im Alltag, die vereinbarten Verhaltensänderungen zu beobachten bzw. die versprochenen Belohnungen einzulösen. Lösungsvorschlag für die Behandlungsperson: Die Bemühungen des Kindes müssen beobachtet und verbal verstärkt werden. Ist eine Belohnung ausgemacht, so kommt ein Ausbleiben der Belohnung für das Kind
Umgang mit Hänseleien
Viele adipöse Kinder sind aufgrund ihres Übergewichts bzw. ihres Aussehens bereits gehänselt worden. Manche Kinder sind in der Lage, sich selbst zu verteidigen, die meisten jedoch im empfinden Schuld und Scham und ziehen sich zurück. Die wiederholte Erfahrung, aufgrund des eigenen Äußeren von anderen Kindern abgelehnt zu werden, kann zur Entwicklung eines negativen Körperkonzepts führen. Aufgrund von Forschungsergebnissen ist zudem bekannt, dass anhaltendes Gehänseltwerden, bei der Manifestation gestörten Essverhaltens eine wichtige Rolle spielt. Eltern adipöser Kinder leiden oftmals selbst unter Übergewicht und haben ähnliche Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht. Hänseleien sind somit häufig mit Schamgefühlen besetzt und werden in der Familie nicht oder nur unzureichend thematisiert. In der Behandlung werden die Eltern geschult, ein Gesprächsklima in der Familie zu schaffen, dass
einer Absage an seine Bemühungen gleich. Die Eltern sollten unterstützt werden, für sie passende Verstärkungen zu vereinbaren. Realistische Belohnungen können z. B. täglich eine Geschichte vorlesen oder gemeinsames Spiel von ca. 10 Minuten darstellen. 4 Konflikte in der Familie infolge der Verstärkerpläne: Die Einführung des Verstärkerplans und die damit assoziierten Belohnungen erfordern die aktive Auseinandersetzung der Eltern mit dem adipösen Kind. Geschwister können sich benachteiligt fühlen, was zu Missstimmungen führen kann. Lösungsvorschlag für die Behandlungsperson: Meist ist es den Eltern möglich, auch bei Geschwistern Verhaltensweisen zu identifizieren, die verändert werden sollten. Es kann für das adipöse Kind sehr motivierend wirken, wenn nicht nur bei ihm selbst, sondern auch bei Geschwistern die Dringlichkeit von Verhaltensänderungen festgestellt wird.
die Auseinandersetzung mit dem Thema Hänseleien erlaubt. Im Rollenspiel üben die Eltern das Ansprechen und das Einüben von Bewältigungsstrategien mit ihren Kindern. Rückfallprophylaxe: Der »Dran-bleiben-Plan«
Forschungsarbeiten zeigen, dass nur langfristig aufrechterhaltene Veränderungen zu einer erfolgreichen Stabilisierung des Körpergewichts führen können. Die Dauer von zehn Wochen ist dazu sicherlich nicht ausreichend. Aus diesem Grund werden die Eltern von Beginn an darin geschult, Verhaltensänderungen bei den Kindern selbstständig zu unterstützen. Anlässlich der 10. Sitzung treffen Eltern und Kinder zusammen und beurteilen gemeinsam die Zielerreichung bzw. setzen in der Familie neue Ziele für die Nachbehandlungsphase. Fortbestehende Schwierigkeiten werden angesprochen und Lösungsmöglichkeiten diskutiert.
Der »Dran-bleiben-Plan« Warum? 4 Denken Sie immer daran: Schwierigkeiten sind keine Katastrophen! Im Gegenteil, sie stellen wesentliche Merkmale menschlicher Veränderungsvorgänge dar! 4 Schwierigkeiten zeigen auf, wo Strategien noch verbessert oder angepasst werden können! Sie zeigen auch, was bereits geleistet wurde. 6
4 Schwierigkeiten können verhindert, überwunden und bewältigt werden. Mit anderen Worten: Sie können etwas tun, damit möglichst selten und möglichst geringe Schwierigkeiten auftreten. Sie können aber auch dann noch aktiv werden, wenn die Schwierigkeiten bereits aufgetreten sind. Auch wenn es bereits »passiert« ist, besteht noch die Möglichkeit, damit günstiger oder
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ungünstiger umzugehen. Also: Schwierigkeiten sind kein Alles-oder-Nichts-Phänomen! 4 Das Ziel dieser Behandlung ist es nicht, dass keine Schwierigkeiten auftreten, sondern dass Sie und Ihr Kind so gut wie möglich damit umgehen können! Wie können Sie Ihr Kind unterstützen? 4 Ähnlich wie Förster bei der Bekämpfung von Waldbränden, sollten Sie Ihr Territorium kennenlernen. So können Sie möglichst schnell den Ort ausmachen, an dem ein Feuer entstehen kann, und wissen über die Löschmöglichkeiten vor Ort Bescheid. 4 Wenn möglich, verhindern Sie Waldbrände, indem Sie regelmäßig Kontrollgänge durch den Wald machen und Standortbestimmungen durchführen. 4 Planen Sie Löschaktionen im Voraus! Sie können besser denken, wenn alles in Ordnung ist, als wenn er Wald bereits brennt! 4 Erweist sich eine Stelle als gefährdet, führen Sie Vorsorgemaßnahmen durch, gehen Sie öfters auf Kontrollgang und informieren Sie Ihr Team.
Schwierigkeiten 4 Es läuft gut in der Behandlung und die Eltern wollen sich lieber nicht mit möglichen Schwierigkeiten auseinandersetzen. Lösungsvorschlag für die Behandlungsperson: Hinweis darauf, dass Schwierigkeiten nicht die Ausnahme, sondern den Regelfall bei Verhaltensänderungen darstellen. Das Antizipieren von Problemen und das Vorbereiten auf deren Lösung macht Schwierigkeiten kontrollier- und bewältigbar. 4 Es bestehen noch viele Schwierigkeiten, der Erfolg ist trotz Bemühungen vonseiten der Eltern und des Kindes nicht sichtbar: Insbesondere wenn ausgeprägtes Übergewicht bei einem Kind besteht, oder wenn zusätzliche psychosoziale Schwierigkeiten bestehen, ist damit zu rechnen, dass die Einführung
Nachbehandlung
Im Anschluss an die aktive Behandlung folgt idealerweise eine langfristige Nachbehandlung. Die Frequenz dieser Sitzungen kann zwischen einmal alle zwei Wochen bis zu einmal monatlich schwanken. Ziel der Nachbehandlung ist es, die Eltern und ihre Kinder bei der Fortführung erreichter Verhaltensänderungen zu unterstützen, gemeinsam Lösungsstrategien für bestehende Schwierigkeiten zu erarbeiten sowie neue geeignete Ziele zu vereinbaren. Je nach Bedürfnis der Eltern können
4 Brennt es an einer Stelle trotz der Vorsorgemaßnahmen, so denken Sie daran: Förster, die einen kühlen Kopf bewahren, löschen Feuer eher als solche, die nervös werden und an sich zweifeln! Der Umgang mit Feuer gehört zum Försterjob, dazu wurden Sie ausgebildet! 4 Führen Sie Löschaktionen durch. Beteiligen Sie das ganze Team! 4 Wenn Sie als Team nicht weiter kommen, holen Sie Hilfe, gemeinsam ist man erfolgreicher. Folgende Schritte könnten in Ihrem persönlichen »Dranbleiben-Plan« vorkommen, bitte ergänzen Sie diese mit eigenen Vorschlägen: 4 Bei Schwierigkeiten: Selbstbeobachtung wieder einführen und regelmäßig besprechen 4 Lebensmittelpyramide für alle sichtbar an den Kühlschrank hängen 4 Nur noch mit Einkaufszettel einkaufen gehen 4 Essensregeln einhalten 4 Wöchentliche gemeinsame Aktivitäten einplanen und durchführen: Schwimmen gehen. Fahrrad fahren, Gartenarbeit usw.
neuer Verhaltensweisen Schwierigkeiten bereitet bzw. die Stabilisation des Gewichts oder die relative Gewichtsreduktion auf sich warten lässt. Dies kann die Motivation der Familien stark beeinträchtigen. Lösungsvorschlag für die Behandlungsperson: Wichtig ist, dass von Beginn an realistische Ziele (Gewichtsziele, aber auch Verhaltensziele) gesetzt werden. In manchen Fällen gilt es, mit der Familie auszuhalten, dass die erwünschten Ziele noch nicht erreicht werden konnten. Die Behandlungsperson hat die Aufgabe, die Eltern im Erkennen von Fortschritten und erreichten Zwischenzielen zu schulen und zu bestärken und Unterstützung bei der Bewältigung noch bestehender Schwierigkeiten anzubieten.
auch weitere Themen aufgenommen werden wie z. B. das Unterstützen der Kinder bei der Entwicklung eines positiven, akzeptierenden Zugangs zum eigenen Körper. Spezifische Inhalte des TAKE für Kinder
Die parallele bzw. auf der Basis einer differenziellen Indikation ausschließliche Behandlung der Kinder im TAKE erfolgt standardisiert nach dem gleichen Muster. Für die Behandlung von Jugendlichen werden das Vorgehen innerhalb der Sitzungen sowie die Materialien angepasst.
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Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
Sitzungsablauf 4 Besprechen der Übungen für zu Hause 4 Geschichte: Einführung in den Sitzungsschwerpunkt anhand einer Geschichte 4 Informations- und Übungsblock 4 Schwierigkeiten antizipieren 4 Notizzettel: wichtigste Punkte der aktuellen Sitzung 4 Übungen für zu Hause
Im Folgenden werden beispielhaft in Anlehnung an die vorgestellten Behandlungsinhalte im Eltern-Training, Auszüge aus der parallelen Behandlung der Kinder beschrieben. Vermittlung eines Erklärungsmodells für das Auftreten der Adipositas im Kindesalter
Die Kinder erarbeiten zunächst die individuellen Gründe und aufrechterhaltenden Faktoren für ihr Übergewicht. Bei der Einführung des individuellen Störungsmodells ist darauf zu achten, dass die Kinder altersentsprechend und gemäß ihren Fähigkeiten unterstützt werden. Dabei kann es auch notwendig sein, dass der Therapeut die Gründe, die er exploriert hat, direktiv vorgibt und überprüft, ob das Kind verstanden hat, weshalb diese wichtig sind.
verändern. Es ist deswegen wichtig, die Kinder auf ihre Gewichtsziele anzusprechen und sie darüber zu informieren, dass zunächst eine Gewichtsstabilisation bei fortschreitendem Längenwachstum angestrebt wird. Im folgenden 7 Beispiel wird aufgezeigt, wie realistische Gewichtsziele eingeführt werden können.
Beispiel Realistische Zielsetzungen »Wir möchten mit dir keine Diät machen. Wir möchten dir eine gesunde Art zeigen, zu essen und sich zu bewegen. Du wirst lernen, dich für Fortschritte zu belohnen und auf dich stolz zu sein. Das Ziel ist, dass du dich am Ende dieses Programms wohler und zufriedener fühlst mit deinem Körper. Du wirst lernen, wie man sich gegen Hänseleien wehren kann. Um all das zu erreichen, musst du nicht abnehmen, sondern einfach dein Gewicht halten. Denn du wirst ja noch wachsen und das Gewicht wird sich deshalb besser verteilen.« »Deine Eltern lernen in der Gruppe, wie sie dich am besten unterstützen können, und wie ihr als Familie eine neue gesunde Art des Essens und der Bewegung lernen könnt. Deshalb ist es gut, wenn du auch zu Hause darüber redest, was ihr gelernt habt, und mit deinen Eltern gemeinsam neue Ziele vereinbarst.«
Warum bin ich schwerer als andere Kinder? 4 Vererbung: »Runde Gene« in deiner Familie können ein Grund dafür sein, dass dein Körper runder ist als der Körper anderer Kinder 4 Ernährung: Unregelmäßiges, ungünstiges, schnelles und zu viel Essen 4 Bewegung: Zu viel Sitzen und Herumliegen, wie z. B. viel TV schauen und Computerspiele spielen, führen zu Übergewicht, weil sich so das Fett in deinem Körper gemütlich einlagern kann 4 Gefühle: Wenn du isst, obwohl du keinen Hunger hast, sondern weil du vielleicht traurig oder wütend bist, Sorgen hast oder dir langweilig ist 4 Familie: Weil deine Familie vielleicht auch nicht gesund isst und sich wenig bewegt und du es von ihnen so gelernt hast 4 Andere Kinder: Alle deine Freunde essen viel Süßes und Fett und bieten es dir an 4 Krankheit: Ganz selten gibt es Krankheiten, die Kinder dick machen 4 Nichtwissen: Weil du gar nicht weißt, wie man gesund isst und dass mehr Bewegung Spaß machen kann
Realistische Gewichtsziele
Die meisten Kinder kommen mit dem Ziel, Gewicht zu reduzieren und nicht mit dem Ziel, ihre Gewohnheiten zu
Motivation zur Behandlung
Der Motivationsarbeit kommt bei adipösen Kindern eine entscheidende Rolle zu. Durch bisherige Misserfolge kann sich eine gleichgültige, beschämte oder trotzige Haltung gegenüber Behandlungsbemühungen entwickelt haben. Von Beginn an sollte versucht werden, die Selbstwirksamkeit der Kinder zu stärken. Dazu werden sie zur aktiven Mitarbeit aufgefordert, es werden erreichbare Ziele gesetzt und kleinste Fortschritte gelobt und verstärkt. Während der Sitzung erarbeiten die Kinder Gründe für oder gegen eine Teilnahme an der Behandlung in der Gruppe und werden dabei von der Behandlungsperson unterstützt. Um die Vielfalt von pro und Kontra zu demonstrieren, werden die verschiedenen Argumente in der Gruppe besprochen. Dies unterstützt diejenigen Kinder, welche Startschwierigkeiten und keine Ideen für Ihre Motivationslage haben. Im Anschluss an diese Übung werden die Kinder erneut zu ihrer Teilnahme befragt. An dieser Stelle wird den Kindern der Behandlungsvertrag ausgehändigt mit der Aufforderung, ihn zuhause mit den Eltern genau durchzulesen und ihn das nächste Mal unterschrieben mitzubringen. Nach Abschluss der ersten Sitzung wird den Kindern der Behandlungsvertrag nach Hause mitgegeben. Erscheinen sie zur zweiten Sitzung, so signalisieren sie ihre Bereitschaft zur Teilnahme, was durch die Unterzeichnung des Behandlungsvertrages noch schriftlich bekräftigt wird.
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Essverhaltensregeln
Adipöse Kinder ernähren sich oft unregelmäßig oder lassen Mahlzeiten aus. Zudem leiden viele Kinder unter Konflikten rund um das Thema Essen, Figur und Gewicht, die am Familientisch ausgetragen werden. Dies trägt zu einer negativen Stimmung und nicht zur Lösung des Problems Übergewicht beim Kind bei. Ziel des Einführens der Regeln zum Essverhalten ist es, die Eltern in ihrer Kompetenz der Bereitstellung ausgewogener Nahrungsmittel sowie in der Durchführung regelmäßiger Mahlzeiten zu unterstützen. Die Kinder werden informiert, dass sie selbst Verantwortung dafür übernehmen dürfen, ob sie essen wollen und wie viel sie essen wollen. Es wird ihnen ebenfalls vermittelt, dass die Eltern entscheiden, was und wann gegessen wird. Grundlagen einer ausgewogenen Ernährung
In Anlehnung an die Ampeldiät (Epstein u. Squires 1988) lernen die Kinder die unterschiedlichen Nährstoffgehalte der häufigsten Nahrungsmittel einzuordnen. Ziel der Inter-
ventionen ist es, eine flexible, ausgewogenen Ernährung ohne Nahrungsmittelverbote zu etablieren. Zudem sollen die Kinder schrittweise lernen, gemeinsam mit ihren Eltern, Verantwortung für ihren Ernährungsstil zu übernehmen. Wichtig ist dabei, dass die Eltern auch ausreichend fettnormalisierte und abwechslungsreiche Nahrungsangebote machen. Zielvereinbarungen und Verstärkerplan
Die Ziele wie auch die Belohnung für die Bemühungen in Richtung Zielerreichung in den Bereichen Essverhalten, Ernährung und Bewegung werden mit den Eltern gemeinsam erarbeitet. Weiter unten (7 Beispiel »Verstärkerpläne«) wird aufgezeigt, wie die Kinder ihre Ziele notieren und die Zielerreichung beobachten können. Die Ziele beinhalten konkret machbare Veränderungen. Bei Erreichen eines Ziels über den Zeitraum von zwei Wochen wird ein neues, aufbauendes Ziel erarbeitet und formuliert. Die zuvor erreichte Verhaltensänderung bleibt dabei erhalten.
Beispiel Verstärkerpläne Beispielblatt: Wochenüberblick über meine Ziele Ausgangslage: Dieses Kind isst für gewöhnlich täglich ein Packung Biskuits oder eine Tafel Schokolade. Ziel: Ich gönne mir täglich eine fettarme Süßigkeit (z. B. »Willisauer-Ringli«, Gummi-Bärchen, ca. 50–70 g). Ich schaue, dass ich diese Süßigkeit vorrätig habe, und baue Montag
Dienstag
Mittwoch
sie zu einem günstigen Zeitpunkt am Tag ein. Bevor ich die Süßigkeit esse, überlege ich mir aber jeweils bewusst, ob ich sie wirklich brauche. Belohnung: Wenn es mir gelingt, an mindestens 4 von 7 Tagen das oben genannte Ziel zu erreichen, habe ich mit meiner Mutter vereinbart, dass ich ein neues Spiel bekomme.
Donnerstag
Umgang mit Hänseleien
Viele Kinder leiden stark unter den Hänseleien anderer Kinder und fühlen sich ausgegrenzt. Neben der persönlichen Betroffenheit sind auch das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit Grund für den ausgeprägten Leidensdruck. Deshalb wird mit den Kindern im Rollenspiel eingeübt, wie sie sich gegen diese verbalen Übergriffe wehren können. Manchen Kindern sind diese Situationen peinlich und sie versuchen sie zu verschweigen. Diese Kinder profitieren in einer Gruppe vom stellvertretenden Lernen am Modell anderer Kinder, die sich mit dem Gehänseltwerden auseinandersetzen und üben, sich dagegen abzugrenzen. Rückfallprophylaxe: Der »Dran-bleiben-Plan«
Ziel der Rückfallprophylaxe besteht darin, die Kinder darauf vorzubereiten, dass nach der aktiven Behandlung Schwierigkeiten fortbestehen können und dass neue dazu kommen werden. Diese Entwicklung stellt nicht den An-
Freitag
Samstag
Sonntag
fang vom Ende dar, sondern ist eine logische Folge von Bemühungen in Richtung Verhaltensänderung. Die Kinder sollen erfahren, dass Schwierigkeiten eine Möglichkeit darstellen, sich bewusst zu werden, was sich bereits verändert hat und welche Hilfeleistungen zusätzlich nötig sind, um die Konflikte zu lösen. Nachbehandlung
Die Nachbehandlung bei den Kindern strebt eine Unterstützung der Automatisierung neuer Verhaltensweisen an. Die im zweiwöchigen oder monatlichen Rhythmus durchgeführten Auffrischsitzungen bieten den Kindern zudem Gelegenheit zur Standortbestimmung, zur Verstärkung für erreichte Zwischenziele sowie zum Einarbeiten neuer Bewältigungsstrategien. Die Struktur der Nachbehandlungssitzungen ist dabei zieloffen. Nach einer kurzen Standortbestimmung erhalten die Kinder Gelegenheit, individuelle Schwierigkeiten darzustellen und Lösungen zu erarbeiten.
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Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
Fallbeispiel Adipositas im Kindesalter: Sarah, 9 Jahre Aktuelles Problemverhalten und Lebenssituation. Sarah ist 9 Jahre alt und weist einen BMI von 30,5 auf (44 kg, 9 Jahre, 120 cm, BMI-Perzentil >99). Sie ist das mittlere von drei Kindern. Ihre beiden Brüder sowie ihre Mutter sind normalgewichtig, ihr Vater ist leicht übergewichtig. Seit ihrem 3. Lebensjahr weist Sarah Übergewicht auf, wobei dieses in den letzten Jahren ständig zugenommen hat. Sarah hat in der Schule Schwierigkeiten, mitzuhalten und ist schnell überfordert. Am meisten leidet sie jedoch unter der häufig vorkommenden Zurückweisung durch andere Kinder, denen sie hilflos ausgesetzt ist. Die Eltern von Sarah machen sich schon längere Zeit Sorgen um das zunehmende Gewicht ihrer Tochter. Da sie jedoch bereits viel Zeit mit Sarah beim Aufgabenmachen und beim Vor- und Nachbereiten des Lernstoffs in der Schule verbringen, haben sie bis jetzt gehofft, das Übergewicht ihrer Tochter würde sich »auswachsen«. Im Anschluss an die letzte Konsultation bei der Pädiaterin wurden die Eltern jedoch auf die langfristigen Folgeerscheinungen der Adipositas aufmerksam gemacht und melden nun sich und Sarah zur Behandlung an. Die Eltern schildern, dass sie sich bereits sehr um eine ausgewogene Ernährung bemühen. Da aber beide Eltern berufstätig seien, käme es öfter vor, dass auch einfach eine Lasagne aufgewärmt würde oder dass die Familie abends Käse und Brot essen würde. Zudem falle es ihnen auch schwer, regelmäßige Essenszeiten zu planen und einzuhalten. Es sei immer ein Kommen und Gehen während der Mahlzeiten, da sich dann auch meist die Eltern mit der Kinderbetreuung abwechseln würden. Sarah berichtet, dass es ihr schwer falle, selbst die Portionsgröße zu kontrollieren, gerade, wenn es Brot und Käse gäbe, esse sie einfach so viel, wie es auf dem Tisch habe, und höre nicht vorher damit auf. Zudem esse sie auch zwischendurch immer wieder ein Stück Brot mit Butter. Früchte und Gemüse esse sie nicht gerne. Sarah sagt weiter, dass sie gerne Gewicht reduzieren möchte, um so auszusehen, wie die anderen Mädchen in der Schule. Es mache sie traurig, wenn sie als letzte für eine Mannschaft im Turnen ausgewählt werde und sie habe das Gefühl, dass die anderen hinter ihrem Rücken über sie lachen würden. Die Eltern machen sich Vorwürfe, dass sie ihre Tochter wegen ihrer beider Berufstätigkeit nicht genügend unterstützen würden und dass neben der Priorität schulische Leistung, nicht genügend Zeit bleibe, sich dem Thema Übergewicht bei Sarah zu widmen. Mit den beiden Brüdern von Sarah bestünden keine solchen Probleme. Die Eltern berichten weiter, dass Ihnen in den letzten Jahren oftmals die Energie gefehlt habe, an den Wochenenden 6
gemeinsam aktiv etwas zu unternehmen und dass sie oft die Wochenenden drinnen verbringen würden. Die beiden Brüder könnten sich gut beschäftigen, aber Sarah sei es oft langweilig. Störungsspezifische Behandlung der Adipositas. Training der Eltern in Anlehnung an TAKE: Die Durchführung des Kinder-DIPS (Schneider et al. 2009) ergab bei Sarah keine Hinweise auf eine psychische Störung zusätzlich zur Adipositas. In den Fragebogen Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ; Stiensmeier-Pelster et al. 2000) und »Social Anxiety Scale for Children Revised« (SASC; Melfsen 1998) zeigte sich eine klinisch relevante Beeinträchtigung der Stimmung und eine deutlich ausgeprägte soziale Angst. Die somatische Abklärung war bereits bei der Pädiaterin erfolgt und war unauffällig, weshalb auf eine Wiederholung der Tests verzichtet wurde. Aufgrund des klinischen Eindrucks sowie aufgrund der Schilderungen der Eltern wurde die Indikation zur Durchführung des Trainings TAKE mit den Eltern gestellt. Mit den Eltern wurde vereinbart, dass Sarah in regelmäßigen Abständen in die Sitzungen miteinbezogen werden sollte. Im Anschluss an die psychoedukative Phase der Behandlung wurde ein für die Familie individuelles Störungsund Behandlungsmodell skizziert. Dabei wurden die entscheidenden aufrechterhaltenden Faktoren gemeinsam mit den Eltern erarbeitet. Im Anschluss daran wurde über den Aufbau und Ablauf der Behandlung informiert. Ein wichtiger Bestandteil dieser Motivationsphase war es, die Eltern über den realistischen Zeitaufwand zu informieren. Die Eltern von Sarah entschlossen sich, an der Behandlung teilzunehmen. Meist waren sie abwechselnd, an drei Terminen jedoch beide, anwesend. Als wichtige aufrechterhaltende Faktoren des Übergewichts bei Sarah wurden die unregelmäßige Ernährung, das Angebot an fetthaltigen Speisen sowie mangelnde Bewegung identifiziert. Gemeinsam mit Sarah erarbeiteten die Eltern zu Hause drei erste Ziele, die im Verlauf der Behandlung schrittweise ausgebaut wurden: 1. dreimal pro Tag eine Frucht essen, 2. beim Essen nur einmal schöpfen, danach erst fünf Minuten warten, bevor die zweite Portion geschöpft wird, 3. jeden Tag mit dem Fahrrad eine Runde um den nahe gelegenen Spielplatz fahren. Mit den Eltern wurde an der Einhaltung neuer Essverhaltensregeln sowie an der Verstärkung der Zielerreichung von Sarah gearbeitet. Bei der Einführung der Essverhaltensregeln wurde insbesondere darauf geachtet, dass die Eltern ihre Verantwortung beim Einkauf und Bereitstellen verschiedener Nahrungsmittel erkannten und wahrnehmen
709 39.5 · Therapeutisches Vorgehen
konnten. So sollte z. B. ein Abendessen aus viel Hüttenkäse mit wenig Fett, wenig Vollfettkäse sowie viel Kartoffeln bestehen, damit sich alle satt essen können. Bei der Entwicklung von Ideen zur Belohnung eigener Verhaltensänderungen hatten die Familienmitglieder viel Fantasie, aber es war schwierig, realistische Belohnungen zu formulieren, die auch eingehalten werden konnten. Es gelang aber, Verstärker wie z. B., abends fünf Minuten alleine mit Mami unter der Decke kuscheln, zu etablieren, die allen gut taten und auch durchführbar waren. In der Phase der Einführung von Verhaltensänderungen ergab sich bald die Schwierigkeit, dass die beiden Brüder das Gefühl hatten, zu kurz zu kommen. Die Eltern wurden darauf hin angewiesen, mit den beiden Geschwistern den Inhalt und Ablauf der Behandlung zu besprechen und allenfalls Verhaltensweisen bei den beiden Jungen zu identifizieren, deren Veränderung ebenfalls belohnt werden könnte (z. B. Unordnung im Zimmer, Hausaufgaben zu spät machen, mehr Mithilfe im Haushalt usw.). Ein weiterer wichtiger Teil der Behandlung bestand im Training der Eltern im Umgang mit dem Gehänseltwerden von Sarah. Es stellte sich heraus, dass die Eltern bisher vermieden hatten, mit Sarah über diesbezügliche Erfahrungen zu sprechen. Sie hätten jeweils versucht, Sarah zu trösten. Eigentlich seien sie aber sehr betroffen und hilflos
39.5.2 Therapeutisches Vorgehen bei BED
Im Folgenden wird ergänzend zu den Ausführungen zur Behandlung der Adipositas die psychologische Behandlung der BED skizziert. Bei Erwachsenen ist der kognitivverhaltenstherapeutische Behandlungsansatz hinsichtlich seiner Wirksamkeit am besten belegt. Dies gilt auch für Patienten mit komorbiden psychischen Störungen. Aktuelle Forschungsbefunde zeigen, dass im Durchschnitt bei ca. 60% der behandelten erwachsenen BED-Patienten im Anschluss an die Therapie keine Essanfälle mehr auftreten. Die erfolgreiche Behandlung der Essanfälle bei BED ist prädiktiv für eine langfristige Stabilisation des Körpergewichts, eine klinisch relevante Gewichtsreduktion konnte jedoch weder in psychotherapeutischen Behandlungsverfahren noch in Gewichtsreduktionsprogrammen festgestellt werden. Bis jetzt liegt weder im deutsch- noch im englischsprachigen Raum ein manualisiertes, überprüftes Konzept zur Behandlung der BED bei Kindern vor. Unter Berücksichtigung der oben angeführten Befunde, in Anlehnung an die Prinzipien der Behandlung der Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sowie an die Richtlinien des »National Institute for Clinical Excellence« (NICE 2004) bei Kindern, werden folgende Ansatzpunkte für die Entwicklung eines
gewesen. Gemeinsam mit den Eltern gelang es Sarah, verschiedene Varianten von Reaktion auf Hänseleien einzuüben, die sie in entsprechenden Situationen ausführen konnte. Die Eltern befragten Sarah regelmäßig nach Erfolg und Schwierigkeiten und erarbeiteten neue Strategien. Die Eltern freuten sich, als sie feststellten, dass Sarah nun lieber mit dem Fahrrad um den Spielplatz fuhr, da sie nun nicht mehr Angst hatte, beim Vorbeifahren an den Kindern gehänselt zu werden und nicht reagieren zu können. Die Eltern informierten in der Schule auch die Lehrerin über ihren Eindruck, dass Sarah in der Schule gehänselt würde, und vereinbarten, dass die Lehrerin einschreiten würde, sobald sie solches Verhalten feststellen würde. Im Verlauf der Behandlung konnten die Verhaltensänderungen in den Bereichen Ernährung, Bewegung und Essverhalten schrittweise automatisiert und ausgebaut werden. Die Eltern erlebten dabei, dass einerseits immer wieder neue Anstrengung zur Etablierung neuen Verhaltens notwendig war, konnten jedoch nach Ablauf von drei Monaten auch feststellen, dass gewisse Veränderungen bereits Teil der familiären Gewohnheiten geworden waren. Bei Ende der Behandlung betrug das Gewicht von Sarah 41,8 kg bei einer Größe von 122 cm. Das Ziel der Nachbehandlungssitzungen bestand darin, die erreichten Erfolge langfristig zu sichern. Zu diesem Zweck wurden »Misserfolgsfallen« antizipiert und der Umgang damit geplant.
kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungskonzepts abgeleitet: Der Schwerpunkt der Behandlung liegt auf dem Erkennen der auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren der Essanfälle. Dazu werden in abgeänderter Form zur Behandlung bei Erwachsenen analoge Techniken der Selbstbeobachtung sowie der Stimulus- und Reaktionskontrolle eingesetzt. Bei Kindern, jünger als 8 Jahre, sollten die Eltern nicht nur genau über das Störungsbild informiert, sondern maßgeblich in die Planung und Implementierung der Verhaltensmodifikation einbezogen werden. In Anlehnung an klinische Erfahrungen sowie an vorliegende Forschungsbefunde zur BED bei Erwachsenen kann davon ausgegangen werden, dass Faktoren wie unregelmäßiges Ernährungsangebot, rigide Nahrungsmittelverbote in Kombination mit einer beeinträchtigten Fähigkeit zur Emotions- und Impulskontrollregulation Essanfälle auslösen können (Übersicht s. Munsch et al. 2009). ! Die nachfolgend referierten Elemente einer Behandlung bei Essanfällen im Kindesalter sind als vorläufige Richtlinien zu verstehen, da eine empirische Überprüfung der Interventionen bis jetzt noch aussteht.
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Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
Elemente einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung bei BED im Kindesalter BED im Kindesalter kommt gehäuft bei adipösen Kindern vor. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass das Krankheitsbild gehäuft mit komorbiden psychischen Störungen auftritt. Aus diesem Grund empfiehlt sich eine Erfassung eventuell vorliegender psychischer Störungen mittels des Kinder-DIPS (Schneider et al. 2009). Die Essstörungspathologie kann z. B. mittels der deutschen Fassung der »Child Eating Disorder Examination« (EDE) für Kinder (Hilbert, in Vorbereitung) erhoben und im Verlauf die Veränderungen evaluiert werden. Psychoedukation über anfallsartiges Essen im Kindesalter
Ziel der Psychoedukation ist es, Kinder und deren Eltern über die Merkmale anfallsartigen Essens zu informieren. Merkmale eines solchen Essstils sind das Suchen nach Nahrung in Abwesenheit von Hunger und außerhalb der Mahlzeiten. Kinder berichten auch darüber, Kontrolle über das Essen zu verlieren (z. B.: »Hättest du aufhören können zu essen, nachdem du einmal angefangen hast?«). Weitere Hinweise stellen das Suchen nach Nahrung infolge negativen Affekts (z. B. Traurigkeit, Langeweile oder Unruhe), das Suchen nach Nahrung als Belohnung, heimlich essen oder Nahrungsmittel verstecken, mehr essen als andere Kinder bzw. das Gefühl, mehr zu essen, fehlende Bewusstheit während des Essens sowie Schuld- und Schamgefühle nach dem Essen dar. ! Wichtig ist, dass die Eltern informiert werden, dass betreffend der gegessenen Menge individuelle Unterschiede bestehen können, und dass auch Kinder, die einen Kontrollverlust über das Essen erleben, ohne eine objektiv große Menge zu verzehren, erheblichen Leidensdruck aufweisen können. Weiter ist es entscheidend, dass die Familien informiert werden, dass das vorrangige Ziel der Behandlung die Reduktion anfallsartigen Essens darstellt. Das meist bestehende Übergewicht, das hohen Leidensdruck erzeugt, wird erst nachfolgend behandelt. Selbstbeobachtung anfallsartigen Essens und Vermitteln eines verhaltenstherapeutischen Konzepts für das Auftreten von Essanfällen
Um Informationen über das Auftreten anfallsartigen Essens beim Kind sammeln zu können, empfiehlt es sich, zu Beginn der Behandlung das Essverhalten sowie die Ernährungsgewohnheiten protokollieren zu lassen. Ziel der Selbstbeobachtung ist es, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren anfallsartigen Essens zu identifizieren, die anschließend in ein verhaltenstherapeutisches Störungsmodell integriert werden können und die Grundlage der Planung geeigneter Strategien darstellt. Bei der Instruktion der Eltern zur Durchführung des Beobachtungsprotokolle ist
darauf zu achten, dass insbesondere jüngere Kinder eine kontinuierliche Anleitung benötigen, um Auslöser anfallsartigen Essens zu erkennen. Im Folgenden (7 Fallbeispiel »Dialog«) wird beispielhaft dargestellt, wie der Therapeut die Eltern in der Handhabung der Selbstbeobachtungsprotokolle instruieren kann.
Fallbeispiel Dialog zwischen Therapeut und Eltern bei der Instruierung zur Selbstbeobachtung anfallsartigen Essverhaltens bei Jakob: (T = Theapeut; M = Mutter; V = Vater) T: »Mit dem Selbstbeobachtungsprotokoll können Sie gemeinsam mit Jakob festhalten, wann es zu anfallsartigem Essen gekommen ist. Am besten ist es, wenn sie dieses Protokoll während der nächsten Woche immer zweimal am Tag zusammen mit Jakob ausfüllen. So ist gewährleistet, dass er und sie sich konkret an die Situationen erinnern können. Wichtig ist, dass sie immer alle Felder bearbeiten.« M: »Wie unterscheide ich denn normales Überessen von anfallsartigem Essen?« T: »Es ist gut, dass Sie diese Frage stellen. Es ist nicht ganz einfach, bei einem Kind diesen Unterschied festzustellen. Vielleicht können Ihnen das Protokoll und Jakob dabei helfen. Fragen Sie Ihren Sohn, was dem Essen vorausgegangen ist. Ob er aus Hunger oder aus einem Gefühl heraus gegessen hat. Fragen Sie ihn auch, ob er aus Langeweile gegessen hat. Anschließend versuchen Sie gemeinsam herauszufinden, ob er das Gefühl hatte, jederzeit mit dem Essen aufhören zu können, oder ob er das Gefühl hatte, nicht mehr aufhören zu können. V: »Jakob ist es oft peinlich, über Essen zu reden, er versucht uns auch zu verheimlichen, was er isst und nimmt manchmal auch heimlich Essen auf sein Zimmer mit.« T: »Sie nehmen Ihren Sohn sehr genau wahr. Es ist tatsächlich so, dass sich viele Kinder schämen, ihr Essverhalten nicht kontrollieren zu können. Deshalb ist es für Jakob wichtig, von Ihnen immer wieder zu hören, dass Sie sein Problem erkennen, ihn jedoch deswegen nicht abwerten und mit ihm zusammen an der Bewältigung arbeiten. In einer Woche werden wir uns gemeinsam mit Jakob an die Auswertung des Beobachtungsprotokolls machen und versuchen, festzuhalten, was bei Jakob anfallsartiges Essen auslöst. Bei der Gelegenheit werde ich auch Jakob informieren, dass das Problem der Essanfälle auch bei anderen Kindern vorkommt, dass er sich deswegen nicht zu schämen braucht und dass man Essanfälle behandeln kann …«
711 39.5 · Therapeutisches Vorgehen
. Abb. 39.3. ABC-Modell bei Essanfällen. (Aus Munsch et al. 2009)
Folgende Fragen (7 Übersicht) sollten in Form eines Selbstbeobachtungsprotokolls gestellt und deren Antworten stichpunktartig notiert werden.
Was von A bis C bei Essanfällen alles geschehen kann … 4 A = Auslöser (Was hat zum Essanfall geführt?) 4 B = Verhalten (Verhalten während des Essanfalls, d. h. alles was passiert ist, nachdem dieser schon begonnen hat.) 4 C = Konsequenzen (Folgen des Essanfalls, d. h. Gedanken, Handlungen, Gefühle)
Die Informationen aus dem Selbstbeobachtungsprotokoll werden in einer gemeinsamen Sitzung mit den Eltern und dem Kind in ein in Anlehnung an die BED-Behandlung bei Erwachsenen (Munsch 2003) adaptiertes ABC-Modell integriert. Strategien zur Reduktion anfallsartigen Essens bei Kindern Regelmäßiges Essverhalten. Ein häufiger Auslöser für
anfallsartiges Essverhalten stellt eine unregelmäßige Ernährung dar. Mit den Eltern wird in Anlehnung an die Anhaltspunkte aus dem Selbstbeobachtungsprotokoll ein Mahlzeitenplan mit drei Haupt- und mindestens zwei Zwi-
schenmahlzeiten für das Kind erstellt. Mit diesem Vorgehen (Stimuluskontrolle) soll eine Reduktion des Verlangens nach Essen erreicht werden, indem zwischen den Mahlzeiten keine zu großen Abstände bestehen. Bei der Planung der Mahlzeiten geht es zunächst um die Einführung von Regelmäßigkeit. Es soll jedoch auch eruiert werden, ob der Ernährungsstil grundsätzlich verändert werden muss. Wichtig ist zu diesem Zeitpunkt der Behandlung, dass dem Kind ausreichend Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, sich an kohlenhydratreicher Nahrung »satt« zu essen. Stimulus- und Reaktionskontrolltechniken: Notfallkärtchen. Der Therapeut entwickelt gemeinsam mit der Familie
zu jedem Auslöser, zum dysfunktionalen Verhalten selbst sowie zu den Konsequenzen Bewältigungsstrategien. In den anschließenden Sitzungen werden die Erfahrungen besprochen und allenfalls die Strategien angepasst. Das folgende 7 Fallbeispiel illustriert das Vorgehen des Therapeuten. Beim therapeutischen Vorgehen ist dahin gehend zu prüfen, ob die Kinder durch die Reaktionskontrolltechniken überfordert werden. Viele Kinder leiden unter einer beeinträchtigten Impulskontrollregulationsfähigkeit und sollten zunächst in ihrer Fähigkeit zur Stimuluskontrolle von den Eltern unterstützt werden. Anschließend kann über die Einführung von Selbstverbalisation auch auf Reaktionskontrolltechniken zurückgegriffen werden.
Fallbeispiel Anja, 10 Jahre: Therapeutisches Vorgehen beim Einführen von Stimulus- und Reaktionskontrollstrategien in Anlehnung an das ABC-Modell (T = Therapeut; A = Anja; M = Mutter) T: »Als wir beim letzten Mal das ABC-Modell eingeführt Anja vorgehen könnte, damit solche Situationen nicht haben, haben wir festgestellt, dass bei Anja oftmals mehr so häufig vorkommen. Dann möchte ich auch dann heimliches Überessen vorkommt, wenn sie sich gerne mit Ihnen darüber nachdenken, was Sie und Anja zurückgestoßen fühlt. Ich möchte nun die Situation tun könnten, damit Anja das Essverhalten selbst verändern könnte, also z. B. weniger lange oder weniger esvon gestern aufgreifen und mit Ihnen überlegen, wie 6
39
712
Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
39
A: T:
M: T:
sen könnte und schließlich möchte ich das aufgreifen, was Sie mir erzählt haben, nämlich, dass Sie und Anja im Anschluss an eine solche Situation immer sehr angespannt und traurig sind und sich hilflos fühlen. Wir müssten uns also auch Gedanken darüber machen, wie sie mit Essanfällen umgehen, die bereits aufgetreten sind, einverstanden?« »Gut, aber was ist, wenn ich wieder vergesse, was ich mir vorgenommen habe zu tun?« »Das hast du dir gut überlegt! Wir werden Notfallkärtchen zu dieser Risikosituation erstellen, auf denen du aufschreibst, was du tun kannst, um die Situation zu verhindern; das wäre das A, des ABC-Modells. Was du tun kannst, um das anfallsartige Essen selbst zu verkürzen, das B und was du unternehmen kannst, wenn der Essanfall bereits vorbei ist, das C des ABC-Modells.« »Und was haben wir dabei für eine Rolle? Wie können wir Anja unterstützen?« »Indem wir nun Risikosituationen anhand des ABCModells erarbeiten, lernt nicht nur Anja, sondern auch Sie lernen die Auslöser von Essanfällen bei Anja zu
Gewichtsstabilisation
In Anlehnung an die Forschungsergebnisse bei Erwachsenen empfiehlt es sich, die Stabilisation des Körpergewichts, falls indiziert, sekundär zur Behandlung der Essstörung anzugehen. Für viele Familien stellt das Übergewicht und nicht primär das anfallsartige Essverhalten den Grund für
kennen. Wir werden darauf achten, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, die Anja unabhängig von Ihnen durchführen kann. Sie können sie unterstützen, wenn Sie mit ihr zusammen Fortschritte erkennen und sie dafür loben und sie auch einmal trösten, wenn Schwierigkeiten auftreten. Zudem haben wir gesehen, dass Anja generell viel zwischendurch isst. Sie können Anja unterstützen, in dem Sie bei den Mahlzeiten genügend kohlenhydratreiche Nahrung anbieten, an der sich Anja satt essen kann, aber auch einmal von den Lebensmitteln, also Süßigkeiten, auftischen, die Anja manchmal heimlich und unkontrolliert isst. Zudem könnten Sie mit Anja Vereinbarungen treffen, wie viel und wie oft sie am Tage Süßigkeiten essen darf. Also z. B. jeden Tag eine halbe Tafel Schokolade. Dies erscheint mir in Anlehnung an die im Selbstbeobachtungsprotokoll aufgeschriebene Tagesmenge von aktuell einer Tafel Schokolade, ein realistisches Ziel zu sein.« Im Verlauf dieses Gesprächs erarbeiteten Anja und ihre Eltern folgende Notfallkärtchen zum ABC-Modell (. Abb. 39.4)
die Behandlung dar. Dem Anliegen der Familien kann mit der Planung einer nachfolgenden Behandlung des Übergewichts Rechnung getragen werden. Bereits während der Behandlung der Essanfälle werden die Familien über die Grundlagen der ausgewogenen Ernährung informiert und die regelmäßige Ernährung sowie
. Abb. 39.4. ABC-Modell und daraus erarbeitete Notfallkärtchen. (Aus Roth u. Munsch 2009, im Duck)
713 39.5 · Therapeutisches Vorgehen
das Bereitstellen von ausreichend fettnormalisierten, kohlenhydratreichen Nahrungsmittelen wird unterstützt. Weiter kann im Verlauf der BED beim Erarbeiten von Stimulusund Reaktionskontrolltechniken eine Steigerung der körperlichen Aktivität angestrebt werden, in dem entsprechende Neigungen und Vorlieben des Kindes exploriert und als Strategien eingeführt werden.
zum Umgang mit einem negativ gefärbten Körperbild ausgeprägte Formen der Sorgen um Figur und Gewicht nicht ausreichend behandelt werden können. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind jedoch für Kinder keine geeigneten Materialien zur vertieften Behandlung eines gestörten Körperkonzepts vorhanden. Rückfallprophylaxe
Umgang mit negativem Körperbild
Manche Kinder mit BED leiden ausgeprägt unter ihrer negativen Einschätzung der eigenen Figur und Gewicht. Der damit assoziierte negative Affekt kann wiederholt zu anfallsartigem Essen führen. Der Umgang mit dem negativen Körperbild kann auch bei rein adipösen Kindern ein wichtiges Element der Behandlung darstellen (für eine ausführlichere Besprechung des Vorgehens s. Roth u. Munsch 2009, im Druck). Ähnlich wie bei rein adipösen Kindern gilt auch bei Kindern mit BED, dass mit den Anregungen
Fallbeispiel BED im Kindesalter: Magdalena, 8 Jahre Aktuelles Problemverhalten und Lebenssituation. Magdalena ist 8 Jahre alt und hat einen um 2 Jahre jüngeren Bruder, Hannes. Sie lebt zusammen mit ihrer Mutter in einer kleineren Schweizer Stadt. Ihre Eltern sind seit einem Jahr geschieden. Magdalena und ihr Bruder sehen ihren Vater regelmäßig einmal unter der Woche sowie jedes zweite Wochenende von Freitag bis Montag. Magdalena berichtet, dass sie es sowohl mit der Mutter wie auch mit dem Vater gut habe, dass sie sich aber wünsche, dass die beiden wieder zusammen wären. Sie habe ihren jüngeren Bruder gern, auch wenn er sie oft ärgere und sie auch öfter streiten würden. Die Mutter von Magdalena berichtet, dass ihre Tochter immer schon Mühe mit dem Essen hatte. Nachdem sie als Säugling nicht richtig trinken wollte und leicht untergewichtig war, sei sie als Mutter immer unter Druck gestanden, das Kind bekäme zu wenig. Magdalena hätte dann aber altersentsprechend zugenommen. Als Magdalena etwa 4 Jahre alt gewesen sei, habe sie begonnen, große Mengen und schnell zu essen. Das hätte sie erschreckt, sie sei selbst immer leicht übergewichtig gewesen und hätte ihr Gewicht seit jeher nur mit dem Einhalten strikter Nahrungsmittelverbote stabil halten können. Sie hätte folglich den Zugang zu Süßigkeiten total eingeschränkt und nur sehr selten eine Ausnahme gemacht. Danach hätte sie aber mit Befremden beobachtet, dass Magdalena, nicht aber ihr Sohn Hannes, unkontrolliert Süßes gegessen hätte. Seit einem Jahr sei es der Mutter und auch dem Vater aufgefallen, dass öfter Nahrung im Kühlschrank fehle und dass Magdalena, wenn sie einmal Süßigkeiten bekäme, diese in ihrem Zimmer horte und 6
Die Rückfallprophylaxe bei der Behandlung der BED kann einerseits eine Zusammenfassung der wichtigsten Behandlungsinhalte für die Familie und das jeweilige Kind sowie neue Zielsetzungen umfassen. Zudem empfiehlt es sich, im regelmäßigem Abstand (z. B. zweiwöchentlich oder monatlich) über ein halbes Jahr Auffrischsitzungen zu planen, damit die Implementierung der erreichten Veränderungen in den Alltag unterstützt werden kann und Schwierigkeiten rechtzeitig bewältigt werden können. Dies gilt auch, wenn nachfolgend eine Behandlung des Übergewichts erfolgt.
heimlich esse. Seit ca. einem Jahr sei auch das Gewicht von Magdalena ständig angestiegen und sie hätten nun vom Kinderarzt rückgemeldet bekommen, dass etwas unternommen werden müsse. Heute wiegt Magdalena bei einer Größe von 120 cm 38 kg (BMI 26,4; BMI-Perzentil >90). Der Vater berichtet, dass er das Gefühl habe, dass Magdalena wegen ihres Aussehens in der Schule gehänselt werde und oftmals gerade aus diesem Grund zu Hause nur herumsitze und in ihrem Zimmer heimlich esse. Bei der Exploration des Essverhaltens in Anlehnung an die deutsche Fassung des Kinder-EDE (Hilbert, in Vorbereitung) fällt auf, dass Magdalena sich regelmäßig bei sozialen Anlässen wie z. B. Geburtstagen überisst. Anschließend ginge es ihr nicht gut, sie fühle sich voll und es sei ihr peinlich vor den anderen. Zudem berichtet sie, dass sie tatsächlich heimlich esse, weil sie große Lust auf Süßes habe. Manchmal esse sie anschließend Salziges, z. B. Käse, den sie aus dem Kühlschrank nehme und im Zimmer verstecke. Dabei habe sie oft das Gefühl, mit dem Essen nicht mehr aufhören zu können. Die Eltern kommen gemeinsam zum Erstgespräch und zu den Informationssitzungen. Die Durchführung des Kinder-DIPS weist nicht auf das Vorliegen weiterer psychischer Störungen hin. Der DIKJ zeigt erhöhte Werte, die jedoch noch nicht klinisch relevant sind. In einem Elterngespräch informiert der Therapeut die Eltern über das Störungsbild der BED im Kindesalter, über den aktuellen Wissensstand und die Behandlungsmöglichkeiten. Die Eltern von Magdalena sind besorgt über das Befinden ihrer Tochter; es bestehen auch ausgeprägte Schuldge-
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Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
fühle, insbesondere deshalb, weil die Symptome erstmals in Anschluss an die endgültige Trennung und Scheidung der Eltern auftraten. Der Therapeut verstärkt die Eltern für ihre Bereitschaft, gemeinsam Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Tochter zu übernehmen und versucht, sie von Schuldgefühlen zu entlasten.
Behandlung der BED. Im Anschluss an diese Elternsitzung findet eine Behandlungsstunde mit Magdalena und den Eltern statt, in der Magdalena über das Störungsbild informiert wird und ihre Motivation zur Behandlung abgeklärt wird. Magdalena und ihre Eltern entscheiden sich nach dieser Sitzung für eine Behandlung und werden als Erstes in die Technik der Selbstbeobachtung des Essverhaltens eingeführt. Dabei wird darauf geachtet, dass Magdalena, sowohl beim Vater wie auch bei der Mutter Protokoll führt. In einer gemeinsamen Sitzung wird anhand der Protokolle eine aktuelle Situation, in der anfallsartiges Essen auftrat, mittels eines ABC-Modells analysiert. Dabei stellt sich heraus, dass folgende Faktoren immer wieder bei der Auslösung von Essanfällen beteiligt sind: Magdalena weiß, dass ihre Mutter findet, dass sie zu viel esse. Aus diesem Grund versucht sie, sich bei den Mahlzeiten zurückzuhalten. An freien Nachmittagen, an denen sie keine Verabredung hat, berichtet Magdalena, dass sie oft dasitzen und über ihr Gewicht nachdenke. Dabei mache sie sich Sorgen, immer schwerer zu werden. Sie sei dann traurig und denke auch daran, dass sie nun schon öfter wegen ihrer Gewichtszunahme ausgelacht worden sei. Dann passiere es ihr immer wieder, dass sie an den Kühlschrank gehe oder an ihr Nahrungsmittelversteck und zu essen beginne. Sie versuche dann aufzuhören, aber es gelinge ihr nicht. Während des Essens habe sie immer Angst, ihre Mutter würde etwas bemerken. Sie könne erst mit essen aufhören, wenn nichts mehr da sei. Dann sei sie aber noch trauriger und wolle nur noch allein sein.
39.6
Empirische Belege zur Wirksamkeit der Behandlung
39.6.1 Behandlung der Adipositas
Richtlinien zur Behandlung adipöser Kinder fordern eine Kombination von Ernährungsmanagement, Anleitungen zur Reduktion der Passivität und die Steigerung der körperlichen Aktivität im Alltag. Zur Erreichung dieser Ziele haben sich verhaltenstherapeutische Strategien als wirksam erwiesen (Munsch u. Hartmann 2008). Entsprechend der ätiologischen Arbeiten zur Rolle der familialen Vermittlung von Ernährungs-, Bewegungs- und Essstil, unterstreichen bisherige kontrollierte klinische Studien zur Behandlung
Auf der Grundlage dieser Analyse wird folgendes Vorgehen gewählt: Die Eltern werden über schädliche Auswirkungen von Nahrungsmittelverboten informiert und das Konzept des flexiblen Essverhaltens eingeführt. Dies beinhaltet, dass Magdalena Süßigkeiten essen darf, dass jedoch die Mutter die Menge und den Zeitpunkt bestimmt und dies mit Magdalena vorher bespricht. Weiter werden die Eltern aufgefordert, die Kinder bei regulären Mahlzeiten nicht betreffend der Menge der Nahrung zu kontrollieren, sondern dafür zu sorgen, dass die Nahrungsmittel, die während der Mahlzeit zur Verfügung stehen, bis zur Sättigung gegessen werden dürfen (s. Essverhaltensregeln, TAKE bei adipösen Kindern). Mit Magdalena wurden weiter Notfallkärtchen erarbeitet, in denen alternative Strategien im Umgang mit belastenden Situationen wie z. B. Hänseleien, das Gefühl, ausgeschlossen zu werden, unter Druck zu stehen usw. entworfen wurden. Im Verlauf der Behandlung gelang es Magdalena immer häufiger, am Tisch so viel zu essen, dass sie wirklich das Gefühl hatte, satt zu sein. Ihre Eltern machten dabei die Erfahrung, dass Magdalena tatsächlich auch mit Essen aufhören konnte. Es gelang Magdalenas Mutter, Vertrauen in die Fähigkeit zur Regulation von Hunger und Sättigung ihrer Tochter zu setzen. Das Thematisieren der Essanfälle von Magdalena führte zu einer Enttabuisierung des Problems. Diese Entwicklungen führten dazu, dass Magdalena keine Nahrungsmittel mehr hortete und auch schrittweise ihr Essverhalten kontrollieren konnte. Die Strategien zum Umgang mit negativen Gefühlen halfen ihr, sich anderen mehr zu öffnen und sich gegen Hänseleien zu wehren. Im Verlauf der Behandlung konnte sie sich entscheiden, einem Mädchen-Fußballklub beizutreten. Diese Veränderungen blieben auch nach der aktiven Behandlung stabil und führten im Verlauf eines Jahrs zu einer Stabilisierung des Körpergewichts, so dass auf eine zusätzliche Behandlung des Übergewichts vorerst verzichtet werden konnte.
der Adipositas im Kindesalter die wichtige Rolle der Eltern im Behandlungsverlauf und empfehlen eine frühe, familienbasierte Behandlung. Die Ergebnisse dieser Studien zeigen zudem, dass sich kurz- wie auch langfristig die ausschließliche Behandlung der Eltern gegenüber der alleinigen Behandlung der Kinder als überlegen erweist. Eine kürzlich publizierte Untersuchung unserer Arbeitsgruppe belegte ebenfalls die kurzfristige, vergleichbare Wirksamkeit der alleinigen Behandlung der Mütter im Vergleich zur parallelen Behandlung der Mütter und Kinder (Munsch et al. 2008). Young et al. unterstreichen in ihrer Metaanalyse die Überlegenheit familienbasierter Interventionen gegenüber der ausschließlichen Behandlung der Kinder und finden mittlere Effektstärken (Hedges’d von -0,69), die über
715 Zusammenfassung
den Zeitpunkt der aktiven Behandlung hinaus über ca. sechs Monate bestehen bleiben. Die Überprüfung längerfristiger Effekte der familienbasierten Adipositasbehandlung bei Kindern steht jedoch bis jetzt noch aus.
Zusammengefasst gelten für die Behandlung adipöser Kinder folgende Richtlinien von Barlow u. Dietz (1998): 4 Interventionen sollten möglichst früh beginnen 4 Die Familie muss zu Veränderungen bereit sein 4 Die Kliniker müssen die Familien über medizinische Komplikationen im Zusammenhang mit Adipositas aufklären 4 Die Kliniker müssen die Familie und alle Betreuungspersonen in das Behandlungsprogramm miteinbeziehen 4 Die Behandlungsprogramme sollten zu dauerhaften Veränderungen führen und nicht Kurzzeitdiäten darstellen mit dem Ziel einen schnellen Gewichtsverlust zu erzielen 4 Als Teil des Behandlungsprogramms soll die Familie lernen, sowohl das Essen als auch die Aktivität zu beaufsichtigen 4 Das Behandlungsprogramm sollte der Familie helfen, kleine graduelle Veränderungen durchzuführen 4 Kliniker sollten ermutigend und einfühlsam sein und nicht kritisieren 4 Eine Vielzahl von erfahrenen Professionellen kann verschiedene Aspekte des Gewichtsmanagementprogramms durchführen
39.6.2 Behandlung der BED im Kindes-
dem Phänotyp vermittelnden spezifischen Faktoren vor. Die Entwicklung wirksamer Präventiv- und Behandlungsmaßnahmen sollte angesichts der zunehmenden Prävalenz der Adipositas in der Kindheit vorangetrieben werden. Dazu sind insbesondere Richtlinien zur standardisierten Erfassung der Adipositas und den damit assoziierten psychischen Symptomen notwendig. Um dem umfassenden Leidensdruck der Adipositas bei Kindern gerecht zu werden, wäre es wünschenswert, die Veränderung der psychischen Symptome ebenfalls in die Definition einer wirksamen Behandlung aufzunehmen. Weiter offene Fragen umfassen die Indikation von Familien zu unterschiedlichen Formen der Behandlung. So liegen aufgrund aktuell vorliegender Befunde keine Richtlinien vor, welche Kinder in welchem familiären Umfeld zu welcher Behandlungsform (Eltern-Training, Kinder-Training, kombinierte Behandlung) zugewiesen werden sollten. Letztlich bleibt zu betonen, dass auch effektive Behandlungsmaßnahmen nur wirksam sein können, wenn sie in Anspruch genommen und regelmäßig über ausreichend lange Zeit durchgeführt werden. Genau dies stellt jedoch eine zentrale Schwierigkeit bei der Behandlung adipöser Kinder dar. Behandlungsbemühungen sollten bei der Information über Therapieangebote und bei der Motivation zur langfristigen Behandlung ansetzen. Das Forschungsgebiet der BED im Kindesalter ist noch sehr jung und die Befunde lückenhaft. Künftige empirische Arbeiten sollten zum einen auf die Identifizierung ätiologischer Faktoren fokussieren, um z. B. adipöse Kinder, die ein Risiko aufweisen, zusätzlich eine BED zu entwickeln, früh erkennen zu können. Zudem zeigt die aktuelle Forschungslage auf, dass insbesondere die Entwicklung und Überprüfung wirksamer Behandlungsstrategien vorangetrieben werden sollte.
Zusammenfassung
und Jugendalter Bis zum aktuellen Zeitpunkt liegen weder Metaanalysen zur psychologischen Behandlung der BED in Erwachsenenalter noch kontrollierte Studien zur Überprüfung der Effektivität der Behandlung von regelmäßigen Essanfällen bei Kindern vor. Die vorgestellten, in Anlehnung an die Befunde bei BED im Erwachsenenaltern sowie in Anlehnung an die »NICEguidelines« (NICE 2004) konzipierten Behandlungseinheiten müssen somit als Richtlinien gesehen werden und bedürfen weiterer wissenschaftlicher Überprüfung.
39.7
Ausblick
Der Überblick über die aktuelle Adipositasforschung weist auf die Dringlichkeit weiterer psychologischer Forschung im Bereich der Ätiologie hin. Bis jetzt liegen nur sehr wenige Forschungsbefunde zu den zwischen dem Genotyp und
Adipositas im Kindes- und Jugendalter stellt ein Störungsbild dar, das weltweit zunehmend häufiger auftritt. Aufgrund aktueller Befunde ergeben sich Hinweise, dass bereits im Kindesalter regelmäßige Essanfälle im Sinne einer BED auftreten können. Die ätiologische Forschung bezüglich psychologischer Faktoren, die zur Entwicklung, Auslösung und Aufrechterhaltung dieser Störungsbilder beitragen, ist noch lückenhaft. Bei der BED ergeben sich Hinweise auf eine Kombination von Faktoren, die allgemein für die Entwicklung einer psychischen Störung anfällig machen sowie auf Faktoren, die bestimmte Personen für das Auftreten gestörten Essverhaltens prädisponieren. Die Behandlung der Adipositas bei Kindern sollte unter Berücksichtigung der Eltern vorgenommen werden. Neue Befunde legen nahe, dass in bestimmten Altersklassen die ausschließliche Behandlung der Eltern ausreichend sein könnte. Zur Behandlung der BED liegen bis jetzt keine überprüften Konzepte vor; die Behandlung erfolgt in An-
39
716
39
Kapitel 39 · Adipositas und Binge Eating Disorder
lehnung an Richtlinien der »NICE-guidelines« zur Behandlung von Essstörungen bei Kindern sowie auf dem Hintergrund vorliegender Befunde der BED bei Erwachsenen.
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39
40
40 Anorexia nervosa Beate Herpertz-Dahlmann, Reinhild Schwarte
40.1
Einleitung
– 720
40.2
Darstellung der Störung – 720
40.2.1 40.2.2 40.2.3 40.2.4
Phänomenologie – 720 Epidemiologie – 722 Komorbidität – 722 Verlauf und Prognose – 723
40.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
40.4
Diagnostik – 724
40.4.1 40.4.2 40.4.3
Komorbidität – 724 Somatische Komplikationen – 725 Fragebögen und Interviewverfahren
40.5
Therapeutisches Vorgehen
40.5.1 40.5.2 40.5.3 40.5.4 40.5.5 40.5.6 40.5.7 40.5.8
Übersicht – 725 Psychoedukation, Ernährungsberatung und somatische Rehabilitation – 726 Einzelpsychotherapie – 727 Gruppentherapeutische Maßnahmen – 728 Medikamentöse Behandlung – 729 Einbeziehung der Familie – 729 Behandlung der Komorbidität – 731 Ergänzende Maßnahmen – 731
40.6
Fallbeispiel: »Einzigartig ohne Anorexie« – 731
40.6.1 40.6.2 40.6.3 40.6.4
Vorstellungsanlass und Vorgeschichte Familienanamnese – 732 Diagnostik – 732 Behandlung und Verlauf – 732
40.7
Empirische Belege
40.8
Ausblick
– 734
– 736
– 736
Weiterführende Literatur Internetadressen – 738
– 725
– 725
Zusammenfassung – 736 Literatur
– 723
– 738
– 731
720
Kapitel 40 · Anorexia nervosa
40.1
40
Einleitung
Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, wer der eigentliche Erstbeschreiber der Anorexia nervosa war, Sir William Gull in England oder Dr. Charles Laségue in Frankreich. Im Jahre 1868 hielt Sir William Gull, ein schon zu Lebzeiten berühmter Arzt, eine Vorlesung bei der British Medical Association in London, wo er die These vertrat, dass eine »pathogene Kraft« im Gehirn verschiedene Störungen bewirken kann (für eine genaue Übersicht s. Vandereyken et al. 1990). In diesem Vortrag findet sich eine kurze Passage zur »Apepsia hysterica«: So vermeiden wir den Irrtum, bei jungen Frauen, die extrem abgemagert sind, aufgrund von hysterischer Apepsie (hysteric apepsia) eine Krankheit des Darms zu vermuten, durch unsere Kenntnis der erstgenannten Krankheit und weil anderswo keine tuberkulöse Erkrankung vorliegt. (Zitiert in Vandereyken et al. 1990)
1873 hielt Gull einen weiteren Vortrag zur Apepsia hysterica, die er jetzt auch als Anorexia hysterica bezeichnete. In der Publikation dieses Vortrags (1874) verwendete Gull erstmals den Begriff der »Anorexia nervosa«. Einen Monat vor dem zweiten Vortrag von Sir William Gull war ein Bei-
trag Laségues im Lancet erschienen, der acht Frauen mit Magersucht zwischen 18 und 32 Jahren beschrieb. In seiner Studie »De l’anorexie hysterique« schreibt Charles Laségue … möchte ich eine Form der Hysterie bekannt machen, die dem Magen entstammt, die häufig genug vorkommt, so dass die Beschreibung nicht, wie es schnell geschehen kann, die unzutreffende Verallgemeinerung eines besonderen Falles ist. (Zitiert in Vandereyken et al. 1990).
Heute wissen wir, dass auch die lateinische Bezeichnung »Anorexia nervosa« (»nervöse Appetitlosigkeit«) unzutreffend ist, da die Patientinnen keineswegs an Appetitmangel leiden, sondern an der tief verwurzelten Überzeugung, zu dick zu sein. Insofern charakterisiert der deutsche Begriff »Magersucht« zutreffender die Kernsymptome des Krankheitsbildes. Wir haben es auch keineswegs mit »besonderen Fällen« (s. oben) zu tun; mindestens jedes 200. Mädchen in der Adoleszenz leidet an Magersucht oder sog. partiellen Essstörungen. In den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu einem deutlichen Anstieg der Prävalenz. Jahrelang taten sich die Forscher schwer, die Essstörungen als eigene Störungsentität anzusehen. Vielmehr wurden sie als Subgruppe anderer psychischer Störungen definiert.
Exkurs Während Sir William Gull und Charles Laségue durch die Namensgebung der Anorexia hysterica einen Bezug zu den Konversionsstörungen postulierten, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts eine Beziehung der Essstörung zur Schizophrenie vertreten. So sah Brill (1939) die Magersucht als »forme fruste« der Schizophrenie an und Nicolle (1939) publizierte eine Arbeit mit dem Titel »Präpsychotische Anorexia«. Palma und Jones (1939) waren der Meinung, dass es sich bei der Magersucht um eine Zwangserkrankung handelte, und Dubois (1949) nannte die Magersucht eine »Zwangserkrankung mit Kachexie«. Eine Beziehung zwischen Magersucht und Depression im engeren Sinne wird in einem Briefwechsel zwischen Sir William Gull und De Berdt-Hovell im Lancet von 1888 er-
40.2
Darstellung der Störung
40.2.1 Phänomenologie
Kindliche und jugendliche Patienten zeichnen sich in erster Linie durch ein restriktives Essverhalten aus, d. h. sie versuchen, ihre tägliche Nahrungsmenge zunehmend einzuschränken. Sie verzichten auf hochkalorische Nahrungsmittel wie Süßigkeiten, Kuchen, Soßen und Streichfett, später werden auch ganze Hauptmahlzeiten (meist zuerst das Mittagessen) ausgelassen. Während manche Patienten
wähnt. Das gerade definierte Krankheitsbild der Anorexia nervosa wurde als eine Reaktion auf »deprimierende Gefühlsbewegungen« angesehen. Im Jahre 1916 hatte bereits Sigmund Freud auf einen nosologischen Zusammenhang zwischen Magersucht und Depression hingewiesen, »die berühmte Anorexia nervosa der jungen Mädchen scheint mir eine Melancholie bei unterentwickelter Sexualität zu sein«. Der amerikanische Psychoanalytischer G. H. Alexander beschrieb im Jahre 1969 eine magersüchtige Patientin, die »stürmische Perioden von Selbstvorwürfen und Weinattacken« durchlebte. Kraepelin deutete den von Binswanger (1957) beschriebenen Fall der Ellen West als Melancholie (für weitere Angaben und Literatur s. Herpertz-Dahlmann 1991).
zu Beginn der Erkrankung nur einige Kilogramm abnehmen wollen, sind sie im Verlauf von dem Gedanken »besessen«, zu dick zu sein und immer mehr an Gewicht verlieren zu wollen. Die für Magersucht und Bulimie typische Gewichtsphobie kann sich auch in einer unzureichenden altersentsprechenden Gewichtszunahme äußern. Mehrfach täglich wird das Aussehen im Spiegel und die Kilogramm auf der Waage kontrolliert; als besonders problematisch werden Oberschenkel, Hüfte und Bauch angesehen. Jede noch so kleine Gewichtszunahme wird als Versagen gedeutet, dem noch größere Anstrengungen, an Gewicht zu ver-
721 40.2 · Darstellung der Störung
lieren, folgen. Sehr junge Patientinnen befürchten eine Gewichtszunahme durch Flüssigkeitszufuhr, so dass sie das Trinken einstellen, was zu einer lebensbedrohlichen Exsikkose (Austrocknung) führen kann. Bei vielen Patientinnen beginnt eine Essstörung mit Vegetarismus und einer Vorliebe für sog. gesunde Nahrungsmittel wie Obst, Vollkornbrot, fettreduzierte Milchspeisen und Salat. Im Gegensatz zu Hungerzuständen in der Dritten Welt sind daher Vitaminmangelzustände selten. Einige Patientinnen zelebrieren das Einnehmen einer Mahlzeit, d. h. auch für geringste Speisemengen wird der Tisch gedeckt, eine Kerze angezündet etc. Nicht selten verläuft die Mahlzeit nach festgelegten Ritualen, z. B. indem das Brot in bestimmte Teile aufgeteilt wird, der Aufschnitt zuerst gegessen wird, z. T. minutenlang gekaut wird, jedes Salatblatt einzeln auf die Gabel genommen wird etc. Diese Rituale können sich zu ausgeprägten Zwängen beim Essen entwickeln. Oft kochen Magersüchtige für ihre Familien opulente Mahlzeiten, ohne selbst daran teilzunehmen. Wahrnehmung und Verhalten sind ausschließlich auf das Thema Gewicht und Essen fokussiert.
Beispiel Erzählung einer magersüchtigen 14-jährigen Patientin »Ich sehe unmöglich aus!« murmelte Bianca traurig. Ihre großen blauen Augen fixierten die mageren Oberschenkel im Spiegelbild. »Ich hasse meine fetten Beine! Nie, nie wieder ziehe ich einen Bikini an!« Langsam hob sie den Blick. Ihre Augen blieben sofort an ihrem dünnen Bauch hängen. Was sie sah, machte sie wütend. Warum konnte man ihre Rippen nicht sehen? Auf einmal hatte Bianca diesen Hass. Sie kannte ihn nur zu gut. Sie dachte an gestern Abend. Ihre Mutter hatte Nudeln gekocht. Bianca liebte Nudeln. Bianca hasste Nudeln. Sie schmeckten ihr. Sie waren jedes Mal eine Herausforderung für sie – so eine Art Prüfung. Eine Prüfung, ob sie sich beherrschen konnte. Oder ob sie plötzlich alles hart Erkämpfte aufs Spiel setzte und alle Grenzen brach. Ob sie es schaffte, nur genau vier Nudeln zu essen, oder ob sie plötzlich eine ganze Portion aß. Sie hatte sich unter Kontrolle gehabt, vier kleine Nudeln, jede zweimal durchgeschnitten. Zwölf Stückchen hatten einsam und verloren auf ihrem Teller gelegen. Jedes Einzelne hatte sie genussvoll gekaut. Jedes 50-mal. Und immer, wenn sie eins der Stückchen zu Ende gekaut hatte, hatte sie Wasser getrunken. Drei Schlucke. Bianca riss sich von ihren Gedanken los und betrachtete weiter ihren Bauch. Und auf einmal schlug sie mitten hinein.
Neben der ausgeprägten »Gewichtsphobie«, die die Magersucht mit der Bulimie gemeinsam hat, weisen viele magersüchtige Patientinnen eine ausgeprägte körperliche Hyperaktivität auf, meist in Form von Gymnastik, Joggen oder Fahrradfahren. Zu Beginn der Erkrankung betreiben viele Patientinnen bewusst exzessiv Sport, um die Gewichtsabnahme zu fördern. Mit zunehmender Gewichtsabnahme erleben hingegen viele den von ihnen betriebenen Sport als »Zwang«; die Betroffenen geben an, aktiv sein zu müssen, obwohl sie körperlich erschöpft sind. Als Risikofaktoren für übermäßiges Bewegungsverhalten sind ausgeprägte sportliche Aktivität vor Beginn der Essstörung sowie ängstlich-zwanghaftes Verhalten bekannt. Nicht wenige Leistungssportler leiden unter Essstörungen. Neuere Untersuchungen zeigen auf, dass die körperliche Hyperaktivität essgestörter Patienten nicht vollständig der kognitiven Kontrolle unterliegt. Vielmehr scheint ein direkter Zusammenhang mit niedrigen Serumspiegeln des Hormons Leptin vorzuliegen, das bei der Regelung von Appetit, Sättigung, Energiehaushalt sowie der Anpassung des Organismus an Fastenzustände eine wichtige Rolle spielt (Holtkamp et al. 2006a). Viele Patientinnen ziehen sich von ihren Freundinnen zurück und vernachlässigen ihre bisher gern praktizierten Hobbys. Ehrgeiz und Fleiß in der Schule nehmen zu, manche Betroffene berichten über eine »regelrechte Arbeitssucht«. Ein großer Teil der Patientinnen wird perfektionistisch und rigide.
Klassifikationskriterien Die Klassifikationskriterien nach DSM-IV für die Anorexia nervosa beinhalten: 4 die Überbewertung von Figur und Gewicht (d. h. die Bewertung der eigenen Person hängt wesentlich von Figur und Gewicht ab), 4 das Unterschreiten eines kritischen Körpergewichtes (Body-Mass-Index, BMI≤17,51), 4 ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme und 4 die Amenorrhö (nach der Menarche bei Frauen, die keine Kontrazeptiva einnehmen). Das DSM-IV unterscheidet zudem eine restriktive und eine bulimische Form (Purging-Typus). Bei der restriktiven Form reduzieren die Patientinnen ihr Körpergewicht ausschließlich durch Fasten und ausgeprägte körperliche Bewegung, wohingegen Magersüchtige des Purging-Typus auch weitergehende gewichtsreduzierende Maßnahmen wie Erbrechen, Medikamente (z. B. Abführmittel, Hormone) einsetzen. 1
BMI =
Gewicht in kg (Körpergröße in cm)2
40
722
Kapitel 40 · Anorexia nervosa
Definitionskriterien Anorexia nervosa
40
Im Gegensatz zu dem Gewichtskriterium nach DSM-IV (und auch nach ICD-10) stellen die Leitlinien der drei deutschen kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände die 10. BMI-Altersperzentile als kritische Gewichtsgrenze heraus (Berechnung über das Internet: http://www.mybmi.de). Ein BMI von 17,5 kg/m2 entspricht einem BMI zwischen der 5. und 10. Altersperzentile bei 17,5 Jahre alten Frauen. In den meisten Fällen beginnt die Anorexia nervosa jedoch früher, so dass ein BMI von 17,5 eine zu geringe Spezifität aufweist und auch gesunde Kinder und jüngere Jugendliche erfassen würde (s. auch Hebebrand et al. 2004).
Bei ca. 20% aller anorektischen Patientinnen geht die Magersucht in eine Bulimie über. Vielfach entwickeln sich Essattacken aus einer Diät heraus, wobei der Heißhunger z. T. auf hypoglykämische Zustände (d. h. zu niedrige Blutzuckerspiegel) zurückgeführt werden kann.
Atypische Essstörungen Wenn nur ein Symptom (z. B. Amenorrhö) für die Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa nicht erfüllt ist, muss eine atypische Essstörung nach DSM-IV diagnostiziert werden. Viele epidemiologische Untersuchungen sprechen dafür, dass die atypischen Essstörungen (meist handelt es sich um subsyndromale Formen) sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch in klinischen Gruppen häufiger auftreten als die Vollbilder (de Zwaan u. Herpertz-Dahlmann 2006).
40.2.2 Epidemiologie
Neuere Untersuchungen sprechen dafür, dass die Prävalenz und Inzidenz der Essstörungen in den letzten 15 Jahren weitgehend konstant geblieben ist (Currin et al. 2005; Hoek et al. 2006). Die höchste Inzidenz findet sich unverändert in der Gruppe der 15- bis 19-Jährigen; die Anorexia nervosa ist die dritthäufigste chronische Erkrankung in der weiblichen Adoleszenz. Bestimmte Berufsgruppen wie Models, Tänzerinnen und Leistungssportlerinnen sind besonders gefährdet. Die Kriterien für die Bulimia nervosa fanden erst 1980 Eingang in das amerikanische Klassifikationsschema. Während sich in den ersten Jahren nach Aufnahme in das DSM-III ein deutlicher Anstieg beobachten ließ, scheint die Bulimie in den letzten Jahren eher konstant zu bleiben oder abzunehmen (Currin et al. 2005). Die Prävalenzrate der Magersucht für adoleszente Mädchen liegt bei 0,3–1%, die Lebenszeitprävalenz für 30jährige Frauen bei 1,6%. Die Inzidenz der Magersucht
(Neuerkrankungen) pro Jahr beträgt 19:100.000 junge Frauen. Der Erkrankungsgipfel der Magersucht liegt bei 14 Jahren. Seit den 1950er Jahren wird auch ein deutlicher Anstieg bei der kindlichen Anorexia nervosa gefunden (10–14 Jahre). Vereinzelte Studien zur Prävalenz gehen davon aus, dass diese frühe Erkrankungsform bei ca. 5% aller an Magersucht erkrankten Patienten auftritt. Bulimische Essstörungen im Kindesalter (<14 Jahre) sind sehr selten und werden mit einer der adoleszenten Form entsprechenden Symptomatik bei 12- bis 13-jährigen Mädchen beobachtet. Das Geschlechterverhältnis liegt bei 1:10 (m:w). Eine Veränderung dieses Verhältnisses während der letzten Jahrzehnte wurde nicht beobachtet (Currin et al. 2005).
40.2.3 Komorbidität
Die Essstörungen weisen eine sehr hohe Komorbidität mit anderen Erkrankungen auf. Zwangserkrankungen vor, während oder nach einer Anorexia nervosa sind so häufig, dass Letztere von einigen Autoren den Spektrumsstörungen der Zwangserkrankungen zugeordnet wird (Lilenfeld 2004). Ordnungs- und Säuberungszwänge, Perfektionismus und Unheilsbefürchtungen sind die häufigsten Zwangsphänomene bei magersüchtigen jungen Mädchen und Frauen. Bei einem Fünftel der essgestörten Patienten liegt der Beginn der Zwangserkrankung vor dem Beginn der Magersucht in der Kindheit, während sich in Feldstichproben nur bei ca. 2% eine kindliche Zwangsstörung nachweisen lässt (Kaye et al. 2004). Eine komorbide Zwangserkrankung muss von ausschließlichen Essritualen abgegrenzt werden. Angststörungen lassen sich gleichfalls sehr häufig im Verlauf der Essstörungen beobachten. Besonders häufig ist die soziale Phobie, von der 20–55% aller magersüchtigen Patienten betroffen sind (Kaye et al. 2004). Bei mehr als zwei Dritteln aller essgestörten Patientinnen treten ausgeprägte depressive Verstimmungen bis hin zu einer Major Depression auf. Die depressive Stimmung ist in vielen Fällen auch Folge des Fastenzustandes und der Gewichtsabnahme und bessert sich mit Gewichtsstabilisierung bzw. Normalisierung der Essstörung. Dies trifft – wenn auch nicht ganz so deutlich – für Zwangs- und Angstsymptome ebenfalls zu.
Beispiel Stimmungsverlauf aus der Sicht einer 16-jährigen Betroffenen »Meine Laune ging mit jedem Kilogramm, das ich weniger wog, bergab, und es kam immer häufiger zu lautem Streiten in meiner Familie. Ich verstand mich mit meinem Bruder und meinen Eltern nicht mehr, traf 6
723 40.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Biologische Faktoren mich nicht mehr mit meinen Freundinnen, lebte nur noch für meine innere Stimme, die mir sagte, ich müsse an Gewicht abnehmen. … Doch nie war ich gut genug. Ich war immer noch hässlich, fett und des Lebens nicht würdig. Mein Essen beschränkte sich auf zwei bis drei Äpfel am Tag. Aß ich einmal zu viel, nahm ich eine Nagelschere und fügte mir Kratzer zu. Meine Gedanken hefteten sich an Selbstmord. Doch ich hätte niemals so viel Mut gehabt, dies auch auszuführen. … Mir fehlte alle Hoffnung, jeder Wille, weiter mit meinem Leben zu machen. Ich wollte nur noch, dass die Qualen aufhörten, dass mein Leben endete.«
40.2.4 Verlauf und Prognose
Der Verlauf der Magersucht ist langwierig. Allerdings zeigt sich in den letzten Jahren eine Verbesserung der Prognose, insbesondere für die jüngeren Patientinnen. Nach 10 Jahren sind 70% der Adoleszenten geheilt (Herpertz-Dahlmann et al. 2001). Die Mortalitätsrate für Stichproben adoleszenter und erwachsener Patientinnen beträgt 5% (Steinhausen 2002). Nach Bewältigung der Essstörung (sowohl Magersucht als auch Bulimie) leiden allerdings viele Patientinnen an anderen psychischen Störungen, insbesondere affektiven Störungen, Angststörungen einschließlich Zwangsstörungen, Missbrauch von Alkohol und Drogen sowie Persönlichkeitsstörungen (Herpertz-Dahlmann et al. 2001). Aussagekräftige prognostische Faktoren in Studien mit längerer Behandlungsdauer und ausreichend großen Stichproben sind Alter, Krankheitsdauer vor Beginn der Behandlung sowie das Ausmaß des Gewichtsverlusts (Steinhausen 2002; Hebebrand et al. 1997). ! Junges Alter (Adoleszenz) ist mit einer günstigeren Prognose assoziiert. Je länger die Dauer der Erkrankung vor Beginn der stationären Behandlung und je höher der Gewichtsverlust, desto schlechter ist die Prognose. Dies spricht dafür, bei hohem Gewichtsverlust zeitnah eine stationäre Therapie mit ausreichender Gewichtsrehabilitation einzuleiten.
40.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Das Entstehungsmodell der Essstörung ist multifaktoriell. Dabei werden biologische, soziokulturelle, familiäre und persönlichkeitsbedingte Faktoren unterschieden (. Abb. 40.1), die sich z. T. überlappen (so ist z. B. ein Teil der familiären und persönlichkeitsabhängigen Faktoren genetisch bedingt).
Zwillings- und Familienstudien sprechen dafür, dass genetische Faktoren eine bedeutsame Rolle bei der Entstehung der Essstörungen spielen. Das Wiederholungsrisiko für weibliche Angehörige einer anorektischen Patientin beträgt ca. 5–10%, ist jedoch nicht spezifisch für die Magersucht, sondern betrifft alle Essstörungen. So erkranken Angehörige magersüchtiger junger Frauen auch häufiger an einer Bulimie oder an einer partiellen Essstörung. Ein spezifischer Genombefund konnte bisher nicht repliziert werden (für eine genaue Übersicht s. Herpertz-Dahlmann u. Hebebrand 2008).
Soziokulturelle Faktoren Für die Bedeutung soziokultureller Faktoren spricht eine immer noch höhere Prävalenz in von westlicher Kultur geprägten Gesellschaften sowie in weißen Mittel- und Oberschichtfamilien. Eine neuere Untersuchung auf Curacao, einer Insel in der Karibik mit vorwiegend schwarzer Bevölkerung und einer weißen bzw. gemischten Minderheit, erbrachte folgendes Ergebnis: Während sich keine Betroffenen bei der schwarzen Bevölkerung fanden, entsprach die Inzidenz bei der weißen und gemischten Minderheit der westlicher Länder (Hoek et al. 2006). Fast alle Erkrankten hatten an Auslandsaufenthalten in Übersee (in durch westliche Kultur geprägten Gesellschaften) teilgenommen oder identifizierten sich mit der westlichen Kultur. Für eine Beteiligung soziokultureller Faktoren spricht auch die höhere Prävalenz von Essstörungen bei Risikogruppen. Das übliche westliche Schönheitsideal erlaubt eine Körperfettmasse von 10–15%, wohingegen eine normalgewichtige gesunde Frau eine Körperfettmasse von 20–25% hat (Herpertz-Dahlmann u. Hebebrand, im Druck). Zahlreiche Untersuchungen sprechen dafür, dass es keine Essstörung ohne vorherige Diät gibt. Die Diskrepanz zwischen der Häufigkeit von Diäten und der relativen Seltenheit von Magersucht macht allerdings deutlich, dass die Diät ein notwendiger, aber keineswegs hinreichender Faktor ist.
Familiäre Faktoren Mütter anorektischer Patientinnen weisen oft ein überbehütendes und ängstlich-vermeidendes Verhalten auf und ähneln damit ihren Töchtern (s. auch 7 Abschn. »Persönlichkeitsfaktoren«). Nicht selten finden sich hohe Leistungserwartungen und Ansprüche. Als weitere familiäre Risikofaktoren gelten häufiges Diäthalten in der Familie sowie eine hohe Bedeutung von Figur und Gewicht (s. auch Fairburn u. Harrison 2003). Die Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs betrifft eher bulimische Patientinnen und ist in der Anamnese ähnlich häufig wie bei anderen psychischen Störungen.
Persönlichkeitsfaktoren Anorektische Patientinnen mit einem vorwiegend restriktiven Essverhalten zeichnen sich durch typische Merkmale wie Introvertiertheit, Rigidität, zwanghafte Züge und
40
724
Kapitel 40 · Anorexia nervosa
40
. Abb. 40.1. Ätiologiemodell der Anorexia nervosa. (Aus Herpertz-Dahlmann u. Hebebrand 2008)
eine gut durchschnittliche bis überdurchschnittliche Intelligenz aus. Als Kinder leiden sie oft unter Trennungsangst, vermeiden gern Konflikte und entwickeln als Erwachsene ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsmerkmale. Sie haben einen hohen moralischen Anspruch an sich und andere, sind sehr verlässlich und – wenn sie die Essstörung überwunden haben – in Schule und Beruf erfolgreich.
40.4
Diagnostik
Die Diagnose einer Magersucht ist häufig eine sog. »Blickdiagnose«, wenn die Symptomatik, Lebensalter und Geschlecht typisch sind. Allerdings können auch einige körperliche Erkrankungen als Magersucht imponieren, die unbedingt – insbesondere bei atypischem Verlauf, in sehr jungem Lebensalter oder bei männlichen Patienten – ausgeschlossen werden sollten. Hierzu gehören insbesondere Hirntumoren, aber auch Erkrankungen des MagenDarm-Traktes. Nicht selten sind anorektische oder bulimische Essstörungen mit einem Diabetes mellitus assoziiert, wo Einsparen oder Weglassen von Insulin als gewichtsreduzierende oder -regulierende Maßnahme genutzt wird (sog. Insulin-Purging). Essstörungen können auch im Rahmen anderer psychischer Störungen, z. B. der Schizophrenie, auftreten. Aus diesem Grunde sollte die im Wesentlichen nur für die Essstörungen Magersucht und Bulimie typische Gewichtsphobie grundsätzlich erfragt werden.
Primärsymptome einer Magersucht 4 Auswahl vorwiegend »gesunder« Lebensmittel 4 Häufige, oft mehrfach tägliche Gewichtskontrollen 4 Unzufriedenheit mit der eigenen Figur und dem Aussehen 4 Ausgeprägter Bewegungsdrang 4 Zunehmendes Interesse für Nahrungszusammensetzung und Kaloriengehalt 4 Weglassen von Hauptmahlzeiten 4 Zunehmende Leistungsorientierung und Isolation 4 Primäre oder sekundäre Amenorrhö
40.4.1 Komorbidität
Durch die Bedrohlichkeit der Magersucht werden weitere psychische Störungen vielfach übersehen. Dabei ist es für die Behandlung der Magersucht ausgesprochen wichtig, ob zusätzlich eine Zwangserkrankung, eine soziale Phobie oder eine Depression vorliegt. In jedem Fall sollten komorbide Störungen bereits bei der Anamnese erfragt werden, wobei es auch um die Reihenfolge des Auftretens der Störung geht. Bei einer komorbiden Störung, die erst nach der Gewichtsabnahme aufgetreten ist, ist die Prognose für eine Besserung mit Normalisierung des Essverhaltens und des Gewichtes günstiger. Bestanden die Symptome schon vor der Magersucht, muss im Allgemeinen die komorbide Störung zusätzlich behandelt werden (z. B. Expositionsbehandlung bei komorbiden Zwangssymptomen).
725 40.5 · Therapeutisches Vorgehen
40.4.2 Somatische Komplikationen
Die Magersucht ist immer noch die psychische Störung mit der höchsten Mortalität. Aus diesem Grunde bedürfen magersüchtige Patientinnen immer einer medizinischen Betreuung. Im Gegensatz zu z. B. Patienten mit Angststörungen werden somatische Symptome wie Erschöpfung, Kältegefühl, Konzentrationsstörung, Muskelschwäche, Schwindel etc. von den Patientinnen oft nicht kommuniziert oder verleugnet. Der Therapeut sollte die Patientin in jedem Fall ausführlich danach befragen. Patienten mit Purging-Typ verharmlosen nicht selten aus Scham die Häufigkeit ihres Erbrechens oder einen Abführmittelmissbrauch.
Eine stationäre Behandlung essgestörter Patienten wird notwendig 4 bei medizinischen Komplikationen; 4 wenn das Gewicht bei Magersucht einen bestimmten Schwellenwert unterschreitet, der gemeinsam vom Arzt und psychologischen Therapeuten festgelegt werden soll; 4 wenn eine bedeutende Gewichtsabnahme in sehr kurzer Zeit erfolgt ist; 4 wenn Suizidgefahr besteht (eine der häufigsten Todesursachen bei Magersucht ist der Suizid!); 4 wenn die Familie in ihren Ressourcen erschöpft ist; 4 wenn eine Komorbidität mit weiteren schweren psychischen Störungen vorliegt, wie z. B. Depressionen, Zwangsstörungen.
Bedeutende somatische Veränderungen bei Magersucht 5 Äußeres Erscheinungsbild – Kalte, oft bläulich verfärbte Hände und Füße sowie marmorierte Haut – Haarausfall – Schwellung der Speicheldrüsen (bei Erbrechen) – Karies (bei Erbrechen) – Verzögerte Pubertätsentwicklung und vermindertes Wachstum 4 Veränderungen des Blutes und des Stoffwechsels – Verminderung von weißen und roten Blutkörperchen (Leukopenie, Anämie) – Elektrolytstörungen (insbesondere Verminderung des Kaliums) (ggf. lebensgefährlich!) – Erniedrigung des Blutzuckers (gefährlich!) – Erhöhung der Leber- und Bauchspeicheldrüsenenzyme und der harnpflichtigen Substanzen – Unterfunktion der Schilddrüse 6
4 Weitere – Herzrhythmusstörungen (EKG-Veränderungen, möglicherweise lebensgefährlich!) – Zu langsamer Herzschlag (Bradykardie) – Niedriger Blutdruck – Osteoporose – (Pseudo-)Atrophie des Gehirns
Die meisten Veränderungen, aber nicht alle, bilden sich mit Gewichtszunahme bzw. mit Normalisierung des Essverhaltens zurück. Die starvationsbedingten Veränderungen der Hirnstruktur haben z. T. schwerwiegende neuropsychologische Folgen, z. B. für Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis.
40.4.3 Fragebögen und Interviewverfahren
Zur Diagnostik und Verlaufsbeurteilung von Anorexia und Bulimia nervosa eignet sich das »Strukturierte Interview für Anorexia und Bulimia nervosa« (SIAB; Fichter u. Quadflieg 1999), welches DSM-IV- und ICD-10-Kriterien der Essstörungen, Komorbidität und den Schweregrad der Essstörung erfragt. Zur Selbstbeurteilung werden der Fragebogen für Essstörungen (»Eating Disorder Inventory II«; Thiel et al. 1997), der Fragebogen über Einstellung zum Essen (»Eating Attitudes Test«, EAT, Garner et al. 1982) sowie das deutsche Verfahren »Anorexia nervosa-Inventar zur Selbstbeurteilung« (ANIS, Fichter u. Keeser 1980) verwandt. Darüber hinaus empfiehlt es sich, spezielle Fragebogenverfahren für die Diagnostik depressiver, zwanghafter und ängstlicher Symptome einzusetzen.
40.5
Therapeutisches Vorgehen
40.5.1 Übersicht
Die Therapie der Anorexia nervosa ist mehrdimensional und richtet sich nicht nur an die Patienten selbst, sondern auch an die Familie.
Bausteine einer mehrdimensionalen Therapie bei Anorexia nervosa 4 Somatische Rehabilitation und Psychoedukation, insbesondere Ernährungstherapie 4 Individuelle psychotherapeutische Behandlung 4 Einbeziehung der Familien 4 Behandlung der Komorbidität
40
726
40
Kapitel 40 · Anorexia nervosa
Beachtet werden muss, dass ein programmatisches Vorgehen (z. B. nach einem verhaltenstherapeutischen Konzept) im Zustand der Kachexie und/oder bei kindlicher/jugendlicher Patientin) kaum möglich ist. Bei niedrigem Gewicht oder ausgeprägtem Gewichtsverlust stehen die somatischen Probleme und die Gewichtsrehabilitation im Vordergrund. Patienten im akuten Hungerzustand sind nicht in der Lage, eine Problem- oder Verhaltensanalyse durchzuführen. Meist sind ihre Gedanken zentriert auf Gewicht und Essen, Introspektions- und Konzentrationsfähigkeit sind in dieser Situation herabgesetzt. Zu Beginn der Behandlung steht der Beziehungsaufbau zwischen Therapeut und Patientin im Vordergrund. Auch wenn der Therapeut nicht auf die vielfach unrealistischen Forderungen der Patientin eingehen kann (»Ich muss jeden Tag eine Stunde joggen«, »Mehr als vier Äpfel am Tag kann ich nicht essen«), muss der Patientin das Gefühl vermittelt werden, dass der Therapeut sie im Kampf um ein gesünderes und altersentsprechenderes Leben unterstützt und ernst nimmt. Vor allem zu Beginn der Behandlung hat es sich bewährt, der Patientin den Status einer Kranken zuzuweisen und ihr die durch das Fasten und die Gewichtsabnahme bedingten somatischen Änderungen aufzuzeigen (z. B. Kälteempfindlichkeit, Schwindel bei niedrigem Blutdruck, Völlegefühl schon nach kleineren Mahlzeiten). Während viele Patientinnen allgemeine Erkundigungen nach Befindlichkeit und Gesundheit ausweichend beantworten, sind spezifische Fragen, die der Patientin deutlich machen, dass sich der Fragende mit der Essstörung auskennt, hilfreicher (»Ist Dir häufiger kalt als früher?«, »Bist Du beim Sport noch so fit wie früher?«, »Triffst Du Dich noch so häufig mit Deinen Freundinnen wie vor einem Jahr?«, »Hat sich Deine Stimmung verändert?«). Auch im Verlauf der Therapie ist die Unterstützung und Ermunterung der Patientin von hoher Wichtigkeit. ! Viele Betroffene verlieren während der langwierigen Behandlung den Mut und bedürfen regelmäßig der Bestätigung ihres Therapeuten. Eine intensive und warmherzige psychotherapeutische Beziehung ist daher unerlässlich für die Behandlung jugendlicher anorektischer Patienten!
Dies wird auch durch eine jüngere Studie belegt, in der ausschließlich medikamentös behandelte magersüchtige Patienten ihre Mitarbeit schon nach wenigen Wochen einstellten, wohingegen die Kombination mit Psychotherapie (in diesem Fall kognitive Verhaltenstherapie) die Compliance deutlich verbesserte (Halmi et al. 2005). Aus Sicht der Autoren gehören Gewichtskontrolle und Psychotherapie in dieselbe Hand. Ein psychologischer Psychotherapeut kann eine Waage in seiner Praxis aufstellen und sich ggf. mit einem Mediziner beraten. Das »Arzt-Psychotherapeuten-Kombinationsmodell« unterstützt die dichotome Einstellung vieler magersüchtiger Patienten, Therapeuten in »gute« und »böse« einzuteilen und einerseits
vordergründig eine Bereitschaft zur Bearbeitung ihrer Probleme zu zeigen, andererseits aber jede noch so geringe Gewichtszunahme zu verweigern. Wird aufgrund einer ausgeprägten Gewichtsabnahme eine stationäre Therapie erforderlich, sollte sie durch ambulante Vorgespräche vorbereitet sein. Eine stationäre Aufnahme gegen den Willen der Patientin (in Deutschland nach § 1631b BGB, Unterbringung mit Freiheitsentzug) ist nach einer entsprechenden Aufklärung und Information unserer Erfahrung nach fast nie erforderlich, auch wenn Krankheitseinsicht nicht oder nur begrenzt vorhanden ist. Viele Patientinnen sind aufgrund ihrer Gewichtsphobie und Körperschemastörung der Meinung, sich normal zu verhalten. Mangelnde Krankheitseinsicht darf – wie leider immer noch häufig praktiziert – kein Grund für die Verweigerung einer Behandlung sein.
40.5.2 Psychoedukation, Ernährungsberatung
und somatische Rehabilitation Die Gewichtsrehabilitation impliziert eine Auseinandersetzung mit Ernährung und Essverhalten. In empirischen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass anorektische Patienten genau über den Kaloriengehalt einzelner Nahrungsmittel Auskunft geben können, ansonsten aber wenig Wissen über gesunde Ernährung und notwendige Nahrungsbestandteile aufweisen. Ernährungsanamnese und Ernährungsprotokoll. Am An-
fang von Psychoedukation und Ernährungsberatung steht die Ernährungsanamnese und ein Ernährungsprotokoll. Die Ernährungsanamnese erfragt die Art der bisher eingehaltenen Diät (z. B. Vegetarismus), die Menge des Essens, die Frequenz, den Ablauf und situative Besonderheiten von Essanfällen und Erbrechen, die Einstellung zum eigenen Körper (»Finde ich mich hässlich!? An einigen Stellen immer noch zu dick?«) sowie den üblichen Tagesablauf der Patientin. Bei der ambulanten Behandlung bietet sich das Führen eines Ernährungstagebuches an, in das die Betroffene die von ihr verzehrten Nahrungsmittel (inklusive Süßigkeiten und Getränke) für einen begrenzten Zeitraum (z. B. bis zur nächsten Therapiestunde) notieren soll. Essensplan. Auf der Basis des Ernährungstagebuches wird mit der Patientin ein Essensplan erarbeitet, der im ambulanten Rahmen fünf, bei stärkerem Gewichtsverlust sechs Mahlzeiten umfassen sollte. Im stationären Setting muss – bei meist stärkerer Kachexie – erst ein Nahrungsaufbau erfolgen mit langsamer Steigerung der täglich empfohlenen Kalorienzahl. In den Essensplan sollten auch sog. »verbotene Speisen« integriert werden, die sich die Patientin, z. B. aufgrund des höheren Fett- oder Kohlenhydratgehaltes, nicht gestattet. Dies mindert Gefühle der Entbehrung und reduziert die Wahrscheinlichkeit von Heißhungerattacken. Spezifische
727 40.5 · Therapeutisches Vorgehen
Diätspeisen (z. B. Lightprodukte) sollen nicht in den Essensplan aufgenommen werden; die Patientinnen sollen vermeiden, große Mengen an Flüssigkeit vor oder während des Essens zu sich zu nehmen, da dies ein falsches Gefühl der Sättigung vermittelt und das Erbrechen erleichtert. Bei besonders langsamem und wählerischem Essen, aber auch bei ausgeprägten Essensritualen und Zwängen empfiehlt sich ein sog. »Modellessen« mit Betreuer, in der dieser der Betroffenen zeigt, wie groß die von einer Gabel aufgenommene Portion sein sollte, dass ein Brot nicht »rund« gegessen wird, ein Apfel in vier und nicht 16 Stücke aufgeteilt wird etc. Gewichtszunahme. Die Leitlinien zur Behandlung von Essstörungen empfehlen eine wöchentliche Gewichtszunahme von 500 bis 1000 g bis zum Zielgewicht (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychososomatik und Psychotherapie, im Druck). Im ambulanten Rahmen ist eine Gewichtszunahme von ca. 300 g/Woche realistisch. Das Zielgewicht sollte der 25. altersspezifischen BMI-Perzentile oder dem Gewicht entsprechen, bei dem die Menstruation wieder einsetzt. Dabei ist es sinnvoll, das Zielgewicht nicht gleich zu Beginn der Behandlung zu besprechen, da die zu bewältigende Gewichtszunahme vielen Patientinnen als unüberwindbare Hürde erscheint. Die Gewichtszunahme wird mit Hilfe der sog. »Gewichtstreppe« verstärkt, d. h. dass das Erreichen bestimmter Gewichtsmarken mit Vergünstigungen verbunden ist, z. B. Besuch der Klinikschule, Besuch von Freunden oder Wochenendbesuche zu Hause. Auch im Rahmen der ambulanten Therapie können Verstärker eingesetzt werden, z. B. Wiederaufnahme von regelmäßigen Sportaktivitäten etc. Die Gewichtszunahme sollte kontinuierlich und nicht zu schnell erfolgen. Im Rahmen einer zu rapiden Gewichtsabnahme kommt es bei essgestörten Patienten zu einem ausgeprägten Anstieg von Leptin (7 Abschn. 40.2.1), welches möglicherweise eine Appetitverminderung und erneuten Gewichtsverlust bewirkt (Holtkamp et al. 2004).
40.5.3 Einzelpsychotherapie
Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Störungsmodell und Therapie Die Entwicklung eines individuellen Störungsmodells als Basis der kognitiven Verhaltenstherapie ist oft erst nach partieller Gewichtsrehabilitation im Verlauf der Therapie möglich. Dabei werden typische, mit einer Essstörung verbundene dysfunktionale Gedanken hinterfragt, die sich mit der zentralen Bedeutung von Figur und Gewicht für das Selbsterleben und das Selbstwertgefühl der Betroffenen beschäftigen. Untersuchungen zur Ätiologie und Komorbidität (s. oben) haben deutlich gemacht, dass es sich bei anorektischen Patienten in der Mehrzahl um ängstliche und selbstunsichere Jugendliche handelt. Die individuelle Geschichte zeigt vielfach auf, dass den Patientinnen erst im
Rahmen einer Gewichtsabnahme die Aufmerksamkeit und Zuwendung zuteil wird, die sie sich schon lange wünschen. Die Gewichtsabnahme kann zufällig auftreten (z. B. im Rahmen eines gastrointestinalen Infektes oder einer Grippe), in anderen Fällen wird sie bewusst intendiert (z. B. im Rahmen eines gemeinsamen Gewichtsreduktionsprogramms mit Mutter oder Freundin). Während die »Diätpartner« schon früh scheitern, erleben sich die Patientinnen als Ichstark und diszipliniert und ernten dafür Lob und Bewunderung von ihrer Umgebung. Letzteres trifft besonders für die Peer-Group zu, da die Patientin ein sozial und kulturell etabliertes Schönheitsideal (Schlanksein) erfüllt. Hieraus entwickelt sich bei der Genese der Anorexia nervosa ein Teufelskreis, in dem die Patientinnen jedwedem Problem oder Konflikt mit einer Gewichtsabnahme begegnen. Sie entwickeln oft ein durch immer mehr selbst auferlegte Regeln bestimmtes restriktives Essverhalten, wobei Regelverletzungen tiefe Schuldgefühle verursachen, die ihrerseits weiter zu einer Schwächung des Selbstwertgefühls beitragen (s. auch Ruhl u. Jacobi 2005). Viele (insbesondere junge) Patientinnen treten in einen Dialog mit der Magersucht, die nicht selten als Maßstab für ein diszipliniertes und sozial erwünschtes Verhalten personifiziert wird (. Abb. 40.2).
Therapeutisches Vorgehen Die Patientin wird in einem ersten Schritt ermutigt, zwei Briefe an die Magersucht zu schreiben, einen Brief mit der Anrede »Liebste Magersucht, Du bist meine beste Freundin, weil …« und einen zweiten Brief mit der Anrede »Hallo Magersucht, Du bist meine ärgste Feindin, weil …«. Im Sinne einer Pro- und Kontraliste kann die Patientin in Briefform ihre Gedanken, die für die Aufrechterhaltung einer Essstörung sprechen, niederlegen, muss sich aber auch mit kritischen Argumenten auseinandersetzen. Im zweiten therapeutischen Schritt wird versucht, gemeinsam mit der Patientin ihre fixierten Denkschemata bezüglich Figur und Gewicht zu überprüfen und durch stärker an der Realität orientierte Gedanken zu ersetzen. Hier hilft vielfach der aus der Therapie der Depression entnommene sokratische Dialog.
Beispiel Dysfunktionale Gedanken P: Heute morgen habe ich 300 g zugenommen, jeder wird denken, wie fett und unförmig ich bin. Th: Kannst Du erkennen, wenn Deine Freundin 300 g zugenommen hat? Hältst Du sie dann auch für dick und unförmig? P: Entweder habe ich meine Essensmenge und mein Gewicht voll im Griff, oder ich bin ein völliger Versager. 6
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Kapitel 40 · Anorexia nervosa
. Abb. 40.2. Störungsmodell bei Anorexia nervosa
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Th: Beurteilst Du andere Menschen auch nur aufgrund ihrer Figur? Gibt es andere Eigenschaften als das Gewicht, die einen anderen Menschen attraktiv machen? P: Sobald ich ein Stück Kuchen esse, nehme ich sofort 1 kg zu. Th: Könntest Du das heute Nachmittag ausprobieren? Wenn Du Dich ausreichend ernährst, erhöht Dein Körper den Grundumsatz, und Du kannst Dir Süßigkeiten und Kuchen erlauben.
unabhängig vom Dünnsein – sie Zuwendung und Aufmerksamkeit von anderen Menschen erhält, z. B. durch Verbalisierung eigener Wünsche, Zugehen auf andere, Beharrlichkeit bei der Durchsetzung eigener Vorstellungen. In einigen Fällen ist die Angst vor einer Gewichtszunahme und damit der Verzicht auf die Krankenrolle so groß, dass das bisher beschriebene therapeutische Vorgehen nicht greift. In solchen Fällen hat es sich als hilfreich erwiesen, die Gewichtszunahme als ein Experiment auf Zeit anzusehen, welches eher eine Möglichkeit für neue Erfahrungen als eine unwiderrufliche Veränderung beinhaltet (Vitousek 2002).
40.5.4 Gruppentherapeutische Maßnahmen
Problematischer sind oft die tief verwurzelten Ideen der eigenen Unfähigkeit [»Ich tauge zu nichts«, »Ich bin dumm«, »Ich habe kein Geschenk (keinen Anruf, keinen Besuch) verdient, weil ich nichts wert bin«]. Hier sollte mit der Patientin überlegt werden, welche Eigenschaften sie neben dem Dünnsein an sich schätzt und welche andere an ihr mögen. Letzteres lässt sich vor allem im gruppentherapeutischen Setting klären (7 Abschn. 40.5.4). Der starke Wunsch vieler essgestörter junger Mädchen nach Anpassung und Konfliktfreiheit erweist sich als Hindernis in der Therapie. In Form von interaktiven Übungen kann die Patientin lernen, dass eine von ihr oder anderen geäußerte Kritik nicht zu dem von ihr befürchteten Beziehungsabbruch führt. Bei fortgeschrittener Therapie wird in einem dritten Schritt mit der Patientin überlegt, mit welchen Mitteln –
Gruppentherapeutische Maßnahmen können im Rahmen der Psychoedukation eingesetzt werden, z. B. bei der Ernährungsberatung. Sie können sich aber auch auf essstörungstypische dysfunktionale Annahmen (s. oben) beziehen (z. B. kritiklose Akzeptanz des Schlankheitsideals, Bewertung der eigenen Figur). Im Austausch mit gleichaltrigen Betroffenen gelingt den Patientinnen eine Relativierung der eigenen Probleme oft besser als in der individuellen Therapie. Die Teilnahme ist allerdings erst nach ausreichender körperlicher Stabilisierung möglich, die auch eine Distanzierung von ausschließlich auf Essen und Gewicht zentrierten Gedanken erlaubt. Vorteilhaft sind Gruppentherapien, die einen themenorientierten Handlungsteil unter Einsatz von Material, Medien und Rollenspiel haben sowie
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einen anschließenden Gesprächskreis, in welchem die Teilnehmerinnen ihre eigenen Erfahrungen im Rahmen der vorausgegangenen Themenarbeit äußern können (s. auch Holtkamp et al. 2006b). Mögliche Inhalte sind die Bereiche Figur und Aussehen, Essen und Ernährung, aber auch Schule, Familie und Freundschaft bzw. Liebe. Es empfiehlt sich, dass die Patientinnen auch konfliktträchtige Themen oder die Durchsetzung eigener Wünsche im Rollenspiel üben. Die Meinung und Einschätzung von Gleichaltrigen ist für Jugendliche außerordentlich wichtig – in unserer Langzeitstudie führte ein großer Teil der Patienten den Heilungserfolg vorwiegend auf den intensiven Austausch mit gleichaltrigen Mitpatienten zurück (Herpertz-Dahlmann 1991). Gruppentherapeutische Maßnahmen sind weiterhin ein wichtiger Bestandteil der ambulanten Behandlung, insbesondere nach einer stationären Therapie, wenn sich die Gruppenmitglieder aus dem stationären Setting kennen.
40.5.5 Medikamentöse Behandlung
Unter der Annahme einer möglichen gemeinsamen nosologischen Entität von Magersucht und affektiven Störungen wurden Antidepressiva bei der Behandlung der Magersucht eingesetzt. Dabei erwiesen sich weder Trizyklika (Amitryptilin und Clomipramin) noch Mood-Stabilizer (Lithium) als wirksam. Auch selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) zeigten im Stadium der Gewichtsabnahme und Kachexie keinen ausreichenden Effekt. In einer viel zitierten amerikanischen Studie (Kaye et al. 2001) wurde die prophylaktische Wirkung eines SSRI (Fluoxetin) nach Gewichtszunahme über ein Jahr untersucht und ein positiver Effekt nachgewiesen. Der Aussagewert dieser Studie war jedoch durch die zahlreichen Drop-outs sowie eine kleine und hochselektive Stichprobe (viele Patienten hatten die Teilnahme verweigert) eingeschränkt. In einer neueren randomisierten, doppelblinden und placebokontrollierten Studie an zwei Behandlungszentren in den USA und Kanada wurden erwachsene Patienten mit 60 mg Fluoxetin oder Placebo über einen Zeitraum von bis zu einem Jahr behandelt. Zusätzlich erhielten alle Patienten eine kognitiv-behaviorale Psychotherapie. Zwischen beiden Gruppen konnte kein signifikanter Unterschied in Bezug auf den Heilungserfolg gefunden werden, so dass die Ergebnisse keine Evidenz für die Wirksamkeit von Fluoxetin als Rückfallprophylaxe bei Anorexia nervosa liefern (Walsh et al. 2006). In einer eigenen offenen Studie erhielten 19 Jugendliche mit Anorexia nervosa SSRI im Vergleich zu 13 nicht behandelten Patienten. Weder bei Entlassung noch 6 Monate danach ließ sich ein Effekt von SSRI auf die Essstörungssymptomatik, die Depression oder etwaige Zwangssymptome nachweisen (Holtkamp et al. 2005). Erste Fallstudien und offene klinische Untersuchungen mit atypischen Neuroleptika (z. B. Olanzapin, Risperidon und Quetiapin) zeigen einen positiven Effekt. Der Einsatz
erfolgte primär unter der Annahme, dass die gewichtsphobischen Gedanken bei Anorexia nervosa wahnhaft anmuten und eine häufige Nebenwirkung der Atypika eine Gewichtszunahme ist. Die meisten Erfahrungen liegen mit Olanzapin vor (Dunican u. Deldotto 2007). Eigene Erfahrungen verweisen darauf, dass nach erfolgreicher Gewichtsrehabilitation eine weitere (nicht nur erwünschte) Gewichtszunahme sowie das Auftreten bulimischer Attacken beachtet werden muss. Kontrollierte Studien zu Atypika bei Magersucht liegen bisher nicht vor.
40.5.6 Einbeziehung der Familie
Bei kindlichen und jugendlichen Anorexia-nervosa-Patientinnen sind familienorientierte Behandlungen am besten evaluiert und haben sich als wirksam erwiesen. Im Folgenden sollen sowohl psychoedukative Methoden für Eltern und Elterngruppen als auch familientherapeutische Interventionen im engeren Sinne genauer dargestellt werden.
Psychoedukation für Eltern Psychoedukationsgruppen werden sowohl für Eltern ambulanter als auch stationärer Patientinnen angeboten (für eine Übersicht s. Hagenah u. Vloet 2005). Anlass für die Etablierung dieser Gruppen waren zunehmende Erkenntnisse zur Auswirkung des Starvationsprozesses auf das Krankheitserleben bei Magersucht, das sich nicht mehr allein durch intrapsychische Vorgänge erklären lässt, aber auch das immer wiederkehrende Erleben tiefer Schuldgefühle bei den Eltern, die sich negativ auf den Therapieverlauf bei der Patientin auswirken. In vielen Familien entwickeln sich bei Auftreten einer Magersucht starke emotionale Reaktionen, die Angst, Schulderleben, Gefühle des Versagens, Verzweiflung, Resignation und Wut umfassen. Diese Gefühle wurden durch einige therapeutische Schulen, die vor allem die Mutter als wesentliches krankheitsauslösendes Moment ansehen und die unkritische Übernahme dieser Theorien durch die Medien gefördert. So wurde z. B. der Begriff der »psychosomatic families« (Minuchin et al. 1978) u. a. für Familien anorektischer Patienten geprägt. Dementsprechend fanden Treasure et al. (2001) eine signifikante stärkere emotionale Belastung von Familienangehörigen erwachsener anorektischer Patientinnen als von Bezugspersonen von Psychosekranken. Zusätzlich zu der emotionalen Belastung der Familie durch die gravierende Erkrankung der Tochter verändert sich der alltägliche Ablauf. Die Essstörung nimmt Einfluss auf Koch- (Übergang auf fettarme Gerichte, Light- und Diätprodukte) und Essgewohnheiten. Die Familie nimmt die Mahlzeiten nicht mehr gemeinsam ein. Durch die Konflikte beim Essen fühlen sich die Geschwister beeinträchtigt und durch die Aufmerksamkeit, die der Schwester zuteil wird, benachteiligt. Einige Eltern beginnen, ihrer Tochter detektivisch nachzugehen, lesen ihre Tagebücher oder kontrol-
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Kapitel 40 · Anorexia nervosa
lieren ihr Zimmer, um Hinweise auf Erbrechen oder Abführmittelmissbrauch zu finden. Auf der Basis des Expressed-Emotion-Konzeptes haben Van Furth et al. (1996) aufgezeigt, dass ein hohes Maß an kritischen Kommentaren durch Familienmitglieder mit einem schlechteren Behandlungsergebnis einherging (s. auch Eisler et al. 2000). Mit dem Angebot einer Psychoedukationsgruppe versuchen wir, die Eltern über Entstehungsmodelle der Essstörungen und Einflussfaktoren auf den Krankheitsverlauf zu informieren und damit die Haltung der Eltern zu versachlichen. Ein verbessertes Wissen über die Störung soll die Eltern unterstützen, sich aus ihrer vermeintlichen Verantwortung für deren Verursachung zu lösen und statt-
dessen die Rolle eines Kotherapeuten zu übernehmen. Darüber hinaus sollen die Behandlungsmaßnahmen für die Bezugspersonen transparent gemacht werden. Das Psychoedukationsprogramm umfasst fünf Sitzungen à 90 Minuten. Die Eltern erfahren bereits vor der Teilnahme, dass es sich nicht um eine therapeutische oder Selbsterfahrungsgruppe handelt. Es werden Handouts verteilt, auf denen die vermittelten Informationen zusammengefasst sind. Jede Psychoedukationseinheit umfasst unterschiedliche Themenbereiche (7 Übersicht). Es wird die Haltung vertreten, dass die Familie nicht als Ursache der Störung, wohl aber als wirksame Ressource für deren Überwindung angesehen wird.
Psychoedukationsprogramm für Eltern: Themen der einzelnen Sitzungen. (Hagenah et al. 2003) 4 1. Termin: – Vorstellung der Teilnehmer und Referenten – Informationen zur Anorexia nervosa: – Symptomatik – Medizinische Komplikationen (z. B. Osteoporose als Spätfolge) – Häufigkeit und Komorbiditität – Ätiologie (Genetik, Serotoninsystem, individuelle Persönlichkeitsmerkmale, soziokulturelle Rahmenbedingungen) – Auswirkungen auf die Eltern/Familie 4 2. Termin: – Informationen zur Bulimia nervosa (»Teufelskreis der Bulimie«, Komplikationen und Komorbidität) – Vorstellung des ambulanten und stationären Behandlungskonzepts für Essstörungen – Indikation und Ziele der stationären Behandlung – Phasenmodell der Behandlung (I): – Körperliche Stabilisierung – Spezifische Essstörungstherapie (»Planessen«, »Modellessen«, Gewichtskontrollen) – Psychotherapie und unterstützende Therapiebausteine 4 3. Termin: – Ernährungsberatung durch die Ernährungswissenschaftlerin der Abteilung: – Zusammensetzung einer ausgewogenen Ernährung
Familientherapie Familientherapeutische Sitzungen im engeren Sinne sind dann angezeigt, wenn familiäre Konflikte, eine Veränderung der familiären Struktur oder der Rollenverteilung von Bedeutung sind. Hier sind bei Magersucht vor allem Geschwisterrivalität, Autonomiekonflikte (beim Übergang der Patientin vom Kinder- in den Jugendlichen- oder Erwachsenenstatus) sowie eine Trennung der Eltern zu nennen. Bei Trennung oder Scheidung wird die Erkrankung an
– Grundumsatz – Starvationsbedingte Veränderungen – Wachstumsspezifische Aspekte 4 4. Termin: – Aufgreifen von Fragen aus Teil 2 und 3 – Phasenmodell (II): – Ergotherapie als Therapiebaustein – Psychosoziale Integration: Teilnahme an Aktivitäten, Essen in der Gruppe, außerhalb der Station, mit Familie auf der Station, bei Freizeitaktivitäten – Vorbereitung auf die Entlassung: zunehmende Förderung von Aktivitäten außerhalb der Station (externer Schulbesuch, Übernachtung zu Hause, Essen mit der Familie, bei Freizeitaktivitäten) 4 5. Termin: – Grundregeln im Umgang mit Problemen, z. B.: – Körperschemastörung – Gewichtsphobie – Restriktives Essen – Weiterbehandlung nach stationärer Entlassung: – Ambulant, Tagesklinik – Eingliederungshilfen nach § 35a KJHG – Dauer der Nachbehandlung – Wiederaufnahmekriterien – Feedback-Runde und Diskussion offener Fragen und Anregungen der Eltern
Magersucht von den Betroffenen nicht selten als Möglichkeit erlebt, die Eltern in der gemeinsamen Sorge wieder einander näherzubringen. Für die therapeutischen Sitzungen gelten die von Mattejat (2006b) differenzierten Bausteine der kognitiv-behavioralen Familientherapie mit Jugendlichen des introversiven Typus (s. Übersicht). Aus der Befürchtung heraus, den anderen zu verletzen, gehen die Familienmitglieder oft übervorsichtig miteinander um. Sie versuchen, den Erwartungen der jeweils anderen gerecht zu
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werden, ohne dass diese explizit ausgesprochen werden. So entstehen häufig unterschwellige Konflikte, die einen gereizten und versteckt-aggressiven Umgangston zur Folge haben können. Probleme oder unterschiedliche Meinungen werden nicht offen miteinander diskutiert. Ziel der gemeinsamen Sitzungen ist es daher, Probleme und strittige Punkte auszusprechen, z. B. im Rahmen eines einmal wöchentlich stattfindenden »Familienrates«.
Kognitiv-behaviorale Familientherapie mit Jugendlichen: Introversiver Typus. (Mattejat 2006b) 1. Erklärung von Regeln, wie die Familienmitglieder produktiv miteinander kommunizieren können; der Einzelne wird ermutigt, »seine« Sicht der Dinge darzustellen. 2. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen, Interpretationen und Bewertungen werden durch perspektivische Gesprächsführung, systemische Fragen (»Welche Bedeutung und Funktion hat dieses Verhalten/diese Ansicht für die Familie?«) verdeutlicht. 3. Die jeweiligen Einstellungen und Erwartungen werden durch perspektivische Gesprächsführung, systemische Fragen und kognitive Methoden wie sokratischen Dialog, Realitätstests usw. überprüft und ggf. in Frage gestellt. 4. Die Familienmitglieder lernen, Probleme in einem neuen Licht zu sehen (Reframing/Reattribution), ggf. auch Nutzung von »reflecting team«. Hierdurch werden Einstellungsänderungen möglich.
40.5.7 Behandlung der Komorbidität
Die häufigsten komorbiden Erkrankungen bei Anorexia nervosa sind depressive Verstimmung, Zwangssymptome und Angststörungen (7 Abschn. 40.2.3). Ein Teil dieser Symptomatik wird durch das Hungern hervorgerufen oder verstärkt. Dies gilt insbesondere für die depressive Symptomatik, die sich vielfach nach Gewichtszunahme zurückbildet. Eine Gewichtsrehabilitation sollte daher erst abgewartet werden, bevor mit einer spezifischen antidepressiven Therapie (psychotherapeutisch oder medikamentös) begonnen wird. Auch bei zwanghaften Verhaltensweisen sollte der Effekt der Gewichtszunahme abgewartet werden, wenn auch bei einigen anorektischen Patientinnen die Zwangssymptomatik als eigenständige Störung bestehen bleibt. In diesen Fällen empfiehlt sich auch die für Zwangsstörungen adäquate Behandlung, d. h. Exposition mit Reaktionsverhinderung und kognitive Therapien, ggf. auch eine medikamentöse Behandlung. Vielfach besteht vor oder nach der Erkrankung an Magersucht eine soziale Phobie (7 Abschn. 40.2.3). Diese bezieht sich sowohl auf essensabhängige als auch auf essens-
unabhängige Situationen. Im Rahmen eines sozialen Kompetenztrainings erstellen wir für die Patienten ein individuelles Übungsprogramm, das einerseits Essen in der Öffentlichkeit beinhaltet (Mensa, Restaurant), andererseits aber auch die Bewältigung von essensunabhängigen Alltagssituationen (Besuch eines Jugendclubs oder Tanzkurses, Busfahren, Konto eröffnen etc.). Wird während der Therapie keine ausreichende Verbesserung der oft ausgeprägten sozialen Ängste erreicht, trägt dies zu einem Rückfall bei, da sich die Patienten erneut auf Figur und Gewicht als einzige Ausdrucksmöglichkeit ihrer Selbstbehauptung und -akzeptanz verlegen.
40.5.8 Ergänzende Maßnahmen
Im Zustand ausgeprägter Kachexie bzw. zu Beginn des stationären Aufenthaltes gestaltet es sich oft schwierig, eine therapeutische Beziehung zu der essgestörten Patientin herzustellen. Hierfür eignen sich bei einigen Patientinnen im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes nonverbale Therapieformen, wie z. B. Ergo- oder Kunsttherapie, Musiktherapie und Entspannungstraining. Die Wirksamkeit dieser Verfahren ist bisher nicht anhand von Evidenzkriterien überprüft worden. Viele Patientinnen äußern aber, dass sie diese Therapiemethoden als sehr hilfreich erleben. Auch dem ausgeprägten Leistungsanspruch kann Patientinnen mit Essstörungen in sog. Kreativtherapien begegnet werden (s. auch Pfeiffer et al. 2005). Bisher liegen auch keine evidenzbasierten Studien zur Körper- und Entspannungstherapie bei Anorexia nervosa vor (s. aber Vocks u. Legenbauer 2005). In vielen stationären Settings werden nichtstandardisierte Übungen wie Videofeedback, Spiegelkonfrontation oder computergestützte Verfahren, mit deren Hilfe die Figur der Patientin verändert werden kann, durchgeführt. Viele Patienten erleben es auch als hilfreich, innerhalb der Gruppentherapie über ihre veränderte Körpermasse im Rahmen der Gewichtszunahme zu sprechen und ein Feedback von den anderen Patienten zu erhalten. Darüber hinaus werden positive Effekte der kognitiv-behavioralen Körperbildtherapie mit Spiegelbildkonfrontation beschrieben (Vocks et al. 2008). Wir selbst verfügen hier nicht über ausreichende Erfahrungen.
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Fallbeispiel: »Einzigartig ohne Anorexie«
40.6.1 Vorstellungsanlass und Vorgeschichte
Die 15-jährige Anna wurde bereits zum zweiten Mal in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz vorgestellt. Nach der ersten Vorstellung vor fast einem Jahr war sie mit der Diagnose einer Anorexia nervosa für 3 Monate stationär behandelt worden. Damals hatte sie zunächst gewisse
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Nahrungsmittel, z. B. Fleisch, kategorisch ausgeschlossen, immer weniger und seltener, schließlich gar nicht mehr gegessen und massiv an Gewicht verloren. Bei der ersten Aufnahme hatte die zu dem Zeitpunkt 14-Jährige schließlich 41,8 kg bei 1,62 m gewogen (BMI: 15,64 kg/m2; 2. Altersperzentile). Das Entlassungsgewicht hatte nach 3-monatiger stationärer Behandlung 48,0 kg (BMI: 17,96 kg/m2; 19. Perzentile) betragen. Bei Unterschreitung von 46,5 kg wurde die Wiederaufnahme vereinbart. Bis vor Kurzem hatte sich ihr Körpergewicht oberhalb dieser Gewichtsgrenze gehalten. Eine ambulante Therapie hatte sie in größeren Abständen durchgeführt. In der letzten Zeit jedoch habe sie sich gewehrt, weiter dorthin zu gehen und die Therapie für nicht mehr erforderlich gehalten. Den Eltern sei nun aufgefallen, dass Anna ständig unterwegs sei und zunehmend weniger esse. Weiter verbringe sie immer mehr Zeit auf Internetseiten zum Thema Magersucht. Eine Gewichtskontrolle ergab ein aktuelles Gewicht von 46,2 kg (BMI: 17,6 kg/m2; 8. Perzentile). In der Exploration berichtete die Patientin, dass sie sich ständig mit ihrer Krankheit beschäftige. Das Zusammensein mit den Eltern sei schwierig und konfliktgeladen. Vor allem mit ihrem Vater gebe es gehäuft massive Streitigkeiten. Darüber hinaus sei die Stimmung deutlich schlechter geworden. Sie wisse, dass sie nicht gesund sei, aber auch kein Interesse habe, gesund zu werden. Sie warte darauf, 18 Jahre alt zu werden und dann selbstbestimmt abnehmen zu dürfen. Ihr Ziel sei ein Gewicht von 26 kg. Im weiteren Gesprächsverlauf gab sie dann an, sie könne verstehen, dass ihre Eltern sich um sie und ihre Gesundheit sorgten. Ihnen zuliebe sei sie bereit, sich nochmals stationär behandeln zu lassen. Die Patientin wurde auf freiwilliger Basis auf eine jugendpsychiatrische Station aufgenommen.
40.6.2 Familienanamnese
Der Vater arbeite als Informatiker. Er sei ein sehr engagierter, teilweise impulsiver Mensch. Eine Schwester des Vaters sei in der Jugend an einer Anorexie erkrankt gewesen und im Alter von 30 Jahren an einer Leberzirrhose in Folge einer Alkoholerkrankung verstorben. Die Kindsmutter sei im Alter von 5 Jahren an Polio erkrankt und leide in Folge an einer starken Gehbehinderung. Im Alter von 17 Jahren habe sie an einer Pubertätsmagersucht sowie einer depressiven Episode, einschließlich Suizidversuch mit Tabletten, gelitten. Mit 30 Jahren, als ihre Tochter Anna etwa 9 Monate alt gewesen sei, sei es bei ihr zu einer Erstmanifestation einer paranoiden Schizophrenie gekommen, die medikamentös behandelt worden sei. Nach dem Absetzen des Medikamentes nach 3 Jahren sei es zu einem Rückfall gekommen. Seit 1992 sei sie frühberentet. Anna habe einen 4 Jahre älteren Bruder. Als jüngere Tochter nehme sie für beide Eltern einen sehr wichtigen Stellenwert ein.
40.6.3 Diagnostik
Im Kontakt wirkte Anna zu Beginn der Behandlung zwar abweisend und ablehnend gegenüber dem erneuten Klinikaufenthalt, schilderte jedoch ihre Gedankengänge zur Erkrankung offen und ehrlich. Bei Kachexie bestand eine auffallende Akrozyanose im Bereich aller Extremitäten, des Weiteren Hypothermie mit einer Körpertemperatur von 35,5°C. Die Patientin litt unter deutlich sichtbarem Haarausfall. Der Laborbefund bei Aufnahme zeigte eine Hypokaliämie mit 2,9 mmol/l. Die testpsychologische Diagnostik ergab durchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten. Im »Eating Disorder Inventory II« (ED-II) zeigten sich klinisch auffällige Werte für die Skalen »Schlankheitsstreben«, »körperliche Unzufriedenheit«, »Ineffektivität«, »Perfektionismus« sowie »Askese«. Im »Satzergänzungstest für Jugendliche« (SET) gab Anna an, froh über den Gewichtsverlust zu sein und stolz darauf, so diszipliniert zu sein.
40.6.4 Behandlung und Verlauf
Anna wurde über einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten stationär sowie im Anschluss mehrere Monate ambulant behandelt. Grundlage für die Behandlung war ein bewährtes multimodales Behandlungskonzept bestehend aus: 4 Gewichtsmanagement einschließlich regelmäßiger Wiegetermine und Gewichtsstufenpläne mit individuell zugeschnittenen Verstärkern für erfolgte Gewichtszunahme; 4 Regelung von Kalorienzufuhr und Kalorienverbrauch mit dem Ziel einer wöchentlichen Gewichtszunahme um 500–1000 g durch Planessen, hochkalorische Trinkpäckchen, festgelegte Ruhezeiten und bei niedrigem Gewicht eingeschränktem Bewegungsausmaß; 4 Ernährungstherapie mit Ernährungsberatung, Kochgruppe, Training des Essverhaltens, des auswärtigen Essens, des eigenständigen Portionierens und des freien Essens; 4 essstörungsspezifischen Gruppen, d. h. Psychoedukation, Ernährungsgruppe und Psychotherapiegruppe; 4 weiteren therapeutischen Gruppen, d. h. Ergotherapie, progressive Muskelrelaxation und soziales Kompetenztraining; 4 Psychoedukationsgruppe für die Eltern; 4 vorbereitende Maßnahmen auf die Entlassung in Form von Belastungserprobungen sowie Erstellen eines individuellen Wiederaufnahmevertrages. Hierein eingebettet fand in der stationären Phase zwei- bis dreimal wöchentlich, in der ambulanten Phase zunächst wöchentlich, später zweiwöchentlich kognitiv-verhaltenstherapeutische Einzeltherapie statt. Ein Schwerpunkt der einzeltherapeutischen Arbeit lag auf der kognitiven Um-
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strukturierung der irrationalen Grundannahmen zum Thema »Magersucht als Lifestyle«. War Anna zu Beginn gegenüber jeder Thematisierung ihrer Gedanken zu Gewicht und Figur noch sehr ablehnend, beschrieb sie im Verlauf zunehmend ambivalente Gefühle gegenüber den therapeutischen Interventionen. Später wurde sie dann immer engagierter, konnte sich auf vorgegebene therapeutische Interventionen gut einlassen und hatte schließlich zahlreiche eigene Ideen. Hier exemplarisch einige der angewendeten verhaltenstherapeutischen Techniken: 4 Nach dem Muster »Hallo Magersucht, Du bist meine größte Feindin, weil …« und »Liebe Magersucht, Du bist meine beste Freundin, weil …« schrieb Anna Briefe an ihre Erkrankung. Hierdurch gelang es ihr, die Erkrankung zu personifizieren und sich dadurch von ihr zu distanzieren. 4 Zu den Themen »Magersucht«, »Anna« und »Lifestyle« erstellte Anna Mindmaps (grafische Aufarbeitung des Begriffes und der damit verbundenen assoziierten Aspekte). Diese wurden über den gesamten Behandlungszeitraum jeweils kontinuierlich ergänzt und umgeschrieben. Hierbei zog Anna später auch Freunde als Unterstützung hinzu. So gelang es ihr, ihre Perspektive auf die Themen zu erweitern und zu objektivieren. . Abb. 40.3 zeigt Annas Mindmap zum Thema »Anorexie«. 4 Bei der Bearbeitung der Mindmaps und der Briefe an die Krankheit wurden die Funktionen der Erkrankung deutlich. Hierzu gehörten insbesondere »Lifestyle haben«, »attraktiv und glücklich sein«, »einzigartig sein«, »bewundert werden«, »Vorbild sein«, »andere beeinflussen können« und »geliebt werden«. 4 Die erarbeiteten Funktionen der Erkrankung wurden im sokratischen Dialog hinterfragt. Anna selber formulierte im Anschluss funktionale Gedanken zu den Themengebieten wie z. B.: »Ich werde durch die Anorexie . Abb. 40.3. Annas Mindmap zum Thema »Anorexie«
nicht schön für die anderen. Normale Menschen finden schlanke, aber nicht abgemagerte Menschen schön.« »Zum Hübschsein gehören auch Haare, Make-up, Anziehsachen, Gesicht und Ausstrahlung. Jemand, der wirklich glücklich und gesund ist, hat auch eine schönere Ausstrahlung.« »Menschen, die mich lieben, werden mich auch noch lieben, wenn ich gesund bin.« »Lifestyle an sich macht einen individuell. Außerdem ist es eine Richtlinie, wie man sein Leben geordnet leben kann. Die Variationen bestimmt man selber. Dadurch wird man einzigartig, und das muss nichts mit Krankheit zu tun haben, im Gegenteil, Anorexie ist gar nicht einzigartig.« 4 Zur Überprüfung der neu erarbeiteten, alternativen Gedanken wurden Verhaltensexperimente durchgeführt. Hier zwei Beispiele: 5 In der Fußgängerzone schätze Anna gezielt andere Menschen im Hinblick auf Attraktivität ein. Hierzu benutzte sie zunächst ihren herkömmlichen Maßstab »je schlanker, desto schöner«. Dann experimentierte sie mit neuen Maßstäben »je besser angezogen, desto schöner«, »je gesündere Ausstrahlung, desto schöner« usw. Im Anschluss stellte sie selber fest: »Ich glaube, so unattraktiv bin ich gar nicht; zum Glücklichsein könnte das reichen, aber eigentlich ist das auch gar nicht so wichtig wie Freunde und so was.« 4 Anna erklärte sich bereit, im Sinne eines Verhaltensexperimentes 2 Wochen lang das Gewicht oberhalb von 48 kg zu halten, um zu überprüfen, ob sie sich damit tatsächlich, wie von ihr angenommen, »fremd und daher unglücklich und depressiv« fühlen würde. Im Anschluss stellte sie fest, dass ihre Stimmung von vielen unterschiedlichen Einflussfaktoren, nicht nur – wie angenommen – vom Gewicht, abhängt.
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Kapitel 40 · Anorexia nervosa
4 In der Zeit unmittelbar vor der stationären Wiederaufnahme hatte Anna ein »Lifestyle-Buch« mit Texten und Bildern aus dem Internet sowie eigenen Tagebucheintragungen geführt. Kurz vor der Entlassung wurde mit ihr im Rahmen von Rückfallprophylaxe überlegt, wie sie sich von diesen Überlegungen symbolisch verabschieden könnte. In Absprache mit ihr wurde das Buch zunächst bei der Therapeutin gelagert. Zum Abschluss der gemeinsamen Therapiezeit wurde es auf ihren eigenen Wunsch hin verbrannt. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Behandlung Annas waren Eltern- bzw. Familiengespräche. Diese fanden in der stationären Phase zweiwöchentlich, in der ambulanten Phase vierwöchentlich statt. Auf Annas Wunsch hin wurde hierbei vor allem das Verhältnis zum Vater fokussiert. Sie gab an, sich von ihm »überbehütet« zu fühlen. Beide gaben an, sehr schnell und impulsiv auf den anderen zu reagieren und dann nicht mehr miteinander reden zu können. 4 In Gesprächen mit dem Vater wurde dessen Sorge um seine Tochter fokussiert, die er selber in Verbindung zu Erkrankung und Tod seiner Schwester sah. Er setzte sich als Ziel, Anna seine Sorgen um sie weniger deutlich zu zeigen und ihr mehr Freiräume zu gewähren. 4 Im Verlauf zeigte sich, dass der Vater nach dem Wegfall einer zeitintensiven ehrenamtlichen Tätigkeit sehr viel freie Zeit in seinem Alltag zu füllen hatte, die er dann mit Sorge um seine Tochter verbrachte. Als ihm dies deutlich wurde, organisierte er sich neue erfüllende Tätigkeitsfelder. Anna zeigte sich hierdurch deutlich entlastet. 4 In Rollenspielen in Anlehnung an das Gruppentraining sozialer Kompetenzen nach Hinsch und Pfingsten übte Anna adäquate Formen der Abgrenzung gegenüber ihrem Vater. 4 In Briefen an ihren Vater erläuterte sie ihm, was sie an seinem Verhalten ihr gegenüber störte. 4 In gemeinsamen Gesprächen wurden Möglichkeiten des Vater-Tochter-Kontaktes erarbeitet. Da beide sich als sehr impulsiv beschrieben, führten sie in Konfliktsituationen 30-minütige Pausen ein, bevor sie sich strukturiert über das jeweilige Konfliktthema auseinandersetzten. 4 Die konflikthafte Auseinandersetzung selber wurde mit der Methode des »gelenkten Dialoges« anhand von Beispielthemen trainiert. Als wichtig erwies sich vor allem, sich gegenseitig strukturiert nacheinander die jeweils eigene Position zu erklären. In besonders schwierigen Fällen gingen sie dazu über, sich ihre Positionen schriftlich darzulegen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten schaffte Anna es im stationären Rahmen gut, ihr Gewicht im Bereich von 48 kg +/– 500 g zu stabilisieren und sich damit zufrieden zu fühlen. Das Entlassungsgewicht betrug schließlich 48,3 kg
(BMI 18,4; 19. Altersperzentile). Als Wiederaufnahmegewicht wurde als Richtwert die jeweils 20. Altersperzentile vereinbart (3 Monate später 48,5 kg; 6 Monate später 49 kg; ein Jahr nach Entlassung 49,5 kg und nach 1,5 Jahren 50 kg). Annas Gewicht sollte diesen Richtwert nicht länger als 2 Wochen unterschreiten, ansonsten sollte ein Gespräch in der Klinik stattfinden, in dem die Notwendigkeit eines weiteren stationären Aufenthaltes sowie der Unterbringung in einer therapeutischen Wohngruppe geklärt werden sollte. Im ambulanten Rahmen gelang es Anna, weiter zuzunehmen und ihr Gewicht bei 50 kg +/– 500 g zu halten. Nachdem sich Gewicht und Stimmungslage weiterhin stabil hielten, wechselte Anna zu einer Therapeutin in Wohnortnähe. Nach wie vor hält sie dort ihr Gewicht und kommt mit den Anforderungen ihres Alltages gut zurecht. Das Verhältnis zu ihren Eltern beschreiben alle Familienmitglieder übereinstimmend als »normal«.
40.7
Empirische Belege
Wissenschaftliche Fachgesellschaften aus unterschiedlichen Ländern (Australien, Deutschland, Großbritannien und den USA) haben Leitlinien zur Behandlung von Essstörungen entwickelt (z. B. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie 2007; American Psychiatric Association 2006). Die in Großbritannien streng auf der Basis von Evidenzkriterien entwickelten NICE(National Institute for Clinical Excellence)-Leitlinien (2004) beruhen auf 35 Psychotherapieund Medikationsbeurteilungen für die Anorexia nervosa. Leider liegen fast keine kontrollierten Studien vor; es handelt sich vorwiegend um Expertenmeinungen oder Schlussfolgerungen aufgrund von klinischer Erfahrung (s. auch de Zwaan u. Herpertz-Dahlmann 2006). Noch spärlicher ist die Studienlage für das Kindes- und Jugendalter; kontrollierte Studien liegen hier nur für familientherapeutische Interventionen vor. Einen Überblick über die verschiedenen Therapiemöglichkeiten mit Evidenz und Effekten gibt . Tab. 40.1.
Studien zur Familientherapie Bereits Ende der 1980er Jahre stellte die Gruppe um Russell et al. (1987) fest, dass Familientherapie bei Patientinnen, deren Erkrankung weniger als 3 Jahre andauerte und vor dem Erwachsenenalter begann, wirksamer als eine einzeltherapeutische Behandlung war (im Gegensatz zu erwachsenen Patientinnen, wo die Einzeltherapie mit einem besseren Heilungserfolg verbunden war). Die Arbeitsgruppe konnte ihre Ergebnisse nach einer fünfjährigen Katamnesedauer bestätigen (Eisler et al. 1997). In einer Fallserie bei 45 ambulanten adoleszenten Patientinnen – durchgeführt auf der Basis eines Manuals nach dem Konzept von Russell und Mitarbeitern – wurde die Wirksamkeit des
735 40.7 · Empirische Belege
. Tab. 40.1. Therapiemöglichkeiten bei Anorexia nervosa, Evidenz und therapeutischer Effekt. (Aus de Zwaan u. Herpertz-Dahlmann 2006) Therapieverfahren
Evidenz
Effekt
Antidepressiva in der Akuttherapie
Gering
0
Antidepressiva in der Rückfallprophylaxe
Mäßig
0
Atypische Neuroleptika
Gering
**
Medikamentöse Therapie
Psychotherapie Kognitiv-analytische Therapie
Gering
*
Kognitive Verhaltenstherapie
Gering
*
Dialektische Verhaltenstherapie
Keine
–
Exposition und Reaktionsverhinderung
Keine
–
Familienbasierte Therapie bei Adoleszenten
Mäßig
***
Interpersonelle Psychotherapie
Gering
*
Ernährungsberatung
Gering
0
Psychodynamische Psychotherapie
Gering
*
Psychoedukative Selbsthilfeprogramme
Keine
–
Ausmaß der Evidenz: Keine = keine Studien vorhanden; gering = weniger als 4 Studien; mäßig = zumindest 4 Studien oder 2 Studien von hoher Qualität; groß = zwischen mäßig und sehr groß; sehr groß = zumindest 10 Studien oder 5 Studien von hoher Qualität. Ausmaß des therapeutischen Effekts: 0 = kein Effekt; * = geringer Effekt; ** = gewisser Effekt vorhanden; *** = deutlicher Effekt; **** = sehr starker und anhaltender Effekt.
familientherapeutischen Ansatzes bestätigt (LeGrange et al. 2005). Dabei ist allerdings zweifelhaft, ob dieser Ansatz auf ein stationäres Setting übertragen werden kann, da das Gewicht zu Beginn der Behandlung mit einem BMI von 16,9 deutlich höher als bei den meisten stationär behandelten Patienten in Deutschland lag. Der Nutzen ambulanter familienorientierter Behandlung (»family-based therapy«) – beruhend auf dem gleichen Manual – wurde in einer neueren retrospektiven Kohortenstudie (n=32) auch für magersüchtige Kinder (Durchschnittsalter 11,9 Jahre) herausgestellt (Lock et al. 2006a). Eine besonders lange Dauer der Behandlung beinhaltete keine Vorteile gegenüber einer kürzeren Therapie. Mit Ausnahme von Patientinnen mit ausgeprägten Zwangssymptomen unterschied sich der Heilungserfolg einer sechsmonatigen Behandlung nicht von einer zwölfmonatigen (randomisierte Studie von Lock et al. 2005). Dieses Ergebnis wurde nach vierjähriger Katamnesedauer bestätigt (Lock et al. 2006b). Eine randomisierte Untersuchung, bei der Eltern und Patienten im Rahmen einer Familienbehandlung in einem Zweig der Studie getrennt behandelt wurden (»separated family therapy«), im Vergleichsarm hingegen gemeinsam (»conjoined fami-
ly therapy«), zeigte keine Unterschiede bezüglich ihrer Effektivität (globale Heilungserfolgkriterien nach Morgan und Russell), (Eisler et al. 2000). Auch ein randomisierter Vergleich von systemischer Familientherapie und Familiengruppenpsychoedukation während stationärer Behandlung ergab keine signifikanten Unterschiede bezüglich des Behandlungserfolges (Geist et al. 2000).
Studien zur kognitiv-behavioralen Psychotherapie Zur kognitiv-behavioralen Psychotherapie (CBT) liegen für Jugendliche kaum Studien zur Effektivität vor. In einer älteren Arbeit von Channon (1989) wurde die Effizienz kognitiver Techniken auf dysfunktionale Denkschemata positiv beurteilt. Allerdings erwies sich die CBT nicht als wirksamer als andere, weniger fokussierte Therapien. Spezifische Symptome wie z. B. Körperschemastörung scheinen jedoch besser auf bestimmte Techniken wie Exposition und kognitive Kontrollstrategien zu respondieren. In einer randomisierten und kontrollierten Studie wurde CBT bei 33 erwachsenen Patientinnen über ein Jahr zur Rückfallprophylaxe eingesetzt. Dabei zeigte sich, dass CBT signifikant wirksamer als Ernährungsberatung war in Bezug auf die Rückfallhäufigkeit, Drop-outs und den Heilungserfolg (Pike et al. 2003). In einer jüngeren Studie wurden kognitiv-behaviorale und interpersonale Therapie miteinander und mit sog. »Clinical Management« (supportive Behandlung und Ernährungstherapie) verglichen. In diese Studie wurden auch 17-jährige Patientinnen eingeschlossen. In der Initialphase der in einer späteren Publikation als »specialist supportive clinical management« bezeichneten Behandlung legte der Therapeut Ziele für Gewicht und eine Normalisierung des Essverhaltens fest. In der mittleren Phase wurden die Patienten in der Einzeltherapie unterstützt, an ihren Zielen und der Gewichtszunahme festzuhalten. Sie wurden regelmäßig gewogen und erhielten eine Ernährungsberatung. In der letzten Phase arbeiteten Therapeut und Patientin auf eine Verselbstständigung hin und entwickelten Pläne für die nahe Zukunft. Vor Einleitung der supportiven Therapie war eine ausführliche Psychoedukation über Symptome, Ursachen und Behandlung der Magersucht erfolgt (McIntosh et al. 2006). Das »specialist supportive clinical management«, das am ehesten dem Setting bei stationärer Behandlung in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik in Deutschland entspricht, war den beiden oben genannten ausgewiesenen Psychotherapieverfahren überlegen. Dies spricht dafür, dass eine Behandlung der Kernsymptomatik bei Anorexia nervosa (Gewichtsnormalisierung!) keinesfalls vernachlässigt werden darf und ein multimodaler Ansatz der komplexen Problematik der Anorexia nervosa am ehesten gerecht wird (American Psychiatric Association 2006; McIntosh et al. 2005).
40
736
Kapitel 40 · Anorexia nervosa
40.8
40
Ausblick
Betreten, aber nicht bekehrt, hat die Modewelt auf den Tod der 21 Jahre alten Ana Carolina Reston reagiert. Das Fotomodell war in Sao Paulo an den Folgen seiner Magersucht gestorben. »Die Mode ist nicht für die Magersucht verantwortlich« hieß es als Kommentar aus dem Hause Chanel in Paris. … Die Mutter des toten Models sieht das etwas anders. »Ich hoffe, ihre Geschichte wird anderen eine Lehre sein«, sagte die 58-Jährige tränenüberströmt. Ana Carolina hatte die Arbeit an einem Armani-Katalog in Japan kurz vor ihrem Tod aufgeben müssen, weil sie mit 40 kg Körpergewicht bei einer Größe von 1,74 m zu dünn und zu schwach war. Die junge Frau hatte sich zuletzt nur noch von Äpfeln und Tomaten ernährt. Eine Blasenentzündung führte dann innerhalb kurzer Zeit zu Nierenversagen und allgemeinem Organversagen. »Die Verantwortlichen in den Agenturen sollten sich fragen, ob sie nicht mehr für meine Tochter hätten tun können«, klagt die Mutter. (Aachener Zeitung, 18.11.2006)
Ob eine Gesinnungsänderung der Modeindustrie tatsächlich zu einem Rückgang der Anorexia nervosa führen würde, bleibt ungewiss. Sicher ist aber, dass alle Ärzte, Psychologen und Psychotherapeuten gut über die Störung informiert sein sollten, damit die Patientinnen rechtzeitige und wirksame Hilfe erhalten. Allen Leitlinien zur Behandlung von Essstörungen ist gemeinsam, dass sie eine möglichst frühzeitige Therapie für die Betroffenen empfehlen und die Ambivalenz hervorheben, die die Haltung der meisten Patientinnen gegenüber einer Therapie kennzeichnet. Unzweifelhaft ist weiterhin, dass es viel zu wenige Therapiestudien auf dem Gebiet der Magersucht gibt – sowohl in pharmakologischer als auch – ganz besonders – in psychotherapeutischer Hinsicht. Der Mangel an kontrollierten Studien trifft vorwiegend jugendliche Patientinnen, obwohl wir wissen, dass die Prognose bei den unter 20-Jährigen besser ist und die Chancen für eine endgültige Heilung insbesondere in diesem Lebensalter groß sind. Möglicherweise dürfen in den Studien nicht mehr einzelne Therapiemethoden oder -schulen behandelt werden, sondern mehrdimensionale Therapiekonzepte im Sinne eines ganzheitlichen Behandlungsansatzes. Darüber hinaus müssen wir uns auch um andere Zugangswege zu unseren Patientinnen bemühen, d. h. nicht mehr nur einzeltherapeutische Sitzungen anbieten, sondern auch Gruppen für essgestörte Jugendliche, in der die sozialen Ängste dieser Patientengruppe angesprochen werden können. Für viele Jugendliche bietet sich möglicherweise auch das Internet einschließlich eines E-Mail-Dialogs mit dem Therapeuten an, um die Hemm-
schwelle gegenüber einer psychotherapeutischen Behandlung zu senken. Viele Ideen sind gefragt, um die Morbidität und Mortalität der Anorexia nervosa (immer noch die höchste von allen psychischen Störungen!) zu verbessern.
Zusammenfassung Die Anorexia nervosa ist die psychische Störung mit der höchsten Mortalität und die dritthäufigste chronische Erkrankung im Jugendalter. Typische Symptome sind ein schwerwiegender Gewichtsverlust, eine erhebliche Gewichtsphobie, Amenorrhö sowie vielfach eine ausgeprägte körperliche Hyperaktivität. Daneben findet sich fast immer eine Komorbidität mit anderen psychischen Störungen, in erster Linie Depression, Angst- und Zwangserkrankungen. Etwa ein Drittel der anorektischen Störungen nimmt einen chronischen Verlauf, wobei jüngeres Lebensalter bei Beginn mit einer besseren Prognose verbunden ist. Die Therapie ist multimodal und stützt sich auf Psychoedukation und Ernährungsberatung, individuelle Psychotherapie und familienbezogene Therapieformen. Für die jugendliche Magersucht liegen fast keine kontrollierten Studien vor; lediglich die Familientherapie erwies sich in randomisiertkontrollierten Studien als effizient. Bei der kognitiv-behavioralen Therapie im Rahmen des Einzelsettings werden typische dysfunktionale Gedanken hinterfragt, die sich mit der zentralen Bedeutung von Figur und Gewicht für das Selbsterleben und das Selbstwertgefühl der Betroffenen beschäftigen. Eine medikamentöse Behandlung der Anorexia nervosa hat sich nicht als wirksam erwiesen. Eine Normalisierung des Gewichtes ist für die Prognose anorektischer Essstörungen von großer Bedeutung.
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40
738
40
Kapitel 40 · Anorexia nervosa
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41
41 Schlafstörungen Leonie Fricke-Oerkermann
41.1
Einleitung
– 740
41.2
Darstellung der Störungen
41.2.1 41.2.2
Klassifikation und Symptomatik – 740 Epidemiologie, Verlauf und Komorbidität
41.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
41.4
Diagnostik – 746
41.5
Therapeutisches Vorgehen
41.5.1 41.5.2 41.5.3 41.5.4 41.5.5
Schlafedukation – 749 Schlafregeln – 750 Interventionen bei Ein- und Durchschlafstörungen Interventionen bei Parasomnien – 755 Allgemeines zur Behandlung – 757
41.6
Fallbeispiel
41.7
Empirische Belege
41.8
Ausblick
– 740
– 744
– 747
– 758 – 760
– 761
Zusammenfassung
– 744
– 761
Literatur – 761 Weiterführende Literatur – 762
– 753
740
Kapitel 41 · Schlafstörungen
41.1
41
Einleitung
Das Phänomen Schlaf beschäftigt den Menschen schon seit Jahrhunderten, was nicht verwunderlich scheint, wenn man bedenkt, dass wir ein Drittel des Lebens im Schlaf verbringen. Seitdem es in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts möglich wurde, mit Hilfe des Elektroenzephalogramms (EEG) Hirnströme zu erfassen und aufzuzeichnen, konnte auch der Schlaf näher untersucht werden. Inzwischen haben sich Schlafforschung und Schlafmedizin weiterentwickelt und dabei jedoch zunächst den Schlaf von Erwachsenen im Blick gehabt. Erst in den letzten Jahren weckte der Schlaf von Kindern und Jugendlichen vermehrt das Interesse, wobei Schlafstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter, die für Eltern sehr belastend sein können, zunächst ins Blickfeld rückten. Insgesamt wurden Schlafstörungen lange Zeit als eigenständige Störungsbilder vernachlässigt, da sie häufig mit anderen körperlichen Erkrankungen und psychischen Störungen assoziiert sind, also oft nur ein zusätzliches Symptom darstellen, und die Behandlung der Grunderkrankung im Vordergrund stehen muss. Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter sind wie auch im Erwachsenenalter weit verbreitet. In vielen Fällen treten sie transitorisch auf, z. B. aufgrund eines bestimmten Entwicklungsschrittes oder eines Ereignisses, und verschwinden dann ganz von selbst. Neuere Studienergebnisse machen jedoch deutlich, dass Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen häufig chronifizieren. Im Unterschied zu Schlafstörungen bei Erwachsenen sind sie bei Kindern und Jugendlichen noch wenig untersucht. Es fehlen Studien zum Verlauf, zu den Auswirkungen auf die Entwicklung und zur Überprüfung therapeutischer Konzepte. Schlafprobleme bei Kindern und Jugendlichen äußern sich unterschiedlich und sind in ihrer Symptomatik abhängig vom Entwicklungsalter des Kindes. Manche Kinder kommen abends nicht zur Ruhe und schlafen deshalb nicht ein. Abendliche Konflikte mit den Eltern, die sich z. B. um das Zubettgehen drehen, schlafbezogene Ängste (z. B. Angst vor der Dunkelheit oder einem nächtlichen Albtraum) oder ein verschobener Schlaf-Wach-Rhythmus können zu Einund Durchschlafproblemen führen. Schlafen Kinder deutlich mehr als Gleichaltrige, sollte daran gedacht werden, ob organische Faktoren beteiligt sein könnten. Parasomnien wie Pavor nocturnus, Somnambulismus und Albträume sind in der Regel Entwicklungsphänomene, die im Vorschul- und Grundschulalter vermehrt auftreten. Grundsätzlich führen Schlafstörungen bei Kindern anders als bei Erwachsenen, die sich meist schläfrig fühlen und weniger aktiv am Tag sind, häufig zu hyperaktivem oder anderen Formen auffälligen Verhaltens. Dies führt oft zu verstärktem Leidensdruck der Eltern, die sich nicht nur durch das nächtliche Schlafproblem, sondern auch durch die Tagessymptomatik belastet fühlen. Bei der Beurteilung von Schlafproblemen sind folgende Ursachen weiterhin zu berücksichtigen: Physische Bedingungen wie z. B. Schmerzen, Erkrankungen,
die sich in der Nacht verstärken (z. B. Asthma) oder chronische Erkrankungen (z. B. Neurodermitis) können sich auf den Schlaf störend auswirken. Schlafstörungen treten ebenfalls im Zusammenhang mit psychischen Störungen (z. B. hyperkinetischen oder Angststörungen) auf. In diesen Fällen steht die Behandlung der Grunderkrankung in der Regel zunächst im Vordergrund.
41.2
Darstellung der Störungen
41.2.1 Klassifikation und Symptomatik
Die ICD-10 unterscheidet organische von nichtorganischen Schlafstörungen. Zu den nichtorganischen Schlafstörungen werden u. a. die nichtorganische Insomnie und die Parasomnien wie Alpträume, Pavor nocturnus (Nachtschreck) und Somnambulismus (Schlafwandeln) gezählt (7 Übersicht). In diesem Kapitel wird insbesondere auf nichtorganische Schlafstörungen eingegangen, da sie im Kindes- und Jugendalter am häufigsten auftreten und einer verhaltenstherapeutischen Behandlung zugänglich sind, während organische Schlafstörungen in erster Linie einer medizinischen Abklärung und Behandlung bedürfen.
Klassifikation der Schlafstörungen nach ICD-10 Nichtorganische Schlafstörungen F51.0
Nichtorganische Insomnie
F 51.1
Nichtorganische Hypersomnie
F51.2
Nichtorganische Störung des SchlafWach-Rhythmus
F51.3
Somnambulismus (Schlafwandeln)
F51.4
Pavor nocturnus (Nachtschreck)
F51.5
Albträume
F51.8
Andere nichtorganische Schlafstörungen
F51.9
Nicht näher bezeichnete nichtorganische Schlafstörungen
ICD-10 und DSM-IV ähneln sich weitestgehend in ihrer Klassifikation der Schlafstörungen. Bisher beziehen sich die ICD-10 und das DSM-IV primär auf Schlafstörungen bei Erwachsenen. Eine Modifikation der Störungsbilder im Hinblick auf das Kindesalter steht hier noch aus. Aus diesem Grund werden bei der Darstellung der Störungsbilder die Unterschiede zu Schlafstörungen im Erwachsenenalter veranschaulicht. Nichtorganische Insomnie. Nach ICD-10 werden als nicht-
organische Insomnie Ein- und/oder Durchschlafstörungen
741 41.2 · Darstellung der Störungen
oder eine schlechte Schlafqualität bezeichnet, die wenigstens dreimal pro Woche mindestens einen Monat lang auftreten. Die Patienten beschäftigen sich tagsüber und nachts überwiegend mit der Schlafstörung und sorgen sich übertrieben, dass die Schlafprobleme zu negativen Konsequenzen führen könnten. Die unbefriedigende Schlafdauer oder -qualität verursacht entweder einen deutlichen Leidensdruck oder wirkt sich störend auf die Alltagsaktivitäten aus. Hierbei ist zu beachten, dass die Kriterien für Erwachsene aufgestellt wurden. Kinder zeigen häufig ein etwas anderes Bild: Die schlechte Schlafqualität wird von ihnen sehr selten beschrieben. Auch Jugendliche berichten dies selten. Manche Kinder fühlen sich tagsüber nicht subjektiv beeinträchtigt. Im Gegensatz zu erwachsenen Insomniepatienten und auch Jugendlichen, die häufig unter der Beeinträchtigung ihrer Alltagsaktivitäten leiden, da sie sich müde, unausgeruht und schlapp fühlen, neigen Kinder dazu, hyperaktives Verhalten zu zeigen und »überdreht« zu wirken. Kinder machen sich außerdem um gesundheitliche Folgeschäden in der Regel keine Sorgen. Dies betrifft eher die Eltern und auch manche Jugendliche. Jugendliche neigen auch mehr als Kinder zum Grübeln und Nachdenken über den Schlaf. Da die Insomnie ein häufiges Symptom anderer psychischer Störungen und körperlicher Krankheiten darstellt, ist dies differenzialdiagnostisch abzuklären. Nichtorganische Hypersomnie. Sie ist nach ICD-10 defi-
niert als übermäßige Schlafneigung oder Schlafanfälle während des Tages, die nicht durch eine unzureichende Schlafdauer erklärbar sind, oder als verlängerte Übergangszeiten vom Aufwachen aus dem Schlaf bis zum völligen Wachsein. Die Störung tritt täglich länger als einen Monat oder in wiederkehrenden Perioden kürzerer Dauer auf. Nichtorganische Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Sie
ist definiert als fehlende Synchronizität des individuellen Schlaf-Wach-Rhythmus mit dem der Umgebung, infolgedessen die Person eine Insomnie während der Hauptschlafperiode und eine Hypersomnie in der Wachperiode zeigt. Die Störung tritt fast täglich für mindestens einen Monat
oder wiederkehrend für kürzere Zeiträume und typischerweise in der Adoleszenz als Schlafphasenverzögerung auf. Die nichtorganische Hypersomnie sowie auch die nichtorganische Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus führen zu Beeinträchtigungen der Alltagsaktivitäten. Zu den nichtorganischen Schlafstörungen im ICD-10 zählen auch die Parasomnien, Albträume, Pavor nocturnus und Somnambulismus, die im Kindesalter häufig sind. Die wichtigsten differenzialdiagnostischen Aspekte sind in . Tab. 41.1 zusammengefasst. Somnambulismus. Beim Somnambulismus (Schlafwandeln) besteht das vorherrschende Symptom in ein- oder mehrmaligem Verlassen des Bettes und Umhergehen meist während des ersten Drittels des Nachtschlafes. Während der Episode hat die betreffende Person häufig einen leeren, starren Gesichtsausdruck und reagiert verhältnismäßig wenig auf die Bemühung anderer, das Geschehen zu beeinflussen oder mit ihr Kontakt aufzunehmen. Außerdem ist die betroffene Person schwer erweckbar. Nach dem Erwachen (entweder nach dem Schlafwandeln oder am nächsten Morgen) besteht keine Erinnerung an die Episode. Dies kann dazu führen, dass Kinder ängstlich reagieren, wenn sie am nächsten Morgen auf das nächtliche Schlafwandeln angesprochen werden. Erwachen die Kinder am Ende einer Episode, besteht innerhalb weniger Minuten keine Beeinträchtigung der psychischen Aktivität oder des Verhaltens, obgleich anfänglich eine kurze Phase von Verwirrung und Desorientiertheit auftreten kann. Differenzialdiagnostisch ist es beim Schlafwandeln wichtig, organisch bedingte psychische Störungen oder eine körperliche Störung wie z. B. eine Epilepsie auszuschließen. Pavor nocturnus. Das vorherrschende Symptom beim Pavor nocturnus sind ein- oder mehrmalige Episoden von Erwachen aus dem Schlaf, die mit einem Panikschrei beginnen und durch starke Angst, Körperbewegungen und vegetative Übererregbarkeit wie Tachykardie, schnelle Atmung, Pupillenerweiterung und Schweißausbruch charakterisiert sind. Diese wiederholten Episoden dauern typischerweise
. Tab. 41.1. Differenzialdiagnose der Parasomnien Albträume
Pavor nocturnus
Somnambulismus
Klinisches Bild
Angstträume, die das Kind wecken und mit starker Furcht verbunden sind
Plötzliches Erwachen aus dem Schlaf mit einem gellenden Schrei, weit aufgerissenen Augen und Anzeichen intensiver Angst
Körperbewegungen wie Aufstehen und Umhergehen
Orientierung nach dem Erwachen
Nach dem Erwachen aus dem Albtraum keine Desorientierung
Während des Ereignisses schwer erweckbar und danach desorientiert
Während des Schlafwandelns schwer erweckbar und danach desorientiert
Wiedereinschlafen
Verzögertes Wiedereinschlafen nach dem Albtraum
Weiterschlafen, da nicht richtig erwacht
Weiterschlafen, da nicht richtig erwacht
Vegetative Begleitsymptomatik
Geringe zusätzliche körperliche Symptome
Starke körperliche Symptome (z. B. Schwitzen)
Zusätzliche körperliche Symptome sind möglich
Erinnerungsfähigkeit
Gute Erinnerung an das Geschehen
Amnesie für das Ereignis
Amnesie für das Ereignis
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742
41
Kapitel 41 · Schlafstörungen
bis zu 10 Minuten und treten zumeist während des ersten Drittels des Nachtschlafes auf. Versuchen die Eltern, das Kind bei einer Pavor-nocturnus-Episode zu beruhigen oder aufzuwecken, so folgen solchen Bemühungen fast ausnahmslos zumindest einige Minuten von Desorientiertheit und perseverierenden Bewegungen. Die Erinnerung an das Geschehen ist gewöhnlich auf ein oder zwei fragmentarische Vorstellungen begrenzt oder fehlt völlig. Differenzialdiagnostisch ist bei entsprechendem Verdacht eine körperliche Krankheit wie ein Hirntumor oder eine Epilepsie auszuschließen. Albträume. Im Unterschied zum Schlafwandeln und Pavor nocturnus, die aus dem Tiefschlaf heraus entstehen, finden Albträume während des REM-Schlafes statt. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass der Betroffene aus dem Nachtschlaf oder nach kurzem Schlaf mit detaillierter und lebhafter Erinnerung an heftige Angstträume erwacht. Die Angstträume beinhalten meistens eine Bedrohung des Lebens, der Sicherheit oder des Selbstwertgefühls. Das Aufwachen erfolgt zeitunabhängig, typischerweise aber während der zweiten Hälfte des Nachtschlafes. Nach dem Erwachen aus einem Albtraum ist die betroffene Person rasch orientiert und munter. Die ICD-10 legt als weiteres Kriterium fest, dass das Traumerlebnis und die daraus resultierende Schlafstörung einen deutlichen Leidensdruck verursachen. Pavor nocturnus und Albträume müssen zusätzlich abgegrenzt werden von einer weiteren Form des nächtlichen Erwachens mit Angst – den posttraumatischen Wiederholungen (Schredl 1999). Posttraumatische Wiederholungen finden während des REM-Schlafes oder des normalen Schlafes statt, und die physiologischen Angstreaktionen sind stark bis sehr stark ausgeprägt. Sie treten sowohl in der ersten als auch der zweiten Nachthälfte auf. Im Unterschied zum sehr detaillierten Trauminhalt des Albtraums bzw. im Unterschied zum Pavor nocturnus, der fast keinen Inhalt besitzt
(eventuell wird ein bedrohliches Bild erinnert) besteht der Trauminhalt von posttraumatischen Wiederholungen aus einer relativ direkten Wiederholung der erlebten traumatischen Situation. Die Inhalte des Traums werden gut erinnert. Nach dem Erwachen ist die Person häufig voll orientiert, auch wenn die Traumangst bestehen bleibt.
Klassifikation nach ICSD-2 Im Kindes- und Jugendalter kommen Insomnien und Parasomnien am häufigsten vor. Differenzialdiagnostische Relevanz besitzen im diagnostischen Prozess jedoch noch andere Störungsbilder, die im Folgenden kurz erläutert werden und deren Kenntnis für eine Diagnosestellung von großer Bedeutung ist (s. Exkurs). Dabei wird wegen der differenzierteren Systematik die Internationale Klassifikation der Schlafstörungen (ICSD-2, American Academy of Sleep Medicine 2005) verwendet. Die ICSD-2 ist ein sehr differenziertes Klassifikationsschema, das sämtliche Schlafstörungen umfasst. Seine Anwendung spielt hauptsächlich in der Schlafmedizin eine Rolle, d. h. in hierfür spezialisierten Kliniken und Ambulanzen, die über ein Schlaflabor verfügen. Im Unterschied zu ICD-10 und DSM-IV werden hier zum einen Schlafstörungen, die im Kindesalter typischerweise auftreten wie z. B. die verhaltensbedingte Insomnie im Kindesalter (s. unten) dargestellt, und auf die spezifisch pädiatrischen Aspekte der anderen Schlafstörungen und schlafmedizinischen Erkrankungen eingegangen. Vor allem die nichtorganische Insomnie mit ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen wird im ICSD-2 entsprechend ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen ausführlicher als z. B. in der ICD-10 beschrieben.Grundsätzlich ist bei der Behandlung von Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter darauf zu achten, dass keine Komorbiditäten übersehen werden. Aus diesem Grund ist eine differenzierte Diagnostik und Kenntnis der verschiedenen Schlafstörungen wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen Therapie.
Exkurs In der ICSD-2 werden – im Unterschied zu ICD-10 und DSM-IV – verschiedene Formen der Insomnie unterschieden (s. auch folgende Übersicht ). Wesentlich für das Kindes- und Jugendalter sind die Schlafanpassungsstörung (akute Insomnie), die in Folge spezifischer Stressoren entsteht, sowie die psychophysiologische Insomnie, bei der erlernte schlafverhindernde Assoziationen und Hyperarousal vorliegen (z. B. Fokussierung auf den Schlaf und vermehrte Ängstlichkeit in Bezug auf den Schlaf sowie schlafbehindernde Gedanken). Die psychophysiologische Insomnie hat vor allem ab dem Jugendalter Relevanz. Die idiopathische Insomnie wird auch als lebenslange Insomnie oder Insomnie mit Beginn in der Kindheit bezeichnet. Sie wird durch den Verlauf der Schlafstörung 6
diagnostiziert. Die Beschwerden bestehen in Ein- und Durchschlafstörungen oder einer kurzen Schlafdauer des Kindes, die ohne ersichtlichen Grund beginnen und lebenslang bestehen bleiben. Die inadäquate Schlafhygiene spielt in allen Altersgruppen eine wichtige Rolle. Schlafhygiene bezeichnet Verhaltensweisen, die einen erholsamen Schlaf fördern wie z. B. die Berücksichtigung des natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus. Im ICSD-2 wird weiterhin eine speziell im Kindesalter auftretende Ein- und Durchschlafstörung benannt, die verhaltensbedingte Insomnie in der Kindheit. Es werden zwei verschiedene Typen unterschieden: 4 Einschlafstörung aufgrund inadäquater Einschlafassoziationen: Das Kind kann hier nur unter speziellen
743 41.2 · Darstellung der Störungen
Bedingungen einschlafen (z. B. wenn es von der Mutter stundenlang auf dem Arm durch die Wohnung getragen wird). Liegen diese Bedingungen für das Einschlafen am Abend nicht vor, so ist das Einschlafen bedeutsam verzögert oder der Schlaf ist in anderer Form gestört. Die Einschlafassoziationen sind in der Regel inadäquat. 4 Schlafstörung aufgrund inkonsequenten Erziehungsverhaltens: Das Kind versucht, das Ins-Bett-Gehen hinauszuzögern, verweigert es zu einer angemessenen Uhrzeit ins Bett zu gehen oder ins Bett zurückzugehen, nachdem es nachts erwacht ist. Die Eltern verwenden als Reaktion auf das kindliche Verhalten insuffiziente und ungeeignete Grenzsetzungen. Da für den differenzialdiagnostischen Prozess noch weitere Störungsbilder von Bedeutung sind, werden diese im Folgenden ebenfalls kurz erläutert. Dabei wird nur auf die Störungsbilder, die für das Kindes- und Jugendalter relevant sind, eingegangen (s. auch die folgende Übersicht). Zu der Gruppe der schlafbezogenen Atmungsstörungen zählt u. a. die obstruktive Schlafapnoe im Kindesalter. Dabei kommt es u. a. im Schlaf zu nächtlichen Atemstillständen und Sauerstoffentsättigungen. Als Folge werden Tagesschläfrigkeit, kognitive Einbußen, Konzentrationsstörungen und auch Hyperaktivität beschrieben. Die Diagnostik schlafbezogener Atmungsstörungen erfordert die Durchführung einer Polysomnographie im Schlaflabor. Unter den Hypersomnien zentralnervösen Ursprungs wird in der ICSD-2 u. a. das verhaltensbedingte Schlafmangelsyndrom eingeordnet. Die Betroffenen haben ein chronisches Schlafdefizit, ohne dass sie sich dessen selbst bewusst sind, das u. a. zu Tagesschläfrigkeit führt. Insbesondere bei Jugendlichen scheint es infolge abendlicher Aktivitäten vermehrt zu dieser Form der Schlafstörung zu kommen. Die Narkolepsie ist ebenfalls durch Tagesschläfrigkeit gekennzeichnet, die sich in wiederholten Nickerchen oder unwillkürlichem Einnicken am Tage ausdrücken kann. Typischerweise treten weiterhin u. a. Kataplexien auf, d. h. bei intensiven Gefühlsempfindungen tritt ein plötzlicher bilateraler Verlust des die Körperhaltung stabilisierenden Muskeltonus auf. Kataplexien gehen ohne Bewusstseintrübung einher und dauern meist weniger als eine Minute. Die Narkolepsie kann bereits bei Kindern auftreten, in der Regel liegt jedoch das Manifestationsalter in der Pubertät. Zirkadiane Schlafrhythmusstörungen können sich ebenfalls schon im Kindesalter manifestieren. Nennenswert für das Kindes- und Jugendalter sind in dieser Kategorie im Wesentlichen das vorverlagerte Schlafphasen-
syndrom (verfrühte Schläfrigkeit, mit dem Unvermögen, bis zu einem üblichen Zeitpunkt wachzubleiben, sowie verfrühtes morgendliches Erwachen) und das verzögerte Schlafphasensyndrom, das gekennzeichnet ist durch spätes Einschlafen und Schwierigkeiten, zu einer üblichen Zeit zu erwachen. Das verzögerte Schlafphasensyndrom findet sich überwiegend bei Adoleszenten. Zur Gruppe der Parasomnien, zu denen die bereits oben beschriebenen Störungen wie Schlafwandeln, Nachtschreck und Albträume gezählt werden, gehört auch die Schlaftrunktenheit (Verwirrung und beeinträchtigte Wahrnehmung sowie inadäquates Verhalten beim Erwachen), die im Kleinkindalter als harmlos eingeschätzt wird und sich meist nach dem fünften Lebensjahr verliert. Zu den im Kindesalter relevanten schlafbezogenen Bewegungsstörungen zählt u. a. das Restless-Legs-Syndrom (RLS), bei dem von Missempfindungen – am häufigsten im Bereich der Waden – berichtet wird, die typischerweise in Ruhesituationen (z. B. im Bett vor dem Einschlafen) auftreten und sich bessern, wenn die Beine bewegt werden. Bis zu 15% der Patienten zeigen bereits erste Symptome in der Kindheit (Wetter 1997). Da Wachstumsschmerzen meist nur über einige Tage sowie intermittierend auftreten, sollte das Zeitkriterium (Bestehen der Beschwerden mindestens für 6 Monate) beachtet werden. Die Störung tritt nicht selten gemeinsam mit der Periodic Limb Movement Disorder (PLMD) auf, die gekennzeichnet ist durch im Schlaf auftretende periodische Episoden wiederholter und stereotyper Bewegungen der Gliedmaßen. Beim schlafbezogenen Bruxismus (Zähneknirschen), das im Kindesalter häufig ist, wird ein Zusammenhang mit psychischen Belastungen diskutiert. Insofern kann es hilfreich sein, die psychische Anspannung z. B. durch Entspannungsverfahren zu reduzieren. Schlafbezogene rhythmische Bewegungsstörungen umfassen eine Gruppe stereotyper, wiederholter Bewegungen, vor allem der großen Muskeln von Kopf und Nacken (z. B. Kopfschlagen, Kopfrollen), die typischerweise vor dem Einschlafen einsetzen und während des leichten Schlafes anhalten. Die rhythmischen Körperbewegungen sind ein verbreitetes Phänomen bei Säuglingen und Kindern und haben in der Regel keinen Krankheitswert. Besteht jedoch die Gefahr, dass die Kinder sich verletzen, so ist die Absicherung der Umgebung (z. B. Polsterung, Anlegen eines Helms) indiziert. In manchen Fällen sollten weitere psychologische bzw. medizinische Maßnahmen erwogen werden. Zu der Kategorie Isolierte Symptome, öffentliche Normvarianten und ungelöste Probleme zählt u. a. die Somniloquie (Sprechen im Schlaf ), die keinen Krankheitswert besitzt. Auch Einschlafzuckungen bedürfen keiner Therapie und treten in allen Altersgruppen auf.
41
744
Kapitel 41 · Schlafstörungen
Relevante Störungsbilder für das Kindesund Jugendalter nach ICSD-2
41
5 Insomnien – Schlafanpassungsstörung – Psychophysiologische Insomnie – Idiopathische Insomnie – Inadäquate Schlafhygiene – Verhaltensbedingte Insomnie 4 Schlafbezogene Atmungsstörungen – Obstruktive Schlafapnoe im Kindesalter 4 Hypersomnien zentralnervösen Ursprungs – Verhaltensbedingtes Schlafmangelsyndrom – Narkolepsie 4 Zirkadiane Schlafrhythmusstörungen – Vorverlagertes Schlafphasensyndrom – Verzögertes Schlafphasensyndrom 4 Parasomnien – Schlafwandeln – Nachtschreck – Albträume – Schlaftrunkenheit 4 Schlafbezogene Bewegungsstörungen – Restless-Legs-Syndrom (RLS) – Periodische Extremitätenbewegungen im Schlaf (PLMD) – Bruxismus – Schlafbezogene rhythmische Bewegungsstörungen 4 Isolierte Symptome, öffentliche Normvarianten und ungelöste Probleme – Somniloquie – Einschlafzuckungen
41.2.2 Epidemiologie, Verlauf und Komorbidität
Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter sind häufig. In der Kölner Kinderschlafstudie, einer epidemiologischen Studie zur Häufigkeit von Schlafstörungen bei Grundschulkindern, betrugen die Drei-Monats-Prävalenzen für Einschulkinder nach Angabe der Eltern ca. 18% für Ein- und/ oder Durchschlafprobleme und 23% für nächtliches Erwachen. Neben den Insomnien wurden am häufigsten Parasomnien von den Eltern beschrieben: 3 bzw. 4% der Kinder hatten nach Angaben der Eltern Schlafwandeln oder Pavor nocturnus. 14% der Kinder hatten Alpträume (Kraenz et al. 2004). Bei den Viertklässlern wurden nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder zu ihrem Schlafverhalten befragt. Auch hier ergaben sich hohe Prävalenzen für Ein- und Durchschlafstörungen (Fricke-Oerkermann et al. 2007b). Diese Ergebnisse sind vergleichbar mit anderen Studien (z. B. Owens et al. 2000). Die unterschiedlichen Prävalenzangaben sind dabei meist auf unterschiedliche Altersgruppen, Erhebungsverfahren (z. B. Fragebögen, Inter-
views) und Stichproben zurückzuführen. Weiterhin zeigte sich auch in manchen Studien, dass es deutliche Diskrepanzen zwischen Eltern- und Kinderangaben gibt. Die Prävalenzen von Ein- und Durchschlafstörungen sind beispielsweise deutlich höher, wenn man die Kinder befragt (Fricke-Oerkermann et al. 2007b). Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter sind oft mit anderen Erkrankungen assoziiert. Sie sind eine häufige Begleiterscheinung bei körperlichen Erkrankungen wie z. B. Neurodermitis. Vor allem aber die Komorbidität zu psychischen Störungen wurde mehrfach empirisch belegt (z. B. Gregory et al. 2004). Der Verlauf von Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter wurde bisher noch wenig untersucht. Einige Studien stellten fest, dass Schlafprobleme im Kindesalter transitorisch sind und mit dem Alter abnehmen (z. B. Jenni et al. 2005). Smedje et al. (2001) berichten hingegen über eine 1-JahresStabilität von ca. 45%. In der Kölner Kinderschlafstudie wurden über 800 Kinder und Eltern über drei Jahre zum kindlichen Schlafverhalten befragt (Fricke-Oerkermann et al. 2007b). Die Analysen der Längsschnittdaten weisen darauf hin, dass bei einem nicht unbedeutenden Anteil der Viertklässler Ein- und Durchschlafprobleme persisitieren und über mehrere Jahre bestehen bleiben. Parasomnien – insbesondere Schlafwandeln und Pavor nocturnus – sistieren in der Regel bis zur Pubertät spontan. Im Erwachsenenalter spielen diese Störungen im Hinblick auf die Prävalenzangaben eine untergeordnete Rolle.
41.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Insomnien Kindliche und jugendliche Schlafprobleme sind die Folge eines multifaktoriellen Geschehens, in dem sich verschiedene Faktoren ergänzen und verstärken. Ab dem 5. Lebensmonat ist es nach Capp et al. (2005) grundsätzlich möglich, dass ein Kind bereits erlernt hat, allein einzuschlafen oder sich nach nächtlichem Aufwachen selbst zu beruhigen. Hilfreich ist es, wenn die Eltern das Kind unterstützen, diese Fähigkeit auszubilden. Der Umgang der Eltern mit dem kindlichen Schlaf wird dabei vom elterlichen Erziehungsverhalten, dem Wissen der Eltern zum Schlaf (z. B. Beeinflussung von Schlafmythen), ihrer eigenen Einstellung zum Schlaf und durch kulturelle Faktoren beeinflusst. Verschiedene Studien haben den Einfluss von Umgebungsfaktoren auf das Schlafverhalten untersucht. Umgebungsfaktoren, die das Risiko für kindliche Schlafprobleme erhöhen können, sind z. B. Licht- und Lärmbelästigungen oder auch eine ungünstige Wohnungssituation. Verschiedene Studien beschäftigen sich auch mit dem negativen Einfluss von Medien (z. B. Fernsehen) auf den Schlaf. Familiärer Stress und belastende Erlebnisse (z. B. Traumata) sind weitere beeinflussende Faktoren. Auch Temperamentsmerkmale werden mit Schlafproblemen in Zusammenhang gebracht.
745 41.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Ein- und Durchschlafprobleme im Kindes- und Jugendalter können weiterhin im Sinne einer konditionierten Insomnie erklärt werden, d. h. das Kind hat mit der Zeit gelernt, das Bett mit Anspannung, NichtSchlafen-Können etc. zu verbinden. Ein verschobener Schlaf-Wach-Rhythmus kann das Einschlafen am Abend beeinträchtigen oder auch zu frühmorgendlichem Erwachen beitragen. Ängste und Konflikte im Rahmen der Schlafsituation führen durch ein erhöhtes Anspannungsniveau ebenfalls zu einem beeinträchtigten Schlaf. Die verschiedenen Komponenten sind in dem Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Ein- und Durchschlafstörungen im Kindesalter zusammengefasst (. Abb. 41.1). Im Jugendalter spielen neben den Sorgen um die Konsequenzen des Nichtschlafens (»Kognitionen«) sowie den dysfunktionalen Annahmen und Verhaltensweisen der Eltern (»Verhaltensbedingungen«) die Gedanken und Verhaltensweisen der Jugendlichen selbst eine zunehmend wichtige Rolle. Außerdem ist im Jugendalter die Bedeutung von sozialen Faktoren (z. B. abendliche/nächtliche Aktivitäten mit der Peer-Gruppe am Wochenende) zu berücksichtigen. Je älter der Jugendliche ist, desto eher können zur Erklärung Konzepte herangezogen werden, die für Erwachsene entwickelt wurden, wie das Modell zu den psychophysiologischen und psychologisch-sozialen Faktoren, die bei der Auslösung und Aufrechterhaltung der
nichtorganischen Insomnie von Bedeutung sind (Riemann 2007, 7 Kap. II/10).
Parasomnien Bei Parasomnien handelt es sich in der Regel um reifungsbedingte, passagere Störungen. Schlafwandeln und Nachtschreck treten vor allem im Vorschul- und Schulalter auf und sistieren spätestens in der Pubertät. Sie sind in der Regel nur dann behandlungsbedürftig, wenn sie sehr häufig auftreten, selbst- bzw. fremdgefährdend sowie mit psychosozialen Konsequenzen verbunden sind. Ätiologisch wird eine Störung des Arousalprozesses diskutiert, die sich in einer Unreife des zentralen Nervensystems begründet. Die Episoden können im Zusammenhang mit Schlafentzug, Stress und emotionalen Belastungen vermehrt auftreten. Weiterhin konnte eine genetische Komponente beim Somnambulismus sowie auch beim Pavor nocturnus nachgewiesen werden. Bei Alpträumen konnten Studien Zusammenhänge mit Stress sowie mit belastenden Ereignissen feststellen. Eine genetische Komponente wird ebenfalls diskutiert. Auch Persönlichkeitsfaktoren weisen Zusammenhänge mit Albträumen auf. Mindell und Barrett (2002) fanden einen Zusammenhang zwischen Altraumhäufigkeit und -schwere mit verstärkter Ängstlichkeit bei Kindern im Alter von 5 bis 11 Jahren. Ein Zusammenhang zwischen der Einnahme bestimmter Medikamente und
. Abb. 41.1. Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung von kindlichen Ein- und Durchschlafstörungen. (Aus Fricke u. Lehmkuhl 2006a, S. 33)
41
746
Kapitel 41 · Schlafstörungen
dem Auftreten von Albträumen wird ebenfalls beschrieben (Ohayon et al. 1997)
41.4
41
Diagnostik
Auslösende Bedingungen für die Entstehung von Ein- und Durchschlafstörungen sind im Kindes- und Jugendalter häufig emotionale Belastungen. Solche emotionalen Belastungen sind im Kindesalter z. B. abendliche Konflikte oder Ängste, die Anspannung hervorrufen und zu Schlafproblemen führen, da Schlafen nur im entspannten Zustand möglich ist. Zu den aufrechterhaltenden Faktoren gehören dysfunktionale schlafbezogene Gedanken (z. B. »Hoffentlich muss ich nicht wieder so lange wachliegen«, »Ich kann sowieso nicht einschlafen«), die ebenfalls zu Anspannung führen, sowie dysfunktionale Verhaltensweisen (z. B. unregelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus, zu lange Bettzeiten), die sich physiologisch beeinträchtigend auswirken. So kann es zu einer Verselbstständigung der Schlafstörung kommen, in der die schlafbehindernden Kognitionen und schlafinkompatiblen Verhaltensweisen eine zentrale Rolle spielen.
Exploration Eine ausführliche Exploration stellt die Basis der schlafspezifischen Diagnostik dar. Die dabei gewonnenen Informationen tragen zur Entscheidung über weitere diagnostische Schritte bei. Für die Beurteilung von Schlafproblemen – vor allem nichtorganischen Ursprungs – ist es wichtig, durch die Exploration einen umfassenden Überblick über die Besonderheiten des Kindes/Jugendlichen, der Familie und des Umfelds zu bekommen. Neben allgemeinen Angaben zum Patienten (z. B. kultureller Hintergrund) und seiner Entwicklungsgeschichte sind das Schlafverhalten und die damit zusammenhängenden Umgebungsfaktoren detailliert zu erfassen. In der folgenden Übersicht sind die Bereiche, die hier angesprochen werden sollten, aufgeführt. Weiterhin sollen Beginn und Verlauf der Störung sowie Vorbehandlungen erfragt werden. Die Exploration kann mit Eltern und Kind/ Jugendlichem gemeinsam durchgeführt werden. Dies hat den Vorteil, dass Unterschiede in den Sichtweisen des Schlafproblems zwischen Eltern und Kind besonders gut herausgearbeitet werden können. Bei manchen Themen ist es jedoch oft auch günstig, mit dem Kind/Jugendlichen (z. B. im Hinblick auf schlafbezogene Ängste) bzw. den Eltern (z. B. im Hinblick auf den Nachtschreck) allein zu sprechen.
Erhebung des aktuellen Schlafverhaltens und der Umgebungsfaktoren (nach Fricke-Oerkermann et al. 2007a) Abendaktivitäten
5 5 5 5
Zeitpunkt des Abendessens Art der aufgenommenen Nahrung und der Getränke Aktivitäten am Abend Medikation
Zubettgehsituation
5 5 5 5 5 5
Zubettgehzeit Licht-aus-Zeit Hilfen beim Zubettgehen Oppositionelle Verhaltensweisen des Kindes Zubettgehritual Ängste des Kindes
Schlafumgebung
5 Eigenes Zimmer/eigenes Bett/andere Personen im Zimmer 5 Temperatur, Lärm, Licht etc.
Schlafsituation
5 5 5 5
Ort des Einschlafens Schlaflatenz Nächtliches Erwachen Nächtliche Aktivitäten und Ereignisse (z. B. Schlafwandeln)
Aufwachsituation am Morgen
5 5 5 5
Spontanes oder fremdinitiiertes Erwachen Erweckbarkeit Gesamtschlafzeit Erholsamkeit des Nachtschlafes
Tagesbefindlichkeit
5 5 5 5 5 5 5
Müdigkeit Spontane Einschlafneigung Schlafepisoden tagsüber Konzentrations- und Leistungsfähigkeit Motorische Hyperaktivität Tagesablauf in der Familie Gemeinsame Aktivitäten in der Familie
747 41.5 · Therapeutisches Vorgehen
Schlafprotokoll
Körperliche Untersuchung
In der Diagnostik von nichtorganischen Schlafstörungen ist das Schlafprotokoll eine weitere wichtige Informationsquelle. Bei der Einschätzung von Schlafproblemen kommt es leicht zu Generalisierungen und Erinnerungsverzerrungen, die zu Über- oder Unterschätzungen des Schlafverhaltens führen können. Das Schlafprotokoll hilft, das Schlafverhalten zu objektivieren. Es sollte über mindestens zwei Wochen geführt werden. Da es abends und morgens innerhalb von 1–2 Minuten ausgefüllt werden kann, ist es sehr ökonomisch in der Anwendung. Für verschiedene Altersgruppen sollten unterschiedliche Protokolle verwendet werden: Bei Kindern im Säuglingsalter bis zum frühen Jugendlichenalter sollten die Eltern ein Schlafprotokoll zum Schlafverhalten ihres Kindes/Jugendlichen führen (. Abb. 41.2). Zusätzlich können ab dem Vorschulalter altersangemessene Protokolle für Kinder und Jugendliche eingesetzt werden (z. B. Fricke-Oerkermann et al. 2007a). Auf das Elternprotokoll kann bei Jugendlichen häufig verzichtet werden, da zum einen die Informationen des Jugendlichen im Vordergrund stehen und zum anderen der Jugendliche sein Schlafverhalten am besten beschreiben kann. Die Fragen im Schlafprotokoll beziehen sich auf das Schlaf- (z. B. Zubettgehzeit, Zeit des Lichtlöschens, Einschlafdauer) und auch Tagesverhalten (Leistungsfähigkeit, Müdigkeit am Tage). Weiterhin ist das Schlafprotokoll ein wichtiges Instrument zur Prozess- und Therapieerfolgsevaluation.
Die Diagnostik von Schlafstörungen bei Kindern/Jugendlichen setzt eine eingehende körperliche Untersuchung voraus, um organische Erkrankungen etc. abzuklären.
Fragebögen Mit Hilfe von Fragebögen können auf ökonomische und systematische Weise Informationen erhoben werden. Standardisierte deutschsprachige Schlaffragebögen, die das Schlafverhalten insgesamt abbilden, fehlen bisher für das Kindes- und Jugendalter. Es liegen bislang nur verschiedene Screeninginstrumente sowie allgemeine Fragebögen zum Schlafverhalten vor (siehe z. B. Fricke-Oerkermann et al. 2007a). Außerdem gibt es Fragebögen zur Erfassung spezifischer Symptome wie z. B. die »Epworth Sleepiness Scale für Kinder« (ESS-K; deutsche Übersetzung und Validierung von Handwerker 2002) zur Erfassung von Tagesschläfrigkeit im Selbsturteil oder die »Ullanlinna Narcolepsy Scale« (UNS; deutsche Übersetzung von Handwerker in FrickeOerkermann et al. 2007a) zur Erfassung von Narkolepsiesymptomen. Ansonsten können Fragebögen zu Verhaltensauffälligkeiten der Kinder/Jugendlichen sinnvoll sein, um Hinweisen auf psychische Störungen nachzugehen.
Testpsychologische Untersuchung Eine testpsychologische Untersuchung ist in der Regel dann notwendig, wenn Hinweise auf eine psychische Störung vorliegen. Schlafstörungen treten häufig als sekundäre Schlafstörung komorbid mit psychischen Erkrankungen auf, so dass die weiterführende Diagnostik in manchen Fällen differenzialdiagnostisch von hohem Wert ist.
Polysomnographie (Schlaflaboruntersuchung) Die Polysomnographie steht im Rahmen der Abklärung von Schlafstörungen am Ende einer Stufendiagnostik, nachdem eine eingehende Anamnese sowie klinische, kinderneurologische und kinderpsychiatrische Untersuchungen bereits erfolgt sind. In diesem Zusammenhang können auch Vigilianztests (apparative Methoden zur Objektivierung von Vigilanz und Tagesschläfrigkeit) sinnvoll sein. Diese apparativen Methoden helfen, die Tagessymptomatik zu objektivieren, und sind bei manchen Störungen für die Differenzialdiagnostik von Bedeutung. Vor allem für die Diagnostik organischer Schlafstörungen spielt die Polysomnographie eine wichtige Rolle.
Überblick über die verschiedenen diagnostischen Schritte 1. Exploration Grundlage jedes diagnostischen Prozesses bei Schlafstörungen 2. Schlafprotokoll Bei nichtorganischen Schlafstörungen notwendig 3. Fragebögen Zur Unterstützung der Exploration hilfreich, jedoch nicht zwingend notwendig, da bisher keine ausreichend standardisierten Verfahren vorliegen 4. Testpsychologische Untersuchung Zur Differenzialdiagnostik wichtig, falls sich in der Exploration z. B. Hinweise auf eine psychische Störung abbilden 5. Körperliche Untersuchung Neben der Exploration ebenfalls Grundlage jedes diagnostischen Prozesses bei Schlafstörungen 6. Polysomnographie Zur Differenzialdiagnostik notwendig, falls sich in der Exploration Hinweise auf eine organische Störung abbilden
41.5
Therapeutisches Vorgehen
Die kindliche Insomnie ist in der Regel bei der Anwendung geeigneter Therapiemaßnahmen, die im Folgenden ausführlich beschrieben sind, gut zu behandeln. Der Behandlungserfolg ist zu einem großen Teil von einer tragfähigen Eltern-Kind-Beziehung und der Motivation in der Familie abhängig. Bei einem Teil der betroffenen Kinder reduzieren sich die Schlafprobleme im Verlauf der Entwicklung ohne Intervention. Dies trifft auch auf die häufig vorkommenden
41
748
Kapitel 41 · Schlafstörungen
41
. Abb. 41.2. Eltern-Schlafprotokoll für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter. (Aus Fricke u. Lehmkuhl 2006a)
749 41.5 · Therapeutisches Vorgehen
Parasomnien Schlafwandeln, Nachtschreck und Albträume zu. Falls eine Behandlung dieser Störungen erforderlich ist, ist der Behandlungsverlauf ebenfalls als günstig einzuschätzen. Das therapeutische Vorgehen richtet sich nach Symptomatik und Alter des Kindes/Jugendlichen. Aus diesem Grund wird es – vor allem bei Insomnien – für unterschiedliche Altersgruppen (in diesem Fall Vorschulund Schulalter bzw. Jugendalter) getrennt dargestellt. Schlafstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter werden in 7 Kap. III/19 ausführlich behandelt, so dass an dieser Stelle auf die Besonderheiten dieser Altersgruppe nicht eingegangen wird.
41.5.1 Schlafedukation
Vor allem bei nichtorganischen Insomnien ist die Aufklärung über den Schlaf von großer Bedeutung. Schlafmythen und dysfunktionale Ansichten über den Schlaf können Sorgen und Ängste verursachen und zu ungünstigen Verhaltensweisen führen. Durch Informationen zum Schlaf kann dem entgegengewirkt werden. Neben den Erläuterungen zu den Schlafstadien und der Schlafarchitektur (Aufbau des Schlafes) können Informationen zur Entwicklung des Schlafes, d. h. den Veränderungen des Schlafes mit dem Lebensalter, und zum Schlafbedürfnis sowie zirkadianem Rhythmus vermittelt werden.
Schlafstadien, Schlafarchitektur und zirkadianer Rhythmus Die Analyse des Schlafes erfolgt in der Regel im Schlaflabor, indem verschiedene Parameter aufgezeichnet werden: Elektroenzephalogramm, Elektrookkulogramm und Elektromyogramm. Nach den Klassifikationskriterien von Rechtschaffen und Kales (1968) gliedert sich der Schlaf in Non-REM- (Stadium I–IV) und REM-Schlaf, wobei genau definiert ist, welche Charakteristika (z. B. Frequenz der Hirnströme, typische Graphoelemente) das jeweilige Stadium kennzeichnen. In . Tab. 41.2 sind die Schlafstadien, ihre Merkmale sowie der prozentuale Anteil jedes Stadiums in der Nacht eines gesunden Erwachsenen dargestellt. In der Regel werden im Schlaflabor noch weitere Parameter (z. B. Sauerstoffsättigung) abgeleitet, um beispielsweise organische Schlafstörungen (z. B. schlafbezogene Atmungsstörungen) diagnostizieren zu können. Die verschiedenen Schlafstadien werden vom gesunden Schläfer in der Regel in einer individuell relativ stabilen zyklischen Abfolge durchlaufen. Diese Abfolge kann man sich wie eine Treppe vorstellen: Zunächst geht die Treppe nach unten. Beim Einschlafen gehen wir die erste Treppenstufe hinunter mit dem Stadium 1, dann folgt eine Treppenstufe tiefer das Stadium 2. Danach gehen wir die Treppe noch tiefer hinunter (Stadium 3 und 4). Im Tiefschlaf verweilen wir, bis wir
Vorschul- und Schulalter Die Erläuterung der Charakteristika der verschiedenen Schlafstadien und der Schlafarchitektur bildet die Basis, um die Veränderungen des Schlafes im Entwicklungsverlauf darzustellen: In den ersten drei Monaten sind die Schlaf- und Wachzeiten des Säuglings noch nicht am Tag-Nacht-Rhythmus orientiert. Im Alter von 4–6 Monaten schlafen schon viele Säuglinge nachts 6–8 Stunden durch. Ein etwa einjähriges Kleinkind schläft vorwiegend in der Nacht, macht aber noch zwei Tagesschläfchen. Mit ungefähr 4 Jahren machen Kinder nur noch einen Tagesschlaf, und in der Grundschulzeit schlafen Kinder in der Regel nicht mehr tagsüber. Die meisten Eltern sind darüber informiert, dass sich das Schlafbedürfnis mit dem Alter reduziert, dennoch über- oder un-
die Treppe wieder hinaufgehen, denn nun wird das Gehirn sehr aktiv: Die erste Traumphase (REM-Schlaf ) tritt auf. Sie wird in der Graphik (. Abb. 41.3) als schwarzer Balken dargestellt. Die Zeit vom Einschlafen bis zum Ende der ersten Traumphase dauert ungefähr 90 Minuten und stellt einen Zyklus dar. Danach folgen nach dem gleichen Schema weitere Zyklen, bis wir am Morgen wieder erwachen. Insgesamt gilt: Am Anfang der Nacht ist der Anteil an Tiefschlaf in den Schlafzyklen höher. Danach nimmt der Anteil an Tiefschlaf in den einzelnen Zyklen ab. Stattdessen werden die REM-Phasen in jedem Zyklus länger. In . Abb. 41.3 ist ein idealisiertes Schlafprofil eines Erwachsenen dargestellt. Eine weitere zentrale Bedeutung kommt dem zirkadianen Rhythmus – unserer »inneren Uhr« – zu. Unter anderem weisen unsere Körpertemperatur sowie auch die hormonelle Ausschüttung von Kortisol eine zirkadiane Rhythmik auf. Die verschiedenen Rhythmen sind aufeinander abgestimmt. Das Zusammenspiel kann jedoch z. B. durch eine unregelmäßige Lebensweise (z. B. unregelmäßige Schlafenszeiten) gefährdet werden. Die Folge können Schlafstörungen sein. Um die Synchronizität des zirkadianen Rhythmus zu unterstützen sind deshalb regelmäßige SchlafWach-Zeiten von großer Bedeutung.
terschätzen sie leicht das Schlafbedürfnis ihrer Kinder. Durchschnittswerte zum Schlafbedürfnis von Kindern unterschiedlicher Altersgruppen liegen vor (. Abb. 41.4; Stores u. Wiggs 2001), jedoch sind die Werte lediglich Richtlinien. Abweichungen von 1–2 Stunden in der Schlafdauer sind durchaus normal, d. h. es ist sinnvoll, im Einzelfall mit Hilfe eines Schlafprotokolls herauszufinden, wie viel Schlaf das Kind benötigt, um am Tage ausgeruht und leistungsfähig zu sein. Auch die Schlafarchitektur verändert sich mit dem Lebensalter. Kinder verbringen mehr Schlafzeit im REMSchlaf. Der REM-Schlafanteil am Gesamtschlaf nimmt von ca. 50% bei Säuglingen bis auf ca. 13% bei älteren Menschen ab. Außerdem haben Kinder Tiefschlaf nicht nur in den ersten Schlafzyklen wie Erwachsene, sondern auch in den
41
750
Kapitel 41 · Schlafstörungen
. Tab. 41.2. Schlafstadien. (Nach Fricke u. Lehmkuhl 2006a) Schlafstadium
Merkmale
Anteil bei Erwachsenen [%]
Stadium 1
4 Einschlafstadium 4 Übergangsstadium zwischen Wachen und Schlafen 4 Wird subjektiv häufig als »Dösen« bezeichnet
10
Stadium 2
4 Wird als der eigentliche Schlafbeginn angesehen 4 Schläfer ist noch leicht erweckbar 4 Tagtraumähnliche Gedanken
50
Stadium 3 und 4
4 »Leichterer« und »tieferer« Tiefschlaf 4 Körperliche Erholung 4 Schläfer ist schwer erweckbar, aber bedeutsame Signale von außen können zum Erwachen führen
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REM (»rapid eye movement«; »Traumschlaf«)
4 »Psychische Erholung« 4 Bizarre Träume 4 Starke Erschlaffung der Muskulatur (Muskelatonie)
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Leichtschlaf
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Tiefschlaf
. Abb. 41.3. Idealisiertes Schlafprofil eines jungen, gesunden Erwachsenen. (Aus Fricke u. Lehmkuhl 2006a)
Morgenstunden. Weiterhin ist es wichtig, den Eltern die Bedeutung des zirkadianen Rhythmus zu erläutern. Insgesamt dienen die Informationen dazu, den Eltern den Sinn der Schlafhygieneregeln besser verständlich zu machen, wodurch die Compliance indirekt erhöht wird. Die Informationen für die Eltern sollten den Kindern in altersangemessener Weise ebenfalls erklärt werden. Dadurch erhöht sich auch bei ihnen die Veränderungsmotivation.
häufig zu einer Labilisierung des Schlaf-Wach-Rhythmus, da bei gleichbleibendem Schlafbedürfnis im Vergleich zu Präadoleszenten eine anwachsende Schlafschuld entstehen kann: Die Jugendlichen sind meist in höherem Maße durch Schule und soziale Aktivitäten, die z. T. auch in den Abendstunden stattfinden, gefordert. Gleichzeitig beginnt die Schule früh am Morgen, so dass Jugendliche dazu neigen, unregelmäßige Schlafgewohnheiten mit spätem Ins-BettGehen und Ausschlafen am Wochenende auszubilden.
Jugendalter Im Jugendalter ähnelt die Therapie hinsichtlich Schlafedukation und Schlafhygieneregeln immer mehr der Behandlung von Erwachsenen. Besonderheiten ergeben sich aus den Entwicklungsschritten, die im Jugendalter anstehen. Vor allem kognitive Faktoren spielen hier im Unterschied zum Kindesalter eine größere Rolle. In dieser Zeit kommt es
41.5.2 Schlafregeln
Die Regeln zur Schlafhygiene beschreiben Verhaltensweisen, die helfen, das Schlafverhalten und die Schlafgewohnheiten des Kindes/Jugendlichen zu verbessern. Je nach Al-
751 41.5 · Therapeutisches Vorgehen
. Abb. 41.4. Durchschnittliche Schlafzeiten von Kindern in verschiedenen Altersstufen. (Aus Fricke u. Lehmkuhl 2006a)
ter enthalten sie unterschiedliche Schwerpunkte. In den meisten Fällen brauchen die Familien Hilfe, die Regeln in der Praxis zu realisieren. Oft hilft es nur bedingt, wenn die Regeln lediglich theoretisch erläutert werden. Dies bezieht sich vor allem auf die Festlegung der Bettliegezeiten und des Schlafrituals sowie das Ausklingen des Tages. Für viele Familien ist es hilfreich, Regeln schriftlich zu fixieren, was
4 Die Schlafzeiten sollten entsprechend dem Schlafbedürfnis des Kindes und unter Einhaltung regelmäßiger Zubettgeh- und Aufstehzeiten festgelegt werden. Mit Hilfe eines Schlafprotokolls sollte die benötigte Gesamtschlafzeit des Kindes ermittelt werden. Entsprechend dem ermittelten Schlafbedürfnis des Kindes sollten dann die Zubettgeh- und Aufstehzeiten festgelegt werden. Falls das Kind einen Mittagsschlaf hält, sollte diese Schlafzeit von der Gesamtschlafzeit in der Nacht abgezogen werden und der Tagesschlaf vor 15 Uhr liegen, damit der Mittagsschlaf nicht zu nah an der Nachtschlafphase liegt und das Kind abends ausreichend müde ist, wenn es zu Bett geht. 4 Vor allem bei Vorschulkindern gilt, dass einem Kind, das gelernt hat, am Tage allein einzuschlafen, dies auch am Abend oder in der Nacht leichter gelingt. Die Eltern sollten dem Kind behilflich sein, allein wieder in den Schlaf zu finden, indem sie Sicherheit vermitteln und dem Kind helfen z. B. durch ruhiges Sprechen, sich selbst zu beruhigen. 4 Einschlafen bedeutet für Kinder, dass sie sich von den Eltern trennen. Wenn ein Kind gelernt hat, sich für gewisse Zeitabschnitte am Tage zu trennen (d. h. sich zu 6
nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern Sicherheit und Orientierung gibt.
Vorschul- und Schulalter Im Kindesalter sind Regeln zur Schlafhygiene eine wichtige Voraussetzung für einen guten Schlaf. Folgende Empfehlungen sind zu beachten (nach Fricke-Oerkermann et al. 2007a):
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4
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4
trennen und wiederzuvereinen), dann fällt es ihm auch am Abend leichter. Ein angemessenes Schlafambiente (z. B. keine störenden Licht- oder Lärmquellen) fördert einen guten Schlaf. Eine ruhige Phase vor dem Schlafengehen, in der ein Schlafritual von den Eltern durchgeführt wird, hilft dem Kind beim Einschlafen. Aus diesem Grund sollte jeden Abend ein Schlafritual durchgeführt werden, das nicht länger als 30 Minuten dauert. Das Kind sollte vor dem Schlafengehen keine Medikamente einnehmen, die schlafbeeinträchtigende Nebenwirkungen (z. B. Stimulanzien zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, ADHS) haben. Sollte dies der Fall sein, ist mit dem behandelnden Arzt zu überlegen, ob eine Umstellung auf ein anderes Medikament oder z. B. eine Einnahme am Morgen und nicht am Abend möglich ist. Das Abendessen sollte nicht direkt vor dem Schlafengehen stattfinden. Es ist jedoch auch wichtig, dass das Kind nicht hungrig ins Bett geht. Ein Glas Milch oder eine Banane vor dem Schlafengehen können hier helfen.
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Kapitel 41 · Schlafstörungen
4 Kinder sollten nachmittags und abends keine koffeinhaltigen oder teeinhaltigen Getränke (z. B. Cola) zu sich nehmen. 4 Zwischen Alltag und Zubettgehen sollte Zeit zum Ausklingen des Tages sein. Vor dem Schlafengehen sollte sich das Kind nicht mit körperlich oder geistig anstrengenden Tätigkeiten beschäftigen. 4 Nächtliches Essen sollte vermieden werden. 4 Helles Licht ist ein »Wachmacher«. Nachts sollte das Kind keinem hellen Licht ausgesetzt sein. 4 Am Tage sollten sich Kinder ausreichend bewegen – möglichst auch an der frischen Luft.
Jugendalter Im Jugendalter können die Schlafhygieneregeln auch nur den Jugendlichen selbst ausgehändigt werden. Für Jugend-
4 Führe zwei Wochen lang ein Schlafprotokoll, in dem Du einträgst, wie Du jede Nacht geschlafen hast. Auf diese Weise kannst Du feststellen, wie viele Stunden Du durchschnittlich pro Nacht schläfst. Versuche entsprechend Deinem Schlafbedürfnis regelmäßige Zubettgeh- und Aufstehzeiten, die möglichst auch am Wochenende gelten, festzulegen. Die Zeiten sollten am Wochenende (d. h. freitags und samstags) nicht mehr als eine Stunde von den Zubettgeh- und Aufstehzeiten an Schultagen abweichen. 4 Falls regelmäßige Schlafzeiten am Wochenende oder auch in der Woche für Dich nicht umsetzbar sind, kannst Du einem möglichen Schlafmangel auf folgende Weise begegnen: – Gehe an einem oder an zwei Abenden in der Woche vor 22 Uhr ins Bett. Alternativ: – Bei vielen Menschen treten tagsüber Zeiten erhöhter Schlafbereitschaft auf. Diese Phasen kannst Du für einen Kurzschlaf oder zumindest für Ruhephasen von 20–30 Minuten Dauer nutzen. Auf jeden Fall solltest Du in diesen Phasen die Müdigkeit nicht durch Kaffee, Nikotin oder andere Drogen bekämpfen. 4 Falls Du am Tage schläfst, solltest Du darauf achten, dass Du nur kurze Nickerchen von maximal 30 Minuten Dauer machst und die Schlafphase nicht zu nah an der Nachtschlafphase liegt. Ansonsten kann sich das Einschlafen aufgrund fehlender Müdigkeit verschlechtern. 4 Alkohol verbessert zwar anfangs das Einschlafen, das Durchschlafen kann jedoch gestört werden. Es kann sein, dass Du dies an Dir selbst nicht bemerkst, aber 6
4 Da wir morgens besonders empfindsam für Licht sind, ist es auch für den Schlaf-Wach-Rhythmus von Kindern günstig, sich morgens ungefähr eine halbe Stunde dem Tageslicht auszusetzen. 4 Ein geregelter Tagesablauf, z. B. mit regelmäßigen (möglichst gemeinsamen) Essenszeiten, unterstützt den Schlaf-Wach-Rhythmus von Kindern positiv. 4 Das Bett ist zum Schlafen da und nicht zum Fernsehen, Computerspielen oder Lesen. 4 Schlafen oder Zubettgehen sollte nicht als Strafe verwendet werden. 4 Im Kinderschlafzimmer sollte nie geraucht werden.
liche gelten die folgenden Schlafregeln (nach Fricke-Oerkermann et al. 2007a):
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trotzdem solltest Du – nicht nur aus diesem Grund – Alkoholkonsum möglichst vermeiden. Um gut schlafen zu können, ist auch das Schlafumfeld wichtig. Dazu gehört auch, dass störende Licht- und Lärmquellen ausgeschaltet und extreme Temperaturen vermieden werden. Ein Ritual vor dem Schlafengehen, das zwischen 15 und 30 Minuten dauern kann (z. B. sich bettfertig machen, lesen, den Eltern gute Nacht sagen), hilft Dir, zur Ruhe zu kommen, wenn es regelmäßig jeden Abend durchgeführt wird. Achte darauf, dass Du vor dem Schlafengehen keine Medikamente, die den Schlaf »stören« können, einnimmst. Du solltest nicht direkt vor dem Schlafengehen zu Abend essen. Mit Hunger solltest Du jedoch auch nicht ins Bett gehen. Ein Jogurt oder eine Banane vor dem Schlafengehen können hier helfen. Achte darauf, dass Du nachmittags und abends keine koffeinhaltigen oder teeinhaltigen Getränke (z. B. Cola) zu Dir nimmst. Zwischen dem Tag und dem Zubettgehen solltest Du Zeit zum Ausklingen des Tages einplanen. Beschäftige Dich kurz vor dem Schlafengehen nicht mit körperlich oder geistig (z. B. Krimi im Fernsehen, Schulaufgaben) anstrengenden oder anregenden Tätigkeiten. Nächtliches Essen solltest Du vermeiden. Helles Licht ist ein »Wachmacher«. Achte darauf, dass Du nachts kein helles Licht anmachst, wenn Du nicht einschlafen kannst. Dadurch kannst Du erst recht wach werden. Am Tage solltest Du Dich ausreichend bewegen, z. B. indem Du Sport machst oder an der frischen Luft bist.
753 41.5 · Therapeutisches Vorgehen
4 Morgens reagieren wir besonders auf Licht. Für den Schlaf-Wach-Rhythmus ist es deshalb günstig, sich morgens ungefähr eine halbe Stunde dem Tageslicht auszusetzen, z. B. indem Du zu Fuß zur Schule gehst. 4 Achte darauf, dass Du einen geregelten Tagesablauf hast, z. B. mit regelmäßigen möglichst gemeinsamen
41.5.3 Interventionen bei Ein-
und Durchschlafstörungen Die Verfahren der Schlafedukation und -hygiene sind in vielen Fällen geeignet, um das Schlafverhalten zu verbessern, jedoch oft nicht ausreichend, um Schlafprobleme vollständig zu beheben. Im Folgenden werden spezifische Interventionen bei Ein- und Durchschlafstörungen erläutert.
Vorschul- und Schulalter Da Ein- und Durchschlafstörungen im Kindes- und Jugendalter ganz unterschiedliche Ursachen haben können, werden die Interventionen spezifisch ausgewählt. Interventionen bei schlafbezogenen Eltern-Kind-Konflikten. In vielen Familien kommt es vor allem im Vorschul-
Meist ist es hilfreich, in Familien mit solchen Schwierigkeiten Regeln für die Konfliktsituationen aufzustellen. Dies bedeutet, dass sich die Eltern überlegen, wie die Regeln z. B. am Abend lauten, für wen sie gelten und aus welchen Gründen diese Regeln in der Familie eingehalten werden sollen. Wenn das Kind mit in die Neustrukturierung der problematischen Schlafsituation einbezogen
Zusätzlich kann überlegt werden, ob positive Konsequenzen, wenn sich das Kind an die Abmachung hält, und negative Konsequenzen, wenn das Kind die Abmachung nicht einhält, festgelegt werden. Hierbei sollte darauf geachtet werden, dass die Konsequenzen adäquat und durchführbar sind. In manchen Fällen kann es auch sinnvoll sein, einen PunktePlan einzusetzen (7 Kap. III/13). Hierbei wird das erwünschte Verhalten in Unterschritte unterteilt. Das Kind erarbeitet sich für jeden Schritt, mit dem es ein bestimmtes Verhalten zeigt, Punkte, die später in Belohnungen eingetauscht werden. Die Praxis zeigt, dass es in der Regel ausreicht, neue Regeln aufzustellen und somit auf die Festlegung von Konsequenzen oder Punkte-Plänen verzichtet werden kann. Interventionen bei schlafbezogenen Ängsten. Ein- und
oder Durchschlafstörungen können auch durch schlafbezogene Ängste verursacht werden. Vor allem im Vorschul- und Schulalter treten schlafbezogene Ängste auf, im Jugendalter
Essenszeiten mit Deinen Eltern. Hierdurch unterstützt Du Deinen Schlaf-Wach-Rhythmus positiv. 4 Das Bett ist zum Schlafen da und nicht zum Fernsehen, Computerspielen oder für das Handy. 4 In Deinem Schlafzimmer sollte nicht geraucht werden!
und Schulalter im Zusammenhang mit dem Schlafen zu Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kind. In den meisten Fällen treten die Konfliktsituationen beim Zubettgehen oder morgens beim Aufstehen auf. Abendliche Konflikte führen häufig dazu, dass das Zubettgehen für Eltern und Kind negativ besetzt ist und es zu Einschlafschwierigkeiten kommt. Die Folge kann ein Schlafdefizit sein, da das Kind am nächsten Morgen wegen der Schule pünktlich aufstehen muss und aufgrund des verspäteten Einschlafens noch nicht ausreichend geschlafen hat. In diesem Fall sollten den Eltern allgemeine Erziehungsstrategien vermittelt werden, womit sie schwierige Situationen, die mit dem Schlaf zu tun haben, bewältigen können. Eltern und Kind geraten leicht in einen Teufelskreis, der dazu führt, dass ein Konflikt eskaliert bzw. die Eltern in unangemessener Form dem Druck der Situation nachgeben.
wird, fühlt es sich akzeptiert und kann seine eigene Meinung zu den geplanten Veränderungen äußern. Auf diese Weise können besser Kompromisse geschlossen werden, die Eltern und Kind dazu motivieren, auf die Einhaltung der Neuerungen zu achten. Letztendlich geht es darum, sinnvolle und umsetzbare Regeln festzulegen, die zu einer entspannteren Schlafsituation beitragen.
sind sie seltener. Kindliche Ängste sollten von den Eltern grundsätzlich ernst genommen werden (7 Kap. III/30). Kinder in diesem Alter haben häufig Schwierigkeiten, zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden. Für sie kann die Vorstellung von einem Monster unter dem Bett real erscheinen. Vor allem bei Kindern mit Ängsten ist es wichtig, dass die Eltern auch am Tage Geborgenheit und Sicherheit vermitteln. In machen Fällen hilft ein Nachtlicht, damit es im Zimmer nicht ganz so dunkel ist. Hilfreich im Umgang mit schlafbezogenen Ängsten können auch Kinderbücher sein, die sich mit dem Thema befassen (z. B. Kritz Kratz – Schlaf, kleiner Frosch von Crowther 2005). Das Kind kann sich mit der Person in der Geschichte vergleichen, sich mit seinen Ängsten auseinandersetzen und den Vorbildern ähnliche Lösungen ausprobieren, um die Angst zu mindern. Wenn sich die Ängste auf etwas Konkreteres beziehen, so ist zu überlegen, ob man die Angst durch eine gedankliche Veränderung auflösen kann.
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Kapitel 41 · Schlafstörungen
Beispiel
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Manche Kinder fürchten sich vor Schatten, die auf die Wand des Kinderzimmers geworfen werden und aussehen wie ein großes Gespenst. Hier können die Eltern dem Kind erklären, was es in Wirklichkeit sieht (z. B. den Schatten der Anziehsachen, die über einem Stuhl hängen). Der bedrohliche Gedanke kann dann ersetzt werden durch einen positiven Gedanken: »Das ist nur der Schatten meiner Kleidung, die über meinem Stuhl hängt. Vor dem muss ich mich nicht fürchten.«
Mit Hilfe von Gedanken funktioniert auch die Methode »fantasievolle Vorstellung«. Hier werden keine realistischen positiven Gedanken gesucht, sondern die Fantasie genutzt. Das Kind kann sich z. B. vorstellen, dass es ein »magisches unsichtbares Hemd« besitzt, das die Fähigkeit besitzt, es zu beschützen. Abends wenn das Kind ins Bett geht, legt es das magische Hemd an und kann sich sicher fühlen. Diese Methode eignet sich vor allem für jüngere Kinder und Kinder, die sehr fantasievoll sind.
Außer diesen beiden gedanklichen Umstrukturierungen kann die graduelle Exposition eingesetzt werden. Die Vermeidung der beängstigenden Situationen führt zur Aufrechterhaltung und Verstärkung der Ängste. Die Eltern sollten bei der Verwendung dieser Methode ihren Kindern Mut machen und sie darin bestärken, dass sie es schaffen können, die Angst zu besiegen, auch wenn die Angstgefühle sehr unangenehm sind. Das Kind lernt bei der Exposition, die Angst auszuhalten und zu akzeptieren, so dass die Angstsymptome zurückgehen. Bei der hier vorgesehenen graduellen Konfrontation ist die Angst weniger stark ausgeprägt und die Methode weniger belastend als bei massierter Konfrontation. Schrittweise lernt das Kind, immer schwierigere Situationen zu meistern. Langfristig sollen sich hier realitätsgerechtere Kognitionen bilden, wie z. B. »Ich kann es schaffen, die Angst zu besiegen« oder »Die Angst ist unangenehm, aber es passiert mir nichts.« Als zusätzlicher Anreiz für das Kind können die einzelnen Schritte mit Punkten belohnt werden. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass Ängste zunächst zu vermehrter Anspannung führen, die die Schlafprobleme verstärken. Es ist genau abzuwägen, wann man dieses Verfahren einsetzt und wie die Unterteilung in einzelne Schritte aussehen sollte.
Beispiel Graduelle Extinktion bei schlafbezogenen Ängsten Angst des Kindes: Das Kind hat Schwierigkeiten und fürchtet sich, allein ohne die Eltern im Kinderschlafzimmer einzuschlafen Schritt 1
Elternteil bleibt, bis das Kind eingeschlafen ist, beim Kind und hält z. B. seine Hand, indem es sich auf einen Stuhl neben das Bett setzt.
Schritt 2
Elternteil bleibt, bis kurz bevor das Kind einschläft beim Kind und verlässt dann das Zimmer.
Schritt 3
Elternteil verlässt den Raum, wenn das Kind noch wach ist.
Manche Kinder entwickeln Ein- und Durchschlafprobleme, weil sie befürchten, in der Nacht einen schrecklichen Albtraum zu haben. Es gibt auch Kinder, die sich ängstigen, dass sie nachts eine weitere Schlafwandel- oder Nachtschreck-Episode erleben. Das kommt z. B. vor, wenn die Eltern mit den Kindern in beängstigender Weise über die nächtlichen Ereignisse sprechen, und wird dadurch verstärkt, dass sich die Kinder an die Episoden nicht erinnern. In diesen Fällen steht immer zunächst die Behandlung der Parasomnie im Vordergrund. Interventionen bei konditionierter Insomnie. Bei manchen Kindern/Jugendlichen beginnen die Schlafstörungen mit einem Lebensereignis, welches belastend, aufregend oder mit Stress verbunden ist. Zunächst geht es in solchen Fällen darum, die emotionalen Belastungen zu reduzieren, wodurch die Schlafprobleme gebessert werden. Da Schlafstörungen sich aber leicht verselbstständigen, reduzieren sie sich mit der Behebung oder Verminderung der Belastung oft nicht wieder, sondern chronifizieren im Sinne einer konditionierten Insomnie. Je nach Alter des Kindes können dysfunktionale Kog-
nitionen (»Bestimmt kann ich heute wieder nicht einschlafen und wälze mich stundenlang im Bett herum«), die zu Anspannung und somit zu Schlaflosigkeit führen, eine wichtige Rolle spielen (Näheres hierzu 7 folgenden Abschn. »Jugendalter«). Nichtschlafförderndes Verhalten (z. B. langes Ausschlafen am Wochenende) führt zusätzlich zu einer Desynchronisierung des Schlaf-Wach-Rhythmus. Daher sind die Regeln zur Schlafhygiene ein wichtiger Bestandteil zur der Behandlung kindlicher und jugendlicher Ein- und Durchschlafstörungen. Das Erlernen einer Entspannungsübung (z. B. Fricke u. Lehmkuhl 2006b) kann Vorschul- und Schulkindern zusätzlich helfen, besser einzuschlafen. Aber auch einfachere entspannungsinduzierende Maßnahmen können einschlafförderlich wirken wie z. B. Rituale (Füße massieren, Rücken streicheln). Beim Einsatz von Entspannungsübungen, die vom Kind ausgeführt werden, ist es wichtig, dass das Entspannungsverfahren zunächst außerhalb des Bettes trainiert wird und erst dann zum Einschlafen eingesetzt wird, wenn das Kind ausreichend gelernt hat, sich mit der Übung zu entspannen. Hier benötigen Eltern und Kind meist Unterstützung, um eine korrekte Umsetzung zu gewährleisten.
755 41.5 · Therapeutisches Vorgehen
. Abb. 41.5. Teufelskreis der Schlafstörung. (Aus Fricke u. Lehmkuhl 2006a, S. 159)
Das geregelte Wecken ist eine Methode, die bei Kindern, die regelmäßig zu einer bestimmten Uhrzeit nachts erwachen, angewendet werden kann: Dabei wird das Kind ungefähr einen Monat lang ca. 15 Minuten vor dem spontanen Aufwachzeitpunkt geweckt. Dem Kind fällt es dann sehr viel leichter wieder einzuschlafen, so dass die Durchschlafprobleme allmählich verschwinden.
Gruppenprogrammen werden Schlafedukation, Schlafhygiene, kognitive Verfahren (z. B. kognitive Umstrukturierung) und Stimuluskontrolle eingesetzt. Das Programm von Riemann und Backhaus (1996) setzt bei der Behandlung der Insomnie einen Schwerpunkt auf die Anwendung von Entspannungsverfahren. Die Basis des Behandlungskonzepts von Müller und Paterok (1999) liegt hingegen bei der Durchführung der Schlafrestriktionstechnik.
Jugendalter Lebensereignisse wie ein Schulwechsel bilden in vielen Fällen im Jugendalter Auslöser für Schlafstörungen. Da Einund Durchschlafprobleme leicht chronifizieren, reduzieren sie sich mit der Behebung oder Verminderung der Belastung oft nicht wieder: Die betroffene Person gerät in einen Teufelskreis der Schlafstörung, in dem schlafbezogene Gedanken (»Hoffentlich kann ich heute Abend einschlafen«) eine wichtige Rolle spielen (. Abb. 41.5). Die negativen Gedanken führen meistens zu Gefühlen wie Ängsten, Hilflosigkeit oder Ärger, welche Anspannung auslösen. Hier ist es hilfreich, durch kognitive Umstrukturierung dysfunktionale Gedanken zum Schlaf in konstruktive Gedanken umzustrukturieren (7 Kap. II/10). Da Jugendliche im Vergleich zu Kindern vermehrt zum Grübeln und Nachdenken im Bett neigen, helfen hier kognitive Verfahren. Hierzu gehören die kognitive Umstrukturierung, systematisches Problemlösen oder der »Gedankenstuhl«. Entspannungsübungen reduzieren bei Jugendlichen Anspannung und erleichtern auf diese Weise den Schlafbeginn. Sie müssen zunächst außerhalb des Bettes trainiert werden und sollten erst danach zum Einschlafen eingesetzt werden, wenn der Jugendliche sie bereits ausreichend eingeübt hat. Schlafrestriktion (partieller Schlafentzug) und Stimuluskontrolle (7 Kap. II/10) sind Verfahren, die sich – ebenso wie auch Entspannungsverfahren – als wirksam in der Behandlung von Insomniebeschwerden bei Erwachsenen herausgestellt haben. Für das Kindes- und Jugendalter eignen sich diese Methoden weniger, in der späten Adoleszenz kann ihr Einsatz erwogen werden. Hier ist vor allem zu beachten, dass die Schlafzeiten bei Kindern und Jugendlichen nicht weniger als 6 Stunden betragen sollten (Mindell u. Owens 2003). Im Jugendalter können somit auch evaluierte psychologische Behandlungsprogramme wie z. B. von Riemann und Backhaus (1996) oder Müller und Paterok (1999) für die Behandlung hinzugezogen werden. In beiden psychologischen
41.5.4 Interventionen bei Parasomnien
Interventionen bei Albträumen Für Kinder, die aus einem Albtraum erwachen, ist körperliche Nähe sehr beruhigend. Wenn das Kind wieder ruhiger ist, sollten die Eltern kurz nach dem Inhalt des Traumes fragen: »Was ist in dem Traum passiert?«, »Wer war außer dir noch da?«, »Was hast du in dem Traum gemacht?«, »Wie hast du dich gefühlt?«. Die Eltern sollten dem Kind erklären, dass es nur geträumt hat, dass es in Sicherheit ist und ihm nichts passieren kann. Viele Kinder können mit der Zusage besser einschlafen, dass die Eltern bei einem wiederkehrenden Albtraum sofort kommen.
Allgemeine Maßnahmen, die Kindern mit Albträumen helfen können, sind: 4 Überprüfung von Fernsehsendungen, Comics, Computerspielen etc., die Angst machen können. Es ist wichtig, dass die Eltern darauf achten, dass das Kind nur altersangemessene Sendungen im Fernsehen etc. sieht. 4 Einrichten eines Nachtlichts, damit sich das Kind, wenn es nachts erwacht, besser in seinem Zimmer orientieren kann. 4 Wenn das Kind z. B. ein Lieblingsstofftier hat, so kann das Stofftier dem Kind helfen, sich nachts nicht einsam, sondern sicher zu fühlen. 4 Kindergeschichten, die dem Kind helfen können, mit Träumen oder Alpträumen besser umzugehen (z. B. Was macht der Mond in der Nacht von Herbauts 1999). Von Michael Ende (1978) gibt es z. B. 6
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Kapitel 41 · Schlafstörungen
auch das Gedicht »Traumfresserchen«, das von einem kleinen Wesen handelt, das die schlechten Träume der Kinder aufisst und die guten Träume zurücklässt. Für viele Kinder kann das Gedicht zu einem beruhigenden Ritual vor dem Schlafengehen werden, was die Ängste vor Albträumen reduziert.
Bei Wiederholungsträumen oder Träumen, die das Kind auch am Tage belasten, sollte das Kind/der Jugendliche angeleitet werden, sich mit dem Geträumten auseinanderzusetzen (Schredl 2006). Das kann durch Malen oder Aufschreiben einer konstruktiven Lösung der Traumvorgänge geschehen. Die Eltern und auch der Therapeut sollten dabei sehr zurückhaltend mit eigenen Vorschlägen und Lösungen sein. Eine selbst erarbeitete und ausgedachte Lösung hilft dem Kind bei der Bewältigung in der Regel sehr viel mehr als von außen vorgegebene Strategien. Das neue, angstfreie Ende des Traumes soll eingeübt werden, um die Angst zunehmend zu mindern und ganz zu verlieren. Entweder malt das Kind den Traum mehrmals, oder die Eltern lassen sich den Traum immer wieder anhand des Bildes erzählen. Bei Kindern, die Schwierigkeiten haben, den Albtraum zu malen, kann die Geschichte auch aufgeschrieben werden, was man auch bei Erwachsenen macht. Bei wiederkehrenden Albträumen wird mit der Zeit das neue Ende des Traums mitgeträumt, so dass der Traum weniger belastend ist. Häufig verschwindet der Albtraum mit der Zeit vollständig.
Beispiel In . Abb. 41.6 ist beispielhaft die Zeichnung eines fünfjährigen Jungen dargestellt, der in seinem Albtraum von riesigen Gespenstern bedroht wurde. Er selbst malte sich selbst links unten im Bild auf der Burg. Seine Lösung bestand darin, eine große Spinne zu malen, die ihn vor den Gespenstern verteidigt. Zeichnung eines Albtraums mit Lösung
. Abb. 41.6. Beispiel eines fünfjährigen Jungen, der seinen Albtraum malte. (Aus Schredl 2006)
Interventionen bei Somnambulismus und Pavor nocturnus Somnambulismus (Schlafwandeln) und Pavor nocturnus (Nachtschreck) kommen vor allem im Vorschul- und Schulalter vor und gelten in der Regel als Entwicklungsphänomen, das im Verlauf remittiert. Nur in wenigen Fällen ist neben der Aufklärung über das Störungsbild und Sicherheitsvorkehrungen eine intensivere Behandlung notwendig. Eltern sind häufig beunruhigt, wenn ihr Kind nachts schlafwandelt oder einen Nachtschreck hat. Den Eltern hilft es, wenn sie genau über die Symptomatik der beiden Störungsbilder aufgeklärt werden. Werden den Eltern die Kriterien der Schlafstörung und das Phänomen ausführlicher erläutert, so können sie z. B. die Desorientierung beim Wecken während der Episode oder die Amnesie für das Ereignis am nächsten Morgen besser einordnen und verstehen. In diesem Zusammenhang ist es auch sinnvoll, die Abgrenzung zu Albträumen zu erläutern. Weiterhin sollte man den Eltern erklären, dass man Kinder während einer Nachtschreck- oder Schlafwandel-Episode nicht wecken, sondern ins Bett zurückbringen sollte, damit sie weiterschlafen: Einerseits ist es schwierig, Kinder während einer Episode richtig aufzuwecken, andererseits ist das Kind nach einem Weckversuch der Eltern desorientiert und kann aus diesem Grund mit verstärkter Furcht oder auch Aggression reagieren. Außerdem ist es eher ungünstig, Kinder über die nächtlichen Ereignisse, die sie am Morgen nicht erinnern können, zu informieren. Hierdurch kann die Angst des Kindes verstärkt werden und sich somit ungünstig auf das Einschlafen auswirken. Die Eltern sollten darauf hingewiesen werden, dass es sich beim Pavor nocturnus und beim Somnambulismus in den meisten Fällen um ein Entwicklungsphänomen handelt, welches keinen Grund zur Beunruhigung darstellt. Mögliche Ursachen bzw. Faktoren, die die Symptomatik verstärken können, sind: Vererbung, extreme Belastung, Schlafentzug und Fieber. ! Bei der Behandlung von Pavor nocturnus und Somnambulismus ist das Treffen von Sicherheitsvorkehrungen durch die Eltern die wichtigste Maßnahme.
Weil die Episoden im Tiefschlaf auftreten, ist es in der Regel hilfreich, einen regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus einzuhalten bzw. einen Mittagsschlaf einzuführen, damit der Tiefschlafdruck reduziert wird. Die Methode des geregelten Weckens kann dann eingesetzt werden, wenn die Episoden immer zu einer bestimmten Zeit auftreten (Stores 2001): Das Kind wird über einen Zeitraum von einem Monat 15–30 Minuten vor der nächtlichen Episode geweckt. Folgende Einschränkung ist zu beachten: Owens et al. (1999) weisen auf die starke Reduzierung des benötigten Nachtschlafes durch diese Methode hin, was in einigen Fällen die Symptomatik verstärkte. Da die Häufigkeit des Auftretens von Pavor nocturnus und Schlafwandeln mit dem Anspannungsniveau und möglichen emotionalen Belastungen in Beziehung steht,
757 41.5 · Therapeutisches Vorgehen
können auch Entspannungsverfahren oder die Reduktion von Belastungen hilfreich sein. Weitere hilfreiche Maßnahmen bei der Behandlung von Schlafwandeln und Pavor nocturnus sind autosuggestive Verfahren. Die Methode bietet sich bei häufigen und selbstgefährdenden nächtlichen Episoden an. Ziel ist es, im Sinne einer Vorsatzbildung gemeinsam mit Eltern und Kind einen Satz zu finden, der beschreibt, wie sich das Kind beim Auftreten eines nächtlichen Ereignisses in Zukunft verhalten möchte: Es wird ein sensorischer Reiz ausfindig gemacht, der als Hinweisreiz für das zu erlernende Verhalten eingesetzt werden kann und mit dem Beginn der Episode verbunden ist (z. B. Füße berühren den Boden beim Schlafwandeln, Hören des Schreies beim Pavor nocturnus). Danach wird gemeinsam ein Satz gebildet, der beschreibt, was das Kind tun soll, wenn es im Schlaf den sensorischen Reiz wahrnimmt:
Beispiel 4 »Wenn ich höre, dass ich im Schlaf schreie, dann drehe ich mich um und schlafe weiter.« 4 »Wenn ich nachts spüre, dass meine Füße den Boden berühren, dann lege ich mich wieder ins Bett und schlafe weiter.«
Danach führt der Therapeut mit dem Kind eine Entspannungsübung durch. Hier bietet sich das autogene Training (7 Kap. III/16) an. Wenn sich das Kind in einem entspannten Zustand befindet, wird der vorher gebildete Satz in die Entspannungsübung eingebaut. Hilfreich ist es, wenn der Therapeut die Entspannungsübung einschließlich des festgelegten Satzes auf Kassette aufnimmt. Die Kassette kann dann das Kind zum Üben mit nach Hause nehmen. In der folgenden Zeit übt das Kind täglich zu Hause diesen Satz im Zusammenhang mit der Entspannungsübung ein. Das Kind sollte dazu motiviert werden, die Übung regelmäßig durchzuführen, und auch die Eltern sollten angeleitet werden, ihr Kind dabei zu unterstützen. Mit der Zeit wird das Kind lernen, sich nachts dem vorbereiteten Satz entsprechend zu verhalten, wenn es den sensorischen Reiz wahrnimmt. Eine Anleitung zur Durchführung der Methode findet sich bei Fricke und Lehmkuhl (2006a). Langfristige Psychotherapien sind nur in seltenen Fällen notwendig, vor allem aber dann, wenn eine deutliche weitergehende psychische Störung besteht.
41.5.5 Allgemeines zur Behandlung
Für das Erwachsenenalter liegen bereits seit mehreren Jahren gut evaluierte Therapiekonzepte vor (z. B. Riemann u. Backhaus 1996; Müller u. Paterok 1999). Für das Kindesund Jugendalter besteht hier nach wie vor eine Lücke: Zwar liegen im englischsprachigen Raum differenzierte praxisorientierte Fachbücher zur Behandlung von kindlichen Schlafstörungen vor (z. B. Stores 2001; Mindell u. Owens 2003). Im deutschsprachigen Raum finden sich jedoch vor allem Elternratgeber – im Wesentlichen für das Säuglingsund Kleinkindalter. Nur wenige Ratgeber geben zusätzlich auch Hilfestellung für Kinder im Vorschul- und Schulalter. Bisher wurde nur ein therapeutisches Behandlungsprogramm veröffentlicht: In dem Manual von Fricke und Lehmkuhl (2006a) werden die einzelnen Sitzungen eines Therapieprogramms zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Insomnie- und/oder Parasomniebeschwerden im Alter von 4 bis 13 Jahren beschrieben. Die Anwendung des Programms kann sowohl im Gruppen- als auch im Einzelsetting erfolgen. Wird die Behandlung in Form einer Gruppe angeboten, so treffen sich zu den Sitzungen nur die Eltern. In sieben Sitzungen werden ihnen Informationen zum Schlaf vermittelt, und sie werden in der Umsetzung von Interventionen im häuslichen Umfeld angeleitet. Der Vorteil liegt hier im Austausch der Eltern untereinander. Im Einzelsetting liegt der Vorteil hingegen in der möglichen Einbeziehung des Kindes, die in vielen Fällen notwendig und hilfreich ist. Weiterhin kann im Einzelsetting die Behandlung noch individueller auf den Fall zugeschnitten werden. Das Therapiekonzept beinhaltet vier Themenschwerpunkte, die sich auf sieben Sitzungen verteilen (s. Übersicht). Vorteilhaft ist hierbei, dass einzelne Module oder auch Sitzungen aus dem Programm herausgegriffen und andere weggelassen werden können. Modul 1 und Modul 4 sollten jedoch in jedem Fall durchgeführt werden, da hier die Grundlagen der Schlafedukation und Schlafhygiene, die Möglichkeiten zur Stabilisierung des verbesserten Schlafverhaltens sowie der Umgang mit Rückfällen besprochen wird. Die anderen Module behandeln Strategien für den Umgang mit Konflikten, die im Rahmen der Schlafsituation auftauchen, sowie Interventionen zur Reduzierung von schlafbezogenen Ängsten. Neben diesen allgemeineren Interventionen werden spezifische Maßnahmen zur Behandlung von Ein- und Durchschlafproblemen sowie Albträumen, Schlafwandeln und Pavor nocturnus vermittelt.
41
758
Kapitel 41 · Schlafstörungen
Kölner Behandlungsprogramm für Kinder und Jugendliche mit Schlafstörungen (Fricke u. Lehmkuhl 2006a) Modul 1
Gesundes Schlafverhalten Sitzung 1: Informationen zum Schlaf (Schlafedukation)
41
Sitzung 2: Schlafhygieneregeln Modul 2
Erziehungsstrategien bei Schlafproblemen Sitzung 3: Oppositionelles Verhalten und Schlafen Sitzung 4: Ängste und Schlafen
Modul 3
Spezifische Schlafprobleme Sitzung 5: Ein- und Durchschlafprobleme Sitzung 6: Albträume, Pavor nocturnus, Somnambulismus
Modul 4
Prävention und Umgang mit Rückfällen Sitzung 7: Stabilisierung und Rückfallprophylaxe
Grundsätzlich besteht die größte Gefahr bei der Behandlung von Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter im Übersehen von Komorbiditäten. Aus diesem Grund ist eine differenzierte Diagnostik wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen Therapie. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nach Behandlung und Behebung der kindlichen Schlafstörungen alte Verhaltensmuster mit der Zeit leicht wieder entstehen, was zu einem erneuten Wiederauftreten der Symptomatik führen kann. Zur Rezidivprophylaxe ist es daher notwendig, im Rahmen der Behandlung die Copingstrategien in der Familie zu stärken und zur Selbsthilfe anzuleiten. Der Behandlungserfolg ist zu einem großen Teil von einer tragfähigen Eltern-Kind-Beziehung und der Motivation der Familie abhängig. Sollte es daran mangeln, können intensive Maßnahmen notwendig sein, die verstärkt auf die Eltern-Kind-Interaktion fokussieren und die Compliance verbessern.
41.6
Fallbeispiel
Exploration und Diagnostik Das siebenjährige Mädchen kommt in Begleitung der Mutter in die Schlafambulanz. Die Mutter berichtet, die Tochter habe Einschlafprobleme. Den Beginn der Schlafstörungen kann sie nicht benennen. Sie gibt an, das Schlafen sei einfach immer mehr zum Problem geworden, besonders seit der Einschulung. Bevor die Tochter in die Schule gegangen sei, hätten ihr die Einschlafschwierigkeiten nicht so viele Sorgen gemacht, da die Tochter morgens länger habe schla-
fen können. Nun müsse sie jedoch morgens der Schule wegen pünktlich aufstehen, und sie als Mutter habe die Befürchtung, dass es mit der Zeit zu einem ständigen Schlafdefizit käme und die Schulleistungen darunter leiden könnten. Die Tochter habe zwischendurch immer wieder Nächte, in denen sie Schlaf nachhole, u. a. auch am Wochenende. Insgesamt seien die Schlafstörungen auch für sie als Eltern sehr belastend. Bei genauem Nachfragen berichtet die Mutter, die Tochter gehe an Schultagen gegen 20.00 Uhr ins Bett. Am Wochenende verschiebe sich die Ins-Bett-Geh-Zeit um ein bis zwei Stunden nach hinten. Fast jeden Abend habe sie mit der Tochter Streit, wenn sie sich bettfertig machen solle. Die Tochter habe dazu keine Lust und sage, sie sei gar nicht müde. Dabei merke man es ihr den ganzen Tag an, wenn sie schlecht geschlafen habe. Sie sei dann gereizt, quengelig, unausgeruht und phasenweise auch am Tage müde. Wenn die Tochter dann endlich im Bett läge, könne sie nicht einschlafen, rufe ständig nach den Eltern und bitte sie, am Bett zu bleiben, bis sie eingeschlafen sei. Sie wolle dann noch Tageserlebnisse erzählen und suche die Nähe der Eltern. Häufig sei sie erst gegen 22.00 Uhr eingeschlafen. Das Durchschlafen sei kein Problem. Die Tochter wache zwar manchmal nachts auf, z. B. wenn sie schlecht geträumt habe, könne dann aber in der Regel wieder ganz gut einschlafen, wenn die Eltern kurz nach ihr gesehen hätten. Die morgendliche Aufstehzeit sei an Schultagen um 7.00 Uhr. Am Wochenende könne die Tochter so lange schlafen, wie sie wollte, nicht selten ein bis zwei Stunden länger als üblich. Das morgendliche Aufstehen verliefe an Schultagen meist sehr konfliktreich, da die Tochter müde sei und mehrfach geweckt werden müsse. Nach dem Aufstehen sei die Müdigkeit jedoch meist verschwunden. Das Mädchen wirkt aufgeweckt und fröhlich im Erstgespräch. Die Frage, ob sie gewusst habe, wie sehr sich die Mutter durch die Schlafproblematik belastet fühle, verneint sie. Es wird deutlich, dass sie abends ungern ins Bett geht, auch weil sie befürchtet, etwas zu verpassen, und lieber spielen möchte. Wenn sie dann im Bett liegt, fällt ihr immer noch etwas ein, das sie den Eltern erzählen möchte. Die Entwicklung des Mädchens ist altersentsprechend. Das Eltern-Schlafprotokoll zeigt ein unregelmäßiges Schlaf-Wach-Muster mit Erholungsnächten (. Tab. 41.3). Das Kinder-Schlafprotokoll verdeutlicht, das das Mädchen nicht darunter leidet, erst spät einzuschlafen. Eine orientierende internistische und kinderneurologische Untersuchung wurde vom Pädiater durchgeführt und ergab keine körperlichen Erkrankungen als Ursache der Schlafstörungen. Eine Polysomnographie war nicht indiziert und erfolgte nicht. Auch für eine testpsychologische bzw. kinderspsychiatrische Untersuchung fand sich anamnestisch und aufgrund der geschilderten Schwierigkeiten keine Indikation.
Verlauf der Therapie Als Intervention wurde eine umfassende Schlafedukation durchgeführt. Mit der Familie wurde erarbeitet, wie wichtig ein regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus als Basis für ein
2
2
3
3 14:00 30 Min 19:00 19:30 30 Beispiel 1:00; 3:15 2 30
1 04:15 Albtraum 6:30 6:30 1 10:00 2
2. Wie leicht/schwer fiel es Ihrem Kind heute, Leistungen (z.B. Konzentration bei den Hausaufgaben) zu erbringen? (1: sehr leicht … 6: sehr schwer)
3. Wie müde war Ihr Kind über den Tag verteilt? (1: gar nicht müde … 6: sehr müde)
4. Hat Ihr Kind heute tagsüber geschlafen? Falls ja, geben Sie bitte an, wann und wie lange insgesamt!
5. Wann haben Sie Ihr Kind heute zu Bett gebracht?
6. Wann wurde das Licht gelöscht?
7. Wie lange brauchte Ihr Kind heute abend zum Einschlafen? (Min.)
Morgenprotokoll
8. Ist Ihr Kind in der Nacht aufgewacht? Falls ja: Um wieviel Uhr? Wie oft? Wie lange war es insgesamt wach? (Min.)
9. Sind bei Ihrem Kind heute nacht nächtliche Ereignisse (z.B. Schlafwandeln, Albträume) aufgetreten? Falls ja: Wie oft? Um welche Uhrzeit? Was hat sich ereignet?
10. Wann ist Ihr Kind heute morgen aufgewacht?
11. Wann ist Ihr Kind heute morgen aufgestanden?
12. Haben Sie Ihr Kind heute morgen geweckt? 1 = ja 2 = nein
13. Wie lange hat Ihr Kind insgesamt geschlafen? (Angaben in Stunden:Minuten)
14. Wie ausgeruht/munter war Ihr Kind heute morgen? (1: sehr ausgeruht/munter … 6: sehr müde)
2
~10
1
7:15
7:00
–
Mo
35
20:35
20:30
–
2
3
1. Wie war die Stimmung Ihres Kindes heute über den ganzen Tag? (1: sehr gut … 6: sehr schlecht)
So
Beispiel
Abendprotokoll
. Tab. 41.3. Schlafprotokoll der Eltern des 7-jährigen Mädchens. (Aus Fricke-Oerkermann u. Lehmkuhl 2007)
2
~9:15
1
7:20
7:00
–
Di
60
20:45
20:45
–
3
3
2
Mo
3
~10:15
1
7:05
7:00
–
Mi
25
20:15
20:10
–
3
2
3
Di
4
~9:30
1
7:20
7:00
1 ? schlecht geträumt
? 1 ?
Do
50
20:45
20:45
–
3
3
3
Mi
2
~10:00
1
7:00
7:00
–
Fr
60
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19:55
–
3
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4
Do
2
~10:45
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8:20
8:15
–
Sa
10
21:30
21.30
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Fr
2
~10:45
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9:30
9:15
–
So
15
22:15
22:15
–
2
2
3
Sa
41.6 · Fallbeispiel 759
41
760
41
Kapitel 41 · Schlafstörungen
verbessertes Schlafverhalten ist. Mit Hilfe des Schlafprotokolls wurden – angelehnt an das individuelle Schlafbedürfnis des Mädchens – gemeinsam mit Mutter und Tochter Bettliegezeiten für Schultage und das Wochenende festgelegt. Um die Compliance zu erhöhen, wurden die Bettliegezeiten am Wochenende im Vergleich zu Schultagen um eine Stunde nach hinten verschoben. Die kleine Patientin konnte hierzu gut motiviert werden, weil sie einerseits verstand, wie belastet sich die Eltern fühlten, und dass – wenn sich die gesamte Schlafsituation verbesserte – auch die Eltern entspannter und weniger gereizt wären. Darüber hinaus wurde mit ihr besprochen, dass Spielen und Sich-Beschäftigen sicherlich wichtig und interessant sind, dass man das aber zu festen Tageszeiten tun kann und es deutlich mehr Spaß bereitet, wenn man ausgeschlafen ist. Es wurden klare Regeln zum Zubettgehen und Lichtlöschen entwickelt, an die Eltern und Tochter sich gleichermaßen hielten. Da bisher kein einheitliches Schlafritual bestand, wurde ein neues Schlafritual überlegt. Für den Zeitraum von 30 Minuten vor dem Lichtlöschen wünschte sich das Mädchen, vorgelesen zu bekommen (ca. 20 Minuten) und danach kuscheln zu können. Falls möglich, so wurde vereinbart, wechselten sich die Eltern hierbei ab. Zumindest sollten jedoch beide Elternteile vor dem Lichtlöschen gute Nacht sagen. Um vorzubeugen, dass die kleine Patientin abends im Bett noch über Erlebnisse und aufregende Ereignisse berichtet, wurden diese Gesprächsinhalte auf den frühen Abend bzw. das gemeinsame Abendessen verlegt. Damit ergab sich auch die Möglichkeit, Schwierigkeiten und Konflikte besser zu besprechen und zu lösen. Den Eltern wurde empfohlen, auf diese inhaltlichen und zeitlichen Vorgaben mehr zu achten. Die angesprochenen Veränderungen wurden schrittweise – verteilt auf drei therapeutische Sitzungen – eingeführt. Die Termine fanden wöchentlich statt, so dass jeweils nach einer Woche mit Eltern und Kind besprochen werden konnte, wie gut sich die Modifikationen umsetzen ließen und in diesem Zusammenhang auch Nachbesserungen bzw. Korrekturen vorgenommen werden konnten. Die Familienatmosphäre entspannte sich bereits nach einer Woche. Das Schlafritual half der Patientin, sich besser zu entspannen, so dass sich das Einschlafen verbesserte. Bei einem vierten Termin nach vier Wochen hatte sich die Einschlafproblematik deutlich gebessert. Die Eltern fühlten sich entlastet, und die Tochter berichtete, dass sie mit den Veränderungen zufrieden war und auch bemerkt hatte, dass sie sich tagsüber besser fühlte.
41.7
Empirische Belege
Für das Kindes- und Jugendalter liegen nur sehr wenige Studien zur Therapieevaluation von nichtorganischen Schlafstörungen vor. Für Kinder wurden verschiedene Therapiekonzepte, die unterschiedliche Verfahren kombinie-
ren, entwickelt und empirisch untersucht. Insgesamt konnte festgestellt werden, dass durch den Einsatz spezieller Programme das Schlafverhalten verbessert werden kann (Moore et al. 2007; Fricke et al. 2006). Da sich die Befunde jedoch meist auf kleine Stichproben stützen, unterschiedliche Ansätze untersuchen und auch die Altersgruppen variieren, sind die Ergebnisse schwer miteinander zu vergleichen. Gordon et al. (2007) geben einen Überblick über 29 Studien, die die Wirksamkeit psychologischer Behandlung (z. B. Desensibilisierung, Selbstinstruktionen) von schlafbezogenen Ängsten bei Kindern im Alter von 3 bis 16 Jahren untersuchten und zeigten, dass in den meisten Studien die kindlichen nächtlichen Ängste innerhalb weniger Sitzungen reduziert werden konnten. Das Kölner Behandlungsprogramm (Fricke u. Lehmkuhl 2006a), das bisher das einzige veröffentlichte Therapiekonzept im deutschsprachigen Raum darstellt, wurde erstmals an einer Elterngruppe überprüft (Fricke et al. 2006), um Hinweise auf die Durchführbarkeit, Wirksamkeit und Anhaltspunkte für mögliche Modifikationen des Konzepts zu erhalten. In diese erste Anwendungsstudie wurden vier Familien eingeschlossen. Das Behandlungsprogramm wurde im Gruppensetting mit den Eltern durchgeführt. Alle Kinder waren 7 Jahre alt. Die Störungsdauer der Schlafprobleme lag im Durchschnitt bei 4,6 Jahren, der Range lag zwischen 10 Monaten und 7 Jahren (d. h. seit der Geburt). Es handelte sich folglich vorwiegend um chronische und länger andauernde Schlafprobleme – vor allem Ein- und Durchschlafprobleme. Es kam zu keinem Behandlungsabbruch. Keine Familie beschrieb Verschlechterungen des Schlafverhaltens. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass sich das Schlafverhalten aller Kinder nach Angabe der Eltern verbesserte. Ein- und Durchschlafprobleme wurden reduziert und die Gesamtschlafzeit erhöht. Dabei ist zu beachten, dass es sich nicht um objektive Messungen, sondern subjektive Einschätzungen der Eltern handelte. Auffallend war, dass auch geringe Verbesserungen des Schlafverhaltens von den Eltern als sehr entlastend erlebt wurden. Dies wurde deutlich an den elterlichen Einschätzungen der eigenen Belastung und des eigenen Befindens, das sich bei allen Eltern verbesserte. Die Eltern beurteilten jedoch auch das Befinden ihres Kindes positiver. Positive Auswirkungen auf das kindliche Tagesverhalten zeigten sich in der Verringerung des hyperkinetischen Problemverhaltens. Bei einer weiteren Einzelfallstudie im Einzelsetting konnten diese Effekte bestätigt werden. Eine Evaluationsstudie im Kontrollgruppendesign zur Überprüfung der Wirksamkeit des entwickelten Behandlungsprogramms steht bisher noch aus. Insgesamt fehlen randomisierte Studien im Kontrollgruppendesign an größeren Stichproben. Für die Behandlung von Parasomnien (Albträumen, Pavor nocturnus und Somnambulismus) wurden kleine Studien durchgeführt, die psychologische Therapieansätze überprüften – häufig jedoch an erwachsenen Patienten. Im Erwachsenenalter hat sich beispielsweise für die Behand-
761 Literatur
lung von Albträumen die kognitive Therapiemethode (»imagery rehearsal«) bewährt (Krakow et al. 1995). Die betroffenen Personen werden angeleitet, den Albtraum zu verändern, indem das fehlende Ende durch eine positive Auflösung ergänzt wird. In einer Studie im Kontrollgruppendesign wurden 58 Erwachsene mit Albträumen randomisiert einer Behandlungsgruppe und einer Wartekontrollgruppe zugewiesen (Krakow et al. 1995). Im Vergleich zur Kontrollgruppe zeigte die Behandlungsgruppe eine signifikante und klinisch bedeutsame Verminderung der Albträume. Weiterhin konnten stabile Langzeiteffekte nachgewiesen werden. Kontrollierte Studien mit Kindern fehlen. Aufgrund verschiedener Einzelfalldarstellungen (z. B. Schredl 2006) ist jedoch davon auszugehen, dass auch Kinder von dieser Methode gut profitieren können. Zur Veränderung des Traums wird jedoch im Kindesalter als Medium nicht das Schreiben, sondern das Malen verwendet. Zur Behandlung von Schlafwandeln behandelten Frank et al. (1997) drei Kinder erfolgreich mit der Methode des geregelten Weckens. Jeweils eine Studie mit Erwachsenen bzw. Kindern belegten die Wirksamkeit von Selbsthypnose-Übungen bei der Behandlung von Schlafwandeln und Nachtschreck. Hurwitz et al. (1991) untersuchten 27 erwachsene Patienten mit Schlafwandeln und Nachtschreck. In 74% der Fälle konnte eine Verbesserung durch Selbsthypnose-Übungen erzielt werden. In einer Studie von Kohen et al. (1992) wurden 11 Kinder mit Nachtschreck mit dieser Methode behandelt. Es zeigten sich hier ebenfalls Verbesserungen.
41.8
Ausblick
Schlafforschung und Schlafmedizin haben sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt, was auch u. a. durch die Vermehrung von schlafmedizinischen Zentren in den letzten Jahren deutlich wird. Im Erwachsenenbereich liegen seit Längerem gut evaluierte Verfahren zur psychologischen Diagnostik und Behandlung von nichtorganischen Schlafstörungen vor. Verglichen damit besteht im Kindes- und Jugendalter noch ein großer Bedarf. Es fehlen vor allem standardisierte Fragebögen für unterschiedliche Altersgruppen sowie altersgerechte und evaluierte Therapiekonzepte. Insgesamt ist die Datenlage für diese Altersgruppe noch unzureichend, so dass derzeit in vielen Fällen präzisere Aussagen zu bestimmten Fragestellungen nicht gemacht werden können.
Zusammenfassung Schlafstörungen stellen ein häufiges Phänomen im Kindesund Jugendalter dar. Vor allem Insomnien und Parasomnien kommen in dieser Altersgruppe häufig vor. Längsschnittstudien belegen, dass bei einem nicht unbedeutenden Anteil Ein- und Durchschlafprobleme persistieren und
über mehrere Jahre bestehen bleiben können. Bisherige Studien unterstreichen die Bedeutung des Schlafes für die Entwicklung des Kindes. Aufgrund der Vielfalt der kindlichen Schlafprobleme sind individuelle Therapiestrategien notwendig unter Berücksichtigung des Entwicklungsalters. Da Schlafstörungen oft als Begleiterscheinungen bei körperlichen Erkrankungen und auch psychischen Störungen komorbid auftreten, ist zunächst eine differenzierte Diagnostik von entscheidender Bedeutung. Hierbei ist es wichtig, sich einen umfassenden Eindruck vom Kind, seiner Familie und dem Umfeld zu machen, um den häufig komplexen Ursachen gerecht zu werden. Die Durchführung eines Schlafprotokolls kann dazu beitragen, die Symptomatik zu objektivieren. Therapeutisch erweisen sich Schlafedukation, Schlafhygiene und spezifische Interventionen, wie kognitive Verfahren bei schlafbezogenen Ängsten, als hilfreich.
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41
762
41
Kapitel 41 · Schlafstörungen
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42
42 Substanzmissbrauch und -abhängigkeit Eva Hoch, Roselind Lieb
42.1
Einleitung
– 764
42.2
Darstellung der Störung – 764
42.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
42.3.1 42.3.2 42.3.3
Biologische Erklärungsmodelle – 768 Psychologische Erklärungsmodelle – 769 Sozialwissenschaftliche Erklärungsmodelle – 771
42.4
Diagnostik – 772
42.5
Therapeutisches Vorgehen
42.5.1 42.5.2 42.5.3 42.5.4
Indikation, Psychoedukation und Vermittlung eines Therapierationals – 774 Störungsspezifische Interventionen – 775 Modifikation des problematischen Substanzkonsums – 776 Bewältigung von Problemen im Zusammenhang mit Substanzstörungen – 779
42.6
Probleme und Schwierigkeiten im Therapieverlauf – 779
42.7
Fallbeispiel
42.8
Empirische Belege
42.9
Ausblick – 782
Literatur
– 773
– 780
Zusammenfassung
– 781
– 782
– 782
Weiterführende Literatur
– 766
– 783
764
Kapitel 42 · Substanzmissbrauch und -abhängigkeit
42.1
42
Einleitung
Tom, ein 22-jähriger Informatikstudent, konsumiert seit Jahren neben Alkohol und Nikotin auch Cannabis. Zu Beginn »kiffte« er lediglich ab und zu, aber in letzter Zeit drehte sich sein ganzes Leben um den Cannabiskonsum. Dies führte dazu, dass er das Interesse an seinen Freunden und Hobbys verlor und auch seine Stimmung immer schlechter wurde. Um das Problem in den Griff zu bekommen, sucht Tom professionelle Hilfe auf. Wie kann ihm geholfen werden? Das folgende Buchkapitel beschäftigt sich mit den Problemen des Substanzmissbrauches und der Substanzabhängigkeit. Substanzen umfassen in diesem Zusammenhang sämtliche »psychotropen Substanzen« oder Drogen, durch deren Einnahme im weitesten Sinne über zentralnervöse Prozesse psychische oder verhaltensmäßige Vorgänge und Prozesse verändert werden können. Es wird dabei kein Unterschied gemacht, ob es sich hierbei um sog. legale oder illegale Drogen handelt.
42.2
Darstellung der Störung
Von schädlichem Gebrauch oder dem Missbrauch einer Substanz oder Droge wird dann gesprochen, wenn deren wiederholter Konsum bei der betroffenen Person immer wieder zu für sie nachteiligen Konsequenzen führt. Diese umfassen etwa Schwierigkeiten in der Schule oder am Arbeitsplatz, Schulausschluss wegen Drogenkonsum, rechtliche Probleme oder auch familiäre und zwischenmenschliche Schwierigkeiten. Von einer Substanz- oder Drogenabhängigkeit wird hingegen gesprochen, wenn aufgrund wiederholten Drogenkonsums kognitive, verhaltensbezogene und physiologische Symptome auftreten, die darauf hinweisen, dass die betreffende Person den Konsum trotz des Vorliegens substanzbezogener Komplikationen nicht einstellt. Typische Abhängigkeitssymptome stellen etwa substanzspezifische physiologische und psychische Entzugserscheinungen (z. B. Übelkeit und Erbrechen, dysphorische Stimmung) oder aber die Entwicklung einer Toleranz gegenüber dem Effekt der Droge dar. Neben Toleranzentwicklung und dem Auftreten von Entzugserscheinungen kann sich eine Drogenabhängigkeit klinisch ebenfalls über bestimmte verhaltensbezogene Symptome, wie z. B. einer Einschränkung sozialer Aktivitäten aufgrund des Konsums, oder aber auch über kognitive Symptome, wie etwa dem anhaltenden Wunsch, den Drogenkonsum zu kontrollieren, zeigen. Wichtig ist zu betonen, dass bei einer Drogenabhängigkeit nicht zwingend körperliche Symptome vorliegen müssen. Diese sind für eine klinische Diagnose nicht obligatorisch (7 Übersicht »diagnostische Kriterien«). Häufig ist im Rahmen einer Drogenabhängigkeit auch ein Verlust von früheren Interessen oder eine Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt und der eigenen Person zu beobachten.
Langfristiger und chronischer Substanzkonsum kann zudem – unabhängig von der Entwicklung einer Abhängigkeitsproblematik – sekundär zu massiven Schädigungen innerer Organe (Leber, Niere) sowie zu strukturellen und funktionellen Veränderungen im Nervensystem (z. B. Einbußen kognitiver Leistungen) führen. Die Klassifikation von Störungen, die im Zusammenhang mit dem Konsum von Drogen auftreten können, erfolgt heute nach den beiden derzeit gültigen Klassifikationssystemen ICD-101 und DSM-IV-TR. Solche Störungsbilder werden im DSM-IV-TR unter der Oberkategorie »Störungen durch psychotrope Substanzen« (291.xx, 292. xx, 303.xx, 304.xx, 305.xx) und in der ICD-10 unter »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« (F1) klassifiziert. In beiden Klassifikationssystemen findet sich innerhalb dieser Oberkategorien eine Vielzahl von klinischen Störungsbildern, die im Zusammenhang mit dem Konsum von spezifischen Substanzen diagnostiziert werden können. In Anlehnung an die Terminologie des DSM-IV-TR lassen sich diese Störungen grob in »Störungen durch Substanzkonsum« und »substanzinduzierte Störungen« einteilen. Störungen durch Substanzkonsum beinhalten hierbei die bereits oben beschriebenen Störungsbilder »Substanzmissbrauch« und »Substanzabhängigkeit«. Substanzinduzierte Störungen hingegen umfassen »Substanzintoxikation«, »Substanzentzug« sowie »substanzinduzierte psychische Störungen« (im DSM-IV im Rahmen der jeweiligen Störungsgruppen beschrieben). In der folgenden Übersicht finden sich die diagnostischen Kriterien der ICD-10 und des DSM-IV-TR für Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit. In beiden Klassifikationssystemen wird Substanzabhängigkeit (DSM-IV-TR) bzw. das Abhängigkeitssyndrom (ICD-10) als ein sog. Symptomcluster definiert: mehrere (mindestens drei) unterschiedliche Symptome körperlicher, psychischer oder behavioraler Art müssen innerhalb eines definierten Zeitraums (12 Monate) aufgetreten sein, um die Diagnose stellen zu können. Somit handelt es sich beim Abhängigkeitssyndrom nicht um ein einheitliches, sondern um ein klinisch recht heterogenes Syndrom, bei dem ganz unterschiedliche Symptome im Vordergrund stehen können. Zentral ist jedoch, dass eine Person trotz des Auftretens schwerwiegender Probleme nicht aufhört, die Droge zu konsumieren. Substanzmissbrauch liegt nach den diagnostischen Kriterien des DSM-IV vor, wenn körperliche Folgeprobleme oder auch wiederholt soziale oder zwischenmenschliche Probleme aufgrund des Substanzkonsums aufgetreten sind, ohne dass eine Abhängigkeit vorliegt. In der ICD-10 findet sich für missbräuchlichen Substanzkonsum die diagnostische Kategorie des »schädlichen Gebrauchs«. Diese Dia-
1
In diesem Kapitel wird ausschließlich auf die Forschungskriterien der ICD-10 Bezug genommen.
765 42.2 · Darstellung der Störung
Diagnostische Kriterien für Substanzabhängigkeit und Substanzmissbrauch/schädlicher Gebrauch nach DSM-IV und ICD-10 Substanzabhängigkeit nach DSM-IV (30x.x)
Substanzabhängigkeit nach ICD-10 (F1x.2)
A
Drei oder mehr der folgenden Kriterien sollten zusammen mindestens einen Monat lang bestanden haben. Falls sie nur für eine kürzere Zeit gemeinsam aufgetreten sind, sollten sie innerhalb von 12 Monaten wiederholt bestanden haben
1.
2.
3. 4. 5.
6.
7.
Ein unangepasstes Muster von Substanzgebrauch führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigungen oder Leiden, wobei sich mindestens drei der folgenden Kriterien manifestieren, die zu irgendeiner Zeit in demselben 12-Monats-Zeitraum auftreten: Toleranzentwicklung, definiert durch eines der folgenden Kriterien: a) Verlangen nach ausgeprägter Dosissteigerung, um einen Intoxikationszustand oder erwünschten Effekt herbeizuführen, b) deutlich verminderte Wirkung bei fortgesetzter Einnahme derselben Dosis Entzugssymptome, die sich durch eines der folgenden Kriterien äußern: a) charakteristisches Entzugssyndrom der jeweiligen Substanz b) dieselbe (oder eine sehr ähnliche) Substanz wird eingenommen, um Entzugssymptome zu lindern oder zu vermeiden Die Substanz wird häufig in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt eingenommen. Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzgebrauch zu verringern oder zu kontrollieren Viel Zeit für Aktivitäten, um die Substanz zu beschaffen (z. B. Besuch verschiedener Ärzte oder Fahrt langer Strecken), sie zu sich zu nehmen (z. B. Kettenrauchen) oder sich von ihren Wirkungen zu erholen Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des Substanzgebrauchs aufgegeben oder eingeschränkt Fortgesetzter Substanzgebrauch trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden körperlichen oder psychischen Problems, das wahrscheinlich durch die Substanz verursacht oder verstärkt wurde (z. B. fortgesetzter Kokaingebrauch trotz des Erkennens kokaininduzierter Depressionen oder fortgesetztes Trinken trotz des Erkennens, dass sich ein Ulcus durch Alkoholkonsum verschlechtert)
Bestimme, ob mit (Kriterium 1 oder 2 erfüllt) oder ohne körperliche Abhängigkeit 6
1. Ein starkes Verlangen oder eine Art Zwang, die Substanz zu konsumieren 2. Verminderte Kontrolle über den Substanzgebrauch, d. h. über Beginn, Beendigung oder die Menge des Konsums, deutlich daran, dass mehr von der Substanz konsumiert wird oder über einen längeren Zeitraum als geplant, und an erfolglosen Versuchen oder dem anhaltenden Wunsch, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren 3. Ein körperliches Entzugssyndrom, wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird, mit den für die Substanz typischen Entzugssymptomen oder auch nachweisbar durch den Gebrauch derselben oder einer sehr ähnlichen Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden 4. Toleranzentwicklung gegenüber den Substanzeffekten. Für eine Intoxikation oder um den gewünschten Effekt zu erreichen, müssen größere Mengen der Substanz konsumiert werden, oder es treten bei Konsum derselben Menge deutlich geringere Effekte auf 5. Einengung auf den Substanzgebrauch, deutlich an der Aufgabe oder Vernachlässigung anderer wichtiger Vergnügen oder Interessenbereiche wegen des Substanzgebrauchs; oder es wird viel Zeit darauf verwandt, die Substanz zu bekommen, zu konsumieren oder sich davon zu erholen 6. Anhaltender Substanzgebrauch trotz eindeutig schädlicher Folgen, deutlich an dem fortgesetzten Gebrauch, obwohl der Betreffende sich über die Art und das Ausmaß des Schadens bewusst war oder hätte bewusst sein können
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766
Kapitel 42 · Substanzmissbrauch und -abhängigkeit
Substanzmissbrauch nach DSM-IV (30x.x)
Schädlicher Gebrauch nach ICD-10 (F1x.1)
A
A. Deutlicher Nachweis, dass der Substanzgebrauch verantwortlich ist für die körperlichen oder psychischen Probleme, einschließlich der eingeschränkten Urteilsfähigkeit oder des gestörten Verhaltens, das evtl. zu Behinderung oder zu negativen Konsequenzen in den zwischenmenschlichen Beziehungen geführt hat B Die Art der Schädigung sollte klar bezeichnet werden können C Das Gebrauchsmuster besteht mindestens seit einem Monat oder trat wiederholt in den letzten zwölf Monaten auf
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B
Ein unangepasstes Muster von Substanzgebrauch führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigungen oder Leiden, wobei sich mindestens eines der folgenden Kriterien innerhalb desselben 12-MonateZeitraumes manifestiert 1. Wiederholter Substanzgebrauch, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder zu Hause führt. (z. B. wiederholtes Fernbleiben von der Arbeit und schlechte Arbeitsleistungen in Zusammenhang mit dem Substanzkonsum, Schulschwänzen, Einstellen des Schulbesuchs oder Ausschluss von der Schule in Zusammenhang mit Substanzgebrauch, Vernachlässigung von Kindern und Haushalt) 2. Wiederholter Substanzgebrauch in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann (z. B. Alkohol am Steuer oder das Bedienen von Maschinen unter Substanzeinfluss). 3. Wiederkehrende Probleme mit dem Gesetz in Zusammenhang mit dem Substanzgebrauch (Verhaftungen aufgrund ungebührlichen Betragens in Zusammenhang mit dem Substanzgebrauch) 4. Fortgesetzter Substanzgebrauch trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die durch die Auswirkungen der psychotropen Substanz verursacht oder verstärkt werden (z. B. Streit mit dem Ehegatten über die Folgen der Intoxikation, körperliche Auseinandersetzungen) Die Symptome haben niemals die Kriterien für Substanzabhängigkeit der jeweiligen Substanzklasse erfüllt
gnose wird vergeben, wenn als Folge des Konsums körperliche oder physische Gesundheitsschäden aufgetreten sind. Sowohl im DSM-IV als auch in der ICD-10 werden die Diagnosekriterien für Missbrauch und Abhängigkeit substanzübergeifend definiert und finden für nahezu alle in den jeweiligen Systemen spezifizierten Substanzklassen Anwendung. Wichtig ist, dass in beiden Systemen der Menge der konsumierten Substanz keinerlei diagnostische Bedeutung zukommt. Die sog. substanzinduzierten Störungen beinhalten im DSM-IV und in der ICD-10 die Substanzintoxikation und den Substanzentzug. Im Gegensatz zu Abhängigkeit und Missbrauch werden sowohl im DSM-IV-TR als auch in der ICD-10 für die Substanzintoxikation und für den Substanzentzug substanzspezifische Diagnosekriterien angegeben, die für die Diagnosestellung zu berücksichtigen sind.
Auf die Störung treffen die Kriterien einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung bedingt durch dieselbe Substanz, zum gleichen Zeitpunkt nicht zu (außer akute Intoxikation F1x.0)
42.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Der erste Kontakt zu legalen oder illegalen Drogen findet meist im Kindes- und Jugendalter statt. Oft steht Experimentierfreude oder Neugierde auf die Wirkung einer Droge im Vordergrund. Häufig nennen Jugendliche auch soziale Gründe für den Probierkonsum »weil es die anderen auch machen«. Sie erwarten sich Glücksgefühle, Abbau von Hemmungen, intensiveres Erleben und Entspannung (BZgA 2004). Beim initialen Drogengebrauch werden jedoch oft noch gar keine positiven psychotropen Wirkungen erlebt, manchmal treten sogar eher negative Auswirkungen auf. So z. B. »schmeckt« Jugendlichen die erste gerauchte Zigarette meist nicht wirklich, sie berichten vielmehr von Schwindel, Übelkeit oder sogar Erbrechen. Erst nach wiederholtem Gebrauch kommt es zu als positiv erlebten pharmakologischen
767 42.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
und emotionalen Auswirkungen. Dem ursprünglichen Erleben von Glücksgefühlen und Wohlbefinden folgen – je nach Art der Droge – unterschiedliche Effekte. Bei Stimulantien (z. B. Kokain) erleben sich die Konsumenten nach dem Hochgefühl z. B. als kraftvoller, selbstsicherer und voller Energie. Im Gegensatz dazu ist das Rauscherleben von Heroinkonsumenten begleitet durch Gefühle der Entspannung und Zufriedenheit. Bei fortgesetztem und sehr starkem Substanzkonsum treten die ursprünglich positiven Wirkungen mit der
Zeit in den Hintergrund. Manche Menschen erleben eine Art Zwang, die Droge zu konsumieren, um sich »normal« zu fühlen. Andere erhöhen die Dosis oder Konsumfrequenz, um die Effekte in der gewünschten Art zu verspüren. Häufig wird die Droge trotz (oder gerade wegen) zum Teil erheblicher sozialer und psychischer Probleme weiterkonsumiert. Aber warum entwickeln manche Jugendliche und Erwachsene einen missbräuchlichen oder abhängigen Substanzkonsum, während andere maßvoll mit Drogen umgehen können?
Beginn und Häufigkeit des Problems Allgemein kann festgehalten werden, dass Drogenkonsum, Drogenmissbrauch und Drogenabhängigkeit weitaus häufiger und auch früher auftreten als allgemein angenommen wird. Dies zeigt die am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München durchgeführte »Early-Development-Stages-of-Psychopathology«-Studie (EDSP; Wittchen et al. 1998a; Lieb et al. 2000a). Eine repräsentative Stichprobe von 3021 Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurde hierbei über 10 Jahre hinweg (1995–2005) u. a. zum Drogenkonsum, Drogenmissbrauch und Drogenabhängigkeit mit Hilfe des standardisierten DIA-X/M-CIDI befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass das Einstiegsalter, somit das Alter des erstmaligen Konsums, für Nikotin- und Alkoholkonsum etwa bei 10 Jahren liegt. Die Hochrisikozeit für den Erstkonsum, d. h., die Altersspanne, in der die meisten Personen mit dem Konsum beginnen, liegt bei beiden Substanzen zwischen 12 und 16 Jahren. Der Konsum von Cannabis entwickelt sich etwas später, etwa ab 14 Jahren,
Die Gründe für die Entwicklung von Missbrauch und Abhängigkeit sind vielfältig. Wie auch bei anderen psychischen Erkrankungen ist die Vulnerabilität für Substanzstörungen interindividuell verschieden. Es gibt keinen einzelnen Risi-
mit einer Hochrisikozeit zwischen 16 und 18 Jahren. Der Konsum der übrigen Drogen entwickelt sich nach dem 14. Lebensjahr vor allem im späteren Verlauf der Pubertät. Bei der 1995 durchgeführten Basisuntersuchung gaben 95% der befragten 14- bis 24-jährigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, bereits Alkohol getrunken zu haben. So hatten 76% bereits Raucherfahrung, 33% Cannabiserfahrung. Insgesamt gaben 35% der Befragten an, jemals eine illegale Droge konsumiert zu haben. Hinsichtlich Missbrauch und Abhängigkeit zeigte sich bei der Basisuntersuchung, dass 27% der Männer und 9% der Frauen lebenszeitbezogen eine Missbrauchs- oder Abhängigkeitsdiagnose nach den Kriterien des DSM-IV erfüllen. Hier dominierte die Nikotinabhängigkeit, gefolgt vom Alkoholmissbrauch und der Alkoholabhängigkeit. Missbrauch und Abhängigkeit der übrigen (illegalen) Drogen traten im Vergleich hierzu eher seltener auf, wobei Missbrauchsdiagnosen häufiger gestellt wurden als Abhängigkeitsdiagnosen (Lieb et al. 2000b).
kofaktor, der erklären kann, ob eine Person eine Substanzstörung entwickelt oder nicht. Biologische, psychologische und soziale Faktoren, aber auch Merkmale der Droge, wirken in einer komplexen Interaktion zusammen.
Exkurs Cannabiskonsum und Frühpsychosen Obwohl Psychosen in der Bevölkerung zu den eher seltenen psychischen Störungen zählen, ist der Zusammenhang zwischen Cannabis und Psychosen einer der in der Praxis meist diskutierten und in der Forschung am besten untersuchten. Längsschnittstudien zeigen deutliche Assoziationen zwischen dem Konsum von Cannabis und der Entwicklung psychotischer Symptome (Fergusson et al. 2002). Lange Zeit wurde diskutiert, ob es eine spezifische Cannabispsychose gibt, die ausschließlich durch den Konsum von Cannabis ausgelöst wird. Heute geht man davon aus, dass es eine solche »Cannabispsychose« nicht gibt, sondern dass Cannabis psychotische Symptome auslösen kann, die dem Krankheitsbild einer Schizophrenie zuzu6
ordnen sind. Die Ätiologie kann mit dem VulnerabilitätsStress-Modell erklärt werden, nämlich dass es anfällige (vulnerable) Menschen gibt, bei denen Cannabiskonsum als Stressor eine latente (verborgene) Psychose auslösen kann. Wissenschaftlich ließ sich diese »Trigger-Hypothese« bislang noch nicht eindeutig belegen, allerdings zeigen hochwertige Studien, dass schizophrene Patienten mit Cannabiskonsum ihre psychotischen Symptome deutlich früher entwickelten als Personen ohne Cannabiskonsum (Barnes et al. 2006). Bei bereits an einer Schizophrenie Erkrankten trägt Cannabiskonsum zu einer deutlichen Verschlechterung des Krankheitsverlaufs bei. Einen aktuellen Überblick über diese Thematik geben Verdoux et al. (2005).
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768
42
Kapitel 42 · Substanzmissbrauch und -abhängigkeit
Amotivationales Syndrom In der psychotherapeutischen Praxis wird bei langjährigen und starken Cannabiskonsumenten immer wieder das sog. amotivationale Syndrom beschrieben. Unter diesem Begriff werden dauerhafte Zustände der Lethargie, Passivität, des verflachten Affekts und des mangelnden Interesses subsumiert, im Zusammenhang mit einem Nachlassen der Leistungsfähigkeit, des Verantwortungsgefühls sowie der Vernachlässigung der eigenen Erschei-
42.3.1 Biologische Erklärungsmodelle
Familiäre Transmission von Substanzstörungen Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass genetische Dispositionsfaktoren an der Suchtentwicklung beteiligt sind. Dabei scheint eine Vielzahl von risikomodulierenden Genen in einer bisher noch ungeklärten Art und Weise mit familiären und individuumsspezifischen Umgebungsfaktoren zusammenzuspielen (Lieb 2006). In Familien- und »High-
nung. Es gibt jedoch derzeit keine empirische Evidenz für die Existenz eines solchen spezifischen Syndroms (Petersen u. Thomasius 2007). Vielmehr wird diskutiert, ob es sich bei diesem klinisch beobachteten »Syndrom« auch um chronische Intoxikationszustände (Johns 2001), die Negativsymptomatik bei schizophrener Störungen oder um Subsyndrome depressiver Erkrankungen bei gleichzeitig vorliegendem Cannabiskonsum handeln könnte (Bovasso 2001; Musty u. Kaback 1995).
Risk«-Studien wird in Abhängigkeit vom biologischen Verwandtschaftsgrad untersucht, ob und in welchem Ausmaß genetische Faktoren in der Ätiologie eine Rolle spielen. Zwillings- und Adoptionsstudien werden durchgeführt, um das Ausmaß der Beteiligung von genetischen Faktoren bei der Entstehung der Störung zu untersuchen. In sog. Kopplungsund Assoziationsstudien wird mit genetischen Markern die chromosomale Lokation von an der Entwicklung von Substanzstörungen beteiligten Genen gesucht.
Anhäufung von Substanzstörungen in der Familie Studien können heute zunehmend belegen, dass substanzbezogene Störungen innerhalb von Familien gehäuft vorkommen und dass genetische Faktoren einen großen Anteil der familiären Aggregation erklären. Merikangas et al. (1998) führten in den USA eine kontrollierte Familienstudie an 231 erwachsenen Probanden mit Abhängigkeit von Opioiden, Kokain, Cannabis und/oder Alkohol, 61 Kontrollprobanden und ihren 1267 erwachsenen Familienangehörigen ersten Grades durch. Diagnostische Informationen stammen entweder aus halbstandardisierten diagnostischen Interviews und/oder aus strukturierten »Familiy-History-Interviews«. Die Ergebnisse der Familienstudie zeigen, dass die Verwandten von Probanden mit Substanzstörungen ebenfalls ein 8-fach erhöhtes Risiko hatten, Missbrauch oder Abhängigkeit von Opioiden, Kokain, Cannabis und Alkohol zu entwickeln. Die Studie konnte ebenfalls belegen, dass es eine spezifische familiäre Aggregation für die Art der hauptsächlich missbrauchten Droge gibt. Merikangas et al. schlussfolgerten daraus, dass die bei einem Übertragungsrisiko in dieser Größenordnung das Vorliegen einer Substanzstörung in der Familie einer der potentesten Risikofaktoren für die Entwicklung von Missbrauch und Abhängigkeit ist. Die Ergebnisse deuten ebenfalls darauf hin, dass es vermutlich
Funktionale Veränderungen im Gehirn Psychoaktive Substanzen sind natürliche, chemisch aufbereitete oder synthetische Stoffe, die in unseren Gehirnstoffwechsel einwirken und unser Denken, Fühlen, Handeln
Risikofaktoren für den Missbrauch von spezifischen Substanzklassen und für Substanzstörungen allgemein gibt. Kendler et al. (2000) führten in ihrer US-amerikanischen Zwillingsstudie persönliche Interviews mit 1198 männlichen Zwillingspaaren (708 monozygot, 490 dizygot) zu Lebenszeitkonsum, hartem Konsum sowie Missbrauch und Abhängigkeit von Cannabis, Sedativa, Stimulantien, Kokain, Opiaten und Halluzinogenen durch. Die Studie konnte zeigen, dass bei eineiigen Zwillingen die Konkordanzrate für eine Abhängigkeitsdiagnose (alle Drogen außer Alkohol und Nikotin) 41% betrug, bei zweieiigen Zwillingen 24%. Bei den Zwillingen zeigte sich in allen Konsum- und Abhängigkeitsmaßen eine deutliche Übereinstimmung, bei den eineiigen Zwillingen war diese jedoch noch größer als bei den zweieiigen. Beim Drogenkonsum allgemein sowie beim Cannabis- und Halluzinogenkonsum im Speziellen ließ sich die Übereinstimmung auf genetische und familiäre Umgebungsfaktoren zurückführen. Bei der Übereinstimmung im Konsum von Sedativa, Stimulantien, Kokain und Opiaten spielten ausschließlich genetische Faktoren eine Rolle. Die Übereinstimmung, die sich bei hartem Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit zeigte (mit Ausnahme von Kokainmissbrauch und Abhängigkeit von Stimulantien), resultierte ausschließlich aus genetischen Faktoren.
verändern. Sie beeinflussen Gehirnareale, die für lebenswichtige Funktionen notwendig sind, z. B. den Gehirnstamm (Kontrolle basaler Lebensfunktionen wie Herzschlag, Atmung und Schlaf), den zerebralen Kortex (Infor-
769 42.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
mationsverarbeitung der Sinnesleistungen) oder den präfrontalen Kortex (Kontroll- und Entscheidungssystem von kognitiven Funktionen wie Denken, Planen, Problemlösen und Entscheidungstreffen). Das limbische System beinhaltet und verknüpft Gehirnstrukturen, die Wohlbefinden regulieren (. Abb. 42.1). Es beheimatet das sog. Belohnungssystem (»reward system«) des Gehirns. Drogenkonsum kann, genauso wie Essen, angenehme Gesellschaft oder Sexualität, durch Dopaminausschüttung zu einer Aktivierung dieses Belohnungssystems führen. Manche Substanzen jedoch erzielen eine bis zu 10-mal höhere Dopaminkonzentration als »natürliche« Verstärker. Sie können eine Überstimulierung des Belohnungssystems auslösen mit positiven Gefühlen bis hin zur Euphorie. Auch treten die positiven Effekte nahezu sofort ein (z. B. beim Rauchen oder Injizieren von Drogen) und können sehr lange andauern. Dopamin führt ebenfalls zu einer Steigerung der Aufmerksamkeit, so dass die durch Drogen ausgelösten Effekte mit bewusster Wahrnehmung verknüpft und als »bedeutsam« wahrgenommen werden. All dies führt dazu, dass der Drogenkonsum im Sinne einer operanten Verstärkung positiv verstärkt wird und Menschen sehr stark motiviert werden, die Droge immer wieder einzunehmen (NIDA 2007). Diese wiederholte Verstärkung der Lernleistung des Gehirns führt zu einer Sensitivierung der Hirnstrukturen für die Anreizwirkung von Drogen und drogenspezifischen Stimuli. Bereits nach kurzer Zeit wird das emotionale Erleben des Rauschzustands, aber auch andere sensorische, motorische und motivationale Aspekte des Drogenkonsums in einem sog. Suchtgedächtnis gespeichert, das nur schwer zu überwinden bzw. zu löschen ist und sich aus einem komplexen funktionalen Prozessgefüge mit unterschiedlichen anatomisch-neurobiologischen Assoziationen darstellt. Bei fortgesetztem und v. a. starkem Drogenkonsum findet eine Adaptationsleistung an den hohen Spiegel von Dopamin (und anderen Neurotransmittern) statt. Dopaminproduktion und die Neurotransmitterzahl werden reduziert. Dies kann zur Folge haben, dass der Einfluss von Dopamin auf den Belohnungskreislauf abnormal schwach wird und die Fähigkeit, Vergnügen und Wohlbefinden zu erleben, deutlich abnimmt. Ein regelmäßiger Drogenkonsument fühlt sich u. U. lustlos und depressiv oder kann Dinge, die ihm zuvor Freude bereitet haben, nicht mehr genießen. Durch erneuten Drogenkonsum kann die Dopaminfunktion wieder angekurbelt werden. Damit ein hoher Dopaminspiegel aufgebaut (und somit Wohlbefinden oder der sog. Kick erlebt) werden kann, müssen jetzt allerdings größere Drogenmengen konsumiert werden. Dieser Effekt ist als Toleranz bekannt. Ist der Organismus an die chronische Applikation einer psychoaktiven Substanz gewöhnt, treten beim Absetzen Entzugssymptome auf. Je nach Droge können diese Beschwerden unterschiedlich aussehen. Bei Nikotinentzug können Unruhe, Gereiztheit, gesteigerter Appetit oder Dysphorie auftreten. Das Alkoholentzugssyndrom ist gekennzeichnet durch Unruhe, Zittern, Schwitzen. Es können ze-
. Abb. 42.1. Mesolimbisch-mesokortikales Dopaminsystem. (Aus NIDA 2007)
rebrale Krampfanfälle auftreten und ein Delirium tremens mit Halluzinationen und lebensbedrohlichen Zuständen. Das Opiatentzugssyndrom ist u. a. geprägt durch gastrointestinale Beschwerden, Muskel- und Gliederschmerzen, Schlafstörungen und Schwitzen.
42.3.2 Psychologische Erklärungsmodelle
Soziale Lerntheorie Bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des Phänomens »Abhängigkeit« spielen Lernprozesse eine entscheidende Rolle. Der Erwerb des Substanzkonsums lässt sich durch die soziale Lerntheorie von Bandura (1977, 1986) erklären. Diese Theorie beinhaltet, dass der Mensch biologisch besonders gut darauf vorbereitet ist, sich durch den kognitiven Lernprozess des Nachahmens anderer Individuen neue Verhaltensweisen anzueignen. Insbesondere wenn ein Modell als erfolgreich mit einer Verhaltensweise angesehen wird oder das Modell direkt für sein Verhalten belohnt wird, ahmen die Beobachter das Verhalten häufiger nach. Ein Schüler beobachtet z. B., wie eine angesehene Clique von älteren Jugendlichen auf dem Schulhof raucht und sich sichtlich zu amüsieren und zu entspannen scheint. Der Theorie zufolge wird der Schüler durch die Modellbeobachtung »Zigarettenrauchen« kognitiv mit den positiven Attributen »Gruppenzugehörigkeit«, »Spaß« und »Entspannung« assoziieren und ebenfalls mit dem Rauchen beginnen. Ein zentraler Begriff der sozialen Lerntheorie ist die Selbstwirksamkeit (»self efficacy«). Er beinhaltet das Zutrauen in die eigenen Möglichkeiten und Kompetenzen, Aufgabenanforderungen wirksam bewältigen zu können. Die Selbstwirksamkeitserwartung spielt insbesondere bei der Beendigung des Substanzkonsums eine bedeutsame Rolle. In zahlreichen Therapiestudien wurde mittlerweile empirisch belegt, dass Selbstwirksamkeit ein guter Prädiktor für Therapieerfolg und Abstinenz darstellt.
42
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Kapitel 42 · Substanzmissbrauch und -abhängigkeit
Klassische Konditionierung
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Die von Pawlow (1849–1936) entwickelten Mechanismen der klassischen Konditionierung haben maßgeblich dazu beigetragen, die Entstehung von zwanghaftem Drogenkonsum, Entzugserscheinungen, Craving und Rückfällen zu erklären (. Abb. 42.2). Wenn wiederholt ein ursprünglich neutraler interner oder externer Stimulus (NS) (z. B. Stimmungen, Umgebungssituationen, Personen) zeitlich vor einem unkonditionierten Reiz (US) (z. B. physiologische Veränderungen aufgrund des Substanzkonsums) dargeboten wird, dann kann nicht nur der unkonditionierte Reiz eine Reaktion (UR) hervorrufen (z. B. Craving). Auch der neutrale Reiz (der zum konditionierten Stimulus wird; CS) kann dieselbe Reaktion erzeugen, sie wird zur konditionierten Reaktion (CR). Diese Mechanismen lassen sich am Beispiel eines 17-jährigen Auszubildenden schildern, der jeden Abend nach der Arbeit mit seinen Kollegen noch in eine Kneipe geht, um ein paar Gläser Bier zu trinken. Normalerweise kommt er dann so gegen 21 Uhr nach Hause. Beim Erreichen der elterlichen Wohnung beginnt sein Blutalkoholspiegel bereits wieder zu sinken. Dies löst bei dem Jugendlichen das Bedürfnis aus, durch erneuten Alkoholkonsum die angenehmen Gefühle des Rausches aufrecht zu erhalten. Im Laufe der Zeit wird das Nachhausekommen (z. B. Uhrzeit, Vorwürfe und Kritik der Eltern, Anblick der Wohnung) selbst zu einem Trigger für unangenehme Gefühle und Reizbarkeit bzw. den Wunsch zu trinken. Klassische Konditionierung (oder: Assoziationslernen) funktioniert dann besonders gut, wenn der unkonditionierte Stimulus besonders intensiv ist und der neutrale Stimulus wiederholt und zuverlässig den unkonditionierten Stimulus ankündigt (»Signallernen«). Die konditionierte Reaktion verschwindet allmählich, wenn der konditionierte Reiz längere Zeit ohne den unkonditionierten Reiz dargeboten wird. In diesem Fall spricht man von Löschung oder Extinktion.
Operante Konditionierung Der durch Thorndike (1932) und Skinner (1938, 1953) beschriebene Lernprozess der operanten bzw. instrumentellen Konditionierung trägt ebenso entscheidend zur Entwicklung bzw. Aufrechterhaltung einer Abhängigkeit bei. Nach diesem Mechanismus wird ein Verhalten (z. B. Tabakkonsum) in der Zukunft mit höherer Wahrscheinlichkeit auftreten, wenn es zu befriedigenden Konsequenzen (z. B. Wohlbefinden, Entspannung) führt. Der durch Nikotin ausgelöste psychoaktive Effekt ist angenehm und belohnend, also positiv verstärkend. Wenn durch in Verhalten . Abb. 42.2. Entwicklung von konditioniertem Craving. (Mod. nach Heather u. Robertson 1981)
unangenehme Ereignisse (z. B. Unruhe, Reizbarkeit, Langeweile, Hungergefühle) vermieden oder beseitigt werden können, wirkt das ebenfalls verstärkend (negative Verstärkung). Dieser negative Verstärkungsvorgang würde ebenfalls dazu beitragen, dass der Konsum von Tabak künftig wiederholt wird. Verstärkung, die mit hoher Frequenz und geringem zeitlichen Abstand auf ein Verhalten folgt, ist besonders effektiv. Dieser wirkungsvolle Lernmechanismus lässt sich ebenfalls wieder gut am Beispiel des Tabakrauchens veranschaulichen. Beim Konsum einer Zigarette überwindet der psychoaktive Wirkstoff Nikotin mühelos die Kapillaren in der Lunge sowie die Blut-Hirn-Schranke und interagiert u. a. mit Nikotinrezeptoren des mesolimbisch-mesokortikalen Belohnungssystems im Gehirn (7 Abschn. »Funktionale Veränderungen im Gehirn«). Schon sieben bis zehn Sekunden nach der Inhalation ist die angenehme psychotrope Wirkung subjektiv spürbar, gleichzeitig werden unangenehme Gefühle der Nikotindeprivation beseitigt. Eine 15-jährige Schülerin, die täglich durchschnittlich 20 Zigaretten raucht und jeweils 10 Züge an ihrer Zigarette zieht, erfährt über 200 operante Verstärkungen pro Tag! Wenn die Schülerin dann auch noch an unterschiedlichen Orten Nikotin konsumiert (z. B. die erste Zigarette morgens gleich nach dem Aufstehen am Frühstückstisch, die nächsten auf dem Weg zur Schule, in den Pausen etc.) wird der Zigarettenkonsum an viele verschiedene Orte und Situationen geknüpft. Diese Kombination aus Assoziationslernen (klassische Konditionierung) und operanter Verstärkung einer Verhaltensweise führt im Sinne der Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer (1960) zu sehr stabilem Lernen. Die Reaktion nimmt in ihrer Häufigkeit und Intensität dann wieder ab, wenn sie nicht mehr operant verstärkt wird.
Kognitive Erklärungsmodelle Nach dem kognitiven Modell von Beck et al. (1997) sind dysfunktionale, suchtbezogene Grundannahmen bei der Entstehung von Verlangen nach Substanzkonsum beteiligt. Sie werden durch sog. externale oder internale Auslösesituationen (Hinweisreize, Cues, Trigger) ausgelöst. Externale Auslösesituationen können z. B. sein: Drogen konsumierende Freunde oder Kontakt zum Drogendealer. Eine internale Auslösesituation kann z. B. ein unangenehmer Gefühlszustand sein (z. B. Angst, Depression, Langeweile). Automatische Gedanken (z. B. »Jetzt ein Glas trinken«) entstehen vor dem Hintergrund persönlichkeitsspezifischer Grundüberzeugungen (z. B. »Ich bin ein Nichts« oder »Nur mit Alkohol kann ich glücklich sein«). Sie werden schließlich
771 42.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
reflexartig in einer Vielzahl von Situationen aktiviert und führen zu Verlangen. Auf das Verlangen hin entsteht ein innerer Druck, dem durch Erlaubnis erteilende Gedanken (z. B.: »Wenn ich jetzt trinke geht es mir gut«) nachgegeben wird und es entsteht der Substanzkonsum. Ein sozial-kognitives Modell wurde 1985 von Marlatt u. Gordon vorgestellt, um insbesondere das Rückfallgeschehen bei einer Abhängigkeitserkrankung zu erklären. Die Autoren unterscheiden zwischen einmaligem Substanzkonsum (Ausrutscher, »lapse«) und dem Rückfall in den früheren Substanzkonsum (»relapse«). Der Rückfallprozess setzt sich aus drei Komponenten zusammen: 1. Rückfallrisikosituationen, 2. Bewältigungsfertigkeiten und 3. die Abstinenzzuversicht. Zu Rückfallrisikosituationen können z. B. unangenehme Gefühle, zwischenmenschliche Konflikte oder soziale Verführung zum Drogenkonsum gezählt werden. Dem Modell zufolge wird die Auftretenswahrscheinlichkeit einer Rückfallsituation durch zwei Komponenten erhöht: eine »unausgewogene Lebenssituation« (ein wahrgenommenes, ungünstiges Verhältnis von angenehmen und unangenehmen Ereignissen und Umständen, das zu negativen Gefühlen bzw. dem Bedürfnis nach Entschädigung führt), und »scheinbar irrelevante Entscheidungen«, die noch nicht als rückfallrelevant eingeschätzt werden (z. B. Alkoholvorräte für Gäste zuhause zu lagern). Das sozial-kognitive Rückfallmodell basiert auf der Annahme, dass ein Betroffener nicht passiv einem Rückfall ausgeliefert ist, sondern diesen durch Einsatz von Bewältigungsfertigkeiten (»coping skills«) verhindern kann. Unterschieden wird zwischen aktiv-bewältigenden und passivvermeidenden kognitiven oder verhaltensorientierten Strategien. Die Überzeugung, zur Bewältigung von Rückfallrisikosituationen alternative Verhaltensweisen effektiv einzusetzen, wird als »Abstinenzzuversicht« bezeichnet. Sie soll mit der Anzahl an erfolgreich bewältigten Rückfallrisikosituationen zunehmen. . Abb. 42.3. Konzeptuelles Rahmenmodell. (Aus Wittchen et al. 1998b)
42.3.3 Sozialwissenschaftliche
Erklärungsmodelle Das individuelle Risiko, eine Substanzstörung zu entwickeln, wird insbesondere in der Kindheit durch familiäre Faktoren geprägt. Dabei kann die Familie sowohl als Schutzfaktor aber auch als Risikofaktor fungieren. Eine stabile familiäre Struktur und Bindung, mit familiären Regeln, Rollen, offener Kommunikation und individueller Unterstützung wirkt sich protektiv aus (Fergus u. Zimmermann 2005). Risikofaktoren sind negative Entwicklungsereignisse (z. B. Trennung oder Tod von Elternteil, nicht bei Eltern aufgewachsen, Traumata, konfliktreiche oder belastende familiäre Lebensumstände), ein ungünstiger elterlicher Erziehungsstil (z. B. sehr zulassend, autonomieorientiert, zurückweisend, überprotektiv, geringe Bindung), elterlicher Substanzkonsum und psychische Störungen der Eltern. Bei Heranwachsenden gewinnen Einstellungen und Verhaltensweisen der »Peergroup« an Bedeutung. Bei der Ätiologie von Substanzstörungen dürfen letztendlich aber auch gesellschaftlichen Faktoren im Umgang mit psychoaktiven Substanzen nicht außer Acht gelassen werden. Dabei spielen kulturspezifische Konsumnormen, -werte und -regeln ebenso eine Rolle, wie Preis, Verfügbarkeit und Angebotsstrukturen von Drogen oder die aktuelle Drogenpolitik (z. B. Besteuerung, Gesetzgebung, Strafverfolgung, Prävention, Behandlung, Forschung). . Abb. 42.3 gibt einen Überblick über Risikofaktoren, Prozesse und Konsequenzen der Entwicklung von schädlichem Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit. Dabei wird nochmals deutlich, dass es sich um ein multifaktorielles und höchst komplexes Geschehen handelt. Ein breites Spektrum an Risikofaktoren aus Personenfaktoren (z. B. Genetik, Persönlichkeit, Geschlecht), sozialen Faktoren (z. B. soziales Netzwerk, Schichtzugehörigkeit), individuellen Faktoren (Stress, Stressbewältigung) und Konsumge-
42
772
Kapitel 42 · Substanzmissbrauch und -abhängigkeit
wohnheiten der Person (z. B. Dosis, Frequenz, Konsumsituationen) wirkt zusammen und kann in Interaktion mit der individuellen Lerngeschichte (Modelllernen, operante und klassische Konditionierung) und Entwicklungsprozessen schädlichen Konsum sowie Missbrauch und Abhängigkeit von Substanzen bedingen. Die Folge sind akute (z. B. Probleme in der Schule oder Arbeit) und langfristige negative Konsequenzen (z. B. Entstehung somatischer, psychischer Störungen bzw. schwerwiegende soziale Einschränkungen).
42 42.4
Diagnostik
Die Diagnostik von Substanzstörungen stellt eine komplexe Aufgabe dar, weil sie mit besonderen Herausforderungen verbunden ist. Betroffene Jugendliche oder junge Erwach-
sene befürchten juristische Konsequenzen wegen illegalen Anbaus, Erwerbs und Besitzes von Drogen oder deren Handel. Wichtig ist es deshalb vor Diagnostik und Behandlungsbeginn auf die Schweigepflicht des Therapeuten hinzuweisen. Eine weitere Herausforderung ist, dass die Betroffenen sich Suchtprobleme oft nicht eingestehen oder herunterspielen, so dass das wahre Ausmaß der Problematik oft lange unklar bleibt. Aus diesem Grund ist eine Validierung ihrer subjektiven Äußerungen notwendig. Bühringer (2005) empfiehlt eine Informationsgewinnung auf mehreren diagnostischen Ebenen: Verhaltensbeobachtung, aktuelles und früheres Konsumverhalten, Fragebogen, Laborparameter (Blut, Urin, Haare), Aussagen von Angehörigen und Bekannten, Auffälligkeiten im Betrieb (bei Jugendlichen: Auffälligkeiten in der Schule), Verkehr, in der Freizeit und/oder bei der Justiz.
Die diagnostische Phase im Rahmen der Erfassung von Substanzstörungen beinhaltet folgende Schritte: 1. Anamnese: Hier geht es darum, einen ersten Eindruck über den Zustand der Person und der von ihr geschilderten Beschwerden zu bekommen. Der aktiven Beobachtung von substanztypischen Merkmalen kommt ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu. So verweisen spezielle Merkmale wie z. B. das Zittern der Hände, auf potenziell vorliegende Entzugssymptome im Rahmen eines missbräuchlichen Konsums von Alkohol. Neben einer ausführlichen Substanzanamnese werden ebenfalls die bisherige Biographie sowie die aktuelle Lebenssituation erhoben. Ergänzend zu den Selbstangaben der betroffenen Person ist besonders bei Kindern und Jugendlichen der Einbezug von fremdanamnestischen Informationen enger Bezugspersonen, wie etwa von Eltern oder Freunden, zu beachten. 2. Psychopathologischer Befund und Diagnose: Dieser Schritt beinhaltet die Erfassung von psychopathologischen Merkmalen, wie z. B. Störungen der mnestischen Funktionen sowie die Diagnosestellung unter Berücksichtigung von differenzialdiagnostischen Fragen. Da Substanzstörungen häufig komorbid mit einer anderen psychischen Störung auftreten, muss hier ebenfalls geklärt werden, ob bei der betroffenen Person weitere psychische Erkrankungen vorliegen.
Neben substanzübergreifenden diagnostischen Erhebungsinstrumenten (7 Übersicht »Die diagnostische Phase im Rahmen der Erfassung von Substanzstörungen«) wurden zahlreiche Fragebogen entwickelt, die gezielter substanzspezifische Aspekte erfassen. Aufgrund der Vielzahl an Verfahren soll an dieser Stelle auf das »Elektronische Handbuch zu Erhebungsinstrumenten im Suchtbereich« verwiesen werden (7 Literaturverzeichnis). Es dokumentiert Befragungsinstrumente aus dem Suchtbereich gemeinsam mit ein-
3. Organische Ursachen und Komplikationen: Dieser Schritt umfasst die Erstellung des somatischen Befundes über eine medizinische Abklärung möglicher medizinischer Komplikationen und Begleiterkrankungen, die sich möglicherweise als Konsequenz des Substanzkonsums entwickelt haben. Auch die Frage, ob aus medizinischer Sicht ein Substanzentzug durchgeführt werden kann, wird hier geklärt. Im Rahmen der Labordiagnostik werden Laborparameter erhoben und bewertet. 4. Analyse des Problemverhaltens: Dieser Schritt ist besonders wichtig für die individuelle Therapieplanung und beinhaltet zunächst eine ausführliche Problemanalyse. Die dabei durchgeführte Diagnostik basiert auf kognitiven und lerntheoretischen Modellen der Entstehung und Aufrechterhaltung von Substanzproblemen (7 Abschn. 42.3.2). Es werden dabei sowohl die unmittelbar mit dem Substanzkonsum im Zusammenhang stehenden Verhaltensweisen als auch die mit ihnen funktional verknüpften externen und internen Bedingungen erfasst. Das Problemverhalten selbst wird auf den kognitiven, emotionalen, behavioralen und physiologischen Ebenen beschrieben. Alle erfassten Informationen werden in ein individuelles und für die Person plausibles Erklärungsmodell integriert, auf dessen Basis konkrete Behandlungsschritte abgeleitet werden.
schlägigen theoretischen und methodischen Informationen und Daten zur Beurteilung ihrer Güte. Bisher fehlen leider Diagnoseinstrumente, die speziell für Jugendliche entwickelt und überprüft wurden. Viele Patienten kommen nicht aus eigener Motivation, sondern aufgrund eines äußeren Anlasses in die Therapie (z. B. familiäre Probleme, körperliche Erkrankung, Führerscheinverlust, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, Probleme in der Schule, bei der Ausbildung oder im
773 42.5 · Therapeutisches Vorgehen
Studium). Der Aufbau von Veränderungsmotivation (7 Abschn. »Aufbau von Veränderungsmotivation und Analyse des Substanzkonsums«) spielt deshalb bereits in der Anamnese eine wichtige Rolle. Aktueller externer oder interner Anlass für eine Behandlungsaufnahme, Konsumgeschichte und aktuelles Konsumverhalten aber auch psy-
chische und körperliche Komorbidität, bereits erfolgte Aufhörversuche und Gründe für deren Scheitern, die persönliche Biographie und derzeitige Lebenssituation sowie Vorbehandlungen sollten erfragt werden, um ein umfassendes Bild des Patienten zu erhalten.
Substanzübergreifende diagnostische Erhebungsinstrumente 4 Strukturiertes klinisches Interview für DSM-IV (SKID; Wittchen et al. 1997). Dieses vollstandardisierte, computergestützte Interview dient der Erfassung von Substanzstörungen und anderen psychischen Störungen und ist an den DSM-IV-Kriterien orientiert. 4 Diagnostisches Interview für psychische Störungen (DIPS; Schneider u. Margraf 2006). Dieses strukturierte Interview ist an dem DSM-IV-TR Klassifikationssystem orientiert und erfasst ebenfalls Substanzstörungen und weitere wichtige psychische Störungen. 4 Diagnostisches Expertensystem für psychische Störungen (DIA-X; Wittchen u. Pfister 1997). Das DIA-X ist ein computerisiertes diagnostisches Expertensystem zur Ableitung klinischer Diagnosen nach den Kriterien der ICD-10 und DSM-IV, das u. a. Angststörungen, affektive Störungen, Substanzstörungen, somatoforme Störungen erfasst. Das Verfahren besteht aus einem Screening-Verfahren, das Angst, Depression oder psychische Störungen allgemein erfasst, sowie dem standardisierten Interview zur Erfassung psychischer Störungen im Längsschnitt (Lebenszeit) oder Querschnitt (12 Monate). Beide Versionen können sowohl als Papier-Bleistift-Version als auch als Computer-Version eingesetzt werden; die Auswertung erfolgt durch ein spezielles Computerprogramm. 4 Diagnose-Checklisten. Diese Verfahren beinhalten Merkmalslisten zur Erhebung von Substanzstörungen. Sie ermöglichen eine effiziente Erfassung der diagnostischen Kriterien, setzen jedoch umfangreiche klinische Kenntnisse und Erfahrungen voraus. Bekannte Verfahren sind die »Münchner DiagnoseCheckliste« (MDCL, Hiller et al. 1989) sowie die »Internationalen Diagnose-Checklisten für ICD-10 und DSM-IV« (ICDL, Hiller et al. 1995 und 1997). 4 European-Addiction-Severity-Index (EuropASI; Gsellhofer et al. 1999). Die europäische Version des Addction-Severity-Index ist ein semistrukturiertes In-
42.5
Therapeutisches Vorgehen
Die Grundannahme der kognitiv-behavioralen Therapie bei Substanzstörungen ist, dass Lernprozesse nicht nur eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung
terview zur Erfassung des aktuellen substanzbedingten Behandlungsbedarfs (alle Substanzklassen) in sieben möglichen Problembereichen (körperlicher Zustand, Arbeits- und Unterhaltssituation, Alkohol- und Drogengebrauch, rechtliche Situation, Familie und Sozialbeziehungen, psychischer Status). Es wird der Schweregrad der Behandlungsbedürftigkeit aus Sicht des Patienten auf einer 5-stufigen Ratingskala erfragt und durch eine Einschätzung des Interviewers auf einer Skala von 0–9 ergänzt. Mit den »Composite Scores« stellt das Instrument ein zusammenfassendes Maß über Störungen in den einzelnen Lebensbereichen zur Verfügung. Die psychometrischen Eigenschaften des EuropASI wurden in verschiedenen Studien als befriedigend eingeschätzt (Weiler et al. 2000; Scheurich et al. 2000). 4 Severity of Dependence Scale (SDS; Gossop et al. 1995). Diese Skala ist ein kurzes Screeningverfahren zur Einschätzung der psychologischen Komponente der Substanzmittelabhängigkeit (Dauer 1 min). Es ist ein Selbstbeurteilungsinstrument und besteht aus fünf Fragen, deren Gesamtbewertung den Schweregrad einer Abhängigkeit angibt. Jede der fünf Fragen kann auf einer 4-Punkte-Skala (0–3) eingeschätzt werden. Der Gesamtpunktwert wird durch Addition der fünf Einzelwerte erhalten. Je höher der Wert ausfällt, desto stärker ist das Ausmaß der subjektiv eingeschätzten Abhängigkeit. 4 Psychosoziales ressourcenorientiertes Diagnostiksystem (PREDI) (Küfner u. Vogt 1998; Küfner et al. 2006) Das psychosoziale ressourcenorientierte Diagnostiksystem ermöglicht die Ermittlung einer Kurzdiagnose, bei der mittels eines Screenings der weitere Diagnostikbedarf abgeklärt wird. Darüber hinaus lässt sich eine Feindiagnose erstellen. Neun verschiedene Lebensbereiche werden hinsichtlich dreier Aspekte beurteilt: nach der Problemsituation, den Ressourcen eines Patienten sowie des Veränderungs- bzw. Behandlungsbedarfs.
von Substanzstörungen spielen, sondern auch bei deren Bewältigung. Verhaltenstherapie hilft den Patienten bei drei wesentlichen Schritten: 1. Dem Erkennen von Substanzmissbrauch und -abhängigkeit, 2. deren Veränderung und 3. der Bewältigung assoziierter Probleme.
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774
42
Kapitel 42 · Substanzmissbrauch und -abhängigkeit
Wesentliche Merkmale der kognitiv-behavioralen Therapie von Substanzstörungen sind: 4 strukturiertes, zielorientiertes und fokussiertes Vorgehen in der Behandlung der aktuellen Symptomatik; 4 zeitliche Begrenzung der Behandlung und gute Integrationsmöglichkeit in komplexere klinische Programme (z. B. in Entwöhnungs- und Rehabilitationsmaßnahmen); 4 flexible und individualisierte Adaptation der Methode an ein breites Spektrum von Patienten (Alter, Geschlecht, Komorbidität etc.), verschiedene Settings (ambulant, stationär) und Formate (Einzel-, Gruppentherapie) sind möglich; 4 Kompatibilität der Behandlung mit Pharmakotherapie (z. B. bei der körperlichen Entgiftung, Rückfallprophylaxe oder Behandlung von komorbiden psychischen und somatischen Erkrankungen); 4 intensive Wirksamkeitsüberprüfung durch randomisierte und kontrollierte Studien im Bereich der internationalen Suchtforschung; Qualitätssicherung durch Behandlungsdokumentationssysteme in der ambulanten und stationären Versorgung. Substanzstörungen können in sehr vielfältiger Gestalt auftreten. Ein 45-jähriger Raucher kann stark körperlich und psychisch von Nikotin abhängig sein. Er wird aber aufgrund seiner Substanzstörung nicht dieselben sozialen und juristischen Probleme haben, wie ein 28-jähriger Heroinabhängiger. Die mit Substanzstörungen assoziierten psychischen, somatischen, sozialen und juristischen Folgen können je nach Art, Dauer, Intensität des Drogenkonsums, aber auch der rechtlichen Bewertung der konsumierten Substanz völlig unterschiedlich sein. Somit kann ein sehr breites Spektrum an psychotherapeutischen, medizinischen und pädagogischen Aufgaben erforderlich werden. In den letzten vier Jahrzehnten wurden für die verschiedenen Gruppen von Substanzstörungen spezifische kognitiv-behaviorale Behandlungsprogramme entwickelt und evaluiert. Deren wichtigste Elemente sollen im Folgenden prototypisch vorgestellt werden.
42.5.1 Indikation, Psychoedukation
und Vermittlung eines Therapierationals Indikation. Bislang gibt es keine allgemein akzeptierten und empirisch abgesicherten Indikationskriterien für eine verhaltenstherapeutische Behandlung von Substanzstörungen. Bei besonders schwerer Problematik, Politoxikomanie, ausgeprägten Entzugsproblemen, häufigen Therapieabbrüchen und Rückfällen, Suizidalität oder Fremdgefährdung, massiven psychischen, gesundheitlichen und sozialen (Folge-) Schäden oder geringer sozialer Unterstützung ist eine Behandlung im stationären Setting indiziert. Die dort stattfindende Rehabilitation beinhaltet ein mehrwöchiges, in-
tensives Therapieprogramm und wird erst im Anschluss an eine körperliche Entgiftung (in Allgemeinkrankenhäusern, Psychiatrien oder ambulanten Zentren) durchgeführt. Eine ambulante Verhaltenstherapie wird von den Leistungsträgern ebenfalls erst nach einer Entgiftungsbehandlung finanziert. Sie ist insbesondere bei sozial integrierteren Betroffenen indiziert, die nicht länger von Arbeit oder Familie abwesend sein wollen oder können. Psychoedukation. Eine gezielte Rückmeldung der psychologischen und medizinischen Diagnostikergebnisse ist eine wichtige Intervention zu Beginn einer Therapie. Gemeinsam mit dem Patienten sollte besprochen werden, welche Symptome einer Abhängigkeitserkrankung er erfüllt und welche negativen gesundheitlichen und sozialen Folgen daraus resultieren. Des Weiteren ist die Informationsvermittlung über die Substanz, ihre Wirkung und Folgen hilfreich. Patienten können diese Informationen gut akzeptieren, wenn sie in klaren, einfachen Formulierungen rückgemeldet werden und der Therapeut eine positive, verständnisvolle und lösungsorientierte Haltung einnimmt. Wertungen oder Dramatisierung sollten möglichst vermieden werden. Zum Aufbau von Therapiemotivation ist es darüber hinaus außerordentlich wichtig zu analysieren, wie die jeweilige Abhängigkeitsproblematik entstanden ist. Mithilfe von biographischen Daten und der Entwicklung des Konsums im Lebenszeitraum kann ein individuelles biopsychosoziales Modell der Abhängigkeitsentwicklung erstellt werden. Bei der Entwicklung des Störungsmodells sollten systemimmanent auch die Überzeugungen des Patienten integriert werden. Aus dem Erklärungsmodell werden die Behandlungsmethoden abgeleitet. Vermittlung eines Therapierationals. »Der Mensch wird nicht süchtig geboren. Substanzstörungen sind ein gelerntes Verhalten und können deshalb auch wieder verlernt werden!« Dies ist ein wichtiger zu vermittelnder verhaltenstherapeutischer Grundgedanke. Er hilft den Patienten, eine positive Veränderungserwartung aufzubauen. Die überwiegende Mehrzahl aller Hilfesuchenden hat bereits im Vorfeld der Therapie (vergeblich) versucht, den Substanzkonsum einzuschränken oder einzustellen. Der Therapeut sollte deshalb anbieten, dem Patienten als kompetenter Partner bei der Veränderung des Substanzkonsums beiseite zu stehen und ihn zu unterstützen. Er kann dem Patienten helfen, im Rahmen der Therapie den problematischen Substanzkonsum wieder zu »verlernen« und stattdessen neue, hilfreichere Verhaltensweisen einzusetzen. Damit dies gelingen kann, soll der Patient in einem ersten Schritt seinen Substanzkonsum beobachten und kennenlernen. Im nächsten Schritt wird der Therapeut ihm helfen, neue »Werkzeuge« und Strategien zu erlernen, die dabei helfen, abstinent zu werden und zu bleiben und die mit der Abhängigkeitserkrankung assoziierten Probleme zu bewältigen. Neben einer positiven Selbstwirksamkeitserwartung sollte
775 42.5 · Therapeutisches Vorgehen
der Therapeut auch schon zu Beginn der Behandlung eine günstige therapeutische Beziehung aufbauen. Ohne solide therapeutische Allianz ist es unwahrscheinlich, dass der Patient bei Rückfällen oder Krisen die Behandlung fortführt (beide sind in der Therapie von Substanzstörungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel!), oder sich traut, alte Verhaltensweisen aufzugeben und sich auf neue, ungewohnte Strategien einzulassen.
42.5.2 Störungsspezifische Interventionen
Aufbau von Veränderungsmotivation und Analyse des Substanzkonsums Aufbau von Veränderungsmotivation. Die meisten Menschen mit Substanzstörungen erleben sowohl positive als auch negative Aspekte ihres Drogenkonsums. Eine mögliche Verhaltensänderung wird ihnen nutzen, aber auch ihre »Kosten« haben. Um diese Ambivalenz zu erkennen, aufzulösen und eine Verhaltensänderung herbeizuführen, haben Miller u. Rollnick die »motivierende Gesprächsführung« entwickelt (Miller u. Rollnick 2002). Der Kerngedanke dieses zielgerichteten, patientenzentrierten Beratungskonzeptes ist es, Ambivalenz als normale Phase einer Verhaltensänderung zu akzeptieren und Veränderungsmotivation nicht als Voraussetzung für, sondern als das Ziel einer Beratung zu betrachten. Zu den Strategien der Motivationsförderung gehört u. a. das Verstärken von selbstmotivierenden Aussagen (Therapeut: »Weshalb wollen Sie mit Ihrem Cannabiskonsum aufhören? Warum meinen Sie, ist die Zeit reif für eine Veränderung?«), das Stellen von offenen Fragen (Therapeut: »Wie veränderte sich Ihr Alkoholkonsum im Laufe der Zeit?«, »Was beunruhigt Sie an der momentanen Situation?«), das widerspiegelnde Zuhören (Patient: »O. K., ich habe vielleicht ein Problem mit dem Kiffen, aber ich bin sicher nicht süchtig!«, – Therapeut: »Sie sind also nicht mehr zufrieden mit Ihrem aktuellen Konsumverhalten, es ist Ihnen aber auch wichtig, nicht in eine Schublade gesteckt zu werden.«), das Zusammenfassen von Kognitionen und Überzeugungen des Patienten (Therapeut: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, würden Sie gerne aufhören, um insgesamt wieder aktiver im Leben zu werden und um sich wieder mehr auf ihr Studium konzentrieren zu können. Gegen das Aufhören würde sprechen, dass Sie vielleicht einige Ihrer Freundschaften aufgeben müssten und dass Sie nicht mehr wüssten, wie Sie sich nach einem stressigen Tag entspannen sollten. Sind das die wichtigsten Gründe?«), das Erkennen und sofortige Ansprechen von Widerständen bzw. Zweifeln (Patient: »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, nie mehr in meinem Leben Alkohol zu trinken.« – Therapeut: »Sie müssen sich heute nicht für Ihr ganzes Leben festlegen. Lassen Sie uns besprechen, was Sie sich für die nähere Zukunft vorgenommen haben.«) und das Identifizieren von Unstimmigkeiten (Therapeut: »Sie erzählten mir, dass Sie durch Cannabis viel kreativer
. Tab. 42.1. Vier-Felder-Tafel (Marlatt u. Gordon 1985) Vorteile von Abstinenz
Nachteile von Abstinenz
Kurzfristig Langfristig
sind und bessere Ideen haben. Andererseits sagten Sie, dass Sie seit einem Jahr schon keine Musik mehr gemacht haben. Das klingt für mich widersprüchlich.«). Aufbau von Veränderungsmotivation ist insbesondere zu Beginn der Therapie außerordentlich wichtig. Die bisherige Sichtweise des Patienten soll »gestört« werden. Durch den Aufbau von Ambivalenz bzw. Dissonanz hat er die Chance, seinen Substanzkonsum aus einer neuen Perspektive zu sehen. Um dem Patienten seine Ambivalenz zu verdeutlichen, kann eine »Vier-Felder-Tafel« (. Tab. 42.1) eingesetzt werden. Anhand dieser Liste (Marlatt u. Gordon 1985) werden z. B. die kurz- und langfristigen Vorteile und Nachteile der künftigen Alkoholabstinenz analysiert. Funktionale Analyse. Ein wichtiges Instrument beim Ken-
nenlernen des problematischen Substanzkonsums ist für Therapeut und Patient in den ersten Therapiesitzungen die funktionale Analyse (. Tab. 42.2). Diese wird in der verhaltenstherapeutischen Praxis in der Regel auf der Basis des SORCK-Modells nach Kanfer u. Saslow (1976) erstellt. Zu Beginn wird der problematische Substanzkonsum (Verhaltenskomponente R) möglichst präzise mit seinen behavioralen (also Zeitpunkt, Dauer, Intensität oder Auftretenshäufigkeit), und seinen kognitiven Aspekten (subjektive Bewertungen, Erwartungen des Substanzkonsums), aber auch emotionalen (Gefühle, Empfindungen) und physiologischen (körperliche Begleiterscheinungen) Aspekten ermittelt. Unter der Organismuskomponente O werden genetische, körperliche und psychosoziale Faktoren zusammengefasst, die den Substanzkonsum im Sinne einer Persönlichkeitsvariablen beeinflussen. Externale und internale Reizbedingungen, die dem Verhalten vorausgehen, werden in der Stimuluskomponente S zusammengefasst. Befriedigende und unbefriedigende Konsequenzen, die dem problematischen Substanzkonsum folgen, werden unter der Konsequenzkomponente C subsumiert, in der Kontingenzkomponente K wird die Kontiguität (räumlich-zeitliche Verhaltenskonsequenz) und die Kontingenz (Regelmäßigkeit, Vorhersagbarkeit) bestimmt. Zu Beginn der Behandlung hilft eine sorgfältige Verhaltensanalyse, die Funktionalität des Problemverhaltens kennenzulernen und individuelle Hochrisikosituationen für Drogenkonsum zu identifizieren (Hoch et al., im Druck). Diskriminationstraining. Die Patienten werden angeleitet,
»Experten für ihr eigenes Verhalten« zu werden. Systematische Selbstbeobachtung im Alltag soll dabei helfen, durch Aufmerksamkeitsfokussierung automatisierte Verhaltens-
42
776
Kapitel 42 · Substanzmissbrauch und -abhängigkeit
. Tab. 42.2. Verhaltensanalyse des Cannabiskonsums
42
S
O
RGedanken
RGefühle
RKörper
RVerhalten
C+
C–
C-/ (durchgestrichen)
Bin zuhause und fühle mich einsam
Es liegen mehrere Abhängigkeitserkrankungen in der Familie vor
5 »Keiner mag mich« 5 »Mir geht es schlecht« 5 »Wenn ich jetzt rauche, dann ist der Abend ausgefüllt«
Einsamkeit Traurigkeit Wut
Müdigkeit Antriebslosigkeit
Kiffen
Entspannung, Wohlbefinden, Dämpfen der negativen Gefühle
5 Nichts ändert sich an Situation 5 Gefahr abhängig zu werden 5 Gedanken kommen wieder
Negative Gedanken und Gefühle verschwinden
S Situation; O Organismus (individuelle Reaktionsbereitschaft); R Reaktion; C Konsequenz; C+ positive Konsequenz; C- negative Konsequenz; C-/ (durchgestrichen) negative Konsequenz entfällt.
weisen bewusst zu machen, zu unterbrechen und unter bewusste Kontrolle zu bringen. Um die Selbstbeobachtung zu erhöhen, können z. B. Tagebücher (. Tab. 42.3) eingesetzt werden. Mit deren Hilfe soll der Patient sein Problemverhalten, dessen Auslöser und Konsequenzen genau studieren. Er lernt, zwischen auslösenden und nichtauslösenden Situationen zu unterscheiden und erkennt die aufrechterhaltenden Folgen. Eine weitere Methode, sog. »Trigger« (Auslöser) für den Substanzkonsum zu entdecken, ist die deskriptive Situationsanalyse. Hierbei werden typische Konsumsituationen gemeinsam mit dem Patienten durchgegangen. Lindenmeyer (1999) beschreibt z. B. für Alkoholiker eine Vorgehensweise, in der Situationsmerkmale (Ort, Zeit, anwesende Personen, Anblick und Geruch von Alkohol etc.) sowie internale Bedingungen (z. B. Stimmung, Gedanken, Wirkungserwartungen, Durst, physiologische Reaktionen) als Auslöser additiv die Wahrscheinlichkeit des Trinkens erhöhen. Das Diskriminationstraining kann bereits zu einer Verhaltensänderung führen.
42.5.3 Modifikation des problematischen
Substanzkonsums Skills Training Der Aufbau von Fertigkeiten zur Veränderung des Drogenkonsums und zum Führen eines drogenfreien Lebens kann als das »Herz« der kognitiv-behavioralen Therapie bezeichnet werden. Vor der Behandlung war Substanzkonsum die einzige Möglichkeit, ein breites Spektrum von inter- und intrapersonellen Problemen zu bewältigen. Der Patient soll jetzt dazu befähigt werden, in Hochrisikosituationen seine »alten Gewohnheiten« zu verlernen und in seinem neuen, drogenfreien Leben gesündere und effektivere Bewältigungsfähigkeiten und -fertigkeiten (wieder) zu erlernen. Festlegung eines Stopptages. Viele Patienten haben zunächst einmal das Therapieziel, ihren Substanzkonsum zu
reduzieren und ihn in geringerer Frequenz und mit mehr Genuss fortzusetzen. Dies gelingt aufgrund der äußerst stabilen klassischen und operanten Konditionierungsmechanismen jedoch in den seltensten Fällen dauerhaft. Der kontrollierte Drogenkonsum birgt die Gefahr, wieder in alte Gebrauchsmuster zurückzufallen. Obwohl es für langjährige Drogenkonsumenten unattraktiv klingt, den Konsum komplett einzustellen, ist dieses Therapieziel erfolgreicher zu realisieren. Gemeinsam mit dem Patienten wird ein sog. Stopptag oder Zieltag festgelegt, an dem der Substanzkonsum vollständig eingestellt wird. Wichtig ist es, diesen Tag so zu terminieren, dass er zeitlich nicht zu weit entfernt liegt (da sich die Aufhörmotivation ungünstig entwickeln könnte), aber noch genügend Spielräume für eine sorgfältige Vorbereitung lässt. Es sollten also mindestens noch eine oder zwei Therapiesitzungen vor dem Stopptag liegen. Stimuluskontrolle. Den Substanzkonsum auslösende externale oder internale Hinweisreize, die im Rahmen des Diskriminationstrainings identifiziert wurden, sollen bei der Durchführung der Verhaltensänderung nun möglichst gemieden, entfernt oder verändert werden. Stimuluskontrolle bei einem Cannabisabhängigen könnte z. B. beinhalten, alle Rauchutensilien (Bong, Tabak, Cannabisvorräte) aus der Wohnung zu entfernen und Situationen zu meiden, die mit dem Cannabiskonsum assoziiert waren (z. B. bestimmte Musik zu hören, am Computer zu spielen). Entwicklung und Planung von Alternativverhalten. Da sich
Hinweisreize in vielen Fällen nicht verändern lassen, ist der Aufbau von Verhaltensalternativen besonders essenziell beim Skills Training. Wer in der Arbeitspause für gewöhnlich seinen Stress »weggepustet« hat, könne nun, statt eine Zigarette zu rauchen, einen kleinen Spaziergang machen. Gemeinsam wird mit dem Patienten eine Liste der Auslöser im Alltag erstellt, für die nun eine Vielzahl möglichst praktikabler Verhaltensalternativen erstellt und eingeübt werden.
777 42.5 · Therapeutisches Vorgehen
. Tab. 42.3. Diskriminationstraining mit Hilfe eines Nichtrauchertagebuchs Datum, Uhrzeit
Situationsbeschreibung (wann, wo, andere Personen)
Was ist passiert? Wie habe ich mich gefühlt, was habe ich gedacht?
Wie habe ich reagiert? Was habe ich getan?
17.8., 21:30
Geburtstagsparty bei Mike
4 4 4 4
4 Habe dankend abgelehnt und gesagt, dass ich mir jetzt das Rauchen abgewöhnen will 4 War danach sehr zufrieden mit mir! 4 Erster Erfolg!
17.8., 23:00
Geburtstagsparty bei Mike, mit Marie im Garten, schöner Sommerabend
4 Habe mich mit Marie unterhalten 4 Marie zündete sich eine Zigarette an 4 Ich dachte »Eine Zigarette schadet nicht.«
4 Habe drei Zigaretten geraucht 4 Ärgere mich über mich selbst
18.8, 7:10
Auf dem Weg zur Schule Warte auf den Bus, war spät dran
4 4 4 4 4
4 Habe mir eine Zigarette angezündet 4 Als Bus endlich kam, habe ich die Zigarette wieder ausgemacht und weggeworfen
Mike hat mir eine Zigarette angeboten Mir ist ganz heiß geworden Bin sehr nervös geworden Habe schon 3 Flaschen Bier getrunken
War müde und sehr gestresst Dachte an meine Matheklausur Dachte »Bin nicht gut vorbereitet« Schweißausbruch und zittrige Hände Habe nach Zigaretten gesucht
Abschiedsritual. Um die Beendigung des Substanzkonsums noch einmal symbolisch zu bekräftigen, kann der Patient ein Abschiedsritual durchführen. Dies kann z. B. ein »Abschiedsbrief an die Droge« sein. Kontingenzmanagement. Da im verhaltenstheoretischen Sinne Verhalten insbesondere durch positive Verstärkung aufgebaut wird, sollte der Therapeut die neuen Verhaltensweisen stets verbal bekräftigen. Besonders wichtig ist jedoch, dass der Patient im Rahmen der Selbstverstärkung lernt, sich für seine neu erlernten und eingesetzten Verhaltensweisen zu belohnen. Dies fällt vielen Patienten nicht leicht. Hilfreich kann dann das Erstellen einer individuellen Verstärkerliste sein (»Was gönne ich mir, wenn ich welches Ziel erreicht habe?«) oder ein Therapeut-Patienten-Vertrag, der genau die wichtigsten Therapieziele beinhaltet (z. B. Abstinenz nach einer Woche, einem Monat, einem halben Jahr, einem ganzen Jahr) und auch die Belohnung hierfür festlegt. Der Aufbau eines neuen Belohnungssystems ist aber auch aus einem weiteren Grund sehr wichtig. Bis zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns verbringen viele Patienten die meiste Zeit des Tages damit, die Drogen zu erwerben, zu konsumieren oder sich von ihr zu erholen. Es bleibt vielfach keine Zeit mehr für andere und v. a. positive Verhaltensweisen. Die psychotrope Wirkung der Droge wird meist zur einzigen »Belohnung« und bei langjähriger Abhängigkeit lässt selbst dieses angenehme Erleben zugunsten unangenehmer (Neben)Wirkungen(z. B. Entzugsbeschwerden) nach. Als Folge des Verstärkerverlustes können depressive Verstimmungen oder manifeste Depressionen entstehen. Nicht zuletzt um diese zu verhindern bzw. zu bewältigen sollten positive Aktivitäten, die mit einem Drogen konsumierenden Lebensstil inkompatibel sind, identifiziert und aufgebaut werden. Umgang mit Entzugssymptomen. Entzugssymptome können bei allen Substanzstörungen einige Stunden nach dem Absetzen der Droge in unterschiedlicher Gestalt und Stärke
auftreten. Im Rahmen einer Verhaltenstherapie sollte der Patient psychoedukativ über Art und Intensität von potenziellen Entzugsbeschwerden und die Möglichkeiten der Bewältigung aufgeklärt werden. Bei leichten Entzugsbeschwerden wie Müdigkeit oder Konzentrationsmangel kann z. B. mehr Bewegung helfen, bei schlechter Laune, Nervosität oder Verspannung können Entspannungsübungen oder Sport Linderung bringen. Ein körperlicher Entzug sollte jedoch aus zwei Gründen immer auch unter ärztlicher Aufsicht durchgeführt werden: 1. Im Rahmen der Entgiftung können ernste medizinische Vorfälle auftreten (z. B. generalisierte Krampfanfälle und prädelirante oder delirante Zustände insbesondere bei Abhängigkeit von Alkohol und »harten« Drogen), 2. Medikamente können den Patienten bei der Entgiftung unterstützen und den Entzug erleichtern (Brunnhuber et al. 2005). Umgang mit Craving. Das Auftreten von starkem Verlangen oder Gier nach der Droge ist ebenfalls typisch für die Entzugs- bzw. Entwöhnungsphase und häufig ein Grund für Rückfälle. Das Konzept der kassischen Konditionierung spielt beim Craving eine wichtige Rolle. Pavlow konnte nicht nur demonstrieren, dass die wiederholte Darbietung eines konditionierten Stimulus mit einem unkonditionierten Stimulus eine konditionierte Reaktion auslösen kann. Er konnte auch zeigen, dass die konditionierte Reaktion mit der Zeit gelöscht wird, wenn der konditionierte Stimulus (z. B. Geruch einer Zigarette) ohne den unkonditionierten Stimulus (z. B. Inhalation des Rauchs) präsentiert wird. Für die Psychotherapie bedeutet dies, dass der Therapeut dem Patienten helfen muss, Auslöser und Verlauf des konditionierten Cravings kennen zu lernen. Der Patient soll sich dann in einem Expositionsexperiment zunächst in sensu dann in vivo dem Auslöser für den Drogenkonsum aussetzen, ohne dass die Substanz tatsächlich eingenommen wird. Er soll die Erfahrung machen, dass das Verlangen nach der Droge bei der Exposition nicht ins Un-
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42
Kapitel 42 · Substanzmissbrauch und -abhängigkeit
ermessliche steigt, sondern im Laufe der Zeit aufgrund physischer Habituationsprozesse nachlässt. Im Sinne der klassischen Konditionierung kommt es bei wiederholter Exposition mit Reaktionsverhinderung zu einer Löschung der Reiz-Reaktionsketten. Der Patient erfährt aber auch, dass das Verlangen »kontrollierbar« ist. Diese Erfahrung führt auch zu einer kognitiven Neubewertung und stärkt die persönliche Selbstwirksamkeitserwartung. Eine weitere Bewältigungsstrategie kann sein, für alle inneren und äußeren Auslöser des Cravings erneut Verhaltensalternativen zu suchen. Patienten sollten dafür sensibilisiert werden, dass die Assoziationsketten der klassischen Konditionierung sehr stabil sind und es deshalb auch noch nach langer Zeit der Abstinenz zu Craving kommen kann.
Schulabschluss, neue Arbeitsstelle, Umzug) können eine Gefahr für das Abstinenzvorhaben des Patienten darstellen. Zur Identifikation und dem »Debriefing« von Rückfallsituationen eignet sich folgende Vorgehensweise: Jede Situation wird auf ein extra Kärtchen geschrieben und bezüglich ihrer Schwierigkeit, eingeschätzt (z. B. auf einer Skala von 0–100). Die Kärtchen sollten folgende drei Informationen enthalten: Auslöser, Schwierigkeitsgrad und Bewältigungsstrategie in der Risikosituation. Alle Risikosituationen sollten schließlich in eine Rangreihe gebracht werden. Berücksichtigt werden sollte, dass die verschiedenen Situationen nicht immer nach ihrer Schwierigkeit genau differenziert werden können. In diesem Fall reicht auch eine Unterteilung in schwierige und leichte Situationen.
Aversive Interventionen. Eine effektive, wenn auch bei Patienten und Therapeuten sehr unbeliebte Strategie, ist das Koppeln von drogenbezogenen Reizen mit unangenehmen Erfahrungen. Elkins (1991) beschreibt eine typische Vorgehensweise, wie z. B. der Geschmack von Alkohol an Übelkeit gekoppelt werden kann: Der Patient wird gebeten, auf nüchternen Magen zunächst Salzwasser und dann in einem 20–30 Minutenabstand alkoholische Getränke zu trinken, die schließlich alle wieder erbrochen werden. Alternativ zum Salzwasser können auch übelkeitsinduzierende Medikamente gegeben werden. Bei der Tabakentwöhnung wird z. B. besonders schnelles und intensives Rauchen eingesetzt, um Übelkeit zu erzeugen. Eine in der Praxis eher akzeptierte Intervention ist die verdeckte Sensibilisierung, bei der in einer Imaginationsübung unangenehme Erfahrungen und Bilder mit dem Substanzkonsum assoziiert werden.
Expositionsübungen in sensu und in vivo. Die identifi-
Rückfallprophylaxe Rückfälle sind in der Therapie von Substanzstörungen eher die Regel als die Ausnahme. Durch klassische Konditionierungsprozesse entstandene, automatisierte Verhaltensketten des Substanzkonsums sind im Gehirn stabil gespeichert und können selbst bei Patienten mit der besten Prognose zu einem Rückfall führen. Deshalb ist es wichtig, die Patienten frühzeitig auf die Möglichkeit eines Rückfalls hinzuweisen und sie für Risikosituationen zu »wappnen«. Sie sollen lernen, Rückfälle zu verhindern bzw. im Sinne einer Schadensbegrenzung möglichst rasch zu beenden. Dazu werden die im Folgenden erläuterten Übungen vorgeschlagen. Identifikation und »Debriefing« von Rückfallsituationen.
Therapeut und Patient können gemeinsam eine individuelle Hierarchie von Hochrisikosituationen (z. B. Langeweile oder Stress, soziale Verführungssituationen) für einen Rückfall aufstellen. Dabei sollte der Patient den Blick sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft richten und überlegen, welche Auslöser es bei ihm für Substanzkonsum gibt. Bestimmte Gedanken, Stimmungen, körperliche Zustände, Orte, aber auch einschneidende Lebensveränderungen negativer (z. B. Arbeitslosigkeit) als auch positiver Art (z. B.
zierten Risikosituationen können nun im Rahmen von Konfrontationsübungen aufgesucht werden. Die Vorgehensweise erfolgt wie bereits unter 7 Abschn. »Skills Training«, »Umgang mit Craving« dargestellt. Um den Patienten auf die Intervention vorzubereiten, kann in einem Gedankenexperiment eine Risikoverlaufskurve für Substanzkonsum bei wiederholtem Konsum erarbeitet werden. Diese Art der Exposition wird auch bei anderen psychischen Störungen sehr erfolgreich eingesetzt und ist z. B. bei Neudeck u. Wittchen (2005) ausführlich beschrieben. Ablehnungstraining. Vielen abstinenten Patienten fällt es
nach der Therapie schwer, in den Alltag zurückzukehren und in »sozialen Verführungssituationen« (z. B. in der Familie, bei Freunden, am Arbeitsplatz, bei Partys) Nikotin, Alkohol oder Drogenangebote selbstsicher abzulehnen. Im Rollenspiel können entsprechende sozial kompetente Verhaltens- und Kommunikationsfertigkeiten besprochen, ausprobiert und eingeübt werden. Zunächst wird die Situation, die im Rollenspiel dargestellt werden soll, möglichst wirklichkeitsnah und genau definiert (wo, wann, was, wer, welche Atmosphäre etc.). Der Therapeut übernimmt die Rolle einer Person, die dem Patienten einen Joint anbietet, d. h. auch die Rolle des Therapeuten sollte vorher möglichst genau abgesprochen werden (wer, was, wie etc.). Der Patient soll nun das Angebot sozial kompetent ablehnen. Um die neu erworbenen Verhaltensweisen zu festigen, soll der Therapeut dem Patienten unmittelbar und gezielt positive Aspekte verstärken. Das Rollenspiel kann ein zweites oder drittes Mal wiederholt und das Zielverhalten optimiert und durch positive Verstärkung des Therapeuten bekräftigt werden. Verdeckte Kontrolle. Die »verdeckte Kontrolle« ist eine Technik, bei der Bewältigungsfertigkeiten im Rahmen einer Imaginationsübung trainiert werden. Der Patient wird gebeten, sich eine Rückfallsituation vorzustellen, die er erfolgreich bewältigt. Diese Situation soll möglichst detailreich ausgearbeitet werden: Der Patient soll sich lebendig aus-
779 42.6 · Probleme und Schwierigkeiten im Therapieverlauf
malen, was er in der Risikosituation denkt, sagt, tut, fühlt und wie es ihm schließlich gelingt, der Substanz zu widerstehen. Die Szene wird zunächst aufgeschrieben und dann vom Patienten langsam auf ein Tonband aufgezeichnet. Wichtig ist, dass bei dieser Intervention die Bewältigungsstrategie und die guten Gefühle betont werden, die aus dem Erfolg resultieren. Notfallplan. Die Erstellung eines individuellen Notfallplans kann aus den folgenden drei therapeutischen Schritten bestehen: 1. Was tun bei einem Rückfall? Therapeut und Patient erarbeiten ganz konkrete Schritte, mit denen der Rückfall überwunden werden kann (z. B. die Situation verlassen, alle Drogenvorräte vernichten, Therapieunterlagen heraussuchen etc.). 2. Hilfe und soziale Unterstützung suchen. Welche Person soll über den Rückfall informiert werden und kann helfen (z. B. gute Freunde, Selbsthilfegruppe, Beratungsstelle, Hausarzt). 3. Wiedergewinnen der Abstinenzzuversicht. Damit das verlorengegangene (Selbst-) Vertrauen in die Veränderungsfähigkeit bzw. Wirksamkeit der Behandlung wiederhergestellt werden kann, sollte das Zustandekommen des Rückfalls geklärt werden bzw. was kann der Patient zukünftig anders machen?
Aufbau sozialer Kompetenzen. Da viele Patienten mit
Substanzstörungen auch große Defizite beim Äußern von Gefühlen, dem Durchsetzen eigener Bedürfnisse bzw. Rechte oder dem Ansprechen von Konflikten haben, ist ein soziales Kompetenztraining, z. B. nach Hinsch u. Pfingsten (2007) hilfreich. Soziale Kompetenz wirkt sich auch günstig auf eine dauerhafte Abstinenz aus, sie hilft z. B. beim Ablehnen von Drogenangeboten (7 Kap. I/37). Einbeziehung von Familienangehörigen. Wenn ein Familienmitglied an einer Substanzstörung erkrankt, betrifft dies immer auch die ganze Familie. Insbesondere Kinder und Jugendliche leiden unter der Erkrankung ihrer Eltern und haben ein höheres Risiko, selbst eine Abhängigkeit zu entwickeln. Aber auch Eltern können sich sehr hilflos und überfordert fühlen, wenn ihre Kinder einen problematischen Drogenkonsum entwickeln. Ausgeprägte Schuldund Schamgefühle oder Aggressionen sind keine Seltenheit. Von dem Phänomen der »Co-Abhängigkeit« spricht man u. a., wenn das eigene Denken, Fühlen und Handeln von der Sucht einer nahe stehenden Person geprägt ist. Spätestens dann sollten Familienangehörige selbst professionelle Hilfe (z. B. bei einer Drogenberatungsstelle) aufsuchen. Auch Selbsthilfegruppen für Angehörige können Unterstützung bieten. In der Therapie eines Abhängigen können Familien- bzw. Partnergespräche sehr hilfreich sein, um vorliegende Konflikte zu bearbeiten und Kommunikationsfertigkeiten zu verbessern.
42.5.4 Bewältigung von Problemen im
Zusammenhang mit Substanzstörungen Oft berichten Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen über Probleme in verschiedensten Lebenssituationen (z. B. Schwierigkeiten in Schule oder Ausbildung, Schulden oder fortdauernden Konflikten mit Eltern oder Freund/in). Diese Probleme können sowohl Ursache als auch Folge des Drogenkonsums sein. In den meisten Fällen stellen die vorhandenen Probleme jedoch ein Hindernis für eine langfristige Abstinenz dar. Für den Großteil der Patienten ist im Laufe der Jahre der Drogenkonsum zur einzigen Methode geworden, um mit aktuellen Problemen und den daraus resultierenden negativen Gefühlen wie z. B. Trauer, Wut, Ärger und Angst umgehen zu können. Eine adäquate Problembewältigung wird verhindert, die Schwierigkeiten bleiben ungelöst oder verschlimmern sich. Problemlösen. Effektives, problemlösendes Denken kann mithilfe des Problemlösetrainings von D’Zurilla u. Goldfried (1971) erlernt werden. Es basiert auf den bekannten Schritten: 1. Das Problem erkennen, 2. Das Problem identifizieren, 3. verschiedene Lösungsansätze betrachten (Vorund Nachteile sowie kurz- und langfristige Konsequenzen), 4. Auswahl der besten bzw. erfolgversprechendsten Alternative und Begründung der Auswahl und 5. die Effektivität einschätzen (7 Kap. I/38).
Kommunikationstraining. Um Kommunikations- und
Konfliktlösefertigkeiten zu verbessern und um positives Erleben in der Familie oder Partnerschaft zu fördern, kann ein Kommunikationstraining günstig sein. Eine entsprechende Vorgehensweise kann aus der Paartherapie übertragen werden und ist z. B. bei Schindler et al. (1998) beschrieben (7 Kap. I/38).
42.6
Probleme und Schwierigkeiten im Therapieverlauf
Ambivalenz und Widerstände bezüglich einer Veränderung des Substanzkonsums sind nicht nur typisch für die Anfangsphase einer Therapie, sondern können im gesamten Verlauf auftreten. Wichtig ist es deshalb, gemeinsam Zwischenziele zu vereinbaren und die Veränderungsmotivation des Patienten kontinuierlich zu fördern. Normalität in der Therapie von Substanzstörungen ist auch, dass Patienten intoxikiert zur Behandlung kommen. Wichtig ist es dann, sofortige Schritte zur Wiedererlangung von Nüchternheit einzuleiten. Um abzuklären, ob eine (erneute) körperliche Entgiftung notwendig ist, sollte auch ein Arzt hinzugezogen werden. Es ist nicht sinnvoll, mit Patienten im Rauschzustand die Ursache für den Rückfall zu besprechen. Damit er sich auch wirklich an die Inhalte der Sitzung erin-
42
780
42
Kapitel 42 · Substanzmissbrauch und -abhängigkeit
nern kann, sollte ein neuer Termin vereinbart werden. Da ein Rückfall demoralisierend für Patienten sein kann, sollte das Selbstvertrauen des Patienten in seine eigene Änderungskompetenz gestärkt werden. Eine Weiterbehandlung ist aber nur sinnvoll, wenn der Patient sich auch weiterhin auf das therapeutische Bündnis einlassen kann und bezüglich der (eventuell neu vereinbarten) Therapieziele kooperiert. Zur Überprüfung der Abstinenz werden in der Behandlungspraxis regelmäßig Alkohol- und Drogenscreenings durchgeführt.
42.7
Fallbeispiel
Tom ist 22 Jahre alt und studiert Informatik. Das erste Mal Kontakt zu Drogen hatte er während der Ferien bei seinen Großeltern auf dem Land. Damals war er 9 Jahre alt und durfte vom Bier seines Opas trinken. »So ein Schluck Gerstensaft hat noch niemandem geschadet« war die Meinung des Großvaters zum Thema Alkohol. Ein Jahr später probierte Tom das erste Mal gemeinsam mit seinem älteren Bruder Zigaretten. Sein Vater, ein langjähriger und starker Raucher, ließ zuhause immer seine Zigarettenpäckchen offen herumliegen. Falls kein Tabak mehr im Hause war, schickte der Vater seine Söhne auch gerne einmal los, um am Automaten an der Straßenecke Nachschub zu besorgen. Erst nach dem Wechsel aufs Gymnasium fing Tom an, öfter Zigaretten zu rauchen. Dies tat er gemeinsam mit einer Gruppe von Mitschülern, etwas abseits vom Schulhof war man von den Lehrern unbeobachtet. Um vor den anderen nicht als »Schnorrer« dazustehen, begann Tom irgendwann eigene Zigaretten zu kaufen. Heute bezeichnet Tom dies als den entscheidenden Schritt, der ihn vom gelegentlichen zum regelmäßigen Raucher machte. Mit knapp 16 Jahren begann Tom Handball zu spielen. In der Mannschaft sei es normal gewesen, nach dem Training oder bei Turnieren gemeinsam ein »Tütchen Gras« zu rauchen. »Das brachte jede Menge Spaß und man kam intensivier in Kontakt mit den ziemlich lässigen Leuten« meint Tom heute. Anfangs kiffte er nur mit den Leuten vom Sport, dann auch mit anderen Freunden beim »Playstation« spielen, Musik hören oder Video schauen. Der Konsum wurde regelmäßig, das »Tütchen« half ihm, nicht nur mit anderen Spaß zu haben, sondern sich auch vom anstrengenden Schulalltag zu erholen oder zu entspannen. Tom berichtet, dass seine Eltern nichts von seinem Drogenkonsum wussten. Auch dass er im Freundeskreis mit Gras dealte und sich so seinen eigenen Bedarf finanzierte, blieb unbemerkt. Nach dem Abitur und Zivildienst begann er ein Informatikstudium in einer ostdeutschen Universitätsstadt. Dort sei es ihm von Anfang an schwer gefallen, Menschen kennenzulernen und seinen Tagesablauf zu strukturieren. Er habe sich nicht dazu aufraffen können, morgens rechtzeitig aufzustehen, um an den Lehrveranstaltungen teilzunehmen. Tagsüber habe er die meiste Zeit alleine zuhause mit Computerspielen oder im Internet
verbracht und fünf bis acht »Köpfe« mit seiner Bong geraucht. Sein Leben habe sich immer mehr um den Cannabiskonsum gedreht. Er habe sich zunehmend in eine eigene Welt »hineingeraucht«. An Freunden, dem Sport und anderen Aktivitäten habe er das Interesse verloren. Leider sei auch seine Stimmung immer schlechter geworden, er habe sich zeitweise richtig depressiv gefühlt. Mehrere Versuche, den Cannabiskonsum einzuschränken, seien gescheitert. Er sei unruhig und extrem gereizt geworden und habe eine enorme Konsumgier noch dem »Gras« bekommen. Schließlich habe immer »die Macht der Gewohnheit« gesiegt und er habe nach kurzer Zeit genau so viel geraucht wie zuvor. Tom hörte von dem verhaltenstherapeutischen Therapieprogramm »CANDIS« (Hoch et al. 2007; Hoch et al., im Druck), das von Wissenschaftlern der Technischen Universität Dresden speziell für Menschen mit Cannabismissbrauch und -abhängigkeit entwickelt und erprobt wurde. Um seinen Cannabiskonsum einmal grundsätzlich zu überdenken und um professionelle Hilfe bei der Veränderung zu erhalten, meldete er sich zur Teilnahme an der Studie an. Das CANDIS-Therapieprogramm basiert auf den drei Behandlungsmodulen der motivierenden Gesprächsführung, der kognitiv-behavioralen Therapie und einem psychosozialen Problemlösetraining. In einem ersten Gespräch wurde Tom diagnostisch untersucht und ausführlich über die neurobiologischen, psychologischen und sozialen Entstehungsmechanismen von Cannabisstörungen aufgeklärt. Auf gut verständliche Art und Weise vermittelte ihm eine Diplompsychologin die Wirkweise von Cannabis im Gehirn und die Veränderungen im Gehirnstoffwechsel durch chronischen Cannabisgebrauch. In einer zweiten Sitzung wurde seine persönliche Konsumgeschichte besprochen und die individuellen Ursachen für seine Abhängigkeitsentwicklung identifiziert. Obwohl es sich Tom zunächst nicht vorstellen konnte, auf Cannabis künftig ganz zu verzichten, zeigte ihm eine Auflistung der Vor- und Nachteile seines Konsumverhaltens, dass ihm »das Gras mittlerweile doch ganz schön über den Kopf gewachsen war«. Das wichtigste Motiv für eine Veränderung war, dass Tom in seinem Leben wieder Antrieb und Motivation zurückgewinnen wollte. Auch wünschte er, endlich mit seinem Studium besser zurechtzukommen und sich selbst zu beweisen, dass er mit dem Kiffen aufhören kann. Da sämtliche bisherigen Reduktionsversuche mit Misserfolg gekrönt waren, entschied er sich schließlich doch für das Therapieziel, den Cannabiskonsum komplett einzustellen. In der dritten Stunde sollte Tom einmal alle Konsumsituationen auflisten und eine für ihn besonders typische auswählen. Wie im Skript eines Drehbuchs wurden Schritt für Schritt die Auslösesituation, seine Gedanken und Erwartungen an den Konsum sowie die körperlichen und emotionalen Effekte festgehalten und die darauffolgenden kurz und langfristigen Folgen (positiver und negativer Art) analysiert. Tom stellte fest, wie sehr sich die Funktion von Cannabis in seinem Leben verändert hatte. Anfangs kiffte er nur, um Spaß
781 42.8 · Empirische Belege
zu haben und um dazuzugehören. Heute tat er es, um sein Verlangen zu stillen, sich nicht so alleine zu fühlen und um seine schlechte Stimmung zu verbessern. In Sitzung vier wurde ein Zieltag festgelegt, an dem Tom das Kiffen gänzlich einstellen sollte. Damit der Konsumstopp tatsächlich funktioniert, sollte dieser gut geplant und sorgfältig vorbereitet werden. Um nicht an den Konsum erinnert und in Versuchung gebracht zu werden, sollte Tom z. B. alle Rauchutensilien und Cannabisvorräte aus der Wohnung entfernen. Um sich abzulenken und um die viele freie Zeit ohne Joints zu füllen, wurde für die Tage nach dem Stopp ein detaillierter Aktivitätenplan aufgestellt. Für alle möglichen Auslösersituationen wurden praktische Alternativen zum Cannabiskonsum ausgearbeitet. Als besonders hilfreich empfand Tom die Tipps gegen Entzugsbeschwerden. Wegen der befürchteten Ruhelosigkeit, Gereiztheit und schlechten Stimmung entschied er sich, täglich Sport zu treiben, viel an die frische Luft zu gehen und Rad zu fahren. Gemeinsam mit seiner Therapeutin notierte er das persönliche Therapieziel »Abstinenz«, die wichtigsten Gründe für diese Konsumveränderung und hilfreiche Veränderungsstrategien in einem Therapievertrag. Als Anreiz für die erste Woche ohne Cannabis wollte sich Tom mit einem Konzertbesuch belohnen, bei einem halben Jahr ohne Drogen sollte es der Kauf eines neuen Fahrrads sein. Die fünfte Therapiesitzung fand bereits drei Tage später statt. Tom war es gelungen, seine Abstinenz von Cannabis aufrechtzuerhalten. Er freute sich über das Lob seiner Psychologin, war aber auch froh über die Möglichkeit, die aufgetretenen Entzugsbeschwerden (Ein- und Durchschlafschwierigkeiten) zu besprechen. Als neues Thema wurde der Umgang mit starkem Verlangen (Craving) anhand von Arbeitsblättern und Schaubildern erörtert. In der sechsten Sitzung wurde ein Rückfall-Präventionstraining durchgeführt. Potenzielle Rückfallsituationen wurden gesammelt und Bewältigungstechniken im Umgang mit diesen Risikosituationen eingeübt. Gegen Ende der Therapiesitzung packte Tom seinen persönlichen »Notfallkoffer«. In Sitzung sieben und acht wurde Tom von seiner Therapeutin ermutigt, im Rahmen eines Problemlösetrainings seine Probleme mit dem Studium (Tagesstruktur aufbauen, Studienberatung aufsuchen) sowie die soziale Isolation (auf Menschen zugehen, neue Leute kennenlernen, alte Freundschaften wieder beleben) anzupacken. Seinen erarbeiteten Lösungsplan sollte er als Hausaufgabe umsetzen – die Resultate sollten in den darauf folgenden Therapiesitzungen evaluiert werden. In der neunten Therapiesitzung wurde der Teufelskreis aus »depressiver Stimmung« und dem Cannabiskonsum erörtert, in den Tom hineingeraten war. Tom erkannte mit Hilfe der Psychologin, dass er durch das Kiffen immer antriebsloser geworden war und kaum noch Aktivitäten unternommen habe. So habe er wenig positive Erlebnisse gehabt und sei immer passiver und niedergeschlagener geworden. Die Therapeutin empfahl ihm eine weiterführende verhaltenstherapeutische Behandlung aufzunehmen, falls sich die
dysphorische Stimmung nach einer längeren Phase der Abstinenz nicht verbessert. In der letzten Therapiesitzung wurden in einem »Training zum Aufbau sozialer Kompetenzen« mittels Rollenspiel Strategien zum Ablehnen von Cannabisangeboten eingeübt. Zum Abschluss der Therapie wurden nochmals alle behandelten Themen durchgesprochen und eine persönliche Bilanz gezogen: Tom war es gelungen, abstinent zu werden und dies auch über die acht Wochen dauernde Kurzzeittherapie hinweg zu bleiben. Die strukturierte Anleitung zur Veränderung der Cannabisprobleme, die in jeder Sitzung vorgegebenen Therapieinhalte und auch das cannabisspezifische Wissen der Therapeutin empfand er dabei als hilfreich. Störend empfand er die regelmäßigen Hausaufgaben, die ihm aufgetragen worden waren. Das hätte ihn negativ an seine Schulzeit erinnert. Tom glaubte, auch in der Zukunft noch auf schwierige (Konsum-) Situationen zu stoßen. Er hoffte, dass er sich dann noch an die im CANDIS-Programm gelernten Hilfestellungen, Strategien und Tipps erinnern und sie zur Bewältigung einsetzen würde.
42.8
Empirische Belege
In einer internationalen Übersichtsarbeit widmen sich Toumbourou et al. (2007) der Evidenz von Interventionen bei Jugendlichen mit Substanzstörungen. In ihrer Wirksamkeit nachgewiesen sind Behandlungsansätze, die kognitiv-behaviorale Therapie, Kontingenzmanagement, Familientherapie und Selbsthilfe-Programme kombinieren. Die Autoren bemängeln, dass zwar immer wieder Behandlungsansätze für Jugendliche entwickelt, diese aber nicht in die Praxis implementiert werden. Unzureichendes Screening, Diagnostik und Zugang zur Behandlung tragen ebenfalls zur schlechten Versorgungssituation bei. In einem Review konnten Zimmermann et al. (2004) weltweit lediglich zwei Studien identifizieren, die die Effektivität psychotherapeutischer Verfahren zur Behandlung von Cannabisabhängigkeit bei Jugendlichen untersuchten. Sechs Studien untersuchten die Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren bei Erwachsenen. In acht Studien zeigten sich nach Zimmermann et al. (2004) als wirksame Therapiekomponenten die Motivationssteigerungstherapie, kognitive Verhaltenstherapie, Notfallmanagement sowie verschiedene Arten der Familientherapie. Solche Metanalysen wurden im deutschsprachigen Raum bislang noch nicht vorgelegt, so dass derzeit keine Effektstärken für psychotherapeutische Verfahren in der Drogenbehandlung von Kindern und Jugendlichen berichtet werden können. Dies mag zum einen daran liegen, dass wissenschaftlich begleitete, fundierte Therapiestudien teuer sind. Zum anderen aber auch, dass die Anzahl der Minderjährigen, die mit Abhängigkeitserkrankungen in die ambulante und stationäre Suchtkrankenhilfe kommt, äußerst gering ist (Sonntag et al. 2007). Die meisten Behandlungspro-
42
782
Kapitel 42 · Substanzmissbrauch und -abhängigkeit
gramme im Bereich der Substanzstörungen, hier primär der Alkoholabhängigkeit, wurden für Erwachsene entwickelt und teilweise evaluiert (Bühringer 2005; Tretter 2001). Allgemein betrachtet besteht ein eklatanter Mangel an kontrollierten Therapiestudien und somit auf diesem Gebiet ein erheblicher Forschungsbedarf.
42.9
42
Ausblick
Epidemiologische Studien konnten nachweisen, dass das Einstiegsalter in den Substanzkonsum sinkt und es meist Jahre dauert, bis eine betroffene Person tatsächlich eine Behandlung aufsucht. Aus diesem Grund ist es wichtig, durch Primärprävention den Einstieg in den Substanzkonsum entweder zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern. In der Zukunft müssen Interventionen entwickelt und bereitgestellt werden, die Jugendliche und junge Erwachsene erreichen und ansprechen, ihre speziellen Bedürfnisse erfüllen (z. B. ein stärkerer Einbezug des familiären Umfelds) und auch tatsächlich effektiv sind. Die kognitiv-behaviorale Therapie sollte sich diesen neuen Herausforderungen stellen.
Zusammenfassung Der Konsum von Alkohol, Nikotin und illegalen Drogen ist ein häufiges Phänomen in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter. Er führt häufiger und v. a. auch früher zu Missbrauch und Abhängigkeit als allgemein angenommen. Bei der Ätiologie von Substanzstörungen handelt es sich um ein multifaktorielles und höchst komplexes Geschehen, bei dem biologische, psychologische und soziale Faktoren sowie Drogenmerkmale zusammenwirken. Im Gegensatz zu anderen psychischen Störungen sind die Betroffenen oft sehr ambivalent bezüglich einer Veränderung ihres Konsums. Dem Aufbau von Veränderungsmotivation kommt deshalb eine wichtige Rolle zu Beginn der Behandlung, aber auch im gesamten therapeutischen Prozess zu. Leider sind Substanzstörungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, immer noch ein stark vernachlässigtes Thema in der klinischen Psychologie bzw. Medizin. Bis heute besteht ein großes Defizit an diagnostischen Erhebungsinstrumenten, die speziell für Kinder und Jugendliche mit Drogenproblemen entwickelt wurden. Ebenfalls gibt es wenige verhaltenstherapeutische Programme mit nachgewiesener Wirksamkeit, die die jungen Betroffenen beim Erkennen der Problematik, der Veränderung des Substanzkonsums sowie der Bewältigung assoziierter Probleme unterstützen. Die Verbesserung dieser Situation ist eine wichtige Aufgabe für die Psychotherapieforschung, aber auch für alle Praktiker.
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42
43
43 Neurodermitis Viktoria Ritter, Ulrich Stangier
43.1
Einleitung
– 786
43.2
Darstellung der Störung – 786
43.2.1 43.2.2 43.2.3
Phänomenologie – 786 Klassifikation – 787 Epidemiologie und Verlauf
43.3
Störungskonzepte – 788
43.3.1 43.3.2 43.3.3
Vulnerabilitäts-Stress-Modell – 789 Juckreiz-Kratz-Zirkel – 790 Modell zur Entstehung von Anpassungsstörungen bei Neurodermitis
43.4
Diagnostik – 792
43.5
Therapeutisches Vorgehen
43.5.1 43.5.2
Methoden – 793 Verhaltenstherapeutische Behandlung
43.6
Fallbeispiel
43.7
Empirische Überprüfung
43.8
Ausblick
– 793
– 797 – 798
– 800
Zusammenfassung Literatur
– 788
– 800
– 800
Weiterführende Literatur Literatur für Kinder
– 801
– 801
– 794
– 791
786
Kapitel 43 · Neurodermitis
43.1
43
Einleitung
Neurodermitis ist die häufigste chronische Hauterkrankung im Säuglings- und Kindesalter. Die ansteigenden Prävalenzraten unter Schulkindern haben die Aufmerksamkeit stärker auf die spezifischen Probleme der Betroffenen gelenkt. Neben psychischen Belastungsfaktoren stellen das Kratzen und die Eltern-Kind-Interaktion die wichtigsten Faktoren in der Aggravation und Aufrechterhaltung der Hauterscheinungen dar. Die Suche nach Auslösern, Diäten oder anderen aufwendigen Maßnahmen, um die Hauterscheinungen unter Kontrolle zu bringen, erfordert große Anstrengungen. Es resultieren häufig Erschöpfung, Überforderung, Ratlosigkeit und Hilflosigkeit. Ohne adäquate professionelle Hilfe für die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie deren Eltern kann die Neurodermitis zu extremen Beeinträchtigungen der Lebensqualität führen. Bei einem Teil der Patienten verursachen die Belastungsfaktoren psychische Probleme und Störungen, die eine verhaltenstherapeutische Behandlung notwendig machen. Exkurs Neurodermitis – Woher stammt der Begriff? Der Begriff »Neurodermitis« leitet sich etymologisch aus dem Griechischen ab (»neuron« = Nerv, »derma« = Haut, Endung »-itis« = Entzündung). Die Neurodermitis war bereits im Altertum bekannt. Aus dieser Zeit existieren Schriften zur pflanzlichen Behandlung mit Schwarzkümmelöl (Nigella sativa). Im Mittelalter waren für Paracelsus und Hildegard von Bingen Heilpflanzen wie Beinwell oder Nachtkerze zur Milderung der Hautsymptome aus der Heilkunde nicht wegzudenken. Die Bezeichnung »Neurodermitis« wurde erstmals im Jahre 1891 durch die französischen Ärzte Broc und Jacqet geprägt. Sie verwiesen auf eine mögliche Verbindung zwischen »nervlichen Impulsen« und den typischen Hauterscheinungen. Der Begriff etablierte sich in Deutschland und blieb im allgemeinen Sprachgebrauch. In der Fachliteratur gibt es eine Vielzahl verschiedener Synonyma, die für das Krankheitsbild verwendet werden. Hierzu zählen u. a. atopisches Ekzem, endogenes Ekzem, atopische Dermatitis, Prurigo Besnier oder Neurodermitis constitutionalis atopica.
Persönlichkeit: die »psychisch unreife«, »überbehütende« »Atopiker-Mutter« (Begriffserläuterung »Atopie« s. Exkurs unter 7 43.2.1). Es wurde argumentiert, dass die Persönlichkeit bzw. das Verhalten der Mutter die eigentliche Ursache für das Auftreten der Krankheit darstellt. Methodisch besser kontrollierte Studien konnten diese These jedoch nicht bestätigen. In den 1970er Jahren verschob sich der Forschungsschwerpunkt zunehmend weg von krankheitsspezifischen Persönlichkeitsmerkmalen zur empirischen Stressforschung sowie den vermittelnden psychoimmunologischen Prozessen. In den 1980er Jahren betonte die empirisch-psychologische Forschung stärker den unspezifischen Einfluss von emotionalen Belastungen, chronischem Stress und familiärem Umfeld in der Pathogenese der Hautkrankheit. Eine besondere Bedeutung wurde verstärkt den Lernprozessen hinsichtlich des Kratzverhaltens sowie den Folgeerscheinungen und deren Bewältigung beigemessen. Die Entwicklung und systematische Überprüfung verhaltenstherapeutischer Interventionen erbrachte bemerkenswerte Erfolge bei der Behandlung von Neurodermitis. Im vorliegenden Kapitel sollen die Hauterkrankung sowie die der Behandlung zugrunde liegenden ätiologischen Konzepte vorgestellt und einzelne Interventionen beschrieben werden.
43.2
Darstellung der Störung
43.2.1 Phänomenologie
Die Neurodermitis ist eine chronisch-rezidivierende, stark entzündliche Hauterkrankung mit wechselndem Symptombild und unvorhersagbarem Verlauf. Charakteristisch ist der intensive Juckreiz an den Beugeseiten der Extremitäten sowie an Hals und Händen. Im klinischen Erscheinungsbild unterscheiden sich Säuglinge und Kleinkinder von Kindern und Jugendlichen. Die Prädilektionsstellen sind abhängig vom Lebensalter und können wechseln. Die Neurodermitis kann sich in Form von einigen wenigen Symptomen (z. B. Xerosis: Hauttrockenheit, Ohrraghaden: Hautrisse am Ohrläppchen) oder schwereren Ausprägungen äußern. Bei 84% der Kinder nimmt die Erkrankung jedoch einen leichten Verlauf. Säuglings- und Kleinkindalter (3. Lebensmonat bis 5. Lebensjahr). Im Säuglingsalter finden sich zunächst schup-
Mit den psychosomatischen Aspekten der Hautkrankheit beschäftigte man sich zunehmend seit den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Zur damaligen Zeit stand der psychoanalytische Ansatz im Vordergrund, der von einer allgemeinen Psychogenese ausging. Alexander (1951) lenkte das Interesse auf unbewusste, spezifische Konflikte bei der Entstehung der Hauterkrankung. In Folge verwiesen psychoanalytisch orientierte Autoren anhand von methodisch zweifelhaften Untersuchungen auf eine abnorme Mutter-
pende, entzündliche Hautrötungen mit nässenden Arealen im Gesicht (Wangen, Stirn). Auf der Kopfhaut zeigen sich vereinzelt Verkrustungen, der sog. »Milchschorf« (Synonym: Crusta lactea). Im weiteren Verlauf können sich die Ekzemherde auf den gesamten Kopf sowie den Körper ausweiten. Der Windelbereich bleibt durch den höheren Feuchtigkeitsgehalt der Haut unter der Windel dabei fast immer ausgespart. In der Krabbelperiode können auch die Knie betroffen sein. Ab dem 2. Lebensjahr sind zunehmend
787 43.2 · Darstellung der Störung
die großen Beugen (Armbeugen, Kniekehlen, Handgelenke), der Hals und Nacken betroffene Körperareale. Starkes Kratzen und Scheuern führt zu typischen Hautläsionen und weiteren Entzündungen, auf Dauer zu einer Verdickung der Haut (Lichenifikation). Kindes- und Jugendalter (6. –18. Lebensjahr). Die näs-
sende Form des Säuglings- und Kleinkindalters geht in die trockene Form des Kindes- und Jugendalters über. Hauptmerkmale sind hierbei Schuppung und Hauttrockenheit (Ichthyosis/Xerosis). Charakteristisch sind Ekzeme an den Beugeseiten der Extremitäten sowie am Hals und im Gesicht. Generell lassen sich akute Phasen (deutlich sichtbare Hautrötung mit Papeln, Bläschen, Prurigoknoten und extremem Juckreiz) von chronischen Phasen (geringere Hautrötung, Hauttrockenheit, Lichenifikation und latenter Juckreiz) unterscheiden. Da die Neurodermitis zu den Erkrankungen des atopischen Formenkreises zählt, treten neben den berichteten Hauterscheinungen häufig auch Rhinitis allergica (Heuschnupfen), Asthma bronchiale (7 Kap. III/45) oder Rhinoconjunctivitis allergica (Bindehautentzündung) auf.
(L20–L30) bei L20.900 eingeordnet. Ferner werden verschiedene Untergruppen klassifiziert wie die Minimalform des atopischen Ekzems (L20.910), Atopie (L20.990), atopisches Säuglingsekzem (L20.810), atopischer Milchschorf (L20.812), Prurigo Besnier (L20.000), atopisches Palmarekzem (L20.850), Plantarekzem (L20.855). Im »Diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen« (DSM-IV) wird die Neurodermitis als medizinischer Krankheitsfaktor auf Achse III kodiert. Hinweise zur Differenzialdiagnostik werden in 7 Abschn. 43.4 gegeben.
Klassifikation spezieller psychischer Störungen bei Neurodermitis im Kindes- und Jugendalter Psychische Faktoren oder Verhaltensweisen mit Einfluss auf die Hauterkankung können in der ICD-10 unter der Kategorie »Psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Erkrankungen« (F54) kodiert werden. Im DSM-IV werden diese psychischen Faktoren unter der Kategorie »Psychologische Faktoren, die medizinische Krankheitsfaktoren beeinflussen« (316) aufgeführt.
Exkurs Atopie Die Atopie (griech.: »a-topos« = falscher Ort) ist durch eine Neigung zu Überempfindlichkeitsreaktionen gegenüber Substanzen aus der natürlichen Umwelt gekennzeichnet, die genetisch bedingt ist. In die medizinische Terminologie wurde der Begriff 1923 durch Coca und Cooke eingeführt, die eine familiäre Häufung feststellten. Zu den Allergenen (Allergieauslösern) zählen u. a. Pflanzenpollen, Hausstaubmilben, Pilzsporen oder Nahrungsmittel. Insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter ist eine Verschlechterung der Neurodermitis durch Nahrungsmittelallergien (Hühnereiweiß, Fischeiweiß, Kuhmilch, Weizen, Nüsse, Zitrusfrüchte, Soja) häufig. Ab dem 4.–5. Lebensjahr gewinnen Aeroallergene (Pflanzenpollen, Hausstaubmilben, Tierhaare, Federn) eine zunehmende Bedeutung bei der Auslösung von Krankheitsschüben. Im späteren Kindes- und Erwachsenenalter sind sog. Kreuzallergien (z. B. Baumpollenallergie + Allergie gegen Steinobst/Nüsse, Tomaten) typisch (Abeck u. Fölster-Holst 2003).
43.2.2 Klassifikation
In der »Internationalen Klassifikation psychischer Störungen« (ICD-10) gehört die Neurodermitis zu den Erkrankungen der Haut und Unterhaut (L00–L99) und wird hier unter der Bezeichnung »Dermatitis und Ekzem«
Für die Diagnose von psychologischen Faktoren mit Einfluss auf die Hauterkrankung muss im DSM-IV mindestens einer der folgenden Faktoren vorhanden sein: 4 psychische Störung (z. B. Depression im Kindesalter, soziale Ängste, Aufmerksamkeitsstörung/Hyperaktivität) oder emotionale Symptome, 4 Persönlichkeitsmerkmale oder ungünstige Bewältigungsstile im Umgang mit psychischen Belastungen (z. B. Vermeidung), 4 körperliche Reaktionen auf akuten/chronischen Stress (z. B. Alltagsbelastungen), 4 gesundheitsgefährdendes Verhalten (z. B. ungünstige Ernährung), 4 Manipulationen an der Haut (z. B. Kratzen).
Zentrales diagnostisches Kriterium ist das zeitliche Zusammentreffen von psychologischen Faktoren und Krankheitsschüben. Es sollte beachtet werden, dass im Einzelfall anhand von Anamnese und prospektiver Beobachtung ein klinisch bedeutsamer Einfluss auf den Krankheitsverlauf nachgewiesen werden muss. Die Diagnose einer Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2; DSM-IV: 309.0) wird gestellt, wenn »klinisch bedeutsame emotionale oder verhaltensmäßige Symptome in Reaktion auf einen oder mehrere identifizierbare psychosoziale Belastungsfaktoren« vorliegen. Hierbei handelt es sich um die beeinträchtigenden Folgeerscheinungen, die mit der Hauterkrankung einhergehen können.
43
788
Kapitel 43 · Neurodermitis
Anpassungsstörungen werden nach DSM-IV entsprechend dem Subtypus kodiert, der am besten die vorherrschenden Symptome charakterisiert: 4 depressive Symptome (z. B. depressive Verstimmungen, Weinerlichkeit, Gefühle von Hoffnungslosigkeit), 4 Angstsymptome (z. B. Sorgen, Nervosität, Angst, von der Hauptbezugsperson getrennt zu werden), 4 Störung des Sozialverhaltens (z. B. Schuleschwänzen), 4 Mischformen dieser Symptome.
43
Die Symptome müssen innerhalb von 3 Monaten nach Beginn der Belastung auftreten und sollten innerhalb von 6 Monaten remittieren. Als Reaktion auf eine chronische Belastung können sie auch länger als 6 Monate andauern (Zusatzkodierung: chronisch). Das belastungsabhängige Störungsbild darf nicht die Kriterien für eine andere spezifische Störung auf Achse I (insbesondere Angst und Depression) erfüllen.
Die im Zusammenhang mit Neurodermitis häufig auftretenden Schlafstörungen oder Hyperaktivität können in der ICD-10 unter F5 (Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren) kodiert werden.
43.2.3 Epidemiologie und Verlauf Epidemiologie. Zahlreiche epidemiologische Studien in den Industrieländern Europas, insbesondere in Nordeuropa, aber auch in Australien und den USA konnten eindrucksvoll belegen, dass die Neurodermitis in den letzten Jahrzehnten gehäuft aufgetreten ist. Geringe Prävalenzraten fanden sich hingegen in osteuropäischen Ländern und in Asien. Schwankungen im Ländervergleich sind auf verschiedene Umwelteinflüsse (Klima, Allergene, Umweltgifte, Hygiene, Industrialisierung, sozioökonomischer Status) zurückzuführen (Williams et al. 1999).
Bei Kindern liegen die Prävalenzraten generell zwischen 10 und 15%. In Deutschland sind 11–12% der Vorschulkinder sowie ca. 15% der Schulkinder betroffen. Bei ca. 15–45% können aufgrund der genetischen Disposition im Verlauf weitere atopische Erkrankungen (Asthma bronchiale, Rhinitis allergica) auftreten (Gustafsson et al. 2000). In verschiedenen Studien wurden Geschlechtsunterschiede gefunden (Möhrenschläger et al. 2006; Lichtenstein u. Svartegren 1997). Mädchen erkrankten signifikant häufiger an Neurodermitis, Jungen hingegen an atopischen Erkrankungen. Insgesamt leiden etwa 3% der Erwachsenen unter der Hauterkrankung.
Störungsbeginn und Komorbidität. Das Erstmanifestationsalter liegt bei 80% der Patienten im ersten Lebensjahr. Bis zum 5. Lebensjahr haben ca. 90% der Kinder Neurodermitis entwickelt. Ein erstmaliges Auftreten im Erwachsenenal-
ter ist eher selten. Kinder mit Neurodermitis wiesen in verschiedenen Studien signifikant häufiger psychische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten auf als Kinder mit minimalen Hautläsionen. Hierzu zählen ein geringes Selbstwertgefühl, schulische Schwierigkeiten, exzessive Ängste und Sorgen, depressive Verstimmungen, Ruhelosigkeit, psychosomatische Beschwerden, Schlafstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen/Hyperaktivität (Absolon et al. 1997; Eichhorn et al. 1995; Roth 1991). Schmid-Traub und Bamler (1997) konnten zeigen, dass bei erwachsenen Patienten mit Allergien die Komorbidität von Angststörungen erhöht ist. Verlauf. Der Verlauf der Neurodermitis ist günstig, bei ca. 50% der Patienten kommt es im Jugendalter zu Spontanremissi-
onen. Die Hauterkrankung tritt phasisch in chronisch-rezidivierenden Krankheitsschüben von unterschiedlicher Dauer und Stärke auf. Schwere Ausprägungen sind bei den meisten Kindern eher selten. Eine große Studie in England an über 1700 Kindern zwischen 1 und 5 Jahren konnte belegen, dass 84% der Kinder unter einer leichten Form der Neurodermitis, 14% unter einer mittelstark ausgeprägten, 2% unter einer schweren Neurodermitis litten. Der Krankheitsverlauf kann entscheidend durch sog. Provokationsfaktoren wie Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Ernährung, Allergien, bakterielle und virale Infektionen (Staphylokokken, Herpes-simplex-Virus), irritative Faktoren (trockenes kaltes Klima, vermindertes UV-Licht, Kleidung aus Wolle/Synthetik, Schwitzen) psychische Belastungen und Kratzen beeinflusst werden.
43.3
Störungskonzepte
Bei der Neurodermitis handelt es sich um eine multifaktoriell bedingte immunvegetative Regulationsstörung. Die Entwicklung psychologischer bzw. psychobiologischer Modelle führte dazu, dass neben genetischen, zellulären, immunologischen, allergischen und Umweltfaktoren auch psychologische Faktoren integriert wurden, die in der Pathogenese der Hauterkrankung von Bedeutung sind. Es wird neben Lernprozessen (Juckreiz-Kratz-Zirkel) den krankheitsspezifischen Belastungen und dem Bewältigungsverhalten der betroffenen Kinder und Eltern eine besondere Bedeutung beigemessen. In diesem Abschnitt soll auf die wichtigsten psychologischen Modellvorstellungen zur Neurodermitis eingegangen werden, die der kognitiven Verhaltenstherapie der Hauterkrankung zugrunde liegen.
789 43.3 · Störungskonzepte
43.3.1 Vulnerabilitäts-Stress-Modell
Das Vulnerabiltitäts-Stress-Modell integriert die vielfältigen Faktoren, die einen Einfluss haben auf die Entstehung, den Verlauf und die Aufrechterhaltung der Erkrankung. Im Folgenden sollen wesentliche Komponenten des Modells genauer vorgestellt werden. . Abb. 43.1 zeigt eine graphische Darstellung des Modells. Biologische Vulnerabilität. Verschiedene kontrollierte
Zwillingsstudien haben konsistent den genetischen Einfluss belegt. Die genetische Prädisposition wird polygen vererbt. Eine atopische Familienanamnese (Rhinitis allergica, Asthma bronchiale, Rhinoconjunctivitis allergica) zeigte sich bei 60–70% der Betroffenen. Die Atopie stellt einen der wichtigsten Risikofaktoren für die Entwicklung einer Neurodermitis dar. Das Erkrankungsrisiko ist doppelt so hoch, wenn beide Elternteile und/oder Geschwister eine Atopie aufweisen, als wenn nur ein Elternteil und/oder ein Geschwisterkind betroffen ist (Bohme et al. 2003). Psychische Vulnerabilität. Bei erwachsenen Neurodermitispatienten wurde in Querschnittsuntersuchungen mit Persönlichkeitsfragbögen eine erhöhte Ängstlichkeit festgestellt. Untersuchungen an neurodermitiskranken Kindern belegen, dass diese ängstlicher und von ihren Eltern abhängiger sind als Kinder der Kontrollgruppe (Daud et al. 1993).
. Abb. 43.1. Vulnerabilitäts-Stress-Modell bei Neurodermitis
Es handelt sich jedoch hierbei eher um Symptome von Anpassungsstörungen als um Prädispositionen. Die Bedeutung überdauernder Persönlichkeitsmerkmale bei Kindern und Jugendlichen in der Pathogenese der Hauterkrankung wurde bislang nicht systematisch untersucht. Ungünstige Bewältigungsstile und ein negatives Selbstkonzept können den Krankheitsverlauf ebenfalls beeinflussen. Stressfaktoren. Kinder und Jugendliche mit Neurodermitis leiden häufig unter chronischen Konflikten oder alltäglichen Belastungen (sog. »daily hassles«) wie familiärem Stress oder sozialer Ausgrenzung durch Gleichaltrige (Hänseleien). Hinzu kommen können kritische Lebensereignisse wie Trennungserlebnisse (nach dem Abstillen, Abwesenheit eines Elternteils, Scheidung der Eltern). Alltägliche Belastungen gehen mit Verschlechterungen der Hautsymptomatik, insbesondere verstärktem Juckreiz, einher. Juckreiz und Kratzen verursachen bei mehr als 60% der Kinder Schlafstörungen; sie wachen häufiger auf und haben eine geringere Schlafeffizienz als gesunde Kinder. Schlafdeprivation kann zu Reizbarkeit, Ruhelosigkeit, Stimmungsschwankungen, Konzentrationsschwierigkeiten sowie einer beeinträchtigten Leistungsfähigkeit in der Schule/bei der Arbeit beitragen (Lewis-Jones 2006; Moore et al. 2006; Fegert et al. 1996). Sowohl für Kinder als auch Eltern steigen diese Belastungen mit dem Schweregrad proportional an und führen zu erheblichen Beein-
43
790
Kapitel 43 · Neurodermitis
trächtigungen der Lebensqualität. Es gibt bisher noch zu wenige gut kontrollierte Studien, die den Einfluss psychischer Faktoren auf den Verlauf der Erkrankung im Kindes- und Jugendalter belegen.
43
Psychoimmunologische Stressreaktionen. Die Ergebnisse der Psychoimmunologie zeigen, dass emotionale Belastungen auf vielfältige Weise immunologische Mechanismen beeinflussen. Buske-Kirschbaum et al. (1997) fanden bei 14-jährigen Kindern mit Neurodermitis unter standardisierter Belastung eine erniedrigte Ausschüttung von Kortisol, was auf eine gestörte Aktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierendrinden-Achse (HHNA) hinweist. Es wird vermutet, dass die geringe Kortisolsekretion unter emotionaler Belastung eine Aktivierung des Immunsystems bedingt. Dworzak et al. (1999) fanden bei Kindern unter 10 Jahren spezielle T-Lymphozyten-Subpopulationen (T-Gedächtnis-Zellen: CD4+), die im Blutkreislauf zirku-
Eltern-Kind-Interaktion als Prädiktor des Verlaufs Chronische Hautkrankheiten haben für die Familie des erkrankten Kindes verschiedene Auswirkungen. Nicht nur die Kinder selbst leiden unter der Symptomatik, auch Eltern und Geschwister des Kindes sind betroffen. Hinzu kommen können Schwierigkeiten in der familiären Interaktion. Gil et al. (1987) verwiesen auf einen Zusammenhang zwischen einem hohen Symptomschweregrad und einem eher geringen aktiv-supportiven Familienklima. Als prognostisch günstige Einflussfaktoren wurden auch in jüngerer Zeit die Betonung einer hohen Selbstverantwortlichkeit/Unabhängigkeit, gute Organisation, elterliches Wohlbefinden, positive Zuwendung unabhängig vom Kratzen oder die positive Unterstützung kleiner Fortschritte identifiziert (Dennis et al. 2006; Warschburger et al. 2004). Fegert et al. (1999) konnten nachweisen, dass wenig Kontrolle des Kindes durch die Eltern, die kritische Betrachtung des eigenen Verhaltens, ein hohes Selbstwertgefühl der Eltern und eine harmonische Be-
43.3.2 Juckreiz-Kratz-Zirkel
Der intensive Juckreiz bei Neurodermitis verursacht häufig exzessives Kratzen. Kratzen stellt einen zentralen behavioralen Faktor bei der Chronifizierung der Erkrankung dar und wird durch einen spinal verschalteten Reflex ausgelöst. Die Kratzhandlung ist generell kontrollierbar, bei intensivem Juckreiz jedoch nur schwer zu unterdrücken. Verschiedene Lernprozesse sind an der Auslösung und Aufrechterhaltung von Kratzen beteiligt. . Abb. 43.2 zeigt die graphische Darstellung des Juckreiz-Kratz-Zirkels.
lieren und bei einer Auslösung von Entzündungsvorgängen aktiviert werden. Sie treten ins Hautgewebe über und stimulieren die Mastzellen zur Ausschüttung von Entzündungsmediatoren (z. B. Histamin). Diese Substanzen sind für die begleitenden Entzündungsreaktionen sowie den Juckreiz verantwortlich. Darüber hinaus stimulieren die T-Lymphozyten zur Produktion von Immunglobulin-E-(IgE-) Antikörpern, die für die Erkennung, Bindung und Beseitigung von Antigenen zuständig sind. Kleinkinder mit Neurodermitis wiesen eine erhöhte Konzentration von IgE im Serum sowie eine vermehrte Interleukinproduktion (IL-5) auf (Jenmalm et al. 2000). Verhaltensfaktoren mit Einfluss auf den Hautzustand.
Kratzen sowie die Eltern-Kind-Interaktion können als wesentliche Prädiktoren des Verlaufs der Erkrankung betrachtet werden. Auf das Kratzen soll in 7 Abschn. 43.3.2 dezidierter eingegangen werden.
ziehungskonstellation den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Ungünstige Einflussfaktoren sind eine resignative, pessimistische und hilflose Einstellung gegenüber der Behandlung, Insuffizienz- und Schuldgefühle und eine starke Kontrolle des Kindes. Frühere Untersuchungen zum Erziehungsverhalten in Familien mit neurodermitiskranken Kindern fanden Belege für eine Überkontrolliertheit und geringe Emotionalität der Mütter (Ring u. Palos 1986). Nachfolgende Untersuchungen sprechen jedoch eindeutig gegen prämorbide, pathogenetisch bedeutsame Persönlichkeitsmerkmale der Mutter. Die »distanzierte Erziehungseinstellung« kann als sekundäre Folge interpretiert werden (Langfeldt 1995). In einer Untersuchung von Daud et al. (1993) gaben Mütter neurodermitiskranker Kinder an, sich hoffnungsloser, weniger sozial unterstützt sowie im Lebensstil eingeschränkt zu fühlen. Sie berichteten auch, häufiger Probleme bei der Erziehung der Kinder zu haben und erlebten sich als weniger konsequent.
Kratzen als klassisch konditionierte Reaktion. Stimulus ist zunächst der Juckreiz (UCS), auf den die Kratzhandlung (UCR) folgt. Mit der Zeit können assoziierte Bedingungen (CS) wie z. B. Stress, diffuse Anspannung, Langeweile, mentale Anforderungen, negative Emotionen oder Hautaufmerksamkeit Kratzen (CR) auslösen. Die Konditionierbarkeit von Kratzen auf neutrale Reize wurde experimentell belegt. Kratzen als operant konditionierte Reaktion. Kratzen
hemmt zunächst den Juckreiz. Das kurzfristige Nachlassen des Juckreizes bedeutet eine negative Verstärkung (C–) des Kratzens. Die unmittelbaren Aufmerksamkeitsreaktionen
791 43.3 · Störungskonzepte
. Abb. 43.2. Juckreiz-Kratz-Zirkel. UCS unkonditionierter Stimulus; CS konditionierter Stimulus; CR konditionierte Reaktion; C– negative Verstärkung; C+ positve Verstärkung
der Bezugspersonen (z. B. Zuwendung der Eltern) bedeuten eine positive Verstärkung (C+). Diese positiven Konsequenzen fördern die Aufrechterhaltung des Verhaltens. Durch eine Verringerung der Aufmerksamkeit wird das Kratzen wiederum abgebaut. Negative Konsequenzen (z. B. Bestrafung) werden hingegen nur kurzzeitig verhaltenswirksam, wirken als Stressfaktoren und beeinflussen wiederum in erheblichem Maße das Ausmaß von Kratzen. Aufschaukelungsprozess bei Neurodermitis. Bei Neuro-
dermitis können verschiedene Reize (physikalische, mechanische, chemische), die generell unterschwellig sind, schneller Juckreiz auslösen. Hierbei werden die Juckreizrezeptoren in den freien Nervenendigungen der Haut durch chemische Substanzen wie Histamin, Neuropeptide u. a. stimuliert. Diese sog. Entzündungsmediatoren können Entzündungsreaktionen auslösen und den Juckreiz verstärken. Kratzen führt kurzfristig zu weiteren Entzündungsreaktionen, langfristig zu Schädigungen des Hautgewebes und zu einer Verschlechterung der Hautsymptomatik. Es entsteht ein Prozess der gegenseitigen Aufschaukelung von immer stärker werdendem Kratzen und Juckreiz, dem sich das betroffene Kind hilflos ausgeliefert fühlt und der mit Scham- und Schuldgefühlen sowie negativen,
vorwurfsvollen oder kontrollierenden Reaktionen der Umwelt einhergeht. Einflussgrößen auf den Aufschaukelungsprozess. Eine be-
sondere Bedeutung haben Attributionsmuster bezüglich Ursachen für Kratzen und Kontrollüberzeugungen. Hünecke und Krüger (1996) konnten belegen, dass Hilflosigkeit, Verzweiflung, Schuldgefühle mit spezifischen internalen und externalen Kausalattributionen korrelieren. Kinder schreiben sich selbst die Verantwortung für die verursachten Hautschäden zu. Eltern führen die Ursachen des Kratzens häufig auf die Launen des Kindes oder eigene Fehler in der Versorgung des Kindes zurück, sind von der Unkontrollierbarkeit der Krankheit überzeugt und versuchen, das Kratzen zu unterbinden. Scheitern diese Versuche, resultieren Hilflosigkeit und Aggression.
43.3.3 Modell zur Entstehung von Anpassungs-
störungen bei Neurodermitis Stangier und Ehlers entwickelten ein Modell, welches die krankheitsspezifischen Belastungsfaktoren bei Hautkrankheiten und deren Bewältigung integriert. Die meisten Kom-
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792
Kapitel 43 · Neurodermitis
. Abb. 43.3. Modell zur Entstehung von Anpassungsstörungen bei Hautkrankheiten
43
ponenten des Modells beruhen auf klinischen Beobachtungen und Falldarstellungen; das Modell kann für neurodermitiskranke Kinder und Jugendliche adaptiert werden (. Abb. 43.3). Es geht davon aus, dass Juckreiz und sichtbare Hautsymptome sowie deren Folgen (Kontrollverlust bezüglich Kratzen, negative soziale Reaktionen) zu maladaptiven Verarbeitungsreaktionen führen können. Es resultieren Hilflosigkeit, depressive Verstimmungen, soziale Ängste, ein niedriges Selbstwertgefühl und ausgeprägtes Vermeidungsverhalten. Katastrophisierende Kognitionen sowie die Angst vor der nächsten Juckreizattacke begünstigen das Wiederaufreten des Juckreizes. Sie münden in einen Teufelskreislauf, in dem die Anspannung sich negativ auf den Hautzustand auswirkt und die Verschlechterung des Hautzustandes die ungünstige Krankheitsbewältigung verstärkt. Verschiedene Untersuchungen haben belegt, dass adaptive Copingstrategien wie z. B. aktives Problemlösen oder Neubewertung der Entstehung von Anpassungsstörungen entgegenwirken können.
43.4
Diagnostik
Die erfolgreiche verhaltenstherapeutische Behandlung der Neurodermitis setzt eine gründliche Anamnese und Diagnostik voraus. Auf spezifische Parameter zur medizinischen Diagnostik durch den behandelnden Dermatologen wird im Folgenden kurz eingegangen. Für die Therapieplanung sollten neben dem individuellen JuckreizKratz-Zirkel die spezifischen Problembereiche erfasst werden. Dermatologische Diagnostik. Die dermatologische Diagnose erfolgt anhand internationaler Diagnosekriterien (Hanifin u. Rajka 1980). Neben den Basismerkmalen (Pruritus: Juck-
reiz, Lichenifikation, Beteiligung des Gesichtes/der Extremitäten im Säuglings- und Kindesalter, Atopie) müssen auch eine Reihe von Zusatzmerkmalen vorliegen. Hierzu zählen u. a. Xerosis (Hauttrockenheit), eine erhöhte Reagibilität vom Soforttyp (Typ 1, Überempfindlichkeitsreaktion bei allergologischen Hauttests), eine erhöhte Konzentration von IgE (Immunglobulin E) im Serum, Anfälligkeit für bakterielle und virale Infektionen, wiederkehrende Bindehautentzündung, Lidekzeme, weißer Demographismus (Blasswerden der Haut nach mechanischer Reizung), Juck-
793 43.5 · Therapeutisches Vorgehen
reiz beim Schwitzen oder eine Intoleranz von Wolle. Überempfindlichkeitsreaktionen gegenüber verschiedenen Substanzen können mittels allergologischer Tests (z. B. Prick-Test) erfasst werden. Die Bestimmung des Schweregrades der Neurodermitis anhand des »Score Atopic Dermatitis« (SCORAD) oder »Neurodermitis Schweregrad Index für Kinder« (NSI-K; Stangier et al. 1996a) ermöglicht die Erfolgs- und Verlaufskontrolle der Symptomatik.]
4
4 Differenzialdiagnostik. Differenzialdiagnostisch ist die
Neurodermitis von verschiedenen Ekzem- und Juckreizformen abzugrenzen. Hierzu zählen z. B. das Kontaktekzem durch beispielsweise allergisierende Substanzen, das seborrhoische Säuglingsekzem (akut-entzündliche Hauterkrankung zwischen dem 1. und 4. Lebensmonat), infektiös ausgelöste Windeldermatitis oder aber zahlreiche Juckreizformen, wie z. B. Pruritus sine materia (isoliert auftretender Juckreiz ohne organische Ursache). Eine wesentliche Unterscheidung betrifft auch die Abgrenzung von Hautsymptomen, die infolge von Manipulationen an der Haut verursacht werden. Hierzu zählen Impulskontrollstörungen wie z. B. neurotische Exkoriationen (Kratzen oder Aufscheuern der Haut) oder kutane Artefakte, bei denen somatische Symptome durch Reiben der Haut vorgetäuscht werden (z. B. Dermatitis factitia). Verhaltensanalysen/Interviews. In einer Verhaltens- und Bedingungsanalyse werden die Verhaltensweisen und emotionalen Faktoren erfasst, die möglicherweise in einem engen funktionalen Zusammenhang zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Symptome stehen (S-O-R-C-K-Schema). Beispielsweise müssen Juckreiz sowie emotionale Komponenten des Juckreizerlebens (Weinen, Schreien, Wutanfälle, ruheloses Verhalten) bei Säuglingen, Kleinkindern und Kindern unter Einbezug der Eltern ermittelt werden. In einer differenzierten Verhaltensanalyse ist von Interesse, ob das Verhalten den Juckreiz begleitet, ihn verstärkt oder auslöst. Fragebögen. Insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern stützen sich die verhaltensdiagnostischen Erhebungen bezüglich Juckreiz, Kratzen, Schlafstörungen sowie den vermittelnden psychischen Belastungsfaktoren und deren Bewältigung im Wesentlichen auf die prospektiven Beobachtungen der Eltern. Zur Erfassung der Krankheitsbewältigung, der Selbstwirksamkeit, des Umgangs mit dem oftmals quälenden Juckreiz sowie der Lebensqualität neurodermitiskranker Kinder und Jugendlicher wurden im deutschsprachigen Raum verschiedene Messinstrumente entwickelt, die teststatistisch überprüft sind. Ein Überblick hierzu findet sich in dem von Kupfer und Kollegen 2006 herausgegebenen Kompendium psychodiagnostischer Verfahren in der Dermatologie. 4 Zwei Fragebögen erfassen für 8- bis 12- sowie 13- bis 18-jährige Kinder und Jugendliche neben juckreizbezo-
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4
4
genen Kognitionen auch die Krankheitsbewältigung (JUCKKI, JUCKJU; Kupfer et al. 2003, in Kupfer et al. 2006). Die Bewältigung krankheitsspezifischer Belastungen durch Jugendliche (ab 17 Jahren) kann mittels drei kurzer Fragebögen von Stangier et al. (1996a) erhoben werden (Fragebogenbatterie: »Fragebogen zur Bewältigung von Hautkrankheiten«, FBH): Der »Marburger Hautfragebogen« (MHF) erfasst die Bewältigungsreaktionen in unterschiedlichen Problembereichen: u. a. soziale Angst/Vermeidung, JuckKratz-Zirkel, Hilflosigkeit, ängstlich-depressive Stimmung. Der »Marburger Neurodermitis-Fragebogen« (MNF) erfragt speziell die Bewältigung neurodermitisbezogener Probleme: Stigmatisierung, Leidensdruck, allgemeine emotionale Belastung, Lebensqualität und krankheitsbezogenes Problembewusstsein. Der »Fragebogen für Eltern von neurodermitiskranken Kindern« (FEN; Stangier et al. 1996a) ermöglicht es, Aggression bezüglich Kratzen, protektives Verhalten, Kontrolle von Kratzen und negative Behandlungserfahrungen zu ermitteln. Der von Rueden et al. (1999, in Kupfer et al. 2006) entwickelte »Fragebogen zur Erfassung der Lebensqualität von Eltern neurodermitiskranker Kinder« ermöglicht es, u. a. emotionalen Umgang und Akzeptanz der Erkrankung oder Auswirkungen auf das Sozialleben zu ermitteln.
Darüber hinaus können verschiedene Messinstrumente zur Erfassung von Verhaltensstörungen, Depressivität, sozialer Angst oder Aufmerksamkeitsstörungen eingesetzt werden (7 Kap. III/38, III/31, III/26). Tagebücher. Selbst- und Fremdbeobachtungen sollten unter Berücksichtigung des Alters der Kinder eingesetzt werden. Selbstbeobachtungsprotokolle wie standardisierte Tagebücher stellen ein wichtiges Hilfsmittel zur Erfassung des Kratzverhaltens dar. In einem »Kratztagebuch« sollten neben Hautsymptomen (z. B. Juckreiz) mögliche psychische Einflussfaktoren (Stimmungsschwankungen, belastende Ereignisse, Stress) und behaviorale Reaktionen (z. B. Kratzen) aufgeführt sein (. Abb. 43.4). Zur Therapiekontrolle können Protokolle zu Selbsthilfestrategien eingesetzt werden.
43.5
Therapeutisches Vorgehen
43.5.1 Methoden
Für die Behandlung der Neurodermitis im Kindes- und Jugendalter steht eine Vielzahl effektiver Behandlungsmethoden zur Verfügung. Die multifaktorielle Pathogenese der
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794
Kapitel 43 · Neurodermitis
43
. Abb. 43.4. Standardisiertes Selbstbeobachtungsprotokoll von Juckreiz/Kratzen bei Neurodermitis. (Aus Stangier 2002)
Erkrankung erfordert ein individuelles symptomorientiertes therapeutisches Vorgehen. Neben der klassischen dermatologischen Therapie (Basistherapie mit wirkstofffreien Cremes, antientzündliche Therapie mit Kortisonpräparaten in schwacher Wirkstärke bei Kindern zur Akutbehandlung) können weitere Behandlungsalternativen (Allergenkarenz, Diäten, traditionelle chinesische Heilkräutertherapie, Klimatherapie u.v.a.) gewählt werden (s. Abeck u. Fölster-Holst 2003). Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungskonzept sollte in Erwägung gezogen werden, wenn ein oder mehrere Problemverhaltensweisen wie z. B. Kratzen abgrenzbar und psychische Probleme oder psychologisch beeinflussbare Probleme vorhanden sind. Das in 7 Abschn. 43.5.2 vorgestellte Behandlungsprogramm eignet sich daher am besten für Kinder und Jugendliche, die unter starkem Kratzen und psychischen Belastungen leiden. Es handelt sich hierbei um ein Gruppenprogramm, dessen Wirksamkeit in einer Reihe randomisierter kontrollierter Gruppenstudien belegt ist (7 Abschn. 43.7). Dieses integriert im Wesentlichen vier verschiedene Komponenten, die auch für die Einzelbehandlung adaptiert werden können. Die Programme umfassen 12 Sitzungen mit einer Dauer von 3 Monaten. Bei Anpassungsstörungen aufgrund von Entstellungserleben/sozialen Ängsten sind zentrale verhaltenstherapeutische Interventionen die kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler Gedanken (Stangier 2002) bezüglich des Aussehens sowie der Aufbau selbstsicheren Verhaltens (7 Kap. III/31). Bei Kindern und Jugendlichen mit ausgeprägten Entstellungen werden im Rahmen des Behandlungsprogrammes die Prinzipien der Depressionsbehand-
lung (Aktivitäts- und Kompetenzaufbau), bei Selbstunsicherheit und sozialen Defiziten die der Angstbehandlung (Verhaltensexperimente) im Vordergrund stehen. Das Videofeedback-Training hat sich dabei als eine wirksame Methode erwiesen, um das negative Körperbild bzw. die Selbstbewertung zu modifizieren (Hünecke 1993). In mehreren Studien konnte übereinstimmend gezeigt werden, dass Gruppenprogramme mit einzelnen psychologischen Komponenten zu einer signifikanten Symptomreduktion führten und mit einer Verbesserung der Krankheitsbewältigung sowie geringerer Ängstlichkeit und Depressivität einhergingen (7 Abschn. 43.7).
43.5.2 Verhaltenstherapeutische Behandlung
Zentrales Prinzip der Behandlung ist die altersgemäße Einbeziehung der betroffenen Kinder und Jugendlichen bei größtmöglicher Betonung der Eigenverantwortung. Bei Kleinkindern und Kindern sollten die Eltern als Mediatoren geschult und stärker in die Therapie einbezogen werden. Bei Jugendlichen können die Interventionen direkt ansetzen. Informationen sollten verständlich aufbereitet und praktische Übungen altersangemessen erklärt sein. Die verhaltenstherapeutische Behandlung stellt eine Ergänzung zur dermatologischen Behandlung dar. Realistisches Ziel ist nicht die »endgültige Heilung«, sondern eine Symptomreduktion. Voraussetzung ist die aktive Mitarbeit des Patienten (z. B. Kratztagebücher, Protokolle), der Veränderungen im Verhalten mit dem Therapeuten einübt und im Alltag praktisch umsetzt.
795 43.5 · Therapeutisches Vorgehen
Das Behandlungskonzept besteht im Wesentlichen aus fünf Komponenten, die sich aufgrund der aktuellen Datenlage in Kombination als erfolgreich erwiesen haben: 4 Wissensvermittlung/Patientenschulung, 4 Entspannungs- und Imaginationstechniken, 4 Selbstkontrolltechniken gegen Kratzen, 4 Korrektur katastrophisierender Gedanken bezüglich Juckreiz/Kratzen, 4 Verhaltenstraining zur Verbesserung der sozialen Kompetenz. Zentrales Ziel der Therapie ist es, nicht nur die Symptome zu reduzieren, sondern den betroffenen Kindern, Jugendlichen sowie deren Eltern Fähigkeiten und Strategien zu vermitteln, die sie auf die krankheitsbedingten Anforderungen anwenden können, um diese wirksamer zu bewältigen.
Wesentliche Grundlage der Behandlung ist die Vermittlung des Juckreiz-Kratz-Zirkels (7 Abschn. 43.3.2), aber auch des multifaktoriellen Krankheitsmodells (7 Abschn. 43.3.1). Hierbei sollten insbesondere die spezifischen individuellen Einflussfaktoren (emotionaler Stress, innerfamiliäre Konflikte, Erziehungsverhalten) Berücksichtigung finden. Anhand gezielter Fragen können betroffene Kinder/Eltern ihr jeweils eigenes Modell entdecken (»geleitetes Entdecken«). Darüber hinaus sollten auch konkrete Informationen zu z. B. lerntheoretischen Prozessen gegeben werden. Das Verständnis der Zusammenhänge ist entscheidend, um ungünstige Verhaltensweisen verändern zu können. Auf der Grundlage dieses Wissens können die im Folgenden beschriebenen Interventionen ansetzen.
Multimodale Schulungsprogramme In Deutschland wurden seit den 1980er Jahren verstärkt Schulungsprogramme für Patienten mit Neurodermitis entwickelt. Es existieren evaluierte Schulungsprogramme für Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern (z. B. Staab et al. 2006; Ricci et al. 2004). Die Trainingsprogramme werden in der Gruppe durchgeführt und bestehen in der Regel aus 6–10 Sitzungen von je 2 Stunden Länge. Die Sitzungen finden in Abständen von 1–2 Wochen statt und werden von multidisziplinären Teams (Dermatologe oder Kinderarzt, Psychologe, Diätassistent/Ökotrophologe) geleitet. Die Programme setzen auf eine Kombination von Edukation und Information sowie auf die Vermittlung und Einübung multipler praktischer Strategien wie: Methoden zur Kratzreduktion, Stressmanagement, Entspannungsverfahren, Problemlösetraining. Vorgestellt werden soll an dieser Stelle das von Staab et al. (2006) im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums entwickelte Schulungsprogramm (GADIS-Studie; . Tab. 43.1). Für verschiedene
. Tab. 43.1. Themenschwerpunkte eines Schulungsprogramms für neurodermitiskranke Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern (Staab et al. 2006) Sitzung
Thema
1
Neurodermitis – Medizinische Grundlagen, Diagnostik, Einführung Entspannungstechniken
2
Juckreiz-Kratz-Zirkel, Umgang mit Juckreiz/Kratzen, Kratzreduktion, Kratzalternativen, Belastungen/Schlafdefizite, Stressmanagement
3
Auslösende Faktoren, tägliche Hautpflege (1), topische Therapie
4
Hautpflege (2), Behandlungsstufenplan: Kortisonpräparate, Pimecrolimus, Tacrolimus, innerliche immunsupressive Behandlung (Ciclosporin), andere neue Therapieverfahren, Komplikationen, alternative Heilmethoden (Homöopathie, Bachblütentherapie, Eigenblut- und Eigenurintherapie u.v.a.)
5
Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Allergien, Diäten
6
Krankheitsbewältigung, Selbstmanagement, Alltagstransfer (Prophylaxe)
Altersgruppen gibt es dabei ein eigenständiges Manual mit jeweils entwicklungspsychologisch angepassten Inhalten. Bei Neurodermitis im Säuglings- und Kleinkindalter (3 Monate bis 7 Jahre) werden die Eltern geschult, Kinder im Alter von 8–12 Jahren werden mit ihren Eltern gemeinsam, Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren allein in eigener Gruppe geschult. Das Gruppensetting ermöglicht es, dass sich die Betroffenen untereinander emotionale Unterstützung geben und ihre persönlichen Erfahrungen austauschen. Verwiesen werden soll auch auf das Kieler Gruppenschulungs- und Trainingsprogramm für Eltern bzw. Eltern und Kinder, das in einzelne Module mit einem edukativen und einem praktischen Teil gegliedert ist (Möbius u. Niebel 1995).
Entspannungs- und Imaginationstechniken Die progressive Muskelrelaxation (PMR, 7 Kap. III/16) ist bei Neurodermitis ein Standardverfahren, da sowohl Juckreiz als auch Entspannung günstig beeinflusst werden. Sowohl Eltern als auch Kinder können sie unterstützend erlernen, um mit schwierigen Situationen entspannter umgehen zu können. Die Entspannungsmethode eignet sich auch als Alternativhandlung für Kratzen beim Habit-Reversal-Training (s. unten). Das autogene Training stellt bei Neurodermitis ebenfalls ein wirksames Entspannungsverfahren dar; die Grundstufe sollte durch hautspezifische Formeln zur Vorstellung von Kühle erweitert werden (Stangier et al. 1996b). Insbesondere bei Kindern haben sich Imaginationstechniken/Fantasiereisen als wirkungsvolle Ergänzung erwiesen, da sie die reiche Vorstellungswelt der Kinder ansprechen und Hautfunktionen beeinflussen.
43
796
Kapitel 43 · Neurodermitis
Beispiel Komm mit in das Reich der Fantasie...
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Die im Folgenden aufgeführten Imaginationen sind bei Kindern mit Neurodermitis günstig und können in Fantasiereisen verwendet werden. 4 Bildhaft-visuelle Vorstellungen: »Stell dir vor, du gehst auf eine Reise mit dem fliegenden Teppich…, und du schaust auf das Meer, es liegt ganz ruhig und weit. In der Ferne erkennst du ein kleines Segelboot… Deine Haut ist glatt und ruhig wie das Meer…« 4 Assoziationen mit Kühle: »Komm mit mir in das Land aus ewigem Eis. Hier ist die Welt so weiß wie das Fell der Eisbären. Leg dich in den Schnee und spüre die Eiskristalle auf deiner Hand. Deine Haut wird kühl wie dieser Schnee…« 4 »Sensory imagery«: »Der Garten ist ganz erfüllt vom warmen Licht der Sonne. Du trittst aus der Wärme in
den kühlen Schatten eines knorrigen Kirschbaumes. Spüre, wie der Wind deine Haut angenehm kühlt… Siehst du die Schattenspiele der Blätter auf deinem Arm? Wenn du willst, kannst du dich auf einer Schaukel davontragen lassen…« Es werden verschiedene Sensationen angesprochen (taktil, akustisch etc.) sowie angenehme Kühleempfindungen suggeriert. 4 Vorstellung von Heilungsprozessen »Stell dir vor, dass deine Haut deinen Körper wie eine lebendige schützende Hülle umgibt… und dass sie aus vielen guten Helfern besteht… und dass sie ständig, ohne dass du es merkst, viele Aufgaben übernimmt: Wärme und Kühle empfinden, dich vor Eindringlingen schützen… Konzentriere dich darauf, dass die guten Helfer deine Haut kräftigen und stärken…«
Selbstkontrolltechniken gegen Kratzen Eine wirksame Methode zur Modifikation des Kratzverhaltens ist das sog. Habit-Reversal-Training (7 Kap. I/43). Verschiedene kontrollierte Studien (Ehlers et al. 1995; Nie-
bel 1995) konnten zeigen, dass diese Technik Kratzen deutlich reduziert und zu dauerhaften Verbesserungen des Hautzustandes führt.
Habit-Reversal-Training: Methode der aktiven Gewohnheitsumkehr Diese Technik wurde ursprünglich für sog. Tics verwendet und ermöglicht das Einüben der Kratzkontrolle. Sie beinhaltet im Wesentlichen drei Schritte: 1. Verbesserung der Wahrnehmung (»awareness training«): Der Patient beschreibt zunächst die Kratzhandlung im Detail anhand einer typisch auslösenden Situation. Im Anschluss daran wird er dazu angeleitet, die Kratzbewegung zu simulieren und durch Selbstinstruktion ein Signal zur Unterbrechung der automatisierten Handlungsabfolge einzuüben (z. B. innerlich »Stopp« sagen), sich die negativen Konsequenzen in allen Einzelheiten vorstellen (Hautschäden, Sichtbarkeit) (»Stopp – denk an die Folgen!«) 2. Unterbrechung der Kratzhandlung/Durchführung einer inkompatiblen Reaktion (»competing response«): Alternativhandlungen zum Kratzen sind z. B. festes Drücken auf die juckende Hautstelle, Klapsen, Kühlen (mit magischem Pusten, Zauberglassteinen, Großmutters Silberlöffeltrick), Anspannung der Muskulatur (Festhalten am Stuhl). Darüber hinaus kann die moto-
Eine verbesserte Selbstkontrolle ist unter Zuhilfenahme von standardisierten Selbstbeobachtungsprotokollen respektive Tagebüchern möglich. Die Protokolle erlauben eine getrennte Registrierung von Juckreizintensität, Kratzintensität und -häu-
rische Aktivität umgelenkt werden z. B. unter Zuhilfenahme des »Kieler Kratzklötzchens«, einem mit Leder überzogenen Holzstückchen, das alternativ gekratzt werden kann (Niebel 1990) oder der Anti-JuckKnautschbälle (Scheewe et al. 1997). Auch Sport, Spiel, Bewegung oder die Kratzteufel-Technik (Warschburger et al. 1997) haben sich als hilfreich erwiesen. Kleine Kinder können bei Juckreiz in der Nacht adäquat abgelenkt und beruhigt werden (Vorlesen, Vorsingen, Atmung). Alternativstrategien können symbolisch in einem »Anti-Juckreiz-Zauberkoffer« aufbewahrt werden, der bei einem Kratzimpuls zu Hilfe genommen wird. Dabei gilt der Leitsatz: »Hör auf zu kratzen, hole Dir etwas aus Deinem Zauberkoffer.« Wesentlich ist die angemessene Autonomieentwicklung des Kindes bei selbstständiger Bewältigung der Juckreizsituation. 3. Einübung in simulierter kritischer Situation (»symbolic rehearsal«): Generell hat sich auch die Einübung von Selbstverstärkung bewährt (sich für Nichtkratzen belohnen).
figkeit und auslösender Situation (7 Abschn. 43.4). Eltern sollten sich generell dem Kind positiv zuwenden, wenn es nicht kratzt; das Kind unabhängig vom Kratzen loben und kleine Fortschritte bei der eigenständigen Bewältigung unterstützen.
797 43.6 · Fallbeispiel
Korrektur katastrophisierender Gedanken bezüglich Juckreiz/Kratzen Bei Kindern/Jugendlichen mit katastrophisierenden Gedanken bezüglich Juckreiz/Kratzen (»Das Jucken hört nie mehr auf. Es wird immer schlimmer werden. Ich werde mich wieder kratzen, bis meine Haut ganz schlimm aussieht.«) stellt die Modifikation dieser Kognitionen eine ergänzende Methode zu den Selbstkontrolltechniken dar. Neben der Identifikation der katastrophisierenden Gedanken, der Einschätzung des Ausmaßes, in dem das Kind von dem Gedanken überzeugt ist (Skala 0–10), dem Sammeln aller Argumente für/gegen das Zutreffen dieser Gedanken sollten hilfreichere Kognitionen und positive Selbstinstruktionen gefunden werden.
Beispiel Kognitionen, die sich auf eine bessere Bewältigung von Juckreiz beziehen, sind: »Ich muss besser darauf achten, woher das Jucken kommt. Wenn ich meine Haut nicht kratze, wird sie schneller wieder gesund.« Positive Selbstinstruktionen wie: »Gestern habe ich dem Jucken nicht nachgegeben, heute schaffe ich das wieder. Ich sollte mir etwas Kühles auf die Haut legen« ermöglichen es, eine Verhaltensänderung durch verdeckte Selbstgespräche zu erreichen. Sie sollten sich immer auf die Bewältigung von Juckreiz beziehen und den Kratzimpuls hemmen.
Der Aufbau selbstverstärkender Verhaltensweisen sollte durch begleitende Elternarbeit erleichtert werden. Bei kleineren Kindern sind Selbstinstruktionen durch Vorstellungshilfen zu ergänzen. Die Methode kann mit Gedankenstopp zur Unterbrechung der Kratzhandlung, Selbstkontrolltechniken, Entspannung oder sozialem Kompetenztraining kombiniert werden.
Verhaltenstraining zur Verbesserung der sozialen Kompetenz Neurodermitiskranke Kinder und Jugendliche sind oftmals mit schwierigen Interaktionssituationen konfrontiert. In den Verhaltenstrainings (Selbstsicherheitstraining) werden zunächst in Rollenspielen Fähigkeiten zur Bewältigung spezifischer Problemsituationen eingeübt (z. B. sich bezüglich Stigmatisierung, Hänseleien besser abgrenzen können, selbstsicherer mit ablehnenden Reaktionen der anderen umgehen können). Auch Probleme in der Eltern-Kind-Interaktion können Gegenstand der Verhaltenstrainings sein (Kommunikationstraining).
Rückfallprophylaxe Grundsätzlich sollte in der Therapie besprochen werden, dass Verschlechterungen der Hautsymptomatik wahrscheinlich sind. Zur Rückfallprophylaxe eignen sich Pro-
blemlösetrainings, welche Kinder, Jugendliche und Eltern zunehmend befähigen sollen, die erlernten Strategien bei Krankheitsschüben einzusetzen. Die gemeinsame Erprobung in konkreten Altagssituationen ist hierfür nötig (Alltagstransfer). Darüber hinaus können »Auffrischungssitzungen« angeboten werden.
43.6
Fallbeispiel
Krankheitsgeschichte Die 5-jährige Luisa leidet seit ihrem 3. Lebensmonat an Neurodermitis. Im Säuglingsalter zeigten sich insbesondere an den Wangen entzündliche, nässende Hautrötungen, auf der Kopfhaut Milchschorf. Zunehmend waren auch die Armbeugen, Kniekehlen und der Hals betroffen. Der kleine Körper der Fünfjährigen ist zeitweise von oben bis unten blutig gekratzt. Die Eltern ermahnen Luisa ständig, dies nicht zu tun. Der quälende Juckreiz zwingt sie jedoch, immer weiter zu kratzen. An Stellen, die sie nicht erreichen kann, bettelt sie Mutter und Bruder unter Tränen an, ihr zu helfen. Luisa hat wegen der auch nachts auftretenden Juckund Kratzanfälle seit Wochen nicht mehr durchgeschlafen. Sie wird häufig wach, steht dann am Bett ihrer Eltern, ist hilflos und weint. Die völlig übernächtigte Mutter ist kaum noch in der Lage, für die Familie ausreichend zu sorgen. Der Vater ist wegen der nächtlichen Störungen aus dem Schlafzimmer ausgezogen und reagiert mit Vorwürfen auf den desolaten Zustand seiner Frau. Luisa ist tagsüber unleidlich, wird schnell ungeduldig und kann sich nur schwer konzentrieren. Im Kindergarten, den sie stundenweise besucht, wird sie manchmal wegen ihres Aussehens gehänselt. Das führt dazu, dass sie sich schämt, sich in ihr Schneckenhaus zurückzieht und dass die Haut noch stärker juckt. Wirkliche Freunde hat sie noch keine. In der Familie dreht sich alles nur um Luisas Haut. Luisa hat bereits strenge Diäten, Kortisonbehandlungen und häufige Arztwechsel hinter sich – nichts hat bisher wirklich geholfen. Nach einer langen Odyssee sind die Eltern vollkommen ratlos.
Verhaltenstherapeutische Behandlung Für die Therapie war die Einbeziehung der Eltern unumgänglich. Neben der Krankheitsanamnese (Krankheitsvorgeschichte, atopische Familienanamnese, bisherige Behandlung) erfassten wir in der Exploration zunächst problematische Situationen, in denen krankheitsbedingte Interaktionsmuster besonders deutlich wurden. Hierzu zählten z. B. Umgang mit Juckreiz und Kratzen, Stressfaktoren, Probleme im Kindergarten, allgemeines Erziehungsverhalten, emotionale Krankheitsbewältigung der Eltern und Informationsstand. Die Eltern waren nur unzureichend über das Krankheitsbild und die Behandlung informiert. Vorurteile über Hautpflege und Ängste vor Kortison führten zu einer unsachgemäßen Anwendung verschiedener Mittel in Krankheitsschüben. Es wurden daher Infor-
43
798
Kapitel 43 · Neurodermitis
mationen über die Krankheit und die Möglichkeiten zur Behandlung vermittelt (Ursachen/Verlauf, Hautpflege, medikamentöse Behandlung/Nebenwirkungen, Rückfallprophylaxe). Anhand systematischer Fragen entwickelten wir gemeinsam ein individuelles multifaktorielles Krankheitsmodell (. Abb. 43.1). Aus diesem Modell ließen sich die Therapieziele ableiten: verbesserter Umgang mit Ekzemen sowie Juckreiz/Kratzen, Erlernen von Entspannungsmethoden für Eltern und Kind, Verbesserung der sozialen Kompetenz und des Ausdrucks von Gefühlen und Bedürfnissen, Abbau von Rückzugsverhalten und Verbesserung des Erziehungsverhaltens.
43 Aufbau von Selbstkontrolle. Zentrales Moment in der Therapie war der Aufbau von Selbstkontrolle bezüglich Juckreiz und Kratzen. Hierfür wurde das Selbstbeobachtungsprotokoll (. Abb. 43.4) eingesetzt, um Informationen bezüglich auslösender Situationen bei Kratzen zu sammeln. In einer Verhaltens- und Bedingungsanalyse nach dem S-O-R-C-K-Modell analysierten wir mit den Eltern und Luisa gemeinsam die funktionalen Zusammenhänge des Juckreiz-Kratz-Zirkels (. Abb. 43.2). Auslösende Faktoren waren hauptsächlich Spannungs- und Ärgersituationen; auch Unruhe, Unlust, Langeweile, Zurückweisung durch andere Kinder oder Hilflosigkeit konnten Kratzanfälle auslösen. Die ständige Beachtung, Ermahnung, Missbilligung und Kritik von Seiten der Eltern wirkten als Stressoren, die den Juckreiz und das Kratzen verstärkten. Darüber hinaus waren auch Lustgefühle bezüglich Kratzen und die Zuwendung des Bruders an der Aufrechterhaltung beteiligt. Durch die bewusste Selbstbeobachtung wurde das Kratzen reduziert. Entspannung. Im weiteren Verlauf erlernten Luisa und ihre Eltern als Entspannungsmethode die progressive Muskelrelaxation (Kurzform), wobei die Eltern ihre Tochter auf spielerische Weise zur Entspannung anleiteten. Wirkungsvolle Ergänzung waren Fantasiereisen, die recht schnell einen Symptomrückgang mit sich brachten. Für die Eltern war es zunehmend möglich, in stressigen Situationen entspannter mit ihrer Tochter umzugehen. Habit Reversal. Gleichzeitig übte Luisa die Habit-Reversal-
Technik ein: Sie wurde zunächst angehalten, sich eine auslösende Situation und den Kratzimpuls vorzustellen, ein Signal zur Unterbrechung des Ablaufs (Stopp – denk an die Folgen!) einzuüben sowie als Alternativhandlung in ihren »Anti-Juckreiz-Zauberkoffer« zu greifen. Besonders hilfreich waren das magische Pusten, festes Drücken der juckenden Hautstelle und die Anti-Juck-Knautschbälle. Manchmal half auch einfach Bewegung mit Armen und Händen. Immer seltener wachte Luisa nachts durch den Juckreiz auf. Dann ging sie mit Vater oder Mutter auf Fantasiereise in das Land der Eisbären. Die Techniken wurden
täglich angewandt, so dass sich innerhalb einiger Wochen eine Verbesserung der Hautsymptomatik einstellte, insbesondere der durch das Kratzen hervorgerufenen Entzündungsreaktionen. Training sozialer Kompetenzen. Zur Bearbeitung des Rückzugsverhaltens führten wir ein Verhaltenstraining sozialer Kompetenzen durch. Luisa lernte, auf Fragen anderer Kinder bezüglich der sichtbaren Hauterscheinungen zu reagieren und sich gegen Hänseleien besser abgrenzen zu können. In einem Kommunikationstraining wurden kleine Rollenspiele durchgeführt, in denen sie lernte, den Eltern und dem Bruder gegenüber eigene Bedürfnisse und Ärger direkt auszudrücken. Verhalten der Eltern. Eingehende Gespräche mit den Eltern führten dazu, dass sie Luisa liebevoll und konsequent begegnen konnten und lernten, ihr die Verantwortung für ihre Haut zurückzugeben. Luisas Haut war für die ganze Familie nicht mehr alles beherrschendes Thema. Die Eltern entwickelten in Übereinstimmung miteinander allgemeine, positiv wirksame Verhaltensregeln, wie z. B. sie nicht mehr zu ermahnen, mit dem Kratzen aufzuhören, sie auch dann zu beachten und sich ihr positiv zuzuwenden, wenn sie nicht kratzt, sie bei Fortschritten zu loben und zu unterstützen.
Therapieabschluss Nach Therapieabschluss hatte sich der Hautzustand wesentlich verbessert, und es gab kortisonfreie Intervalle. Die Haut brauchte noch 3 weitere Monate, um vollständig zu regenerieren. Das Familienleben normalisierte sich wieder. Die Therapie hatte sich positiv auf die Lebensqualität der Familie ausgewirkt. Der Schuleintritt verlief komplikationslos, Luisa fand bald Freunde. Heute ist sie 14 Jahre alt und fühlt sich wohl in ihrer Haut. Die Neurodermitis hat sich »verwachsen«.
43.7
Empirische Überprüfung
Effektivität verhaltenstherapeutischer Gruppenprogramme In den letzten Jahren wurden in Deutschland einzelne verhaltenstherapeutische Gruppenprogramme für die Behandlung von Neurodermitis bei Jugendlichen und Erwachsenen evaluiert. Die Wirksamkeit konnte in kontrollierten randomisierten Gruppenstudien belegt werden (s. auch Metaanalyse Chida et al. 2007; Ehlers et al. 1995, Niebel 1995). Die Programme setzen auf eine Kombination der bereits in 7 Abschn. 43.5.1 vorgestellten Komponenten. Die jeweiligen Interventionsmethoden wurden jedoch bislang nicht für Kinder evaluiert.
799 43.7 · Empirische Überprüfung
Ehlers et al. (1995) verglichen die Effektivität eines kognitiv-verhaltenstherapeutischen Gruppenprogramms (CB, bestehend aus Habit-Reversal-Technik, positive Selbstinstruktionen, Gedankenstopp, Kommunikationstraining etc.) mit einer Kombinationsbehandlung aus dermatologischer Schulung/kognitiv-behavioraler Therapie (CB + DE), autogenem Training (AT) sowie mit alleiniger dermatologischer Schulung (DE) bei Neurodermitispatienten im Alter zwischen 17 und 52 Jahren. Alle Programme mit psychologischen Komponenten waren bezüglich Schweregrad der Hautsymptomatik und Symptomreduktion (Juckreiz/Kratzen) in der Einjahreskatamnese der dermatologischen Schulung deutlich überlegen (Schweregrad Hautsymptomatik: AT: d=0.75; CB: d=0.72; CB + DE:
Stangier et al. (2004) untersuchten anhand der Daten der Marburger Therapiestudie (Ehlers et al. 1995), welche Variablen den Behandlungserfolg vorhersagen. Starkes Kratzen zu Beginn der Behandlung, günstige Kognitionen bei der Bewältigung von Juckreiz, ein geringes Maß an internalen Kontrollüberzeugungen sowie eine niedrige Konzentration von IgE im Serum gingen als Prädiktoren für den Therapieerfolg aus der Analyse hervor.
Die Effektivität des von uns oben vorgestellten Gruppenschulungsprogramms wurde in einer randomisierten kontrollierten Multizenterstudie überprüft (Staab et al. 2006). Aus sieben verschiedenen dermatologischen und pädiatrischen Zentren in Deutschland wurden N=274 Eltern neurodermitiskranker Kinder (im Alter von 3 Monaten bis 7 Jahren), neurodermitiskranke Kinder im Alter von 8–12 jahren gemeinsam mit deren Eltern (N=102) sowie Jugendliche im Alter von 13–18 Jahren (N=70) der Behandlungsgruppe zugewiesen. Die Kontrollgruppe erhielt keine Schulung. Es liegen Daten einer Einjahreskatamnese vor. Die Ergebnisse belegen für fast alle Untersuchungsparameter signifikante Vorteile der Schulungs-
Die Evaluation des Kieler Trainingsprogramms ergab signifikante Verbesserungen des Hautzustandes der untersuchten Vorschulkinder, Reduktionen neurodermitisassoziierter Belastungen der Mütter sowie positivere mütterliche Einstellungen zum Kind (Möbius u. Niebel 1995). Niebel et al. (2000) untersuchten in 4-Monats-Katamnesen die Effekte einer direkten Elternschulung gegenüber einer inhaltlich identischen häuslichen Videoschulung sowie ärztlicher Standardbehandlung und Einzelberatung bei Müttern neurodermitiskranker 4-jähriger Kinder. Die Videoschulung umfasste einen 100-minütigen Farbfilm sowie ein Begleitbuch, das neben Schaubildern, Merksät-
d=0.36; Juckreizintensität: AT: d=0.70; CB: d=0.63; CB + DE: d=0.71; Kratzen: AT: d=0.80; CB: d=0.63; CB + DE: d=0.69). Die Ergebnisse zeigen, dass insbesondere Entspannungsverfahren (AT) langfristig sehr günstige Effekte auf den Hautzustand haben, wenn sie durch Kratzkontrollstrategien (Habit-Reversal-Technik, positive Selbstinstruktionen) erweitert werden. Informationsvermittlung/dermatologische Schulung erscheint ausschließlich in Kombination mit kognitiv-verhaltenstherapeutischen Maßnahmen effektiv zu sein. Das Programm führte neben der Symptomreduktion zu einer Reduktion des Kortisonverbrauches, zu einer verbesserten Krankheitsbewältigung sowie zu geringerer Ängstlichkeit und Depressivität.
Effektivität multimodaler Schulungsprogramme Die Wirksamkeit der multimodalen Schulungs- und Trainingsprogramme für Kinder und deren Eltern ist klar belegt (Chida et al. 2007; Staab et al. 2006; Ricci et al. 2004; Niebel et al. 2000).
gruppe gegenüber der Kontrollgruppe. Das Schulungsprogramm führte in allen untersuchten Gruppen zu einer Verringerung des objektiven/subjektiven Schweregrades der Hautsymptomatik. In der Gruppe der 8- bis 12-jährigen sowie der 13- bis 18-jährigen Kinder/Jugendlichen konnten weniger katastrophisierende Gedanken bezüglich Juckreiz nachgewiesen werden. Eine günstigere Bewältigung von Juckreiz zeigten jedoch ausschließlich die 13- bis 18-jährigen Jugendlichen. Die Lebensqualität der Eltern von Kindern unter 13 Jahren war signifikant verbessert. Die Dropout-Rate lag nach einem Jahr bei 17% (10% Behandlungsgruppe, 24% Kontrollgruppe).
zen, modellhaften Filmsequenzen und Zeichentrickfilmen auch Berichte sowie praktische Demonstrationen von bereits geschulten Müttern und Kindern enthält. Entgegen den Erwartungen hatte die Videoschulung den stärksten Effekt auf die Gesamtsymptomatik der betroffenen Kinder (Haut, Juckreiz, Schlaf). Insbesondere bezüglich der Reduktion des hautschädigenden Verhaltens war die Videoschulung doppelt so effektiv wie die direkte Elternschulung. Darüber hinaus zeigte sich eine geringere zeitliche und finanzielle Belastung der Mütter, Gefühle der Überforderung waren am deutlichsten reduziert. Situative Belastungseffekte hatten jedoch etwas mehr in der direkten Elternschulung abgenommen. Möglicherweise sollten
43
800
Kapitel 43 · Neurodermitis
Videoschulungen stärker in das Therapiekonzept eingebunden werden. Sie könnten hilfreich sein, um die erzielten Erfolge in der Therapie längerfristig zu stabilisieren und somit die Krankheitsbewältigung zu verbessern (Rückfallprophylaxe).
43.8
43
Ausblick
In den letzten Jahren wurden zunehmend Behandlungsprogramme für Kinder und Jugendliche mit Neurodermitis entwickelt, die wesentliche psychologische Konzepte integrieren. Es liegen jedoch bislang zu wenige empirische Daten vor, inwieweit Stress und Verhaltensfaktoren die Entwicklung und den Verlauf der Hauterkrankung bei Kindern und Jugendlichen beeinflussen. Darüber hinaus bedürfen die belastenden Folgeerscheinungen der Hauterkrankung (Entstellungsproblematik) sowie die Langzeitfolgen von Neurodermitis im Kindesalter systematischer Untersuchungen. Eine effektive Zuweisung in randomisierten kontrollierten Studien zu standardisierter Schulung oder individualisierter verhaltenstherapeutischer Behandlung sollte auf der Basis differenzieller Indikationskriterien vorgenommen werden. Es ist unerlässlich, dass die vorgestellten verhaltenstherapeutischen Interventionsmethoden in kontrollierten Studien auch für das Kindesalter evaluiert und unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus verwandten Forschungsbereichen (Juckreiz-Schmerz) weiterentwickelt werden. Im Hinblick auf Rückfallprophylaxe sollten in kontrollierten Studien sowohl die Effekte von einzelnen Interventionsmethoden als auch Videoschulungen überprüft werden.
Zusammenfassung Neurodermitis ist die häufigste chronische Hauterkrankung im Kindesalter, die mit erheblichen sozialmedizinischen Kosten und einem sehr hohen Verlust an Lebensqualität verbunden ist. In den letzten Jahren fanden zunehmend innovative psychologische Arbeiten und Konzepte in der Therapie der Erkrankung Berücksichtigung. In der Pathogenese der Erkrankung spielen neben psychischen Belastungen auch das Kratzen sowie die Eltern-Kind-Interaktion eine wichtige Rolle. Im vorliegenden Kapitel werden neben dem klinischen Erscheinungsbild psychische Probleme beschrieben, die bei Kindern und Jugendlichen mit Neurodermitis häufiger anzutreffen sind. Darüber hinaus werden ätiologische Modelle vorgestellt, die der verhaltenstherapeutischen Behandlung zugrunde liegen. Anschließend wird das therapeutische Vorgehen dargestellt und die Ergebnisse der Effektivitätsstudien zusammengefasst. Die Wirksamkeit der standardisierten Gruppenprogramme bei Neurodermitis für Kinder, Eltern und Erwachsene ist empirisch gut belegt.
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43
44
44 Chronischer Schmerz Birgit Kröner-Herwig
44.1
Einleitung
– 804
44.2
Darstellung chronischer Schmerzsyndrome
44.2.1 44.2.2 44.2.3
Symptomatik – 804 Klassifikation – 806 Epidemiologie von Kopf- und Bauchschmerzen
44.3
Störungsmodelle zu funktionellem Kopfund Bauchschmerz – 807
44.4
Schmerzdiagnostik – 808
44.5
Therapeutisches Vorgehen und empirische Belege
44.5.1 44.5.2 44.5.3
Chronischer Kopfschmerz – 811 Rezidivierender ideopathischer Bauchschmerz Andere Schmerzsyndrome – 814
44.6
Fallbeispiel
44.7
Ausblick
– 814
– 816
Zusammenfassung Literatur
– 816
– 817
Weiterführende Literatur
– 818
– 804
– 806
– 814
– 811
804
Kapitel 44 · Chronischer Schmerz
44.1
44
Einleitung
Lange Zeit wurde dem Phänomen Schmerz bei Kindern von Seiten der Fach- und Laienöffentlichkeit keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet. Erst 1994 erschien in Deutschland ein erster Sammelband über Schmerz im Kindesalter mit einer biopsychosozialen Perspektive (Petermann et al. 1994). Während chronischer Schmerz bei Erwachsenen seit Langem ein Schwerpunkt der Grundlagen- und Anwendungsforschung ist und neue multidisziplinäre Behandlungskonzepte Eingang in die therapeutische Praxis gefunden haben, wurde seine Existenz bei Kindern lange überhaupt in Frage gestellt. Neuere epidemiologische Studien zeigen dagegen, dass ein erheblicher Teil der Kinder und Jugendlichen wiederkehrende oder andauernde Schmerzen berichtet, allerdings ohne dass diese immer Krankheitswert haben (Ghandour et al. 2004). Obwohl psychologische Interventionen auch bei akuten Schmerzen infolge von Traumen oder bei schmerzhaften medizinisch-diagnostischen oder therapeutischen Eingriffen zur Minderung der Schmerzangst und des -leidens eingesetzt werden, soll es an dieser Stelle nur um den chronischen Schmerz bei Kindern gehen, der als dauerhaftes oder wiederkehrendes Schmerzerleben (sog. rekurrierender Schmerz) definiert ist und mit einer deutlichen Beeinträchtigung einhergeht.
44.2
Darstellung chronischer Schmerzsyndrome
44.2.1 Symptomatik
Chronische Schmerzen bei Kindern lassen sich in unmittelbar krankheitsbedingte Schmerzen und Schmerzen im Kontext psychophysiologischer Funktionsstörungen untergliedern (s. folgende Übersichten).
Krankheitsbedingte Schmerzen Krankheiten, die am häufigsten mit Schmerzen von chronischem Charakter im Zusammenhang stehen 4 4 4 4 4
Juvenile Arthritis Hämophilie Sichelzellenanämie Komplexes regionales Schmerzsyndrom Tumorerkrankungen
Juvenile Arthritis. Die juvenile Arthritis in ihren unterschiedlichen Formen gehört mit einer geschätzten Inzidenz
von 1,1 auf 1000 Kinder pro Jahr zu den häufigsten chronischen schmerzhaften Störungen im Kindesalter. Sie beginnt vor dem 6. Lebensjahr. Die Krankheit befällt das Bindegewebe in den Gelenken und führt zu Schwellungen, Steifheit der Extremitäten, vor allem der Füße, Hände, Ellenbogen und Kniegelenke, was langfristig mit einer dauerhaften Schädigung der Gelenke einhergeht. Diese Prozesse sind oft schmerzhaft und führen zu Schonhaltungen und Vermeidungsverhalten, was wiederum weitere Schmerzen verursachen kann (z. B. über Muskelverspannungen, Bänderdehnungen). Die Krankheitsaktivität, definiert anhand verschiedener medizinischer Kriterien wie z. B. dem Auftreten akuter Entzündungsprozesse, korreliert nur mäßig mit der subjektiven Schmerzempfindung. Hämophilie. Hämophilie ist eine seltene Störung der Blutgerinnung, bei der Episoden mit internen Blutungen auftreten. Wenn diese Blutungen die Gelenke betreffen, führen sie zu akuten und langfristig u. U. zu überdauernden Schmerzen. Der akute Schmerz ist das wichtigste Signal für eine spezifische, zeitbegrenzte, intravenöse, auf Verbesserung der Blutgerinnung gerichtete Therapie. Sichelzellenanämie. Die Sichelzellenanämie stellt eine eher seltene, genetisch bedingte Abnormität des Hämoglobins mit einer sichelförmigen Ausprägung der roten Blutkörperchen dar, die häufiger bei Afroamerikanern auftritt. Sichelzellen führen zu einer reversiblen Okklusion der kapillaren Blutgefäße, was mit milden, aber auch extrem heftigen Schmerzattacken einhergehen kann, die zur Hospitalisation führen können. Reflexdystrophie. Die Reflexdystrophie oder nach dem heutigen Sprachgebrauch das »komplexe regionale Schmerzsyndrom« (CRPS), ein im Prinzip neuropathisches Krankheitsbild, kann auch bei Kindern und Jugendlichen auftreten. Bei dem CRPS handelt es sich um ein sehr schmerzhaftes, sympathisch unterhaltenes Syndrom, das sich nach akuten Verletzungen an den Extremitäten, z. B. nach einem Unterschenkelbruch, entwickeln kann. Das CRPS geht einher mit erheblicher Beeinträchtigung der Sensibilität und Motorik. Die Beweglichkeit des betroffenen Gliedes ist extrem eingeschränkt, Durchblutung und Temperaturregulation sind gestört. Tumoren. Bei Tumoren treten neben interventionsabhängigen Schmerzen auch Schmerzen auf, die tumorbezogen, also krankheitsbedingt sind. Man schätzt, dass ca. 60% der kindlichen Neoplasien von Schmerz begleitet sind. Die Schmerzen sind vielfältig bedingt: durch das verdrängende infiltrierende Wachstum sowie Entzündungen und Durchblutungsstörungen. Allerdings dominiert meist der interventionsbezogene Schmerz.
805 44.2 · Darstellung chronischer Schmerzsyndrome
Schmerzen im Zusammenhang mit psychophysiologischen Funktionsstörungen Schmerzsyndrome im Zusammenhang mit psychophysiologischen Funktionsstörungen 4 4 4 4
Migräne Kopfschmerz vom Spannungstyp (KST) Rezidivierender idiopathischer Bauchschmerz (RIB) Rückenschmerz
Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp ! Kopfschmerz ist neben dem nicht krankheitsbedingten Bauchschmerz die häufigste funktionelle chronische Schmerzstörung bei Kindern.
Die beiden Hauptformen des primären, also nicht krankheitsbedingten Kopfschmerzes sind die Migräne und der Kopfschmerz vom Spannungstyp (KST). Die Migräne ist ein anfallsartiger Schmerz, gekennzeichnet durch eine eher hohe Intensität und weitere belastungserhöhende Begleiterscheinungen wie Übelkeit oder Erbrechen (. Tab. 44.1). Seltener bei Kindern als bei Erwachsenen treten Aurasymptome vor der Schmerzphase auf. Migräne kann, wie schon die Syndrombeschreibung verdeutlicht, das betroffene Kind erheblich beeinträchtigen, d. h. es muss sich ggf. aus dem Schulunterricht zurückziehen, ist in der Ausübung von Freizeitaktivitäten oder
. Tab. 44.1. Hauptsymptome der Migräne und des Kopfschmerzes vom Spannungstyp Migräne
Kopfschmerz vom Spannungstyp
Mäßige bis starke Schmerzintensität im Anfall
Mittlere bis niedrige Intensität
Übelkeit und/oder Erbrechen
Keine Übelkeit/Erbrechen
Pulsierende Schmerzqualitäta
Dumpfe, drückende bzw. ziehende Schmerzqualität
Photo- und Phonophobie
Keine Photo-/Phonophobie
Unilateralitäta
Bilateraler Schmerz im ganzen Kopf
Verstärkung bei körperlichen Routineaktivitätena
Keine Verstärkung bei Aktivität
Dauer: 1–72 Stundenb
Dauer: 30 Minuten bis Dauerkopfschmerz Episodisch: <15 Tage/Monat Chronisch: >15 Tage/Monat
Aura: Sehstörungena, sensible Symptome (z. B. Kribbelempfindungen/Taubheitsgefühle)a, Sprachstörungena (Dauer ≤60 Minuten vor Schmerzbeginn)
Keine Aura, ggf. begleitet durch Überempfindlichkeit der perikranialen Muskulatur
a Bei Kindern nicht so klar ausgeprägt. b Bei Kindern eher im unteren Stundenbereich.
häuslichen Aufgaben behindert. Migräneanfälle zwingen häufig auch zur Bettruhe und Abschirmung von äußeren Reizen. Letztendlich kann die Lebensqualität der Kinder besonders bei häufigeren Migräneanfällen beeinträchtigt sein (Powers et al. 2003). Der Kopfschmerz vom Spannungstyp ist durch eine niedrige bis mittelhohe durchschnittliche Intensität gekennzeichnet. Es fehlen auch die belastenden Begleiterscheinungen wie Übelkeit und Erbrechen. Allerdings kann der KST über längere Zeit hinweg bestehen bleiben, und im Extremfall kann der rekurrierende episodische Schmerz zum Dauerschmerz werden. Auch KST kann die Kinder und Jugendlichen erheblich beeinträchtigen (Grazzi et al. 2004). Rezidivierender ideopathischer Bauchschmerz (RIB). RIB wurde in der frühen Arbeit von Apley und Naish (1957) definiert und eingegrenzt. Kürzlich wurde eine Neudefinition vorgelegt (Walker et al. 2004). Um RIB zu diagnostizieren, dürfen keine organischen Verursachungsfaktoren ermittelbar sein. Weiterhin müssen mindestens 3 Episoden in den letzten 3 Monaten aufgetreten sein, die die psychosozialen Aktivitäten der Kinder beeinträchtigt haben. Die Schmerzen sind interindividuell und auch intraindividuell meist sehr variabel hinsichtlich Lokalisation, Qualität und Intensität. Sie gehen oft einher mit anderen gastrointestinalen Beschwerden. Es wird zunehmend diskutiert, ob RIB der Vorläufer des sog. »irritable bowel syndrome« (Reizdarm) bei Erwachsenen ist. Weiterhin wird für die Diagnose von RIB gefordert, dass eine Reihe von Behandlungsversuchen ohne Erfolg geblieben ist. Rückenschmerz. Rückenschmerz bei Kindern und Jugendlichen ist erst in den letzten Jahren empirisch untersucht worden, da man früher davon ausging, dass er als wiederkehrendes beeinträchtigendes Phänomen frühestens bei jungen Erwachsenen auftritt. Der chronische Rückenschmerz ist bei Erwachsenen die am weitesten verbreitete Schmerzstörung, die die höchsten Krankheitskosten verursacht und insgesamt in den Arbeitsunfähigkeits- und Rentenstatistiken einen Spitzenplatz einnimmt. Aus neueren Studien ist bekannt, dass es das Phänomen auch im jugendlichen Alter gibt (Balagué et al. 2003). Bis heute ist allerdings wenig bekannt über das Ausmaß krankheitswertiger Rückenschmerzen, die aufgrund der erlebten Beeinträchtigung zu einem Behandlungswunsch führen. Eine Studie von Jones et al. 2004 beschreibt allerdings eine relativ hohe Prävalenz (ca. 13%) von Rückenschmerz mit beeinträchtigenden Konsequenzen insbesondere bei Jugendlichen (14–16 Jahre). Behandlungsstudien, in denen psychologische Interventionen eine Rolle spielen, gibt es bis heute nicht – mit Ausnahme einiger weniger Studien zur Prävention.
44
806
Kapitel 44 · Chronischer Schmerz
44.2.2 Klassifikation
44
Schmerzstörungen werden in der ICD vorrangig unter dem Blickwinkel somatischer Erkrankungen erfasst und damit verschiedensten Störungskategorien zugeordnet, so dass die Sicht auf die Gemeinsamkeiten verschiedener Syndrome verloren geht. Gerade diese soll das Schmerzklassifikationssystem der International Association for the Study of Pain gewährleisten. Nicht zufriedenstellend ist hier allerdings, dass in der Achse V des Klassifikationssystems zur Einordnung der Krankheitsätiologie ein theoretischer Standpunkt eingenommen wird, in dem »psychologische« Verursachung von genetischen, traumatischen und anderen somatischen Ursachen abgegrenzt und damit ein althergebrachtes dualistisches Konzept vertreten wird. Dies gilt auch weitgehend für den F-Bereich der ICD-10, in dem sog. »anhaltende somatoforme Schmerzen« diagnostiziert werden, wenn psychologische Prozesse als »entscheidende ursächliche Einflüsse« bewertet werden und der Schmerz »nicht vollständig« durch eine körperliche Störung erklärt werden kann. Erst das DSM-IV nimmt Abschied vom dualistischen Konzept (des somatogenen bzw. psychogenen Schmerzes) und diagnostiziert eine Schmerzstörung, (auch) wenn Schmerz in Verbindung mit »sowohl psychischen wie einem medizinischen Krankheitsfaktor« diagnostiziert wird. Dabei wird der psychische Einfluss nicht auf die Ätiologie begrenzt, sondern betrifft die Modulation des Schweregrades sowie die Exazerbation. Somit wird hier eine der Realität des chronischen Schmerzes sehr viel näher liegende Position eingenommen. Allerdings bleibt insgesamt gesehen auch die psychopathologische Klassifikation unzufriedenstellend, da sie global und wenig weiterführend ist und im Sinne einer Indikationsstellung zur psychotherapeutischen Behandlung eher unzureichend ist.
44.2.3 Epidemiologie von Kopf-
und Bauchschmerzen Da bezüglich psychologischer Interventionen der Schwerpunkt in Forschung und Anwendung auf Kopf- und Bauchschmerz liegt, werden im Folgenden nur diese Syndrome ausführlicher betrachtet.
Kopfschmerz In einer neuen deutschen Studie zur Epidemiologie des Kopfschmerzes bei Kindern und Jugendlichen zeigte sich, dass mehr als die Hälfte der Kinder zwischen 7 und 14 Jahren Kopfschmerzen im letzten halben Jahr erlebt hat (Elternangaben, Kröner-Herwig et al. 2007).
Der Anteil der Kinder mit wöchentlich auftretenden Kopfschmerzen erhöht sich von ca. 3% bei den 7-Jährigen auf 10% bei den 14-Jährigen, wobei Mädchen deutlich häufiger betroffen sind (13,5%). Deutlich höher sind diese Zahlen, wenn man die Kinder (9–14 Jahre) selbst befragt.
Man kann davon ausgehen, dass Kopfschmerzattacken, die regelmäßig mindestens einmal pro Woche auftreten, insbesondere wenn es sich um Migräne handelt, eine erhebliche Beeinträchtigung und eine Behandlungsindikation darstellen. Die meisten epidemiologischen Studien zeigen, dass Mädchen insgesamt höhere Prävalenzraten aufweisen als Jungen, zumindest ab einem Alter von etwa 11 Jahren. Insgesamt hat aber Kopfschmerz vom Spannungstyp den größten Anteil am Kopfschmerzgeschehen (ca. 19% bei 7bis 14-Jährigen), während Migräne nur bei 7,5% der Kinder diagnostizierbar ist. ! Es gibt Hinweise darauf, dass die Prävalenz von Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen während der letzten drei Dekaden deutlich zugenommen hat. Dazu zählen auch rekurrierende Kopfschmerzen.
In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts fand eine finnische Studie bei 4–5% der Kinder Kopfschmerzen, die mindestens einmal pro Woche auftreten, 20 Jahre später waren schon doppelt so viele Kinder betroffen (Sillanpää u. Anttila 1996). Bedeutsam ist auch der Befund, dass mehr als die Hälfte aller Kinder mit Migräne diese in das Erwachsenenalter »mit hineinnimmt«. ! Nicht angemessen behandelter kindlicher Kopfschmerz hat in einem hohen Ausmaß die Tendenz zur Chronifizierung.
Bauchschmerz Die Auswertung verschiedener epidemiologischer Untersuchungen zum rezidivierenden ideopathischen Bauchschmerz (Chitkara et al. 2005) zeigt, dass die durchschnittliche Prävalenz bei ca. 8% liegt. Vor dem 5. Lebensjahr ist die Häufigkeit deutlich geringer, während die Spitzenprävalenz bei Kindern von etwa 8–10 Jahren zu finden ist. Mädchen sind dabei etwas häufiger betroffen. Anhaltender Bauchschmerz kann in seltenen Fällen auch klar identifizierbare organische Ursachen haben. Scharff (1997) schätzt deren Anteil auf nur 5–10% aller Fälle. Die möglichen Ursachen sind vielfältig und reichen von gastrointestinalen Dysfunktionen über Nahrungsmittelunverträglichkeiten bis hin zu neurologischen Störungen. Diese krankheitsbedingten Bauchschmerzen sind primär einer medizinischen Behandlung zuzuführen.
807 44.3 · Störungsmodelle zu funktionellem Kopf- und Bauchschmerz
44.3
Störungsmodelle zu funktionellem Kopfund Bauchschmerz
! Sowohl Kopf- wie Bauchschmerz werden heute als Phänomene mit biopsychosozialen Determinanten verstanden.
Biologische Faktoren Migräne. Noch am besten werden die biologischen Grund-
lagen bei der Migräne verstanden, wobei eine genetische Komponente als sicher gilt. Heute stellt die Annahme einer neurogenen sterilen Entzündung der Hirnhautgefäße, die mit Vasodilatation, Ödembildung und Erniedrigung der Schmerzschwelle durch Ausschüttung algogener Substanzen einhergeht, das gängige Prozessmodell des Migräneschmerzes dar. Die genannten Vorgänge sollen durch neuronale Mechanismen in Gang gesetzt werden (Soyka 1999). Auch hypothalamische Zentren werden aktiviert, die die vegetativen Symptome der Migräne erzeugen (z. B. Übelkeit, Erbrechen). Serotonin als gefäßaktiver und auf die Nozizeption wirkender Transmitter spielt dabei eine bedeutsame Rolle. Die neuen Pharmaka gegen Migräne (Triptane) sind relativ spezifisch wirksame Serotoninrezeptoragonisten. Die hier beschriebenen Annahmen betreffen die Auslösung von Migräneanfällen, nicht aber die grundsätzliche Anlage für das Auftreten von Migräne. Soyka (1999) zitiert Befunde, die eine neurophysiologische Hypersensitivität als dispositionelle (vermutlich hereditäre) Grundlage der Migräne als denkbar erscheinen lassen. Diese kortikale Überempfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen, einhergehend mit verzögerter Gewöhnung (Habituation), soll letztendlich zu einer »Überlastung« des Gehirns führen, was dann den Anfall auslöst. Es ist aber deutlich hervorzuheben, dass diese Annahme noch einen sehr hypothetischen Charakter hat. Kopfschmerz vom Spannungstyp. Noch mehr als die Migräne gibt der Kopfschmerz vom Spannungstyp Rätsel auf (Bischoff u. Traue 2004). Bis vor ca. 50 Jahren sah man Spannungskopfschmerz ausschließlich als psychisches Phänomen an. Vor 20 Jahren war die Fachwelt dann der Überzeugung, es handele sich dabei um einen sog. Muskelkontraktionskopfschmerz, der aus einer dauerhaften Verspannung der Kopf-Nacken-Muskulatur resultiert. Dabei wurde folgende Prozesskette angenommen: Verspannung führt zu Ischämie, diese zu Sauerstoffunterversorgung des Muskels, diese wiederum zu Laktatbildung, die letztendlich in Muskelschmerz resultiert. Heute sieht man sich mit dem Erklärungsdilemma konfrontiert, dass nur bei einem Teil der Patienten eine überhöhte Muskelspannung mittels Elektromyogramm wirklich messbar ist. Andere Befunde, wie eine besondere Druckschmerzsensitivität an sog. Triggerpunkten, lassen sich mit dem Konzept vereinbaren, dass es bei Patienten mit Kopfschmerz vom Spannungstyp aufgrund
einer Dysfunktion zentraler antinozizeptiver Systeme zu einer Schmerzwahrnehmung durch ein Defizit inhibitorischer Einflüsse kommt. Belege für diese These sind aber sehr indirekt (vgl. Bischoff u. Traue 2004). Rezidivierender idiopathischer Bauchschmerz. Obwohl die Definition des RIB den Ausschluss primärer Krankheitsursachen fordert, wendet sich Scharff (1997) explizit gegen die Kennzeichnung des chronischen Bauchschmerzes als psychogenes Phänomen. Sie fordert auch hier eine biopsychosoziale Sichtweise ein, wie sie beim Kopfschmerz schon Verbreitung gefunden hat, dessen biologische Mechanismen z. T. genauer verstanden werden. Einige Studien gehen von einer autonomen Dysfunktion aus, dazu liegen aber bislang widersprüchliche Befunde vor. Auch muskuloskeletale Dysfunktionen werden als Basis des RIB diskutiert.
Psychosoziale Faktoren ! Für beide Syndrome, chronischer Kopf- wie Bauchschmerz, wird angenommen, dass psychologische Faktoren die Auftretenshäufigkeit und Schwere der Schmerzen modulieren.
Es gibt eine Reihe von Studien, die auf eine höhere Ängstlichkeit und depressive Verstimmtheit der Kinder mit rekurrierendem Schmerz hinweisen (Miranda u. Sood 2006). Es ist aber hervorzuheben, dass Kinder mit Kopfschmerz diesbezüglich vom Mittel einer schmerzunbelasteten Stichprobe weniger abweichen als dies bei erwachsenen Schmerzpatienten zu beobachten ist. Es bleibt ohne prospektive Studien unklar, ob die genannten Merkmale als Disposition oder Reaktion auf die Störung oder als beides zu verstehen sind. Neuere Befunde weisen darauf hin, dass kognitive Prozesse ähnlich wie bei Erwachsenen das Schmerzerleben moderieren, so die Tendenz zur Katastrophisierung (Crombez et al. 2003) oder ungünstige passive Copingstile wie Rückzugsverhalten in Belastungssituationen und die Tendenz zum Grübeln (Luka-Krausgrill u. Reinhold 1996). In neuerer Zeit haben sich Traitvariablen wie somatosensorische Amplifikationsneigung (vgl. Barsky et al. 1990) oder die sog. Angstsensitivität (Asmundson et al. 1997) als prozessnahe Variablen herausgestellt, die möglicherweise Einfluss auf das Schmerzerleben nehmen. Beide Variablen beschreiben eine Neigung, körperbezogene Reaktionen, die mit Hyperarousal bzw. Angst einhergehen, als besonders intensiv bzw. bedrohlich wahrzunehmen. Es zeigte sich in einer neueren deutschen Studie (Kröner-Herwig et al. 2007), dass insbesondere die letztere Variable ein bedeutsames Korrelat häufiger Kopfschmerzen bei Kindern ist. ! Insgesamt besteht ein großer Konsens, dass Stress sowohl bei Kopf- wie bei Bauchschmerz eine große Rolle bei der Auslösung von Schmerzepisoden spielen.
44
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Kapitel 44 · Chronischer Schmerz
Allerdings beruhen diese Angaben meist nur auf Aussagen von Eltern und den Kindern selbst, die das Auftreten von Kopfschmerzen auf Stress wie z. B. Belastung in der Schule attribuieren. Eine hohe Belastung durch »life events« oder »daily hassles« (alltägliche Schwierigkeiten oder Ärger) wurde in einzelnen Studien gefunden, wobei die Schule häufig als wichtigster Bereich für das Auftreten von »hassles« bei Kindern erscheint. Auf die Bedeutung sozialer Einflüsse, insbesondere der Familie, wurde schon eingangs hingewiesen. Es gibt eine Reihe von Befunden, die zeigen, dass die Eltern von Kindern mit funktionellen Schmerzen auch selbst unter Beschwerden, insbesondere chronischen Schmerzen, leiden. Mikail und von Baeyer (1990) fanden, dass Kinder aus »Schmerzfamilien« eine deutlich höhere somatische Fokussierung aufweisen und dass sie im Ausmaß der Beschäftigung mit Gesundheit und Krankheitsproblemen eine große Übereinstimmung mit dem chronisch schmerzkranken Familienmitglied zeigen. Wahrscheinlich sind diese intrafamiliären Übereinstimmungen zumindest z. T. auf Modelllernen zurückzuführen. Auch wird vermutet, dass die Familieninteraktion, z. B. Überprotektivität der Eltern, Spannungen zwischen Ehepartnern, ängstliche Überbeschäftigung mit Gesundheitsproblemen, Defizite im Problemlösen oder Rigidität, eine bedeutsame Rolle spielt. Nach der Lerntheorie können operante Prozesse (soziale Verstärker) aufrechterhaltende Faktoren für Schmerzverhalten sein. Eine eigene Untersuchung an 22 Kindern mit chronischem Kopfschmerz mittels ausführlicher problemanalytischer Interviews mit den Müttern der Kinder zeigte, dass bei 19 Kindern operante aufrechterhaltende Bedingungen für den Kopfschmerz zu identifizieren waren. > Fazit Somit sind internalisierende emotionale Störungen, ungünstige kognitive und behaviorale Copingstile sowie eine ängstliche somatische Fokussierung als schmerzverstärkende Einflussfaktoren zu sehen. Weiter gelten »Stress«, »operantes Lernen« und »Modelllernen« als die wesentlichen psychosozialen Determinanten des kindlichen Kopf- und Bauchschmerzes. Es gibt jedoch eine große Variabilität hinsichtlich der Befunde und nur wenige aussagestarke prospektive Studien. Es sollte keinesfalls pauschal davon ausgegangen werden, dass die meisten Kinder mit beeinträchtigendem Kopf- oder Bauchschmerz ausgeprägte psychopathologische oder soziale Auffälligkeiten zeigen. Auch ist die Kausalrichtung der Wirkmechanismen noch völlig ungeklärt.
44.4
Schmerzdiagnostik
Die Diagnostik bei pädiatrischem Schmerz sollte sich am Mehrebenenmodell einer multidimensionalen Diagnostik orientieren. Je nach Alter der betroffenen Kinder kann die Quelle der Information das Kind selbst und/oder die Eltern sein. Aus den vorangegangenen Erörterungen wurde evident, dass neben den direkt schmerzbezogenen Syndromvariablen Daten zu psychologischen und sozialen Faktoren (z. B. Ängstlichkeit, Familienprobleme, Schulanpassung, Krankheitsbewältigung in der Familie etc.) zu erfassen sind, die zum Verständnis des Schmerzes erheblich beitragen können.
Diagnostische Instrumente zur Erfassung des subjektiven Schmerzerlebens Im Folgenden soll zunächst die Diagnostik des subjektiven Schmerzerlebens im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Selbstverständlich hat die medizinische Diagnostik, d. h. die Suche nach krankheitsbedingten Schmerzursachen, einen vorrangigen Stellenwert, da es gilt, ggf. eine Primärerkrankung zu erkennen und zu behandeln. Dies darf jedoch nicht auf Kosten der Schmerzdiagnostik selbst und der Erfassung der sonstigen den Schmerz beeinflussenden psychosozialen Faktoren geschehen. ! Bei der Erfassung des Schmerzerlebens sind die Dimensionen Intensität, Häufigkeit, Dauer, Qualität und Lokalisierung von Bedeutung. Stärke. Zur Erhebung der Schmerzstärke sind kindgerechte visuelle Analogskalen (VAS) oder numerische Ratingskalen, wie sie ähnlich für Erwachsene vorliegen, relativ reliabel einsetzbar. Insbesondere für Kinder im jüngeren Alter wurden Bilderskalen entwickelt, z. B. die sog. Smiley-Analogskala (. Abb. 44.1, Zernikow 2005), die Gesichtsschemata verwendet. Die Smiley-Analogskala scheint, wie eine Reihe von Untersuchungen zeigt, Testgüteanforderungen zu entsprechen. In der Regel ist bei Kindern in dem für Kopf- oder Bauchschmerzbehandlung in Frage kommenden Alter (>8/9 Jahre) eine numerische Ratingskala, wie sie bei Erwachsenen üblich ist, die als »Schmerzthermometer« eingeführt werden kann, einsetzbar. Qualität. Die Qualität des Schmerzes, d. h. die affektiven und sensorischen Aspekte des Schmerzes, wird beim Erwachsenen üblicherweise durch Adjektivlisten erfasst. Diese lassen sich bei Kindern ab ca. 10 Jahren einsetzen. Bei jüngeren Kindern werden häufig nonverbale qualitative Methoden zur Schmerzqualitätserfassung eingesetzt. So werden Kinder aufgefordert, ihren Schmerz zu malen oder die Farbe ihres Schmerzes auszuwählen. Diese Verfahren entziehen sich jedoch weitgehend einer objektiven standardisierten Auswertung. Lokalisierung. Der Schmerzort und die Ausbreitung der Schmerzen können anhand der Vorgabe von Körpersche-
809 44.4 · Schmerzdiagnostik
. Abb. 44.1. Die Smiley-Analogskala zur Einschätzung der Schmerzintensität. (Aus Zernikow 2005)
mazeichnungen durch die Kinder mit einem Stift »angemalt« werden. Für den deutschen Sprachraum liegt bisher nur ein Instrument vor, das für eine systematische Schmerzanamnese insbesondere für rekurrierende und persistierende Schmerzen geeignet ist. ! Der »Dattelner Schmerzfragebogen für Kinder und Jugendliche« (Zernikow 2005) ist in Anlehnung an den Schmerzfragebogen der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes entwickelt worden und erfasst die wesentlichen Aspekte der Schmerzgeschichte und -symptomatik sowie der Beeinträchtigung durch Befragung der Betroffenen und der Eltern.
Schmerztagebuch Von besonderer Bedeutung in der Schmerzdiagnostik, aber auch in therapeutischer und evaluativer Hinsicht, ist das Schmerztagebuch. In Deutschland sind Tagebücher für den Einsatz bei Kopfschmerzen bei Kindern entwickelt worden (vgl. Denecke u. Hünsler 2005), die sich in Forschung und Praxis bewährt haben. Diese Tagebücher lassen sich auch auf andere Schmerzsyndrome adaptieren. Ein Tagebuch hat den Vorteil, dass es den Schmerz relativ ereignisnah (mindestens eine Protokollierung pro Tag) erfasst und somit sowohl zur Bestimmung des »Status quo« vor der Therapie wie der Auswirkungen von Interventionen gut geeignet ist (. Abb. 44.2). Auch Auslösebedingungen, deren Identifizierung wesentlich für die Therapie sein kann, lässt sich mit Hilfe der Tagebuchmethode auf die Spur kommen. Ebenso kann die Beeinträchtigung des Kindes durch den Schmerz (Unterbrechung von Aktivitäten, Schulfehlzeiten) sowie die Medikamenteneinnahme erhoben werden.
Wenn die Tagebücher kindgerecht gestaltet sind (einfache, kurze Fragen, graphisch ansprechend, prägnant), werden sie von den Kindern in der Regel gern und mit Sorgfalt ausgefüllt, insbesondere wenn spezielle Anreize gesetzt werden (Klebepunkte für sorgfältiges Ausfüllen, »Eintausch« der Klebepunkte in tangible Verstärker wie Sticker o. Ä.). Anreizbedingungen dieser Art fördern besonders bei jüngeren Kindern die Mitarbeit. Vermutlich würden auch elektronische Tagebücher bei Kindern auf hohe Akzeptanz stoßen. Über einen Einsatz bei dieser Betroffenengruppe ist in der Literatur noch nicht berichtet worden. ! Die Tagebuchführung kann einen therapeutischen Effekt haben.
Das Kind wird aktiv in den Therapieprozess einbezogen und übernimmt Verantwortung. Schmerzminderung kann als Konsequenz des eigenen Handelns und Erlebens wahrgenommen werden. Eine reaktive Wirkung der Tagebuchführung ist in eigenen Behandlungsstudien regelmäßig zu beobachten gewesen.
Weitere diagnostische Verfahren Etwaige Psychopathologie sollte über die Erhebung der Depressivität der Kinder und Jugendlichen routinemäßig erfasst werden [siehe z. B. »Depressionstest für Kinder« (DTK) von Rossmann 1993]. Ob ein Angstinventar zusätzlich eingesetzt wird, sollte individuell entschieden werden, da gerade bei Kindern und Jugendlichen die beiden Variablen »Ängstlichkeit« und »Depressivität« hoch korrelieren. Weitere Instrumente, die Aufschluss über den Umgang und die Bewertung der Schmerzerfahrung durch die Kinder geben, sind die Fragebögen zur Schmerzbewältigung (vgl. Rathner u. Zangerle 1996) und zur Katastrophisierung (PCS-C, Crombez et al., 2003; deutsche Version über die Autorin erhältlich).
44
. Abb. 44.2. Schmerztagebuch. (Aus Denecke u. Kröner-Herwig 2000)
810 Kapitel 44 · Chronischer Schmerz
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811 44.5 · Therapeutisches Vorgehen und empirische Belege
44.5
Therapeutisches Vorgehen und empirische Belege
44.5.1 Chronischer Kopfschmerz
Behandlungsansätze Die Entwicklung psychologischer Interventionsmethoden ist vor allen Dingen im Bereich chronischer Kopfschmerzen vorangetrieben worden. Hier nehmen Studien zur Nutzbarkeit von Entspannungsverfahren den größten Raum ein. Dabei wird Entspannung in der Regel entweder über die progressive Muskelrelaxation (PMR) oder über Biofeedback induziert. Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurden auch multimodale Verfahren entwickelt, die sowohl Entspannung wie andere kognitiv-behaviorale Interventionsbausteine umfassen. Entspannungstraining. Die verbal angeleiteten Entspannungstrainings für Kinder setzen meist eine auf die junge Adressatengruppe adaptierte Form der PMR ein. Diese nutzt visuelles Anschauungsmaterial und eine kindgerechte, anschauliche Sprache für die Anleitung der Übungen und für die Wirkung der Entspannung (vgl. Denecke u. Kröner-Herwig 2000, S. 42–45). Zum Teil sind auch »Phantasiereisen« Bestandteil des Entspannungstrainings. Generell ist das Ziel, dass die Kinder Entspannung – zumeist in der Form einer schnell einsetzbaren Mini-Entspannung – als Stresscoping-Strategie einzusetzen lernen. Sie soll bei Hinweisen auf Verspannung oder beginnendem Schmerz sozusagen präventiv genutzt werden können. Dazu ist es nötig, dass die Kinder zunächst individuelle Anzeichen von Stress und Anspannung erkennen lernen (»Meine Hände werden ganz kalt.« »Ich bin ganz kribbelig und kann nicht mehr ruhig sitzen.« »Mir ist ganz schlecht.«) und sie als Signal für den Einsatz einer Entspannungsübung nutzen. Biofeedback. Biofeedback beruht im Wesentlichen darauf, dass dem Übenden eine unmittelbare exterozeptive Rückmeldung über den Zustand einer körperlichen Funktion (Muskelspannung, Hauttemperatur, Hautleitfähigkeit etc.) gegeben wird, was die Erreichung des Zielzustandes, z. B. eine niedrige Muskelspannung, eine hohe Hauttemperatur, was meist einen Entspannungszustand impliziert, erleichtern soll. In den meisten Fällen, insbesondere bei Kopfschmerz vom Spannungstyp, aber auch bei kombiniertem Kopfschmerz und Migräne, wurde bei Kindern die Muskelspannung der Stirn als Rückmeldegröße gewählt, da hier eine gezielte Kontrolle leichter ist als bei autonom regulierten Funktionen (z. B. Hautleitfähigkeit). Entspannungsinduktion ist auch das Ziel von sog. autogenem Biofeedback bei Migräne: Hier wird eine Handtemperaturrückmeldung mit dem Ziel der Erwärmung und peripheren Gefäßerweiterung kombiniert mit autogenen Selbstinstruktionen (»Ich bin ganz ruhig...«, »Meine Hände werden ganz warm«) durchgeführt. Biofeedback mit dem
Ziel der Veränderung der temporalen Vasomotorik und besonders das sog. Neurofeedback (Veränderung langsamer Hirnpotenziale) bei der Migräne sind bisher sehr wenig untersucht, so dass noch keine verlässlichen Aussagen zu seiner Anwendbarkeit bzw. Wirksamkeit gemacht werden können. Biofeedback macht den meisten Kindern sehr viel Spaß und motiviert zum Üben. Die mit den neuen computergestützten Mess- und Feedbacksystemen möglichen Rückmeldungsvarianten sind nahezu unerschöpflich und können auf das Kind individuell angepasst werden. So kann die Zielerreichung durch den erfolgreichen Sprung eines kleinen Elefanten über eine Hochsprunglatte veranschaulicht werden, oder die Annäherung an das Ziel durch das Vorwärtskommen einer kleinen Raupe auf einer Laufbahn, aber auch konventionell durch Grafiken. Die Anwendung von Biofeedback wird immer durch häusliches Üben der gelernten Entspannung ohne Gerät ergänzt. »STOPP den Kopfschmerz«. Einen multimodalen Thera-
pieansatz im Bereich chronischer Kopfschmerzen, der auch auf andere funktionelle rekurrierende Schmerzen übertragen werden kann, stellt das von McGrath et al. (1990) konzipierte und von Denecke und Kröner-Herwig (2000) für deutsche Verhältnisse adaptierte kognitiv-behaviorale Therapieprogramm »STOPP den Kopfschmerz« dar. Dieses Therapieprogramm ist an multimodalen Schmerzbewältigungstrainings für erwachsene Schmerzpatienten orientiert (s. Übersicht).
Module des kognitiv-behavioralen Antikopfschmerztrainings »STOPP den Kopfschmerz«. (Denecke u. Kröner-Herwig 2000) 4 Schmerztagebuchführung 4 Schmerzedukation (was ist Schmerz, wo kommt er her?) 4 Übungen zur Verbesserung der Körperwahrnehmung 4 Entspannungsübungen 4 Prüfung unrealistischer und dysfunktionaler Einstellungen und Gedanken zu Schmerz und Stress 4 Anleitungen zur kognitiven Umstrukturierung und imaginativen Bewältigungsprozessen 4 Aufmerksamkeitslenkungsstrategien 4 Unterstützung der Selbstbehauptung 4 Hilfen zum Problemlösen 4 Rückfallprophylaxe
Es wurde als therapeutengestützte Gruppentherapie (8 Sitzungen, 5–6 Kinder pro Gruppe) und als Selbsthilfeprogramm für Kinder von ca. 10–14 Jahren konzipiert. Das Programm schult die Kinder in der Wahrnehmung von Schmerzanzeichen ebenso wie im rechtzeitigen Erkennen
44
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Kapitel 44 · Chronischer Schmerz
. Abb. 44.3. Visualisierung von Übungen des kognitiv-behavioralen Kopfschmerztrainings. Links: Problemlösen, mitte: kognitive Umstrukturierung, rechts: Entspannung. (Aus Denecke u. Kröner-Herwig 2000)
44 von Stresssignalen. Es bietet den Kindern und Jugendlichen eine altersadäquate Erklärung der Prozesse bei Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp an, wobei gerade die jüngeren Kinder durch die Kopfschmerz-Symbolfigur Drak, den kleinen Kopfschmerzdrachen, angesprochen werden sollen (. Abb. 44.3). Weiter werden Entspannungsübungen auch für den Einsatz zu Hause eingeführt (CDgestützte PMR, Phantasiereisen). Die Entspannung wird wesentlich als ein Instrument der Stress- und auch der Schmerzprävention vermittelt. Ein Modul des Trainings widmet sich den kognitiven Verarbeitungsprozessen, insbesondere der sog. Katastrophisierung, d. h. der Elaborierung der »schrecklichen« Konsequenzen der Kopfschmerzen oder anderer aversiver Erfahrungen und der Fixierung auf diese Gedanken. Auch dysfunktionale Verarbeitungen wie die Selbstzuschreibung von Hilflosigkeit oder z. B. die Überzeugung, dass man sich keinesfalls anstrengen darf, weil es dann zu Kopfschmerzen kommt. Hier sollen die Kinder lernen, diese wenig hilfreichen sog. »schwarzen« Gedanken zu erkennen und durch »bunte« zu ersetzen. Übungen zur Selbstbehauptung sollen Kinder und Jugendliche ermutigen, ihre Wünsche auszusprechen, ihren eigenen Standpunkt zu verdeutlichen und Respekt einzufordern. Die Anregung zum Problemlösen (das schrittweise »Ersteigen der Problemlösetreppe«) lehnt sich im Vorgehen an Problemlösetrainings für Erwachsene an. Hier sollen die Kinder eine Strategie erlernen, wie sie Probleme erkennen und analysieren und Lösungsmöglichkeiten generieren und ausprobieren können. Das Training schließt nach 8 Sitzungen ab mit einem Rückblick auf das Gelernte und der Anleitung, wie es in Zukunft im Alltag genutzt werden kann. Das Selbsthilfeprogramm besteht aus schriftlichen Materialien, die durch Tonbandkassetten ergänzt werden. Hier überwacht der Therapeut den Umgang des Kindes mit dem Programm, indem er einmal pro Woche mit ihm telefoniert und ggf. Hilfen und Anregungen gibt.
Wirksamkeit der psychologischen Therapieansätze bei Kopfschmerzen ! Die Metaanalyse zur Effektivität von psychologischen Interventionsverfahren von Trautmann et al. (2006), die 23 randomisierte Kontrollgruppenstudien einbeziehen konnte, weist auf eine überzeugende Wirksamkeit von Relaxation, Biofeedback oder multimodalen Trainings hin.
Die Wirksamkeit zeigt sich besonders deutlich in einer hohen Effektstärke von g=1, wenn man den Anteil klinisch signifikant gebesserter Kinder in Follow-up-Untersuchungen betrachtet. Dies bedeutet, dass die Therapien auch einen Langzeiteffekt haben. Es zeigt sich, dass die Effektivität psychologischer Interventionen bei Kindern und Jugendlichen deutlich höher ist als bei Erwachsenen mit Kopfschmerzen (. Tab. 44.2). In fast allen Studien wurden Kopfschmerztagebücher in der Evaluation eingesetzt, so dass eine Überschätzung des Behandlungserfolges, wie sie sich bei globaleren Erfassungsmethoden zeigt, ausgeschlossen werden kann. Die Wirksamkeit der Trainings wird dokumentiert durch die Reduktion der Anzahl der Kopfschmerzanfälle bzw. dem Anstieg der kopfschmerzfreien Tage und der Minderung der Schmerzstärke. So ist in der Regel eine Verringerung in der Kopfschmerzaktivität im Mittel um 60–80% (. Tab. 44.2) zu beobachten. Die Dauer der verbleibenden Anfälle wird meist weniger deutlich beeinflusst. Letzterer Befund könnte andeuten, dass die behandelten Kinder mit Hilfe der Entspannung Kopfschmerzattacken verhindern können. Wenn aber ein Anfall, insbesondere eine Migräneattacke, einmal begonnen hat, ist es weniger leicht, aktiv Einfluss zu nehmen. Häufiger findet sich auch eine Abnahme der Medikation. Ein Hinweis auf eine differenzielle Effektivität der Interventionen bezüglich KST und Migräne zeigte sich bislang nicht. In der von Kröner-Herwig und Denecke (2002) durchgeführten Untersuchung an ca. 80 Kindern war die Selbsthilfeversion des multimodalen Therapieprogramms nahe-
813 44.5 · Therapeutisches Vorgehen und empirische Belege
. Tab. 44.2. Prozentsatz der Kinder mit klinisch bedeutsamer Kopfschmerzveränderung (Reduktion ≥50%) und Prozentsatz der Nonresponder (Kopfschmerzaktivität ≥100% bezogen auf Baseline) bei Anwendung von Biofeedback und multimodalem Gruppentraining (Originaldaten in Kröner-Herwig et al. 1998; Kröner-Herwig u. Denecke 2002)
Erfolg
Kein Erfolg
Biofeedback (n=20)a
Multimodales Gruppentraining (n=27)b
Nach Therapie
71,7
56,3
Follow-up (6 Monate)
81,7
76,2
Nach Therapie
8,3
19,5
Follow-up (6 Monate)
3,3
2,4
a Diagnosen: KST, kombinierter Kopfschmerz. b Diagnosen: alle inklusive Migräne.
zu so wirksam wie das therapeutengeleitete Gruppentraining. Sie war aber unerwarteterweise weniger effizient, da die telefonische Beratung der Kinder in der Selbsthilfeversion zeitaufwendiger war als erwartet und letztendlich die Gruppenversion eine doch etwas größere und weniger interindividuell variierende Wirksamkeit hatte. Besonders beachtenswert ist, dass die Anzahl der benötigten Trainingssitzungen von kaum mehr als 6–8 im Vergleich zu dem bei Erwachsenen üblichen Trainingsumfang – bei gleichzeitig höheren Erfolgsquoten – sehr gering ist. Auch eigene Befunde zeigen, dass die Trainings zumindest kurz- und mittelfristig die Bewältigungskompetenzen erhöhen und die Überzeugung der Kinder stärken, selbst einen Beitrag zur Verbesserung der eigenen Gesundheit leisten zu können. Ob man allerdings von einer über Jahre hinaus anhaltenden sekundären Präventionswirkung der beschriebenen Trainings ausgehen kann, dass also einer Chronifizierung der Kopfschmerzen in späteren Lebensjahren vorgebeugt wird, ist noch nicht überprüft worden. Das Gruppenprogramm »STOPP den Kopfschmerz« wurde kürzlich einer bundesweiten Praxisevaluation unterzogen, in der niedergelassene Therapeuten die Behandlung in ihren Praxen durchführten. Es zeigte sich generell eine große Akzeptanz sowohl bei den Eltern wie auch bei den eigentlichen Adressaten, den Kindern, die das Training sehr positiv bewerteten, ebenso wie die Therapeuten selbst. Die Prä-post-Ergebnisse ergaben eine bedeutsame Reduktion der Kopfschmerzbelastung sowie eine deutlich Veränderung im Umgang mit den Schmerzen aus Sicht der Eltern wie der Kinder. Die Eltern fühlten sich durch die größere Autonomie der Kinder im Umgang mit dem Schmerz und die Reduzierung der Schmerzepisoden sehr entlastet.
Die von den Therapeuten berichteten Erfahrungen weisen darauf hin, dass das Training für Jugendliche jenseits von 14 Jahren weniger geeignet ist und ältere Jugendliche kaum erreicht. Dies wie auch die Tatsache, dass nur wenige psychologische und ärztliche Psychotherapeuten sich in der Lage sehen, Interventionen im Schmerzbereich für Kinder und Jugendliche anzubieten und deshalb viele Betroffene keine Chance auf eine Behandlung haben, war die Motivation, eine Jugendlichenvariante des Trainings zu entwickeln und diese in einer internetbasierten Selbsthilfeversion auf ihre Anwendbarkeit und Wirksamkeit zu prüfen. Erste Erfahrungen im Rahmen einer Evaluationsstudie zeigen eine gute Akzeptanz auf Seiten der Adressaten mit relativ niedrigen Ausfallraten. Die Wirksamkeit des Internettrainings konnte an 65 Kindern und Jugendlichen (bis 18 Jahren) überprüft werden (Trautmann u. Kröner-Herwig, under review). Es zeigte sich eine klinisch relevante Besserung bei 63% der Teilnehmer im Follow-up nach 6 Monaten. Allerdings unterschied sich die Erfolgsquote nicht signifikant von der einer aktiven Kontrollgruppe (Edukation, 55%). Das Training steht nunmehr mit Betreuung durch das Therapie- und Beratungszentrum der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie (http//:www.stopp-den-kopfschmerz.de) Interessenten zur Verfügung (kostenpflichtig). ! Ein über das Internet angebotenes Selbsthilfetraining verbreitert den Zugang zu einer Behandlung für Kinder und besonders Jugendliche.
Ob multimodale kognitiv-behaviorale Programme wie das »STOPP-den-Kopfschmerz-Training« ein breiteres Wirkungsspektrum im Vergleich zum Biofeedback oder Entspannungstraining haben und langfristiger wirksam sind, ist noch nicht untersucht worden. Festgehalten werden kann, dass sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine signifikante Unter-/Überlegenheit konventioneller Entspannungstrainings, die immer auf die spezielle Kopfschmerzproblematik abgestimmt waren, gegenüber Biofeedback erkennen lässt. Der Frage der Vergleichbarkeit medikamentöser und psychologischer Therapie widmete sich u. a. die Metaanalyse zur Behandlung von Migräne durch Biofeedback von Hermann et al. (1997). Sie zeigte eine Effektstärke psychologischer Verfahren, die tendenziell höher ausfällt als diejenige für die Wirksamkeit medikamentöser Verfahren der Migräneprophylaxe. Ein Vergleich der psychologischen Verfahren mit anfallskupierenden Medikamenten ist nicht sinnvoll. Das zu beobachtende starke Ansteigen des Gebrauchs von Schmerzmitteln bei Jugendlichen gegenüber Kindern unterstützt die Auffassung, dass psychologische Trainings frühzeitig eingesetzt u. U. einen wertvollen Beitrag dazu leisten können, langfristig einem Schmerzmittelmissbrauch vorzubeugen.
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Kapitel 44 · Chronischer Schmerz
44.5.2 Rezidivierender ideopathischer
Bauchschmerz
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Nur wenige Studien widmen sich der Untersuchung eines kognitiv-behavioralen Therapieprogramms bei dem zweitbedeutsamsten chronischen Schmerzsyndrom, dem RIB. Sanders et al. (1994) setzten ein ähnliches wie das für die Behandlung von Kopfschmerzen konzipierte Therapieprogramm ein. Sie ließen die Kinder ihren Schmerz beobachten, regten den Aufbau positiver Aktivitäten an, was auch zur Ablenkung der Aufmerksamkeit vom Schmerzproblem führen sollte. Entspannung und Imagination waren ebenso Bestandteil der Intervention. Positive schmerzbezogene Selbstinstruktionen, mit einer Betonung der Selbstwirksamkeit (»Wenn ich jetzt eine Entspannungsübung mache, gehen die Schmerzen gleich vorbei«) sollten die »schwarzen Gedanken« ersetzen. Die Autoren verglichen die Wirksamkeit mit der einer konventionellen medizinischen Therapie mittels Umstellung auf eine ballaststoffreiche Ernährung und einer allgemeinen Beratung der Eltern über die Funktionsstörung. Die psychologisch behandelten Kinder waren im 12-Monats-Follow-up immerhin zu 59% schmerzfrei, die der Standardbehandlung nur zu 39%. In einer Mehrgruppenstudie fanden Humphreys und Gevirtz (2000) eine, wenn auch nicht statistisch bedeutsame, größere Wirksamkeit der Kombination von Biofeedback oder kognitiv-behavioraler Therapie mit Ernährungsmanagement gegenüber der medizinischen Standardtherapie. Angeleitete Imagination mit Entspannungstraining hat sich in zwei unkontrollierten Studien bewährt, wobei hier wiederum die geringe Anzahl an benötigten Behandlungssitzungen (<6) imponiert. Weitere Studien sind in diesem Bereich dringend vonnöten, um zu eindeutigeren Aussagen zur Anwendbarkeit und Wirksamkeit psychologischer Therapie bei RIB zu gelangen. Aus Deutschland sind bislang keine Untersuchungen bekannt, die sich der Behandlung von RIB durch psychologische Verfahren gewidmet haben.
44.5.3 Andere Schmerzsyndrome ! Bezüglich der Therapie anderer rekurrierender Schmerzstörungen, die infolge primärer Erkrankungen auftreten, wie Hämophilie, Sichelzellenanämie, Arthritis oder Turmorerkrankungen, gibt es über die medizinische Therapie der Primärerkrankungen hinausgehend nur wenige publizierte Erfahrungsberichte, die allerdings zu positiven Erwartungen Anlass geben.
Varni et al. (1981) berichten beispielhaft von dem Fall eines 9 Jahre alten Jungen, der aufgrund seiner Beschwerden infolge von Hämophilie immer höhere Dosen analgetischer
Medikamente benötigte und in einem Zeitraum von 4–5 Jahren 16-mal aufgrund seiner Beschwerden hospitalisiert worden war und ca. 50% der Zeit auf einen Rollstuhl angewiesen war. Nach einem intensiven Entspannungstraining (PMR kombiniert mit Atem- und Imaginationsübungen) konnte der Junge die mittlere Intensität seines Schmerzerlebens von 7 auf 2 (10-Punkte-Skala) reduzieren. Weitere Verbesserungen waren hinsichtlich der Mobilität, der Schlafqualität und der generellen Funktionsfähigkeit zu beobachten. Der Junge benötigte dabei deutlich weniger Medikamente. Zeltzer et al. (1979) vermittelten einer jugendlichen Patientin mit Sichelzellenanämie Selbstkontrollstrategien (PMR, Imagination, Selbsthypnose, Entspannungssuggestion) als Bewältigungsstrategie bei einsetzenden Schmerzen. Dabei wurden sowohl die Häufigkeit von Besuchen der Klinikambulanz wie auch die Dauer der Hospitalisierung deutlich verringert. Walco und Varni (1991) berichten über eine kognitivbehaviorale Therapie bei arthritischem Schmerz, deren Interventionsbausteine denen der Programme von McGrath und Mitarbeitern (1990) und Sanders und Mitarbeitern (1994) sehr ähnlich sind. Sie schildern eine deutliche Schmerzreduktion bei fast allen Kindern (Reduktion der VAS-Werte von 4,89 auf 0,68). Die Autoren betonen, dass die in der Klinik gelernten Strategien von den Kindern recht gut auf die häusliche Situation übertragen werden können. Auch die täglichen Aktivitäten, Schulfehlzeiten und das Wohlbefinden der Kinder wurden durch das Therapieprogramm generell positiv beeinflusst.
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Fallbeispiel
Der 10 Jahre alte Felix wird von seinen Eltern, die wegen seiner häufig auftretenden Migräneattacken und den damit verbundenen Fehlzeiten in der Schule sehr besorgt sind, in unserem Therapie- und Beratungszentrum vorgestellt. Die Kopfschmerzen bestehen seit 4 Jahren und traten zum ersten Mal auf, nachdem Felix’ Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte. Aktueller Anlass der Kontaktaufnahme sind die vermehrt auftretenden Kopfschmerzen seit Beginn des neuen Schuljahres. Die Eltern beschreiben ihren Sohn als ein »Kopfkind«, welches viel grübelt und sich alles zu Herzen nimmt. Weiter setzt er sich nach Aussagen der Eltern oft unter Druck, hat ständig Angst, Fehler zu machen und ist wenig selbstbewusst. Wenn Felix Kopfschmerzen hat, ärgert er sich oft über sich selbst und ist traurig, dass er dann im Schulunterricht nicht mehr mitmachen oder nicht mehr mit seinen Freunden spielen kann. Er beschreibt seine Kopfschmerzen wie einen »Hammer«, der auf seinen Kopf niedersaust. Die Schmerzen treten häufig in den Abendstunden, gelegentlich aber auch mittags nach der Schule auf und werden von Lichtempfindlichkeit, Übelkeit und, wenn
815 44.6 · Fallbeispiel
auch selten, von Erbrechen begleitet. Er beschreibt jedoch auch Kopfschmerzen, welche ohne diese Symptome auftreten und eher einem Kopfschmerz vom Spannungstyp entsprechen. Die Mutter berichtet uns in dem Erstgespräch, dass sowohl sie selbst als auch Felix’ Großmutter unter häufigen Kopfschmerzen leiden. Der Hausarzt diagnostizierte einen Kopfschmerz vom Spannungstyp, während der Neurologe die Diagnose einer klassischen Migräne ohne Aura vergab. Als medikamentöse Behandlung wurde den Eltern die Verabreichung von Paracetamol 500 empfohlen sowie die Einnahme eines Medikaments gegen die Übelkeit. Die Eltern hoffen jedoch auf einen nichtmedikamentösen Behandlungsweg, da sie sich wegen einer zu häufigen Medikamenteneinnahme sorgen. Im Gespräch berichtet Felix der Therapeutin, dass er sehr aufgebracht sei, wenn er Kopfschmerzen bekomme und dann oft denke »Nicht schon wieder ich«, »Warum habe ausgerechnet ich so ein Pech!«. Er hatte auch oft Angst, dass es »etwas Schlimmes« sein könnte. Die Kopfschmerzen kommen nach seiner Aussage häufig nach einem Wetterumschwung, wenn er lange ferngesehen hat oder sich über jemanden geärgert hat. Dies bestätigen die Eltern, die beobachtet haben, dass die Kopfschmerzen häufiger nach Streitereien und Auseinandersetzungen mit Felix’ kleinem Bruder auftreten. Sie berichten von weiteren Auslösern, wie unregelmäßige Mahlzeiten oder wenig Flüssigkeitsaufnahme. Die Familie hat keine eigenen Bewältigungsstrategien entwickelt. Es wird deutlich, dass sich alle relativ hilflos den Kopfschmerzen gegenüber fühlen. In einem weiteren Beratungsgespräch werden Verhaltensweisen der Eltern während der Kopfschmerzen ihres Sohnes exploriert, um beispielsweise Verstärkermechanismen aufzudecken. So konzentriert sich die gesamte Aufmerksamkeit der Familie auf Felix, wenn er Kopfschmerzen hat. Gemeinsam mit den Eltern werden alternative Handlungsweisen erarbeitet (z. B. Aufmerksamkeit schenken und loben in alltäglichen nicht schmerzbezogenen Situationen). Das Trinken und Essen wird genauer beobachtet und notwendige Maßnahmen mit den Eltern und Felix besprochen (z. B. Festlegung einer bestimmten regelmäßigen Trinkmenge). Danach entscheiden sich Eltern und Felix für eine Teilnahme an dem angebotenen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Gruppentraining (mit insgesamt 6 Kindern im Alter von 9 bis 12 Jahren in der Gruppe). Felix wird die Bedeutung der Führung eines Tagebuchs erklärt und mit ihm geübt, wie er es ausfüllen soll. Er ist in der Gruppe anfangs etwas zurückhaltend und skeptisch, interessiert sich jedoch zunehmend für die besprochenen Themen, wie etwa für die Ursachen und körperlichen Reaktionen bei Migräne und Spannungskopfschmerz. Auch die progressive Muskelentspannung weckt sein Interesse, und er übt sie regelmäßig nach der Schule. Unter Einbezug der
Tagebücher werden mögliche auslösende Situationen für den Kopfschmerz besprochen, und Felix bemerkt, dass sowohl Aufregung, wie die Freude vor einem Familienausflug, als auch Ärger und Stress in der Schule oder mit seinem Fußballtrainer oftmals seinen Kopfschmerzen vorausgehen. Er entdeckt auch seine persönlichen Stresssignale: »Ich fühle mich dann oft schlapp, werde nervös…«. Felix lernt, in diesen Situationen die Entspannung anzuwenden. Auch im Umgang mit schmerzbezogenen, »schwarzen Gedanken« kann Felix Alltagsbeispiele einbringen. Wenn er merkt, dass Kopfschmerzen kommen, sagt er sich immer wieder, dass sie den »ganzen Tag anhalten werden«, dass er »auf keinen Fall wird Fußball spielen können« und er »dann ganz traurig wird«. Es werden mit ihm alternative Gedanken erarbeitet, welche er zukünftig in solchen Situationen ausprobieren soll, wie z. B. »Wenn ich mich entspanne, werden die Schmerzen wahrscheinlich besser, und ich kann dann immer noch Fußball spielen«. Die Situationen, die zum Streit mit seinem Bruder und auch Fußballtrainer führen, werden durchgesprochen, und Felix entwickelt Pläne, wie er diesen Situationen vorbeugen will bzw. wie er sich von seinem Ärger distanzieren kann. Felix bereitet das Gruppentraining viel Spaß, er freundet sich sogar mit einigen Teilnehmern der Gruppe an. Er wird zunehmend aktiver und unterstützt auch andere Kinder. In der letzten Trainingssitzung werden der weitere Umgang mit den Kopfschmerzen und die damit zusammenhängenden Probleme der Kinder besprochen. Hier wird deutlich, dass Felix die Entspannungsübungen in letzter Zeit weniger regelmäßig durchgeführt hat. Die Teilnehmer der Gruppe machen Vorschläge für das weitere Üben und basteln ihm zur Erinnerung ein Poster, auf welchem jeder Teilnehmer seine persönliche »Lieblingsübung« des Trainings beschreibt. Felix möchte dieses in seinem Zimmer aufhängen, um so an die Übungen immer erinnert zu werden. Nach dem Training erfolgt ein Abschlussgespräch. Felix und seine Eltern berichten, dass seine Kopfschmerzen nun seltener auftreten, was sich durch die Aufzeichnungen des Kopfschmerztagebuches bestätigt (Reduktion der Kopfschmerzhäufigkeit von 7-mal pro Monat vor dem Training auf 2- bis 3-mal nach dem Training). Sowohl Felix als auch seine Eltern bewerten das Training insgesamt sehr positiv und würden es anderen Betroffenen weiterempfehlen. Dennoch neigt Felix – wenn auch deutlich seltener als vorher – weiterhin zu Frustration beim Auftreten der Kopfschmerzen, verbunden mit negativen Kognitionen über sich selbst. Es werden weitere Therapietermine angeraten, um an den noch bestehenden Problemen zu arbeiten. Diese werden jedoch nicht wahrgenommen, da die Eltern wie auch Felix mit den erreichten Veränderungen zufrieden sind. (Fallbericht: Ellen Trautmann, Universität Göttingen)
44
816
Kapitel 44 · Chronischer Schmerz
44.7
44
Ausblick
Insbesondere bei den hier beschriebenen – für einen bedeutsamen Anteil von Kindern und Jugendlichen hoch belastenden – Schmerzsyndromen, dem Kopf- und eingeschränkt dem Bauchschmerz, existieren kognitiv-behaviorale Trainingsprogramme, deren Wirksamkeit als evidenzbasiert gelten kann. Es wird nicht nur das Hauptziel, die Schmerzminderung in Häufigkeit und Intensität der Attacken erreicht, sondern es deuten sich weitere positive Effekte an: eine Erhöhung der gesundheitsbezogenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und eine positivere Einstellung zu sich selbst und dem eigenen Körper. Das gilt vor allem für multimodale Trainings, in denen diese Veränderungen vorrangig untersucht wurden. Auch die Eltern der behandelten Kinder profitieren von dem Training, das wesentlich auf die Kinder fokussiert und den Eltern nur eine allgemeine Unterstützungsfunktion zuweist, indem sie sich von Sorgen und Gefühlen einer überstarken Verantwortlichkeit entlastet sehen. Langfristige Effekte des Trainings auf Gesundheitsüberzeugungen und -verhalten der Kinder und die weitere Auswirkung auf das Kopfschmerzgeschehen über einen Zeitraum von mehr als 2 Jahren sind bisher nicht untersucht worden. Das heißt, es bleibt bislang ungewiss, ob das Training weitreichende sekundär-präventive Auswirkungen hat. Die bislang entwickelten Behandlungsverfahren erreichen im Wesentlichen Adressanten bis 14 Jahre. Ein internetbasiertes Trainingsprogramm konnte den Zugang zu älteren Jugendlichen verbessern und hat positive Wirkungen. Es sind jedoch noch weitere Fragen offen. Haben die verschiedenen Verfahren (Entspannungstraining, Biofeedback, multimodale Verfahren) ein spezifisch unterschiedliches Wirkungsspektrum bei gleichen behandelten Schmerzsyndromen? Sollten spezifischere Trainingsprogramme für Migräne, KST und für den unspezifischen Bauchschmerz entwickelt werden, die den Syndromunterschieden besser gerecht werden? Vielfach wird die Frage aufgeworfen, ob die Eltern stärker in die Therapie einbezogen werden sollten bzw. ob besondere Interventionsmodule, die sich direkt an die Eltern wenden und sie im Umgang mit dem Schmerzproblem ihres Kindes schulen, dem Training der Kinder hinzugefügt werden sollten (Seemann et al. 2002; Gerber u. Gerber-von Müller, 2007). Eine Untersuchung der eigenen Arbeitsgruppe zeigt, dass die Wirksamkeit der Intervention durch Einbezug der Eltern nicht wesentlich gesteigert werden konnte (Kröner-Herwig et al. 1998). Eine endgültige Beantwortung steht aber wegen des Mangels an Forschungsstudien noch aus. Insgesamt wäre es wünschenswert, dass sich mehr Psychotherapeuten für diesen Anwendungsbereich interessieren und sich ein Praxisfeld erobern, in dem sie offensichtlich sehr Positives für die Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen leisten können.
Zusammenfassung Chronischer oder rekurriender Schmerz bei Kindern und Jugendlichen ist besonders in Form von Kopfschmerzen (Migräne, Spannungskopfschmerz) und Bauchschmerzen häufiger als ursprünglich angenommen. Kopfschmerzen werden als die Schmerzen mit der größten Prävalenz im Altersbereich ab 7 Jahren betrachtet. Eine neue deutsche epidemiologische Studie weist auf eine Prävalenz von etwa 16% bei Kindern und Jugendlichen zwischen 9 und 14 Jahren hin, die nach eigenen Angaben in den letzten 6 Monaten mindestens einmal pro Woche an Kopfschmerzen litten. Bauchschmerzen haben ihre Prävalenzspitze bis zum Alter von 10 Jahren. Mädchen (etwa ab dem Alter von 11 Jahren) leiden häufiger an Schmerzen als Jungen. Unspezifische Rückenschmerzen, die die Schmerzprävalenz im Erwachsenenalter bestimmen – ebenfalls zu den sog. funktionellen, nicht krankheitsabhängigen Schmerzen gehörend – sind im Kindes- und Jugendalter weniger häufig und beeinträchtigend. Die meisten Schmerzforscher gehen davon aus, dass häufige oder andauernde Schmerzen ohne eine eindeutige organische Verursachung von biopsychosozialen Einflussfaktoren abhängig sind. Die biologischen Faktoren sind nicht hinreichend aufgeklärt. Möglicherweise gibt es genetische Einflüsse, die über periphere und zentrale neuronale Mechanismen die Schmerzsensibilität bzw. Auslösebedingungen beeinflussen. Auch psychologische Korrelate wie Ängstlichkeit und Depressivität modulieren die Schmerzreagibilität. Lernprozesse wie Modelllernen sowie respondentes und operantes Lernen bestimmen insbesondere auch die behaviorale Komponente des Schmerzes mit, welcher damit auch durch den sozialen Kontext bestimmt wird. In die Schmerzdiagnostik müssen Kindern und Jugendliche sowie deren Eltern einbezogen werden. Sie soll sowohl klinische Interviewverfahren wie standardisierte Testinstrumente und andere Beobachtungsverfahren (z. B. Tagebücher) nutzen, um die kognitiven, emotionalen und behavioralen Ebenen des Schmerzes unter der Berücksichtigung des sozialen Kontextes zu erfassen. Die Indikation für therapeutische Bemühungen ergibt sich aus Dauer und Häufigkeit des Schmerzes wie aus der erlebten Beeinträchtigung. Psychologische evaluierte Verfahren der Schmerzbehandlung sind Relaxation, Biofeedback und sog. multimodale Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie. Besonders im Bereich des Kopfschmerzes gibt es viele Studien, die die Effektivität der genannten Verfahren auch mit Hilfe von Metaanalysen deutlich dokumentieren. Auch ist die Effizienz relativ hoch, weil oft in Gruppen behandelt wird (Relaxation, multimodale Verfahren) und relativ wenig Behandlungssitzungen gebraucht werden (<10). Der Stand der Evaluationsforschung im Bereich des Bauchschmerzes ist weniger gut. Andere Schmerzsyndrome (unter Einschluss auch krankheitsabhängiger Schmerzen) sind
817 Literatur
oft nur im Kontext von Fallstudien untersucht worden, geben aber Anlass zu positiven Erwartungen. Internetbasierte Interventionen im Selbsthilfeformat könnten die Erreichbarkeit der Schmerztherapie für Kinder und Jugendliche fördern. Es wird für einen frühzeitigen Einsatz psychologischer Behandlung plädiert, da die Erwartung besteht, dass psychologische Interventionen langfristig eine sekundär-präventive Wirkung entfalten und damit zu einer Minderung der Gefahr der dauerhaften Chronifizierung im Erwachsenenalter führen.
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44
818
Kapitel 44 · Chronischer Schmerz
Weiterführende Literatur Kröner-Herwig-B. & Pothmann, R. (2007). Schmerz bei Kindern. In B. Kröner-Herwig, J. Frettlöh, R. Klinger & P. Nilges (Hrsg.), Schmerzpsychotherapie – Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Behandlung (S. 171–206). Berlin: Springer. McGrath, P.; Finley, G.A. (Eds.) (2003). Pediatric pain: Biological and social context. Seattle: IASP Press. Zernikow, B. (Hrsg.) (2005). Schmerztherapie bei Kindern. Berlin: Springer.
44
45
45 Asthma bronchiale Petra Warschburger
45.1
Einleitung
– 820
45.2
Darstellung der Störung – 820
45.2.1 45.2.2 45.2.3 45.2.4 45.2.5
Definition und Phänomenologie – 820 Klassifikation – 821 Epidemiologie – 821 Störungsbeginn und Verlauf – 822 Komorbidität – 822
45.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
45.4
Diagnostik – 826
45.4.1 45.4.2
Medizinische Diagnostik – 826 Psychologische Diagnostik – 826
– 823
45.5
Therapeutisches Vorgehen
45.5.1 45.5.2 45.5.3 45.5.4
Entspannungs- und Biofeedbackmethoden – 829 Patientenschulungsprogramme – 829 Einbeziehung der Eltern – 833 Gruppen- vs. Einzeltherapie – 834
– 828
45.6
Fallbeispiel
– 835
45.7
Empirische Belege
45.7.1 45.7.2
Entspannung und Biofeedback – 838 Patientenschulungsprogramme – 838
45.8
Ausblick
– 838
Zusammenfassung Literatur
– 838
– 838
– 839
Weiterführende Literatur Internetadressen – 839
– 839
820
Kapitel 45 · Asthma bronchiale
45.1
45
Einleitung
Was haben die Spitzensportlerinnnen Anni Friesinger (Eisläuferin) oder Sandra Völker (Schwimmerin) gemeinsam? Alle beide leiden sie unter Asthma bronchiale. Die Liste der Leistungssportler mit Asthma bronchiale ist sehr lang und widerspricht unseren gängigen Vorstellungen vom Krankheitsbild: Diese Menschen sind beruflich nicht nur sehr erfolgreich, sondern dies auch in einem Bereich, der als unvereinbar mit der Erkrankung gilt. Asthma zählt zu den häufigsten chronischen Erkrankungen im Kindesund Jugendalter. Trotz der hohen Verbreitung von Asthma in der Bevölkerung – man spricht von ca. 4–6 Millionen Betroffenen in Deutschland – ist es ein Krankheitsbild, das mit vielen Klischees, wie »man darf nicht Sport treiben«, »man ist nicht belastbar« oder auch »ist doch alles rein psychosomatisch«, verbunden ist. Asthma ist ein Krankheitsbild, das oft stark unterschätzt wird (»So ein bisschen Asthma ist doch nicht schlimm. Es gibt viel schlimmere Erkrankungen.«), andererseits ist Asthma der häufigste Grund für das Aufsuchen der Notaufnahme. In Deutschland sterben pro Jahr mehr als 3.000 Personen an den Folgen der Erkrankung, d. h. alle 3 Stunden stirbt ein Bundesbürger an Asthma. Viele dieser Todesfälle wären vermeidbar, wenn die Einsicht in die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Behandlung und die Bereitschaft, dies auch im Alltag umzusetzen, vorhanden wäre. Eine gelungene Krankheitsbewältigung beeinflusst entscheidend den Krankheitsverlauf. Die Beispiele von Spitzensportlern zeigen, dass Asthma bronchiale eine Erkrankung ist, die man mit angemessener professioneller Hilfe »in den Griff bekommen kann«. Verhaltensmedizinische Behandlungsprogramme leisten hierzu einen wichtigen Beitrag.
45.2
Darstellung der Störung
45.2.1 Definition und Phänomenologie
Eine einheitliche Definition des Asthma bronchiale gestaltet sich sehr schwierig, da es sich nicht um eine homogene, pathophysiologische Krankheitseinheit, sondern vielmehr um eine Gruppe von schwer voneinander abzugrenzenden Subtypen handelt. International hat man sich auf folgende Definitionsmerkmale geeinigt: ! Asthma bronchiale ist eine chronisch entzündliche Atemwegserkrankung, die zu einer variablen, reversiblen Verengung (Obstruktion) der Atemwege führt. Die Folge ist, dass die bereits verbrauchte, sauerstoffarme Luft nicht ausreichend ausgeatmet wird und demzufolge weniger sauerstoffreiche Luft zur Verfügung steht.
Asthma bronchiale äußert sich symptomatisch als meist anfallsartig auftretende Phasen mit erschwerter Atmung, Giemen oder »Pfeifen« in der Brust, Kurzatmigkeit, trockenem, meist nachts oder frühmorgens auftretendem Husten sowie Engegefühlen in der Brust. Solche Anfälle können Minuten oder sogar Stunden andauern; eine Häufung während der zweiten Nachthälfte ist charakteristisch. Die Symptome variieren inter- und intraindividuell in ihrer Ausprägung (von leichterem Husten bei körperlicher Aktivität bis hin zur Unfähigkeit zu sprechen) und sind in der Regel reversibel, d. h. verschwinden spontan oder nach Behandlung mit bronchienerweiternden Medikamenten (sog. Bronchodilatatoren) wieder. Die Atembeschwerden treten nach Kontakt mit verschiedenen Auslösern auf, wie z. B. Allergenen (Hausstaubmilben, Felltieren, Pollen), viralen Infektionen und unspezifischen Inhalationsreizen (Tabakrauch, Wetter, Chemikalien), aber auch in Folge körperlicher Anstrengung und starker Emotionen (z. B. Ärger, Wut, aber auch Lachen). Es gibt zwar Auslöser, die auf die Mehrzahl der Asthmatiker zutreffen (wie z. B. Hausstaubmilben- oder Pollenallergie), aber keine universellen Auslöser. Das individuelle Auslösespektrum muss daher immer abgeklärt werden (vgl. National Asthma Education and Prevention Program 2007; Reinhardt 1999).
Wie fühlen sich Atemnot und ein Asthmaanfall an? Zustände von Atemnot unterscheiden sich in ihrem Schweregrad, in ihrem Beginn (langsam oder plötzlich) und ihrer Lebensbedrohlichkeit. Jedes Kind erlebt den Asthmaanfall anders – vom persönlichen Erleben kann nicht unbedingt auf dessen Schwere oder Bedrohlichkeit geschlossen werden. Die betroffenen Kinder berichten, dass sie das Gefühl hätten, als würde man ihnen einen Gürtel um die Brust schnallen und immer enger ziehen, als versuchten sie, durch ein dickes Kissen oder einen dünnen Strohhalm ein- und auszuatmen. Die Bronchien schmerzen, es kann ihnen schwindlig werden, sie haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, die Finger fühlen sich taub an, das Herz fängt an zu rasen – Tunnelblick kann einsetzen. Von außen direkt wahrnehmbare Zeichen sind die verstärkte Atemtätigkeit (oft mit einer Verkrampfung der Halsmuskulatur), das Fiepen und Rasseln beim Atmen, das verstärkte Schwitzen und die motorische Unruhe. Blauwerden der Lippen und Unfähigkeit zu sprechen, sind bereits Zeichen für einen schweren Asthmaanfall. Diese Anfälle können von extremer Todesangst und Panikgefühlen begleitet sein. Die Gedanken »rasen dann nur noch um die Frage, wie man an Luft kommt oder ob man sterben muss«.
821 45.2 · Darstellung der Störung
Strohhalmexperiment Anbei ein kleines Experiment, das auch Angehörigen hilft, die Empfindungen beim Asthma nachzuvollziehen: Nehmen Sie einen schmalen Strohhalm. Klemmen Sie sich die Nase zu (z. B. mit einer Wäscheklammer) und atmen Sie 5 Minuten lang durch diesen Strohhalm ein und aus. Sie können auch kleinere »Aktivitäten« integrieren wie z. B. ein paar Kniebeugen machen oder versuchen, eine Kerze durch den Strohhalm auszublasen.
45.2.2 Klassifikation
Als körperliche Erkrankung wird Asthma nicht im DSMIV klassifiziert. Unter 316 können psychische Faktoren kodiert werden, die eine körperliche Erkrankung (z. B. Asthma, Diabetes etc.) negativ beeinflussen, z. B. indem: 4 die (medizinische) Behandlung behindert wird (z. B. fehlende Compliance bei der Umsetzung der Behandlungsanforderungen), 4 der Krankheitsverlauf sich verschlechtert, 4 psychische Faktoren selbst ein Gesundheitsrisiko darstellen oder von Krankheitswert (z. B. komorbide Angststörung) sind oder 4 körperliche Stressreaktionen Krankheitssymptome auslösen oder verschlimmern (z. B. Asthmaanfall in Stresssituationen). Hierzu zählen psychische Störungen, Symptome, Bewältigungsstile oder Persönlichkeitsmerkmale, körperliche Stressreaktionen, gesundheitsgefährdendes Verhalten und unspezifische psychologische Faktoren wie zwischenmenschliche Probleme. Erreicht ein psychischer Faktor selbst Krankheitswert, wird dieser auf der Achse I des DSMIV vermerkt. In der ICD-10 ist die Kodierung vergleichbar: Unter F54 (psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten) sollen
psychische und Verhaltenseinflüsse erfasst werden, die die Manifestation von körperlichen Erkrankungen wesentlich beeinflussen. Dabei soll es sich um lang anhaltende Störungen handeln (wie Erwartungsangst oder Sorgen), die eine anderweitige Klassifizierung nicht rechtfertigen. Das Asthma wird zusätzlich verschlüsselt. Von medizinischer Seite kann das Asthma entweder nach dem Schweregrad oder der Ätiologie klassifiziert werden. Sehr häufig wird in extrinsisches (nur allergische Auslöser), intrinsisches (keine allergische Diathese oder Auslöser; z. B. Infekte oder körperliche Anstrengung) und gemischtes Asthma eingeteilt. Die gemischten Formen sind am häufigsten. Behandlungsrelevant ist die Einteilung in vier Schweregradgruppen nach Symptomatik und Lungenfunktion. Bezogen auf die Lungenfunktion sind vor allem der FEV1 (forciertes Erstsekundenvolumen, d. h. Volumen, das innerhalb der ersten Sekunde ausgeatmet wird), MEF 25/50/75 (maximaler Expirationsfluss bei 25/50/75% des maximalen Lungenvolumens = Vitalkapazität) und PEF (»peak exspiratory flow« = maximale Atemstoßgeschwindigkeit) relevant, um den Zustand der kleinen und großen Atemwege zu beurteilen (. Tab. 45.1).
45.2.3 Epidemiologie
Asthma bronchiale gilt als die häufigste chronische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Zuverlässige Angaben zur Häufigkeit liegen kaum vor. Die Angaben schwanken zwischen verschiedenen Studien teilweise erheblich – vor allem aufgrund unterschiedlicher Methoden (z. B. Alterszusammensetzung der Stichproben, Erhebungsinstrumente, subjektive Angaben vs. ärztliche Untersuchungen). Laut einer Metaanalyse liegt die Prävalenz in den westlichen Industrienationen zwischen 2 und 15% (von Mutius u. Martinez 1999). Die höchsten Raten wurden für die Industrienationen im asiatischen Raum und Südamerika berichtet. Für Deutschland konnte mehrheitlich ein Anstieg der Prävalenz festgestellt werden (Asher et al. 2006). Mit 4,7% lie-
. Tab. 45.1. Schweregradklassifikation nach den Leitlinien der Gesellschaft für Pädiatrische Pneumologie (2007) Schweregrad
Symptome
Lungenfunktion
Schwergradig persistierend
Anhaltende tägliche Symptome, häufig auch nächtlich
FEV1 <60% des Sollwertes oder PEF <60% des persönlichen Bestwertes; PEF-Tagesvariabilität >30%
Mittelgradig persistierend
An mehreren Tagen pro Woche und nächtliche Symptome
Auch im Intervall verengte Bronchien: FEV1 <80 % des Sollwertes und/oder MEF 25–75 bzw. MEF 50 <65%; PEF-Tagesvariabilität >30%
Geringgradig persistierend
Intervall zwischen Episoden liegt unter 2 Monaten
Nur episodisch verengte Bronchien mit dann pathologischen Lungenfunktionswerten: FEV1 <80% des Sollwertes und/oder MEF 25–75 bzw. MEF 50 <65%, PEF-Tagesvariabilität 20–30 % Lungenfunktion im Intervall meist noch ohne pathologischen Befund
Intermittierend
Intermittierender Husten, leichte Atemnot; symptomfreies Intervall beträgt mehr als 2 Monate
Nur intermittierend obstruktiv; Lungenfunktion oft normal: FEV1 >80% des Sollwertes: MEF 25–75 bzw. MEF 50 >65%; PEF-Tagesvariabilität <20%
FEV1 Erstsekundenvolumen; PEF Spitzenfluss; MEF maximaler exspiratorischer Fluss.
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Kapitel 45 · Asthma bronchiale
gen die Angaben in einer repräsentativen deutschlandweiten Studie des Robert-Koch-Instituts deutlich unter den internationalen Raten (Kamtsiuris et al. 2007). Die Häufigkeit schwankt mit dem Alter: Der Häufigkeitsgipfel liegt etwa im Alter von 11 bis 13 Jahren bei 8,6% für die Jungen und 5,4% für die Mädchen, bei den 3- bis 6-jährigen Jungen bzw. Mädchen sind 3,6 bzw. 0,3% betroffen. Die deutlichen Ost-West-Unterschiede der 1990er Jahre (mit höheren Zahlen in den westlichen Bundesländern) haben sich mittlerweile nivelliert – möglicherweise infolge der angeglichenen Lebensbedingungen. Generell wurde in den meisten Studien eine höhere Verbreitung in Familien mit einem höheren sozioökonomischen Status gefunden. Widersprüchlich sind die Befunde zum Einfluss des Migrationsstatus. Im Kindes- und Jugendalter ist eine höhere Verbreitung des Asthmas bronchiale bei den Jungen zu beobachten; ab der Pubertät kehrt sich diese Geschlechterverteilung allerdings um.
chische Störungen verbunden. Die Mehrzahl der Studien stellte für Kinder mit Asthma erhöhte Raten vor allem für Angststörungen und Depression fest. Die Angaben zur Prävalenz von komorbiden psychischen Störungen schwanken sehr stark. Mit Hilfe von Screeningverfahren wie der »Child Behavior Checklist« (CBCL) wurde der Anteil der auffälligen Angstwerte mit zwischen 10 und 35% beziffert. Die höheren Auffäligkeitsraten wurden vor allem in der Gruppe mit einem schweren Asthma gefunden. Wamboldt et al. (1996) diagnostizierten bei 28% der Kinder und Jugendlichen mit schwerem Asthma eine Angststörung (nach DSM-III-R), bei 24% eine affektive Störung; externalisierende Störungen (wie Aggression oder Hyperaktivität) wurden lediglich bei 8% diagnostiziert. Insgesamt spricht man von einem ungefähr um den Faktor 2–3 erhöhten Risikopotenzial (Lavigne u. Faier-Routman 1992; McQuaid et al. 2001).
Panik und Asthma 45.2.4 Störungsbeginn und Verlauf
Generell kann Asthma in jedem Alter beginnen, aber das Erstmanifestationsalter liegt zumeist in den ersten 5 Lebensjahren. Der Verlauf ist chronisch-persistierend, wobei oft im Jugendalter eine Spontanremission (d. h. Beschwerdefreiheit) beobachtet werden kann. Die Angaben zu den Remissionsraten schwanken zwischen 40 und 80%. Als ungünstig erwiesen sich u. a. die familiäre Vorbelastung, das Auftreten weiterer atopischer Erkrankungen (wie Heuschnupfen oder Neurodermitis) beim Kind sowie eine ausgeprägte Symptomatik. Mit zunehmendem Alter sinken die Chancen auf eine Spontanremission oder Symptombesserung (von Mutius u. Nowack 2000). Asthma bronchiale ist mit hohen Hospitalisierungs- und Mortalitätsraten verbunden. Hierfür werden vor allem die fehlende Behandlungscompliance (z. B. mangelnde Befolgung von Notfallplänen) sowie psychische Belastungen verantwortlich gemacht (Weinstein 1998).
45.2.5 Komorbidität
Asthma gehört zum atopischen Formenkreis. Unter Atopie versteht man eine familiär gehäuft auftretende, genetisch determinierte Bereitschaft, meist auf Umweltreize überempfindlich zu reagieren. Damit ist das Risiko, eine weitere Erkrankung aus diesem Formenkreis (wie Neurodermitis oder Heuschnupfen) zu entwickeln, erhöht. Aussagen darüber, inwieweit diese atopischen Manifestationen den Beginn und Verlauf des Asthma bronchiale beeinflussen, liegen kaum vor. Bei Komorbidität mit atopischer Dermatitis wird allgemein von einem schwereren Verlauf des Asthma bronchiale ausgegangen. Asthma ist – wie andere chronisch körperliche Erkrankungen – mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für psy-
Ängste und Panikgefühle während einer Asthmaattacke sind bei ca. zwei Dritteln der asthmakranken Kinder und Jugendlichen anzutreffen. Gerade das Ausmaß von Ängsten scheint das Asthmamanagement beträchtlich zu beeinflussen. Ängstliche Kinder haben mehr Schwierigkeiten, ihre Lungenfunktion korrekt einzuschätzen. Hohe wie niedrige Angstwerte sind mit einer geringeren Compliance verbunden. Der Zusammenhang zwischen Ängsten und Asthma ist sehr komplex. Die mit Angst und Panik verbundenen körperlichen Reaktionen wie Schwitzen, erschwerte Atmung, Schmerzen in der Brust oder Zittern können zugleich Anzeichen für einen bevorstehenden Asthmaanfall sein. Die erhöhte Sensibilität für körperliche Prozesse, die bei Panikstörungen eine zentrale Rolle spielt, behindert eine angemessene Symptomwahrnehmung. Veränderungen in der Atemtätigkeit können dann fälschlicherweise als Zeichen für einen bevorstehenden Asthmaanfall interpretiert werden, in dessen Folge unnötige Medikamente eingenommen werden oder der Notarzt gerufen wird. Starke Ängste können wiederum eine Asthmaattacke auslösen oder verschlimmern, z. B. durch das häufige Hyperventilieren bei Panikattacken. Eine psychopathologische Sichtweise wird den Betroffenen nicht gerecht. Die psychischen Auffälligkeiten müssen nicht unbedingt Krankheitswert besitzen, um die Krankheitsbewältigung zu behindern. Neben dem Auftreten von komorbiden psychischen Störungen wurde vor allem in jüngster Zeit die gesundheitsbezogene Lebensqualität untersucht. Lebensqualität ist ein multifaktorielles Konstrukt, das die funktionalen Einschränkungen in verschiedenen Aspekten des Alltags (wie körperliche Aktivität, emotionales Wohlbefinden, soziales Funktionsniveau etc.) berücksichtigt, ohne eine Aussage über klinisch relevante Störungen. In den meisten Studien wiesen die asthmakranken Kinder und Jugendlichen im Vergleich mit einer gesun-
823 45.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
den Kontrollgruppe niedrigere Lebensqualitätswerte auf – vor allem im Bereich der körperlichen Aktivität (vgl. Varni et al. 2007; Warschburger 2000). Asthma kann zu einer Reihe von sozialen Belastungen führen: Kinder mit Asthma fehlen durchschnittlich 10 Tage/ Jahr in der Schule; es finden sich allerdings keinerlei Hinweise darauf, dass die betroffenen Kinder in der Schule
schlechtere Leistungen erbringen oder weniger intelligent sind (zusammenfassend: Warschburger 2000). ! Kinder und Jugendliche mit Asthma sind geringfügig stärker als die Durchschnittsbevölkerung belastet. Die interindividuelle Variation in den Belastungsreaktionen ist enorm und sollte detailliert erfasst werden.
Exkurs Wodurch wird das psychosoziale Belastungserleben beeinflusst? 4 Merkmale der Erkrankung wie der Schweregrad Kinder mit Asthma stellen eine sehr heterogene Gruppe (r=0,16) und die Prognose (r=0,10) sind von geringer dar. Zwar fanden sich häufig erhöhte psychosoziale Belastungen, aber die Unterschiede innerhalb der Gruppe der Bedeutung. Gar keinen Zusammenhang ergab sich zur asthmakranken Kinder waren oftmals größer als zwischen Dauer der Erkrankung. 4 Eine hohe psychosoziale Belastung der Mutter (r=0,40), asthmakranken und gesunden Kindern. Lavigne und Faier-Routman (1992, 1993) wollten vor allem die Moderaeheliche Unzufriedenheit (r=0,21) und verminderter fatoren des Belastungserlebens bei chronisch körperlichen miliärer Zusammenhalt (r=0,38) gingen mit stärkeren Erkrankungen untersuchen und stellten fest, dass sich die Problemen einher. 4 Das gehäufte Auftreten von Stressoren (wie kritische Leverschiedenen chronisch körperlichen Erkrankungen in bensereignisse) war mit einer geringeren Anpassung verihrem Belastungserleben kaum unterscheiden (sog. nonbunden; der sozioökonomische Status spielte keine Rolle. kategorialer Ansatz). Folgende Variablen stehen im Zu4 Jungen wiesen mehr Probleme auf (r=0,49) und mit sammenhang mit dem Belastungserleben: 4 Geringe Intelligenz des Kindes (Korrelation r=0,56), dem Alter verstärkten sich die Probleme leicht (r=0,11). niedriges Selbstkonzept (r=0,52) und geringe Copingfertigkeiten (r=0,43) gehen mit einem verstärkten BeInsgesamt deutete sich an, dass weniger medizinische Parameter als die Stressverarbeitungsstrategien des Kindes deslastungserleben einher. sen Belastungserleben beeinflussen.
Zusätzlich ist die psychosoziale Situation und die Komorbidität bei den Eltern, vor allem der Mutter zu beachten. Fast durchgängig ergab sich eine leicht erhöhte Rate an psychischen Störungen bei der Mutter im Vergleich zu Kontrollgruppen. Dieser Befund beruht auf Studien in klinischen Gruppen mit einem schlecht kontrollierten Asthma und ist nicht generalisierbar. Weitreichende psychosoziale Belastungen wie Schuldgefühle (gegenüber dem Kind; den Geschwistern), Ängste über die Zukunft des Kindes, gehäuftes Auftreten innerfamiliärer Konflikte, Überforderungen beim Management der Erkrankung etc. sind gut dokumentiert (vgl. Warschburger u. Petermann 2000), vor allem kurz nach der Erstmanifestation der Erkrankung. Inzwischen zeigen zahlreiche Studien, dass ungünstige familiäre Charakteristika wie z. B. Auftreten von familiären Schwierigkeiten oder unklare Verantwortlichkeit den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen. Dabei ist von einer reziproken Beziehung zwischen psychologischen Faktoren und Asthmamorbidität auszugehen (Kaugars et al. 2004).
45.3
Modelle zu Ätiologie und Verlauf
Bis zum heutigen Tag fehlt eine einheitliche ätiologische Definition des Asthma bronchiale. In jüngster Zeit wird die chronische Entzündung (Inflammation) der Atemwege als ursächlich betrachtet. Diese Entzündung führt zu einer bronchialen Überempfindlichkeit (Hyperreagibilität) auf sehr unterschiedliche, meist unschädliche Reize. Es treten die beschriebenen Episoden von »Lufthunger«, Keuchen, Atemlosigkeit etc. auf. Die Verengung der Bronchien kann durch drei pathologische Prozesse in den Bronchien entstehen: 4 die Muskeln, die die Bronchien umgeben, ziehen sich zusammen, 4 die Schleimhaut, die die Bronchien auskleidet, schwillt durch die Entzündung an und 4 produziert dann noch sehr zähen Schleim, der die Bronchien zusätzlich verstopft.
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Kapitel 45 · Asthma bronchiale
Exkurs
45
Historische Entwicklung der Asthmadefinition Die Bedeutung des Wortes »Asthma« hat sich im Laufe der Zeit stark gewandelt. Ursprünglich kommt das Wort aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie »keuchen«, »Atemnot«, »Kurzatmigkeit«. Bezeichnet wurde jedoch damit nicht ein Krankheitsbild, sondern – wie bei Homer – ein normales Schnaufen und Keuchen der Helden. Erstmals Hippokrates von Kos (460–375 v. Chr.) verwandte den Begriff Asthma zur Bezeichnung eines Krankheitsbildes mit anfallsartig auftretender Atemnot, Husten, glasig-zähem Auswurf und Geräuschen beim Ausatmen wie Brummen oder Pfeifen. Im Rom der Zeitenwende bezeichnet Celsus Asthma als eine Steigerungsform der Atemnot (Dyspnoe – Asthma) und stellt als Erster eine Beziehung zwischen der Verengung der Atemwege und dem pfeifenden Geräusch her. 200 Jahre später beschrieben Aretaeus aus Kappadokien und Galen aus Pergamon Asthma dann als eine Erkrankung der Atemwege. Im Mittelalter erkannte Moses Maimonides, dass die Symptome oft mit einer Erkältung begannen und empfahl, den Aufenthalt in umweltverschmutzter Luft zu meiden. Seit dem 16. Jahrhundert wird Asthma als eigenständige Krankheit betrachtet und differenzialdiagnostisch von anderen Krankheitsbildern, die zu Atemnot führen,
Übereinstimmend wird von einem multifaktoriellen, biopsychosozialen Ätiologiemodell auf der Basis einer genetischen Prädisposition ausgegangen (. Abb. 45.1). Es ist ausreichend dokumentiert, dass eine Familiengeschichte mit atopischen Erkrankungen (wie Asthma, Neurodermitis oder Rhinitis) einen starken Risikofaktor für die Entwicklung von Asthma bronchiale beim Kind darstellt. So steigt die Wahrscheinlichkeit, Asthma zu entwickeln, ungefähr um das Dreifache, wenn Mutter und Vater selber unter Asthma oder einer anderen atopischen Erkrankung leiden. Sie ist besonders groß, wenn bei beiden Elternteilen eine identische Manifestation vorliegt (vgl. von Mutius u. Reinhardt 1999). Monozygote weisen im Vergleich zu dizygoten Zwillingspaaren deutlich höhere Konkordanzraten auf. Der
abgegrenzt. Die Ätiologiemodelle wandelten sich mit der Zeit und den damit verbundenen diagnostischen Möglichkeiten. Im 18. Jahrhundert galt eine »anatomische Verengung der Atemwege« mit Ansammlung von Flüssigkeit in den Atemwegsmembranen als Ursache des Asthmas. Erst im 19. Jahrhundert wurde die Verbindung zwischen der Erkrankung und den Muskeln der Atemwege hergestellt. Bis weit ins 20. Jahrhundert führte man Asthma auf nervliche Einflüsse zurück (psychosomatische Betrachtung des Asthma bronchiale). Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Bronchodilatatoren zur Behandlung eingesetzt. Seit rund 4 Jahrzehnten wird die entzündliche Natur des Asthma bronchiale betont, und Kortikosteroide hielten ihren Einzug in die Behandlungsschemata. Während zwar Einigkeit darüber besteht, dass Asthma immer Asthma bronchiale meint und Begriffe wie Herzasthma oder Asthma cardiale nicht mehr gebraucht werden sollten, gehen die Meinungen über die Definition des Asthmas auch heute noch auseinander. Dies gipfelte unlängst in einem Editorial des Lancet in der Forderung, dass man den Begriff doch ganz abschaffen solle, da er so viel Verwirrung stifte: Asthma stelle keine Krankheitsentität dar, sondern nur die klinische Manifestation ganz unterschiedlicher Erkrankungen.
Anteil der hereditären Komponente liegt bei rund 50% (von Mutius u. Martinez 1999). Genetische Faktoren allein können damit das Auftreten von Asthma bronchiale nicht erklären. Es wird davon ausgegangen, dass auf dem Boden einer genetischen Organvulnerabilität eine prä- und postnatale Allergenexposition dann gemeinsam mit adjuvanten Faktoren (wie z. B. viralen Infektionen, Umweltfaktoren) die bronchiale Hyperreagibilität einleitet, die dem Asthma zugrunde liegt. Zahlreiche Trigger können auf der Basis der bronchialen Hyperreagibilität zu einer Bronchoobstruktion führen und den entzündlichen Krankheitsprozess unterhalten. Auch psychologische Faktoren wie Persönlichkeit, familiäre Bedingungen oder akute Stressoren sind an der Aufrechterhaltung des Asthma bronchiale beteiligt.
Exkurs Verbreitete Annahmen über die Rolle der Psyche Die Rolle psychischer Faktoren für die Auslösung und Aufrechterhaltung des Asthma bronchiale wurde lange Zeit sehr kontrovers diskutiert. In früheren Arbeiten wurde Asthma oft als »psychogene Erkrankung« betrachtet und nach psychogenen Ursachen gesucht. Die klassische Psychoanalyse sah diese in der frühen Mutter-Kind-Beziehung. So bezeichneten French und Alexander (1941) die Angst des asthmakranken Kindes vor der Trennung von 6
der Mutter als Hauptursache und den Asthmaanfall als unterdrückten Schrei nach der Mutter. Auch versuchte man spezifische Persönlichkeitsfaktoren zu finden, die zur Entwicklung eines Asthma bronchiale prädisponieren sollten (sog. »Asthmapersönlichkeit«). Die Betroffenen wurden als ängstlich und gleichzeitig aggressiv beschrieben. Minuchin (1977) beschrieb die Interaktionsmuster in den Familien als pathogen und krankheitsverursachend (sog. »psychosoma-
825 45.3 · Modelle zu Ätiologie und Verlauf
tische Familien«): Diese Familien zeichnen sich seiner Ansicht nach durch ein hohes Maß an Überbehütung, Vermeidung von Konflikten (aus Angst vor einem erneuten Krankheitsschub), Rigidität (Konflikte werden geleugnet; ein intaktes Familienleben wird »vorgelebt«) und starke Verstrickungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern aus (keine klaren Grenzen zwischen den Generationen). Diese
Die Rolle der emotionalen Faktoren als auslösende und den Krankheitsprozess aufrechterhaltende Bedingungen ist weitgehend akzeptiert. In klinischen Fallberichten finden sich eindrucksvolle Berichte von Zusammenhängen zwischen der Psyche und Asthma wie z. B. die Auslösung eines Asthmaanfalls durch den bloßen Anblick eines Blumenfotos. Systematischere Untersuchungen konnten diesen klinischen Eindruck weitgehend bestätigen. Retrospektiv benennen ca. 30% der Betroffenen emotionale Faktoren wie Ängste, Trauer oder auch Wut als Auslöser für einen Asthmaanfall. Prospektive Studien konnten das zeitliche Ablaufmuster bestätigen. Die Höhe des Zusammenhangs zwischen Stresserleben und Atembeschwerden ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Eine direkte kausale Beziehung zwischen Stress und Asthma scheint wohl eher nicht zu bestehen; zwei vermittelnde Pfade werden postuliert: 4 veränderte physiologische Reaktionen unter Stress und 4 das veränderte Gesundheitsverhalten, d. h. die Compliance im Umgang mit den Behandlungsanforderungen.
Konzepte konnten nicht überzeugend empirisch untermauert werden: Zwar finden sich in Studien beispielsweise häufig hohe Angstwerte bei Asthmapatienten oder in Familien ein hohes Maß an Überbehütung, prospektive Studien – auch bei anderen chronischen Krankheitsbildern – weisen diese jedoch eher als Folge denn als Ursache der Erkrankung aus (vgl. Gustafsson 1997; Warschburger 2000).
Experimentell wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen negativer Befindlichkeit und Abfall der FEV1-Werte sowie weiterer physiologischer Marker festgestellt (vgl. Wright et al. 1998). Der Zusammenhang zwischen psychosozialen Faktoren und Gesundheitsverhalten wurde relativ selten untersucht; übereinstimmend deuten die Befunde darauf hin, dass sowohl die psychosoziale Belastung des Kindes wie auch seiner Eltern und ungünstige familiäre Konstellationen mit einer verminderten Compliance, einer erhöhten Rate an Notfallaufnahmen und einem ungünstigen Krankheitsverlauf einhergehen (Kaugars et al. 2004; Warschburger 2000; Wright et al. 1998). Psychosoziale Belastungen sind damit nicht nur Folge des Asthmas, sondern sie können auch ihrerseits die Beschwerden intensivieren und auslösen. Das Erleben verstärkter Symptome trägt dann wiederum zu einem stärkeren Erleben verminderter Kontrolle und fehlender Selbstwirksamkeit bei. Notwendige kompensatorische Maßnahmen werden u. U. nicht ergriffen oder die Dauer-
. Abb. 45.1. Biospsychosoziales Modell des Asthma bronchiale. (Aus Warschburger 2005, S. 272)
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Kapitel 45 · Asthma bronchiale
medikation vernachlässigt, wodurch wiederum die Gefahr von weiteren Asthmaschüben steigt. Psychosoziale Belastung und unangemessener Umgang mit den Behandlungsanforderungen sind in vielfältiger Weise miteinander verwoben. Exkurs Empirische Befundlage zu Stress und Asthmaattacken Sandberg und Kollegen (2000) führten eine prospektive Studie durch, in der sie zwei Thesen testen wollten: 4 Treten akute Exazerbationen wirklich häufiger nach einem schwerwiegenden Lebensereignis als in anderen Zeiten auf? 4 Erhöht das Ausmaß des chronischen Stresses dieses Risiko?
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90 Kinder im Alter von 6–13 Jahren mit einem mittelschweren bis schweren Asthma nahmen an der Studie teil. Die Kinder wurden zu den erlebten kritischen Lebensereignissen und ihrem chronischen Stresserleben zu Beginn, nach 9 und 18 Monaten interviewt. Über den gesamten Zeitraum füllten sie ein tägliches Peak-Flowund ein wöchentliches Symptomprotokoll aus. Kritische Lebensereignisse waren 2–4 sowie 4–6 Wochen später mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einer erneuten Asthmaattacke verbunden (Odds-Ratio OR=1,71 bzw. 2,17). Der zeitliche Zusammenhang war jedoch bei den Kindern, die unter chronischen Stress litten, deutlich enger: Hier trat innerhalb der folgenden 2 Wochen nach dem Stressereignis bereits eine Verschlechterung der Symptomatik ein (OR=2,98).
> Fazit Asthma ist eine körperliche Erkrankung, bei der – vor allem als sekundäre Belastungserscheinungen – psychische Prozesse eine wichtige, manchmal sogar die dominante Rolle spielen. Eine psychogene Verursachung des Asthma bronchiale hingegen – so wie sie in frühen psychoanalytischen Ansätzen postuliert wurde – gilt als widerlegt. Psychosoziale Auffälligkeiten werden als Folgeerscheinungen der Erkrankung betrachtet.
45.4
Diagnostik
45.4.1 Medizinische Diagnostik
Die medizinische Diagnostik nimmt einen besonderen Stellenwert ein und dient vor allem der Absicherung der Diagnose (Differenzialdiagnostik) und der Feststellung des Schweregrades. Grundlegend ist die ausführliche Eigenund Familienanamnese. Hier werden u. a. das familiäre Auftreten atopischer Erkrankungen, der Krankheitsverlauf
und das Beschwerdemuster (z. B. Infekte; nächtliche Symptomatik) sowie die Beobachtungen zu auslösenden Situationen erfragt. Zur Erfassung der körperlichen Symptome werden eine körperliche Untersuchung [z. B. Abhören auf Atemgeräusche bei forcierter Exspiration (Ausatmung)], Allergietests (z. B. Provokationen mit spezifischen Auslösern) und Lungenfunktionstests (z. B. mit dem Peak-FlowMeter) durchgeführt. Generell sollte die medizinische Diagnostik multimodal angelegt sein (Griese 1999). Ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel ist das Peak-Flow-Meter.
Peak-Flow Das Peak-Flow-Meter misst die maximale Strömungsgeschwindigkeit zu Beginn der Ausatmung und ist ein einfach anzuwendendes Instrument zur eigenständigen Bestimmung der aktuellen Lungenfunktion. Die Kinder und Jugendlichen sollen nach einer tiefen Einatmungsphase so schnell und so stark wie möglich in das Gerät ausatmen (Beispiel: Kerze auspusten). Da die Messung fehlerbehaftet ist (z. B. abhängig von der aktuellen Mitarbeit des Kindes), sollte die Messung insgesamt dreimal nacheinander durchgeführt werden. Der beste Wert wird dann in einem sog. Peak-Flow-Protokoll vermerkt (. Abb. 45.2), das dann die Beobachtung der individuell gemessenen Werte über einen längeren Zeitraum (als Wochen- oder Monatsprofil) erlaubt. Üblicherweise wird morgens und abends vor dem Zubettgehen und vor der Medikamenteneinnahme gemessen. Um die Wirkung von Medikamenten zu kontrollieren, empfiehlt sich auch die Messung vor und nach der Inhalation. Die Interpretation erfolgt in Relation zu den individuellen Bestwerten als sog. Ampelschema: 4 Grün: 80–100% des Bestwertes: minimale Beschwerden unter der Dauermedikation; gut angepasst. 4 Gelb: 50–80% des Bestwertes: zunehmende Atembeschwerden; Dauermedikation sollte nochmals überprüft werden. 4 Rot: <50% des Bestwertes: ständige Beschwerden; Gefahr eines Asthmaanfalls.
Peak-Flow-Protokolle sind nicht nur diagnostisch relevant, sondern können auch therapeutisch genutzt werden, z. B. zur Schulung der Wahrnehmungsgenauigkeit der Symptomatik. Hierzu sollen die Kinder vor der Peak-Flow-Messung ihren Wert schätzen, erst danach wird gemessen.
45.4.2 Psychologische Diagnostik
Primäre Aufgabe der begleitenden psychologischen Diagnostik ist es, die zur Auslösung und/oder Aufrechterhaltung von Atemwegsbeschwerden beitragenden psychischen
827 45.4 · Diagnostik
. Abb. 45.2. Peak-Flow-Protokoll
Faktoren zu identifizieren. Zusätzlich sind die subjektiv erlebte Asthmasymptomatik sowie begleitende sekundäre Probleme bei den betroffenen Kindern und auch deren Eltern/Bezugspersonen abzuklären. Die diagnostischen Methoden zur Feststellung evtl. bestehender psychischer Störungen beim Kind orientieren sich am Vorgehen beim jeweiligen Störungsbild. Die psychologische Diagnostik ist grundlegend für eine hypothesenorientierte Therapieplanung und abschließende Evaluation des Vorgehens.
Exploration und Verhaltensanalyse Die Exploration wird in der Regel mit dem Patienten und dessen Eltern durchgeführt; ggf. auch mit weiteren Bezugspersonen, z. B. Lehrern. In der Exploration sollte erfragt werden, wie das Kind und die Familie die Erkrankung bewältigen, welche Ressourcen vorhanden sind und welche Probleme aktuell auftreten. Weiterhin sollte die krankheitsspezifische Entwicklung, aber auch die familiäre Belastung
erfragt werden. In der folgenden Übersicht sind die Leitthemen zusammengestellt. Die Selbstberichte der Kinder bzw. Eltern sollten – gerade bezogen auf den (familiären) Umgang mit kritischen Situationen (z. B. beim täglichen Inhalieren; richtiger Gebrauch eines Dosieraerosols), durch Verhaltensbeobachtungen ergänzt werden.
Leitthemen zur Exploration 4 Krankheitsanamnese: Erstmanifestation; Verlauf; familiäre Belastung; Erfahrungen im Umgang mit der Erkrankung; aktuelle und vergangene medizinische Behandlung (z. B. Diagnostik, Allergenkarenz, Pharmakotherapie, Hyposensibilisierung) 4 Beschreibung der Asthmasymptomatik (Häufigkeit, Intensität, subjektive Bewertung etc.) und deren 6
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4 4 4 4
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Auswirkungen auf die kindliche emotionale Befindlichkeit, Familie, Schule, Freundeskreis (konkrete Verhaltensweisen in Intensität, Häufigkeit etc.) Krankheitskonzepte von Eltern und Kind Wissen über die Erkrankung und deren Behandlung Befürchtungen und Sorgen (bezüglich des Asthmas und dessen Behandlung) bei Eltern und Kind Ausmaß der Belastungen (z. B. regelmäßige Krankenhausaufenthalte; notwendige Urlaubsplanungen) Krankheitsbewältigungsverhalten von Kind und Eltern Angestrebte Behandlungsziele und deren Vereinbarkeit (mit medizinischen Behandlungszielen, Eltern und Kind untereinander) Vorhandene Ressourcen bei Eltern (z. B. soziale Unterstützung) und Kind (z. B. kognitive Fähigkeiten)
Eine ausführliche Verhaltensanalyse ist das Kernstück der Exploration. Im Mittelpunkt steht dabei die Bewältigung einer Asthmaepisode oder einer anderen als kritisch beschriebenen Anforderungssituation (z. B. regelmäßiges Inhalieren). Dabei sollten zwei Situationen gegenübergestellt werden: eine Atemnotsituation, die schlecht bewältigt wurde und u. U. in einen Asthmaanfall mündete, und eine Situation, die vom Kind gut bewältigt wurde. Das Vorgehen bei der Exploration unterscheidet sich nicht von dem bei psychischen Störungen. Detailliert sollten die auslösende Situation und die dazugehörigen Stimuli exploriert werden. Oftmals können die Kinder und Jugendlichen, aber auch die Eltern die Situation nicht detailliert beschreiben – hier empfiehlt sich der Einsatz von Tagebüchern, in denen die Atemnotsituationen sowie die begleitenden Gedanken und Gefühle genau protokolliert werden. Wichtig ist die Analyse der konkreten Handlungen, die in der Situation ergriffen wurden, und welche Konsequenzen damit verbunden waren. Durch die Gegenüberstellung mit einer bewältigten Atemnotsituation können konkrete Handlungsressourcen herausgearbeitet werden.
Tagebuchverfahren/Selbstbeobachtungsprotokolle Der Einsatz von Tagebüchern ist bei der Diagnostik und Behandlung von Asthma weit verbreitet. Die Ziele, mit denen sie eingesetzt werden, und die Inhalte, die erfragt werden, sind breit gefächert. Tagebuchverfahren liegen als Selbst- oder Fremdbericht vor. Sie können zur Protokollierung der Symptomatik, zur Analyse potenzieller Auslöser, zum Abbau unerwünschter Verhaltensweisen, zum Zusammenhang zwischen emotionaler Befindlichkeit und Bewältigungsverhalten etc. genutzt werden. Viele Tagebücher kombinieren unterschiedliche Zielsetzungen. Selbstmonitoring bewirkt oftmals bereits eine erste Verhaltensände-
rung und wird daher auch im Rahmen der verhaltenstherapeutischen Intervention eingesetzt.
Asthmaspezifische Erhebungsinstrumente Insgesamt liegen relativ wenige standardisierte Messinstrumente zur Erfassung erkrankungsspezifischer psychosozialer Aspekte vor. Die größte Aufmerksamkeit in der Testentwicklung hat der Bereich der gesundheitsbezogenen Lebensqualität erfahren. Hier liegen erste Messinstrumente vor, die auch im internationalen Vergleich eingesetzt werden können (vgl. Warschburger et al. 2004). Die Lebensqualität eignet sich im besonderen Maße, um die Effekte einer Behandlung (z. B. einer Schulungsmaßnahme) zu erfassen. Zu nennen sind hier der KINDL (»Kinder-Lebensfragebogen«), der PEDS-QL (»Pediatric Quality of Life Inventory«) der Arbeitsgruppe um Varni sowie der Fragebogen von Juniper. Juniper hat auch ein Instrument zur Erfassung der elterlichen Lebensqualität vorgelegt. Normen bzw. Vergleichswerte sind für diese Instrumente vorhanden. Erste standardisierte Verfahren liegen auch zur Erfassung der asthmaspezifischen Symptomatik und der Selbstwirksamkeit vor. Die Erfassung der Symptomatik erfolgt dabei mehr oder weniger nach Checklisten, die eine Schweregradeinteilung erlauben. Therapeutisch relevanter sind die Erfassung der Selbstwirksamkeit und der Stressbewältigungsstrategien. Normierte Instrumente für die Selbstwirksamkeit liegen von der Autorin vor; zur Erfassung der Stressbewältigung empfiehlt es sich auf die krankheitsunspezifischen Fragebögen zurückzugreifen und durch eine Einleitungsfrage (z. B. »Was tust Du, wenn Du merkst, Du kriegst jetzt keine Luft mehr?«) auf die Krankheitssymptomatik zu fokussieren. Ansonsten eignen sich in der Belastungsdiagnostik Verfahren, die für den Bereich der chronischen Erkrankungen allgemein entwickelt wurden. So liegen Instrumente für die Erfassung der elterlichen Krankheitsbewältigung [»Child Health and Illness Profile« (CHIP); »Familien-Belastungs-Fragebogen« (FaBel)] mit entsprechenden Normen vor. ! Die psychologische Diagnostik erfolgt in Ergänzung zur medizinischen Diagnostik. Die Diagnostik sollte sich nicht einseitig auf die Belastungen konzentrieren, sondern auch gezielt familiäre und persönliche Ressourcen erfragen.
45.5
Therapeutisches Vorgehen
Als somatische Krankheit steht die medizinische Behandlung des Asthma bronchiale im Vordergrund. Diese umfasst beispielsweise die medikamentöse Therapie (nach aktuellen Stufenplänen; vgl. Leitlinien der Gesellschaft für Pädiatrische Pneumologie 2007), die Allergenkarenz (= Meiden von Allergenen) oder die Physiotherapie. Psychologische Behandlungsansätze erfolgen adjuvant und im
829 45.5 · Therapeutisches Vorgehen
Idealfall in Kooperation mit einem ärztlichen Spezialisten. Wichtige Ansatzpunkte sind zum einem negative Verhaltensmuster (des Kindes oder innerhalb der Familie), die eine medizinische Behandlung behindern, sowie Schwierigkeiten bei der Krankheitsbewältigung (z. B. starke emotionale Belastung, Panikattacken während der Asthmaanfälle), aber auch die Symptomatik selbst. Beim konkreten therapeutischen Vorgehen muss berücksichtigt werden, welche Problematik bei wem (Eltern oder Kind) im Vordergrund steht. Das Vorgehen richtet sich auch nach dem Alter der Kinder. Beratungen und Psychoedukation für die Eltern sowie Patientenschulungsprogramme für die betroffenen Kinder scheinen generell bei Asthma bronchiale indiziert und sind Teil der Standardversorgung. Ziel ist es hier, die Selbstmanagementfähigkeiten zu erhöhen. Psychotherapie im engeren Sinne (d. h. Behandlung seelischer Störungen) ist nur dann indiziert, wenn klinisch relevante psychische Störungen (z. B. Angststörungen) vorliegen. Entspannungsverfahren hingegen werden nicht nur zur allgemeinen Stress-, sondern auch zur Symptomlinderung eingesetzt.
bronchiale gesprochen. Neuere Untersuchungen (vgl. McQuaid u. Nassau 1999) können dies jedoch nicht belegen, manchmal wird auf eine Kontraindikation bei Small-Airway-Asthma hingewiesen. Allerdings sollte bei der Vermittlung des autogenen Trainings darauf vorbereitet werden, dass manchen Kindern die Konzentration auf den Atem sehr schwer fällt, sie stellen durch diese Fokussierung vermeintliche Unregelmäßigkeiten fest. Meist genügt ein kleiner Hinweis, dass dies ganz normal ist und bei allen Kindern vorkommt. Während eines Anfalls ist der Einsatz von autogenem Training kontraindiziert. Der alleinige Einsatz von Entspannungsverfahren als therapeutische Strategie ist nicht empfehlenswert. Besonders bei Kindern mit starken Ängsten (vor und während einer Asthmaattacke) ist das Erlernen einer Entspannungsmethode zur Reduktion der übermäßigen physiologischen Erregung sinnvoll. In diesem Kontext kann es auch angebracht sein, eine systematische Desensibilisierung einzusetzen, allerdings stehen hierzu noch empirische Untersuchungen aus.
45.5.2 Patientenschulungsprogramme 45.5.1 Entspannungs- und Biofeedbackmethoden
Das Erlernen einer Entspannungstechnik (autogenes Training, progressive Muskelrelaxation, imaginative Verfahren) ist häufig integrativer Bestandteil eines Asthmaselbstmanagementprogramms. Ziel ist es, die allgemeine physiologische Erregung zu reduzieren, da ein hohes Erregungsniveau zu einer Über- bzw. Fehleinschätzung der Problematik (z. B. physiologische Stressreaktion wie erhöhte Atemfrequenz wird fälschlicherweise als Anzeichen für eine bevorstehende Atemnotsituation interpretiert) und damit zu ungünstigen Reaktionen (z. B. Übermedikation, Inanspruchnahme von ärztlicher Hilfe, Steigerung der physiologischen Erregung) führen kann. Damit sollen einerseits direkt die Symptomatik positiv beeinflusst, andererseits aber auch die Kinder und Jugendlichen dazu befähigt werden, Ruhe zu bewahren, um angemessen zu reagieren. Möglich ist auch der Einsatz von Biofeedbackverfahren, mit deren Hilfe direkt (z. B. Feedback des Atemwiderstandes oder des forcierten Exspirationsvolumens) oder indirekt (z. B. EMG-Feedback zum Stirnmuskel) die Lungenfunktion beeinflusst werden soll. Problematisch beim Biofeedback bleibt der Transfer in den Alltag. Zwar kann mit transportablen Geräten das Üben im häuslichen Umfeld ermöglicht werden, aber der Einsatz der erlernten Strategie zur Beeinflussung der Lungenfunktion (z. B. durch gezielte Muskelentspannung) muss dann noch in der kritischen Atemsituation gewährleistet werden. Auf diesen Transfer muss in der praktischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen besonders geachtet werden. In der älteren Literatur wird oftmals noch von einer Kontraindikation für Entspannungstechniken bei Asthma
Patientenschulungen sind verhaltensmedizinische Therapiemaßnahmen, die das Ziel verfolgen, durch geplantes, strukturiertes Lernen und Trainieren einen eigenverantwortlichen Umgang mit der Erkrankung und den damit verbundenen Behandlungsanforderungen beim Patienten und dessen Familie aufzubauen. Die Programme sind standardisiert und werden in Form von Kleingruppen (4–12 Teilnehmer) realisiert. Die Konzeption und Durchführung solcher Programme erfolgt in der Regel im interdisziplinären Team (Psychologe, Arzt, Sporttherapeut/Physiotherapeut). Die Anforderungen an ein erfolgreiches Krankheitsmanagement sind breit gefächert und können leicht die persönlichen und sozialen Ressourcen übersteigen: Erfolgreiches Krankheitsmanagement beinhaltet nicht nur »präventive Fertigkeiten«, wie das Auftreten von Asthmaattacken bereits im Vorfeld zu verhindern, sondern auch in akuten Atemnotsituationen angemessene Reaktionen zu zeigen (Intervention). Vorhandene Kompetenzen und Fertigkeiten müssen darüber hinaus weiter gefördert und ausgebaut werden (z. B. sportliche Aktivitäten, Vermeiden von sekundärem Krankheitsgewinn), und das Kind oder der Jugendliche muss in die Lage versetzt werden, notfalls auch in einer »behandlungsfeindlichen« Umgebung (z. B. bei fehlender Unterstützung von wichtigen sozialen Bezugspersonen) angemessene Verhaltensweisen im Umgang mit seiner Erkrankung zu zeigen (vgl. McNaab et al. 1986). Entsprechend dem multifaktoriellen Krankheitsgeschehen sind die wesentlichen langfristigen Ziele auf drei Ebenen anzusiedeln: 4 Verbesserung des Gesundheitszustandes (z. B. Verringerung der Asthmasymptomatik; erniedrigtes Risiko für Folgeerkrankungen),
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Kapitel 45 · Asthma bronchiale
4 Steigerung der Lebensqualität von Kind und Familie, 4 Reduktion der Kosten im Gesundheitswesen (z. B. seltenere Krankenhausaufenthalte).
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Dabei wird auf vor allem auf folgende Aspekte eingegangen: 4 Wissensvermittlung/Edukation [z. B. Wie ist Asthma entstanden? Was sind bedeutsame Auslöser für eine akute Exazerbation (Verschlechterung)? Wie sehen die medizinischen Behandlungsschemata aus?]: Edukative Elemente werden in der Schulung von Kindern und Jugendlichen sowie in den Elternschulungen eingesetzt. Das Vorgehen muss dabei immer dem Entwicklungsstand der Kinder angepasst werden. Die Wissensvermittlung erfolgt weniger im Vortragsstil, sondern in Diskussionsrunden, anhand von Anschauungsmaterialien, mit Arbeitsblättern etc. Vermittelt werden die Wissensinhalte, die für die Betroffenen unmittelbare Handlungsrelevanz besitzen und/oder zur emotionalen Entlastung beitragen können (z. B. Abbau von Schuldgefühlen bei den Eltern durch die Vermittlung eines multifaktoriellen Krankheitsmodells); 4 Schulung der Symptomwahrnehmung (z. B. Wie ist meine aktuelle Atemsituation? Ist mein veränderter Atem ein Anzeichen von Stress oder ein Vorbote drohender Atemnot?); 4 Aufbau neuer, alternativer Verhaltensfertigkeiten zum Umgang mit der Erkrankung (z. B. im Umgang mit medizinischen Hilfen wie Peak-Flow, Inhalierhilfen; Atemtechniken zur Bewältigung von Atemnot wie die Lippenbremse; Erarbeitung von Notfallplänen) sowie zur Rückfallprophylaxe (z. B. Was kann ich tun, wenn mein Asthma sich wieder stark verschlechtert?); 4 Stärkung der sozialen Kompetenzen und Verbesserung der emotionalen Befindlichkeit (z. B. soziale Fertigkeiten zum Führen eines Arztgespräches, anderen Kindern die Krankheit erklären); 4 Rückfallprophylaxe und Transfer in den Alltag. Dadurch soll schrittweise der eigenverantwortliche Umgang mit der Erkrankung aufgebaut werden. Die Kinder und Jugendlichen lernen nicht nur ihre Atemsituation selbst zu beobachten und einzuschätzen (Selbstmonitoring und -bewertung), sondern auch langfristig zu kontrollieren (Selbstkontrolle, Selbstverstärkung). Selbstmanagementprogramme beinhalten zahlreiche verhaltenstherapeutische Elemente wie z. B.: 4 Kontraktmanagement (z. B. Therapieverträge), 4 Selbst- und Fremdbeobachtung (Symptomtagebücher zur Schulung der Wahrnehmung beispielsweise für Auslöser oder Wirkung von verschiedenen Medikamenten), 4 Rollenspiele und Verhaltensübungen (z. B. zur Steigerung oder zum Aufbau eines selbstsicheren Umgangs mit der Erkrankung, Einüben von Entspannungs- oder Atemtechniken),
4 kognitive Techniken wie Selbstinstruktionen (z. B. zur Aufrechterhaltung der Compliance) oder Veränderung ungünstiger Kognitionen und 4 Selbst- und Fremdverstärkung (z. B. Tokenpläne).
Wissensvermittlung/Edukation Grundlage jeder Behandlungsmaßnahme ist die Vermittlung von Basiswissen zur Erkrankung und deren Behandlung. Das Informationsbedürfnis ist sowohl bei den Kindern und Jugendlichen als auch deren Eltern enorm groß. Die Flut an widersprüchlichen Informationen und auch unseriösen Heilversprechen trägt zur Orientierungslosigkeit bei. Hier sind grundlegende Informationen sehr hilfreich und wirken entlastend. Die Wissensvermittlung bei Asthma bronchiale konzentriert sich auf folgende Bereiche: 4 Krankheitsbild, Physiologie, 4 Entstehung und Verlauf des Asthma bronchiale, 4 Auslöser und Frühwarnzeichen von Asthmaattacken, 4 Diagnostik und Therapie (z. B. Asthmamedikamente, Sport). Die Informationsvermittlung will die Kompetenz von Eltern und Kind im Umgang mit den Behandlungsanforderungen steigern. So ist es beispielsweise complianceförderlich, wenn man versteht, warum die Medikamente bei einer Verbesserung des Gesundheitszustandes nicht einfach wieder abgesetzt werden dürfen oder antientzündliche Medikamente nicht bei einer akuten Atemnotsituation helfen. Ein Kind mit Asthma muss nicht nur wissen, auf welche Pollen es allergisch reagiert (z. B. Erle, Haselnuss, Pappel, Gräser oder Birke), sondern auch wann die für es gefährlichen Pollen fliegen – und zwar ganz spezifisch für die Region, in der es lebt. Die Betroffenen sollten die entsprechenden Bäume erkennen und wissen, welche kompensatorischen Maßnahmen sie ergreifen müssen (z. B. 2–3 Wochen vorher mit einer vorbeugenden entzündungshemmenden und atemwegsstabilisierenden Behandlung beginnen; sich am besten nur frühmorgens draußen aufhalten; abends regelmäßig Haare waschen etc.). Detailliert soll am Beispiel der Vermittlung eines Erklärungsmodells die Wissensvermittlung erläutert werden. Vermittlung eines Erklärungsmodells. Das multikausale Ätiologiemodell wird gemeinsam mit den Eltern bzw. Kindern erarbeitet. Dabei wird die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen prädisponierenden, auslösenden und aufrechterhaltenden Faktoren eingeführt (. Abb. 45.1). Diese Unterscheidung trägt dazu bei, dass vor allem die Eltern emotional entlastet werden, da zwar eine genetische Prädisposition vorliegt, aber diese allein nicht ausreicht, damit die Symptomatik zum Tragen kommt. Auf der anderen Seite wird aber auch deutlich, dass es auch in ihrer Verantwortung liegt, dass das Kind mit weniger Auslösern im Alltag konfrontiert wird [z. B. nicht in der Wohnung rauchen, keine (Fell-)Haustiere]. Anhand des multikausalen
831 45.5 · Therapeutisches Vorgehen
Entstehungsmodells kann den Eltern wie Kindern auch vermittelt werden, warum jedes Kind mit Asthma individuell zu betrachten ist: Es gibt nicht den Auslöser für Asthma, jeder reagiert auf andere Reize, und jeder reagiert auch unterschiedlich stark. Die Rolle des Umgangs mit der Erkrankung (wie kognitive, emotionale Belastung) als aufrechterhaltender Faktor sollte herausgestellt werden. Dies verdeutlicht eindringlich, dass sie das Krankheitsgeschehen positiv beeinflussen können. Bei der Vermittlung sollten viele Anschauungsmaterialien wie kleine Modelle, zeichnerische Darstellungen (z. B. in Form von Collagen) oder kleine Spiele (z. B. mit Auslöserkarten) eingesetzt werden. Die Wissensvermittlung erfolgt nicht im Vortragsstil, sondern wird gemeinsam mit den Betroffenen erarbeitet. Nur so können die individuellen Erklärungsschemata berücksichtigt werden. Kinder und Eltern werden mit gezielten Fragen dazu ermuntert, ihr Wissen über ihr Asthma einzubringen. Die individuellen Beobachtungen sind sehr wichtig, und es muss, gerade in der Gruppe, darauf geachtet werden, dass sich die Erfahrungen z. B. mit auslösenden Reizen oder Medikamenten auch sehr stark unterscheiden können. Durch eine angstfreie und wertneutrale Atmosphäre kann sichergestellt werden, dass auch »peinliche Fragen« gestellt werden. Gerade das Offenbaren von Überzeugungen und Werthaltungen, die nicht mit dem aktuellen Krankheitsmodell von Asthma bronchiale übereinstimmen, erlaubt es dem Therapeuten, diese in Frage zu stellen und durch neue Informationen korrigierend zu beeinflussen.
Schulung der Wahrnehmung Ein wesentliches Merkmal des Asthma bronchiale ist der variable und damit im Erleben der betroffenen Kinder und Jugendlichen »unberechenbare«, »unkontrollierbare« Charakter der Erkrankung: Nach langen symptomfreien Phasen können die Symptome plötzlich wieder massiver auftreten. Eine zuverlässige Symptomwahrnehmung (im Sinne des Erkennens von Frühwarnzeichen; Einschätzen der Intensität der aktuellen Symptomatik) hat sich als zentral für einen günstigen Krankheitsverlauf herausgestellt (vgl. Dahme et al. 2000). Eine objektivere Einschätzung der Atemwegssituation hilft nicht nur, die Medikamente korrekter zu dosieren, sondern reduziert Hilflosigkeit und Ängste. Zur Schulung der Symptomwahrnehmung werden verschiedene Techniken eingesetzt. Beschrieben wurde bereits das Führen von Peak-Flow-Protokollen. Durch das systematische Schätzen der aktuellen Atemsituation und das nachfolgende Messen der Lungenfunktion mittels Peak-Flow-Meter kann eine Annäherung der geschätzten an die tatsächlichen Werte erreicht werden. Peak-FlowTagebücher und -Wochenprotokolle dokumentieren diesen Prozess. Die verbale Verstärkung durch den Therapeuten stärkt das Selbstwirksamkeitserleben der asthmakranken Kinder und Jugendlichen. Zusätzlich sollte dann mit den Kindern und Jugendlichen konkret besprochen werden, auf welchen Beobachtungen ihre Selbsteinschätzung basiert, und eventuelle Abweichungen von subjektiver Einschätzung und objektiver Messung diskutiert werden. Auf diese Weise lernen die Kinder und Jugendlichen neben den allgemeinen Frühwarnzeichen auch ihre persönlichen kennen.
Beispiel Vorgehen im Kindertraining Das Wissen über die auslösenden Faktoren wird mit einem »Memospiel« ermittelt. Hierzu werden kleine Karteikarten mit Bildern für mögliche Auslöser erstellt, und die Kinder decken reihum eine Karte auf und sollen dann etwas zu dem dargestellten Auslöser sagen (»Löst das bei Dir auch Asthma aus?«, »Hast du eine Idee, was Du dagegen tun kannst?«). Das Spiel kann auch gut abgewandelt werden, indem zusätzlich geeignete Gegenmaßnahmen auf Extrakarten abgebildet werden. Die Aufgabe ist dann, möglichst viele passende Paare (Auslöser – Gegenstrategie) zu sammeln.
Häufige Probleme auf Seiten des Therapeuten 4 Eltern beweisen wollen, dass man viel besser informiert ist und dadurch zu viele Informationen einbeziehen (»information overflow«) 4 Zu hoher Redeanteil des Therapeuten 4 Verlieren in Kleinigkeiten/Details (z. B. spezielle immunologische Prozesse)
Vorgehen beim Peak-Flow-Selbstmonitoring 4 Erfragen der Einschätzung des aktuellen PeakFlow-Werts 4 Wert protokollieren 4 Gründe für die Einschätzung benennen lassen und notieren 4 (Dreimalige) Peak-Flow-Messung 4 Besten Wert notieren 4 Gründe für die (fehlende) Übereinstimmung; Ableitung für zukünftige Einschätzungen
Eine Individualisierung und Schulung der Wahrnehmung ist beispielsweise auch im Bereich der Auslöser notwendig: Das individuelle Auslöseprofil ist zudem oftmals nur der eigenen Beobachtung zugänglich. Die persönlichen Beobachtungen zum Verlauf des Asthma bronchiale stellen damit eine wichtige diagnostische Quelle nicht nur für die Diagnosesicherung, sondern auch für die Planung des Therapieverlaufs dar. Das Führen von Symptomtagebüchern (7 Kap. 45.4.2) hilft den asthmakranken Kindern und ihren Eltern systematisch Hinweise auf relevante Aus-
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Kapitel 45 · Asthma bronchiale
löser zu gewinnen. Solche Tagebücher müssen dann immer gemeinsam mit dem Therapeuten ausgewertet werden.
Häufige Probleme 4 Tagebücher werden nur unregelmäßig geführt, z. B. abends für den ganzen Tag bearbeitet. Hier sollte nochmals auf die Bedeutung der zeitnahen Dokumentation wegen Vergessensprozessen hingewiesen werden; auf jeden Fall Gründe für die mangelnde Compliance erfragen. 4 Therapeut nimmt sich nicht ausreichend Zeit zur Besprechung der Tagebücher.
Aufbau neuer Verhaltensfertigkeiten
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Der Aufbau neuer Verhaltensfertigkeiten steht im Mittelpunkt der Schulung und erfolgt mit Hilfe einer Reihe von verhaltenstherapeutischen Techniken. Inhaltlich geht es in erster Linie um Techniken im Umgang mit den Behandlungsanforderungen und den Umgang mit psychosozialen Belastungen. Asthmaspezifische Behandlungsanforderungen. Die kor-
rekte Handhabung von medizinischen Hilfen wie PeakFlow-Meter oder Dosieraerosol ist zentral für den Behandlungserfolg. Diese Techniken werden mit den Kindern schrittweise eingeübt und Fehler rückgemeldet; durch Videoaufzeichnungen kann der Trainingseffekt noch erhöht werden. Dabei sollte unter möglichst »realistischen Bedingungen« geübt werden (z. B. Kind soll sein Spray nehmen, während ein anderes Kind blöde Kommentare dazu abgibt), um den Transfer in den Alltag zu gewährleisten. Auch das konkrete Verhalten im Notfall muss unter erschwerten Bedingungen eingeübt (überlernt) werden. In den meisten Programmen üben die Kinder und Jugendlichen trainingsbegleitend Entspannungstechniken ein, um in Notfällen ruhig ein- und auszuatmen. Zu den krankheitsspezifischen Behandlungsanforderungen gehört auch die regelmäßige Medikation. Die Complianceraten sind bei chronischen Erkrankungen sehr gering. Die Ursachen sind vielfältig (z. B. schlichtes Vergessen; kein Verständnis für die Wirkweise; Angst vor den Nebenwirkungen; Angst davor, seine Erkrankung öffentlich zu machen, oder nicht ständig durch Medikamente etc. an die Erkrankung erinnert werden wollen). Diese müssen zuerst herausgearbeitet und dann darauf zugeschnittene Maßnahmen eingesetzt werden (vgl. Überblick bei Costello et al. 2004).
Beispiel Gegen »schlichtes Vergessen« werden z. B. mit Kontrakten feste Zeiten zur Umsetzung der Therapiemaßnahmen vereinbart, die entsprechenden (Hilfs-)Mittel sichtbar deponiert oder ein Zettel am Spiegel angebracht (Techniken der Stimuluskontrolle). Das fehlende Verständnis für die Notwendigkeit der Medikation kann beispielsweise durch die Weitergabe von Informationsmaterial und die Besprechung der Selbstbeobachtungstagebücher vermindert werden.
! Compliance-Probleme müssen offen angesprochen werden. Dabei hilft das neutrale Nachfragen zu den Erfahrungen mit der Medikation, um Probleme an den Tag treten zu lassen. Umgang mit belastenden Situationen. Der Bereich des Fertigkeitenaufbaus umfasst jedoch nicht nur den angemessenen Umgang mit den Asthmasymptomen, sondern auch den Umgang mit allgemein belastenden Situationen und eigenen Emotionen. Bei vielen Kindern ist das Erleben einer Asthmaattacke angstbesetzt. Eine korrekte Einschätzung der Symptomschwere ist meist mit einer mittleren Angstausprägung assoziiert – ein geringes oder ein zu hohes Ausmaß an Angst führt oftmals zu einer Unter- bzw. Überschätzung der Symptomatik. Zur Reduktion der physiologischen Erregung werden häufig Entspannungstechniken eingesetzt; auch die Imagination von beruhigenden Bildern (z. B. am Strand liegen) kann hilfreich sein. Von besonderer Bedeutung sind die in einer Atemnotsituation auftretenden Kognitionen, die eine angemessene Bewältigung behindern.
Beispiel Mit Hilfe von Tagebüchern können die Kinder und Jugendlichen in einem ersten Schritt sich selbst beobachten und ihre Gefühle und Gedanken in Atemnotsituationen notieren (»Was ging dir durch den Kopf?«). Diese Gedanken werden in der Runde gesammelt, ihr Potenzial, mit dem Asthmaanfall umzugehen diskutiert (»Hilft dir das, etwas gegen dein Asthma zu tun?«) und durch positive Gedanken im Sinne einer Selbstinstruktion (z. B. »Bleib ganz ruhig und denk an deinen Notfallplan«) ersetzt. Der Einsatz der Selbstinstruktionen kann im Rollenspiel erprobt werden. Kleine Instruktionskärtchen (mit Bildern bei jüngeren Kindern) erinnern an den Einsatz der Selbstinstruktion. Hilfreich kann die Vermittlung durch kompetente »peers« als Modelle sein (z. B. mit Hilfe von Videomaterial oder als »Kotrainer«). Diese »peers« sind besonders attraktive Modelle und erhöhen dadurch die Motivation, die neuen Verhaltensfertigkeiten umzusetzen. Dabei sollte kein »fehlerfreies Superman-Modell« gewählt werden, mit dem sich die Kinder nicht identifizieren können.
833 45.5 · Therapeutisches Vorgehen
Es sollte ganz offen über die Probleme bei der Umsetzung und auch über Fehlschläge gesprochen, aber auch die Wirksamkeit eines angemessenen Umgangs klar verdeutlicht werden. Anhand von Tagebüchern (z. B. zum regelmäßigen Einsatz von Entspannung oder zum regelmäßigen Inhalieren) kann den Kindern und Jugendlichen der Zusammenhang zwischen diesen Maßnahmen und ihrer Atemsituation verdeutlicht werden.
Stärkung der sozialen Kompetenzen und Emotionsregulation Die Stärkung der sozialen und emotionsregulatorischen Kompetenzen stellt ein zentrales Element innerhalb der Patientenschulung dar. Kinder und Jugendliche mit Asthma werden vor eine Reihe von entwicklungsbezogenen, aber zusätzlich auch krankheitsbezogenen Anforderungen gestellt, deren Bewältigung nicht immer gelingt. Am Beispiel des Gesprächs beim Arzt soll das Vorgehen erläutert werden.
krankung; Umgang mit Hänseleien), aber auch in der Familie durchgeführt werden. Die Auswahl orientiert sich am Unterstützungsbedarf der Kinder. Beim Vorliegen einer Angststörung oder einer anderen Störung sind die störungsspezifischen psychotherapeutischen Verfahren zu deren Behandlung indiziert. Asthmaspezifische Situationsanforderungen können in die Behandlung integriert werden. Eine Psychotherapie kann zudem indiziert sein, wenn durch eine ungenügende Krankheitsbewältigung der Krankheitsprozess aufrechterhalten wird. Eine generelle Indikation für eine Psychotherapie über eine Patientenschulung hinaus besteht nicht. ! Das Vorliegen einer komorbiden Störung stellt eine klare Indikation für eine psychotherapeutische Intervention (z. B. systematische Desensibilisierung bei Angst) dar.
Transfer in den Alltag und Rückfallprophylaxe Beispiel Den Kontakt mit dem Arzt erleben die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht immer als befriedigend. In einem ersten Schritt werden die bisherigen individuellen Erfahrungen ausgetauscht. Dabei wird bereits deutlich, wie unterschiedlich die Erfahrungen sind. Im nächsten Schritt sollte dann herausgearbeitet werden, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten auf ihrer Seite notwendig sind, damit ein Arztgespräch positiv verläuft (z. B. dass der Arzt mir eine wichtige Frage beantwortet, obwohl er mich erst mal »abwimmelt«). Kompetente (ruhig bleiben, nicht aufstehen) und inkompetente (sich stotternd entschuldigen, gleich aufstehen) Verhaltensweisen sollen identifiziert werden, um in einem abschließenden Rollenspiel den Einsatz der kompetenten Verhaltensweisen schrittweise zu üben.
Die Kinder und Jugendlichen dürfen weder über- noch unterfordert werden. Sollte ein Kind viele Zielverhaltensweisen nicht beherrschen (z. B. den Blickkontakt halten; klare, laute Sprache), müssen diese schrittweise (z. B. mit Shaping-Techniken) eingeübt werden. Für das Gelingen von Rollenspielen ist eine vertrauensvolle Atmosphäre von besonderer Bedeutung. Videoaufnahmen haben sich bewährt, da dies nicht nur eine objektivere Grundlage liefert, sondern die Kinder ihr eigenes Verhalten »von außen« sehen können. Eine kurze Checkliste, worauf man in Zukunft achten sollte, rundet das Vorgehen ab. Welche Bereiche ausgewählt werden, richtet sich nach den Bedürfnissen der Kinder. So können Rollenspiele zum Umgang mit dem Asthma in der Schule (z. B. Lehrer darüber informieren, dass ich Spray nehmen muss; Sportunterricht), in der Freizeit (z. B. anderen die Erkrankung erklären; Umgang mit eigener Wut oder Trauer wegen der Er-
Im Verlauf einer Schulungsmaßnahme wird schrittweise (z. B. durch Hausaufgaben) auf den Alltag und den Umgang mit Rückfällen vorbereitet. Mit den Kindern und Jugendlichen wird erarbeitet, 4 woran sie eine Symptomverschlechterung erkennen können (Peak-Flow-Werte sowie körperliche Anzeichen wie hochgezogene Schultern, Husten oder Probleme beim Sprechen), 4 welche Handlungsmöglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen (z. B. Arztkontakt; mit den Eltern reden; Suche nach zusätzlichen Auslösern). Das regelmäßige Führen der Symptomprotokolle erleichtert das Identifizieren von Rückfällen. Auch erhalten die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern Notfallpläne, damit sie genau wissen, welche Handlungsschritte sie in einer solchen Situation unternehmen müssen. Schriftliche Unterlagen ermöglichen es, die wichtigsten Informationen nachzulesen.
45.5.3 Einbeziehung der Eltern
Die Bezugspersonen sollten in die Behandlung mit einbezogen werden. Der Stellenwert der Elternarbeit und ihre inhaltliche Ausrichtung verändern sich mit dem Alter der Kinder. Bei Kindern bis zu 12 Jahren ist eine begleitende umfangreiche Elternarbeit zwingend erforderlich; im Vorschulalter wird i.d.R. ausschließlich mit den Eltern als Mediatoren gearbeitet. Ab dem Alter von 4–6 Jahren kann bereits mit den Kindern selbst gearbeitet werden. Die Inhalte der Psychoedukation sind im Wesentlichen mit denen für die Kinder und Jugendlichen vergleichbar. Die Eltern sollten über das Krankheitsbild, dessen Entstehung und Verlauf sowie Behandlungsmöglichkeiten (medizinische wie psychologische Ansätze) informiert werden. Ein wesentliches Ziel der psychologischen Ansätze mit asthma-
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Kapitel 45 · Asthma bronchiale
kranken Kindern und Jugendlichen ist es, sie möglichst frühzeitig dazu zu befähigen, eigenverantwortlich mit den Krankheits- und Behandlungsanforderungen umzugehen (Selbstmanagementansatz). Ziel der Arbeit mit den Eltern muss es daher sein, dass die Eltern lernen, ihren Kindern im altersangemessenen Umfang die Verantwortung für das Krankheitsmanagement zu übertragen. Diese Aufgabe stellt eine große Herausforderung für die Eltern dar. Die Eltern sollen Wissen und Strategien erwerben, wie sie selbst mit der Erkrankung und den erforderlichen Behandlungsanforderungen umgehen können, aber auch die eigene emotionale Belastung steht im Vordergrund. Folgende Belastungen werden von den Eltern häufig genannt: 4 Fragen nach »Schuld« oder der Verursachung der Erkrankung, 4 zeitlicher Mehraufwand durch die besonderen Behandlungsanforderungen (z. B. regelmäßiges Inhalieren, Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte etc.), 4 Umgang mit Geschwisterrivalitäten und dem Gefühl, nicht allen gerecht werden zu können, 4 Sorgen um das kranke Kind (bezüglich Verlauf, Chancen im Leben etc.), 4 finanzielle Mehraufwendungen (z. B. durch besondere Hilfsmittel, die nicht erstattet werden; Fahrtkosten zum Arzt), 4 Fragen danach, ob das Kind einen sekundären Krankheitsgewinn erfährt, 4 Vernachlässigung der eigenen Beziehung und der sozialen Bindungen (wie Freunde) oder 4 spezielle familiäre Arrangements, um eine Betreuung und optimale Versorgung zu gewährleisten (z. B. Suche nach einem verlässlichen Babysitter, Wahl der Urlaubsgebiete). Die erschwerten Bedingungen im Erziehungsalltag und der praktische Umgang mit mangelnder Compliance ihres Kindes spielen eine wichtige Rolle in der Arbeit mit den Eltern. Oftmals genügt die Vermittlung der Krankheitszusammenhänge, um die Eltern emotional zu entlasten. Konkrete Erziehungstipps (z. B. gezieltes Lob für selbstständiges Inhalieren; kein ständiges Nörgeln bei fehlender Compliance, sondern Einsatz von Verstärkerplänen) helfen den Eltern den Erziehungsalltag neu zu gestalten. Eltern sollen eine angemessene Balance zwischen altersangemessenen Anforderungen und krankheitsbedingter Fürsorge halten. Sie sollen ihr Kind nicht in einen »Kokon« packen, der die langfristige Selbstständigkeitsentwicklung behindert. Daneben müssen unter Umständen spezifische Probleme (z. B. völlige Zentrierung des Lebens auf die Erkrankung des Kindes, »übermäßige« Sorgen um das körperliche Wohlergehen des Kindes, Rauchen der Eltern) individuell behandelt werden. In solchen Fällen ist es durchaus sinnvoll, die Thematik in gemeinsamen Familiensitzungen zu besprechen. In der Arbeit mit den Eltern hat sich ein gruppentherapeutisches Vorgehen bewährt, da die Eltern im Austausch mit anderen betroffenen Familien erste Entlas-
tung erfahren und sich instrumentelle soziale Unterstützungsangebote (z. B. gegenseitiges Babysitten) ergeben können.
45.5.4 Gruppen- vs. Einzeltherapie
Patientenschulungsprogramme sind meist für geschlossene Kleingruppen ( von 8 bis maximal 12 Teilnehmern) konzipiert. Eine Reihe von Argumenten unterstreicht die Wahl eines Gruppenansatzes: 4 Die Kinder und Jugendlichen können sich in der Gruppe über ihre Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig Rückmeldung geben. 4 Die betroffenen Kinder und Jugendlichen erfahren oftmals in der Gruppe zum ersten Mal, dass sie mit ihrer Erkrankung und den damit verbundenen Ängsten und Erfahrungen nicht allein sind – sie erfahren emotionale Entlastung. 4 In der Gruppe können konkret und in einem alltagsnahen Setting neue Verhaltensweisen erprobt werden (z. B. das Inhalieren in der Schule, während die Mitschüler »einen anstarren« in einem Rollenspiel). 4 Die anderen Gruppenmitglieder sind viel »attraktivere Modelle« als der Therapeut. Machen die anderen Gruppenmitglieder positive Erfahrungen mit den Verhaltensänderungen, steigt die Motivation bei allen, dies auszuprobieren. 4 Die Gruppe kann direkt bei der Lösung eines individuellen Problems helfen und bietet darüber hinaus weitere Unterstützung (z. B. durch die Bildung von »Telefonketten« bei auftretenden Problemen). 4 Gruppenarbeit mit anderen Kindern gleichen Alters macht Spaß. Die Kinder und Jugendlichen sind motivierter und offener für die neuen Inhalte. Sie haben die Möglichkeit, neue Freunde zu gewinnen. Wichtig bei der Arbeit mit Gruppen ist, dass der Therapeut lenkend in die Interaktionen eingreift. Als wesentliche Wirkgrößen von Gruppenarbeit sind ein Klima des gegenseitigen Vertrauens, Offenheit und die Realisierung einer kooperativen Arbeitshaltung zu nennen. Das explizite Aufstellen von »Gruppenregeln« zu Beginn unterstützt erfahrungsgemäß das Gelingen der Gruppenarbeit. Bei der Gruppenzusammenstellung sollte auf die Passung der Mitglieder geachtet werden. Ab dem Jugendalter empfehlen sich geschlechtshomogene Gruppen; generell ist auch auf eine altershomogene Zusammensetzung (auch wegen der Anpassung der Materialien) zu achten. Angemessene Materialien erleichtern eine Individualisierung des Vorgehens (z. B. durch Hausaufgaben und deren Besprechung, individualisierte Zielvereinbarungen, Lückentexte). Eine generelle Kontraindikation für verhaltenstherapeutische Gruppenarbeit bei Kindern und Jugendlichen ist nicht beschrieben. Kinder mit sehr massiven psychosozialen Problemen (z. B. Panikattacken) sollten eher im Einzelkontext behandelt werden.
835 45.6 · Fallbeispiel
45.6
Fallbeispiel
Mark ist ein 4½-jähriger Junge, der 4 Wochen zusammen mit seiner Mutter an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme zur Behandlung seiner Atemprobleme teilgenommen hat. Marks Mutter ist 32 Jahre alt und geschieden. Sie lebt mit einem neuen Partner zusammen und hat insgesamt vier Kinder. Die Schule hat sie mit der Fachhochschulreife abgeschlossen und danach eine Berufsausbildung absolviert. Momentan ist sie nicht erwerbstätig und befindet sich im Erziehungsurlaub. Die Aufnahme erfolgte mit der Einweisungsdiagnose Asthma. Weder der Junge noch seine Mutter hatten bisher an einer Schulung teilgenommen. Laut Angaben der Mutter wurden weder beim Kind noch in der Familie atopische Krankheitsbilder wie eine Nahrungsmittelallergie oder Neurodermitis festgestellt. Zum Krankheitsverlauf berichtete die Mutter, dass die Beschwerden erstmals mit 9 Monaten aufgetreten seien. Drei stationäre Krankenhausaufenthalte über jeweils eine Woche seien bisher bereits erfolgt. In den letzten 6 Monaten traten immer wieder Episoden mit Giemen und obstruktiver Atemnot auf, die mindestens eine Woche andauerten, ohne dass Anhaltspunkte für eine Erkältung bestanden haben. Marks aktuelle Atemsituation beschrieb die Mutter als schlecht. Er werde täglich bei körperlichen Aktivitäten, wie z. B. aktive Spiele im Kindergarten durch Husten, pfeifende, erschwerte Atmung oder Kurzatmigkeit eingeschränkt. Sein Verhalten beschrieb sie als altersangemessen, allerdings leide er unter häufigen Konzentrations- und Aufmerksamkeitsproblemen. Die medizinische Anamnese ergab, dass keine Dauermedikation durch den Hausarzt angesetzt wurde, wohl aber bei subakuten Infekten inhalatives Kortikoid- (Pulmicort) und Berodual-Lösung verschrieben wurden. Im Allergietest reagierte Mark positiv auf inhalative Allergene. Der betreuende Arzt stellte ein mittelschweres persistierendes Asthma fest. Die Exploration zu ihrem eigenen Befinden und zur familiären Situation ergab, dass die Mutter stark unter Ängsten und Sorgen bezüglich Marks Erkrankung litt. Marks Beschwerden schränkten ihre Zeit und die familiären Aktivitäten stark ein, da immer wieder alltägliche Aktivitäten, wie z. B. Essen oder Fernsehen, unterbrochen werden müssten. Die Eigenbelastung der Mutter war sehr hoch. Sie mache sich große Sorgen um die körperliche Gesundheit und das emotionale Wohlergehen von Mark. Sie fühle sich hilflos und habe Angst, wenn Mark huste oder Atemnot bekomme. Zudem habe sie immer schlaflose Nächte wegen des Asthmas ihres Kindes und werde jede Nacht davon wach. Sie bezeichnete ihren Gesundheitszustand als gut, fühle sich jedoch oft entmutigt und traurig. Ihre Probleme beeinträchtigten manchmal ihre Kontakte zu anderen Menschen. Im Umgang mit den Anforderungen durch das Asthma ihres Kindes erlebte sie sich als unsicher. Die Mutter nahm an der »Bremer Asthmaschulung für Eltern« teil; zusätzlich wurde eine Erziehungsberatung durchgeführt. Im Folgenden soll allgemein das Vorgehen
kurz beschrieben werden. Die »Bremer Asthmaschulung für Eltern« (BASE; Warschburger et al. 2000) richtet sich gezielt an Eltern von Vorschulkindern. Ziel ist es, den eigenverantwortlichen Umgang der Eltern zu fördern sowie deren Bewältigungskompetenzen zu stärken. Die Umsetzung erfolgt in geschlossenen Gruppen mit 6–8 Teilnehmern, die gemeinsam das Programm (6 Sitzungen à 90 Minuten; plus Inhalationsübungseinheit; . Tab. 45.2) durchlaufen. Die Eltern sollen nicht nur neues Wissen erwerben und vorhandenes vertiefen, sondern auch die Symptomwahrnehmung und den praktischen Umgang mit alltäglichen Behandlungsanforderungen (z. B. Wie benutze ich eine Inhalierhilfe?, Wie gestalte ich die Inhaliersituation, um die Mitarbeit meines Kindes zu steigern?) trainieren. Die einzelnen Inhalte werden im Gespräch mit den Eltern erarbeitet und vorhandene Kompetenzen gestärkt (supportives, ressourcenorientiertes Vorgehen). Alternative Umgangsweisen mit Stresssituationen werden erarbeitet und eigene psychosozi. Tab. 45.2. Überblick zur »Bremer Asthmaschulung für Eltern«. (Aus Warschburger et al. 2000, S. 245–246) Trainingsstunden
Inhalte
1. Stunde: Krankheitsbild
4 Definition und Häufigkeit des Krankheitsbildes 4 Klinisches Erscheinungsbild 4 Funktion der Atmungsorgane und Aufbau des Bronchialsystems 4 Pathophysiologie 4 Überblick zum Trainingsprogramm
2. Stunde: Auslöservermeidung
4 Überblick zu möglichen Triggern des Asthmas 4 Zusammenhang von Asthma und Allergie 4 Allergien: Sofort- und Spätreaktionen, Kreuzallergien, »Allergikerkarriere« 4 Umgang mit Auslösern, Auslöservermeidungsmaßnahmen
3. Stunde: Medikation
4 Dimensionen der Schweregradbeurteilung 4 Überblick zur Asthmamedikation (Medikationsgruppen) 4 Dauermedikation: Wirkungsweise und -eintritt 4 Inhalationssysteme und deren Handhabung
4. Stunde: Notfallmanagement
4 Vorboten für das Auftreten von Notfällen 4 Bedarfsmedikamente: Wirkungsweise und -eintritt 4 Individueller Notfallplan 4 Umgang mit körperlicher Aktivität 4 Umgang mit Infekten
5. Stunde: Stressbewältigung
4 Rolle von psychosozialen Belastungen für das Krankheitsmanagement 4 Kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Komponenten des Stressmanagements 4 Alternative Umgangsweisen mit Stresssituationen: Notfallmanagement
6. Stunde: Strategien für den Alltag
4 Strategien der Motivationsförderung beim Kind in Bezug auf das Inhalieren 4 Langzeitcompliance 4 Resümee der Trainingsinhalte 4 Ziele für den Alltag
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Kapitel 45 · Asthma bronchiale
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. Abb. 45.3. Symptomtagebuch aus der »Bremer Asthma-Schulung für Eltern (BASE)«. (Aus Warschburger 2005, S. 286)
837 45.6 · Fallbeispiel
© Bremer Asthma Schulung für Eltern (BASE) . Abb. 45.4. Notfallplan aus der »Bremer Asthma-Schulung für Eltern (BASE)«
ale Belastungen (z. B. Bin ich schuld am Asthma meines Kindes?, Erziehung meines asthmakranken Kindes) besprochen. Hier wird mit den Eltern konkret erarbeitet, welche Veränderungen sie in ihrem Alltag umsetzen können. Begleitend führen die Eltern ein Asthmatagebuch, um ihre täglichen Beobachtungen mit dem Asthma ihres Kindes zu dokumentieren und dadurch z. B. strukturiert die Wirkung der Medikation zu überprüfen oder relevante Auslöser für einen Asthmaanfall herauszufiltern (. Abb. 45.3). Innerhalb der Inhalationseinheit üben sie unter Supervision, worauf sie beim Inhalieren ihres Kindes achten müssen. Die Eltern erhalten kurze, themenzentrierte Zusammenfassungen am Ende jeder Einheit als kleines »Nachschlagewerk«. Ganz zentral ist auch die Erarbeitung eines individuellen Notfallplans (. Abb. 45.4), dessen Umsetzung im Rollenspiel geübt werden kann. In den Sitzungen fiel auf, dass Marks Mutter über ein relativ großes Informationsdefizit verfügte. So war sie sich z. B. unsicher, wie die Medikamente konkret zu dosieren sind, wann sie diese absetzen darf etc. Gerade die Vermittlung von Wissen über Auslöser und Medikation erlebte sie als sehr hilfreich und auch als im Alltag umsetzbar. In der gemeinsamen »Inhalationsstunde« konnte sie mit Mark unter der Supervision einer Krankenschwester das konkrete Inhalieren einüben, was sie im Umgang mit solchen Anforderungen deutlich sicherer werden ließ. Zusätzlich nahm Mark parallel an einer Atemgymnastikgruppe teil, in der er spielerisch lernte, wie er durch seine Körperhaltung seine
Atemsituation positiv beeinflussen kann. Marks Mutter war sich besonders unsicher, wie sie mit einer Verweigerung Marks zum Inhalieren umgehen sollte. Im Training wurden hierzu konkrete Maßnahmen besprochen (z. B. feste Zeiten, das Inhalieren mit einem Tokenprogramm belohnen und/ oder die Situation des Inhalierens angenehm – z. B. mit netter Musik – gestalten). Ein großes Problem für Marks Mutter war weiterhin ihre eigene emotionale Belastung. So berichtete sie zu Beginn, dass sie jede Nacht aufwache und nicht mehr durchschlafen könne. Die emotionale Belastung der Eltern wurde in der 5. Sitzung angesprochen und der Zusammenhang zwischen eigener Belastung und Bewältigung einer Atemnotsituation verdeutlicht. In der Gruppe wurden Lösungswege erarbeitet und beispielsweise hilfreiche Kognitionen (wie »Ich schaffe das«, »Erst mal entspannen«) aufgebaut. Die zusätzliche Erziehungsberatung (vor allem im Hinblick auf Marks Konzentrationsproblematik) unterstützte diesen Prozess. Am Ende der Maßnahme fühlte sie sich weniger hilflos und ängstlich. Auch der Zustand ihres Schlafs habe sich verbessert: Schlaflose Nächte habe sie während des Aufenthalts nicht gehabt. Sie gab an, sich sicherer im Umgang mit dem Asthma zu fühlen und deutlich besser informiert zu sein. Auch Marks Gesundheitszustand hatte sich gebessert.
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Kapitel 45 · Asthma bronchiale
45.7
Empirische Belege
Die Forschung zur Effizienz psychologischer Behandlungsverfahren bei Asthma bronchiale steckt noch in den Kinderschuhen. Die meisten Studien weisen große methodische Mängel (z. B. fehlende Kontrollgruppen, keine Randomisierung, kleine Stichprobengrößen) auf; Replikationsstudien fehlen fast völlig. Zudem finden sich kaum Angaben zu über die Lungenfunktion hinausgehenden Effektparametern (z. B. gesundheitsbezogene Lebensqualität). Zur Effektivität eines kombinierten Vorgehens im Rahmen eines Patientenschulungsprogramms liegen inzwischen eine Reihe sehr vielversprechender Forschungsergebnisse vor. Komponentenanalysen (Welches Element innerhalb des Programms ist notwendig?) fehlen aber auch in diesem Bereich.
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45.7.1 Entspannung und Biofeedback
Die empirische Evidenz zur Veränderung der pulmonalen Funktion bei Entspannungsverfahren ist umstritten. Der aktuelle Nutzen für die klinische Praxis wird im Allgemeinen als gering eingestuft. Allerdings zeichnet sich ab, dass eine spezifische Indikation für den Einsatz von Entspannungsmethoden bei ängstlichen Kindern und Jugendlichen (Panik während einer Asthmaattacke; begleitende Hyperventilation) gegeben ist. Der alleinige Einsatz von Entspannungsmethoden wird nicht empfohlen (McQuaid u. Nassau 1999). Im Wesentlichen ist die Befundlage für den Einsatz von Biofeedback vergleichbar. Kontrollierte Studien weisen darauf hin, dass es mit Hilfe von Biofeedback z. B. zu einer leicht verbesserten Obstruktionswahrnehmung kommt. McQuaid und Nassau (1999) zählen Biofeedback aufgrund einer Analyse der bislang vorliegenden kontrollierten Studien zu den »gut etablierten psychologischen Behandlungsansätzen«. Kritisch ist sicherlich anzumerken, dass häufig längerfristige Katamnesen fehlen. Auch der Transfer in den Alltag stellt ein Problem dieses apparativen Verfahrens dar.
45.7.2 Patientenschulungsprogramme
Zahlreiche Untersuchungen unterstützen die Wirksamkeit eines solchen Vorgehens. Eine aktuelle Metaanalyse von Guevara et al. (2003) anhand von 32 randomisierten kontrollierten Studien mit 3.706 Patienten im Alter zwischen 2 und 18 Jahren bestätigt diese Schlussfolgerung: Patientenschulung war verbunden mit einer mittelgroßen Verbesserung der Atemsituation (Effektstärke d: 0,50; Konfidenzintervall CI: 0,25–0,75) und Steigerung der Selbstwirksamkeit (0,36; CI: 0,15–0,57) sowie einer geringfügigen Reduktion der Schulfehltage (–0,14; CI: –0.23 – –0.04), Tage mit Aktivitätseinschränkungen (–0,29; CI: –0.49 – –0.08) und der Notfallaufnahmen (–0.21; CI: –0.33 – –0,09). Die Effekte erwiesen sich als größer, wenn die Kinder ein mindestens
mittelschweres Asthma hatten und ein Peak-Flow einsetzten. Bislang fehlen jedoch Studien, die einen direkten Vergleich der verschiedenen Interventionsstrategien erlauben und solche, die Lebensqualität als Outcome-Parameter berücksichtigen. Einschränkend sollte sicherlich auch gesagt werden, dass die Analysen oft nur auf einer geringen Anzahl von Studien beruhen und generell die Untersuchungsgruppen eher klein waren.
45.8
Ausblick
Psychosoziale Faktoren spielen bei Asthma eine wichtige Rolle, die Forschung hierzu steckt leider noch in den Kinderschuhen. Weitere Studien sind notwendig, die Aufschluss über die genauen vermittelnden Prozesse zwischen psychosozialen Faktoren und Asthmazustand liefern. In der Behandlung sind Patientenschulungsprogramme »state of the art«, wenn es um die umfassende Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Asthma sowie deren Eltern geht. Inzwischen haben sich von den Standardprogrammen auch eine Vielzahl von Varianten etabliert wie computergestützte Schulungsprogramme (rein edukativ), Einsatz von »peer educators« oder auch die Realisierung von Schulungen in Summer-Camps, um möglichst viele Betroffene zu erreichen. Auch wenn die Effekte von Schulungen relativ gut belegt sind, fehlen längerfristige Katamnesen, die uns Aufschluss über die Notwendigkeit von Wiederauffrischungssitzungen geben. Wünschenswert ist neben der Ausformulierung für spezifische Zielgruppen (z. B. Jugendliche, die rauchen) auch die Durchführung weiterer Studien, die uns Aussagen zur differenziellen Indikation und Prädiktoren für den Behandlungsverlauf liefern.
Zusammenfassung Asthma ist eine entzündliche Erkrankung der Atemwege, die mit »Lufthunger« und Atemnot, vermehrtem Husten, Engegefühl in der Brust und rasselnden Geräuschen beim Ausatmen einhergeht. Diese Symptome können nach Kontakt mit bestimmten Auslösefaktoren wie z. B. Hausstaubmilben, aber auch in emotionalen Belastungssituationen beobachtet werden. In biopsychosozialen Modellen wird das komplexe Wechselspiel zwischen psychosozialen und biologischen Faktoren berücksichtigt. Psychische Faktoren triggern nicht nur das Krankheitsgeschehen, sondern tragen wesentlich zu dessen Aufrechterhaltung bei. Im Mittelpunkt der Versorgung stehen daher Patientenschulungen, deren wesentliches Ziel es ist, mit Hilfe von kognitiv-behavioralen Techniken die Krankheitsbewältigung von Eltern und Kind zu verbessern. Weiterhin haben sich auch Entspannungsverfahren bewährt – allerdings nicht als alleinige Verfahren. Psychotherapie im engeren Sinne ist lediglich bei Vorliegen komorbider psychischer Störungen indiziert.
839 Internetadressen
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Internetadressen Deutsche Atemwegsliga (http://www.atemwegsliga.de). AG Asthmaschulung (http://www.asthmaschulung.de).
45
IV
IV Spezielle Indikationen 46
Kinder psychisch kranker Eltern
– 843
Silvia Schneider
47
Kinder nach Trennung und Scheidung
– 855
Beate Schwarz
48
Kindesmisshandlung
– 865
Franz Moggi
49
Verhaltenstherapie und psychopharmakologische Behandlung
– 887
Hans-Christoph Steinhausen
50
Prävention psychischer Störungen – 901 Juliane Junge-Hoffmeister
51
Sport und psychische Gesundheit Tim Hartmann, Uwe Pühse
– 923
46
46 Kinder psychisch kranker Eltern Silvia Schneider
46.1
Einleitung
– 844
46.2
Auswirkungen auf das Kind und die Eltern
46.2.1 46.2.2
Die Situation der Kinder – 845 Die Situation der Eltern – 846
46.3
Auswirkungen der elterlichen Psychopathologie auf das Kind – 846
46.3.1 46.3.2 46.3.3
Rolle der Genetik – 846 Bindungserfahrungen – 846 Erziehungsfertigkeiten und familiäres Klima
46.4
Erfassung der Befindlichkeit von Kindern psychisch kranker Eltern – 848
46.5
Interventionen – 849
46.5.1 46.5.2
Interventionen für Eltern mit psychischen Störungen – 849 Interventionen für Kinder psychisch kranker Eltern – 851
46.6
Fallbeispiel
46.7
Ausblick
– 852
– 852
Zusammenfassung Literatur
– 852
– 853
Weiterführende Literatur
– 853
– 845
– 847
844
Kapitel 46 · Kinder psychisch kranker Eltern
Tödliche Mutterliebe Weil sie an einer Wochenbettpsychose leidet, tötet eine junge Frau ihr zwei Wochen altes Kind. Vor dem Landgericht Mainz beginnen die Gutachter ihr zermürbendes Werk. Die Geschichte eines Martyriums, das nach fast vier Jahren mit einem Freispruch endet. (Die Zeit, 29, 13. Juli 2006) … alle haben immer nur gefragt, wie es meiner Mutter gehe, auch die Ärzte. Keiner hat mal gefragt, wie es uns Kindern geht. (Zitat eines Betroffenen, aus Mattejat u. Lisofsky 2008)
46.1
46
Einleitung
Leider sind es immer erst Schlagzeilen wie der oben zitierte Titel aus Die Zeit, die in das Bewusstsein rufen, dass Eltern mit psychischen Störungen Kinder haben, die Beachtung und Hilfe benötigen. Die Eltern mit psychischen Störungen kommen dabei im öffentlichen Urteil schlecht weg, erscheinen sie doch als »Verrückte«, die ihre Kinder vernachlässigen oder gar töten. Dabei sind solche Tragödien wie im oben zitierten Zeit-Artikel äußerst selten. Alltag für Kinder psychisch kranker Eltern ist hingegen, dass sich nur selten jemand ihrer Anliegen annimmt und sie nach ihrem Befinden befragt (s. zweites Zitat oben). Dies ist schon erstaunlich: Weisen doch mehr oder weniger alle wissenschaftlichen Schriften zur Ätiologie psychischer Störungen darauf hin, dass die familiäre Häufung psychischer Störungen Fakt ist und Kinder psychisch kranker Eltern besonders gefährdet sind, selbst psychisch zu erkranken. Versucht man allerdings über die in der Wissenschaft üblichen Literaturdatenbanken empirisches Hinter-
grundwissen zu diesem Thema zu generieren, so wird man schnell enttäuscht. Es existiert nur wenig empirisches Wissen darüber, wie es Kindern psychisch kranker Eltern geht und wie man ihnen helfen kann, damit sie eine gesunde und normale Entwicklung nehmen. Man gewinnt den Eindruck, als müssten diese Kinder selbst erst psychische Störungen entwickelt haben, damit sie für die Forschung wieder interessant sind. Das vorliegende Kapitel möchte auf die Lebenswelten von Kindern psychisch kranker Eltern eingehen. Dabei soll es nicht um bereits manifeste psychische Störungen gehen. Das Wissen hierzu lässt sich in den entsprechenden Störungskapiteln des Lehrbuchs nachlesen. Vielmehr geht es darum, die Erfahrungen dieser Kinder und ihre Situation in ihren Familien im vorliegenden Kapitel zusammenzufassen. Es soll darauf eingegangen werden, auf welchen Wegen die elterliche Psychopathologie auf die Kinder Einfluss nimmt, welche Faktoren es sind, die den Kindern helfen, sich psychisch gesund zu entwickeln und schließlich sollen Interventionen für Eltern und Kinder dargestellt werden, die gesunde Entwicklung der Kinder fördern. ! Kinder von psychisch kranken Eltern laufen Gefahr, durch das übliche psychosoziale Versorgungsnetz zu fallen: Eltern werden in der Behandlung nicht zu ihrer Rolle und Befindlichkeit als Eltern befragt. Gleichzeitig greift das Gesundheitsversorgungssystem erst ein, wenn sich manifeste Störungen beim Kind etabliert haben oder Missbrauch bzw. Vernachlässigung nachgewiesen wurde.
Exkurs Wie häufig haben psychisch kranke Erwachsene Kinder? Repräsentative und zuverlässige Daten zur Frage, wie viele Personen der Erwachsenenbevölkerung mit psychischen Störungen Kinder haben, sind rar. Die »National Comorbidity Study«, in der eine repräsentative Bevölkerungsstichprobe von 5877 erwachsenen Bürgern der USA zu psychischen Störungen befragt wurde, berichtet, dass 65% der weiblichen Befragten und 52% der männlichen Befragten mit psychischen Störungen (12-Monatsprävalenz) Kinder haben (Nicholson et al. 2001). Die häufigsten Diagnosen sind bei Müttern und Vätern die Angststörungen gefolgt von den affektiven Störungen
Familiale Häufung psychischer Störungen Fast die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung leidet im Laufe des Lebens unter einer psychischen Störung (Kessler et al. 1997). Wir wissen heute, dass psychische Erkrankungen wie Schizophrenie, Depressionen, Angsterkrankungen oder auch Alkoholismus in Familien gehäuft auftreten. Ein Elternteil mit einer psychischen Erkrankung zu haben ist daher einer der bedeutendsten Risikofaktoren für die Ent-
(inkl. Manie und bipolare Störungen). Weniger als 1% weisen eine nichtaffektive psychotische Störung auf. Das Statistische Bundesamt in Deutschland berichtet, dass im Jahr 2006 82% der Frauen im Alter zwischen 35 und 75 Jahren Kinder haben. Angaben, wie viele Männer Väter sind, werden vom Statistischen Bundesamt leider nicht berichtet. Diese Daten weisen darauf hin, dass psychisch kranke Erwachsene zwar häufig, aber möglicherweise etwas seltener Kinder haben als Erwachsene aus der Allgemeinbevölkerung.
stehung psychischer Probleme: 30–50% der Kinder psychisch kranker Eltern weisen selbst psychische Störungen auf. Im Vergleich dazu erkranken 25% der Kinder aus der Allgemeinbevölkerung bis zum Erwachsenenalter an einer psychischen Störung (Friedman et al. 1996). Dabei scheinen für dieses erhöhte Risiko nicht nur die Gene verantwortlich zu sein. Selbst bei liberaler Schätzung ist davon auszugehen, dass lediglich 30–50% der
845 46.2 · Auswirkungen auf das Kind und die Eltern
Entwicklung psychischer Störungen durch genetische Faktoren erklärt werden können. Für alle psychischen Störungen ist klar, dass sie erst durch das Zusammenspiel von Genen und Umweltfaktoren entstehen (7 Abschn. 46.3.1). Unter den Umweltfaktoren spielt insbesondere die Familie eine herausragende Rolle. Für die gesunde Entwicklung eines Kindes stellt die Familie den Rahmen dar, in dem
Grundbedürfnisse befriedigt werden und Unterstützung für das Bewältigen von Entwicklungsaufgaben gegeben wird. In der Familie erhalten Kinder zudem adäquate Impulse zur Entwicklung. Kinder psychisch kranker Eltern sind von Geburt an besonderen Lebensumständen ausgesetzt, die im folgenden Kapitel beschrieben werden sollen.
Exkurs Spezifität familialer Transmission Unnewehr et al. (1998) untersuchten anhand einer »Topdown«-Studie 6- bis 15-jährige Kinder, deren Mütter oder Väter entweder eine Panikstörung mit Agoraphobie, eine Tierphobie oder keine psychische Störungen aufwiesen. Sowohl die Eltern als auch die Kinder wurden anhand eines strukturierten Interviews nach den DSM-Kriterien diagnostiziert. Kinder von Eltern mit einer Angststörung hatten im Vergleich zu Kindern psychisch gesunder Eltern ein erhöhtes Risiko, Angststörungen zu entwickeln. Interessanterweise ergaben sich jedoch Unterschiede in der Art der spezifischen Angstdiagnosen, wenn die beiden Kindergruppen mit einem ängstlichen Elternteil unter-
46.2
Auswirkungen auf das Kind und die Eltern
46.2.1 Die Situation der Kinder
Fallbeispiel Laura berichtet, dass die Beziehung zwischen ihr und ihrer (schizophrenen) Mutter noch nie sehr gut gewesen sei. Dies tut ihr sehr leid. Sie habe teilweise den Eindruck, dass sie die Mutter sei und nicht umgekehrt. Schon von klein an musste sie ihre Mutter erinnern, Tabletten zu nehmen, da die Mutter sonst noch »seltsamer« wurde. Ihr Vater versucht, für alle Kinder da zu sein. Schon früh musste sie Verantwortung im Haushalt übernehmen.
Mattejat u. Lisofsky (2008) nennen die folgenden Problembereiche von Kindern psychisch kranker Eltern, die Ansatzpunkte für Interventionen darstellen können: 4 Desorientierung und Verängstigung der Kinder, da sie die Probleme des erkrankten Elternteils nicht einordnen können, 4 Gefühl, an den psychischen Problemen der Eltern Schuld zu sein, 4 Tabuisierung und Gefühl, über die Probleme des kranken Elternteils nicht außerhalb der Familie reden zu dürfen, 4 Isolation des Kindes, da es niemanden hat, mit dem es über die Probleme zu Hause sprechen kann,
einander verglichen wurden. Hatte ein Elternteil eine Panikstörung mit Agoraphobie, so wiesen ihre Kinder häufiger internale Angststörungen wie Trennungsangst, Überängstlichkeit oder Kontaktvermeidung auf. Hatte der Elternteil eine Tierphobie, war bei ihren Kindern das Risiko für externale Angststörungen wie spezifische Phobie und Agoraphobie erhöht. Diese Befunde sprechen dafür, dass Angststörungen der Eltern relativ spezifisch an ihre Kinder weitergegeben werden. Darüber hinaus weisen weitere Studien auf die Spezifität der familialen Transmission von depressiven und Abhängigkeitsstörungen hin.
4 Betreuungsdefizit, da der erkrankte Elternteil zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist bzw. der nichterkrankte Elternteil viel Zeit in die Versorgung des kranken Elternteils investieren muss, 4 zusätzliche zeitliche Belastungen entstehen, da das Kind z. B. die Haushaltsführung übernehmen muss, wenn die Mutter in der Klinik ist; eigene Bedürfnisse müssen in den Hintergrund gestellt werden, 4 Parentifizierung (z. B. Kind übernimmt psychische Stabilisierung der Eltern, Übernahme der Elternrolle gegenüber Geschwistern) und Verantwortungsübernahme für die Eltern und die gesamte Familie, 4 Erlebnisse von Abwertungen der Eltern und ihrer selbst durch außenstehende Personen, 4 Loyalitätskonflikte innerhalb der Familie, bei denen das Kind den Eindruck hat, sich zwischen den Elternteilen entscheiden zu müssen, 4 Loyalitätskonflikte außerhalb der Familie, die Kinder schämen sich für ihre Familie.
Entwicklungsauffälligkeiten Kinder psychisch kranker Eltern zeigen Auffälligkeiten in der Entwicklung kognitiver und sozialer-emotionaler Kompetenzen. So konnten Laucht et al. (1994) zeigen, dass Kinder von psychisch erkrankten Müttern oder Vätern bereits im Alter von zwei Jahren eine signifikant verzögerte Sprachentwicklung und eine stärkere Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen. Dieser Effekt war bei Müttern mit einer Persönlichkeitsstörung oder mit Alkoholmissbrauch besonders stark ausgeprägt.
46
846
Kapitel 46 · Kinder psychisch kranker Eltern
46.2.2 Die Situation der Eltern
Eltern mit psychischen Störungen sind aufgrund ihrer Erkrankung oft mit der Erziehung ihrer Kinder und dem Familien- bzw. Berufsalltag überfordert.
Gotlib 1999). Hier soll insbesondere auf die Rolle der Genetik, Bindung und Erziehungsfertigkeiten eingegangen werden.
46.3.1 Rolle der Genetik
Angst, das eigene Kind wird auch psychisch krank Eltern mit psychischen Störungen sorgen sich, dass ihre Kinder ebenfalls psychische Störungen entwickeln (Nicholson et al. 1998). Normale Entwicklungsphänomene (z. B. entwicklungsphasentypische Ängste) werden voreilig als erste Anzeichen einer psychischen Störung missinterpretiert. Sie fühlen sich übermäßig verantwortlich für mögliche Probleme ihrer Kinder. Dem steht jedoch gegenüber, dass die Mehrheit der Kinder von psychisch kranken Kindern sich psychisch gesund entwickelt.
Angst, das Sorgerecht zu verlieren
46
Menschen mit psychischen Störungen gehören zu den am stärksten stigmatisierten Gruppen in unserer Gesellschaft (Stuart 2008). Sie fürchten sich davor, ihre psychische Befindlichkeit anderen mitzuteilen, da sie negative Konsequenzen antizipieren. Dies tun sie umso mehr, wenn sie Kinder haben, für deren gesunde Entwicklung sie sich verantwortlich fühlen. Sie sorgen sich (zu Recht), dass ihnen das Sorgerecht für ihre Kinder aufgrund ihrer psychischen Erkrankung entzogen wird. Mehrere Studien, insbesondere aus den USA, belegen, dass Eltern mit psychischen Störungen gefährdet sind, das Sorgerecht ihrer Kinder zu verlieren. Manche Studien berichten von bis zu 80% der Eltern, die das Sorgerecht für ihre Kinder verloren haben (Joseph et al. 1999). Hier muss jedoch bedacht werden, dass in diesen Studien typischerweise Eltern mit schweren psychotischen Erkrankungen untersucht wurden. Die Zahlen können daher nicht generalisiert werden und es ist davon auszugehen, dass der Anteil von Eltern mit Angststörungen, denen das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen wurde, bei diesen Patienten erheblich niedriger ausfällt.
Partnerschaft und sozialer Hintergrund Eltern mit psychischen Störungen leben häufiger allein, sind geschieden oder leben getrennt vom anderen Elternteil des Kindes. Bei Vorliegen einer Partnerschaft finden sich häufiger Disharmonie und Konflikte. Auch sind Eltern mit psychischen Störungen häufiger arbeitslos und arm (Center of Mental Health Services 2001).
46.3
Auswirkungen der elterlichen Psychopathologie auf das Kind
Die Effekte elterlicher psychopathologischer Symptome können über verschiedene Wege und Mechanismen auf die Entwicklung des Kindes Einfluss nehmen (Goodman u.
Die genetische Forschung boomt und die Fortschritte in den Methoden ermöglichen heute genomweite Assoziationsstudien, anhand derer Gene identifiziert werden können, die mit einer psychischen Erkrankung korreliert sind. Ein wichtiges »Nebenprodukt« genetischer Studien ist zugleich, die Aufdeckung der Bedeutung von Umweltfaktoren für die Entwicklung psychischer Erkrankungen. So geht man bei den beiden häufigsten psychischen Erkrankungen, den Angst- und depressiven Störungen, von einer Varianzaufklärung durch Gene in Höhe von 30–40% aus, d. h. mehr als die Hälfte der Varianzaufklärung findet über nichtgenetische Faktoren statt. Ein spannender Forschungsbereich ist die Untersuchung von Gen-Umwelt-Interaktionen, die im Bereich psychischer Störungen insbesondere von der Arbeitsgruppe um Caspi und Moffitt untersucht wurden. Sie konnten im Rahmen einer prospektiven Längsschnittstudie zeigen, dass die Auswirkungen belastender Lebensereignisse wie Misshandlung in der Kindheit von der genetischen Ausstattung der jeweiligen Person abhängen (Caspi et al. 2003). So zeigten nur Personen mit einer genetischen Vulnerabilität nach Misshandlungserfahrungen Depressionen, nicht jedoch Personen ohne genetische Vulnerabilität. Eine ähnliche Erbe-Umwelt-Interaktion fand die gleiche Arbeitsgruppe für den Beginn psychotischer Symptome bei Adoleszenten nach Cannabiskonsum (Caspi et al. 2005). Während Jugendliche ohne genetische Prädisposition nach Cannabiskonsum sich unauffällig entwickelten, zeigten Jugendliche mit genetischer Vulnerabilität nach Cannabiskonsum psychotische Symptome. ! Die moderne genetische Forschung zeigt, dass eine genetische Vulnerabilität erst durch das Zusammenspiel mit ungünstigen Umweltfaktoren zum Ausbruch psychischer Störungen führt. 46.3.2 Bindungserfahrungen
Bowlby (1973) weist in seinem viel beachteten Buch Attachment and Loss: Attachment auf die zentrale Bedeutung der Bindung eines Kindes an seine primäre Bezugsperson hin (7 Kap. III/4). Bowlbys Annahmen zufolge ist die sichere Bindung eines Kindes zu seiner Bezugsperson eine wichtige Voraussetzung für die gesunde psychische Entwicklung eines Kindes. Bezugspersonen von sicher gebundenen Kindern sind dadurch charakterisiert, dass sie emphatisch und für das Kind vorhersagbar auf seine Bedürfnisse eingehen, während Bezugspersonen von unsicher gebundenen Kindern dies nicht tun.
847 46.3 · Auswirkungen der elterlichen Psychopathologie auf das Kind
. Tab. 46.1. Mutter-Kind-Interaktionen bei depressiven Müttern. (Aus Reck et al. 2004) Mütterliches Verhalten
Reaktion des Säuglings
Passivität oder Intrusivität
Vermehrter Rückzug und Vermeidung
Weniger positiver Affekt
Vermeidung des Blickkontakts
Mehr negativer Affekt
Geringes Ausmaß an positivem Affektausdruck
Weniger expressives Ausdrucksverhalten
Niedriges Aktivitätslevel
Weniger körperliche Berührung
Erhöhte Irritabilität
Mangelnde Kontingenz
Geringere Fähigkeit zur Selbstregulation
Geringe Sensitivität für kindliche Signale
Unglücklichsein, häufigeres Weinen
Weniger Sprache
Stressparameter erhöht (Kortisol, Herzfrequenz)
Insbesondere bei depressiven Müttern wurde die frühe Mutter-Kind-Interaktion untersucht. Diese Studien zeigen übereinstimmend, dass depressive Mütter sich durch mangelnde Responsivität und Feinfühligkeit gegenüber ihren Babys auszeichnen (. Tab. 46.1). Schon in den ersten Lebensmonaten adaptieren Babys von depressiven Müttern auf die mangelnde Responsivität der Mutter. So zeigen sie in dem von Tronick entwickelten »Still-Face«-Paradigma – anders als Kinder von psychisch gesunden Müttern – keine Protestreaktion, wenn die Mutter über zwei Minuten hinweg gebeten wird, ihren Gesichtsausdruck einzufrieren und dem Kind mit unbeweglicher Miene gegenüberzusitzen (Reck et al. 2004).
46.3.3 Erziehungsfertigkeiten und familiäres
Klima Insbesondere für Kinder von Eltern mit Angststörungen und Depression existieren eine Reihe von Untersuchungen, die die Eltern-Kind-Interaktion untersuchten. In einer eigenen Studie untersuchten wir im Rahmen einer Verhaltensbeobachtung das Interaktionsverhalten von Müttern mit Panikstörung und ihren Kindern (Schneider et al., eingereicht). Mit Hilfe einer standardisierten Spielsituation (Zaubertafel) wurde das Interaktionsverhalten von Müttern mit Panikstörung und ohne psychische Störungen und deren Kindern untersucht. Ziel der Studie war die Frage, ob es Unterschiede im mütterlichen Verhalten bezüglich Feinfühligkeit, Ausübung von Kontrolle oder Äußerung von Kritik in einer standardisierten Interaktionssituation gegenüber den Kindern gibt. Übereinstimmend mit anderen Studien zeigte sich, dass Mütter mit Panikstörung gegenüber ihren Kindern mehr verbale Kontrolle und Kritik äußerten sowie weniger feinfühlig als Mütter ohne psychische Störungen waren. Aus der Forschung zum »Expressed-Emotion«-Konzept ist bekannt, dass das emotionale Klima in Familien von schizophrenen, aber auch affektiv und essgestörten Patienten durch ein hohes Ausmaß an Kritikäußerung, Feindse-
ligkeit oder emotionalem Überengagement charakterisiert sein kann (Stubbe et al. 1993; 7 Kap. II/20).
»Non-verbale Botschaften« Dass Kinder sehr empfänglich für non-verbale affektive Botschaften ihrer Bezugsperson sind, konnte in einer Modifikation der klassischen »Visuellen-Klippen«-Studie (»visual cliff study«) gezeigt werden. Hier wurden 12 Monate alte Kleinkinder mit Hilfe eines attraktiven Spielzeugs (Riesenrad) gelockt, eine mit einer Glasscheibe überdeckte etwa 30 cm tiefe visuelle Klippe zu überqueren. Auf der anderen Seite dieser visuellen Klippe war neben dem attraktiven Spielzeug die Mutter, die entweder das Kind anlächelte und zum Überqueren animierte oder einen ängstlichen, traurigen oder ärgerlichen Gesichtsausdruck zeigte. Zeigte sich die Mutter lächelnd, überquerten dreiviertel der Kinder die Klippe, zeigte sie sich jedoch ängstlich, überquerte kein Kind die Schlucht. Bei einem traurigen Gesichtsausdruck bewegte sich die Hälfte der Kinder zum Spielzeug und bei einem ärgerlichen Gesichtsausdruck immerhin noch 10% der Kinder. Die Suche von Kindern nach affektiven Informationen bei der Bezugsperson kann als soziales Rückversichern (»social referencing«) verstanden werden. Weitere Studien konnten belegen, dass eine solche Rückversicherung v. a. in uneindeutigen Situationen stattfindet. Des Weiteren zeigte sich, dass die Beurteilung einer Situation als aversiv bei älteren Kindern zudem stark durch Faktoren wie Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit beeinflusst wird (Sorce et al. 1985).
Schutzfaktoren Während die Risikoforschung eine lange Tradition in der klinischen Psychologie und der Psychiatrie hat, ist die Identifikation von Schutzfaktoren für die psychische Gesundheit von Kindern ein noch junger Forschungszweig. Die Forschung hierzu beschäftigt sich mit der Frage: Welche
46
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46
Kapitel 46 · Kinder psychisch kranker Eltern
Faktoren tragen dazu bei, dass sich ein Kind psychisch gesund entwickelt, auch wenn es mehreren Risikobedingungen ausgesetzt ist? Hier scheinen Faktoren wie Intelligenz, soziale Kompetenz, Selbstvertrauen und emotionale Unterstützung des Kindes von besonderer Bedeutung zu sein. Darüber hinaus beschäftigt sich diese Forschung mit der Frage, welche Strategien dazu geeignet sind, die psychische Gesundheit der Kinder zu fördern? Ein zentraler Beitrag zur Entwicklung psychischer Gesundheit kann neben der Gewährleistung einer sicheren und wirtschaftlich befriedigenden Umgebung durch die Erziehung eines Kindes geleistet werden. Insbesondere ein autoritativer Erziehungsstil, der durch hohe Wertschätzung des Kindes und klare Regeln sowie konsequentes Erziehungsverhalten gekennzeichnet ist, trägt zur psychischen Gesundheit des Kindes bei. Im Entwicklungsverlauf von Kindern und Jugendlichen haben sich folgende Schutzfaktoren als wichtig erwiesen, die in folgende drei Bereiche eingeteilt werden können: 4 individuelle Faktoren (Intelligenz, soziale Interessen, soziale Kompetenz, Selbstvertrauen, Autonomie), 4 affektive Bindung (emotionale Unterstützung innerund außerhalb der Familie), 4 soziale Integration (soziales Netz, Integrationsfähigkeit in Gruppen, Schule, Arbeit). ! Nach Rutter (1985) werden unter »Resilience« Faktoren zusammengefasst, die unter Risikobedingungen das Kind vor einer negativen Entwicklung schützen.
Exkurs Kauai-Längsschnittstudie Werner u. Smith (1998) beobachteten 72 Kinder, die sich trotz schwieriger Lebensumstände psychisch gesund entwickelten, über eine Zeitdauer von 35 Jahren. Diese Kinder waren vier oder mehr Risikofaktoren ausgesetzt, z. B. Armut, familiärer Stress, genetische Vorbelastung, Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen, traumatische Ereignisse und elterliche Psychopathologie. In der weiteren Entwicklung dieser Kinder zeigten sich die folgenden Faktoren als Schutzfaktoren: Suchen und Finden emotionaler Unterstützung außerhalb der Familie, Teilnahme an außerschulischen Aktivitäten. Es gab auch geschlechtsspezifische Faktoren, so zeigte sich, dass bei Mädchen hohe Autonomie und Verantwortungsgefühl (infolge mütterlicher Berufstätigkeit, Betreuung von Geschwistern) und bei Jungen ein väterliches Rollenmodell und Erstgeborener (uneingeschränkte elterliche Aufmerksamkeit) Schutzfaktoren darstellten.
46.4
Erfassung der Befindlichkeit von Kindern psychisch kranker Eltern
Es sollte Routine sein, erwachsene Patienten mit psychischen Störungen nach der Familie – Kinder und Partnerschaft – zu befragen. Dabei sollten die folgenden Punkte abgeklärt werden: 4 Hat der Patient Kinder? Hat der Patient einen Partner? Falls der Patient Kinder hat: 4 Wer hat das Sorgerecht für die Kinder? 4 Fühlt sich der Patient mit der Erziehung der Kinder überfordert? 4 Gibt es Personen, die ihm bei der Betreuung der Kinder unterstützen? 4 Wünscht sich der Patient, dass ein Gespräch mit Kindern und Partner geführt wird? Zur Erfassung der psychischen Befindlichkeit und Belastung von Kindern von Eltern mit psychischen Störungen können die folgenden Fragebogen eingesetzt werden (7 Kap. III/8): Allgemeine Psychopathologie: »The Strengths and Difficulties Questionnaire« (SDQ)
Eine zuverlässige und effiziente Erfassung kindlichen Problemverhaltens erlaubt der Fragebogen zu Stärken und Schwächen (»The Strengths and Difficulties Questionnaire«, SDQ; Goodman 1997; deutsche Übersetzung: sdqinfo 2009). Der SDQ liegt in drei Versionen vor: eine Version für Eltern oder Lehrer für 4- bis 16-Jährige (P/T4–16SDQ), eine Eltern-, Erzieherversion für 3- (und 4-) Jährige (P3/4-SDQ) und ein Selbstbeurteilungsbogen für Kinder und Jugendliche von 11–16 Jahren (S11–16-SDQ). Der Fragebogen umfasst 25 Items, die zu fünf verschiedenen Skalen zusammengefasst werden können: emotionale Probleme, Verhaltensprobleme, Hyperaktivität, Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen und prosoziales Verhalten. Lebensqualität der Kinder: Inventar zur Erfassung der Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen (ILK)
Das ILK ist ein Screening-Instrument zur Erfassung der Lebensqualität bei gesunden sowie Kindern und Jugendlichen mit einer psychischen Störung oder körperlichen Erkrankung. Es erfasst Informationen vom Patienten selbst, dessen Eltern und ggf. seinen Ärzten oder Therapeuten. Die Lebensqualität kann für folgende Bereiche getrennt erfasst werden: (1) Schule, (2) Familie, (3) soziale Kontakte zu Gleichaltrigen, (4) Interessen und Freizeitgestaltung. Hinzu kommen die beiden gesundheitsbezogenen Bereiche: (5) körperliche Gesundheit und (6) psychische Gesundheit. Neben den Einzelbereichen wird auch eine (7) Gesamtbeurteilung der Lebensqualität erhoben. Als zusätzliche Bereiche, die nur für erkrankte Personen relevant sind, werden Maße für die (8) Belastung durch die aktuelle Erkrankung
849 46.5 · Interventionen
und für die (9) Belastung durch die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen erhoben. Erziehungskompetenzen der Eltern: Erziehungsstilinventar (ESI)
Auskunft zu dem vom Kind erlebten Erziehungsverhalten der Eltern (getrennte Erfassung für Mutter und Vater) gibt das Erziehungsstilinventar (ESI; Krohne u. Pulsack 1991). Es ist für Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 16 Jahren geeignet und besteht für beide Versionen jeweils aus 60 Items. Dabei werden erlebte Unterstützung, Einschränkung, Lob, Tadel, Strafintensität und Inkonsistenz erfasst.
Die spezifischen Interventionen sollten in Abhängigkeit des Alters des Kindes und der elterlichen psychischen Störung ausgewählt werden. Generell gelten Interventionen als Erfolg versprechend, die die folgenden Ziele verfolgen: 4 Sicherstellung eines sicheren und stabilen Wohnumfeldes, 4 Reduktion von Partnerschaftskonflikten, 4 Verbesserung der Eltern-Kind-Kommunikation, 4 Verbesserung der Erziehungsfertigkeiten/Informationen über die Bedürfnisse des Kindes, 4 Reduktion von Umgebungsstressoren, 4 Unterstützung der Resilienz des Kindes, 4 kindadäquate Informationsvermittlung über die elterliche psychische Störung.
Partnerschaft der Eltern: Partnerschaftsfragebogen (PFB)
Zur reliablen und validen Erfassung der Qualität der elterlichen Partnerschaft kann der Partnerschaftsfragebogen (PFB) von Hahlweg (1996) eingesetzt werden. Der PFB besteht aus 30 Items und erfasst die Bereiche Streitverhalten, Zärtlichkeit und Gemeinsamkeit/Kommunikation. Checkliste zur Risikoeinschätzung
Im Rahmen eines Modellprojekts des Dachverbandes Gemeindepsychiatrie e. V. Bonn zur Situation von Kindern psychisch kranker Eltern wurde eine Checkliste zur Risikoeinschätzung entwickelt. Die Checkliste erfragt Informationen zur Erkrankung der Eltern, bedeutsamen psychosozialen Variablen und Kindvariablen. Die Checkliste wurde aus der Praxis für die Praxis entwickelt und gibt wertvolle Hinweise darauf, ob das Kind ein erhöhtes Risiko für eine abweichende Entwicklung aufweist. Der Fragebogen kann über die Internetadresse www.psychiatrie.de/data/pdf/ e4/06/00/025_fragebogen.pdf bezogen werden. Gütekriterien zu diesem Verfahren liegen nicht vor.
46.5
Interventionen
Cook u. Steigman (2000) formulieren wichtige Prinzipien für die Arbeit mit Eltern mit psychischen Störungen und ihren Kindern: 4 Fokus der Intervention auf die Familie, 4 Kombination aus Therapie, Rehabilitation und Unterstützung, 4 Sensitivität gegenüber der mit psychischen Störungen verbundenen Stigmatisierung und Vorurteile, denen Eltern mit psychischen Störungen gegenüberstehen, 4 Sensitivität gegenüber elterlicher Ängste um das Sorgerecht, 4 Erziehungsfertigkeiten dienen als Basis für die Besserung des Elternteils, 4 Zusammenarbeit über verschiedene Institutionen hinweg, 4 Permanente Erreichbarkeit der Dienste.
46.5.1 Interventionen für Eltern mit psychischen
Störungen Stationäre Mutter-Kind-Einheiten Immer mehr Psychiatrien in Deutschland bieten – oft in Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie – spezielle Behandlungsangebote für psychisch kranke Mütter mit Babys und Kleinkindern an (Turmes u. Hornstein 2007). Ein Beispiel für ein solches Angebot ist das MutterKind-Projekt des Universitätsklinikums Heidelberg, das hier kurz vorgestellt werden soll. Das Behandlungsangebot findet stationär oder teilstationär statt und schließt Mütter mit einer depressiven Störung mit Kindern bis zum 3. Lebensjahr mit ein (Reck et al. 2004). Die Behandlung der Mutter umfasst die klassischen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen zur Behandlung der Depression und einen supportiven Teil. Dieser Baustein wird um eine videogestützte Mutter-Kind-Therapie mit den folgenden Inhalten ergänzt: 4 Mutter-Kind-Interaktion: Veränderung dysfunktionaler Interaktionsmuster, 4 mütterliche Repräsentanzen: Verbesserung mütterlicher Selbstwirksamkeit, 4 mütterliche Wahrnehmung: Schulung der Wahrnehmung von eigenen und kindlichen Stressreaktionen in der Mutter-Kind-Interaktion. Dem Behandlungsansatz liegt das in . Abb. 46.1 dargestellte Therapierational zugrunde. Eine Evaluation zu dem Heidelberger Programm wurde bisher nicht publiziert.
Gruppentherapie für depressive Mütter (Hofecker-Fallahpour et al. 2005) Das Therapieprogramm richtet sich an Mütter mit der Diagnose einer Depression in der Zeitspanne von der Schwangerschaft bis zum Vorschulalter des Kindes. Es besteht aus 12 Gruppensitzungen à 90 Minuten und einem Paargespräch. Das Programm ist in drei Phasen unterteilt: 1. Phase: Erlernen kognitiv-verhaltenstherapeutischer antidepressiver Strategien,
46
850
Kapitel 46 · Kinder psychisch kranker Eltern
46 . Abb. 46.1. Teufelskreismodell der depressiven Mutter-Kind-Interaktion. (Aus Reck et al. 2004)
2. Phase: Auseinandersetzung mit rollenspezifischen Themen der frühen Mutterschaft, gezielte Anwendung erlernter Strategien im familiären Alltag, 3. Phase: Auseinandersetzung mit Krankheit und Krise, Verfestigung und Ausweitung erlernter Strategien, Planung der unmittelbaren Zukunft nach der Gruppentherapie.
Das Programm wurde in einer nicht kontrollierten Therapiestudie mit insgesamt 31 Teilnehmerinnen durchgeführt und evaluiert (Hofecker-Fallahpour et al. 2003). Es zeigten sich signifikante Reduktionen in Symptomskalen zur Erfassung depressiver Symptome und allgemein psychopathologischer Symptome von Zeitpunkt vor Beginn der Therapie bis zum Zeitpunkt nach Therapieende.
Wie wirkt sich die erfolgreiche elterliche Therapie auf das Kind aus? Bisher kaum untersucht ist die Frage, ob eine erfolgreiche elterliche Psychotherapie Auswirkungen auf die psychische Entwicklung des Kindes hat. Von unserer Arbeitsgruppe wurde in einer prospektiven Längsschnittstudie dieser Frage nachgegangen (Schneider et al., eingereicht). Eltern mit einer Panikstörung und deren Kinder wurden vor und nach der Behandlung der elterlichen Panikstörung untersucht. Zum ersten Erhebungszeitraum vor der elterlichen Verhaltenstherapie unterschieden sich Kinder, deren Eltern eine Verhaltenstherapie durchführten, nicht im Ausmaß ihrer Ängstlichkeit von den Kindern, deren Eltern keine Behandlung durchführten. Sieben Jahre nach Abschluss der elterlichen Behandlung zeigten Kindern, deren Eltern die Verhaltenstherapie erfolgreich absolviert hatten, eine bessere psychische Entwicklung: Sie zeigten
signifikant tiefere Werte auf Fragebögen zur Erfassung von Angstsensitivität, agoraphobischem Verhalten, angstrelevanten kognitiven Verzerrungen und Depression. Interessanterweise zeigte sich auch, dass eine nichterfolgreiche elterliche Psychotherapie immer noch besser war, als gar keine Therapie. Die Psychotherapie der Eltern scheint somit einen präventiven Einfluss auf die Psychopathologie ihrer Kinder zu haben. Interessant ist hierbei, dass dieser positive Effekt erreicht werden konnte, ohne Interventionen zu Veränderungen im elterlichen Erziehungsverhalten vorzunehmen oder das Kind psychotherapeutischen Interventionen zu unterziehen. Ähnliche Befunde konnten von Weissman et al. (2006) bei Müttern mit depressiven Erkrankungen nach dreimonatiger erfolgreicher medikamentöser Behandlung beobachtet werden.
851 46.5 · Interventionen
Förderung von Erziehungskompetenzen Verschiedene Studien konnten zeigen, dass die Verbesserung elterlicher Erziehungskompetenzen nicht nur zu einem besseren Verlauf kindlicher Entwicklung, sondern auch zu einer Reduktion elterlicher Belastung und Depression beiträgt (Sanders 2005). Insofern sind Elterntrainings zur Verbesserung von Erziehungskompetenzen geeignet, Eltern mit psychischen Störungen in der Bewältigung ihrer Erziehungsaufgaben zu unterstützen. Das weltweit umfassendste evaluierte Programm zur Förderung von Erziehungskompetenzen ist das »Positive-Parenting«-Programm, das von Sanders in Australien entwickelt wurde (Sanders et al. 2000; 7 Kap. III/17). Das Triple-P-Programm ist mehrstufig aufgebaut und umfasst insgesamt fünf Interventionsebenen, die jeweils eine steigende Intensität an Unterstützung beinhalten. Probleme klassischer Elterntrainings können jedoch sein, dass sie zu wenig auf die individuellen Bedürfnisse von Eltern mit psychischen Störungen zugeschnitten sind und dadurch ihre Mitarbeit gefährdet wird. Eltern mit psychischen Störungen bedürfen insbesondere der Unterstützung bei der Umsetzung neu erlernter Erziehungsfertigkeiten in den für sie spezifisch schwierigen Situationen. Wie sollen Grenzen gesetzt und die Ausführung von notwendigen Konsequenzen umgesetzt werden, wenn die Mutter aufgrund von Antriebslosigkeit, Gefühlen der Minderwertigkeit und Konzentrationsproblemen aufgrund der psychischen Störung abgelenkt wird etc.?
Unterstützung in der Bewältigung des Familienalltags Eltern mit schweren psychischen Erkrankungen sind oft mit der Haushaltsführung und dem Familienalltag überfordert. Hier sollten externe Hilfsangebote, z. B. Möglichkeiten sozialpädagogischer Familienhilfe, abgeklärt und einbezogen werden. Manchmal können auch Familienmitglieder wie Großeltern oder Paten des Kindes wichtige Funktionen übernehmen.
46.5.2 Interventionen für Kinder psychisch
kranker Eltern Es liegen verschiedene Programme zur primären Prävention psychischer Störungen für Kinder und Jugendliche vor, die sich an unterschiedliche Zielgruppen richten (Zusammenfassung dieser Präventionsprogramme 7 Kap. III/50). Spezifische Interventionsprogramme für Kinder psychisch kranker Eltern liegen bislang jedoch nicht vor. Es werden daher im Folgenden Interventionsempfehlungen auf der Basis klinischer Erfahrungen vorgenommen. Liegen bei den Kindern psychisch kranker Eltern manifeste psychische Störungen vor, sollten in Abhängigkeit der vorliegenden Symptomatik evidenzbasierte störungsspezifische Behandlungsprogramme zur Anwendung
kommen (7 entsprechende Störungskapitel im vorliegenden Band).
Psychoedukation: Aufklärung über die elterliche Erkrankung Zentral ist die Aufklärung des Kindes über die psychische Erkrankung des Elternteils. Kinder psychisch kranker Eltern berichten übereinstimmend, dass im Nachhinein für sie besonders quälend war, nicht einordnen zu können, was mit dem kranken Elternteil los war (7 Kap. 46.6 »Fallbeispiel«). Die Aufklärung über die psychische Erkrankung kann in einem persönlichen Gespräch des Therapeuten mit dem Kind erfolgen. Für die Aufklärung des Kindes gibt es keine Altersbegrenzung. Mit einfachen Worten kann auch schon Kleinkindern erläutert werden, dass es der depressiven Mutter nicht gut geht und sie Ruhe oder Hilfe braucht. Bei Schulkindern sollte die mögliche Stigmatisierung durch andere Kinder und Erwachsene angesprochen und mit dem Kind Möglichkeiten zum Umgang mit stigmatisierenden Verhaltensweisen anderer erarbeitet werden. Es stehen heute zahlreiche Bücher für Kinder und Jugendliche zur Verfügung, die altersgerecht und bezogen auf verschiedene psychische Störungsbilder Informationen vermitteln. Eine Liste solcher Bücher geordnet nach Altersbereich und Krankheitsbild ist im Internet unter www.diakonie-wuerzburg.de/fahrenheit/dokumente/eb/litliwebneu.pdf zu finden. Viele Eltern denken, dass das Wissen um die psychische Erkrankung von Vater oder Mutter das Kind überfordert. Die Eltern sollten daher dazu ermuntert werden, mit dem Kind offen über die Krankheit zu sprechen. Sie sollten mit dem Kind gemeinsam nach Möglichkeiten schauen, wie sie als Familie am besten mit der Erkrankung des Elternteils zu Recht kommen und wo Ressourcen für das Kind gefunden werden können.
Gesprächsangebot Den Kindern sollte über professionelle Helfer, aber auch über Personen aus dem Freundes- und Verwandschaftskreis, die Möglichkeit zum Gespräch und Austausch gegeben werden. Verschiedene Institutionen bieten Gruppen für Kinder psychisch kranker Eltern an, über die das Kind informiert werden sollte.
Kompetenzstärkung des Kindes Dem Kind sollte in und außerhalb der Familie, die Möglichkeit gegeben werden, seine Ressourcen (z. B. Sport- oder Musikbegabungen) zu nutzen und Kompetenzen – soziale und emotionale – zu stärken. Kontakte außerhalb der Familie über Sportvereine, Pfadfinder, Musik- und Gesangsgruppen u. Ä. sollten anregt und unterstützt werden. Die Eltern des Kindes sollten ggf. über altersadäquate Entwicklungsprozesse informiert werden.
46
852
Kapitel 46 · Kinder psychisch kranker Eltern
! Angebote für Eltern und Kinder sind oft über verschiedene Institutionen fragmentiert. Notwendig ist jedoch, dass die Betreuung und Behandlung von Kindern und Eltern mit psychischen Störungen gut koordiniert und aus einem »Guss« erfolgt. Dem stehen oft institutionelle und finanzielle Schranken gegenüber, die dies nicht ermöglichen.
46.6
46
Fallbeispiel
Laura ist 16 Jahre alt und lebt bei ihren Eltern. Sie hat zwei ältere Brüder. Ein Bruder ist vor eineinhalb Jahren im Alter von 25 Jahren nach einer schweren Krebserkrankung verstorben. Laura wird als gute Schülerin beschrieben. Aufgrund eines Umzuges der Familie musste sie jedoch die 3. Grundschulklasse wiederholen. Vom Vater wird berichtet, dass Laura immer schon emotional etwas überlastet gewirkt habe und mit 10 Jahren wegen einer depressiven Episode für kurze Zeit psychotherapeutisch behandelt wurde. Laura wurde auf Anraten der Schule beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst angemeldet, da sich ein deutlicher Leistungsabfall zeigte, Laura unter großen Stimmungsschwankungen litt und selber um Hilfe gebeten hat. Sie berichtet in letzter Zeit sehr vergesslich zu sein, sie könne sich kaum konzentrieren und ihre Gedanken würden teilweise mitten im Satz abreißen. Zudem berichtet sie von einem aggressiven und sehr angespanntem Verhältnis zur Mutter. Ihr Vater versucht, für alle Kinder da zu sein, sie selbst musste aber schon früh Verantwortung im Haushalt übernehmen. Sie konnte nie jemanden zu sich nach Hause einladen, da sie sich für das Verhalten der Mutter schämte. Die Mutter frage sie jeden Tag das Gleiche und sie wisse gar nicht mehr, was sie darauf antworten solle. Die Familie habe auf Wunsch der Mutter wenig Kontakt zu anderen Familien und Laura äußert den Verdacht, dass die Familie vor Jahren wegen ihrer Mutter aus dem Dorf habe wegziehen müssen, in dem sie sich so wohl gefühlt habe. Laura hält es zu Hause kaum noch aus und verbringt ganze Wochenenden bei Freunden. Sie äußert Angst, so zu werden wie ihre Mutter, da diese auch häufig unter Stimmungsschwankungen leide. Laura vermutet, dass ihre Mutter unter einer psychischen Erkrankung leidet. Sie sei darüber jedoch nie richtig aufgeklärt worden. Lauras Gefühle gegenüber der Mutter schwanken zwischen Wut und Mitleid und sie äußert Sehnsucht nach einem »normalen« Familienleben. Laura würde gerne in eine betreute Jugendwohngemeinschaft ziehen, hat aber gleichzeitig Bedenken, dass ihre Mutter dies nicht überstehe. Im weiteren Verlauf der kinder- und jugendpsychiatrischen Abklärung und Behandlung stellte sich heraus, dass die Mutter seit 15 Jahren an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt ist. Sie hat sich bereits mehreren ambulanten wie stationären Behandlungen unterzogen. Um Laura zu schützen, wurde Laura nie über die Erkrankung ihrer
Mutter aufgeklärt. Wenn die Mutter zu stationären Aufenthalten in die Klinik ging, sei Laura erklärt worden, dass die Mutter in Ferien fahre. Im Laufe der Behandlung »saugt« Laura dankbar alle Information zur schizophrenen Erkrankung ihrer Mutter dankbar auf. Das Wissen um die Erkrankung erleichtert ihr den Umgang mit der Mutter, da sie nun das Verhalten der Mutter einordnen kann und als Teil der Krankheit erkennt. Laura ist aufgrund dieser Informationen offen für die sorgfältige Abklärung ihrer eigenen Symptome und Befindlichkeit (Fallbeschreibung von Katharina Herdener-Pinnekamp, Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich).
46.7
Ausblick
Kinder psychisch kranker Kinder sind die Waisenkinder in der klinisch psychologisch und psychiatrischen Forschung und Praxis. Sie fallen durch die üblichen Netze psychosozialer Versorgung und in der Forschung sind sie selten im Fokus des Interesses. Dabei könnten wir aus der längsschnittlichen Beobachtung dieser Kinder wichtige Erkenntnisse für ein besseres Verständnis psychischer Krankheit und Gesundheit gewinnen, die Grundlage erfolgreicher Prävention und Behandlung sein könnten. Die noch immer strikte Trennung von psychischen Störungen des Kindesund Erwachsenenalters in Forschung und Praxis ist sicher das größte Hindernis für den dringend notwendigen Erkenntnisfortschritt. Die Überwindung dieser Kluft ist eine wichtige Aufgabe für die Zukunft.
Zusammenfassung Menschen mit psychischen Störungen haben ähnlich häufig eigene Kinder wie Menschen ohne psychische Störungen. Kinder mit einem psychisch erkrankten Elternteil sind dabei einem erhöhten Risiko ausgesetzt, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Im vorliegenden Kapitel werden die Merkmale und Lebenswelten von Kindern psychisch erkrankter Eltern zusammengefasst. Es wird aufgezeigt, auf welchem Weg die elterliche Befindlichkeit Einfluss auf die Entwicklung der Kinder einnehmen kann, bevor Interventionsmöglichkeiten aufgezeigt werden. In jüngerer Zeit werden immer häufiger spezifische Angebote für Kinder psychisch kranker Eltern bereitgestellt, die helfen sollen, Kinder in solchen Lebenslagen zu unterstützen. Die Hilfsangebote reichen von schriftlichen, kindgerechten Materialien bis hin zu Gesprächsangeboten im Rahmen von Gruppenprogrammen, die von Erziehungsberatungsstellen, klinisch-psychologischen oder kinder- und jugendpsychiatrischen Diensten angeboten werden. Neuere Befunde zeigen zudem, dass die erfolgreiche Behandlung elterlicher Erkrankungen wie Angst oder Depressionen ausgesprochen positive Effekte haben. Geht es den Eltern
853 Weiterführende Literatur
besser, haben die Kinder eine höhere Chance einen gesunden Entwicklungspfad (wieder) aufzunehmen. In diesem Sinne scheint die Behandlung elterlicher psychischer Erkrankungen eine bedeutsame Strategie zur Prävention psychischer Erkrankungen zu sein.
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46
47
47 Kinder nach Trennung und Scheidung Beate Schwarz
47.1
Einleitung
– 856
47.2
Entwicklung in Scheidungsfamilien – 856
47.2.1 47.2.2 47.2.3
Der Prozesscharakter der Scheidung – 856 Stressoren und Protektionsfaktoren für Kinder in Scheidungsfamilien Hilfsangebote für Kinder in Scheidungsfamilien – 861
47.3
Ausblick
– 862
Zusammenfassung Literatur
– 863
– 863
Weiterführende Literatur
– 864
– 858
856
Kapitel 47 · Kinder nach Trennung und Scheidung
47.1
47
Einleitung
Ehescheidungen sind in modernen Gesellschaften kein seltenes Ereignis. Schätzungen auf der Basis der aktuellen Scheidungsraten gehen davon aus, dass in den deutschsprachigen Ländern gut 30–45% der Ehen in Zukunft geschieden werden. In etwa der Hälfte der Scheidungen waren 2003 in Deutschland minderjährige Kinder betroffen (Emmerling 2005). Angesichts dieser hohen Prävalenz und der Tatsache, dass die Scheidung mit teilweise massiven Veränderungen in der Lebenssituation und den innerfamiliären Beziehungsgestaltungen einhergeht, ist das Thema der Entwicklung von Kindern in Scheidungsfamilien für die beratende und therapeutische Praxis von hoher Bedeutung. Im Folgenden wird der aktuelle Forschungsstand zum Befinden und Verhalten von Scheidungskindern dargestellt, wobei der Schwerpunkt der Darstellung auf den Erkenntnissen aus nicht klinischen Stichproben liegen wird. Es wird dem Prozesscharakter der Scheidung Rechnung getragen, indem verschiedene Phasen der Scheidungsbewältigung betrachtet werden. Ein Schwerpunkt des Kapitels wird zudem darauf liegen, Faktoren zu identifizieren, die Probleme der Scheidungskinder erklären können bzw. zur Verbesserung des Befindens der Kinder beitragen und so Ansatzpunkte für Interventionen bieten. Zum Abschluss werden einige der Hilfsangebote für Scheidungskinder vorgestellt.
47.2
Entwicklung in Scheidungsfamilien
47.2.1 Der Prozesscharakter der Scheidung
Der gerichtliche Prozess der Ehescheidung ist nur ein kleiner Teil des eigentlichen Prozesses der Eheauflösung und der Reorganisation der Familie nach der Trennung. Dieser Prozess lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen (Hetherington 1993). In seinem Modell der Scheidungsstressbewältigung macht Amato (2000) deutlich, dass Veränderungen aus der Vorscheidungsphase und die Trennung selbst, Stressoren in Gang setzen, die eine kurzfristige Krise für alle Beteiligten auslösen, aber auch zu langfristigen Entwicklungsveränderungen beitragen können. Wie stark die Probleme der Beteiligten ausfallen und ob es langfristig zu Erholungsprozessen kommt oder zu einer Chronifizierung der Probleme, hängt zum einen von der Intensität und Dauer der Stressoren ab, zum anderen aber auch vom Vorhandensein schützender Faktoren (. Abb. 47.1). In Anlehnung an eine der wenigen Längsschnittstudien über Scheidungsfamilien, die mit der Scheidung der Eltern einsetzen, durchläuft die Reorganisation der Familie nach der Scheidung verschiedene Phasen (»Virginia Longitudinal Study of Divorce and Remarriage«; Hetherington 1993; s. auch weiterführende Literatur). Das erste Jahr nach der Scheidung ist von einer akuten Krise geprägt, in der viele der Betroffenen deutliche Probleme zeigen und auch die Beziehungen untereinander stark gestört sein können.
. Abb. 47.1. Modell der Scheidungsstressbewältigung. (Nach Amato 2000; aus Schwarz u. Noack 2002)
857 47.2 · Entwicklung in Scheidungsfamilien
Schon im zweiten und dritten Jahr nach der Scheidung können Reorganisationsprozesse beobachtet werden, das Befinden der Beteiligten und ihre Beziehungen konsolidieren sich (Konsolidierungsphase). Danach beginnt für viele eine Phase der Stabilität. Entsprechend dieser Phasen ist im Folgenden die Darstellung zur Entwicklung der Kinder nach der Scheidung strukturiert. Doch beginnen wir mit einer Betrachtung der Vorscheidungsphase, denn schon zu dieser Zeit zeichnen sich oftmals Probleme der Kinder ab.
Vorscheidungsphase Einige Studien werten Daten aus, die schon Jahre vor einer (zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt absehbaren) Scheidung gesammelt wurden, und bieten uns so Einblick in die Vorscheidungsfamilie. Solcherart Studien zeigen, dass in zukünftigen Scheidungsfamilien vermehrt dysfunktionale Familienprozesse, wie hohe Elternkonflikte, negative Einstellungen der Ehepartner zueinander, unangemessene Erziehung (z. B. geringes elterliches Engagement oder sich widersprechende Erziehungsstile der beiden Elternteile) und konflikthafte, belastete Eltern-Kind-Beziehungen beobachtet werden können (Schwarz 1999; Sun 2001). Diese dysfunktionalen Familienprozesse erweisen sich als wesentlicher Erklärungsfaktor für die Probleme der Kinder vor der Scheidung. So zeigen sich in manchen Studien, wenn auch nicht in allen, Schwierigkeiten der Kinder in verschiedenen Entwicklungsbereichen lange vor der Scheidung. Beobachtet wurden mangelnde Impulskontrolle, emotionale Labilität oder unangemessenes Sozialverhalten (Block et al. 1986), internalisierendes Verhalten (wie depressive Verstimmungen, Ängstlichkeit) und externalisierendes Verhalten (wie Aggression) und verschlechterte Schulleistungen (Schwarz 1999; Sun 2001). Die sich vor einer Scheidung abzeichnenden dysfunktionalen Prozesse und ungünstigen Entwicklungen der Kinder scheinen in Teilen zu erklären, wieso Kinder nach einer Scheidung mehr Probleme zeigen als Kinder aus nicht geschiedenen Familien (Sun 2001). Doch bringt die Scheidung auch zusätzliche Belastungen mit sich (Schwarz 1999; . Abb. 47.1). Sun (2001) zeigt, dass die Scheidung weitere Prozesse in Gang setzt, die zu zunehmenden Schwierigkeiten führen. Dies waren in dieser Studie im Wesentlichen die Verschlechterungen in den Beziehungen der beiden Eltern zum Kind (mehr Konflikte, weniger gemeinsame Zeit und geringere Erwartungen an schulische Leistungen). Im Folgenden werden die Entwicklungsverläufe in den ersten Jahren nach der Scheidung der Eltern beschrieben.
Akute Krise und Konsolidierung In der »Virginia Longitudinal Study of Divorce and Remarriage« zur Entwicklung von Kindergartenkindern, die die Scheidung der Eltern erlebten, hatten diese Kinder in den ersten zwei Jahren Probleme mit Gleichaltrigen und wurden als ängstlicher und depressiver eingeschätzt (Hethe-
rington 1993). Eine deutsche Studie zeigte, dass Kinder zwischen 4 und 11 Jahren im ersten Jahr nach der Scheidung ängstlicher, emotional labiler, im Sozialverhalten unangepasst waren und ein unrealistisches Selbstbild hatten (Beelmann u. Schmidt-Denter 1991). Bei deutschen Jugendlichen konnten in den ersten zwei Jahren nach der Scheidung Verschlechterungen im Selbstwert und den Schulnoten sowie eine ansteigende Ablehnung durch Gleichaltrige beobachtet werden (Schwarz 1999). Das heißt, unabhängig vom Alter der Kinder bei der Scheidung lassen sich in der Phase der akuten Krise Verschlechterungen in verschiedenen Bereichen aufzeigen. Als Erklärung für die zunehmenden Probleme der Kinder und Jugendlichen, könnten die parallel auftretenden Verschlechterungen in den Familienbeziehungen und der Erziehung herangezogen werden. So berichtet Hetherington (1993), dass die Mütter, die häufig mit eigenen Problemen und den Veränderungen der Lebenssituation (Verschlechterungen der Wohn- und Arbeitssituation, finanzielle Probleme) überfordert waren, inkonsistente Erziehung und wenig Unterstützung für die Kinder zeigten. Die Kommunikation mit den Kindern, insbesondere mit den Söhnen, war eher feindselig. Die Jugendlichen in einer deutschen Studie berichteten von einer weniger an Regeln orientierten Erziehung (Schwarz 1999). Ein bis zwei Jahre nach der Scheidung zeigen sich dann jedoch deutliche Verbesserungen im Befinden und Verhalten der betroffenen Kinder und Jugendlichen in allen diesen Studien. Auch in einer amerikanischen Studie, die sich mit Depressionsverläufen in Jugend und jungem Erwachsenenalter befasste, stiegen die Depressionswerte von Jungen und Mädchen nach der Scheidung und zwar steiler, als dies im Jugendalter typischerweise geschieht. Im Laufe des jungen Erwachsenenalters sanken die Depressionswerte bei jungen Frauen aus Scheidungsfamilien bis auf das Niveau von jungen Frauen ohne Scheidungserlebnis. Bei den jungen Männern verringerte sich zwar ebenfalls die Depression, doch blieb ihr Niveau über dem von Gleichaltrigen aus nicht geschiedenen Familien (Ge et al. 2006). Damit stützen diese Längsschnittstudien ein Krisenmodell, mit relativ kurzfristigen, teilweise massiven Reaktionen und Erholungsprozessen nach ein bis zwei Jahren. Doch auch für das im Modell der Scheidungsstressbewältigung von Amato (2000; . Abb. 47.1) postulierte chronische Stressmodell gibt es einige Evidenz.
Langfristige Folgen Für die Kinder in der »Virginia Longitudinal Study on Divorce and Remarriage« wurde auch 6 und 11 Jahre nach der Scheidung mehr internalisierendes und externalisierendes Verhalten sowie geringere soziale und schulische Kompetenz als bei Kindern in nicht geschiedenen Familien beobachtet (Hetherington 1993). Die Befunde dieser Längsschnittstudie decken sich mit Erkenntnissen aus einer Metaanalyse, die Befunde verschiedener Studien zusammenfasst
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Kapitel 47 · Kinder nach Trennung und Scheidung
und vor allem auf Querschnittstudien beruht. Amato (2001) kommt zu dem Schluss, dass Scheidungskinder in den untersuchten Bereichen Schulleistungen, Verhaltensprobleme, psychische und soziale Anpassung und Selbstkonzept ungünstigere Werte erreichten als Kinder in nicht geschiedenen Familien. Die Unterschiede lagen in einem moderaten Bereich. In einer deutschen Studie mit im Schnitt seit fast neun Jahre geschiedenen Familien, waren die jugendlichen Kinder im Vergleich zu Jugendlichen in nicht geschiedenen Familien insgesamt in ihrem psychischen Befinden, ihrem Verhalten und ihrer körperlichen Gesundheit nicht beeinträchtigt. Nur Mädchen aus Scheidungsfamilien in Westdeutschland, nicht aber in Ostdeutschland, waren geringfügig depressiver und aggressiver als Mädchen in nicht geschiedenen Familien (Walper 2002). Allerdings treffen diese Studien ihre Aussagen über eine größere Gruppe hinweg, dies wird den differenziellen
Entwicklungsverläufen kaum gerecht. Eine Pionierin in der amerikanischen Scheidungsforschung, Mavis Hetherington, kommt aufgrund ihrer sechs Jahre währenden Längsschnittstudie zu dem Schluss, dass es unter Scheidungskindern Gewinner, Verlierer und Überlebende gibt (Hetherington 1989). > Fazit Zusammenfassend kann man sagen, dass die Auflösung der Ehe und die Reorganisation der Familie nach der Trennung ein längerfristiger Prozess mit verschiedenen Phasen ist. Es gibt kein spezifisches »Scheidungssymptom«, Probleme der Kinder können in jedem Entwicklungsbereich auftreten, langfristig scheinen diese allerdings nur von moderater Größe zu sein. Jedoch sollten die großen interindividuellen Unterschiede in der Reaktion der Kinder bedacht werden, die von sehr guter psychischer Anpassung bis zu schwerwiegenden Symptomatiken reichen können.
Wirklich nur moderate Probleme? – Klinisch auffällige Scheidungskinder
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Die Aussage, dass es langfristig nur moderate Probleme von Scheidungskindern gibt, wird von manchen Wissenschaftlern in Frage gestellt, da sich in einigen Studien größere Anteile von Kindern und Jugendlichen mit klinisch relevanten internalisierenden oder externalisierenden Symptomen in Scheidungsfamilien als in vollständigen Familien fanden. Hetherington (1993) ermittelt anhand der »Child Behavior Checklist«, dass in Scheidungsfamilien 25–30% der Kinder über dem klinischen Cut-off-Wert lagen, verglichen mit 10% der Kindern in Familien ohne Scheidung. In der Kölner Längsschnittstudie von SchmidtDenter zeigten in der akuten Krisenzeit, neun Monate nach der Scheidung, 54% der 4- bis 11-Jährigen in der Marburger Verhaltensliste Verhaltensauffälligkeiten. Der entsprechende Normwert liegt bei 20%. Aber mit zunehmendem Abstand von der Scheidung verringerte sich der Anteil verhaltensauffälliger Kinder auf 30% gut drei Jahre nach der Scheidung. Ein Anteil, der sich nicht mehr signifikant vom Normwert unterschied (Schmidt-Denter u. Be-
Angesichts der interindividuellen Unterschiede in den Reaktionen auf die Scheidung der Eltern, stellt sich die Frage, warum manche Kinder eine sehr gute oder zumindest eine angemessene Entwicklung nehmen, andere aber auch langfristig starke Schwierigkeiten zeigen. Die Scheidungsforschung hat einige der Faktoren identifizieren können, die solche interindividuellen Unterschiede erklären können. Diese sollten Ansatzpunkte für Interventionen sein.
elmann 1997). In Hinblick auf internalisierende Probleme (Ängstlichkeit und Depression gemessen mit der SCL-25) ergaben sich in einer norwegischen Studie bei Jungen keine Unterschiede im Anteil derjenigen über dem klinischen Cut-off-Wert. Bei Mädchen aus Scheidungsfamilien lag der Anteil verhaltensauffälliger Kinder im Alter von gut 14 Jahren bei 22,7% verglichen mit 12,4% bei gleichaltrigen Mädchen aus nicht geschiedenen Familien. Vier Jahre später lagen 40,8% der Mädchen aus Scheidungsfamilien über dem Cut-off-Wert, aber nur 16,9% der Vergleichsgruppe (Storksen et al. 2005). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Mehrheit der Kinder aus Scheidungsfamilien klinisch nicht auffällig wird. Darüber hinaus erlebt ein Teil der Kinder, die in der Krisenphase klinisch relevante Symptome zeigen, deutliche Verbesserungen. Doch bei einer substanziellen Minderheit von Kindern und Jugendlichen aus Scheidungsfamilien muss mit überdauernden psychischen Problemen gerechnet werden.
47.2.2 Stressoren und Protektionsfaktoren für
Kinder in Scheidungsfamilien Mit der Ehescheidung gehen in vielen Familien weitere einschneidende Veränderungen einher (. Abb. 47.1), wie Umzüge in kleinere, preiswertere Wohnungen und für die Kinder zudem ggf. ein Schulwechsel. Insbesondere die Mütter, bei denen die Kinder auch bei gemeinsamem Sorgerecht in der Mehrzahl der Fälle leben, erfahren starke Einkommensverluste, ein höherer Anteil Alleinerziehender leidet unter Einkommensarmut (unter 50% des Durchschnittseinkommens). Es ist in der psychologischen For-
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schung gut belegt, dass ökonomischer Druck der Familien mit internalisierenden, externalisierenden und Schulproblemen einhergehen kann (Walper 1999). Daher gilt dieser Stressor als wichtige Erklärung der ungünstigen Entwicklung von Kindern nach der Scheidung (Amato 2000). Um die finanziellen Einbußen nach der Scheidung zu verringern, nehmen viele alleinerziehende Mütter eine Berufstätigkeit auf oder erweitern eine bestehende Teilzeitbeschäftigung. Sie verfügen dadurch über weniger Zeit für die Familie und den Haushalt und können gleichzeitig nicht mehr auf die Unterstützung eines Partners zurückgreifen. Die hier skizzierte Kumulation der Stressoren (Verlust des Partners, Umzug, finanzielle Einbußen, stärkeres Engagement im Beruf, Alleinverantwortung für die Familie), die mit einer Scheidung einhergehen, erklärt die Probleme von Scheidungskindern zumindest teilweise, z. B. den Anstieg der Depression der Jugendlichen nach der Scheidung (Ge et al. 2006). Möglicherweise wird die Bewältigungsfähigkeit der Kinder direkt durch die Stressoren überfordert, aber auch die Eltern sind mit der neuen Situation überlastet, was sich in unangemessener Erziehung und geringerer Fürsorge für die Kinder niederschlagen kann. Die durch die Scheidung ausgelöste Verschlechterung der Erziehung, wie sie z. B. von Hetherington (1993) beschrieben wird, hat einen negativen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder. Eine besonders liebevolle Beziehung zur Mutter war dagegen ein guter Schutz, insbesondere für die Töchter (Hetherington 1993). Darüber hinaus wird auch die unzulässige Auflösung der Grenzen zwischen dem Eltern- und Kindersubsystem als Risiko von Scheidungskindern diskutiert. Diese Grenzverletzungen können sich zum einen durch Forderungen eines Elternteils an das Kind, mit ihm/ihr gegen den anderen Elternteil zu koalieren, äußern (Buchanan u. Waizenhofer 2001). Zum anderen ist die Parentifizierung zu nennen, d. h., dass das Kind in einer Art Rollenumkehr als emotionale Stütze eines Elternteils ausgenutzt wird (Peris u. Emery 2005). Zu beiden Bereichen liegt allerdings kaum Forschung für Scheidungskinder vor. In einer deutschen Studie berichteten Jugendliche aus Scheidungsfamilien von stärkerem Koalitionsdruck der Mutter als Jugendliche aus vollständigen Familien (Schwarz in Druck). Ob Scheidungskinder ein höheres Risiko für Parentifizierungen tragen, ist bisher nicht untersucht (Peris u. Emery 2005). Einige Befunde liegen allerdings vor, nach denen bei Konflikten zwischen den Eltern die Wahrscheinlichkeit von Koalitionsdruck und Parentifizierung durch die Eltern steigt und dadurch wiederum das Risiko internalisierender und externalisierender Probleme der betroffenen Kinder (Buchanan u. Waizenhofer 2001; Peris et al. 2008; Schwarz in Druck).
Interaktionsstile alleinerziehender Mütter und ihrer Kinder Beobachtungsstudien, in denen Konfliktgespräche zwischen Müttern und jugendlichen Kindern videografiert und anschließend ausgewertet wurden, machen einige Besonderheiten in der Kommunikation deutlich, die häufiger bei Alleinerziehenden und ihren Kindern auftreten als bei verheirateten Müttern. Die alleinerziehenden Mütter gewähren ihren jugendlichen Kindern mehr Entscheidungsmacht, übertragen sozusagen Entscheidungen in deren persönliche Verantwortung, besonders ihren Söhnen (Smetana 1993). Verheiratete Mütter berufen sich dagegen eher auf Konventionen und Regeln oder die Moral und sprechen sich selbst deshalb mehr Autorität gegenüber ihren Kindern zu (Kreppner u. Ullrich 1999; Smetana 1993). Die geschiedenen Mütter erscheinen in der Kommunikation oftmals eher als gleichberechtigte Freundin, weniger als Erziehungsperson. Sie sind kompetitiver als verheiratete Mütter mit ihren Kindern, bringen sehr viel stärker ihr eigenes Befinden und ihre Bedürfnisse in die Diskussion ein (Kreppner u. Ullrich 1999). Auch wenn sie so mehr Nähe schaffen, unterlassen sie es gleichzeitig, den Jugendlichen lenkende Unterstützung durch einen fürsorglichen Erwachsenen zu gewähren, obwohl Jugendliche diese weiterhin brauchen. Familiensystemisch betrachtet wird so die Grenze zwischen dem Eltern- und dem Kindersubsystem verletzt.
Die Scheidung bedeutet eine Verringerung oder zumindest Erschwernis des Kontaktes zu einem Elternteil, meist zum Vater. Lange wurde kontrovers diskutiert, ob der Kontakt zum nicht mit dem Kind lebenden Vater gut oder schlecht ist für die Kinder. Neuere Studien zeichnen eher ein Bild, dass der Kontakt zum Vater positive Auswirkungen auf die Kinder hat. Nach einer Metaanalyse von 63 US-Studien zum Einfluss des nicht mit dem Kind lebenden Vaters auf das Befinden der Kinder erwies sich die Häufigkeit der Kontakte als nicht bedeutsam, aber regelmäßige Unterhaltszahlungen, eine enge Beziehung zum Vater und eine väterliche Erziehung, die durch eine Kombination von Liebe, Anforderungen an das Kind und fürsorglicher Kontrolle gekennzeichnet war, waren günstig für den schulischen Erfolg der Kinder und deren internalisierende und externalisierende Probleme (Amato u. Gilbreth 1999). Das heißt, dass weniger die Quantität der Kontakte zum Vater als die Qualität für die Entwicklung der Kinder wichtig ist, wenn auch eine gewisse Häufigkeit und Verlässlichkeit eine notwendige Voraussetzung für qualitativ gute Kontakte darstellen dürfte. Ein hoher Bildungsstand der Eltern, räumliche Nähe und regelmäßige Unterhaltszahlungen durch den Vater sind den Kontakten förderlich. Mit zunehmender Zeit seit
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Kapitel 47 · Kinder nach Trennung und Scheidung
der Scheidung nehmen die Kontakte zwischen Vater und Kindern leicht ab, was allerdings auch mit dem höheren Alter der Kinder zusammenhängen kann. Jugendliche verbringen generell mehr Zeit ohne die Familie als jüngere Kinder. Mütter übernehmen für die Kontakte zum Vater manchmal eine sog. Torwächterfunktion. Vor allem, wenn es anhaltende Konflikte mit dem Expartner gibt, die Ablehnung und der Ärger über ihn hoch sind, kann es vorkommen, dass die Mütter den Kontakt unterbinden (Maccoby u. Mnookin 1995).
Anhaltende Konflikte der Eltern nach der Scheidung sind dann auch eine Bedingung, unter der die Kontakte zum Vater negative Folgen für die Kinder haben können (Amato u. Gilbreth 1999). Dies möglicherweise deshalb, weil die Kombination von einer hohen Zahl von Konflikten zwischen den Eltern und häufigem Kontakt zum Vater das Risiko für die Kinder erhöht, Partei ergreifen zu müssen oder als Bote, Vermittler oder Spion für einen Elternteil handeln zu müssen (Buchanan et al. 1991), was wiederum das Befinden der Kinder verschlechtert (Schwarz im Druck).
Exkurs
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Das »Parental-Alienation-Syndrom« In der Berichterstattung der Medien zu Scheidungsfamilien und bei hoch strittigen Sorgerechtsfällen wird das von Gardner erstmals 1985 beschriebene »Parental-Alienation-Syndrom« immer wieder ins Spiel gebracht. Ausgangspunkt ist die Umgangsverweigerung bei Kindern und Jugendlichen. In Fällen von Umgangsverweigerung wird der Kontakt zwischen dem umgangsberechtigten Elternteil und den Kindern verhindert. Dies kann durch aktives Eingreifen des betreuenden Elternteils (meist der Mutter) erfolgen, doch in vielen Fällen äußern die Kinder selbst den Wunsch, den Elternteil nicht sehen zu wollen. Nach Gardner liegt die Ursache in einer über einen längeren Zeitraum vollzogenen Einflussnahme des betreuenden Elternteils, der seine Ablehnung des Expartners auf das Kind überträgt. Es wird von Gehirnwäsche der Kinder und Instrumentalisierung gesprochen. Die Kinder geben dieser Einflussnahme nach, da sie sich nur so dem Konflikt entziehen können, durch die Liebe zum anderen Elternteil den betreuenden Elternteil zu enttäuschen und zu verlet-
In den bisherigen Ausführen zur Vorscheidungsphase und zum Kontakt mit dem Vater spielten die elterlichen Konflikte schon eine Rolle. Diese sollen nun näher beleuchtet werden, da sie ein wesentlicher Belastungsfaktor für die Entwicklung der Kinder sind (Amato 2000). Zunächst einmal sei in Erinnerung gerufen, dass sich die vor der Scheidung auftretenden Elternkonflikte auch über die Scheidung hinaus negativ auswirken können. Für viele Familien bietet die Scheidung dann jedoch die Chance der Verringerung der Konflikte. Das Befinden von Kindern und Jugendlichen aus hoch konflikthaften Familien kann sich durch die Scheidung der Eltern verbessern (Strohschein 2005), während das Verbleiben in einer zerrütteten Familie mehr Probleme verursacht als eine Trennung der Eltern (Hetherington 1993). Doch bleiben die Elternkonflikte in manchen Familien auch nach der Scheidung hoch, was das Befinden der Kinder beeinträchtigt (Schmidt-Denter u. Beelmann 1997). Es liegen zahlreiche Studien vor, die zeigen, warum elterliche Konflikte eine negative Wirkung auf die Kinder haben. Bei häufigen, intensiven und ungelösten Konflikten der Eltern erhöht sich das Risiko der Kinder für internalisierende und
zen. Als Gegenmaßnahme wird von Gardner im Extremfall die zwangsweise Zuordnung des Kindes zum entfremdeten Elternteil empfohlen. In der wissenschaftlich fundierten Diskussion zur Umgangsverweigerung wird dieses sehr holzschnittartige Konzept jedoch weitgehend abgelehnt, nicht allein deshalb, weil es jeglicher sorgfältig erhobener, empirischer Basis entbehrt. Es wird empfohlen, bei Umgangsverweigerung das Beziehungsgeflecht in der Familie differenziert zu betrachten. Umgangsproblematiken sind demnach Ausdruck komplexer Beziehungsstörungen, die viele Ursachen haben können. Diese können im betreuenden aber auch im nicht mit dem Kind lebenden Elternteil liegen. Die Verhaltensweisen oder Inkompetenzen beider Elternteile können ausschlaggebend sein. Zudem wird angezweifelt, dass der Erhalt der Beziehung zum anderen Elternteil um jeden Preis durchgesetzt werden sollte. Für das betroffene Kind kann die Umgangsverweigerung eine funktionale Bewältigungsstrategie in einer sonst wenig zu kontrollierenden Situation sein, ganz besonders natürlich in hoch strittigen Scheidungsfällen (Gödde 2004).
für externalisierende Probleme. Dies kann teilweise erklärt werden durch Selbstbeschuldigungen der Kinder, dass sie an den Konflikten schuld sind, und der Bedrohung, die die Kinder durch die Konflikte erleben (Gerard et al. 2005). Elternkonflikte führen zudem zu einer emotionalen Verunsicherung der Kinder, die sich in erhöhter emotionaler Reaktivität und unsicheren internen Repräsentationen von Familienbeziehungen widerspiegeln (Cummings et al. 2006). Diese negativen Wirkungen von Elternkonflikten entfalten sich natürlich nicht nur in Scheidungsfamilien, sondern sind von mindestens gleicher Bedeutung in vollständigen Familien. Bei anhaltend hohen Konflikten gelingt sehr selten eine friedliche und konstruktive elterliche Kooperation zwischen den Expartnern, die in der Regel jedoch am günstigsten für das Wohlbefinden der Kinder ist. Weiter in Konflikten verstrickte Eltern schaffen es in der Folgezeit allerdings häufig, eine Art losgelöster oder paralleler Elternschaft zu praktizieren, bei der sie wenig kooperieren und stattdessen unabhängig voneinander ihre elterlichen Aufgaben wahrnehmen. Dies erweist sich als besser für
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die Kinder als die konfliktbelasteten Elterninteraktionen, wenn auch als nicht so optimal wie die Kooperation (Maccoby u. Mnookin 1995). Die hier aufgeführten Risikofaktoren in Scheidungsfamilien stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern bedingen sich teilweise gegenseitig. So erhöhen z. B. Elternkonflikte das Risiko für eine unangemessene Erziehung, Grenzverletzungen und mangelnde elterliche Kooperation. Finanzielle Belastungen erhöhen das Risiko für Elternkonflikte und unangemessene Erziehung (Schwarz u. Noack 2002). Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Verbesserung in einem dieser Bereiche weitergehende Veränderungen in anderen Bereichen mit sich bringen kann. Die Frage, ob das Alter der Kinder zum Zeitpunkt der Scheidung Risiko (oder Schutz) für die Bewältigung der Scheidung ist, wurde bisher kaum systematisch untersucht. Was die Intensität der Probleme angeht, scheint das Alter keine gewichtige Rolle zu spielen. Vielmehr unterscheiden sich die Reaktionen qualitativ, manifestieren sich also in je anderen (alterstypischen) Bereichen (Amato 2000; SchmidtDenter 2005). In Hinblick auf Geschlechtsunterschiede verwiesen ältere Studien meist auf größere Nachteile von Jungen, dies scheint in jüngeren Arbeiten aber nicht mehr so deutlich. Möglicherweise profitieren Jungen von den durch veränderte Sorgerechtsregelungen und die Erkenntnis der Bedeutung des Vaterkontaktes heute häufigeren Kontakten zum Vater. Weitere personale Faktoren, die die Bewältigung der Scheidung unterstützen, sind die Problemlösefähigkeiten (Coping) der Kinder, hoher Selbstwert und ihre soziale Kompetenz (Schmidt-Denter 2005). > Fazit Zusammenfassend verweist die Scheidungsforschung auf eine Reihe Stressoren und Protektionsfaktoren, die strukturelle Merkmale der Familien (wie Einkommen, Kumulation von Stressoren), (dys)funktionale Familienprozesse (Erziehung, Elternkonflikte, elterliche Kooperation, Grenzverletzungen zwischen den familiären Subsystemen, Kontakt zum nicht betreuenden Elternteil) und personale Faktoren der Kinder (z. B. Alter, Geschlecht, Coping) umfassen. Einige der Faktoren bedingen sich gegenseitig. Nur wenige dieser Faktoren sind spezifisch für Scheidungsfamilien (wie der Kontakt zum nicht mit dem Kind lebenden Elternteil), wirken stattdessen in ähnlicher Weise in jeder Familie (wie Elternkonflikte), doch ist das Risiko, mit diesen Stressoren konfrontiert zu sein, in Scheidungsfamilien höher.
47.2.3 Hilfsangebote für Kinder
in Scheidungsfamilien Angesichts der Bedeutung, die das Elternbefinden und -verhalten für die Entwicklung der Kinder nach der Scheidung hat, richten sich einige Hilfsangebote an die in Scheidung befindlichen bzw. geschiedenen Eltern, um deren
Erziehungskompetenz zu stärken und die Konflikte abzumildern. Dieserart Programme entfalten ihre Wirkung dann indirekt auch auf die Kinder. Allerdings sind die wenigstens Programme zurzeit wissenschaftlich evaluiert. Dies sieht anders aus für zwei schon in den 80er Jahren in den USA entwickelte Programme, die sich in Form von Gruppeninterventionen an Kinder nach der Scheidung richten: das »Children of Divorce Intervention Program« (CDIP; Alpert-Gillis et al. 1989) und das »Divorce Adjustment Project« (DAP; Stolberg u. Garrison 1985). Ein im deutschsprachigen Raum häufig angewandtes Gruppeninterventionsprogramm baut auf diesen amerikanischen Vorbildern auf: das Gruppentraining mit Kindern aus Trennungs- und Scheidungsfamilien (Jaede et al. 1996; Fthenakis et al. 1995 in der weiterführenden Literatur). Fünf Ziele werden mit diesen Programmen verfolgt: 1. Durch das Gruppenformat wird ein unterstützendes Umfeld geboten, in dem die Kinder begreifen, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen sind. 2. Die Fähigkeiten der Kinder, ihre durch die Scheidung verursachten Gefühle zu identifizieren und auszudrücken, werden gefördert. 3. Die Kinder lernen, was eine Scheidung bedeutet, Missverständnisse über die Scheidung (z. B. über eigene Schuld) werden ausgeräumt. 4. Problemlösefähigkeiten werden gelehrt. 5. Eine positive Sicht auf sich selbst und die Familie wird angestrebt (Alpert-Gillis et al. 1989; Jaede et al. 1996). Das Gruppentraining wendet sich wegen seiner primärpräventiven Ausrichtung nur an Kinder ohne schwere psychische Beeinträchtigungen, entsprechende diagnostische Untersuchungen sollten vor dem ersten Gruppentreffen durchgeführt werden. Die soziale Kompetenz des Kindes sollte soweit entwickelt sein, dass das Kind eigene Grenzen und Grenzen anderer erkennen und respektieren kann und in Gesprächen anderen zuhören und sich selbst äußern kann. Bezüglich des Entwicklungsstandes der Kinder wird eine homogene Gruppe angestrebt. Das Alter der Kinder sollte bei 9–12 Jahren liegen, die maximale Gruppengröße bei 8 Kindern. Das Programm umfasst auch zwei Elternabende, zu denen der nicht sorgeberechtigte bzw. nicht mit dem Kind lebende Elternteil immer mit eingeladen ist. In den 16 Sitzungen werden die fünf Zielthemen mittels verschiedener Methoden behandelt: Bearbeitung von Buch- und Filmmaterialien, Malaufgaben, Themenblätter, Rollenspiele und Gruppendiskussionen und Entspannungsübungen. Die Gruppensitzungen bestehen immer aus einer Mischung von themenzentrierter Arbeit und Spielelementen, die der Entspannung dienen, positives Erleben bieten und die Bindung innerhalb der Gruppe stärken. Die klare und sich wiederholende Struktur der Sitzungen bietet den Kindern Ordnung in einer Lebensphase, die eher durch Chaos gekennzeichnet ist (Jaede et al. 1996).
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Kapitel 47 · Kinder nach Trennung und Scheidung
Beispiel Gruppentraining mit Kindern aus Trennungsund Scheidungsfamilien (Jaede et al. 1996) – Beispiele für Übungen zum Erkennen von und Umgang mit Gefühlen
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Sitzung 6: Alle Kinder stellen mit dem ganzen Körper Basisgefühle dar, so dass sie die Gefühle körperlich erleben können und zudem sehen, wie Gefühle von anderen ausgedrückt werden. Anschließend sprechen die Kinder darüber, wie sie sich fühlen, so dass sie erfahren können, dass die gleiche Situation von verschiedenen Menschen unterschiedlich erlebt wird. Sitzung 8: Die Kinder wählen je eine Gefühlsmaske aus und stellen dieses Gefühl mit ihrer Körperhaltung dar. Die anderen versuchen, dieses Gefühl zu erraten. Hier setzen sich die Kinder u. a. wieder mit Gefühlen auseinander, erleben die Veränderung ihres Körpers bei der Darstellung der Gefühle und realisieren, dass Gefühle nicht immer eindeutig zu erkennen sind. Sitzung 10: Die Kinder erhalten Gefühlsbarometer. Zunächst benennen sie Gefühle, die sie unmittelbar nach der Trennung hatten, und schätzen sie auf den Barometern ein. In einem zweiten Durchgang tragen sie die momentane Stärke der Gefühle ein. Mit Hilfe dieser Übung bemerken die Kinder, dass sich heftige, negative Gefühle abschwächen können. In der anschließenden Gruppendiskussion erkennen sie Gemeinsamkeiten mit anderen, aber auch Unterschiede, bisher verleugnete Gefühle können ausgedrückt werden. Hierzu eine kurze Szene: »In einer der letzten Sitzungen, in der die Kinder ihre eigenen Gefühle in Bezug auf die Trennung der Eltern auf einem Gefühlsbarometer einschätzten, fängt S., ein 9-jähriger Junge, leise zu weinen an. Die Gruppe reagiert ihm gegenüber mit Betroffenheit und Verständnis. Die Kinder erkundigen sich bei ihm, warum er weinen würde. K., ein 10-jähriger Junge, unterstützt den weinenden S., indem er berichtet, dass er manchmal unter seine Bettdecke kriechen würde und zwei bis drei Stunden am Stück weine, ohne den Grund hierfür zu wissen (Jaede et al. 1994, S. 364).« Sitzung 12: Die Kinder sollen Situationen aus der Trennungszeit nennen, in denen sie sich geärgert haben. Diese Szenen werden in Rollenspielen dargestellt. Die dargestellten Situationen werden besprochen, das Ärgergefühl thematisiert. Anschließend werden Lösungsvorschläge gesammelt, in Rollenspielen ausprobiert und ihre Effektivität diskutiert. Die Kinder lernen unterschiedliche Lösungen mit Ärger umzugehen kennen und bei diesen zwischen effektiven und nichteffektiven Lösungen zu unterscheiden.
Eine aktuelle Metaanalyse hat Evaluationsstudien zu verschiedenen Interventionsprogrammen (weitgehend in den USA durchgeführt) ausgewertet. Viele dieser Studien überprüften die Programme CDIP und DAP, auf denen das geschilderte Gruppentraining aufbaut. Die Metaanalyse kommt zu dem Schluss, dass diese Programme für Scheidungskinder eine positive Wirkung haben, wenn sie in den ersten zwei Jahren nach der Scheidung durchgeführt werden. CDIP und DAP führten zu signifikanten Verbesserungen bei der Einstellung zur Scheidung der Eltern und in Hinblick auf Angstsymptome, auch Schulprobleme konnten bedeutsam abgemildert werden, jedoch nicht die depressive Verstimmung (Stathakos u. Roehrle 2003). > Fazit Zusammenfassend kann man also festhalten, dass es wirksame Hilfsangebote für Kinder aus Scheidungsfamilien gibt. Doch richten sich diese Angebote weitgehend an Kinder im mittleren Schulalter, es mangelt noch an Programmen für jüngere Kinder und Jugendliche (Schmidt-Denter 2005) und bestehende Programme, die eher auf die Beratung und Unterstützung der Eltern abzielen, sind in ihrer Wirksamkeit noch nicht überprüft.
47.3
Ausblick
Die Scheidung der Eltern ist für die Kinder ein einschneidendes Ereignis, das mit großen Veränderungen in der Lebenssituation und einer hohen emotionalen Belastung einhergeht. Von Interventionen in der Krisenzeit unmittelbar nach der Scheidung würden viele Scheidungskinder profitieren. Gruppeninterventionsprogramme zur Stärkung der Kompetenzen der Kinder, mit diesen Belastungen fertig zu werden, liegen vor. Die positiven Evaluationsergebnisse sollten eine Ermutigung sein, solche Programme in größerer Zahl anzubieten. Die Scheidungsforschung gibt darüber hinaus aber auch Hinweise darauf, dass Programme das ganze System Familie umfassen sollten und z. B. auf die Minimierung der Elternkonflikte und der Grenzverletzungen zwischen Eltern- und Kindersubsystemen, auf eine Stärkung der elterlichen Kooperation und der individuellen elterlichen Kompetenzen abzielen könnten. Dies bedeutet, dass auch die nicht mit dem Kind zusammenlebenden Elternteile in die Programme miteinbezogen werden sollten. Bei hochgradig zerstrittenen Eltern kann dies problematisch sein. Hier wären sicher Interventionen angebracht, die von den Eltern getrennt besucht werden. Insgesamt ist aber zu bemängeln, dass es kaum systematisch evaluierte Interventionen für die Eltern oder das ganze Familiensystem gibt. Befunde zur Entwicklung der Kinder vor der Scheidung und den sich schon dort abzeichnenden Schwierigkeiten in den familiären Beziehungen betonen wiederum die Bedeutung von Programmen, die Familien in Krisenphasen Unterstützung anbieten
863 Literatur
oder primärpräventive Eltern- und Paarschulungen beinhalten. Wenn Eltern und Kinder schon über längere Zeit Probleme entwickelt haben, stehen ihnen wahrscheinlich weniger Ressourcen zur Verfügung, die Umbrüche und Belastungen nach der Scheidung zu bewältigen. Wie die Forschungsbefunde jedoch auch verdeutlichen, verfügt eine große Zahl an Scheidungskindern über personale und/oder in der Familie und dem weiteren sozialen Kontext liegenden Ressourcen, die ihnen helfen, mittelfristig das Scheidungserlebnis gut zu verarbeiten. Eine generelle »Pathologisierung« der Scheidungskinder sollte deshalb nicht vorgenommen werden. Statt auf die »soziale Adresse« Scheidungsfamilie oder vollständige Familie zu schauen, sollten Familienprozesse in den Fokus genommen werden, denn diese sind viel eher eine Erklärung für auftretende Probleme und dies unabhängig von der Familienform.
Zusammenfassung Die Zusammenfassung der Befunde aus der Scheidungsforschung hat deutlich gemacht, dass sich Probleme von Scheidungskindern in verschiedenen Entwicklungsbereichen manifestieren können. Die Scheidung muss als Prozess betrachtet werden, der seine negativen Wirkungen teilweise schon vor der offiziellen Trennung entfaltet. Viele Kinder durchlaufen unmittelbar nach der Scheidung eine Krisenzeit mit teilweise massiven Problemen, die sich aber nach ein bis zwei Jahren abschwächen. Nur bei einer Minderheit finden sich überdauernd starke Probleme. Das bedeutet, dass es deutliche interindividuelle Differenzen in den Reaktionen auf die Scheidung gibt. Mit der Scheidung einhergehende Stressoren, dysfunktionale Familienprozesse und personale Ressourcen erklären diese Unterschiede. Gruppeninterventionsprogramme für Scheidungskinder scheinen eine positive Wirkung zu haben, doch mangelt es noch an gut ausgearbeiteten, wissenschaftlich überprüften Interventionen für die Eltern und das gesamte Familiensystem.
Literatur Alpert-Gillis, L. J., Pedro-Carroll, J. L. & Cowen, E. L. (1989). The Children of Divorce Intervention Program: Development, implementation, and evaluation of a program for young urban children. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 57, 583–589. Amato, P. R. (2000). The consequences of divorce for adults and children. Journal of Marriage and the Family, 62, 1269–1287. Amato, P. R. (2001). Children of divorce in the 1990s: An update of the Amato and Keith (1991) meta-analysis. Journal of Family Psychology, 15, 355–370. Amato, P. R. & Gilbreth, J. G. (1999). Nonresident fathers and children’s well-being: A meta-analysis. Journal of Marriage and the Family, 61, 557–573. Beelmann, W. & Schmidt-Denter, U. (1991). Kindliches Erleben sozialemotionaler Beziehungen und Unterstützungssysteme in EinElternteil-Familien. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 38, 180–189.
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47
864
Kapitel 47 · Kinder nach Trennung und Scheidung
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48
48 Kindesmisshandlung Behandlung von psychischen Störungen im Zusammenhang mit Gewalt an Kindern Franz Moggi
48.1
Einleitung
– 866
48.2
Darstellung der Störung – 866
48.2.1 48.2.2 48.2.3 48.2.4
Begriffsbestimmung – 866 Formen von Kindesmisshandlung – 868 Kurz- und Langzeitfolgen – 869 Epidemiologie, Verlauf und Prognose – 871
48.3
Ätiologiemodelle: Zusammenhang zwischen Misshandlung und deren Folgen – 872
48.3.1 48.3.2
Traumatheorien/posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) – 873 Prozessmodell zur Entwicklung vonStörungen – 873
48.4
Diagnostik – 874
48.5
Therapeutisches Vorgehen
48.5.1 48.5.2 48.5.3 48.5.4
Komponenten traumafokussierter kognitiver Verhaltenstherapie (TF-KVT) Kindertherapie – 877 Elterntherapie – 879 Variationen und Probleme – 880
– 875
48.6
Fallbeispiel
48.7
Wirksamkeit
48.8
Ausblick
– 881 – 883
– 884
Zusammenfassung – 884 Literatur
– 884
Weiterführende Literatur
– 885
– 876
866
Kapitel 48 · Kindesmisshandlung
48.1
48
Einleitung
Im November 2006 stellten die Vereinten Nationen (UN) den jüngsten von einem unabhängigen Experten erstellten internationalen Bericht zu Gewalt an Kindern vor, wonach im Jahre 2002 weltweit schätzungsweise 53.000 Kinder durch Totschlag starben sowie 150 Mio. Mädchen und 73 Mio. Jungen unter 18 Jahren Opfer sexueller Misshandlungen wurden. In 31 von 200 Staaten sind körperliche Strafen von Auspeitschen bis Amputationen erlaubt und in knapp der Hälfte der Staaten ist die Körperstrafe an Schulen erlaubt (Pinheiro 2006). In Deutschland und Großbritannien sterben pro Woche zwei, in Frankreich drei, in Japan vier und in USA 27 Kinder an Misshandlung und Vernachlässigung. In einer vorangegangen Studie der UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, wurde festgestellt, dass in den reichen Ländern auf 100.000 Kinder jährlich zwischen 0,1 und 3,7 Kinder unter 15 Jahren als Folge von Misshandlung oder Vernachlässigung sterben (. Abb. 48.1). Schätzungen gehen davon aus, dass auf einen Todesfall rund 150 Fälle von Kindesmisshandlung ohne Todesfolge kommen (UNICEF 2003). Die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948« und die »Konvention über die Rechte des Kindes von 1989« gehen davon aus, dass die Familie die natürliche Umgebung für die Entwicklung, den Schutz, die Geborgenheit und das Wohlbefinden der Kinder ist. Doch die Mehrheit der Gewaltakte gegen Kinder erfolgt durch Personen im familiären Umfeld. Kindesmisshandlung ist streng genommen keine Störung, wie sie in den gängigen Klassifikationssystemen von Krankheiten und Störungen beschrieben sind, aber die Gewalterfahrungen wirken sich meist so auf die psychische und physische Entwicklung aus, dass es zu vielfältigen Störungen kommen kann. Nicht nur diese Störungen sind medizinisch und/oder psychologisch zu behandeln, sondern auch die gewalttätige Person oder das gewaltförmige Familiensystem. Insofern ist die Behandlung von »Kindesmisshandlung« nur in einer interdisziplinären Zusammenarbeit erfolgversprechend. Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf der kindzentrierten Psychotherapie psychischer Störungen bei Kindern, die im Zusammenhang mit Kindesmisshandlung auftreten. Familienzentrierte Therapien, Prävention und Kinderschutz werden nur wo nötig erwähnt. Auch Ätiologie und Diagnostik werden vorwiegend unter der kindzentrierten Perspektive dargestellt.
48.2
Darstellung der Störung
Bevor Symptome und Störungen im Zusammenhang mit Kindesmisshandlung dargestellt werden, wird auf den Begriff der Kindesmisshandlung und seine Formen kurz eingegangen.
. Abb. 48.1. Todesfälle von Kindern durch Misshandlung oder Vernachlässigung in Industrieländern. Die Tabelle zeigt die jährliche Zahl der Todesfälle von Kindern unter 15 Jahren durch Misshandlungen und Vernachlässigung pro 100.000 Kinder in dieser Altersgruppe (dunkler Teil des Balkens). Die Übersicht enthält auch Todesfälle, deren Ursachen als »ungeklärt« klassifiziert wurden, die aber vermutlich mit Misshandlungen zusammenhängen (heller Teil des Balkens). (UNICEF »Child Maltreatment Deaths in Rich Nations« 2003)
48.2.1 Begriffsbestimmung
Unter Kindesmisshandlung versteht man die gewaltsame, psychische und/oder physische Beeinträchtigung von Kindern durch ihre Betreuungspersonen. Die Beeinträchtigungen können dabei durch Handlungen (z. B. bei körperlicher und sexueller Misshandlung) und/oder durch Unterlassungen (z. B. bei emotionaler und physischer Vernachlässigung) zustande kommen. Grundsätzlich ist zwischen engen und weiten Misshandlungsbegriffen zu unterscheiden. Enge Misshandlungsbegriffe umfassen in der Regel nur Handlungen und Unterlassungen, bei denen Kinder körperlich verletzt oder getötet werden. Wenn keine physischen Beeinträchtigungen vorliegen, werden Annah-
867 48.2 · Darstellung der Störung
Exkurs Kind sein und Kindesmisshandlung – ein geschichtlicher Abriss wurden Inzest und Pädophilie als Akte der Gewalt gegen »Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem Gott, Natur und Kunst bezeichnet. Mit den Anfängen der Fowir soeben erst erwachen«, schreibt de Mause (zit. nach tografie im Jahre 1839 begann die Pornographie auch mit Ten Bensel et al. 2002, S. 14), der die Beziehungsformen Kindern, wobei zuvor auch Zeichnungen im Umlauf geweder Erwachsenen zu Kindern im Abendland grob in fünf sen waren. Lewis Carroll, der berühmte Kinderbuchautor des Phasen teilt: 4 Infantizid oder Kindstötung zur Überlebenssiche19. Jahrhunderts, war ein begeisterter Fotograf von nackten rung der Gemeinschaft bis 4. Jahrhundert n. Chr., Kindern. Sein Buch Alice im Wunderland war inspiriert durch 4 Aussetzung vom 5.–13. Jahrhundert, sein bevorzugtes Modell Alice Liddell. Später gab er die Akt4 Ambivalenz oder Entdeckung des Kindes vom fotografie auf und widmete sich dem Aktmalen. Erst gegen 14.–17. Jahrhundert, Ende des 19. Jahrhunderts wurden Kinderrechte in der Öf4 Intrusion oder Disziplinierung im 18. Jahrhundert fentlichkeit diskutiert und Vereine zum Zwecke des Kinderund schutzes gegründet wie z. B. 1876 in New York die »American 4 Sozialisation vom 19. Jahrhundert an bis heute. Humane Association«, die ihre Aufgabe darin sah, Tiere und Kinder vor unmenschlicher Behandlung zu schützen. Erst in Das römische Recht räumte dem Vater die Entscheidungsder zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden einerseits gewalt über Leben und Tod seiner Kinder ein. Aristoteles Kindesmisshandlung und andererseits Kinderschutz breit stellte fest, dass der Vater mit dem Sohn wie der Herr mit thematisiert. Ein Meilenstein zur Sensibilisierung der Fachdem Sklaven verfahren könne, denn beide sind Besitz, und welt und Öffentlichkeit war 1962 ein Artikel im Journal of the American Medical Association des Pädiaters Kempe und seiUnrecht gegenüber dem eigenen Besitz könne es nicht nen Mitarbeitern mit dem Titel »The Battered Child Syngeben. Dagegen wurden in Ägypten Eltern, die ihr Kind drome«, in dem aus interdisziplinärer Sicht über schwere getötet hatten, dazu verurteilt, den Leichnam drei Tage körperliche Misshandlungen und ihre Folgen berichtet wurlang in den Armen zu halten. Erst Konstantin der Große, de (Ten Bensel et al. 2002). der erste christliche Kaiser, verfügte anfangs des 4. Jahrhunderts, dass der Staat für mittellose Kinder aufkommen müsse und Aussetzen, Verkaufen oder Töten von Kindern zu verhindern sei. Danach galt Kindestötung als Verbrechen an der Natur. In der Zeit der Aussetzung wurden die ersten Waisen-, Findel- und Armenhäuser gegründet. Im 18. Jahrhundert wurden zumindest Kinder wohlhabender Eltern Ammen überlassen, die ihren Pflichten jedoch oft nicht nachkamen und manche auch »Engelsmacherinnen« genannt wurden. In England kam in der Folge der sog. Gin-Epidemie (Förderung der Trunksucht durch billigen Gin) der Begriff der Vernachlässigung auf. Der berühmte Stahlstich von William Hogarth (1697–1764) ist eindrückliches Zeugnis davon (. Abb. 48.2). Wie Charles Dickens in Oliver Twist in Romanform beschrieb, wurden Kinder in Armut zur harten Arbeit, zum Betteln oder Stehlen gezwungen. Während der industriellen Revolution wurden Kinder ab dem 7. Lebensalter für 7 Jahre in »Lehrverhältnisse« (eigentlich Versklavung) gebracht und Schläge als wirksamstes Mittel der moralischen Erziehung betrachtet. Sexuelle Attacken auf Kinder waren von jeher üblich, wobei Inzest bereits in den Gesetzen des Hammurabi (ca. 2150 v. Chr.) oder von Moses (ca. 1300 v. Chr.) verboten wird. Dennoch wurde während der griechischen Hochkultur Pädophilie . Abb. 48.2. H. Adlard: Beer Street and Gin Lane 2, Stahlstich, um 1860. Nach William Hogarth außerhalb der Kernfamilie geduldet. In Dantes Inferno
48
868
48
Kapitel 48 · Kindesmisshandlung
men über den Intensitätsgrad bzw. die soziokulturelle Normabweichung der Handlungen und Unterlassungen verwendet (z. B. bei psychischer und sexueller Misshandlung). Weite Misshandlungsbegriffe schließen Handlungen oder Unterlassungen ein, die in geringerem Maß als normabweichend gelten und die nicht zwangsläufig zu körperlichen Beeinträchtigungen führen. Grundsätzlich ist die Kindesmisshandlung durch die Art der Handlungen und/ oder Unterlassungen definiert, unabhängig davon, ob wirklich Beeinträchtigungen auftreten (Engfer 2005). Werden weite Misshandlungsbegriffe angewendet, ist die Häufigkeit von Kindesmisshandlung höher, weil darunter Handlungen erfasst werden, die von vielen Betreuungspersonen noch heute praktiziert werden (z. B. Schlagen, häufiges Schimpfen, Bestrafen mit Liebesentzug). Um Fehldiagnosen (falsch positive Fälle) und sanktionierende Maßnahmen zu vermeiden, werden im strafrechtlichen Kontext vorwiegend enge Misshandlungsbegriffe verwendet. Dagegen legt man präventiven Interventionsansätzen weite Misshandlungsbegriffe zugrunde, um Fehldiagnosen im Sinne falsch negativer Fälle zu vermeiden. Misshandlungsgefährdeten Familien und anderen Risikogruppen kann so frühzeitig Hilfe angeboten werden, bevor es zu Misshandlungen im engeren Sinn kommt. Definitorische Festlegungen nehmen auch Einfluss auf die Differenzierung von Ätiologiemodellen von Kindesmisshandlung. Ursachen von Kindesmisshandlung werden bei enger Begriffsbestimmung im Wesentlichen auf schädigendes Elternverhalten beschränkt, während gesellschaftliche Bedingungen (z. B. strukturelle Gewalt) unberücksichtigt bleiben.
48.2.2 Formen von Kindesmisshandlung
Es wird zwischen vier Misshandlungsformen unterschieden. Kinder werden meistens nicht nur Opfer einer Misshandlungsart, sondern eines misshandelnden Milieus, in dem mehrere Misshandlungsformen auftreten. Psychische Misshandlung begleitet in der Regel alle anderen Misshandlungsformen (Moggi 2005).
Physische Misshandlung (»child abuse«, »physical abuse«) Mit physischer Misshandlung sind alle gewaltsamen Handlungen gemeint, die beim Kind zu Verletzungen führen können, wie Schlagen mit bloßen Händen oder Gegenständen, heftiges Schütteln, Verbrennen (z. B. Eintauchen in heißes Wasser; auf heiße Herdplatte setzen), Würgen, Verabreichung suchterzeugender Medikamente usw. Zu dieser Misshandlungsform gehört auch das relativ seltene, von Ärzten beschriebene »Münchhausen by Proxy-Syndrom«. Eltern rufen bei ihren Kindern Krankheiten, z. B. durch Vergiftungen, hervor, die zu komplizierten und oft schmerzhaften medizinischen Abklärungen führen. Ärzte oder me-
dizinisches Personal »misshandeln« so letztlich unwissentlich stellvertretend für die Eltern ihr Kind.
Fallbeispiel Physische Misshandlung Eine Mutter stellte ihren jüngsten 4-jährigen Sohn mit starken Bauchschmerzen in der Notfallambulanz vor. Er zeigte Merkmale eines beginnenden Schocksyndroms. Die Anamnese ergab ungenaue Angaben über Auftreten und Verlauf der Beschwerden. Die Ultraschalluntersuchung ergab eine Flüssigkeitsansammlung im Dünndarmbereich, die eine Operation notwendig machte. Auch zeigte die körperliche Untersuchung auf dem Rücken, Gesäß und den Oberschenkeln Hämatome verschiedenen Alters. Offenbar wurde der Vierjährige mit einem Lineal oder Stock wiederholt geschlagen. In der Folge begann die Mutter zögerlich zu berichten, dass ihr Mann auch aus nichtigem Anlass den Sohn regelmäßig körperlich »züchtigt«. Sie sei zwischen Sorge um den Sohn, Schuldgefühlen und Angst vor häuslicher Gewalt hin und her gerissen. Nach der Operation berichtete der Vierjährige beinahe emotionslos über die Gewaltexzesse des Vaters, der ihn für seinen Ungehorsam bestrafe. In der Folge wurden der Kinderschutz, die Kinder- und Jugendpsychiatrie, das Frauenhaus und die Erziehungsberatungsstelle in die Diagnostik, Behandlung und Nachsorge miteinbezogen.
Vernachlässigung (»neglect«) Unter Vernachlässigung versteht man Unterlassungen von Pflege-, Schutz- und Förderungshandlungen. Es sind dies mangelhafte Pflege (z. B. bei Säuglingen, die Windeln tagelang nicht zu wechseln), schlechte Ernährung (z. B. einseitige und ungesunde Nahrung im Kindesalter) und mangelnde Beaufsichtigung (z. B. Kleinkinder mehrere Stunden alleine im Zimmer lassen), ungenügender Schutz vor Gefahren (z. B. Kind im Hochsommer im Auto »vergessen«), fehlende Anregung (z. B. Kindern keine Lernmöglichkeiten wie Spiele, Bücher u. a. zur Verfügung zu stellen) und Förderung von Kompetenzen (z. B. den Kontakt zu Gleichaltrigen stark einzuschränken, so dass das Kind ungenügend soziale Kompetenzen erwerben kann) und ähnliche Unterlassungen.
Psychische Misshandlung (»emotional abuse«, »emotional neglect«, »psychological maltreatment«) Unter psychischer Misshandlung werden alle Handlungen oder Unterlassungen erfasst, die Kinder bedrohen, ängstigen und/oder in der Entwicklung ihres Selbstwertgefühls behindern. Neben sadistischen Handlungen gehören dazu Varianten wie Ablehnen (z. B. Zuweisung der Sündenbockrolle, andauernde Bevorzugung von Geschwistern),
869 48.2 · Darstellung der Störung
Isolieren (z. B. von anderen Kindern fernhalten), Demütigen (z. B. kontinuierlich kritisieren, bloßstellen), Terrorisieren (z. B. Drohungen das Kind ins Heim zu geben), Ignorieren (z. B. sich nicht mit dem Kind beschäftigen) und Korrumpieren (z. B. früh zu Erwachsenenverhalten zwingen; Glaser 2002).
Sexuelle Misshandlung (»sexual abuse«) Unter sexueller Kindermisshandlung versteht man die Beteiligung von Kindern an sexuellen Aktivitäten Erwachsener. Dazu gehören genitale, orale und anale Praktiken einschließlich Geschlechtsverkehr, Herstellung pornographischen Materials mit Kindern oder Anleitung zur Prostitution, aber auch sexuelle Berührungen, Präsentation pornographischen Materials, Exhibitionismus oder anzügliche Bemerkungen. Zur Abgrenzung sexueller Kindesmisshandlung von sexueller Gewalt im Erwachsenenalter wird die Altersgrenze zwischen Kindheit/Adoleszenz und Erwachsenenalter in
den meisten Untersuchungen zwischen 14 und 18 Jahren festgesetzt und lehnt sich damit nicht zuletzt an gesetzliche Bestimmungen an. Zur Abgrenzung sexueller Handlungen zwischen Gleichaltrigen (z. B. Doktorspiele in peer groups) wird eine Altersdifferenz von mindestens 5 Jahren vorgeschlagen. Es wird jedoch kaum von sexueller Kindesmisshandlung gesprochen, wenn ein 21-jähriger eine sexuelle Beziehung zu einer 16-jährigen unterhält, so dass weitere Kriterien zu berücksichtigen sind: 4 Die Altersdifferenz von 5 Jahren gilt nur, wenn das Kind im vorpubertären Alter bis ca. 12 Jahre alt ist. In der Pubertät bzw. Adoleszenz gilt eine Altersdifferenz von 10 Jahren als Kriterium. 4 Das Ausmaß an angewendeter physischer und/oder psychischer Gewalt durch den Täter (z. B. Androhung von Gewalt) und die vom Opfer erlebte Unerwünschtheit der sexuellen Aktivitäten sind die wesentlichen Kriterien zur Abgrenzung von sexueller Kindesmisshandlung und sexueller Interaktion.
Falleispiel Sexuelle Kindesmisshandlung Die Eltern stellten in der Kinderambulanz ein 8-jähriges Mädchen vor, das seit Kurzem wieder einnässte. Im Erstgespräch schilderte die Mutter, dass ihre zweite Tochter, ein 6-jähriges Mädchen, häufig auf dem Sofa in sich gekehrt, Daumen lutschend und ohne Scham masturbiere. Überhaupt würden sich seit ein paar Monaten längere Phasen von Ängstlichkeit sowie Rückzug und aggressive Verhaltensweisen abwechseln. In der diagnostischen Abklärung berichteten die beiden Mädchen ängstlich, dass es mit dem Vater, der sie allabendlich zu Bett bringt, wiederholt zu oralen und genitalen Kontakten ohne Penetration gekommen war. Die Mutter reagierte zunächst mit
48.2.3 Kurz- und Langzeitfolgen
Der Begriff Folgen von Kindesmisshandlung impliziert einen Wirkungszusammenhang, der durch die vorliegenden, meist retrospektiven Studien letztlich nicht zwingend nachgewiesen werden kann. Es wurden kaum prospektive Langzeitstudien durchgeführt, weil aus ethischen und rechtlichen Gründen bei Kindesmisshandlung zu intervenieren ist. Die Ergebnisse weisen indes darauf hin, dass alle Formen von Kindesmisshandlung mit bestimmten Folgen in kausalem Zusammenhang stehen können (MacMillan 2000; MacMillan u. Munn 2001). Es existieren weit mehr und neuere Befunde zu den Langzeitfolgen sexueller Kindesmisshandlung als zu Kurzzeitfolgen oder anderen Formen von Kindesmisshandlung. Untersuchungen zur sexuellen Kindesmisshandlung nahmen in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich zu, während Studien zu den an-
Unglauben und Misstrauen und dann mit Angst. Die Mutter und die beiden Kinder konnten für eine Woche in einem Frauenhaus platziert werden, der Vater bestritt die Vorfälle kategorisch. Das eingeschaltete Jugendamt verlangte dennoch den Auszug des Vaters und den Beginn einer Psychotherapie. Erstaunlicherweise zog der Vater widerstandslos zu seinen Eltern, »absolvierte« eine Kurztherapie, während der er hypothetisch Fehlverhalten einräumte, und kehrte nach einem halben Jahr zu seiner Frau und den Töchtern in das gemeinsame Haus zurück. Da ein positives Parteigutachten vorlag und eine Familientherapie begonnen wurde, schloss das Jugendamt den Fall.
deren Kindesmisshandlungsformen leicht abnahmen und konstant auf niedrig blieben (Behl et al. 2003). Folgen von Kindesmisshandlung treten in der Regel unmittelbar bis mittelfristig (ca. innerhalb von 2 Jahren) nach Misshandlungsbeginn auf. Sie werden Kurzzeitfolgen genannt und sind die Kindesmisshandlung charakterisierenden Symptome und Syndrome, bei deren Vorliegen nach sorgfältiger Abklärung die Diagnose »Kindesmisshandlung« gestellt werden kann. Hinweise auf Kindesmisshandlungen ergeben sich zudem aus anamnestischen Informationen und aus den Verhaltensweisen der Eltern und Kinder. Langzeitfolgen sind im Gegensatz zu Kurzzeitfolgen anhaltend oder treten oftmals mit einer Latenzzeit später, meist während der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter auf (»sleeper effect«). Die Folgen von Kindesmisshandlung hängen von ihrer Form und Schwere, von Bewältigungsprozessen und vom
48
870
Kapitel 48 · Kindesmisshandlung
Entwicklungsstadium der Kinder (Säuglings-, Kleinkinds-, Kindes- und Schulalter) bzw. Adoleszenten ab. Die Arbeitsgruppe Kindesmisshandlung (AGKM 1992), eine vom Eidgenössischen Departement des Innern eingesetzte multidisziplinäre Expertenkommission, hat entwicklungsabhängige und diagnoserelevanten Symptome und Störungen bei Kindesmisshandlung auf der Grundlage wissenschaftlicher Ergebnisse zusammengestellt. In . Tab. 48.1 werden von der Expertenkommission gefundene Verhaltensauffälligkeiten, psychische und psychosomatische Symptome aufgelistet, die bei Kindesmisshandlung gehäuft vorkommen. Die Expertenkommission weist ausdrücklich darauf hin, dass die Verhaltensauffälligkeiten und Symptome auch als Folge anderer belastender Ereignisse (z. B. lebensbedrohliche Unfälle, Scheidung der Eltern) auftreten können. Es gibt weder ein allgemeines noch ein für bestimmte Misshandlungsformen typisches Syndrom, weil sich die Folgen verschiedener Misshandlungsformen überschnei-
den können. Da in den meisten Fällen kaum nur eine einzige Misshandlungsform stattfindet, treten deren Folgen nicht isoliert auf (Engfer 2005). Es lassen sich nur einige für jede Misshandlungsform typische Folgen bzw. Symptome feststellen (Moggi 2005): 4 Bei physischer Misshandlung finden sich häufig Verletzungen und Organschäden wie Quetschungen, Beulen und Hämatome, Skelett-, Weichteil-, Augen-, Hirn- und Mundverletzungen sowie Verbrennungen und Verbrühungen, die bis zum Tod führen können. 4 Vernachlässigung und psychische Misshandlung im Vorschulalter können ausreichen, Entwicklungsrückstände (z. B. Wachstums- und Sprachstörungen, psychomotorische Entwicklungsverzögerungen) und psychosomatische Symptome (z. B. Einnässen, Hautkrankheiten) hervorzurufen. 4 Bei sexueller Kindesmisshandlung werden oft Verletzungen im genitalen, analen und oralen Bereich,
. Tab. 48.1. Entwicklungsabhängige Verhaltensauffälligkeiten sowie psychische und psychosomatische Symptome und Störungen. (Moggi 2005)
48
Vorschulalter
Schulalter
Adoleszenz
Gefrorener Blick (weit offene Augen in unbeweglichem Gesicht: Kind hat gelernt nicht zu schreien, um nicht erneut bestraft zu werden)
–
–
Emotionslose Reaktion bei Trennung von den Eltern
–
–
Mangelndes Vertrauen in wichtige Bezugspersonen
–
–
Übermäßiges Vertrauen in fremde Personen
–
–
Entwicklungsrückstand (motorisch, kognitiv, emotional, sozial)
Entwicklungsrückstand (motorisch, kognitiv, emotional, sozial)
–
Essstörungen
–
Anorexie/Bulimie/Adipositas
Schlafstörungen
Schlafstörungen
Schlafstörungen
Ängstliches Verhalten
Ängstlichkeit
Ängstlichkeit/Angststörungen
Depressive Symptome
Depressive Symptome
Depression
Davonlaufen
Davonlaufen
Davonlaufen
Aggressives/hyperaktives Verhalten
Aggressives/hyperaktives Verhalten
Aggressives Verhalten
Unfallneigung
Unfallneigung
–
Nicht altersgemässes sexuelles Verhalten
Nicht altersgemässes sexuelles Verhalten/detailliertes Wissen über sexuelle Aktivitäten
Prostitution
–
Fehlendes Selbstvertrauen
Selbstentwertung
–
Suizidalität
Suizidalität
–
Soziale Isolation
–
–
Schulschwierigkeiten
Schulschwierigkeiten/Probleme an Lehrstelle
–
Vergehen gegen das Gesetz
Vergehen gegen das Gesetz
–
Bettnässen/Einkoten
–
–
Psychosomatische Beschwerden (z. B. chronische Kopf-, Bauchschmerzen)
Psychosomatische Beschwerden (z. B. chronische Kopf-, Bauchschmerzen)
–
–
Substanzgebundenes Suchtverhalten
–
–
Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen
871 48.2 · Darstellung der Störung
Schwangerschaften während der Adoleszenz, Geschlechtskrankheiten sowie nicht dem Alter entsprechendes Sexualverhalten (z. B. exzessive Neugier an Sexualität, frühe sexuelle Beziehungen, offenes Masturbieren oder Exhibitionismus, sexualisiertes Verhalten im Sozialkontakt) beobachtet. 4 Bei allen Kindesmisshandlungsformen können folgende Störungen auftreten: 5 Emotionale Folgen: Posttraumatische Belastungsstörung, Ängste, Phobien, Depression, niedriger Selbstwert, Suizidalität, Schuld- und Schamgefühle, Ärgerneigung, Feindseligkeit, selbstschädigendes Verhalten (z. B. Selbstverletzungen) und allgemein Störungen der Affektregulation. 5 Kognitive Folgen: Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, dysfunktionale Kognitionen (z. B. negative Attributionsmuster, negative Schemata), Sprach-, Lern- und Schulschwierigkeiten. 5 Somatische und psychosomatische Folgen: Kopfschmerzen, Atembeschwerden, Ess- und Schlafstörungen sowie Enuresis und Enkopresis. 5 Auffälligkeiten im Sozialverhalten: Bei Trennungen von den misshandelnden Eltern zeigen misshandelte Kinder oft keine Gefühle, während sie zu fremden Personen ein übermäßiges Vertrauen manifestieren. Rückzugsverhalten, Fernbleiben vom Unterricht, Hyperaktivität, Appelationshandlungen (z. B. Weglaufen von zu Hause), aggressives Verhalten wie mutwilliges Zerstören von Eigentum, physische Angriffe (unter Umständen mit Waffen) und anderes delinquentes Verhalten.
Nach Salter (1988) lassen sich die Kurzzeitfolgen zu zwei Breitbandfaktoren gruppieren, die als internalisierende Reaktionsformen (z. B. Depression, Angst, Rückzugsverhalten, schulischer Misserfolg, psychosomatische Beschwerden) oder externalisierende Reaktionsformen (z. B. offene Aggression gegen andere Personen oder Eigentum) bezeichnet werden. Beide Reaktionsformen sind jedoch unspezifisch, als sie auch durch andere Belastungen (z. B. Scheidung der Eltern, Alkoholproblem eines Elternteils) ausgelöst werden können (Salter 1988).
48.2.4 Epidemiologie, Verlauf und Prognose
Die Weite der den epidemiologischen Studien zugrunde liegenden Begriffsdefinitionen und Methoden beeinflussen stark Inzidenz- und Prävalenzraten der Kindesmisshandlung, deren Misshandlungsformen und Folgen. Als Datenquellen werden Kriminalstatistiken, Dokumentationen und systematische Untersuchungen von Institutionen des medizinischen und psychosozialen Versorgungssystems sowie Dunkelfeldstudien herangezogen, wobei die Ergebnisunterschiede zur Inzidenz und Prävalenz zwischen den Datenquellen sehr groß sind. In Kriminalstatistiken erscheinen wegen der Verwendung der engsten Begriffsdefinition nur schwerste Fälle von Kindesmisshandlung, während Untersuchungen in medizinischen und psychosozialen Institutionen auch die weit größere Zahl zwar behandelter, aber nicht angezeigter oder verurteilter Fälle dokumentiert. Dagegen werden in Dunkelfeldstudien wegen der Verwendung sehr weiter Begriffsdefinitionen auch die größte Zahl leichterer, administrativ unauffälliger Fälle erfasst.
Dasselbe Phänomen – unterschiedliche Häufigkeiten In der Schweiz sind 1990 nur gerade 29 Fälle körperlicher Kindesmisshandlung angezeigt worden (Kriminalstatistik). Im selben Jahr gaben in einer Dunkelfeldstudie mit einer repräsentativen schweizer Stichprobe von 1356 Erziehungsberechtigten rund 11% an, dass sie ihre Kinder im Alter zwischen Geburt und 2,5 Jahren manchmal bis sehr häufig schlagen (z. B. Ohrfeigen, mit Gegenständen schlagen). Dies entspricht in der Schweiz rund 40.000 Kindern (Perrez u. Moggi 1993). Dieselbe Dunkelfeldstudie wurde Jahr 2004 bei 1240 Erziehungsberechtigten wiederholt. Danach schlagen gar 18% der Erwachsenen ihre bis zu 2,5-jährigen manchmal bis häufig (Perrez u. Schöbi 2004). Eine Möglichkeit zur Schätzung der 6
Häufigkeit von Körperstrafen ist die Befragung der Latenz zur letzten Körperstrafe, wobei angenommen wird, dass eine kürzere Latenz eine höhere Bestrafungsfrequenz bedeutet. Die Häufigkeit körperlicher Bestrafung scheint demnach zwischen dem 5./6. bis zum 9./10. Lebensalter zu beiden Erhebungszeitpunkten deutlich abzunehmen (. Abb. 48.3). Dass körperliche Bestrafung zwar unerwünschtes Verhalten kurzzeitig unterdrückt, aber positiv mit aggressivem, delinquentem und antisozialem Verhalten sowie negativ mit psychischer Gesundheit und der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung zusammenhängt, konnte vielfach nachgewiesen werden (Thompson Gershoff 2002).
48
872
Kapitel 48 · Kindesmisshandlung
. Abb. 48.3. Latenz seit der letzten Körperstrafe in Abhängigkeit des Alters des bestraften Kindes. Gestrichelte Linie Stichprobe 1990; durchgezogene Linie Stichprobe 2004. (Perrez u. Schöbi 2004)
48
In der »National Incidence Study of Child Abuse and Neglect« (NIS) werden in den USA periodisch die bei Kinderschutzeinrichtungen neu gemeldeten Fälle physischer und psychischer Misshandlung und Vernachlässigung erfasst (administrative Inzidenz). Die seit 1980 dreimal durchgeführte Erhebung zeigt, eine Zunahme der gemeldeten Fälle (Kaplan et al. 1999). Danach wurden im Jahre 1993 in den USA schätzungsweise 5,7 von 1000 Kindern Opfer von schwerer körperlicher Misshandlung und 5 von 1000 Kindern Opfer von schwerer körperlicher Vernachlässigung. Dies waren deutliche Zunahmen im Vergleich zu den Jahren 1986 (4,3 bzw. 2,7 auf 1000 Kinder) und 1980 (3,1 bzw. 1,6 auf 1000 Kinder). Die vierte Erhebung wurde Ende 2006 abgeschlossen. Die administrative Prävalenz, also die Häufigkeit aller den Behörden bekannten Fälle einschließlich sexueller Kindesmisshandlung, liegt zwischen 12 und 15 auf 1000 Kinder. Finkelhor (2005) berichtet in seinem Überblick über empirische Untersuchungen mit Stichproben aus 20 Ländern, dass bei Bevölkerungsstichproben mit Erwachsenen die Häufigkeit sexueller Kindesmisshandlung bei weiblichen Kindern zwischen 7 und 32% und diejenige der männlichen Kinder zwischen 3 und 29% liegt. Das Geschlechterverhältnis liegt ungefähr bei zwei Mädchen zu einem Jungen (Finkelhor 2005). Kindesmisshandlung ist keine Störung wie sie in den gängigen Klassifikationssystemen aufgeführt sind, so dass typische Verläufe und Prognosen nicht beschrieben werden können. In der ICD-10-Klassifikation werden jedoch im Kapitel XXI »Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten führen« unter Z61 und Z62 Probleme bei sexuellem Missbrauch inner- und außerhalb der Familie, bei körperlicher Misshandlung, ungenügende elterliche
Überwachung, Feindseligkeit gegenüber dem Kind, ständige Schuldzuweisung an das Kind, emotionale Vernachlässigung eines Kindes und andere Vernachlässigung bei der Erziehung eines Kindes aufgeführt (Dilling et al. 2004). Im DSM-IV-TR werden die verschiedenen Kindesmisshandlungsformen auf der V. Achse einer Achse-Ioder Achse-II-Störung unter »Andere Bedingungen, die im Fokus klinischer Aufmerksamkeit sein können« klassifiziert (Sass et al. 2003). So können unter V61.21 »körperliche Misshandlung« (Kodierung 995.52) oder »Vernachlässigung eines Kindes« (Kodierung 995.54) sowie unter V61.1 »sexueller Missbrauch eines Kindes« (Kodierung 995.53) festgehalten werden.
48.3
Ätiologiemodelle: Zusammenhang zwischen Misshandlung und deren Folgen
In jüngster Zeit wird die Ätiologieforschung zu Folgen von Kindesmisshandlung unter Berücksichtigung der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS; Sass et al. 2003) vorangetrieben, obwohl nur ein Teil der Opfer von Kindesmisshandlung unter PTBS leidet und bei Weitem nicht alle bis heute bekannten Folgen Merkmale eines PTBS enthalten. Epidemiologische Untersuchungen zeigen aber, dass Kindesmisshandlungen, insbesondere sexuelle Kindesmisshandlung, im Vergleich zu anderen traumatischen Ereignissen als besonders belastend erlebt werden und dass sie die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung an Symptomen oder am Syndrom einer PTBS sowie komorbide Störungen (z. B. Angststörungen, Depression, Somatoformen Störungen, Suchtverhalten) deutlich erhöhen (Moggi 2005).
873 48.3 · Ätiologiemodelle: Zusammenhang zwischen Misshandlung und deren Folgen
48.3.1 Traumatheorien/posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS) Mit dem Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung (7 Kap. III/35) werden spezifische Symptome als Folgen von traumatischen Erfahrungen bezeichnet, die beschrieben werden als 4 andauerndes Wiedererleben des traumatischen Ereignisses (z. B. wiederkehrende und eindringlich belastende Erinnerungen oder Träume; bei kleinen Kindern können Spiele auftreten, in denen wiederholt Themen oder Aspekte des Traumas ausgedrückt werden), 4 bewusstes Vermeiden von Stimuli und Situationen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen (z. B. Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, aber auch Orte, Situationen oder Menschen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen) und 4 anhaltende Symptome erhöhten Erregungsniveaus (z. B. Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen, Reizbarkeit, Hypervigilanz; Sass et al. 2003). Aufgrund der Kindesmisshandlungsart und ihrem Verlauf lassen sich nach Terr (1991) zwei Traumatypen unterscheiden, die zu unterschiedlichen Reaktionsmustern führen können: 4 Typ I: Als unvorhergesehenes einmaliges Ereignis (z. B. Vergewaltigung eines Kindes) kann Kindesmisshandlung zu den charakteristischen Merkmalen der PTBS führen und mit detaillierten Erinnerungen an die Kindesmisshandlung, der Suche nach ihrem Sinn und Wahrnehmungsverzerrungen (z. B. optische Halluzinationen) einhergehen. 4 Typ II: Kindesmisshandlung tritt wiederholt und lang andauernd auf (z. B. körperliche Misshandlung innerhalb der Kernfamilie) und kann mit Verleugnung und Dissoziation, emotionaler Entrückung, Identifikation mit dem Aggressor oder mit Aggression gegen sich selbst einhergehen. Die Unterscheidung zwischen den beiden Traumatypen ist deshalb wichtig, weil die meisten Ätiologiemodelle von PTBS aus Forschungsergebnissen zum Typ-I-Trauma (z. B. Naturkatastrophen, Überfälle, Unfälle, Schießerei in der Schule) hervorgegangen sind. Kindesmisshandlung ist jedoch häufiger ein Typ-II-Trauma, wahrscheinlich mit anderen Folgen als PTBS (Cicchetti u. Valentino 2006). Mit der Traumatheorie werden einerseits unmittelbare Reaktionen (z. B. intensive Furcht, Hilflosigkeit) auf und andererseits langfristige Folgen (z. B. chronifiziertes PTBS, Depressivität) von traumatischen Ereignissen erklärt. Dafür werden jüngst als psychologische Modelle Emotionsprozess-, Repräsentations- und kognitive Theorien herangezogen (Brewin u. Holmes 2003). Janoff-Bulman (1992) geht davon aus, dass Traumata grundlegende positive Annahmen (»Schemata«) einer Person über sich (z. B. Selbst-
wert, Kontrolle) und die Welt (z. B. Wohlwollen, Gerechtigkeit, Sicherheit, Vertrauen) erschüttern. Danach würden die Betroffenen die traumatische Erfahrung an ihre kognitiv-emotionalen Schemata assimilieren und/oder diese an die posttraumatische Realität akkommodieren. Dieser Äquilibrationsprozess von Akkommodation und Assimilation formt die Schemata neu. Sie bestimmen in Abhängigkeit des Entwicklungsalters Art und Ausmaß der Langzeitfolgen und können z. B. zu einer chronischen PTBS führen, wenn sie die stabile Wahrnehmung schwerer gegenwärtiger Bedrohung aufrechterhalten (Janoff-Bulman 1992). Nach Ehlers u. Clark (2000) wird die Bedrohungswahrnehmung durch die Art des Trauma-Gedächtnisses (bruchstückhafte Erinnerung, ungewolltes, lebhaftes und als gegenwärtig empfundenes Wiedererleben verbunden mit starken Emotionen und Gedächtnisassoziationen) sowie durch dysfunktionale kognitive Verarbeitungsstile (z. B. Gedankenunterdrückung, Ablenken) und Verhaltensweisen (z. B. Suchtmittelkonsum) gefördert (Ehlers u. Clark 2000). Viktimisierte Kinder unterliegen dem beschriebenen Äquilibrationsprozess in stärkerem Maß als Erwachsene, weil sie über weniger stabile Schemata verfügen, die ihnen ermöglichen, das Trauma angemessen zu verarbeiten (JanoffBulman 1992).
48.3.2 Prozessmodell zur Entwicklung
von Störungen Während die meisten Traumatheorien auf Forschungsergebnisse bei Erwachsenen beruhen (Ehlers u. Clark 2000), haben Pynoos et al. (1999, 1995) oder Cicchetti et al. (Chiccetti u. Lynch 1995; Cicchetti u. Valentino 2006) auf der Grundlage empirischer Befunde ein umfassendes Prozessmodell zur Entwicklung von Störungen bei Kindern unter Stressbedingungen vorgestellt. Die Entwicklung von Störungen hängt zunächst ab von den objektiven Ereignismerkmalen (z. B. Schwere der Misshandlung wie z. B. Gewaltanwendung) und den subjektiven Kindesmerkmalen (z. B. kognitive Bewertungen wie Selbstattribution), den Erfahrung(en) während des traumatischen Ereignisses selbst (z. B. Art, Intensität und Dauer der physiologischen, emotionalen und kognitiven Reaktionen wie starke Angsterregung und dem Gefühl des Ausgeliefertseins) sowie von den unmittelbar darauf folgenden Intrusionen (z. B. Häufigkeit, Aversivität, Ohnmachtsgefühl) und Folgebelastungen (z. B. emotionale Labilisierung, gestörte Kommunikation in der Familie). Erste Reaktionen des Kindes, sich an die durch das Trauma veränderte Situation anzupassen bzw. sich davon zu erholen, werden durch die Widerstandsfähigkeit bzw. Verletzlichkeit (z. B. Selbstwertgefühl, Kontrollüberzeugungen) mediiert. Diese ersten sog. Belastungsreaktionen, die PTBS-Symptome oder andere Störungszeichen (z. B. Aufmerksamkeitsstörungen, Depressionen, Ängste, Schlaf-
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48
Kapitel 48 · Kindesmisshandlung
störungen) beinhalten können, nehmen Einfluss auf den weiteren Entwicklungsverlauf des Kindes, indem sie bei ihm dysfunktionale Kognitionen (z. B. geringe Selbstwirksamkeit), intensive negative Emotionen (z. B. Schuldgefühle) und maladaptive Verhaltensmuster (z. B. selbstschädigendes Verhalten) hervorrufen und aufrechterhalten können. Im fortlaufenden Anpassungsprozess können sich diese kognitiv-emotionalen Erlebens- und Verhaltensmuster zu Reaktionsschemata verfestigen und die weitere Persönlichkeitsbildung beeinflussen. Neu auftretende sekundäre Belastungen (z. B. Fremdplatzierung, Gerichtsverhandlungen), oder wiederholte Traumatisierung (z. B. bei Inzest) halten negative Schemata aufrecht und können zu einer krankhaften Persönlichkeitsentwicklung führen. Das Modell von Pynoos et al. oder Cicchetti et al. eröffnet neue vielfältige Perspektiven, weil es nicht den linearen Zusammenhang zwischen Trauma und Reaktion, sondern die dynamische Interaktion zwischen Trauma mit dem Kind betont, das sich in einer bestimmten Entwicklungsphase befindet. Das Trauma setzt beim Kind, das sich in einem bestimmten sozialen Kontext einschließlich seiner Risiko- und Schutzfaktoren befindet, komplexe Bewältigungsmechanismen in Gang, die seine Entwicklung stark beeinflussen und psychopathologische Prozesse fördern können. Zudem werden von den Autoren auch neurobiologische Prozesse miteinbezogen (Cicchetti u. Valentino 2006; Pynoos et al. 1999), die im Rahmen der Untersuchungen zu frühen Stresserfahrungen und deren psychobiologischen Effekten gefunden wurden (Heim 2005).
48.4
Diagnostik
Die im Kapitel beschriebenen Kurzzeitfolgen sind die Kindesmisshandlung charakterisierende Symptome und Syndrome, bei deren Vorliegen nach sorgfältiger Abklärung die Diagnose »Kindesmisshandlung« gestellt werden kann. Allerdings ist Diagnostik bei Verdacht auf Kindesmisshandlung mehr als die Erfassung von Tatsachen und die Weiterleitung an zuständige Stellen, sondern ein komplexer Prozess, der aus der individuellen Sicht des Kindes und im systemischen Rahmen der Familie und ihres Umfeldes gesehen werden muss. Dabei ist eine mögliche Misshandlung oft nur der einen diagnostischen Prozess auslösende Faktor, aber nicht der einzig Bedeutsame für das Wohl des Kindes und der Familie. Des Weiteren sind Psychologen angesichts der vielfältigen körperlichen, seelischen und sozialen Probleme neben Medizinern, Sozialarbeitern, Juristen und Polizisten nur eine der für Kindesmisshandlung zuständigen Berufsgruppen. Diagnostik sollte primär von spezialisierten Einrichtungen mit den dafür notwendigen Ressourcen durchgeführt werden, weil Kindesmisshandlung in einem Spannungsfeld von Bedro-
hung, Grenzüberschreitung und Geheimhaltung stattfindet, so dass es oft zur Spaltung zwischen Verantwortlichkeit und Handlung kommt, wenn sich verschiedene Stellen um einen Fall kümmern. Bei verschiedenen Misshandlungsformen ergeben sich unterschiedliche Schwerpunkte (Motzkau 2005). Das Wissen, dass Kindesmisshandlung innerhalb von Familiensystemen Ausdruck ihrer Störung aber nicht Ursache ist, bedeutet für Diagnostik und Therapie, dass die Aufmerksamkeit auf das System zu richten ist. Deswegen ist es auch wichtig, diagnostisch relevante Informationen aus verschiedenen Quellen wie dem Kind, den Eltern, allenfalls seinen Lehrern oder anderen wichtigen Bezugspersonen zu integrieren. Folgende Erhebungen sind für die primäre Diagnostik von Kindesmisshandlung relevant: 4 Klinisches Interview: Misshandlungen werden meist verharmlost oder gar verleugnet. Der zunächst geschilderte Unfallhergang ist oft schwer nachvollziehbar. Die Bewertung von Verdachtsmomenten bei sexueller Kindesmisshandlung ist viel umstrittener als bei den anderen Kindesmisshandlungsformen. Verdachtsmomente können Zeugen äußern oder körperliche Anzeichen beim Kind (z. B. genitale Verletzung), direkte oder indirekte (z. B. sexualisierte Sprache) Äußerungen, Verhaltensweisen oder -änderungen sein. 4 Misshandlungsmerkmale: Die Beschreibung der Misshandlung sollte die Identifikation der misshandelnden Person(en), Dauer und Art (Beginn, Schwere, Kontext, Art der Beeinträchtigungen) beinhalten. 4 Körperliche Untersuchung und Befund: Es müssen alle bekannten Formen von Kindesmisshandlung (7 Abschn. 48.2.2) und ihre Folgen (Knochenbrüche, Hämatome, Bissverletzungen, Striemen, Fesselspuren, Verbrennungen und Verbrühungen, Augenhintergrund wegen Schütteltrauma, neurologische Untersuchung, genitale Verletzungen) berücksichtigt und, wenn vorhanden, eindeutig festgehalten werden. 4 Kinderspychiatrischer/-psychologischer Befund: Sie entsprechen den entwicklungsabhängigen Verhaltensauffälligkeiten sowie psychischen und psychosomatischen Symptomen und Störungen wie sie in . Tab. 48.1 und für physische Misshandlung in 7 Abschn. 48.2.3 aufgelistet worden sind. Im deutschen Sprachraum liegen bis heute keine standardisierten Instrumente zur Erfassung von Störungen im Zusammenhang mit Kindesmisshandlung vor. Störungsspezifische Diagnoseinstrumente für das Kindes- und Jugendalter werden an anderer Stelle vorgestellt (7 Kap. III/8 und III/9). Hilfreich können ab 7 Jahren die Interviews zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (IBS-KJ) sein (Seil u. Füchsel 2005). 4 Persönliche und Familienanamnese: Unerlässlich ist eine gründliche Familien- und Sozialanamnese zur Beurteilung der Gesamtsituation.
875 48.5 · Therapeutisches Vorgehen
Die Ergebnisse der Diagnostik sind je nach Befund nicht nur der betroffenen Familie, sondern auch anderen Stellen mitzuteilen. Bei Vorliegen einer Kindesmisshandlung dient die Diagnostik zunächst der Planung und Einleitung von Kinderschutzmaßnahmen, die mit der Familie und der sog. Helferkonferenz beschlossen werden. Darunter kann auch Psychotherapie für das betroffene Kind sein.
48.5
Therapeutisches Vorgehen
Interventionen bei Kindesmisshandlung lassen sich nach Zielgruppen (z. B. Kinder, Erwachsene, Eltern, Gemeinde, Gesellschaft), Interventionszielen (z. B. Behandlung physischer und psychischer Folgen von Kindesmisshandlung, Verbesserung des elterlichen Erziehungsstils) und Interventionsmethoden (z. B. Familientherapie, Spieltherapie) unterscheiden (. Abb. 48.4). Ziele jeglicher Intervention bei Kindesmisshandlung sind je nach Alter des Kindes: eine Krisenintervention durchzuführen (z. B. Wundversorgung, stationäre Einweisung bei Suizidalität), der Schutz vor weiteren Misshandlungen (z. B. kurzfristige Fremdplatzierung, Verhindern von Täterkontakt), günstige Bedingungen für eine altersentsprechende Entwicklung des
. Abb. 48.4. Beispiele von Zielgruppen, Interventionszielen und -methoden in einem Strukturmodell
Kindes zu schaffen (z. B. Familientherapie, Platzierung in Pflegefamilie), Langzeitfolgen zu verhindern (z. B. kindzentrierte Traumatherapie, Spieltherapien) sowie die Bedürfnisse des beteiligten Familiensystems zu berücksichtigen (z. B. die Eltern in ihren Erziehungsbemühungen unterstützen, Kooperation zwischen Fachleuten und Eltern fördern) (Ziegler 1994). In diesem Kapitel soll ausschließlich auf die von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten durchzuführende kind- und elternzentrierte Behandlung eingegangen werden, d. h. die Zielgruppe sind Kinder und ihre Eltern, die Interventionsziele sind die Therapie der Misshandlungsfolgen sowie die Prävention weiterer Misshandlungen und die Interventionsmethoden meist Familientherapien. Bis heute liegen jedoch wenige systematisch untersuchte Behandlungsprogramme für Kindesmisshandlung vor. Derzeit müssen sich Fachärzte und -psychologen auf Behandlungsempfehlungen wie diejenige der Expertengruppe der »American Academy of Child and Adolescence Psychiatry« (AACAP) zur multimodalen Therapie posttraumatischer Belastungsstörungen bei Kindern und Adoleszenten stützen, die ebenfalls für die Behandlung misshandelter Kinder und ihrer Familie dienen können (Cohen 1998; Moggi 2005; 7 Kap. III/35).
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876
Kapitel 48 · Kindesmisshandlung
Die AACAP empfiehlt auf der Grundlage klinischer Beurteilung und verfügbarer Ressourcen folgende Interventionen: 1. Psychoedukation ähnlichen traumatisierenden Erfahrungen (nach Kind- und/oder erwachsenenzentrierte Informationsvermittlung über Kindesmisshandlung und ihre Folgen (Symptome), Verlauf, Behandlungsmöglichkeiten und Prognose.
2. Kindzentrierte Einzeltherapie
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a) Traumafokussierte Therapie: 4 Exploration und offene Diskussion der traumatisierenden Erfahrung. Entspannung oder Desensibilisierung/Exposition können hilfreich sein. 4 Ausführliche Beschreibung und Veränderung dysfunktionaler Attributionen in Bezug auf die Misshandlung (z. B. Selbstzuweisung von Schuld). 4 Verhaltenstherapeutische Interventionen zur Veränderung unangemessener Verhaltensweisen, die im Verlauf der Misshandlung gelernt wurden (z. B. unangemessenes Sexualverhalten, Fremd- und Selbstaggression). 4 Anwendung kognitiv-verhaltenstherapeutischer Techniken mit dem Ziel, einschießende Erinnerungen an die Misshandlung zu kontrollieren. b) Traumaunspezifische Therapie: kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapie der emotionalen Störungen und/oder Verhaltensstörungen (z. B. Depressionen, Angststörungen). c) Einsichtsorientierte und psychodynamische Psychotherapie und Spieltherapie kann hilfreich sein.
3. Kindzentrierte Gruppentherapie a) Traumafokussierte Therapie: Behandlung der Folgen von Kindesmisshandlung in Gruppen mit Kindern in derselben Entwicklungsphase und mit
Auf die kognitiv-verhaltenstherapeutische kind- und elternzentrierte, traumafokussierte Therapie soll im Folgenden näher eingegangen werden. Sie hat sich im Vergleich zu anderen Therapien als wirksamer erwiesen. Im Hinblick auf das oben erwähnte Strukturmodell (. Abb. 48.4) sind die Zielgruppe das misshandelte Kind unter Einbezug seiner Eltern, die Interventionsziele die Bewältigung des Traumas und Verhinderung von Langzeitfolgen und die Interventionsmethoden kognitiv-verhaltenstherapeutische Einzelund Familientherapie. Dies entspricht den Empfehlungen der AACAP, wonach bei Kindesmisshandlung als Interventionen Psychoedukation (1), kindzentrierte Einzeltherapie (2a und 2b) sowie eltern- und kindzentrierte Familien-/Systemtherapie (4a bis 4c) indiziert sind.
Maßgabe kindzentrierter Einzeltherapie). b) Traumaunspezifische Therapie: Die altersentsprechende sozial-emotionale Entwicklung kann in Gruppen mit Schwerpunkt Verbesserung sozialer Interaktion gefördert werden, wobei Gleichaltrige als Lernmodelle zur Verfügung stehen sollten.
4. Eltern- und kindzentrierte Familientherapie/ Systemtherapie a) Wissensvermittlung über die Kindesentwicklung und -erziehung. b) Zur Kindesmisshandlung führende familiäre Interaktionsmuster können mit Erziehungs- und Problemlöseverhaltenstrainings verändert werden. Hauptansatzpunkte sind die Veränderung elterlicher Kognitionen (z. B. Ärger auslösende Attributionen kindlichen Verhaltens) und Verhaltensweisen (z. B. hohe Bereitschaft zur Anwendung körperlicher Bestrafung) sowie die Förderung erwünschten kindlichen Verhaltens durch kindgerechte Erziehungsfertigkeiten. c) Bei sexueller Kindesmisshandlung steht die von den erwachsenen Familienmitgliedern unterstützte Förderung des kindlichen Selbstwerts (z. B. Abbau von Schuldgefühlen) und der Selbstsicherheit (z. B. Abgrenzungstraining) im Mittelpunkt. Bei Inzest können Vereinbarungen zur Wiedergutmachung zwischen Opfer und Täter hilfreich sein.
5. Psychopharmakotherapie Bei Depressionen und Panikstörungen können mit der notwendigen Zurückhaltung Antidepressiva (z. B. SSRI) verabreicht werden. Psychostimulantien (z. B. Methylphenidat) können bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung hilfreich sein. Die Verwendung von anxiolytischen Medikamenten (z. B. Benzodiazepine) ist umstritten.
48.5.1 Komponenten traumafokussierter kogni-
tiver Verhaltenstherapie (TF-KVT) Die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (TFKVT) bei Kindern zielt auf die Behandlung von PTBS und von damit zusammenhängenden Symptome von Depression, Angst und Beeinträchtigungen des sozialen Funktionierens ab. Ursprünglich stellte die TF-KVT eine Reihe von Strategien und Interventionen zur Verfügung, um Traumaopfern und ihren Angehörigen zu helfen, negative Folgen des Traumas zu bewältigen und sie auf die belastende Traumaverarbeitung vorzubereiten. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass die Opfer die Erinnerungen bzw. Erinnerungsbruchstücke an das Trauma vermeiden,
877 48.5 · Therapeutisches Vorgehen
. Tab. 48.2. Komponenten der traumafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie (TF-KVT) Kindertherapie
Parallele Elterntherapie
Einführung: Kennenlernen, Behandlungsrationale und -komponenten vorstellen
Orientierung: Behandlungsrationale und -komponenten vorstellen, Grundlagen der kognitiven Verhaltenstherapie
Training von Bewältigungsfertigkeiten 4 Emotionaler Ausdruck 4 Kognitive Bewältigung 4 Entspannung
Training von Bewältigungsfertigkeiten 4 Emotionaler Ausdruck 4 Kognitive Bewältigung 4 Entspannung
Graduierte Exposition
Graduierte Exposition
Kognitive und affektive Verarbeitung
Kognitive und affektive Verarbeitung
Psychoedukation 4 Grundlegende Tatsachen 4 Persönliche Sicherheit
Psychoedukation 4 Grundlegende Tatsachen 4 Persönliche Sicherheit
Gesunde Sexualität (nur bei sexueller Kindesmisshandlung)
Verhaltensmanagement und andere elterliche Fertigkeiten
Nach Wekerle et al. 2006; mit freundlicher Genehmigung von Childhood Maltreatment by Wekerle et al., ISBN 978-0-88937-314-3, S. 34, © 2006 Hogrefe & Huber Publishers, www.hogrefe.com.
diese jedoch in Form einer sinnvollen Geschichte so in ihr Gedächtnis integrieren müssen, dass sie einen Sinn ergeben. Hinzu kommen für Kindesmisshandlung wichtige Komponenten wie z. B. bei körperlicher Kindesmisshandlung die Vermittlung von Erziehungsfertigkeiten (Wekerle et al. 2006). In . Tab. 48.2 sind die Komponenten der TFKVT aufgeführt. In Cohen et al. (2006) ist die Behandlung mit ihren Komponenten ausführlich beschrieben (Cohen et al. 2006).
losgelassen werden, um bildlich Sorgen von sich wegzustoßen. Mit älteren Kindern können auch Visualsierungsübungen oder Meditationen durchgeführt werden. Drittens wird mit dem Kind eine Reihe von Bewältigungsstrategien wie Gedankenstopp (z. B. laut »Stopp« rufen, Karte mit Stoppzeichen zeigen) oder positive Selbstgespräche (z. B. »Ich kann das«, »Es wird besser werden«) eingeübt, um beim Auftreten belastender Gedanken selbst zu intervenieren. Zusätzlich können Techniken zur Ärgerkontrolle, Selbstwertaufbau, Selbstsicherheit, Problemlösen und Kommunikation eingeübt werden.
48.5.2 Kindertherapie
Kognitive Verarbeitung Die TF-KVT ist eine Kurztherapie und benötigt zwischen 12 und 16 Sitzungen. Allerdings können komplexe Fälle auch deutlich länger und mehr Sitzungen in Anspruch nehmen. Der Therapiefokus liegt auf drei Bereichen: Bewältigungsfertigkeiten, Exposition und Psychoedukation (Cohen et al. 2006).
Bewältigungstraining Typischerweise werden in den ersten vier Sitzungen Bewältigungsfertigkeiten geübt. Zuerst werden Fertigkeiten des emotionalen Ausdrucks trainiert, indem das Kind lernt, sein Vokabular für Gefühle zu erweitern, persönliche Gefühle und diejenigen anderer Personen zu erkennen sowie in Stresssituationen eigene Gefühle auszudrücken und Ärger zu regulieren. Gefühle im Zusammenhang mit der Misshandlung sollten nur diskutiert werden, wenn sie vom Kind selbst angesprochen werden. Zweitens werden mit dem Kind Entspannungstechniken wie Tiefenatmung oder progressive Muskelrelaxation eingeübt (7 Kap. III/16). Mit kleineren Kindern kann z. B. ein Ballon aufgeblasen und
Kognitive Verarbeitung kann sowohl als eigene Komponente oder auch als Teil des Bewältigungstrainings betrachtet werden. Automatische Gedanken und der Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten werden thematisiert. Bei jüngeren Kindern kann der Therapeut mit Hilfe von Cartoonzeichnungen, in denen Sprechblasen mit Gedanken und Gefühlen ein Verhalten der Akteure »erklären«, diesen wichtigen Zusammenhang erörtern. Bei älteren Kindern kann direkt ein GedankenGefühl-Verhalten-Dreieck gezeichnet (. Abb. 48.5) und besprochen werden. Wichtig ist zu zeigen, dass verschiedene Gedanken (positive vs. negative) zu unterschiedlichen Gefühlen und Verhaltensweisen führen. Der Situation unangemessene Gedanken sollen erörtert werden. Die Situationen für das Gedanken-Gefühl-Verhalten-Dreieck sind so zu wählen, dass sie noch keinen Bezug zur Kindesmisshandlung aufweisen, denn in dieser Phase geht es immer noch darum, Bewältigungsfertigkeiten zu üben, die später in der eigentlichen Exposition angewendet werden sollen.
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Kapitel 48 · Kindesmisshandlung
Beispiel Übung zu Gedanken-Gefühl-Verhalten-Dreieck Größere Kinder können die kognitive Verarbeitung auch zwischen den Sitzungen üben, um sie in der darauf folgenden Phase der graduierten Exposition zu beherrschen. Cohen et al. (2006) schlagen folgende Übung mit entsprechender Instruktion vor: Immer, wenn dich etwas während der kommenden Woche aus der Fassung bringt, beschreibe doch kurz die Situation und welche Gefühle du erlebst hast. Versuche danach zu-
rück zu verfolgen, welche Gedanken du in dieser Situation hattest und wie es zu diesen Gedanken gekommen ist. Überlege dir, ob diese Gedanken angemessen und hilfreich waren. Suche nach anderen Gedanken in dieser Situation, welche Gefühle diese anderen Gedanken auslösen und ob sie angemessen und hilfreich sind. Schreib auch diese auf. Überlege auch, was du einer Freundin oder einem Freund sagen würdest, wenn sie oder er in derselben Situation gewesen wäre und ihre oder seine Gefühle schildern würde.
Beispielformular zur Erfassung der Gedanken und Gefühle Situation: Gedanken: Gefühl: Verhalten: Neue Gedanken: Neues Gefühl: . Abb. 48.5. Gedanken-Gefühl-Verhalten-Dreieck
48
Graduierte Exposition Der Kern der kindzentrierten TF-KVT ist die Exposition von Erinnerungen an das Trauma, dessen Ziel die Entwicklung einer Erzählung, Geschichte oder »Buches« über die Traumaerfahrung ist (»trauma narrative«). Die graduierte Exposition dient erstens der verlängerten Reizkonfrontation und zweitens der systematischen Desensibilisierung. Die Kinder sollen sich wiederholt mit den Angst auslösenden Erinnerungen konfrontieren und über ihre Erfahrungen berichten, wobei im Sinne der systematischen Desensibilisierung mit der schwächsten Situation bzw. Erinnerung begonnen wird. Es sollen mehr und mehr Details, Gedanken und Gefühle hinzukommen. Die Exposition soll die Habituation an die Erinnerung fördern und die Assoziation zwischen Erfahrung und Angst auflösen. Das Kind erlebt auf diese Weise den Erfolg seiner Konfrontation mit den Erinnerungen. Schließlich sollte das Kind die traumatischen Ereignisse ohne Vermeidungs- oder Fluchtreaktionen beschreiben können. Selbstverständlich sind vorgängig vom
Neues Verhalten:
Therapeuten die trauma- und kindspezifischen Furcht- und Vermeidungsstrategien zu erfassen. Der Therapeut muss dem Kind das Rationale der graduierten Exposition ausführlich beschreiben und sicherstellen, dass das Kind die Gründe für dieses Vorgehen und den Ablauf wirklich verstanden hat. Der Therapeut kann z. B. an einer tiefen Schnittverletzung erklären, dass sie vor dem Nähen sorgfältig gereinigt werden muss, was leider schmerzt, bevor sie dann gesäubert über längere Zeit heilen kann. Würde sie nicht gereinigt, könnte sie nicht heilen und würde sich nur weiter entzünden und schmerzen. Die zunehmend differenzierende und weniger angstauslösende Traumageschichte kann von den Kindern auf vielfältige Art und Weise berichtet werden. So z. B. in der dritten oder ersten Person, als eine erfundene Person oder auch szenisch mit Puppen dargestellt. Unangemessene oder nicht hilfreiche Gedanken (z. B. Selbstzuweisung von Schuld bei sexueller Kindesmisshandlung) müssen konfrontiert und wie unter 7 Abschn. 48.5.2 »kognitive Verarbeitung« bearbeitet werden.
Fallbeispiel Traumageschichte eines 9-jährigen Jungen: Wiederholt Zeuge häuslicher Gewalt »Hallo, mein Name ist Kevin. Ich lebe mit meiner Mutter und meinen beiden Geschwistern in einem Dorf. Wir mussten dorthin umziehen, weil schlimme Dinge in un6
serer Wohnung in der Stadt geschahen. Wir lebten mit meinem Vater. Er hat böse Dinge gemacht. Ich vermisse ihn. Eines Abends hatten mein Vater und meine Mutter wieder
879 48.5 · Therapeutisches Vorgehen
einmal einen großen Streit. Beide schrien herum und mein Vater schlug meine Mutter. Ich versteckte mich in meinem Zimmer und fürchtete mich sehr. Ich zitterte am ganzen Leib. Ich hielt mir die Ohren zu, aber es war einfach zu laut. Ich versteckte mich unter der Bettdecke, aber es war immer noch so laut. Die Polizei kam und brachte meine Mutter ins Spital und meinen Vater weg von zu Hause. Ich wollte nicht, dass mein Vater weggeht,
Psychoedukation Die letzte, meistens in den letzten vier Sitzungen besprochene Komponente der TF-KVT ist Psychoedukation. So sollten Opfer sexueller Kindesmisshandlung Informationen über die Merkmale sexueller Misshandlung (z. B. TäterOpfer-Umkehr: »Du wolltest es ja auch«), Fertigkeiten zu persönlicher Sicherheit (z. B. Nein-Sagen-Übungen) und gesunder Sexualität erhalten. Diese Informationen können dem Kind auch vor der graduierten Exposition durch den Therapeuten oder die Eltern vermittelt werden. Die persönliche Sicherheit des Kindes wird gefördert durch Informationen über gute vs. schlechte Berührungen, Kommunikations- und Selbstsicherheitsfertigkeiten, persönliche Rechte und vertrauenswürdige Personen.
48.5.3 Elterntherapie
Die Ziele der parallel stattfindenden elternzentrierten Therapie sind zum einen die Bewältigung der eigenen Reaktionen auf die Kindesmisshandlung, so dass sie ihr Kind wirksam in seiner Therapie unterstützen können. Zweitens sollten sie die Fortschritte ihres Kindes außerhalb der Kindertherapie stabilisieren und generalisieren helfen. Der Behandlungsfokus liegt auf der Misshandlung und seinen Folgen für das Kind und nicht auf Problembereichen der Eltern (z. B. Depression, interpersonelle Störungen der Eltern), die an anderer Stelle bzw. in einer eigenen Therapie zu bearbeiten sind.
Orientierung Das Behandlungsmodell für nicht misshandelnde Eltern beinhaltet alle Komponenten TF-KVT und sollte idealerweise gleichzeitig zur Kindertherapie erfolgen. Im Unterschied zur Kindertherapie werden die Eltern über die Diagnose, übliche Reaktionen von Kindern im Zusammenhang mit Misshandlung, den Behandlungsverlauf und das kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsmodell ausführlich informiert. Während bei sexueller Kindesmisshandlung der Täter nicht an der Therapie teilnimmt, lernt der andere Formen von Misshandlung ausübende Elternteil in der TF-KVT Fertigkeiten, um zukünftige Misshandlungen zu vermeiden. Allerdings muss jederzeit die Sicherheit des Kindes gewährleistet sein, bevor eine integrierte TF-KVT
und ich war traurig. Wir blieben bei unserer Großmutter bis unsere Mutter aus dem Spital kam. Dann zogen wir aufs Land. Meine Mutter und mein Vater können nicht zusammenleben, weil sie miteinander nicht auskommen. Sie hatten viel miteinander Streit. Mein Vater muss lernen, anderen nicht wehzutun. Meine Mutter sagt, dass er nicht wieder zurückkommen wird. Ich liebe meine Mutter und meinen Vater.«
stattfinden kann. Werden während der Therapie die Kinder anhaltend körperlich oder seelisch misshandelt bzw. vernachlässigt, ist die TF-KVT zurückzustellen und es sind Sicherheitsmaßnahmen zu initiieren.
Bewältigungsfertigkeiten Ab der zweiten Sitzung liegt der Therapiefokus auf der Erarbeitung elterlicher Erziehungsfertigkeiten wie dem wirksamen Einsatz von Lob und anderer Verstärkung als Konsequenz auf kindliche Verhaltensweisen, der Anwendung von Auszeiten, aktivem Zuhören und der Anwendung von Kontingenzmanagement einschließlich gewaltfreier Erziehungsmaßnahmen. Dabei dient der Therapeut als Modell und übt mit den Eltern in Rollenspielen die Anwendung dieser zentralen Fertigkeiten ein, sofern die Eltern Teil des misshandelnden Systems sind. Klare Regeln über die Grenze zwischen angemessenen Erziehungsmaßnahmen und Gewaltanwendung werden insbesondere bei körperlich misshandelnden Eltern festgelegt, weil sie dazu neigen, während Disziplinierungshandlungen starken und subjektiv unkontrollierbaren Ärger zu erleben. Deshalb sollen sie Antezedenzen und Konsequenzen ihrer Ärgerneigung genau kennen und sie durch Selbstmanagement verändern lernen. Wie bei ihrem Kind werden Entspannungsübungen und kognitive Bewältigungsfertigkeiten ebenso trainiert wie der Zusammenhang zwischen Gedanken, Gefühlen und Verhalten thematisiert wird.
Graduierte Exposition Das Konzept und Vorgehen der graduierten Exposition bei Kindern muss den Eltern ausführlich und detailliert erklärt werden, damit sich ihre Sorgen um das Wohlergehen ihres Kindes legen. Sind die Eltern nicht von der Methode überzeugt, entziehen sie gewollt oder unbewusst die Unterstützung der Kindertherapie. Die graduierte Exposition kann auch den Eltern helfen, eigene negative Erfahrungen in ihren Lebensentwurf zu integrieren. Bevor das mit dem Kind entwickelte Narrativ mit den Eltern in gemeinsamen Sitzungen geteilt wird, sollten die Eltern Gelegenheit erhalten, ihre eigene Erfahrung mit dem Trauma ihres Kindes mit dem Therapeuten zu bearbeiten. Auch die Eltern müssen erfahrungsgemäß wiederholt ermutigt werden, sich den Erfahrungen ihres Kindes im Sinne einer Exposition auszusetzen. Schließlich sollen gemeinsame Konfrontationssit-
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Kapitel 48 · Kindesmisshandlung
zungen mit dem Kind und seinen Eltern durchgeführt werden. Liegt eine sexuelle Kindesmisshandlung vor, können in den gemeinsamen Sitzungen die Eltern auch als Modelle für die Traumabewältigung dienen, die Kommunikation über das Trauma verbessern und die Generalisierung der Therapieerfolge fördern. Bei anderen Misshandlungsformen sollten in den Einzelsitzungen mit dem Kind auch Fragen zur Misshandlung erarbeitet werden, die dann mit den Eltern in den gemeinsamen Sitzungen geklärt werden können. Ein Rückblick auf das in Einzel- und gemeinsamen Sitzungen Gelernte kann helfen, die Eltern-Kind-Beziehung zu verbessern und zu vertiefen. Die Rolle des Therapeuten ist, die Familie in diesem Prozess der Wiederannäherung zu begleiten und den Eltern angemessene Verhaltensweisen im Umgang mit dem Kind zu lernen.
Psychoedukation Eltern und Kind erhalten dieselben Informationen bezüglich Psychoedukation, so dass die Familie diese zu Hause vertiefen kann. Bei körperlicher und/oder seelischer Misshandlung oder Vernachlässigung sollte die Psychoedukation bereits früh im Behandlungsprozess erfolgen, damit die adäquaten Interventionen bereits zu Beginn konkret eingeübt werden können.
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48.5.4 Variationen und Probleme
Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) Die DBT wurde für chronisch parasuizidale Frauen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS) entwickelt. Sie integriert unter anderem kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen und östliche Meditationspraktiken in die Psychotherapie (Linehan 1996). Sie gilt als die erste empirisch validierte Behandlung für diese Patientengruppe und wurde für suizidale, selbstverletzende und mehrfach problembelastete Adoleszente, von denen viele in ihrer Kindheit misshandelt wurden, weiterentwickelt (Miller et al. 2006). Suizidales, selbstverletzendes und anderes dysfunktionales Verhalten wird als maladaptives Problemlöseverhalten zur Bewältigung unerträglichen emotionalen Schmerzes angesehen. Dieses dysfunktionale Verhalten entwicklt sich ontogenetisch im Zusammenspiel zwischen einer biologischen Vulnerabilität zur Emotionsdysregulation und einer anhaltend zurückweisenden, herabsetzenden, trivialsierenden, kurz invalidierenden Umwelt. Als eine solche Umwelt können alle Kindesmisshandlungsformen gesehen werden, die gehäuft mit der Entwicklung von BPS im Erwachsenenalter zusammenhängen. Falls bei Adoleszenten stark dysfunktionales Verhalten wie Selbstverletzung oder Ähnliches vorliegt, können zusätzlich Elemente der DBT hilfreich sein, um den Umgang mit extremen Emotionen zu erlernen (z. B. Wut, Ärger), so dass sich maladaptives stimmungsabhängiges Erleben und Verhalten verringert (Wekerle et al. 2006).
DBT ist eine in vier Therapiephasen eingeteilte Psychotherapie, die zum einen parallel zu den Störungsphasen und zum anderen in jeder Therapiephase hierarchische Therapieziele enthält. Das Ausmaß des dysfunktionalen Verhaltens (z. B. Schwere der Selbstverletzungen, Problemkomplexität, Komorbidität) bestimmt den Fokus während der gesamten Therapie. 4 Die erste Phase hat zum Ziel, Sicherheit und Verhaltenskontrolle so zu etablieren, dass der Patient zuverlässig ca. 2-mal pro Woche zur Therapiesitzung pünktlich erscheint und sein dysfunktionales Verhalten reduziert. Das dysfunktionale Verhalten soll durch wirksames Problemlöseverhalten u. a. für den Aufbau eines vom Adoleszenten als sinnvoll erachteten Lebens ersetzt werden. Insofern handelt es sich nicht um ein Programm zur Suizidverhinderung, sondern um ein Programm zur Lebensgestaltung und -verbesserung. Erst wenn das Ziel der ersten Therapiephase stabil und ohne Therapie schädigendes Verhalten (z. B. Hausaufgaben nicht gemacht) mindestens 4 Wochen erreicht ist, kann mit der TF-KVT (7 oben) überhaupt begonnen werden. Die weiteren drei Phasen des DBT sind: 4 die Verringerung von posttraumatischem Stress und Unterstützung der Emotionsverarbeitung, 4 die Verbesserung der Selbstakzeptanz und Arbeit an individuellen Zielen sowie 4 die Verbesserung der Fähigkeit, Lebensfreude zu entwickeln (Miller et al. 2006); im deutschen Sprachraum auch für Erwachsene (Bohus u. Wagner 2005).
Probleme der Therapie Ein Problem in der Behandlung von Kindesmisshandlung ist meistens die Teilnahme aller relevanten Personen eines misshandelnden Systems, weil häufig gerade Eltern mit hohem Misshandlungsrisiko über wenig Vertrauen in Einrichtungen des Kinderschutzes oder des Gesundheitssystems verfügen. Die Ausfallraten bei Behandlungen sind im Allgemeinen hoch. Deswegen sind während einer Behandlung immer wieder die Vorzüge der Therapie erlebbar zu machen (z. B. positive Erfahrungen beim gemeinsamen Spiel, Eltern für ihr Engagement loben). Sind während einer Therapie noch Kinderschutzeinrichtungen oder Gerichte in den Fall involviert, kann das die Behandlung ebenfalls komplizieren oder so belasten, dass ein Therapieabbruch droht. Es ist außerordentlich wichtig, das Kind und seine Eltern auf die Expositionstherapie ausführlich und erschöpfend vorzubereiten, um damit den Widerstand gegen die Reizkonfrontation möglichst zu verringern oder gar einem Therapieabbruch zuvorzukommen. Bei Letzterem ist es wahrscheinlich, dass die Angstsymptome nicht nur bestehen bleiben, sondern dass sie sich noch verstärken. Manchmal kann beim Kind der Einsatz von Puppen oder Zeich-
881 48.6 · Fallbeispiel
nungen seinen Widerstand während der Exposition verringern. Falls die Kinder zu depressiv sind, sich selbst verletzen oder Suchtmittel konsumieren, sollten diese Problembereiche zuerst angegangen werden, bevor die traumafokussierte Arbeit ins Zentrum der Therapie rückt. Es gibt viele Gründe, weshalb Eltern sich nicht in der Behandlung ihrer Kinder engagieren. Manchmal werden eigene Misshandlungserfahrungen aktualisiert, so dass die betroffenen Eltern auch lernen müssen, ihre eigenen Gefühle zu ertragen, um ihrem Kind zu helfen, seine Misshandlungserfahrungen zu bewältigen. Andere Eltern fühlen sich schuldig, weil sie Anzeichen einer sexuellen Misshandlung übersehen, die Misshandlung des Ehepartners nicht gestoppt oder selbst harte körperliche Bestrafungen ausgeübt haben. Der Therapeut sollte die Eltern immer wieder für ihre Unterstützung der Therapie loben und sollte vor allem bei körperlicher Misshandlung betonen, dass sie mit ihrer Teilnahme den Willen zur Verhaltensänderung unterstreichen.
48.6
Fallbeispiel
Nina ist eine 14-jährige Schülerin, die bereits zum zweiten Mal beim Schulpsychologen zur diagnostischen Abklärung angemeldet ist. In der Schule ist sie seit ca. zwei Jahren einerseits durch aggressiv-impulsives Verhalten gegenüber Mitschülern und Lehrern, häufiges Fernbleiben vom Unterricht und Leistungsabfall und andererseits durch ihre häufiger auftretenden Phasen von Teilnahmslosigkeit, Niedergeschlagenheit und Gewichtsverlust aufgefallen. Im Anschluss an die schulpsychologischen Abklärungen mit der Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens schlug der Klassenlehrer wiederholt Eltern-Lehrer-Gespräche vor, die aber selten und nur von der Mutter in Anspruch genommen wurden. Jüngst versuchte sich Nina nun mit Alkohol und Schlaftabletten ihrer Mutter das Leben zu nehmen, wurde aber kurz danach von ihrem älteren Bruder in ihrem Zimmer gefunden. Nach den lebensrettenden Maßnahmen in der Notfallklinik ergaben die körperlichen Untersuchungen Schnittverletzungen und Brandwunden von Zigaretten am rechten Unterarm, Verletzungen im Genitalbereich und einen Body-Maß-Index von knapp 16 (Untergewicht). Nina räumte im klinischen Interview des Notfallpsychiaters ein, dass sie seit einem Jahr auch regelmäßig Alkohol konsumiere, um ihre »Scheiß-Stimmungsschwankungen« auszugleichen. Sie esse wenig, schneide und brenne sich, weil sie sich und ihren Körper hasse. Sie habe diese Welt satt und wolle nicht mehr leben, sei aber dennoch »irgendwie« froh, dass sie gerettet worden sei. Zu den Verletzungen im Genitalbereich schwieg sie beharrlich. Sie wurde zur weiter führenden Diagnostik und Behandlung dem Kinder- und Jugendpsychiatrischen und -psycholo-
gischen Dienst der Stadt zugewiesen. Bereits in der schulpsychologischen Abklärung wurde Nina als durchschnittlich intelligent, in den kognitiven Leistungen knapp überdurchschnittlich, aber ausgeprägt impulsiv, emotional labil mit einer Neigung zur Depressivität beschrieben. Die Eltern waren bestürzt über den Suizidversuch und konnten dem behandelnden Kinder- und Jugendpsychiater die Gründe ihrer Tochter, sich das Leben zu nehmen, nicht erklären. Sie bagatellisierten die vorausgegangenen Verhaltensauffälligkeiten in der Schule, wollten nichts von den Selbstverletzungen gewusst haben und wiesen Verdachtsmomente sexueller Misshandlung entrüstet zurück. Der Psychiater meldete darauf hin den Fall dem Kinderschutz, der sofort ein Untersuchungsverfahren einleitete, während dessen festgestellt werden musste, dass der Vater seine Tochter seit ungefähr drei Jahren zunehmend häufiger sexuell misshandelte. Lange Zeit beschränkten sich die sexuellen Handlungen des Vaters auf Streicheln im Intimbereich der Tochter. Später musste Nina den Vater mit der Hand befriedigen. Kurz vor dem Suizidversuch von Nina kam es zum ersten und letzten Mal zum Geschlechtsverkehr. Der Vater wurde angeklagt und später zu einer Haftstrafe verurteilt. Die Mutter musste wegen eines »Nervenzusammenbruchs« hospitalisiert werden, der Bruder ging zu den Großeltern und Nina kam in die Beobachtungsstation der psychiatrischen Klinik. Heute wohnen die Mutter und ihre beiden Kinder wieder zusammen. In der Beobachtungsstation musste die behandelnde Kinder- und Jugendpsychologin zunächst eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung aufbauen. Nina war gegenüber den Behörden und aller am Verfahren beteiligten Institutionen misstrauisch und gab sich gleichzeitig die Schuld, dass die Familie auseinandergebrochen war. Ihr Vater hatte ihr über Jahre eingebläut, dass, wenn ihrer beider Geheimnis gelüftet würde, die Familie auseinandergerissen werde und sie in ein Heim und er ins Gefängnis müsse. Außerdem habe sie »es« ja auch gewollt. Der Psychotherapeutin gelang es, Nina dafür zu motivieren, ihre Gefühle besser kennenlernen zu wollen. Sie führte die Übungen zur Wahrnehmung von Gefühlen bei sich und anderen Personen gewissenhaft durch, weil sie sich dadurch erhoffte, vor allem in der Schule besser mit ihren impulshaften Ärgerausbrüchen umgehen zu können. Diese traten vorwiegend auf, wenn andere ihr körperlich zu nahe kamen (7 Beispiel). In dieser Therapiephase kam ebenfalls die Übung mit dem Gedanken-Gefühl-Verhalten-Dreieck zur Anwendung (7 Abschn. 48.5.2), die Nina zunächst halfen, suizidale Gedanken zu kontrollieren (z. B. Gedankenstopp, 7 Kap. III/14) und danach darauf vorbereitete, alternative und funktionale Gedanken aufzubauen. Insbesondere in der Schule wollte Nina zudem ihre soziale Kompetenz zu verbessern.
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882
Kapitel 48 · Kindesmisshandlung
Fallbeispiel Ärgerkontrolle und soziale Kompetenz (T = Therapeutin, P = Patientin, Nina)
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T: »Nina, es sieht so aus, als gäbe es in der Schule Schwierigkeiten, wenn andere dir zu nahe kommen. Sie verstehen das einfach nicht, dass du das nicht erträgst, auch wenn du es ihnen deutlich sagst.« P: »Ja, es ärgert mich total und dann flippe ich aus.« T: »Was geschieht denn genau, wenn jemand in deine Nähe kommt?« P: «Ich schreie ihn an, stoße ihn weg oder manchmal schlage ich einfach zu.« T: »Deswegen musstest du auch schon von der Schule fernbleiben, nicht?« P: »Ja, aber ich bin auch sonst manchmal nicht hingegangen.« T: »Nun, dir soll einfach niemand zu nahe kommen? Denken wir mal darüber nach, was du da alles machen könntest, damit die anderen das verstehen. Was tust du üblicherweise?« P: »Ich sage ihnen, sie sollen zurückgehen.« T: »Nun, du sagtest vorhin, du schreist sie eher an, oder? Ist schreien und sagen dasselbe?« P: »Eigentlich schon.« T: »Ich glaube, da gibt es schon Unterschiede. Wenn ich zu dir sage: ‚Könntest du bitte ein bisschen zurücktreten’ oder (laut) ‚Hau ab, du Idiot’. Fühlt sich das unterschiedlich an?« P: (lacht) »Ja, ich glaub schon.« T: »Also haben wir zwei mögliche Reaktionen: Eine ist freundlich bitten, die andere ist beleidigend anschreien. Gibt es noch weitere, die du versucht hast?« P: »… Schlagen?« T: »Zum Beispiel, andere?« P: »Nein.« T: »Wie wäre es mit weggehen?«
Nachdem Nina ihre Fertigkeiten zu emotionalem Ausdruck und kognitiver Bewältigung verbessert und ausgebaut hatte, war sie einerseits bereit, ihre sexuelle Ausbeutung durch ihren Vater zu bearbeiten und andererseits ihre Selbstverletzungshandlungen, einschließlich des Suchtund Essverhaltens therapeutisch anzugehen. Als wichtiger Bestandteil lernte sie zunächst Tiefenatmung als Entspannungstechnik, die ihre Impulskontrolle weiterhin verbesserte und therapeutische Sicherheit ermöglichte. Nachdem Nina ihre Verhaltenskontrolle weiter ausgebaut hatte, konnte die Therapie der Depression und Suizidalität (7 Kap. III/38), der Anorexie (7 Kap. III/40) und des Alkoholmissbrauchs (7 Kap. III/42) vorbereitet werden, wobei für Nina deutlich wurde, dass zunächst das Thema der sexuellen Ausbeutung durch den Vater therapeutisch angegangen werden musste.
P: T: P: T: P: T: P: T: P: T:
P: T: P: T:
P: T:
P:
»Hm… damit ich blöd angemacht werde?« »Ist das schon passiert? Hast du das versucht?« »Nicht wirklich.« »Also, gehen wir die Möglichkeiten durch: erstens, Schlagen. Was passiert dann?« »Ich muss zum Klassenlehrer, vielleicht zum Schulleiter. Strafaufgaben, Schuldispens …« »… und der oder die Geschlagene?« »Mag mich nicht mehr.« »Willst du das?« »Nicht wirklich. Ich will eigentlich nur, dass sie nicht zu nahe kommen.« »O. k., aber bei Schlagen gibt es zwei weitere Folgen: nicht gemocht werden und Schulstrafen. Wie steht es mit zweitens: Schreien?« »Ungefähr dasselbe, außer vielleicht der Schulleiter.« »Bleibt noch drittens: Freundlich bitten, z. B. »Du, ich möchte ein bisschen Platz um mich herum, o. k.«?« »Weiß nicht, könnte klappen, oder auch nicht.« »Ich glaube da führt kein Weg daran vorbei, es einfach einmal zu probieren. Könntest du dir vorstellen, es einmal eine Woche lang zu versuchen und zu schauen, was denn genau geschieht?« »Meinetwegen.« »Sehr gut! Bevor du das machst, müssen wir aber noch etwas besprechen. Denkst du, du kannst beim nächsten Mal, wenn die Situation auftaucht, zuerst einen tiefen Atemzug machen oder schreist oder schlägst du automatisch zu? Meist geschieht das ja alles ganz schnell.« »O. k, ich werde es versuchen, aber vielleicht könnten wir das Atmen noch einmal üben?«
Der graduierten Exposition wurde die kognitive Traumaverarbeitung vorangestellt. In dieser Therapiephase wurde mit der Mutter, die sich ihrerseits immer noch in psychiatrischer Behandlung befand, Einzelsitzungen abgehalten, um die gemeinsame Konfrontation vorzubereiten. Der Schwerpunkt in Ninas Therapie lag auf der Bearbeitung ihrer Schuld- und Schamgefühle, die im Zusammenhang mit der wiederholten und verlängerten Exposition hierarchisch geordneter Schilderungen sexueller Handlungen durch ihren Vater auftauchten. Nina gelang es, emotional zunehmend besser mit ihren Gefühlen umzugehen. Daraufhin entwickelte sie ihre persönliche mehrfach überarbeitete Traumageschichte, die sie später in mehreren gemeinsamen Sitzungen mit der Mutter teilte. Nach der Reizkonfrontation und systematischen Desensibilisierung konnte der Teil der traumafokussierten Therapie abge-
883 48.7 · Wirksamkeit
schlossen werden. Die erwähnten komorbiden Störungsbereiche Depression, Selbstverletzung, Suizidalität, Essverhalten und Alkoholmissbrauch konnten recht schnell und erfolgreich behandelt werden. Nach insgesamt 4 Monaten stationärer und einem Jahr ambulanter Psychotherapie schloss Nina die Behandlung ab. Die Nachbefragungen 6 und 12 Monate nach Therapieende ergaben eine stabile Verbesserung in den meisten Störungsbereichen. Selbstverletzungen kamen keine mehr vor, das Essverhalten war normal, Suchtmittel konsumierte sie keine mehr, die Stimmung war ausgeglichen, das Sozialverhalten angemessen und die Schulleistungen wurden besser. Allerdings musste sie die Klasse wiederholen, die in die intensive Therapiephase fiel.
48.7
Wirksamkeit
Bis heute liegen zur Wirksamkeit zur Therapie von Kindesmisshandlung nur wenige methodisch befriedigende Evaluationsstudien vor. Die meisten Untersuchungen verfügen über keine Kontrollgruppen sowie nur über geringe Fallzahlen. Oft wurden mehrere Interventionen für verschiedene Zielgruppen kombiniert und weder die Wirksamkeit einzelner Interventionen noch deren Stabilität und Generalisierung über die Behandlungsphase hinaus erfasst. Narrative Überblicksarbeiten kommen deshalb auch zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit von Interventionen bei Kindesmisshandlung. Während eine Reihe von Metaanalysen zur Kinderpsychotherapie zur Behandlung anderer Störungen durchaus befriedigende Effektstärken nachweisen, liegt aktuell zur Therapie bei Kindesmisshandlung nur gerade eine Metaanalyse vor (Skowron u. Reinemann 2005). Sie schlossen alle in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen englischsprachigen Studien von 1974–2000 ein, bei denen die Teilnehmenden wegen körperlicher, sexueller Kindesmisshandlung und/oder körperlicher Vernachlässigung in einer Therapie waren, die mit einer Kontrollgruppe (keine Behandlung bzw. Wartegruppe, Placebogruppe oder Case Management) verglichen wurde. Die Ergebnisse mussten genügend Informationen zur Berechnung der Effektstärke enthalten. Sie fanden 21 Studien, die diese Einschlusskriterien erfüllten, wovon nur zwei ihren Fokus der Behandlung auf die misshandelnden Eltern und sieben spezifisch auf sexuelle Kindesmisshandlung richteten. Die Kinder waren im Mittel 6 Jahre alt. Zwölf Studien verfügten über eine randomisierte Zuweisung, fünf über Nachbefragungen und zwölf untersuchten kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen. Die mittlere Effektstärke betrug d=0,54 bei einem Konfidenzintervall von d=0,39–0,69, d. h. 71% der behandelten Teilnehmer hatten nach der Therapie bessere Ergebniswerte als der Durchschnitt der nichtbehandelten Teilnehmer. Die Ergebnisse erreichen damit die Effektstärken der Kinderpsychotherapie (Skowron u. Reinemann 2005).
Die Therapieeffekte waren stärker, wenn die Behandlungsgruppe mit Wartegruppen (d=0,99) als mit Placebo oder Case Management (d=0,36–0,38) verglichen wurden. Kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen waren deutlich kürzer (M=2,9 Monate) als andere Therapieansätze (M=13,5 Monate), aber die Therapiedauer hatte keinen Einfluss auf das Therapieergebnis. Keine signifikanten Unterschiede ergaben sich für das Therapiesetting (Einzel-, Gruppen-, Familien- und Multisettingtherapien), die Freiwilligkeit der Behandlung oder Studienqualität. Die Wirksamkeit für sexuelle Kindesmisshandlung (d=0,69) war größer als für andere Kindesmisshandlungsformen (d=0,40). Sie Effekte hingen auch von der Quelle der Datenerhebung ab. Direkte Verhaltensbeobachtung in der Familie (d=0,21) bzw. des Kindes (d=0,30) ergab deutlich kleinere Effekte als die Selbstangaben der Eltern (d=0,53) bzw. die ihrer Einschätzung ihres Kindes (d=0,42). Auch die Selbsteinschätzung des Kindes (d=0,44) ergab höhere Werte als Fremdbeurteilungen. In den Nachbefragungen zwischen 3 Monaten und 2 Jahren scheinen sich die Verbesserungen zu stabilisieren. In . Tab. 48.3 sind die Ergebnisse noch einmal im Überblick zusammengefasst. Allerdings kommt die jüngste Metaanalyse der »Cochrane Collaboration« zur Effektivität von KVT bei Kindern mit sexueller Misshandlung zu einer weniger optimistischen Aussage. Die Autoren kommen auf der Grundlage von nur zehn Studien zum Schluss, dass KVT, einschließlich der TF-KVT, in ihrer Wirksamkeit den Wartekontrollgruppen oder anderen Therapieformen in Bezug auf emotionale (PTBS, andere Ängste und Depression) und behaviorale Ergebnisvariablen (sexualisierendes und externalisierendes Verhalten) nur gerade bei Angststörungen leicht überlegen ist (MacDonald et al. 2006). Der jüngste
. Tab. 48.3. Zusammenfassung der Metaanalyse. (Skowron u. Reinemann 2005) Faktor
Ergebnis
Therapie
Therapie > Case Management, Placebo > Wartegruppe
Therapiedauer
Kein Zusammenhang mit Ergebnis
Therapieorientierung
Behavioral = nichtbehavioral = Kombination/eklektisch
Therapiesetting
Einzeltherapie = Gruppentherapie = Familientherapie = Multisetting
Misshandlungsform
Sexuelle Kindesmisshandlung > andere Misshandlungsformen
Therapieteilnahme
Freiwillige Teilnahme = angeordnete Teilnahme
Studienqualität
Randomisiert = nichtrandomisiert
Datenquelle
Subjektive Angaben (Eltern, Kinder) > Fremdbeobachtung
Anmerkung: > entspricht »besseres Ergebnis als«; = entspricht »gleiches Ergebnis wie«
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884
Kapitel 48 · Kindesmisshandlung
Überblick der »Cochrane Collaboration« zur elternzentrierten Therapie bei körperlicher Kindesmisshandlung und Vernachlässigung stützt sich auf nur gerade sieben Studien. Eine Metaanalyse konnte wegen der ungenügenden Datenqualität nicht durchgeführt werden, so dass die Autoren dazu aufrufen, angemessene Wirksamkeitsstudien durchzuführen (Johnston et al. 2006). Auf der Grundlage der dürftigen Datenlage ist eine eindeutige Beurteilung der Wirksamkeit von KVT bei Kindesmisshandlung sicher verfrüht. Es fehlt schlicht an genügend Studien, die den Stellenwert der KVT in der Behandlung der komplexen Problematik der Kindesmisshandlung im Vergleich zu anderen Ansätzen abschätzen lässt.
48.8
48
Ausblick
Erst seit rund 40 Jahren wird der Kindesmisshandlung in Gesellschaft und Wissenschaft sowie im Rechts-, Sozialund Gesundheitssystem die notwendige Aufmerksamkeit zuteil. Kindesmisshandlungen sind häufig und allgegenwärtig, aber nur ein Bruchteil der misshandelten Kinder und der misshandelnden Erwachsenen erhalten die notwendige Hilfe, um die seelische, körperliche oder sexuelle Gewalt zu stoppen, Rückfälle zu verhindern oder die vielfältigen Gewaltfolgen zu bewältigen. Von Kindesmisshandlung ist selten nur ein Kind, sondern oft die ganze Familie betroffen. Wird die Kindesmisshandlung bekannt, werden meistens mehrere Fachleute aus verschiedenen Berufen und Instanzen mit ihren spezifischen Aufgaben involviert. Insofern ist Kindesmisshandlung nur aus einer interdisziplinären Perspektive und Zusammenarbeit zu verstehen. Dieses Kapitel beschränkt sich auf die Behandlungsperspektive der kindzentrierten kognitiven Verhaltenstherapie. Andere Zielgruppen (z. B. Täter), Interventionsziele (z. B. Psychotherapie mit Erwachsenen) oder Interventionsmethoden (z. B. Familientherapie) werden nicht berücksichtigt. In der Literatur werden auch andere kindzentrierte Interventionen vorgeschlagen wie z. B. Spieltherapie oder psychodynamische, gesprächs- und familientherapeutische Ansätze (Egle et al. 2005). Dabei wird der Schwerpunkt häufig auf die Therapie von Opfern sexueller Kindesmisshandlung gelegt. Wie die kärgliche empirische Befundlage zeigt, ist es jedoch dringend notwendig, Therapieansätze für alle Formen der Kindesmisshandlung zu entwickeln und zu evaluieren. Ein vielversprechender Ansatz ist sicher die in diesem Kapitel beschriebene traumafokussierte Behandlung, aber wie das Fallbeispiel in diesem Kapitel zeigt, können die Folgen von Kindesmisshandlung vielfältig sein, so dass die Komorbidität wohl eher die Regel als die Ausnahme darstellt.
Zusammenfassung Unter Kindesmisshandlungen versteht man die gewaltsame, psychische und/oder physische Beeinträchtigung von Kindern durch ihre Betreuungspersonen. Man unterscheidet zwischen psychischer und physischer Misshandlung bzw. Vernachlässigung und sexueller Misshandlung. Kindesmisshandlung selbst ist keine Diagnose, sondern eine bestimmte Form der Gewalt, auf die das Gesundheits-, Sozial- und Rechtssystem auf der Grundlage des Kinderschutzes interdisziplinär reagiert. Die Diagnose bezieht sich eigentlich auf die vielfältigen Folgen von Kindesmisshandlung, die von Form und Schweregrad der Misshandlungen, der kindlichen Entwicklungsphase und den individuellen Bewältigungs- und sozialen Unterstützungsprozessen abhängen. Diese Folgen reichen von Entwicklungsrückstand bei Kleinkindern über Depression und Suizidalität bis hin zu Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenenalter. Ein eigentliches Misshandlungssyndrom konnte nicht festgestellt werden. Sowohl in der Ätiologie als auch Therapie liegt der Schwerpunkt auf den Traumatheorien. Als kindzentrierte psychologische Therapie wird die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (TF-KVT) empfohlen. Darin werden als Therapieelemente Bewältigungsfertigkeiten (Training von emotionalem Ausdruck, kognitive Bewältigung, Entspannung), graduierte Exposition (Reizkonfrontation und systematische Desensibilisierung), kognitive und affektive Verarbeitung und Psychoedukation (Grundlagen, persönliche Sicherheit) für das Kind und parallel dazu für die Eltern vorgeschlagen. Liegen dysfunktionale Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen vor, werden auch Elemente der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) angewendet, um die Verhaltenskontrolle und persönliche Sicherheit zu verbessern. Die empirischen Befunde zur Wirksamkeit kognitiver Verhaltenstherapie sind dürftig und liegen letztlich nur für sexuelle Kindesmisshandlung in beschränktem Ausmaß vor. Die Entwicklung und Evaluation von Behandlungsmodellen ist dringend erforderlich.
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48
49
49 Verhaltenstherapie und psychopharmakologische Behandlung Hans-Christoph Steinhausen
49.1
Einleitung
– 888
49.2
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
49.2.1 49.2.2 49.2.3 49.2.4
Verhaltenstherapie – 888 Psychopharmakotherapie – 889 Differenzielle Wirkung – 889 Zusammenfassung und Folgerungen für die klinische Praxis
49.3
Angststörungen
49.3.1 49.3.2 49.3.3 49.3.4
Verhaltenstherapie – 893 Psychopharmakotherapie – 893 Differenzielle Wirkungen – 893 Zusammenfassung und Folgerungen für die klinische Praxis
49.4
Depression
49.4.1 49.4.2 49.4.3 49.4.4
Verhaltenstherapie – 894 Psychopharmakotherapie – 894 Differenzielle Wirkungen – 895 Zusammenfassung und Folgerungen für die klinische Praxis
49.5
Zwangsstörungen
49.5.1 49.5.2 49.5.3 49.5.4
Verhaltenstherapie – 896 Psychopharmakotherapie – 897 Differenzielle Wirkungen – 897 Zusammenfassung und Folgerungen für die klinische Praxis
49.6
Ausblick
– 898
Literatur
– 898
– 888
– 892
– 893
– 893
– 894
– 896
– 896
Weiterführende Literatur
– 900
– 897
888
Kapitel 49 · Verhaltenstherapie und psychopharmakologische Behandlung
49.1
49
Einleitung
In der aktuellen klinischen Praxis der Behandlung psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters nehmen Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie einen herausragenden Rang ein. Die Forderung nach empirischer Evidenzbasierung hat auch diesen Bereich der klinischen Praxis in der Zwischenzeit nachhaltig geprägt, wie unschwer den verschiedenen internationalen Leitlinien für die Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen entnommen werden kann (vgl. die Leitlinien der Deutschen Gesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie, http://www.uniduesseldorf.de/AWMF/11/028-009.htm, die zahlreichen im Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry seit Jahren herausgegebenen und jeweils aktualisierten Leitlinien zu einzelnen Störungen und die in der Zeitschrift European Child and Adolescent Psychiatry in größeren Abständen erscheinenden Leitlinien). Im Unterschied zu anderen Formen praktizierter Interventionen, wie z. B. psychodynamisch orientierter Therapie oder Systemtherapie, sind sowohl Verhaltenstherapie als auch Psychopharmakotherapie für das Kindes- und Jugendalter in ihrer Wirksamkeit überzeugend empirisch gestützt. Dies wird z. B. für die Verhaltenstherapie aus den Ergebnissen der Psychotherapieforschung (Döpfner u. Lehmkuhl 2002; Kazdin 2003) ebenso wie aus zahlreichen Übersichtsarbeiten und Monographien eindrucksvoll ersichtlich (Steinhausen 2006; Steinhausen u. von Aster 1999). Der ebenfalls beeindruckend umfangreiche Bestand an Erkenntnissen über die Wirksamkeit von Psychopharmaka in der Behandlung psychischer Störungen von Kindern und Jugendlichen hat seinen Niederschlag u. a. in einer Reihe moderner Handbücher und Ratgeber gefunden (Bandelow et al. 2006; Gerlach et al. 2004; Nissen et al. 2004; Rothenberger u. Steinhausen 2005). Diese Entwicklung ist weitgehend einer in der jüngeren Vergangenheit intensivierten Forschung zu verdanken, die in einer Vielzahl von Studien separat für Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie die Wirksamkeit der jeweiligen Intervention belegt hat. Mit dem allgemeinen Wirksamkeitsprinzip verbindet sich aber zugleich auch die Frage nach der differenziellen Wirkung, die sich wiederum unschwer mit dem klinischen Prinzip der Indikation vereinigen lässt. So interessiert nicht nur aus Gründen der Effizienz und Kosten ganz allgemein, welche Therapieform bei welcher Störung jeweils die besten Resultate erzielt, sondern angesichts zahlreicher denkbarer moderierender Faktoren (wie z. B. Alter und Entwicklungsstand, Kontextmerkmale, koexistierende psychische Störungen, biologische Merkmale) auch die differenzielle Fragestellung, bei welchem Patienten mit jeweils individuellen Merkmalen welche therapeutische Intervention am ehesten ihre Wirksamkeit entfalten kann. Für diese in der klinischen Praxis typische Frage kann die empirische Forschung wertvolle Entscheidungshilfen liefern, sofern sie nicht nur die jeweils metho-
denspezifische, sondern auch die vergleichende und ggf. sogar differenzielle Wirkung nachweisen kann. Der wissenschaftliche Bestand an Forschungsergebnissen zu dieser Frage der differenziellen Wirkung von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie ist im Vergleich zum Nachweis der methodenspezifischen Wirksamkeit der beiden Interventionsformen vergleichsweise weniger umfangreich, jedoch in einem Prozess der stetigen Zunahme begriffen. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels wird bei den einzelnen psychischen Störungen zunächst kurz auf den methodenspezifischen Wirksamkeitsnachweis von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie verwiesen. Sodann werden die Studienergebnisse zur komparativen und differenziellen Wirkungsüberprüfung ausführlicher dargestellt, um abschließend die Schlussfolgerungen für die klinische Praxis zu ziehen. Der aktuelle Forschungsstand macht eine Beschränkung auf die folgenden Störungen erforderlich, weil nur zu diesen Störungen vergleichende Studien vorliegen: 4 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), 4 Angststörungen, 4 Depression und 4 Zwangsstörungen. Dabei wird ersichtlich werden, dass der Erkenntnisstand zur vergleichenden Wirkungsüberprüfung bei den genannten Störungen von sehr begrenzt bei den Angststörungen bis zu relativ weit elaboriert bei ADHS reicht.
49.2
Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung
49.2.1 Verhaltenstherapie
Die Prinzipien der Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) sind in 7 Kap. III/26 und III/27 beschrieben. Sie lassen sich schwerpunktmäßig in Elternverhaltenstrainings, Verhaltensmodifikation im Klassenraum sowie kognitive und dabei speziell auf Selbstinstruktion aufbauende Interventionen einteilen. Während die ersten beiden Ansätze in einem gewissermaßen eher traditionellem Ansatz der Verhaltenstherapie zentral auf dem Modell des operanten Lernens aufbauen und zur Etablierung verschiedener Trainingsprogramme geführt haben [z. B. das »Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP)« von Döpfner et al. 2002], hatte mit der Entwicklung der Technik der Selbstinstruktion bei hyperaktiven Kindern ursprünglich einmal die sog. »kognitive Wende« in der Verhaltenstherapie begonnen. Eine systematische Überprüfung der Wirksamkeit dieser verschiedenen Ansätze hat in der Zwischenzeit empirisch aufzeigen können, dass die auf dem ope-
889 49.2 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
ranten Modell aufbauenden Verfahren wirksam sind, während die Evidenzbasierung bei den kognitiven Ansätzen zur Selbstinstruktion bei ADHS ausgeblieben ist (Pelham et al. 1998).
49.2.2 Psychopharmakotherapie
Die Behandlung von ADHS ist bereits seit Jahrzehnten eine Domäne der Psychopharmakotherapie. Dabei hat über lange Zeit die Behandlung mit der Substanzklasse der Stimulanzien nahezu ausschließlich dominiert, während der Einsatz von Antidepressiva in der klinischen Praxis nur eine relativ randständige Rolle als Indikation der zweiten Wahl bei fehlender Wirkung der Stimulanzien einnahm. Die zentral über den dopaminergen Hirnstoffwechsel wirkenden Stimulanzien, speziell das Methylphenidat sowie die Amphetamine, werden durch die noradrenerg wirksamen Substanzen Desipramin sowie in neuerer Zeit auch Atomoxetin und das in den USA häufiger als in Europa eingesetzte Clonidin ergänzt. Speziell die Stimulanzien sind in Hunderten von kontrollierten Studien an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS untersucht worden und können als eine der am besten evaluierten Psychopharmaka betrachtet werden. Auch die Noradrenergika sind an Tausenden von Patienten systematisch erforscht worden und haben in der Zwischenzeit ihren Platz in der Standardbehandlung von ADHS erworben. Die Wirksamkeit der Stimulanzien besteht kurzfristig in einer Verbesserung der Aufmerksamkeit sowie einer Reduktion von Hyperaktivität und Impulsivität, während längerfristig auch positive Auswirkungen auf Selbstwert, Lernen und Sozialfunktionen beobachtet werden können, ohne jedoch prognostisch für den Verlauf bedeutsam zu
sein (Steinhausen 2009). Die Responderrate liegt bei mindestens 75% der in Studien erfassten Patienten, die Normalisierungsrate im Verhalten (d. h. eine Unterscheidung gegenüber unauffälligen Kontrollkindern ist nicht möglich) bei 50–60% und die Symptombesserung bei 30–50% in kontrollierten Studien. Die Effektstärken sind mit 0.9 im Bereich Verhalten hoch, mit 0.7 im Bereich Aufmerksamkeit im mittleren Bereich und mit 0.3 für die Intelligenz niedrig (Greenhill et al. 2001; Santosh u. Taylor 2000). Für die vergleichsweise klinisch weniger oder erst sehr viel kürzer eingesetzten Noradrenergika und dabei speziell die Substanz Atomoxetin gilt bei unterschiedlichen pharmakologischen Eigenschaften ein recht ähnliches Wirkungsprofil mit eher leicht niedrigeren Effektstärken (Kratochvil et al. 2002; Michelson et al. 2001; Spencer et al. 2002).
49.2.3 Differenzielle Wirkung
Vergleichende Studien zur Wirkung von Verhaltenstherapie und Psychopharmakatherapie bei ADHS sind erst in neuerer Zeit durchgeführt worden. In verschiedener Hinsicht epochal ist dabei die »Multimodal Treatment of ADHD (MTA) Study«, die in Zusammenarbeit verschiedener nordamerikanischer Forschungszentren an 579 Kindern mit ADHS in den 1990er Jahren durchgeführt wurde. Die Ergebnisse wurden in einer Vielzahl von Publikationen einschließlich spezieller Themenhefte des Journal of Abnormal Child Psychology und des Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry dokumentiert, wobei zahlreiche Fragestellungen in unterschiedlichen Analyseansätzen verfolgt wurden und weitere Sekundäranalysen und Verlaufsuntersuchungen erwartet werden dürfen.
Multimodal Treatment of ADHD (MTA) Study In der MTA-Studie wurde in einem randomisierten Design über 14 Monate jeweils eine von vier Interventionen durchgeführt: 1. sorgfältig titrierte Medikation (MED) vornehmlich mit Stimulanzien, 2. Verhaltenstherapie (VT) unter Einbezug von Eltern, Schule und Kind bei allmählichem Abbau dieser Intervention, 3. Kombination (KOMB) von Medikation und Verhaltenstherapie, 4. Standardbehandlung (SB) durch Praktiker in der Gemeinde mit Schwerpunkt auf Stimulanzienbehandlung. Die primäre Datenanalyse ergab, dass bei allen vier Interventionen eine Symptomreduktion zu verzeichnen war. Insgesamt waren aber die Kombinationsbehandlung und die 6
titrierte Medikation der Verhaltenstherapie und der Standardbehandlung überlegen, wobei angesichts der zahlreichen Merkmalsvergleiche zwischen KOMB und MED vielfach keine Unterschiede untereinander, wohl aber gegenüber VT und SB auszumachen waren (MTA Cooperative Group 1999a). Bei der Analyse von Mediatoren und Moderatoren zeigte sich u. a., dass bei einer mit der ADHS koexistierenden Angststörung die Effekte der VT denen von KOMB und MED entsprachen und deutlich über der SB hinsichtlich ADHS und internalisierenden Störungen lagen (MTA Cooperative Group 1999b). Andererseits ergab eine spätere Sekundäranalyse, dass bei der Berechnung eines über einen Eltern- und Lehrerfragebogens definierten Erfolgsmaßes im Sinne einer Verhaltensnormalisierung die Abstände zwischen den Interventionen beträchtlich waren: sie betrugen für KOMB 68%, für MED 56%, für VT 34% und für SB 25% (Swanson et al. 2001).
49
890
Kapitel 49 · Verhaltenstherapie und psychopharmakologische Behandlung
Eine spätere Verlaufsuntersuchung nach 24 Monaten bestätigte die Überlegenheit der Medikationsstrategie gegenüber VT und SB für ADHS und Störungen mit oppositionell-trotzigem Verhalten, wenngleich nicht im selben Umfang wie nach 14 Monaten, während KOMB keine Vorteile gegenüber den anderen drei Interventionen bot (MTA Cooperative Group 2004). Im Verlauf nach 36 Monaten zeigte sich sodann, dass die Überlegenheit der Mediations- bzw. Kombinationsbehandlung über VT und SB nicht mehr bestand und alle vier Interventionen gleiche Behandlungseffekte aufwiesen, wie . Abb. 49.1 entnommen werden kann. Dabei wurde angenommen, dass möglicherweise altersbedingte Rückbildungen der Symptomatik, Veränderungen in der Intensität der medikamentösen Behandlung oder andere nicht evaluierte Faktoren für diese Entwicklung verantwortlich sein könnten (Jensen et al. 2007).
49
In einer der ersten von zahlreichen Kommentaren wies Pelham (1999) als an dem Projekt Beteiligter auf den Umstand hin, dass die Studie aufgrund ihrer Anlage differenziell die Pharmakotherapie gegenüber der Verhaltenstherapie begünstigt hatte, indem die Evaluation 4–6 Monate nach der intensiven Phase der VT und Beendigung des Therapeutenkontaktes erfolgte, während die Medikationsbehandlung noch in ihrer aktivsten Phase stand. Dabei war die VT zentraler Bestandteil einer äußerst intensiven psychosozialen Behandlung mit Elterntraining, schulbezogenen Interventionen und einem kindzentrierten Programm im Rahmen eines Sommerlagers (Wells et al. 2000). Eine Sekundäranalyse der Therapieeffekte bei einer Subgruppe von Kindern mit und ohne Medikation im Rahmen des verhaltenstherapeutischen Sommerlagerprogramms zeigte nur noch in 5 von 30 Ergebnismaßen die aus der Primäranalyse resultierende Überlegenheit von KOMB gegenüber VT. Somit erzielte die Medikation bei aktiver und intensiver VT keine zusätzlichen Effekte (Pelham et al. 2000). Dennoch ergab eine spätere Sekundäranalyse zur Generalisierung der VT-Effekte relativ kritische Ergebnisse für die Wirksamkeit der VT (Arnold et al. 2004). In diesem Ansatz wurde der Vergleich der Interventionen nicht zum Ende der 14-monatigen Interventionen, sondern nach 9 Monaten vorgenommen, als die VT noch intensiv durchgeführt wurde. Auch in dieser Analyse erwiesen sich MED und KOMB im Vergleich zu VT und SB wie in der Primäranalyse als wirksamer. In weiteren Sekundäranalysen der Daten der Gesamtstichprobe konnte allerdings für die koexistierenden Angststörungen gefolgert werden, dass der Einschluss der psychosozialen Behandlung im Rahmen von KOMB klinisch sinnvoll ist (March et al. 2000) bzw. Patienten mit multipler Komorbidität (zusätzliche Angststörung und Störung des Sozialverhaltens) optimal auf die Kombinationsbehandlung reagieren (Jensen et al. 2001).
. Abb. 49.1. Verlauf der Intensität der ADHS in der MTA-Studie im Verlauf bis zu 36 Monaten. KOMB Kombinierte Behandlung mit Medikation und VT; MED individuell titrierte Medikation; VT Verhaltenstherapie; SB Standardbehandlung bei niedergelassenen Ärzten. (Nach Jensen et al. 2007)
Die MTA-Studie hat nicht nur wegen ihres beträchtlichen Aufwandes – tatsächlich handelt es sich um die bis dato größte und wohl auch aufwendigste kontrollierte Therapiestudie der Psychiatrie – und ihres beeindruckenden Ergebnisbestandes, sondern auch wegen ihrer Konzeption verschiedene Kritiker auf den Plan gerufen. Unter ihnen hatte Taylor (1999) simultan mit der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse Gelegenheit zu einem Kommentar erhalten und auf verschiedene Benachteiligungen der VT im Design hingewiesen. Diese betrafen nicht nur den bereits zitierten vorzeitigen Abbau der VT, sondern auch deren fixe Dosierung gegenüber dem titrierten und damit variablen Vorgehen bei der Medikation, so dass Verbesserungen aufgrund von VT zu einer Reduktion der Medikamentendosis geführt haben könnten, während bei einer Fixierung beider Dosen der Vergleich sich zu Gunsten von KOMB anstelle von MED hätte auswirken können. Dieses Argument für eine individualisierte Dosisanpassung ließe sich natürlich auch umkehren. Taylor (1999) bezweifelte darüber hinaus die Validität der psychosozialen Interventionen, die zwar mit ihrer Ausrichtung auf Eltern, Schule und Kind klinisch durchaus Sinn machten, hinsichtlich ihrer Validität für die Beeinflussung des weiteren Entwicklungsverlaufs aber durchaus offen seien. Barkley (2000) als einer der prominentesten Experten für ADHS stellte zunächst die theoretische Begründung der psychosozialen Therapie in Frage, die von der Annahme ausgehe, dass ADHS das Ergebnis fehlerhafter Lernprozesse sei, während die Probleme genauso gut das Ergebnis einer Fehlentwicklung hinsichtlich kognitiver Fähigkeiten – etwa des von ihm postulierten zentralen Inhibitionsdefizits – oder motivationaler Defizite sein könnten. Ferner kritisierte Barkley (2000) die Anlage der Studie hinsichtlich 1. der empirischen Kriterien für die Auswahl der VTKomponenten, 2. der Effekte der VT,
891 49.2 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
3. der Analysemethoden auf Einzelfall- und Gruppenebene, 4. der Implikationen für die klinische Praxis, 5. der Rolle der Genetik für das Ansprechen auf die Behandlung und 6. des Mangels einer unbehandelten Kontrollgruppe. Die Autoren der Studie setzten sich sodann mit den Positionen von Barkley in einer Entgegnung detailliert auseinander (Swanson et al. 2002). (1) Sie legten noch einmal die Selektionskriterien für die Auswahl der VT-Komponenten dar und bezeichneten dabei die theoretische Annahme eines zentralen Defizits bei ADHS als einen weder empirisch ausgewiesenen noch für eine effektive Intervention notwendigen Sachverhalt. (2) Ferner setzten sie sich mit dem Mythos auseinander, dass die VT in der MTA-Studie nicht effektiv gewesen sei, indem sie auf die wirksamen Moderatoren (z. B. komorbide Angststörung) und Mediatoren (z. B. Verbesserung der elterlichen Erziehungskompetenz und Intensität der VT) hinwiesen. (3) Weiterhin betonten sie die verschiedenen, auf dem Niveau des Einzelfalls angesiedelten Auswertungsstrategien, (4) die Berücksichtigung klinisch relevanter Aspekte wie Komorbidität und Familienmerkmale und (5) die Berücksichtigung genetischer Aspekte bei dem Vergleich der Beurteilungen von ADHS bei biologischen und nichtbiologischen Eltern der Studienteilnehmer. (6) Schließlich räumten sie ein, dass das Fehlen einer unbehandelten Kontrollgruppe ein aus ethischen Gründen akzeptiertes Defizit der MTA-Studie gewesen sei. In einer weiteren Debatte, die in einem Schwerpunkt des Journal of Clinical Child Psychology geführt wurde, kritisierten Greene und Ablon (2001), dass die MTA-Studie nur Aussagen über die Intensität, nicht aber über die spezifische Anpassung der Therapie an die individuellen Bedürfnisse des jeweiligen Kindes erlaube. Die Autoren stellen fest, dass die MTA-Studie fast ausschließlich operante Vorgehensweisen und praktisch überhaupt keine kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen wie Problemlöse- oder Sozialfertigkeitentrainings und damit nur die empirisch validierten Behandlungen eingesetzt habe. Damit habe sie die Chance vertan, die Defizite der vorliegenden Forschung zur Wirksamkeit kognitiv-verhaltenstherapeutischer zu überwinden, die in a) der ungenügenden Anpassung an die Bedürfnisse des individuellen Kindes mit ADHS, b) der ungenügenden Einbindung bedeutsamer Bezugspersonen in den Therapieprozess, c) des ungenügend intensiven und individualisierten Trainings von Bezugspersonen, die für die Implementierung der Intervention in die unmittelbare Umgebung verantwortlich sind, in der die größten Probleme des Kindes auftreten,
d) der ungenügenden Langzeitdauer und e) ungenügender Evaluation bestünden. In den Kommentaren zu der Kritik von Greene und Ablon (2001) wurden sodann unterschiedliche Positionen deutlich. Abikoff (2001) forderte zu systematischen Studien auf, um zu klären, ob die Empfehlung von Greene und Ablon (2001), die Therapie besser auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes auszurichten, klinisch nützlich sei. Sie enthalte zahlreiche ungeklärte Fragen wie z. B. die nach der Verfügbarkeit geeigneter Interventionen oder nach der klinischen Validität der erfassten Bedürfnisse, ohne deren Klärung eine bedürfnisorientierte Therapie nur auf heuristischer Information auf der Basis klinischer Erfahrung beruhe. Abikoff (2001) schlug für die erforderliche Erforschung des individuellen Forschungszuschnitts den Einsatz des »Goal Attainment Scalings« (d. h. die Evaluation individuell skalierter Zielmerkmale) sowie eines Hybrid-Designs vor, welches Aspekte der allgemeinen Wirksamkeit (»efficacy«) und der individuellen Wirkung (»efficiency«) verbindet. In den Reaktionen von Hoza (2001) und Wells (2001) wurde hingegen die Kritik von Greene und Ablon (2001) eher dahingehend beantwortet, dass sie dem tatsächlichen Vorgehen der MTA-Studie z. B. hinsichtlich der Individualisierung des Vorgehens, der Implementierung kognitiv-verhaltenstherapeutischer Anteile in den Sommerlagerprogrammen und ihrer Orientierung an den tatsächlich empirisch gestützten Elementen der VT bei ADHS nicht hinlänglich Rechnung trage. Whalen (2001) hingegen plädierte für eine neue Generation von Therapiestudien, die nicht nach der relativen Überlegenheit der Medikation, sondern nach der Möglichkeit fragt, wie VT und andere psychosoziale Therapien die Therapieakzeptanz und die Ziele sowie Dauerhaftigkeit der Ergebnisse erweitern und die ungesunden Konsequenzen vermindern könne. Dabei solle vermehrt auf die Interaktion von Person und Therapie geachtet werden, indem z. B. überprüft werde, ob eine in bestimmten Phasen eingesetzte kognitive VT die Dauer und Menge der Medikation ohne Beeinträchtigung des Langzeitverlaufs vermindern könne. Die Debatte wurde von Harwood und Beutler (2001) mit einer Stützung der Position von Greene und Ablon (2001) beschlossen, indem sie aus ihrer eigenen Forschung an Erwachsenen auf die Bedeutung der Interaktion von persönlichen Merkmalen der Patienten wie Grad der Beeinträchtigung oder Bewältigungsfertigkeiten mit Merkmalen der Therapie wie Dauer und Intensität hinwiesen. Die hier relativ ausführlich wiedergegebene Debatte zum Stellenwert der VT im Rahmen der MTA-Studie ist insofern von speziellem Interesse, als sie über die Ausgangsfrage der differenziellen Wirkung weit hinausgeht. Sie wirft zunächst die Frage nach der Nachhaltigkeit therapeutischer Interventionen im Entwicklungsprozess auf und ist insofern reduktionistisch, als andere Entwicklungsfaktoren – wie bei nahezu allen Therapieverlaufsstudien – nicht kontrolliert werden können. Ebenso ist der natürliche, d. h.
49
892
Kapitel 49 · Verhaltenstherapie und psychopharmakologische Behandlung
unbehandelte Verlauf nicht kontrolliert, wobei natürlich zu akzeptieren ist, dass behandlungsbedürftigen Kindern nicht über einen derart langen Zeitraum eine wirksame Behandlung vorenthalten werden darf. Schließlich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis eines ideographischen Therapiezuschnitts für einzelne Patienten, wie er in der klinischen Praxis angestrebt wird, zu der Forderung nach empirischer Validierung und Evaluation. Diese muss nicht notwendigerweise auf Gruppendesigns mit fixen Standardinterventionen beschränkt sein, sondern sollte auch in dem Nachweis der individuellen Wirkung beim Patienten hinsichtlich einer Vielzahl von Merkmalen z. B. auf der Symptomebene, der Funktionstüchtigkeit oder der sozialen Beziehungen zum Ausdruck kommen. Teile dieser neuen Forschungsagenda sind in der Kölner Studie zur multimodalen Behandlung von ADHS (CAMT) der Arbeitsgruppe von Döpfner und seinen Mitarbeitern aufgenommen und umgesetzt worden (Döpfner et al. 2004).
Anlage und Ergebnisse der Kölner ADHS-Therapiestudie (CAMT)
49
In dieser Behandlungsstudie wurde ein adaptives individualisiertes Design bei Schulkindern mit ADHS verfolgt. Dabei wurden die Patienten entweder der Intervention VT oder Medikation (mit Methylphenidat) nach jeweils vorausgegangener Psychoedukation zugeteilt. In Abhängigkeit von der Wirksamkeit wurde sodann eine Aufteilung in drei Gruppen vorgenommen. Bei totaler Wirksamkeit wurde die Nachversorgung einschließlich fortgesetzter Medikation – sofern erforderlich – aufgenommen. Bei partieller Wirksamkeit wurde im Sinne einer Kombinationsbehandlung die jeweils andere Therapiekomponente hinzugefügt und bei Unwirksamkeit wurde die jeweilige Therapie durch die andere Therapievariante ersetzt. Es zeigte sich, dass beim Start mit VT in 26% der Fälle später eine Kombinationsbehandlung mit Medikation durchgeführt wurde, während beim Start mit Medikation in 82% der Fälle später die VT ergänzt wurde. Unter allen Bedingungen konnten große Effektstärken im Prä-post-Vergleich auf den Ebenen von ADHSSymptomen und individuell definierten Verhaltensproblemen sowie leicht niedrigere Effektstärken bei komorbiden Störungen im Eltern- und Lehrerurteil nachgewiesen werden, wobei im Lehrerurteil die Kombinationstherapie effektiver als die VT beurteilt wurde. Die Studie kommt mit ihrem adaptiven Design den Forderungen der klinischen Praxis besser nach als randomisierte Studien mit fixem Design und ungenügend individualisierten Therapien. Andererseits gehen aber auch die Akzeptanz der jeweiligen Intervention bei Patient und Bezugsperson und mögliche therapeutische Präferenzen in die Therapieentscheidungen ein.
49.2.4 Zusammenfassung und Folgerungen
für die klinische Praxis Speziell aufgrund der aus der MTA-Studie resultierenden Datenlage lassen sich für ADHS einige Schlussfolgerungen zur differenziellen und vergleichenden Wirkung von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie ableiten. > Fazit 4 Auch bei einer Berücksichtigung der zahlreichen Einwände gegen die exakte Vergleichbarkeit der in der MTA-Studie durchgeführten Interventionen MED und VT bleiben die generellen Wirkungsunterschiede zwischen diesen beiden Interventionen eindrucksvoll. Sie gewinnen noch dazu in der Praxis spezielles Gewicht, weil für die große Zahl behandlungsbedürftiger Patienten nur eine relativ begrenzte Zahl von Behandlungsexperten mit vornehmlich ärztlicher Qualifikation und nur eine noch viel kleinere Zahl von Experten mit Qualifikation in VT verfügbar ist. 4 Die klinische Praxis ist in der Regel nicht weniger, sondern eher mehr durch komplizierte Fälle als ein jeweiliges Studiendesign gekennzeichnet. Gleichwohl ist bezogen auf den Behandlungsaufwand für die MTAStudie festzuhalten, dass die Intensität der Behandlung sowohl unter der Bedingung MED als auch unter der Bedingung VT die Möglichkeiten der gewöhnlichen Praxis bei Weitem übersteigt. Nur so ist der deutliche Abstand der Effekte der SB erklärbar. 4 Die wichtigste Botschaft der MTA-Studie für die VT ist der Nachweis der differenziellen Wirkung von VT bei speziellen Patienten, wo sie der Bedingung MED vorzuziehen ist. Dies betrifft speziell die komorbide Störung von ADHS mit Angststörungen und Situationen, in denen es speziell um eine Verbesserung der elterlichen Erziehungskompetenz gehen muss. Dabei wird aber deutlich, dass die Intensität der VT hoch sein muss, um Effekte zu erzielen. 4 Die Kölner Studie mit ihrem adaptiven und individualisierten Design hat mit der Nachbildung klinischer Entscheidungsprozesse ein im Vergleich zur MTA höheres Ausmaß an ökologischer Validität erreicht. Der Nachteil einer Reduktion der experimentellen Kontrolle im Sinne der internen Validität ist insofern für die klinische Praxis weniger bedeutsam, als die Wirksamkeit von VT, Medikation und Kombinationsbehandlung bereits hinlänglich etabliert ist. 4 In einer pragmatischen Sicht besteht für die klinische Praxis natürlich eine weitere Indikation für die VT bei jenen Fällen, die für die medikamentöse Behandlung weniger geeignet sind. Dies sind z. B. sehr junge Patienten im Vorschulalter und geistig Behinderte, bei denen zwar keine absolute Kontraindikation für den Einsatz von Medikamenten besteht, die Variabilität der Effekte jedoch deutlich größer ist. Schließlich ist die
893 49.3 · Angststörungen
Akzeptanz der pharmakologischen Behandlung in der Bevölkerung und speziell unter Eltern immer noch eine Barriere für den generellen Einsatz von Medikamenten und besonders von Stimulanzien. In diesen Fällen können nur psychosoziale Interventionen umgesetzt werden, und es ist aufgrund der Faktenlage eindeutig, dass nur die VT und dabei speziell das Elterntraining eine wirklich evidenzbasierte Intervention darstellt.
49.3
Angststörungen
49.3.1 Verhaltenstherapie
Die verschiedenen Angststörungen des Kindes- und Jugendalters sind in therapeutischer Hinsicht eine Domäne der Verhaltenstherapie, wie den verschiedenen Beiträgen dieses Bandes (7 Kap. III/29–36) sowie Übersichtsarbeiten und Monographien (Ollendick u. King 1998; Ollendick u. Seligman 2005; Schneider 2004; Schneider u. Döpfner 2004) entnommen werden kann. Verschiedene Metaanalysen zeugen von der Wirksamkeit speziell kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionsprogramme (In-Albon u. Schneider 2007; Kazdin 2003; Weisz et al. 1995). Eine Analyse von zehn randomisiert-kontrollierten Studien ergab am Ende der kognitiven Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen mit klinischen Angststörungen bei Ausschluss von Phobien, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und Zwangsstörungen eine Remissionsrate von 56,5%, während sie bei den Kontrollgruppen nur 34,8% betrug (Cartwright-Hatton et al. 2004). Dieser Übersichtsarbeit kann in den Schlussfolgerungen neben der Feststellung der Wirksamkeit der kognitiven VT bei Angststörungen auch das Bedauern der Autoren entnommen werden, dass über die vergleichende Wirkung alternativer Behandlungsansätze wenig bekannt ist. Aus der Analyse von 24 bis 2005 publizierten Studien mit kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) als aktiver Behandlungsbedingung konnte eine mittlere Effektstärke von 0.86 errechnet werden, die als hoch zu betrachten ist. Zwischen den individuums-, gruppen- oder familienzentrierten Ansätzen ergaben sich keine signifikanten Unterschiede, und Behandlungseffekte ließen sich auch nach mehreren Jahren noch nachweisen (In-Albon u. Schneider 2007).
zit weiterhin beträchtlich, während klinisch am ehesten der Einsatz von SSRI praktiziert wird. Die wenigen vorhandenen amerikanischen Übersichtarbeiten sind durch den Umstand geprägt, dass teilweise die Zwangsstörungen zu den Angststörungen gerechnet werden und in diesem Bereich schon früher und mehr kontrollierte Studien durchgeführt wurden. Insofern liegen für Angststörungen im engeren Sinne keine Metaanalysen zur Wirksamkeit der Psychopharmakotherapie vor. Für einzelne Substanzen speziell aus der Gruppe der SSRI ist die Wirksamkeit hingegen auf der Basis kontrollierter Studien gut belegt (Birmaher et al. 2003, 1994; Rynn et al. 2001; Walkup et al. 2001; Wagner et al. 2004). Für die Schulverweigerung ist nachgewiesen, dass die Kombination von Imipramin, einem trizyklischen Antidepressivum, mit KVT wirksamer als Placebo mit KVT ist (Bernstein et al. 2000).
49.3.3 Differenzielle Wirkungen
Das in der Literatur in der Vergangenheit wiederholt festgestellte Defizit an Studien mit einem Direktvergleich der Effekte von KVT und Psychopharmakotherapie ist bisher nicht ausgeglichen worden. Es liegen weiterhin keine entsprechenden Studien mit einem kontrollierten Vergleich dieser beiden Interventionen vor. Dies dürfte nicht zuletzt auch mit der hohen Akzeptanz und Wirksamkeit der KVT sowie auch der stärker eingeschränkten Akzeptanz von Psychopharmaka in der Bevölkerung und speziell bei der Behandlung von Kindern zusammenhängen. Gleichwohl lässt der Zusammenschluss potenter Arbeitsgruppen vor allem in der US-amerikanischen Forschung zur Psychopharmakologie des Kindes- und Jugendalter erwarten, dass dieses Defizit in naher Zukunft abgebaut wird.
49.3.4 Zusammenfassung und Folgerungen
für die klinische Praxis Bei einer vergleichenden Bewertung der Effekte von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter können drei zentrale Aspekte herausgestellt werden. > Fazit
49.3.2 Psychopharmakotherapie
Die medikamentöse Behandlung von Angststörungen wurde in einer vor 10 Jahren publizierten Übersichtsarbeit noch als wenig erforscht beschrieben (Bernstein et al. 1996). Die klinisch am ehesten eingesetzten Substanzen waren Benzodiazepine, trizyklische Antidepressiva und die damals noch neuen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Auch gegenwärtig ist das Forschungsdefi-
4 In der Behandlung von Angststörungen des Kindesund Jugendalters kann auf wirksame und auch im deutschsprachigen Raum gut verfügbare Behandlungsprogramme der KVT zurückgegriffen werden. Einer breiten Verwendung verschiedener Psychotherapieformen bei der Behandlung von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen in der klinischen Praxis steht die Erkenntnis entgegen, dass nur die KVT den evidenzbasierten Wirksamkeitsnachweis erbracht hat. 6
49
894
Kapitel 49 · Verhaltenstherapie und psychopharmakologische Behandlung
4 Die Indikation für die Pharmakotherapie ist deutlich stärker eingeschränkt. Benzodiazepine kommen wegen der Gefahr der Entwicklung von Abhängigkeiten wenig in Frage, und die in der Vergangenheit eingesetzten trizyklischen Antidepressiv sind wegen ihrer Nebenwirkungen nicht mehr die Substanzen erster Wahl. Aber auch für die gegenwärtig eher gebräuchlichen SSRI gilt, dass sie wegen ihrer geringeren Rate gleichwohl nicht bedeutungsloser Nebenwirkungen eine fachärztliche Kompetenz bei der Verordnung und eine hinlängliche Aufklärung voraussetzen, wobei Letztere sich auf kompetente für Laien konzipierte Ratgeber (Rothenberger u. Steinhausen 2005) stützen kann. 4 Wegen des unterschiedlichen Wirkungseintritts von KVT und Pharmakotherapie wird in der klinischen Praxis natürlich nach dem auch bei anderen Störungen gültigen Grundsatz verfahren, dass bei Krisen und zugespitzten Situationen mit hohem und schnellem Interventionsbedarf die medikamentöse Behandlung, ggf. auch in Kombination mit KVT zum Einsatz kommt. In diesen Fällen sind speziell und vorübergehend die Benzodiazepine zu bevorzugen, weil der Wirkungseintritt der SSRI nicht hinlänglich schnell genug erfolgt.
49.4
Eine weitere neuere Metaanalyse weist nach, dass die Behandlungseffekte für die Depression niedriger als bei zahlreichen anderen Störungen im Kindes- und Jugendalter ausfallen (Weisz et al. 2006). Erfolgreiche Therapien mit Effektstärken >0.50 bei klinischen Stichproben zeichnen sich durch die folgenden Merkmale aus (McCarty u. Weisz 2007): 4 Fokussierung auf die Erreichung messbarer Ziele oder Kompetenzerweiterung in selbstbestimmten Bereichen, 4 Psychoedukation hinsichtlich der Depression und ihrer Behandlung, 4 Selbstbeobachtung und Registrierung von Zielaktivitäten und Befindlichkeiten durch die Jugendlichen, 4 Vermittlung sozialer Beziehungs- und Kommunikationsfertigkeiten und 4 Verhaltensaktivation zur Verbesserung der Stimmung. In einer neueren Übersichtsarbeit kommen Pössel und Hautzinger(2006) zu der Schlussfolgerung, dass die in einem Teil der Studien nachgewiesenen positiven Effekte zur individuell bzw. im Gruppenformat durchgeführten KVT längerfristig nicht hinreichend stabil sind. Die Ergebnisse der Interventionen sind offensichtlich nicht von deren Dauer abhängig. Nebenwirkungen sind nicht hinlänglich untersucht. Kritisch sind ferner die geringen Stichprobenumfänge sowie die ungenügende Berücksichtigung von Kindern unter 10 Jahren zu vermerken.
Depression
49.4.1 Verhaltenstherapie
49.4.2 Psychopharmakotherapie
Parallel zu einer zunehmenden, von der Entwicklung der zeitgenössischen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSMIV geförderten Anerkennung der Tatsache, dass depressive Störungen auch bereits im Kindes- und Jugendalter auftreten, hat die Entwicklung zur Überprüfung der Evidenzbasierung von Therapieverfahren deutliche Wirksamkeitsnachweise für die KVT erbracht (7 Kap. III/38) (Harrington 2005; Harrington et al. 1998; Kazdin 2003). Eine systematische Metaanalyse der zwischen 1980 und 1999 publizierten Studien (Michael u. Crowley 2002) erfasste sog. psychosoziale Therapien, die mehrheitlich auf Ansätzen der KVT sowohl bei schulbasierten Risikogruppen als auch in kontrollierten klinischen Stichproben beruhten. Die Effektstärken betrugen 0.72 bei insgesamt 15 kontrollierten Prä-postVergleichen und 0.64 bei acht kontrollierten Verlaufsuntersuchungen und lagen somit im mittleren Bereich. Bei unkontrollierten Prä-post-Vergleichen bzw. Verlaufsuntersuchungen stiegen die Effektstärken sogar auf 1.14 bzw. 1.26, was als groß zu betrachten ist. Die Effekte waren größer für Jugendliche als für Kinder, weil diese von den stärker kognitiv ausgerichteten Interventionen profitieren konnten. Ferner ergab sich als Tendenz, dass Mädchen eher als Jungen von der Therapie profitierten, weil sie wahrscheinlich den gesellschaftlichen Erwartungen emotionaler Expressivität besser nachkommen.
Die Wirksamkeit von Psychopharmakotherapie wird auf der Basis kontrollierter Studien traditionell als eher moderat beschrieben (Pössel u. Hautzinger 2006; Wagner u. Ambrosini 2001). Dies gilt speziell für die in der Vergangenheit ausschließlich verfügbaren trizyklischen Antidepressiva, während die Erfahrungen mit den neueren SSRI günstiger sind. Der im Vergleich zu Erwachsenen schlechtere Wirksamkeitsnachweis für Antidepressiva dürfte neben zahlreichen methodologischen Aspekten der Studien einschließlich ungenügender Behandlungsdauer auch auf grundsätzlich andere Bedingungen bei Kindern und Jugendlichen zurückgehen. Hierzu zählen die bisher ungenügend berücksichtigte komplexere und stärker vom Kontext beeinflusste Symptomatik, der unterschiedliche Status der neuroendokrinologischen Entwicklung sowie die Möglichkeit, dass die Depression bei Kindern und Jugendlichen eine eigenständige biologische Entität darstellt (Wagner u. Ambrosini 2001). In der bereits zitierten Metaanalyse von Michael und Crowley (2002) wurden neben den psychosozialen Therapien auch die in den 1990er Jahren publizierten psychopharmakologischen Studien evaluiert. Für die insgesamt 14 Studien wurde eine niedrige Effektstärke von nur 0.19 im Prä-post-Vergleich berechnet. In diese Evaluation gingen allerdings überwiegend Studien ein, die mit tri-
49
895 49.4 · Depression
zyklischen Antidepressiva durchgeführt wurden. Die neueren auf dem Einsatz von SSRI speziell bei Jugendlichen basierenden kontrollierten Studien ergeben ein deutlich günstigeres Bild (Cheung et al. 2005; Cohen et al. 2004). Wegen nicht verfügbarer vollständiger Datensätze ließen sich die Effektstärken für die SSRI in der neuesten Übersichtsarbeit auf der Basis von acht publizierten und neun unpublizierten Studien (Cheung et al. 2005) nicht berechnen.
49.4.3 Differenzielle Wirkungen
Erfreulicherweise liegen zur Frage des Wirkungsvergleiches von Verhaltenstherapie und Psychopharmakotherapie bei Depressionen im Kindes- und Jugendalter einige Studienergebnisse vor. Diese beruhen in besonderer Weise erneut auf der Durchführung einer kollaborativen US-amerikanischen Studie, der »Treatment of Adolescent Depression Study (TADS)« (March et al. 2004; TADS Team 2003, 2005).
Treatment of Adolescent Depression Study (TADS) In dieser Studie zum Vergleich des SSRI Fluoxetin mit KVT, der Kombination dieser beiden Interventionen und Placebo wurden 439 Jugendliche im Alter von 12–17 Jahren mit einer Major Depression aufgenommen und über 12 Wochen behandelt. Die Gabe von Fluoxetin allein und Placebo erfolgte jeweils doppelblind. Hinsichtlich der symptomatischen Besserung war die Kombinationsbehandlung am erfolgreichsten. Gleich-
wohl war sie der ausschließlichen Pharmakotherapie mit Fluoxetin statistisch nicht signifikant überlegen. Die KVT erbrachte nur eine geringfügige Wirksamkeitssteigerung gegenüber der reinen Pharmakotherapie mit Fluoxetin, und Fluoxetin allein war wirksamer als KVT, während der geringe klinische Effekt der KVT gegenüber Placebo nicht signifikant war, wie aus . Abb. 49.2 ersichtlich wird.
. Abb. 49.2a,b. Verlauf der Depressionswerte auf zwei Skalen über 12 Wochen in der Treatment of Adolescent Depression Study (TADS). a Children’s Depression Rating Scale, Revised; b Reynolds
Adolescent Depression Scale. Placebo; 8 KVT allein; ● Fluoxetin allein; ■ Fluoxetin mit KVT. (Nach March et al. 2004)
Die Autoren der Studie haben die geringere Wirksamkeit der KVT in dieser Studie auf den im Vergleich zu anderen Studien höheren Schweregrad der Depression bei den von ihnen behandelten Patienten zurückgeführt. Andere Autoren (Apter et al. 2005) haben die Unterschiede hypothetisch auf den höheren Strukturierungsgrad der KVT in der TADS gegenüber der flexibleren Vorgehensweise der anderen Studien und mögliche Unterschiede in der konsistenten Umsetzung der Behandlung an den verschiedenen Studienzentren der TADS bezogen.
Die langfristigen Effekte der TADS wurden nach 36 Wochen bestimmt, wobei die doppelblinde Anlage der Studie nach 12 Wochen aufgehoben und die PlaceboBedingung in die Analysen nicht mehr aufgenommen wurde. Es zeigte sich, dass bei Jugendlichen mit einer mittelgradigen bis schweren Depression die Behandlung mit Fluoxetin allein oder in Kombination mit KVT den Wirkungseintritt beschleunigte. Ferner verstärkte die Ergänzung durch KVT die Sicherheit der Medikation. Auch aus dieser Analyse wurde gefolgert, dass bei Be-
49
896
49
Kapitel 49 · Verhaltenstherapie und psychopharmakologische Behandlung
rücksichtigung der positiven Effekte und Risiken die Kombinationsbehandlung den jeweiligen Monotherapien überlegen ist. Im Übrigen zeigt auch die TADS in Analogie zur MTA, dass bei anhaltender Wirksamkeit aller Interventionen die differenziellen Effekte der verschiedenen Interventionen im Langzeitverlauf verschwinden (TADS Team 2007). In einer weiteren Studie wurde eine klinische Standardbehandlung vornehmlich mit einem SSRI mit der Kombination dieser Standardbehandlung mit kurzer KVT bei Jugendlichen mit einer Depression verglichen (Clarke et al. 2005). Hinsichtlich der kategorial erfassten Depressionsepisoden erbrachte die Kombinationsbehandlung keine signifikanten Effekte, wohl aber tendenziell hinsichtlich der dimensional erfassten Depressivität und signifikant hinsichtlich der Reduktion der Arztbesuche und des SSRIVerbrauchs. Hingegen zeigten in einer weiteren Vergleichsstudie von KVT, dem SSRI Sertralin und der Kombinationsbehandlung alle Interventionen nach Therapieende statistisch bedeutsame Verbesserungen, die sich auch 6 Monate später im Verlauf noch nachweisen ließen. Die Kombinationsbehandlung war den beiden anderen Bedingungen nicht überlegen, während bei einem Vergleich der monomodalen Interventionen die KVT gegenüber der antidepressiven Medikation einen höheren unmittelbaren Therapieerfolg aufwies. Diese Überlegenheit könnte nach Einschätzung der Autoren jedoch aus der relativ niedrigen Sertralin-Dosis abgeleitet werden (Melvin et al. 2006) Andererseits ergab eine gesundheitsökonomische Analyse aus Australien interessante Befunde auf der Basis der Berechnung von sog. »disability-adjusted life years« (DALYs), die aus Effektstärken in Metaanalysen randomisierter Studien mit jeweils KVT oder SSRI errechnet werden. Der Gewinn für die Gesundheit wird dabei als Reduktion hinsichtlich der DALYs betrachtet. In dieser australischen Studie zeigte sich, dass die im öffentlichen Gesundheitssystem eingesetzte KVT die wirksamste und kostengünstigste Form der Erstbehandlung der Major Depression bei Kindern und Jugendlichen ist (Haby et al. 2004).
49.4.4 Zusammenfassung und Folgerungen für
die klinische Praxis Die Erforschung der Depression im Kindes- und Jugendalter ist lange stark vernachlässigt worden. Der noch begrenzte Wissensstand zum Einsatz von Psychopharmakotherapie und KVT gestattet noch kein sehr umfassendes und einheitliches Bild.
> Fazit 4 Für die KVT lässt sich feststellen, dass sie bei dokumentiertem Wirksamkeitsnachweis einen Platz in der evidenzbasierten klinischen Praxis der Depressionsbehandlung hat, wenngleich die Dauerhaftigkeit der Effekte durchaus kritisch betrachtet werden kann. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass der Verlauf der Depression häufig chronisch-protrahiert oder chronischrezivierend ist. Andererseits sprechen gesundheitsökonomische Daten stark für den Einsatz von KVT. 4 Die Psychopharmakotherapie stellt im Jugendalter – und weniger im Kindesalter – erst seit der Verfügbarkeit der modernen SSRI eine wirkliche, d. h. für einen größeren Patientenkreis einsetzbare Behandlungsoption dar. Der Einsatz der älteren, weiter im Handel befindlichen trizyklischen Antidepressiva ist bei Jugendlichen mit einer Depression wegen der geringen Wirksamkeit und der Nebenwirkungen nicht mehr angezeigt. 4 Aus den kontrollierten Studien zur Kombinationsbehandlung lässt sich eine Überlegenheit der Behandlung mit SSRI gegenüber KVT nicht widerspruchsfrei ableiten. Dabei sind Fragen bezüglich der hinreichenden Individualisierung der KVT in den durchgeführten Studien offen. 4 Kombinations- und medikamentöse Behandlungen sind hinsichtlich Sicherheit und Wirkungseintritt möglicherweise dem ausschließlichen Einsatz von KVT überlegen. Im längerfristigen Einsatz verschwinden die Wirksamkeitsunterschiede der einzelnen Interventionen. 4 Der Einsatz von KVT, SSRI und einer Kombination dieser beiden Interventionen wird in der klinischen Praxis nicht zuletzt auch von der Akzeptanz durch Patienten und Bezugspersonen sowie der Verfügbarkeit und Kompetenz bei der Anwendung abhängen.
49.5
Zwangsstörungen
49.5.1 Verhaltenstherapie
Unter den psychosozialen Therapien hat sich die VT als Methode der Wahl für die Behandlung von Zwangsstörungen über die Lebensspanne etabliert und steht auch für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen prinzipiell zur Verfügung, wenngleich der Zugang durch mangelnde Verfügbarkeit von ausgebildeten Therapeuten begrenzt wird (March et al. 2001; Rapoport u. Inoff-Germain 2000). Schwerpunktmäßig kommen die Methoden der Expositions-Reaktions-Verhinderung (ERV), der KVT und des Entspannungstrainings zum Einsatz, wobei ERV die größte Wirksamkeit hat und die Intervention den spezifischen Erfordernissen beim individuellen Patienten angepasst werden muss (7 Kap. III/36).
897 49.5 · Zwangsstörungen
Gleichwohl muss festgestellt werden, dass zahlreiche Wirksamkeitsstudien zur KVT bei Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter durch die gleichzeitige Gabe von Psychopharmaka bei einem Teil der Patienten konfundiert sind. Ferner muss aus klinischer Sicht auf die oft ungenügenden Symptombesserungen der Zwangsstörungen auch bei KVT hingewiesen werden, wobei die Chronifizierungsneigung der Störung, komorbide Symptome, ungenügende Compliance und erschwerende familiäre Bedingungen einige Faktoren darstellen, die zu diesem Sachverhalt beitragen.
49.5.2 Psychopharmakotherapie
Der Einsatz bestimmter Psychopharmaka zur Behandlung von Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen ist nicht nur klinisch gut etabliert, sondern auch durch kontrollierte Studien in der Wirksamkeit hinlänglich nachgewiesen. Wegen der ätiologisch bedeutsamen Störung im serotonergen System des Gehirns kommen bei Zwangsstörungen vor allem der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
Clomipramin und verschiedene selektive Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zur Anwendung, wobei in der klinischen Praxis in der Regel die moderneren SSRI dem Clomipramin wegen dessen höherer Rate an Nebenwirkungen vorgezogen werden (Grados u. Riddle 2001; Rapoport u. Inoff-Germain 2000; Wewetzer et al. 2003). Die nicht seltenen Fälle mit therapierefraktären Symptomen können im Rahmen einer sog. Augmentationsbehandlung zusätzlich mit Antipsychotika (Neuroleptika) oder anderen Substanzen behandelt werden. Der oft chronisch-protrahierte oder episodische Verlauf von Zwangsstörungen kann auch schon bei Kindern und Jugendlichen den Einsatz einer Erhaltungstherapie erforderlich machen.
49.5.3 Differenzielle Wirkungen
Die in der klinischen Praxis geläufige und empfohlene Kombination von KVT und einem SSRI kann aufgrund der kontrollierten »Pediatric OCD Treatment Study (POTS)« als evidenzbasiert betrachtet werden.
Pediatric OCD Treatment Study (POTS) In der POTS erhielten 112 Patienten im Alter von 7–17 Jahren aus drei US-amerikanischen Universitätszentren in einer kontrollierten Studie entweder KVT allein, den SSRI Sertralin allein, die Kombination dieser beiden Interventionen oder Placebo-Tabletten (Franklin et al. 2003; POTS Team 2004). Alle drei aktiven Interventionen waren der Placebo-Bedingung signifikant überlegen. Die Kombinationsbehandlung war wiederum signifikant besser als KVT und Medikation jeweils allein und weniger von Ergebnisunterschieden zwischen den beteilig-
In einem Leserbrief wies Else De Haan, eine holländische Expertin für die VT der Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen, zu Recht darauf hin, dass die Kombinationsbehandlung unter Einschluss weiterer Studien nur eine unbefriedigende Besserungsrate von 45–60% erreicht und die Zahl der Responder zwischen 63 und 86% variiert (De Haan 2006). Sie hatte zuvor mit ihren Kollegen in einer randomisierten Vergleichsstudie von VT mit ERV und offener Clomipramin-Behandlung festgestellt, dass beide Interventionen zu signifikanten Verbesserungen führten. Dabei waren die Effekte der VT zumindest bei einem Ergebnismaß stärker ausgeprägt als unter der Medikation mit Clomipramin (De Haan et al. 1998).
ten Zentren beeinflusst. Die klinische Remissionsrate betrug für die Kombinationsbehandlung 53,6%, für KVT allein 39,3%, für Sertralin allein 21,4% und für Placebo 3,6%. Die Unterschiede der Remissionsraten für die Kombinationsbehandlung und die KVT waren nicht signifikant. In der Schlussfolgerung empfehlen die Autoren, in der Behandlung von Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit der Kombinationsbehandlung oder KVT allein zu beginnen.
49.5.4 Zusammenfassung und Folgerungen
für die klinische Praxis Die aus der POTS abgeleitete Schlussfolgerung, in der Behandlung von Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit der Kombinationsbehandlung von KVT und einem SSRI oder mit KVT allein zu beginnen, trifft die klinische Praxis nur insofern ungenügend, als sie aufgrund des Mangels an qualifizierten Therapeuten speziell für die KVT einen Idealzustand beschreibt. Besonders bei früh erkrankten jungen Kindern sind Kliniker aber mit der Verordnung von Medikamenten noch relativ zurückhaltend. Bei älteren Kindern ist die Medikation hingegen häufig die einzige verfügbare Intervention, die noch dazu die im Einzelfall möglicherweise begrenzte Wirksamkeit der KVT verbessern kann. Andererseits wird die Indikation für die KVT durch die ebenfalls oft begrenzte Wirksamkeit von Psychopharmaka,
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Kapitel 49 · Verhaltenstherapie und psychopharmakologische Behandlung
den möglichen Einsatz von KVT bei Medikamentenpausen und die in Einzelfällen höhere Akzeptanz der KVT bestimmt. > Fazit Sowohl die vorliegenden Studienergebnisse als auch die klinische Praxis belegen somit den Gewinn, der aus einem entweder gleichzeitigen oder in Phasen verschobenen Einsatz von KVT und SSRI in der Behandlung der Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen resultieren kann.
In diesem denkbaren Entwicklungsprozess zukünftiger Forschung kann erwartet werden, dass sich die von den Neurowissenschaften getragenen Erkenntnisse der Psychopharmakotherapie in positiver Weise mit dem Ausbau der von den Sozialwissenschaften gespeisten Verhaltenstherapie vereinigen werden. Diese Entwicklungen werden mit Sicherheit den Patienten zu Gute kommen, die einen Anspruch auf wirksame und ihren speziellen Bedingungen angepasste Behandlungen haben.
Literatur 49.6
49
Ausblick
Die Verträglichkeit von VT und Psychopharmakotherapie wird wesentlich von dem gemeinsamen Element der Evidenzbasierung getragen, das zu einem zentralen Planungsund Evaluationsprinzip der Gesundheitsversorgung geworden ist und dessen Bedeutsamkeit in der Zukunft angesichts des Kostendrucks weiter zunehmen wird. Insofern stellt die in diesem Kapitel vorgenommene Darstellung der jeweiligen Indikationen und vergleichenden Bewertungen erst den Anfang eines Prozesses dar. Trotz des noch begrenzten Wissensstandes zur differenziellen Wirkung von VT und Psychopharmakotherapie sind Studien wie die MTA zu ADHS, die TADS zur Depression und die POTS zu Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen Meilensteine der klinischen Forschung mit großer Bedeutung für die klinische Praxis. Sie haben nicht nur das immer wieder beklagte Forschungsdefizit speziell zu Störungen bei Kindern und Jugendlichen zumindest teilweise kompensiert, sondern hinsichtlich Studienanlage, Stichprobenumfängen, kollaborativem Vorgehen und Praxisrelevanz neue Maßstäbe gesetzt. Die weitere Forschung wird nicht nur die immer gegenwärtige Frage der Verbesserung und störungs- sowie individuumsspezifischen Anpassung der Interventionen aufgreifen. Andere in dieser Abhandlung nicht berücksichtigte Störungen werden möglicherweise in der Zukunft stärker in die Forschung zur differenziellen Wirkung von Interventionen einbezogen werden. So ist beispielsweise für die Ticstörungen ebenso festzustellen, dass sowohl Interventionen mit VT als auch mit Psychopharmaka in der klinischen Praxis fest etabliert sind, während Vergleichstudien zur Indikation und differenziellen Wirkung noch ausstehen. Bei zahlreichen anderen Störungen sind mit unterschiedlichen Schwerpunkten verhaltenstherapeutische Programme zur Therapie und Rehabilitation entwickelt worden, während der Einsatz von Psychopharmaka eher auf die Krisenintervention beschränkt ist. Dies gilt z. B. für den frühkindlichen Autismus oder auch die Störungen des Sozialverhaltens. Bei anderen Störungen wie den schizophrenen Psychosen können VT und Psychopharmaka wesentlich zur Langzeitrehabilitation beitragen.
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49
900
49
Kapitel 49 · Verhaltenstherapie und psychopharmakologische Behandlung
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50
50 Prävention psychischer Störungen Juliane Junge-Hoffmeister
50.1
Ziele von Prävention – 902
50.2
Begriffe und Konzepte in der Prävention – 903
50.2.1 50.2.2
Prävention, Gesundheitsförderung und Therapie Risiko- und Schutzfaktoren – 908
50.3
Präventionsprogramme in Forschung und Praxis – 909
50.3.1 50.3.2
Allgemeine Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen Prävention spezifischer Störungen – 913
50.4
Schlussfolgerungen und Ausblick Zusammenfassung Literatur
– 920
– 920
Weiterführende Literatur
– 922
– 919
– 903
– 910
902
Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
50.1
Ziele von Prävention
Fast jeder zweite Mensch erlebt irgendwann in seinem Leben ausgeprägte psychische Beschwerden, die die Diagnosekriterien für eine manifeste psychische Störung erfüllen (Kessler et al. 1994). Diese Erkrankungen beginnen in vielen Fällen bereits in Kindheit und Jugend bzw. im jungen Erwachsenenalter (Burke et al. 1990; Wittchen et al. 1999a). Schon bei 14- bis 18-Jährigen finden sich Lebenszeitprävalenzraten von bis zu 15–30% für Jungen und 25–40%
für Mädchen (Essau et al. 1998; Lewinsohn et al. 1993; Wittchen et al. 1999a). Nur ca. ein Viertel aller Betroffenen sucht oder erhält eine professionelle Beratung, wobei dies wahrscheinlicher ist, wenn mehrere Störungen gleichzeitig vorliegen. Die Behandlung erfolgt zumeist medikamentös und findet nur in einem Drittel der Fälle bei einem Spezialisten für psychische Probleme statt. Ihre Angemessenheit darf somit im Einzelfall in Frage gestellt werden (Wittchen u. Jacobi 2005). Kinder und Jugendliche sind mit einer Behandlungsquote von ca. 10% besonders schlecht versorgt (Petermann et al. 2000).
Exkurs
50
Kosten psychischer Störungen in Deutschland Nach neuen europaweiten Analysen verursachen psychische Erkrankungen nicht nur erhebliches Leid für die betroffenen Menschen, sondern auch immense Kosten. Gemäß einer Auswertung von Epidemiologie- und Versorgungsdaten des European Brain Council (EBC) litten im Jahr 2004 ca. 2,0 Millionen Deutsche (2,4%) zwischen 18 und 65 Jahren an einer Substanzstörung, 4,9 Mio. (5,9%) an einer affektiven Störung und sogar rund 8,7 Mio. (10,5%) an einer Angststörung (Andlin-Sobocki et al. 2005). Betrachtet man die Kosten, die im Gesundheitssystem durch diese und andere psychische, psychiatrische und neurologische Störungen (inkl. Demenz, Parkinson, Schlaganfälle, Epilepsie, Migräne und Tumore) entstehen, so ergeben sich durchschnittliche Kosten von 829 Euro pro Europäer und Jahr (Gesamtzahl der Europäer: 466 Millionen). Aufgeschlüsselt auf einzelne Störungskategorien lassen sich für Deutschland die in . Tab. 50.1 bezifferten Kosten pro Patient und Jahr berechnen: Daraus ergeben sich im deutschen Gesundheits- und Gemeinwesen pro Jahr totale Kosten von rund 10,8 Mrd. Euro für Patienten mit Angststörungen, 36,0 Mrd. Euro für Patienten mit affektiven Störungen sowie 17,8 Mrd. Euro für Patienten mit einer Suchterkrankung. In die Schätzungen gehen Kosten der Gesundheitsversorgung (z. B. ambulante und stationäre ärztliche Versorgung, Medikamente), direkte nichtmedizinische Kos-
Betrachtet man die hohen Prävalenzahlen und die damit verknüpfte Belastung und Beeinträchtigung jedes einzelnen Betroffenen einerseits sowie die hohen monetären Kosten psychischer Erkrankungen andererseits, so ist die Sinnhaftigkeit und sogar Notwenigkeit von vorbeugenden Maßnahmen aus humanitären und ökonomischen Gründen offensichtlich. Dabei ist es nicht nur wichtig, auf die Verhinderung von Neuerkrankungen (Inzidenzreduktion) abzuzielen. Im Hinblick auf die psychologischen und sozialen Folgeerscheinungen psychischer Störungen sowie die Kosten ist auch die Reduktion vorhandener Fallzahlen zu einem definierten Zeitpunkt bzw. Zeitraum (Prävalenz) von Belang. Folgende Ziele lassen sich im Feld der Prävention definieren:
ten (z. B. Transporte, Gemeindeverorgung, informelle Pflege; nur bei Substanzsstörungen erhoben) sowie indirekte Kosten (z. B. Arbeitsausfalltage und Einbuße der Produktivität) mit ein. Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland damit eine Spitzenposition ein.
. Tab. 50.1. Kosten psychischer Störungen in Deutschland pro Person im Jahr 2004. Quelle: European Brain Council (EBC), Originaldaten in Andlin-Sobocki et al. 2005) Störungskategorie
Störung (nach DSM bzw. ICD)
Kosten pro Patient und Jahr (2004) [EUR]
Angststörungen
Generalisierte Angststörung
2728
Panikstörung
1517
Agoraphobie
1488
Soziale Phobie
1453
Spezifische Phobie
806
Zwangsstörung
546
Affektive Störungen
Depression
7102
Bipolare Störungen
9603
Abhängigkeitserkrankungen
Alkohol
9201
Drogen
5721
Ziele von Prävention 4 Verhinderung des Neuauftretens von psychischen Störungen (Reduktion der Inzidenz) 4 Verzögerung des Störungsbeginns (Reduktion der Prävalenz zu einem bestimmten Zeitpunkt) 4 Verhinderung von Komorbidität (Reduktion der Inzidenz anderer Störungen) 4 Verhinderung von Rückfällen bzw. neuen Krankheitsepisoden (Reduktion der Prävalenz)
903 50.2 · Begriffe und Konzepte in der Prävention
Die Verhinderung der Ersterkrankung einer Person an einer definierten psychischen Störung ist natürlich das wichtigste und umfassendste Präventionsziel. Hierbei kann unter Umständen lebenslangen Patientenkarrieren, einschließlich ihrer Folgen für den Betroffenen und sein Umfeld vorgebeugt werden. Allerdings ist auch die Verzögerung des Störungsbeginns ein lohnenswertes Ziel. Für viele psychische Störungen gilt: je früher der Beginn, desto ungünstiger ist die Prognose (Reed u. Wittchen 1998; Wittchen et al. 1999b). Mit einem frühen Ersterkrankungsalter sind häufig eine größere Störungsschwere (d. h. stärkere Beeeinträchtigungen und Belastungen), eine längere Störungsdauer sowie die große Gefahr einer Chronifizierung der Erkrankung verbunden. Schweregrad und Erkrankungsdauer wiederum bergen das Risiko der Entwicklung von Komorbidität, d. h. des Auftretens weiterer psychischer Störungen. So wissen wir beispielsweise, dass eine soziale Phobie einen kausalen Risikofaktor für die Entwicklung depressiver Störungen darstellt (Kessler et al. 1999; Stein et al. 2001; Wittchen et al. 1999b). Die Behandlung der primären sozialen Phobie (Reduktion der Prävalenz) dient damit gleichzeitig der Vorbeugung depressiver Störungen (Reduktion der Inzidenz). In den Bereich der Prävention fällt auch die Vorbeugung neuer Krankheitsepisoden bzw. von Rückfällen – ein Risiko, das bei vielen psychischen Erkrankungen Bestandteil der psychopathologischen Problematik ist (z. B. Substanzabhängigkeiten, affektive Störungen, Essstörungen, aber auch Angststörungen). Neben den psychologischen und sozialen Folgen wirken sich Schweregrad, Störungsdauer, Komorbidität und Rückfallrisiko ihrerseits natürlich außerdem auf die direkten und indirekten Gesundheitskosten aus. Sekundäres Ziel von Präventionsmaßnahmen kann außerdem sein, den Zugang zur Behandlung, d. h. das Inanspruchnahmeverhalten bei psychischen Problemen, positiv zu beeinflussen. Die oben genannten geringen und absolut unbefriedigenden Behandlungsquoten im Kindesund Jugend- wie auch im Erwachsenenalter hängen nicht nur mit der mangelnden Verfügbarkeit psychotherapeutischer Versorgungsangebote zusammen. Hierauf wirkt sich auch das Inanspruchnahmeverhalten der Betroffenen (und ggf. ihrer Eltern) aus. In der »Dresden Predictor Study«, einer großen epidemiologischen Befragung an über 3000 Frauen zwischen 18 und 25 Jahren, zeigte sich beispielsweise, dass nur 50% derer, die eine diagnostizierbare klinische Störung sowie eine markante Beeinträchtigung des sozialen Funktionsniveaus aufwiesen, einen Wunsch nach professioneller Beratung hatten. Von diesen nahmen wiederum nur 38,5% solche Hilfe in Anspruch (Soeder et al. 2001). Als Barrieren wurden von den Frauen u. a. angegeben: zu große Überwindung (61%), mangelndes Wissen darüber, wer helfen kann (18%), Angst vor zu hohen Kosten (11%) und Angst vor Abstempelung und Nachteilen
(10%): Die hinter diesen Zuordnungen liegenden Einstellungen und Erwartungen dürften sich dabei überlappen (Türke et al. 2001). Diese Betrachtung macht deutlich, dass auch eine zögerliche oder ganz unterbleibende frühzeitige Inanspruchnahme von Hilfsangeboten zu einer Manifestation erster psychopathologischer Symptome, einer Chronifizierung oder Entwicklung zusätzlicher Komorbidität beitragen kann. Die niederschwellige Vermittlung von Wissen über psychische Erkrankungen, ihrer Behandelbarkeit, konkrete Behandlungsansätze sowie die Zugangswege zu bestehenden Hilfsangeboten kann entscheidend zu einer Entmystifizierung von Psychotherapie beitragen. Ein solcher Ansatz dient somit indirekt dem Anliegen der Prävention.
50.2
Begriffe und Konzepte in der Prävention
50.2.1 Prävention, Gesundheitsförderung
und Therapie Seit den 1990er Jahren ist die Präventionsforschung und -praxis deutlich vorangeschritten. Es wurden Standards für die Entwicklung, Implementation und Evaluation geeigneter Maßnahmen entwickelt und in entsprechende Präventionsproramme für verschiedenste psychische Probleme umgesetzt. Gleichzeitig wurde – besonders im nordamerikanischen und europäischen Sprachraum – die Schaffung der politischen Rahmenbedingungen für die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen vorangetrieben (Kellam et al. 1999; WHO 2004). Zentral bei diesen Bemühungen ist die Einigung auf zugrunde liegende Konzepte und Begriffe. Hier herrscht in der Literatur derzeit noch eine große, teilweise verwirrende Vielfalt. Im Folgenden werden die wichtigsten Präventionsansätze und zugehörigen Begriffe dargestellt (. Abb. 50.1). Prävention (lat.: Verhütung, Vorbeugung) wird traditionell in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention unterteilt. Diese Taxonmie ist noch immer weit verbreitet. Eine neuere Unterscheidung in universelle, selektive und indizierte Prävention setzt sich jedoch zunehmend durch. Daneben lassen sich Verhältnis- und Verhaltensprävention voneinander trennen. Von der Prävention im eigentlichen Sinne abzugrenzen sind Gesundheitsförderung und Therapie.
Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention Die Unterscheidung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention basiert auf einer Konvention der Commission on Chronic Illness aus den 1950er Jahren (Commission on Chronic Illness 1957). Grundlage der Einteilung ist dabei der Zeitpunkt der Intervention in Relation zum Verlauf der Krankheit.
50
904
Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
Primäre Prävention. Primäre Prävention beschäftigt sich mit der Verhinderung von bestimmten Erkrankungen bei gesunden Personen durch gezielte Reduktion identifizierbarer Risikofaktoren und Förderung protektiver Kompetenzen. Ziel ist die Verringerung der Inzidenz- und Prävalenzraten von Störungen. Teilweise richten sich solche primär-präventiven Maßnahmen auch gezielt an Personen, die einem erhöhten Risiko für die Entwicklung bestimmter Krankheiten ausgesetzt sind.
Vorbeugung von neuerlichen Erkrankungsperioden bei Menschen mit einer rezidivierenden depressiven Störung (z. B. durch Wissensvermittlung zum Verlauf einer Depression, Training der Selbstwahrnehmung bezüglich früher Anzeichen eines Rückfalls, Aufbau von vorbeugenden Denk- und Verhaltensmustern sowie sozialen Unterstützungssystemen).
Beispiel
Gesundheitsförderung und Therapie
Prävention von Esstörungen bei Mädchen im Jugendalter durch eine angemessene Beschäftigung mit Figur und Gewicht, die den Bedürfnissen der gefährdeten Altersgruppe Rechnung trägt (z. B. durch Vermittlung von Wissen und Anregungen zu einer gesunden Ernährung, Aufklärung über Essstörungen, kritische Reflexion des gängigen gesellschaftlichen Schlankheitsideals u. a.).
Die Gesundheitsförderung lässt sich als eigenständiger und der primären Prävention zeitlich und bezüglich des Krankheitsverlaufs vorgelagerter Interventionsbereich abgrenzen. Den Hintergrund bildet hier die Perspektive der Salutogenese, d. h. eine Sichtweise, die auf Schaffung der bestmöglichen Rahmenbedingungen für die Erhaltung der Gesundheit und weniger auf die Verringerung bestehender Risikofaktoren und Krankheitszeichen (pathogene Perspektive der Prävention) abzielt. Da die Ansätze in ihrer Umsetzung überlappen, werden sie häufig uneinheitlich verwendet. Therapie beinhaltet per se eine pathogenetische Betrachtung.
Sekundäre Prävention. Sekundäre Prävention richtet sich an Menschen, die bereits Krankheitszeichen im subklinischen oder frühen klinischen Stadium entwickelt haben. Angestrebt ist hier eine möglichst frühzeitige Erkennung und sofortige Intervention und damit die Verminderung von Risikofaktoren für die stabile Manifestation, Wiedererkrankung bzw. Chronifizierung einer Problematik (Verringerung der Prävalenz).
50
Beispiel
Beispiel Kurzintervention bei Menschen, die bereits mindestens eine unerwartete Panikattacke erlebt haben und eine hohe Angstsensitivität aufweisen; Vorbeugung der Manifestation eines stabilen Vermeidungsverhaltens mit nachfolgend zunehmenden Mobilitätseinschränkungen (z. B. durch Wissensvermittlung, Verhaltensexperimente, Anleitung zur Selbstkonfronation).
Tertiäre Prävention. Dies ist die letzte Präventionsebene.
Hier erfolgt die Behandlung von Krankheitsfolgen, d. h. die Verminderung der Beeinträchtigung durch Verbesserung der individuellen Krankheitsbewältigungsfähigkeiten und die weitere Rückfallprophylaxe. Der Begriff »Prävention« ist zumindest teilweise irreführend, da es sich vielmehr um Behandlung bereits vorhandener Störungen handelt, jedoch möglicherweise mit rückfallprophylaktischen bzw. bezüglich möglicherweise zukünftiger komorbider Folgeproblematik auch präventiven Komponenten.
Gesundheitsförderung. Gesundheitsförderung verfolgt das Ziel der Modifikation von gesellschaftlich vermittelten Lebensstilen (z. B. Halte dich fit und treibe Sport!) unter bewusster Abgrenzung von medizinischen Versorgungsstrukturen. Ziel der Veränderung sind entweder die Gemeinde in ihrem natürlichen Lebensumfeld oder die Umweltbedingungen. Es werden daher keine speziellen Risikopopulationen ausgewählt. Therapie. Therapie von Krankheiten, also kurative Maßnahmen, sind das klassisches Thema der klinischen Psychologie und Medizin. Im Fokus steht dabei das einzelne erkrankte Individuum. Therapie beinhaltet Elemente von sekundärer und tertiärer Prävention. Die Grenzbereiche zwischen diesen verschiedenen Interventionsansätzen sind unscharf. Diese teilweise verwirrende Begriffsvielfalt und deren ungenaue Verwendung wird von einigen Präventionsforschern immer wieder kritisiert. Fast alles, was wir als Handelnde im Bereich der seelischen Gesundheit tun, um anderen Menschen zu helfen, ist eine Form der Prävention. Tatsächlich decken die Begriffe primäre, sekundäre und tertiäre Prävention nahezu jede Aktivität und jedes Programm ab, das Teil des Repertoires eines psychologischen/psychiatrischen Sachverständigen ist. (Albee u. Gullotta 1986, p. 208, Übersetzung durch die Autorin)
Deshalb fordern die Autoren, den Terminus »Prävention« auf proaktive Interventionen zu beschränken, die sich tatsächlich an (noch) gesunde Gruppen ohne bzw. mit nur
905 50.2 · Begriffe und Konzepte in der Prävention
. Abb. 50.1. Begriffe in der Prävention: Einordnung und Abgrenzung. Linke Spalte: traditionelle Taxonomie nach zeitlichem Krankheitsverlauf (Commission on Chronic Illness 1957), rechte Spalte: neuere Taxonomie nach Zielgruppencharakteristika (Institute of Medicine 1994)
geringen Auffälligkeiten, aber ggf. einem erhöhten Risiko zur Ausbildung solcher richten. Die anderen Ebenen sollten als Frühintervention, Behandlung/Therapie und Rehabilitation bezeichnet werden. Diesem Anliegen dient die neuere Taxonomie, die im Folgenden dargestellt werden soll.
chologischer oder sozialer Charakteristika, die mit der Ätiologie von einer ausgewählten Erkrankung in Zusammenhang gebracht werden, besonders für bestimmte Maßnahmen eignen.
Universelle, selektive und indizierte Prävention
Beispiel
Vom Institute of Medicine (IOM) wurde 1994 empfohlen, Präventionsmaßnahmen nicht mehr nach dem zeitlichen Verlauf der Zielstörungen, sondern explizit nach ihrer Zielpopulation zu differenzieren. Daraus ergibt sich folgende Unterteilung (Institute of Medicine 1994):
Durchführung von Interventionen zur Prävention von emotionalen und Verhaltensstörungen für Kinder in Scheidungssituationen (z. B. durch Wissensvermittlung, Verbesserung der kindlichen Stressbewältigungsfertigkeiten, Unterstützung der Eltern in der Entwicklung eines neuen Erziehungs- bzw. Betreuungsmodells und zum Umgang mit den Partnerschaftkonflikten, Schaffung eines sozialen Netzwerks für betroffene Kinder, Bereitstellung von angemessenen Freizeitangeboten).
Universelle Prävention. Universelle Prävention richtet sich an ganze Bevölkerungsgruppen, unabhängig von ihrem jeweiligen Risikostatus bezüglich einer bestimmten Erkrankung. Dieser Ansatz überlappt mit Gesundheitsförderung und primärer Prävention in unselegierten Stichproben.
Beispiel Prävention von kindlichen Verhaltensstörungen im Rahmen von Elterntrainings in Kindertageseinrichtungen (z. B. Vermittlung von Wissen über angemessene Erziehungspraktiken durch Elternabende und gezielte Rückmeldung über das Verhalten der Kinder in bestimmten Situationen).
Selektive Prävention. Selektive Prävention beinhaltet Maßnahmen für selegierte Stichproben, d. h. Gruppen von Menschen, die sich aufgrund bestimmter biologischer, psy-
Indizierte Prävention. Eine gezielte Prävention erfolgt dann, wenn bestimmte minimale, aber diagnostizierbare psychopathologische Auffälligkeiten vorliegen, die mit bedeutsamer Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer spezifischen Erkrankung sprechen. Die Intervention ist aus dieser Sicht indiziert, d. h. vom klinischen Standpunkt her sinnvoll und/oder sogar notwendig. Das individuelle Screening von Risikopersonen hat bei diesem Interventionsansatz eine besondere Bedeutung. Anhand operationaler Kriterien werden betroffene Individuen ausgewählt (Einzeldiagnostik) und nicht nur ganze Gruppen, von denen insgesamt ein überdurchschnittlicher Risikostatus angenommen wird. Parallelen gibt es zu primärer und sekundärer Prävention.
50
906
Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
Beispiel Prävention von Essstörungen (z. B. Binge Eating Disorder) und Fehlernährung sowie Vorbeugung von Begleitproblemen (z. B. emotionale Störungen, soziale Ausgrenzung) bei adipösen Kindern mit einem BodyMass-Index (BMI) >30 (z. B. durch gezieltes Selbstwahrnehmungstraining, Ernährungs- und Bewegungsprogramme sowie Vermittlung von Fertigkeiten zur emotionalen Selbstregulation und interpersonellen Konfliktbewältigung).
Selektive und indizierte Prävention werden oft als zielgruppenorientierte oder zielgruppenspezifsche (»targeted prevention«) Prävention zusammengefasst. Ist die Störung bereits manifest, so wird nach dem IOM nicht mehr von »Prävention« gesprochen, sondern explizit von Therapie, Behandlung oder Rehabilitation. Im Einzelfall kann dies, wie oben schon erwähnt, im Bezug auf komorbide Erkrankungen ebenfalls teilweise präventiven Charakter haben.
Verhaltens- und Verhältnisprävention Eine weitere konzeptuelle Unterscheidung von Präventionsmaßnahmen wird in der Raumdiagonale von . Abb. 50.1 angedeutet. Prinzipiell ist bei jeder Intervention maßgeblich, ob sie am Individuum selbst oder der Gestaltung seiner Umwelt ansetzt.
haltensorientierte Prävention im Gruppensetting statt, wobei jeder einzelne Teilnehmer Kompetenzen im Hinblick auf eine funktionale Lebensgestaltung erwerben soll.
Beispiel Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Krebs, Substanzabhängigkeit etc.) durch verhaltenstherapeutisches Raucherentwöhnungsprogramm in der Gruppe (z. B. durch Selbstbeobachtung, Motivationstraining, Festlegung eines Rauchstopp-Tages, Vermittlung von Alternativtechniken zum Umgang mit Craving und sozialen Auslösern).
Verhältnisorientierte Maßnahmen. Verhältnisorientierte Interventionen (Synonyme: systemorientierte, Umweltoder ökologische Interventionen) hingegen setzen an der physischen, aber vor allem auch psychologischen, sozialen, ökologischen, ökonomischen, gesetzlichen und/oder kulturellen Umwelt des Individuums an. Diese Umwelt wird derart gestaltet, dass dies der Gesundheit der darin lebenden Menschen möglichst zuträglich ist. Krankheiten sollen somit verhindert oder deren Ausbreitung vorgebeugt werden. Dabei kann aufgrund der Bedeutung der Person-UmweltInteraktion eine Umwelt für verschiedene Individuen unterschiedlich gesundheitsförderlich sein.
Beispiel Verhaltensorientierte Interventionen. Diese Art von Inter-
50
ventionen (Synonyme: person- oder individuenzentrierte Interventionen) richten sich an das einzelne Individuum und dessen Verhalten. Personen sollen befähigt werden, ihr Verhalten derart zu modifizieren bzw. auszuüben, dass dies möglichst gesundheitsförderlich ist bzw. Risikofaktoren vermieden und abgebaut werden. In der Regel findet ver-
Vorbeugung von Erkrankungen, die durch das Rauchen bedingt sind, durch entsprechende Umweltgestaltung (z. B. durch das Schaffen rauchfreier Umgebungen, Tabaksteuer, Veränderung der gesellschaftlichen Akzeptanz, flächendeckende Versorgungsstrukturen u. a.).
Settingansätze
Was ist ein Setting?
In jüngster Zeit werden verstärkt sog. Settingansätze entwickelt und auch gesundheitspolitisch explizit gefördert (GKV 2006). Dabei handelt es sich in der Regel um Maßnahmenbündel von präventiven und gesundheitsfördernden Interventionen, die sich nicht nur auf einzelne Personen, sondern auf die Lebensräume richten, in denen die Menschen große Teile ihrer Zeit verbringen. Dies ist insbesondere von Belang, weil spezifische Zielgruppen mit besonders ungünstigen Gesundheitschancen, aber einem erhöhten Erkrankungsrisiko (z. B. sozial Benachteiligte) über person- bzw. verhaltensorientierte Maßnahmen nur schwer zu erreichen sind. 6
Als Setting gelten soziale Systeme, von denen man annimmt, dass sie einen starken Einfluss auf die Gesundheit ausüben, in denen die Bedingungen von Gesundheit aber gleichzeitig auch gestaltet und beeinflusst werden können. Beispiele solcher Settings sind: Kommunen/Stadtteile, Kindertagesstätten, Schulen, Einrichtungen für spezielle Zielgruppen. Diese sind von besonderem Interesse, wenn sich hier viele Menschen mit einem niedrigen sozialen Status zusammenfinden (z. B. Haupt- und Sonderschulen, Stadtteile mit hohem Ausländeranteil). Für die Entwicklung mancher Störungen, z. B. Essstörungen bei jungen Frauen, kann gerade auch ein sehr anspruchsvolles und leistungsorien-
907 50.2 · Begriffe und Konzepte in der Prävention
tiertes Umfeld ein ungünstiges Setting darstellen und somit zum Zielgebiet für Präventionsmaßnahmen werden (z. B. Campus einer Universität oder Ballettschule). Man geht dabei davon aus, dass die Entwicklung gesundheitsbezogener Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen von den natürlichen Lern-, Arbeits- und Lebensbedingungen bestimmt wird. Demzufolge beinhaltet der Settingansatz Maßnahmen auf drei Ebenen (GKV 2006): 1. Schaffung einer gesunden physikalischen und psychosozialen Umwelt, 2. Integration der Gesundheitsförderung, Prävention, Bildung und Erziehung in Alltagsprozesse, 3. Netzwerkbildung mit anderen Settings. Wichtig ist die aktive Beteiligung der im Setting lebenden Menschen (Partizipation) bei der Zielbildung, der Ausschöpfung der Gesundheitspotenziale und der Schaffung
der dafür notwendigen organisatorischen Rahmenbedingungen. Parallel dazu müssen die einzelnen Menschen in ihrer individuellen Handlungsfähigkeit bei der Gestaltung der gesundheitsbezogenen Lebensbedingungen gestärkt werden (Empowerment). Settingansätze beinhalten somit sowohl verhältnis(system-) als auch verhaltens- (person-)orientierte Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention. Als Beispiel sei das in Australien entwickelte und erfolgreich evaluierte Programm »MindMatters« genannt, das derzeit auch in Deutschland und in der Schweiz in einem Modellversuch eingeführt wird (BZgA 2005; Franze 2006; http://www.mindmatters-schule.de). »MindMatters« hat die Förderung der psychischen Gesundheit und Prävention psychischer Störungen in der mittleren Schulzeit zum Ziel. Daneben und dadurch sollen Respekt und Toleranz gefördert und das Schulklima verbessert werden. Die Schulen werden befähigt, eine unterstützende und fürsorgliche
. Abb. 50.2. Aufbau des modualeren Programms von »MindMatters«. (Aus Franze et al. 2007)
6
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908
Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
Schulkultur aufzubauen und sich im Rahmen eines Netzwerkes »Gesundheitsfördernde Schule« (z. B. OPUS – »Offenes Partizipationsnetz und Schulgesundheit« der BundLänder-Kommission) zu engagieren. »MindMatters« bezieht Schülerinnen und Schüler, Lehrer, Leitungspersonal, nichtlehrendes Personal, Eltern und das gemeindebezogene Schulumfeld in die Entwicklung von Schule und Unterricht sowie die Förderung individueller Kompetenzen durch gezielte Trainingspro-
> Fazit Prävention setzt sich aus einer Reihe von Ebenen, Dimensionen und Facetten zusammen, die verschieden kombiniert und in unterschiedlichem Kontext angewendet werden können. Die Größe der Felder im Schaubild (. Abb. 50.1) entspricht nicht maßstabsgetreu der Bedeutung der Strategien.
50.2.2 Risiko- und Schutzfaktoren
Risikofaktoren
50
Wie beschrieben, ist das Ziel von Präventionmaßnahmen immer der Abbau von Risikobedingungen bzw. die Förderung von protektiven Faktoren, die mit der Pathogenese einer bestimmten Störung systematisch verknüpft sind. Auch in diesem Bereich gibt es eine Reihe von Begriffen, deren Verständnis für die Konzeption effizienter Präventionskonzepte von Belang ist. Hilfreich ist dabei die Unterscheidung, die von Kraemer und Kollegen vorgeschlagen wurde (Kraemer et al. 1997). Demnach bezeichnet Risiko die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten gesundheitsbezogenen Ereignisses (»outcome«) innerhalb einer bestimmten Population von Personen (z. B. die Wahrscheinlichkeit, als Mädchen im Alter von 15–17 Jahren an einer Angststörung zu erkranken). Ein Risikofaktor ist demgegenüber ein messbares Charakteristikum eines jeden Mitglieds der Population, das nachweislich dem Outcome vorausgeht und mit diesem korreliert ist. Das können sein: Attribute eines Individuums (z. B. mangelnde Fertigkeiten), Attribute der Umwelt (z. B. mangelnde soziale Unterstützung), demographische Charakteristika (z. B. Geschlecht), beeinflussbares Verhalten (z. B. Vermeidungsverhalten). Ein Risikofaktor eignet sich, um eine Population in Hochrisiko(»at risk«) und Niedrigrisikogruppe einzuteilen, je nachdem, ob und in welchem Ausmaß sie dem jeweiligen Risikofaktor ausgesetzt sind oder waren. Dabei ist das Risiko, d. h. die Wahrscheinlichkeit des Outcomes in der Hochrisikogruppe nachweisbar höher als in der Niedrigrisikogruppe. Für die Prävention ist entscheidend, ob die beteiligten Risikofaktoren ursächlich mit für die Störungsentwicklung verantwortlich oder »nur« mit ihr korreliert sind und ob sie veränderbar sind.
gamme mit ein. Das Programm stellt Unterrichts- und Arbeitsmaterialien zu verschiedensten Themenkreisen und für unterschiedliche Altergruppen anwendungsnah zur Verfügung. Dieses reicht von »Tools« zum Aufbau eines Schulteams, Situationsanalyse und Projektplanung bis hin zu Unterrichtsmaterialen, die sich mit psychischen Problemen befassen (z. B. Stress, Trauer, Mobbing, Suizid, Ängste). . Abb. 50.2 gibt einen Überblick über den modularen Aufbau des Gesamtprogramms.
Kraemer et al. (1997) spezifizieren deshalb: Nur wenn für einen Faktor gezeigt werden kann, dass er mit dem interessierenden Outcome 1. korreliert, 2. ihm zeitlich vorausgeht, 3. beeinflussbar (variabel) ist und 4. eine Modifikation des Risikofaktors zu einer Modifikation des Outcomes führt, kann von einem kausalen Risikofaktor gesprochen werden. Faktoren, die nicht veränderlich und nicht manipulierbar sind (z. B. Geschlecht) bezeichnen die Autoren als »feste Marker«. Veränderliche, jedoch nicht manipulierbare Faktoren (z. B. Alter) nennen sie »variable Marker«. Solche Marker, d. h. nichtkausale Faktoren, können als Moderator oder Mediator bei der Störungsgenese wirksam werden. Die Autoren schließen daraus: Müsste man eine begrenzte Population als Zielgruppe für ein Präventionsprogramm auswählen, so würde man eine Population mit ausgeprägten festen Markern wählen. Bei der Strukturierung eines Präventionsprogramms für diese Population muss man jedoch die kausalen Risikofaktoren in den Fokus nehmen. Feste Marker können definitionsgemäß nicht verändert werden, und veränderliche variable Marker haben definitionsgemäß keinen Einfluss auf die Prävention. (Kraemer et al. 1997, S. 343, Übersetzung durch die Autorin)
Feste und variable Marker (z. B. Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status, Vorliegen elterlicher Psychopathologie) spielen eine entscheidende Rolle bei den Screeningprozeduren sowohl für Risikofaktorstudien als auch für Interventionsstudien. Sie sind meist leicht zu messen und werden oft früher erkannt als kausale Risikofaktoren. Die Nutzung solcher Marker ist somit unter Kosten-Effektivitäts-Gesichtpunkten eine sehr ökonomische Methode zur Auswahl geeigneter Zielpopulationen für Präventionsmaßnahmen. Verschiedentlich wird in der Literatur auch zwischen distalen und proximalen Risikofaktoren, als zwei Polen eines Kontinuums, unterschieden. Distale Faktoren werden früh im Leben einer Person wirksam und tragen zur Vulnerabilität für eine Störungsentwicklung bei (z. B. perinatale Komplikationen). Proximale Faktoren sind hingegen Risi-
909 50.3 · Präventionsprogramme in Forschung und Praxis
kofaktoren, die zeitlich näher oder unmittelbar vor Störungsausbruch wirksam werden. Sie können im Sinne eines Vulnerabilitäts-Stress-Modells oft auch als Auslöser (Stresskomponente) betrachtet werden (z. B. kritische Lebensereignisse).
Schutzfaktoren Bezüglich der Abgrenzung zwischen Risikofaktoren und protektiven Faktoren (Schutzfaktoren) herrscht in der Literatur Unklarheit, ob es sich dabei um zwei Pole eines Kontinuums handelt oder um von einander unabhängige Konstrukte, die eigenständig operationalisert zusätzlichen Erkenntnisgewinn bedeuten. Generell wird von einem protektiven Faktor gesprochen, wenn durch sein Wirken die Auftretenswahrscheinlichkeit eines pathologischen Zustands (z. B. psychische Störung) erniedrigt bzw. die eines positiven oder gesunden Ergebnisses erhöht wird (Bender u. Lösel 1998; Kraemer et al. 1997). Betrachtet man die Wirkungsweise eines protektiven Faktors, so kann er einerseits auf direktem Weg die Wahrscheinlichkeit für ein drohendes Problem verringern. Andererseits kann er jedoch auch indirekt auf einen vorliegenden Risikofaktor einwirken und dessen schädliche Wirkung abpuffern. Ein Schutzfaktor ist somit nicht nur das Gegenteil von einem Risikofaktor und umgekehrt (Durlak 1995).
Beispiel Eine depressive Störung der Mutter in der Postpartalzeit stellt einen Risikofaktor für die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes dar. Allerdings kann sich ein besonders zugewandter, fördernder und unterstützender Erziehungsstil des Vaters oder anderer Bezugspersonen puffernd auf die krankheitsbedingte mangelnde emotionale Responsivität der depressiven Mutter auswirken und Entwicklungsbeeinträchtigungen beim Nachkommen verhindern helfen. Die psychopathologische elterliche Vorbelastung und das Erziehungsverhalten der Eltern sind somit inhaltlich unabhängige, aber durchaus miteinander interagierende Risiko- und Schutzfaktoren.
Auswahl von Risiko- und Schutzfaktoren für Interventionsmaßnahmen Aufgrund der Komplexität der Ätiologie der meisten psychischen Störungsbilder ist davon auszugehen, dass nicht ein einzelner Faktor für die Entstehung der Störung verantwortlich ist, sondern im Gegenteil ganze Kausalketten mit verschiedenen Moderatorvariablen und Wechselwirkungen zugrunde liegen. Nach einer Literaturübersicht von Bender und Lösel (1998) korreliert kaum ein potenzieller Risikofaktor höher als .30 mit einem bestimmten Outcome.
Sich dennoch möglichst große Klarheit über die gegebenen Risiko- und Schutzfaktoren und ihre Wirkungsweise bei der Entstehung einer bestimmten psychischen Störung zu verschaffen, ist eine Grundvoraussetzung für die Auswahl geeigneter Interventionsstrategien bei der Entwicklung von effizienten und spezifischen Präventionsmaßnahmen. Bedingt durch die multifaktorielle Genese psychischer Erkrankungen werden geeignete Interventionen in der Regel auf mehrere spezifische und unspezifische Risiko- bzw. Schutzfaktoren gleichzeitig abzielen. Möglicherweise werden aufgrund der unterschiedlichen Wirkungsweise des gleichen Faktors in verschiedenen Subpopulationen auch mehrere Varianten einer Intervention benötigt. Daneben kommt der Auswahl geeigneter sensitiver und spezifischer Markervariablen für Zielgruppen mit einem besonders hohen Erkrankungsrisiko im Rahmen von zielgruppenbezogenen (d. h. selektiven oder indizierten) Präventionsansätzen eine große Bedeutung zu. . Tab. 50.2 gibt einen Überblick über Risiko- und protektive Faktoren für Angststörungen sowie mögliche Präventionsstrategien, die sich daraus ableiten lassen.
50.3
Präventionsprogramme in Forschung und Praxis
In den vergangenen Jahren sind eine Reihe von Übersichtsarbeiten zum Stand der Präventionsforschung im Kindesund Jugendalter publiziert worden, die versuchen, das international kaum noch zu überblickende Angebot an Maßnahmen zusammenzufassen und anhand übergeordneter Kriterien zu bewerten (Beelmann 2006; Catalano et al. 1998; Durlak u. Wells 1997; Greenberg et al. 2001; Heinrichs et al. 2002; Horowitz u. Garber 2006; Jané-Llopis et al. 2003; Stice u. Shaw 2004; WHO 2004). Offensichtlich ist, dass sich dabei in jüngster Zeit ein höherer Anspruch an die evidenzbasierte Konzeption und Evaluation durchsetzt. Dennoch bleibt der Fokus der einzelnen Arbeiten bezüglich eingeschlossener Anwendungsfelder, Altersgruppen und Präventionsansätze divers. Maßnahmen beziehen sich auf die Prävention von expansivem Problemverhalten (Aggressivität, Delinquenz) und Substanzmissbrauch, internalen Auffälligkeiten (Ängste, Depressivität, Anpassungprobleme), Essstörungen, Entwicklungsstörungen, Schwangerschaft bei Minderjährigen, HIV, Suizid, Umgang mit Meilensteinen bzw. kritischen Lebensereignissen (Tod, Scheidung, psychische Erkrankung der Eltern), Kindesmisshandlung und -missbrauch und anderes. Im Folgenden soll ein Überblick über den Forschungsstand bezüglich der wichtigsten psychischen Probleme, die für das Kindes- und Jugendalter relevant sind, gegeben und an ausgewählten Beispielen illustriert werden.
50
910
Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
. Tab. 50.2. Strategien zur Prävention von spezifischen Risiko- und Schutzfaktoren für Angststörungen. (Übersetzt und modifiziert nach Hudson et al. 2004) Risikofaktor
Primäre Präventionsstrategie
Individuelle Merkmale Kognitive Fehleinschätzung von Bedrohungsreizen
Wissen über Angst vermitteln, um die Fähigkeit zur Erkennung ängstlichen Affektes und assoziierter somatischer Symptome zu verbessern und Missinterpretation von Symptomen zu vermeiden Fähigkeit vermitteln, unrealistische Bedrohungsinterpretationen in Frage zu stellen und realistische alternative Erklärungen der Situation zu betrachten Fähigkeiten zur adäquaten Bewertung von Bedrohung in der Umwelt vermitteln Fähigkeiten im Umgang mit der Umwelt und zur Kontrolle der Umwelt verbessern
Vermeidender Temperamentstil in neuen oder potenziell bedrohlichen Situationen
Fähigkeit vermitteln, mehrere Lösungen für eine Situation zu generieren und angemessene Annäherungs- oder Vermeidungsstrategien auszuwählen
Vermeidender oder emotionsfokussierender Copingstil
Problemlöseansätze zum Umgang mit Angst vermitteln (problemorientiertes Coping fördern)
Wissensvermittlung zur Angstbewältigung in Situationen, die unrealistische Furcht verursachen, aber dennoch bewältigt werden müssen
Familie, Peergruppe und andere Umweltfaktoren Unsichere Bindung
Wissen über eine sichere Eltern-Kind-Beziehung vermitteln sowie Eltern beim Aufbau einer solchen unterstützen
Angst der Eltern
Wissen und Fertigkeiten zum Umgang mit der eigenen Angst an die Eltern vermitteln
Umwelt, die Vermeidungsverhalten unterstützt
Fähigkeiten zur konstruktiven Unterstützung ängstlicher Familienmitglieder, Freunde oder Kollegen vermitteln
Peereinflüsse durch Shaping
Ökologische Veränderungen in Schul- und Arbeitsumfeld anstoßen; paarweises Zusammenführen ängstlich-gehemmter und angepasster Personen (Modellbildung)
Mobbing
Insbesondere in Schulen die Akzeptanz von Unterschieden fördern, um das Mobbing-Potenzial ängstlicher Kinder zu verringern
Mangelnde soziale Unterstützung
Wissen über die Vorteile sozialer Unterstützung vermitteln, insbesondere darüber, wie man solche Unterstützung bekommt und sie in Stresszeiten nutzt
Angemessenes Annäherungs- statt Vermeidungsverhalten fördern
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This material originally appeared in English as Hudson, Flannery-Schroeder & Kendall 2004. Copyright © 2004 by the American Psychological Association. Translated and reproduced with permission of the publisher and the author. The American Psychological Association is not responsible for the accuracy of this translation. The official citation that should be used in referencing this material is Hudson, Flannery-Schroeder & Kendall 2004. The use of APA information does not imply endorsement by APA.
50.3.1 Allgemeine Wirksamkeit von
Präventionsmaßnahmen Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt in ihrem Bericht zum Stand der Präventionsforschung aus dem Jahr 2004 ein, dass es mittlerweile für eine Reihe von psychischen Störungen effektive Präventionsansätze gibt, die ihren breiten Einsatz rechtfertigen (WHO 2004). In einer Sekundäranalyse von 23 umfangreichen Übersichtsarbeiten (davon 19 Metaanalysen) zu verschiedenen Präventionsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren ermittelte Beelmann (2006) eine durchschnittliche Effektstärke (ES) der Programme von d=0.10 bis d=1.07 in kontrollierten Studien. Bei einer beträchtlichen Schwankungsbreite deuten die Berechnungen damit auf eine durchschnittliche Verbesserung von einem Drittel bis zu einer halben Standardabweichung in den jeweiligen Erfolgsmaßen zum Zeitpunkt unmittelbar nach
der jeweiligen Intervention, und damit auf zumeist kleine bis mittlere Effekte hin. Bezüglich der langfristigen Wirksamkeit ist zu konstatieren, dass die Effekte in den meisten Studien im Followup-Intervall deutlich zurückgehen oder dass langfristige Programmwirkungen teilweise in anderen Variablen zu finden sind als in den primären Zielbereichen. Allerdings fehlen vielfach langfristige Nachuntersuchungen über 6 Monate bzw. ein Jahr hinaus, so dass zuverlässige Schlüsse daraus (noch) nicht abgeleitet werden können. Gerade weil Prävention jedoch auf langfristige Ziele orientiert ist, sind solche Untersuchungen zukünftig unbedingt zu fordern.
Universell vs. zielgruppenspezifisch? Relativ eindeutig ist nach derzeitigem Stand belegt, dass zielgruppenspezifische Maßnahmen, die sich an Risikopopulationen richten, im Durchschnitt eine höhere Wirksam-
911 50.3 · Präventionsprogramme in Forschung und Praxis
keit zeigen als solche, die großflächig unselegierten, d. h. großteils unauffälligen Stichproben angeboten werden (z. B. ganze Schulklassen) (Beelmann 2006). In einer Metaanalyse von 177 Präventionsstudien aus verschiedenen Bereichen ermittelten Durlak und Wells (1997) eine durchschnittliche Effektstärke von d=0.34 für universelle und selektive und d=0.50 für indizierte Programmansätze. Spezifisch für die Prävention von depressiven Störungen fassten Horowitz und Garber (2006) die Ergebnisse von 30 kontrollierten Studien zusammen. Bei einer durchschnittlichen Effektstärke von d=0.16 (Range: –0.62 bis 1.51) kamen unmittelbar nach der Intervention selektive Maßnahmen auf ES d=0.30, indizierte auf ES d=0.24, während universelle Interventionen eine signifikant geringere Wirksamkeit zeigten (ES d=0.12). Zum 6-Monats-Follow-up verschärften sich die signifikanten Unterschiede (universell: ES d=0.02, selektiv: ES d=0.34, indiziert: ES d=0.31).
Wie muss ein wirksames Programm aufgebaut sein? Nach derzeitigem Kenntnisstand lässt sich sagen, dass vor allem solche psychologischen Interventionen wirksam sind, die mit kognitiv-behavioralen Methoden arbeiten. Die Maßnahmen sollten strukturiert, fähigkeitsorientiert und interaktiv sein. Das heißt, sie sollten nicht nur Wissen vermitteln, sondern Verhaltenskompetenzen systematisch und praktisch trainieren (Beelmann 2006; Durlak u. Wells 1997; WHO 2004). Praktische Erfahrungen steigern den Kompetenzerwerb und fördern die Einstellungsänderung. Entscheidend ist häufig auch die enge Verzahnung von Maßnahmen für die am Problem bzw. dessen Aufrechterhaltung beteiligten Personen (z. B. Schüler, Eltern, Lehrer) sowie verschiedener Interventionsebenen, z. B. Schulprogramme, Gesetzgebung und Medienkampagnen, d. h. von Verhältnis- und Verhaltensprävention (s. unten).
Wie lang muss die Intervention sein? Während in der Metaanalyse von Beelmann (2006) widersprüchliche Ergebnisse zur optimalen Programmdauer vorlagen, so fanden Horowitz und Garber (2006) in den 30 untersuchten Präventionsstudien keine systematischen Unterschiede zwischen kurzen (3 Sitzungen) und langen Interventionen (z. B. kontinuierliches Programm über ein Schuljahr hinweg). Vermutlich ist diese Frage auch nicht allgemeingütlig zu beantworten. Vielmehr liegt nahe, dass Teilnehmer mit einer unterschiedlichen Risikobelastung auch eine entsprechend angepasste »Dosierung« (und ggf. auch inhaltlichen Anpassung) einer Intervention benötigen (Junge 2003).
Für wen wirkt die Prävention? Bezüglich Alter und Geschlecht lassen sich bei der Auswahl geeigneter Zielgruppen keine allgemeingültigen Festlegungen treffen. Durlak und Wells (1997) fanden größere Effekte bei Programmen zur Förderung von Kompetenzen
bei jüngeren Kindern. Horowitz und Garber (2006) und Stice und Shaw (2004) berichten für die Depressions- bzw. Essstörungsprävention von Tendenzen für eine bessere Wirksamkeit der Programme bei älteren Jugendlichen, zumindest kurzfristig. Systematische Daten, die einen umfassenden Vergleich von Präventionsmaßnahmen mit unterschiedlichen Altersgruppen bei gleichem Präventionsziel erlauben würden, liegen nicht vor. Dies gilt genauso für Unterscheidungen nach dem Geschlecht. Grundsätzlich sollte sich die Auswahl der Teilnehmer an einer evidenzbasierten Präventionsmaßnahme am spezifischen Präventionsziel (Zielstörung) orientieren. Sie sollte eng an das Wissen über relevante Risikofaktoren und ihr zeitliches Auftreten im Entwicklungsverlauf gekoppelt sein. Dabei kann es Sinn machen, beispielsweise bei Jugendlichen mit geschlechtsgetrennten Gruppen zu arbeiten, um altersspezifischen Themen angemessen aufgreifen zu können (z. B. »LARS&LISA«; Pössel et al. 2004). Wichtig ist für die Wirksamkeit einer Maßnahme ebenso, dass die Intervention inhaltlich und didaktisch, d. h. auch in den Anforderungen, die sie an die Kursteilnehmer stellt, auf deren emotionale und kognitive Leistungsvoraussetzungen abgestimmt ist. Beispielsweise setzen viele kognitiv-behaviorale Ansätze, die mit Rollenspielen und Verhaltensübungen arbeiten, ein Mindestmaß an sozialer Kompetenz der Teilnehmer voraus. Diese müssen bereit sein, sich im Rahmen der Schulklasse auf Aktivitäten mit Selbsterfahrungsanteil einzulassen. Dies ist gerade in der Arbeit mit Jugendgruppen nicht immer vorauszusetzen. Auf ausreichende Homogenität der Gruppe im Bezug auf das Präventionsziel ist im Interesse der Wirksamkeit somit unbedingt zu achten. Dies gilt auch für kognitive Anforderungen, die z. B. bei schulischen Maßnahmen dem Schultyp angemessen sein sollten (Junge 2003).
Sollte man die Eltern und andere Bezugspersonen mit einbeziehen? Grundsätzlich spricht vieles dafür, die Eltern mit in Präventionsmaßnahmen einzubinden. Dies trifft – gerade im Rahmen von verhältnisorientierten Präventionsmaßnahmen – selbstverständlich auch für Lehrer und andere Bezugspersonen zu, die das erzieherische Umfeld der Kinder und Jugendlichen prägen und Modelle für angemessenes Gesundheitsverhalten darstellen sollten. Demzufolge gibt es eine Reihe von Programmen, die sich (auch) spezifisch an die Erziehungskompetenzen von Eltern richten und auf die Prävention von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten abzielen [z. B. »Incredible Years Parenting Program« als Modul von »Head Start«, WebsterStratton et al. 2001; »Fast Track«, Conduct Problems Prevention Research Group (CPPRG) 1999]. Ein prominentes internationales und auch im deutschsprachigen Raum verbreitetes Beispiel ist das »Triple P-Programm«.
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912
Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
Beispiel Positive Parenting Program (Triple P-Programm) Das »Triple P-Programm«(»Positive Parenting Program«) trat seinen Erfolgszug in den 1990er Jahren in Australien an, wurde dort umfassend evaluiert und wird seither ständig weiterentwickelt, in vielen Ländern eingesetzt, überprüft und für neue Zielgruppen adaptiert (Sanders 1999). In Deutschland befindet sich das Triple-P-Zentrum in Münster (http://www.triplep.de). »Triple P« besteht aus fünf Interventionsstufen mit unterschiedlichem Präventionsansatz und verschiedener Intensität (. Tab. 50.3).
Mittlerweile ist »Triple P« durch die konsequente Evaluation und den Wirksamkeitsnachweis im Bezug auf den Rückgang von Verhaltensauffälligkeiten des Kindes, die Verbesserung des Erziehungsverhaltens der Eltern sowie der Stressbewältigung in der Familie als effiziente Präventionsmaßnahme international anerkannt (Heinrichs et al. 2006; WHO 2004)
. Tab. 50.3. Übersicht über das Triple P-Programm. (Mod. nach Triple P 2008) Interventionsebene
Zielgruppe
Inhalte
Methoden
Ebene 1 Universelles Triple P
Alle Interessenten
Allgemeine Informationen und Unterstützung einer positiven Erziehung; Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz des Erziehungstrainings
Information durch Videos, Broschüren und Ratgeber (»Kleine Helfer«); Berichterstattung in Presse und Fernsehen, (wissenschaftliche) Vorträge
Ebene 2 Kurzberatung
Eltern mit spezifischen Anliegen
Konkreter Unterstützung bei Erziehungsfragen durch Fachleute mit Triple-P-Fortbildung
Bis zu zwei Kurzkontakte (ca. 20 Minuten) mit einem Triple-P-Berater (persönlich oder telefonisch)
Ebene 3 Kurzberatung mit Übungen
Eltern mit spezifischen Anliegen, die Kompetenzen aktiv erlernen wollen
Kurzberatung zur Unterstützung der Bewältigung ausgewählter Erziehungsschwierigkeiten mit aktivem Training durch Fachleute
Vier persönliche Kurzkontakte mit einem Triple-P-Berater à 20–30 Minuten
Ebene 4 Elterntraining
Eltern, die in einem intensiven Training die Strategie der positiven Erziehung und zum Umgang mit Problemverhalten erlernen wollen
Intensives Elterntraining durch Fachleute mit Trainerfortbildung; Programm konzentriert sich auf ElternKind-Interaktion; Vermittlung der Anwendung und Übertragung von Erziehungsfertigkeiten auf vielfältige Erziehungssituationen und kindliche Verhaltensweisen
Durchführung in Gruppen (4 Sitzungen à 2 Stunden + 4 Telefonkontakte über insgesamt 8 Wochen), oder Einzeltraining oder unter Selbstanleitung mit dem Triple-P-Elternarbeitsbuch
Ebene 5 Erweitertes Triple P
Eltern mit zusätzlichen Belastungen
Intensives und individuelles Training zur weiteren Verbesserung der Erziehungsfertigkeiten durch Übungen zu Hause; Training von Emotions- und Stressmanagement der Eltern und Partnerunterstützung
Bis zu 10 individuell angepasste Trainingseinheiten mit psychotherapeutisch ausgebildeten Fachleuten
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Aber auch bei anderen Problembereichen, z. B. emotionalen Störungen, werden Elterninterventionen als alleinige elternzentrierte Maßnahme (»Macquire Preschool Intervention Project«; Rapee et al. 2005), als umfangreicheres Begleitprogramm (»Resourceful Adolescent Program«; Shochet et al. 2001) oder als flankierende Maßnahme zum kindzentrierten Programm mit wenigen Sitzungen (»Queensland Early Intervention and Prevention of Anxiety Project«; Dadds et al. 1999) eingebunden. Die Ergebnisse dieses Multikomponenten-Vorgehens sind sehr unterschiedlich und scheinen gerade auch vom Alter des Kindes abzuhängen. Je älter die Kinder und Jugendlichen sind, desto schwieriger wird es unserer Erfahrung nach in der Pra-
xis, die Eltern für eine begleitende Maßnahme zu rekrutieren (vgl. Heinrichs et al. 2002; Junge 2003). In der oben genannten Untersuchung von Shochet und Mitarbeitern (2001) zur Evaluation der Familienvariante des »Resourceful Adolescent Program« nahmen, trotz intensiver Bemühungen, gerade mal 10% der Eltern an drei 3-stündigen Elternsitzungen teil, so dass diese Programmbedingung nicht einmal evaluiert werden konnte. Andererseits sind Programme wie »Incredible Years«/ »Head Start« (Webster-Stratton et al. 2001), die schon mit 4-jährigen Kindern beginnen, ein gutes Beispiel dafür, wie die frühzeitige Einbindung von Eltern und Lehrern durch geeignete Programmmodule Verhaltensproblemen in Risi-
913 50.3 · Präventionsprogramme in Forschung und Praxis
kogruppen signifikant vorbeugen kann. Auch hier lag die Teilnahmerate der Mütter nur um 50%, die der Väter noch darunter. Durch die Partizipation verbesserten sich jedoch die Verhaltensprobleme der Kinder zu Hause und in der Schule sowie die Kooperation zwischen Eltern und Lehrern signifikant. Gerade für die Prävention von Verhaltensproblemen ist das konsistente und positive Erziehungsverhalten der Bezugspersonen in verschiedenen Kontexten von zentraler Bedeutung. Eine Maßnahme, die möglichst viele Interaktionspartner integriert, ist somit von besonderer Relevanz. > Fazit Die Entscheidung, ob eine eltern- oder kindzentrierte Präventionsmaßnahme gewählt wird, sollte somit letztlich vom Wissen über die Ätiopathogenese und Aufrechterhaltung einer Störung, d. h. über die entscheidenden Risikofaktoren und ihre Wirkungsweise in sensiblen Entwicklungsphasen vor der Ersterkrankung sowie die Kenntnis der entwicklungsbezogenen Besonderheiten der jeweiligen Zielgruppe abhängig gemacht werden.
Prävention im Internet? In jüngerer Zeit gewinnen internetbasierte Präventionsansätze zunehmend an Bedeutung, auch wenn die differenzielle Begleitforschung zur Wirksamkeit von Internet-Interventionen im systematischen Vergleich mit traditionellen Angeboten im gleichen Anwendungsfeld noch in den Kinderschuhen steckt (s. zu Internetinterventionen auch 7 Kap. I/24 und 7 Kap. III/15). Internet-Präventionsangebote reichen von OnlinePlattformen wie beispielsweise http://www.drugcom.de, einem umfassenden Angebot der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA 2004) zur Prävention von Substanzmissbrauch bis zu internetgestützten Kursen für spezifische Zielgruppen (z. B. Programm »Quit the shit« als Bestandteil von http://www.drugcom.de der BZgA für User mit einem auffälligen Cannabiskonsum; »Student Bodies« zur Prävention von Essstörungen, s. unten), die jeweils nur für geschlossene Gruppen zugänglich sind und durch professionelle Therapeuten online eng betreut werden. Dabei werden die heute zur Verfügung stehenden MultimediaMöglichkeiten zur Wissensvermittlung, aber auch für interaktive Trainingsmodule sowie die Evaluation genutzt. Zu den wichtigsten Vorteilen internetbasierter Interventionen gehören nach Zabinski und Mitarbeitern (2003) die gute Zugänglichkeit und Verfügbarkeit bei geringen Kosten, vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene. Gerade die Möglichkeit, sich zu einem beliebigen Zeitpunkt in das Angebot einzuloggen, kommt den Alltagserfordernissen einer hohen Flexibilität entgegen und macht solche Angebote – neben den interaktiven Gestaltungsoptionen – besonders attraktiv. Die Anonymität, z. B. durch Verwendung von »Nicknames« setzt die Hemmschwelle für den Austausch persönlicher Inhalte herunter und verringert
den sozialen Druck anderer Gruppenangebote. Die Informationsbeschaffung ist einfach und persönlich steuerbar. Durch das virtuelle Zusammentreffen mit Gleichgesinnten entsteht das Gefühl sozialer Unterstützung, Modelllernen wird erleichtert. Einige der genannten Vorteile bergen jedoch selbst auch mögliche Nachteile oder Gefahren. So ist für den Internetnutzer nicht immer klar erkennbar, welche Informationsquellen seriös und vertrauenswürdig sind. Nonverbale Kommunikationssignale fehlen und Modelllernen kann auch entgegen der intendierten Richtung erfolgen (z. B. Austausch über besonders radikale Diäten). Computer und Internet sind, trotz weiter Verbreitung nicht für jeden verfügbar. Nicht jeder Teilnehmer an einer Internetgruppe ist gleichermaßen geübt in der Nutzung des Mediums, was die Evaluation erschwert. Selbst wenn Online-Gruppen beispielsweise in »Chatrooms« durch qualifizierte Moderatoren angeleitet und supervidiert werden, ist es im Einzelfall nicht immer möglich, bei Krisen angemessen zu intervenieren, z. B. wenn ein Teilnehmer Suizidgedanken äußert und ein persönlicher therapeutischer Kontakt indiziert ist. Einige dieser Nachteile lassen sich durch eine entsprechende konzeptuelle Planung und Organisation (z. B. Erhebung realer Kontaktinformationen für den Bedarfsfall, Unterstützung der realen Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung, enge Online-Betreuung, inklusive E-Mails »unter vier Augen«) zumindest relativieren. Die Möglichkeiten dazu sollten bei der Konzeption internetgestützter Präventions- und Therapieangebote sorgfältig geprüft werden. Die Chancen der Nutzung des Internets als – gerade für junge Menschen attraktive – Plattform für Informationsaustausch, Lernen und Einstellungsbildung sollten nicht unterschätzt, sondern konstruktiv genutzt werden.
50.3.2 Prävention spezifischer Störungen
Prävention von kindlichen Verhaltensstörungen Häufig zielen Programme zur Prävention von Verhaltensstörungen gleichzeitig auf die Vorbeugung bzw. den Abbau von Aggression, Gewalt, Delinquenz und auch Substanzmittelkonsum ab, da ihre Risikofaktoren überlappen und die Störungen komorbide auftreten. Dieser Problembereich der externalisierenden Auffälligkeiten geht vielfach mit einer Reihe schwerwiegender weiterer Defizite wie Schulversagen, Problemen bei der Beziehungsgestaltung im Erwachsenenalter, Integration in den Arbeitsprozess etc. einher und verursacht beträchtliche soziale und ökonomische Kosten für das Gemeinwesen (WHO 2004). Als Risikofaktoren für Verhaltensstörungen gelten biologische Merkmale, z. B. männliches Geschlecht, prä- und perinatale Risiken wie Nikotin-, Drogen- und Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft, die genetische Veranlagung und eine komorbide Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung. Zu den psychischen Risikofaktoren
50
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50
Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
zählen ein schwieriges Temperament, mangelnde Impulskontrolle bzw. Probleme bei der Emotionsregulation sowie intellektuelle Defizite. Als sozial-ökologische Risikofaktoren sind eine unsichere Eltern-Kind-Bindung, eine restriktive, inkonsistente und ablehnende Erziehungshaltung mit wenig emotionaler Unterstützung und Wärme, elterliches antisoziales Verhalten, Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen, geringe Popularität unter Peers, Schulversagen sowie Umgebungsbedingungen wie Armut, Diskriminierung und Kriminalität im sozialen Umfeld zu nennen (Brezinka 2003; WHO 2004). Aufbauend auf dem empirischen Wissen um diese Risikofaktoren und aktuelle Erkenntnisse der Entwicklungspsychopathologie (für Übersichten dazu 7 Kap. III/2 sowie Scheithauer et al. 2003) verfolgen erfolgreiche Präventionsprogramme bei Verhaltensstörungen einen multimodalen Ansatz, der sich durch eine Kombination von Elterntraining mit sozial-kognitivem Problemlösetraining für das Kind auszeichnet. Ergänzend werden je nach Programm Lehrer-/Klassentraining und Lesetraining zur Förderung der akademischen Leistungsfähigkeit kombiniert. Programme, die sich kontinuierlich über einen längeren Zeitraum (mehrere Jahre) erstrecken, frühzeitig beginnen und intensiv sind (z. B. durch Einbezug individueller Einzeltrainings) scheinen besonders zum Abbau des Problemverhaltens und zur Verbesserung der langfristigen sozialen Anpassung beizutragen. Alle oben erwähnten Präventionsstrategien (universell, selektiv, indiziert) haben entsprechend der Beeinträchtigung der Zielpopulation ihre Berechtigung oder werden sogar kombiniert. Einen Überblick über internationale evidenzbasierte Präventionsprogramme für Verhaltensstörungen gibt . Tab. 50.4. Im deutschen Sprachraum sind in den letzten Jahren eine Reihe von Programmen zu Prävention von Verhal-
tensauffälligkeiten und Gewalt erschienen, die sich ebenso zumeist verhaltenstherapeutischer Konzepte bedienen und ihre Wirksamkeit bezüglich der Reduktion von Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsproblemen – zumindest kurzfristig – unter Beweis gestellt haben. Dazu gehört das in . Tab. 50.3 bereits dargestellte »Triple P-Programm« (je nach Interventionsebene universell, selektiv, indiziert). Erwähnenswert sind weiterhin als universelle Ansätze die Programme »ProAct + E«, »EFFEKT« und »Faustlos« und als indizierte Maßnahme das Programm »PEP«. Bereits im Vorschulalter setzt das Programm »EFFEKT« (Entwicklungsförderung in Familien: Eltern und Kindertraining) ein (Lösel et al. 2006). Hier werden ein 15 Sitzungen umfassendes Kinder-Gruppentraining im Kindergarten und ein Elterntraining (5 Sitzungen) kombiniert, wobei die Fähigkeiten der Kinder zum sozialen Problemlösen interaktiv aufgebaut und traininert werden. Daneben werden die Erziehungskompetenz und Stressresistenz der Eltern im Sinne einer positiven, verstärkenden Erziehung gefördert An Grundschul-, aber auch Kindergartenkinder ist das Programm »Faustlos« (Schick 2003; http://www.faustlos. de) gerichtet, eine deutsche Version des amerikanischen Programms »Second Step« (Grossman et al. 1997). »Faustlos« verfolgt das Ziel der Gewaltprävention durch Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen (Empathie, Impulskontrolle, angemessener Umgang mit Ärger und Wut). Es ist mit insgesamt 51 Lektionen (je eine alle 2 Wochen) als kontinuierliches Curriculum konzipiert, das von trainierten Lehrern und Erziehern durchgeführt wird. Für Schüler weiterführender Schulen steht »ProAct +E (to take PROmpt ACTion)« zur Verfügung (Spröber et al. 2006). Es ist ein Mehr-Ebenen-Programm zur Prävention von »bullying« an Schulen und zur Förderung einer positiven Sozialentwickung. Die Intervention wird in den 5. Klassen eingesetzt und kombiniert Klassentraining
. Tab. 50.4. Auswahl internationaler evidenzbasierter Programme zur Reduktion und Prävention von externalen Verhaltensauffälligkeiten. (Modifiziert und ergänzt nach WHO 2004 und Brezinka 2003) Ansatz
Strategie
Programm
Universell
Verhaltensmanagement durch operante Methoden (Verstärkung positiven Betragens)
Good Behavior Game (GBG) (Kellam et al. 1994) Triple P-Programm (Heinrichs et al. 2006)
Verbesserung der sozialen Problemlösefertigkeiten
Promoting Alternative Thinking Strategies (PATHS) (Greenberg et al. 1995) Second Step (Grossman et al. 1997) Faustlos (Schick u. Cierpka 2003)
Multimodale Schulprogramme
Seattle Social Development Project (SDP) (Hawkins et al. 1999) Linking the Interests of Families and Teachers Programme (LIFT) (Reid et al. 1999) Entwicklungsförderung in Familien: Eltern und Kindertraining (EFFEKT) (Lösel et al. 2006) ProAct + E (to take PROmpt ACTion) (Spröber et al. 2006)
Selektiv
Indiziert
Ansatz in der frühen Kindheit
Incredible Years Programme/Head Start (Webster-Stratton et al. 2001)
Schul- oder Gemeindebasierte Intervention
Adolescent Transition Programme (Dishion u. Andrews 1995)
Multimodale Schulprogramme für Risikokinder
Families and School Together (FAST TRACK) [Conduct Problems Prevention Research Group (CPPRG) 1999] Präventionsprogramm für expansives Problemverhalten (PEP) (Hanisch et al. 2006)
915 50.3 · Präventionsprogramme in Forschung und Praxis
(34-stündige Sitzungen), Lehrerberatung (3 Sitzungen) und Elterntraining (3 2½-stündige Sitzungen). Vermittelt werden vor allem Methoden zum Konfliktmanagement, zum Training sozialer Fertigkeiten und zum konsistenten Erziehungsverhalten. Das indizierte Präventionsprogramm »PEP (Präventionsprogramm für expanisves Problemverhalten)« richtet sich an Eltern und Erzieher 3- bis 6-jähriger Kinder mit aggressivem, oppositionellem und hyperaktiven Verhaltensauffälligkeiten (Hanisch et al. 2006). Dabei werden Eltern und Erziehern getrennt in 10 Gruppensitzungen problembezogen angemessene Erziehungsstrategien vermittelt. Ziel ist die Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion und die langfristige Implementierung der Fertigkeiten in den Alltag. Zusätzlich werden die Teilnehmer durch regelmäßige telefonische Supervision betreut, wobei das Programm explizit auf die Belange von Personen aus der Bildungsunterschicht zugeschnitten ist.
Prävention von Angstund depressiven Störungen International finden sich weit mehr Programme und die entsprechende Begleitforschung zur Prävention von Depressionen als zu Angststörungen. Dennoch gibt es auch in diesem Bereich in den letzten Jahren eine beträchtliche Entwicklung. Die meisten dieser Ansätze sind kognitiv-behavioral in ihrer Ausrichtung und setzen am aktuellen Wissen über Risikofaktoren für diese Störungsbereiche an. Auch hier geht man von biologischen (z. B. neurobiologische Vulnerabilität des physiologischen und endokrinen StressResponse-Systems, genetische Disposition), psychologischen (z. B. kognitive Dispositionen) und sozialen bzw. umweltbezogenen (z. B. elterliches überprotektives oder ablehnendes Erziehungsverhalten) Risikofaktoren aus. . Tab. 50.5 repräsentiert den Forschungsstand zum Bereich Angst und soll hier nicht wiederholt werden. Als Risikofaktoren für depressive Störungen sind kognitive Faktoren zu nennen (z. B. niedriges Selbstbewusst-
sein, negatives Körperbild, pessimistische bzw. depressogene Attributionsstile, Hoffnungslosigkeit, niedrige Selbstwirksamkeitserwartung), familiäre Faktoren (z. B. elterliche psychische Störungen, gestörte Eltern-Kind-Interaktion, Beziehungskonflikte, mangelnde emotionale Responsivität der Eltern), kritische Lebensereignisse und alltägliche Belastungen sowie individuelle Faktoren (z. B. soziale Kompetenzdefizite, komorbide Störungen, Schulprobleme, schwieriges Temperament, interpersonelle Probleme mit Peers, chronische Erkrankungen; Essau 2004). Die folgende . Tab. 50.5 gibt einen Überblick über eine Auswahl internationaler Präventionsprogramme für Angst und Depression, für die Wirksamkeitsnachweise erbracht wurden. Im deutschen Sprachraum stehen derzeit die Übersetzung des »Friends«-Programms zur Verfügung sowie die beiden in Deutschland entwickelten Programme »GO!« (Angst und Depression) und »LARS&LISA« (Depression). Das Programm »GO!« (Gesundheit und Optimismus; Junge et al. 2002) ist eine schulbasierte kognitiv-behaviorale Intervention, die sich an Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren richtet. In dem Programm mit 8 wöchentlichen Sitzungen sind störungsspezifische Komponenten enthalten (kognitive Umstrukturierung, Abbau von Vermeidungsverhalten, Psychoedukation zu den Prozessen bei Angst und Depression), genauso wie allgemein gesundheitsfördernde Elemente (z. B. Entspannung, Problemlösefertigkeiten, soziale Kompetenz). Durch Rollenspiele, Verhaltensexperimente und vielfältige Arbeitsmaterialien (z. B. Arbeitsblätter zur kognitiven Umstrukturierung) ist das Programm interaktiv gestaltet. Nähere Beschreibungen zum Programminhalt finden sich bei Junge et al. 2002. »GO!« wurde bisher in Deutschland, der Schweiz und Österreich evaluiert. Dabei zeigten sich die stärksten Interventionseffekte im Rahmen selektiver Präventionsansätze (Junge et al. 2006). Das Programm »GO!« wurde in Deutschland von den Krankenkassen gemäß § 20 SGB, Abs. 1 und 2 als Gruppenkurs im Rahmen der Primärprävention mit
. Tab. 50.5. Internationale evidenzbasierte Programme zur Prävention von Angst und Depression (Auswahl) Ansatz
Zielbereich/Strategie
Programm
Universell
Angst und Depression; kognitiv-behaviorale Gruppeninternvention in der Schule
Friends (Barrett u. Turner 2001; Lowry-Webster et al. 2001) Gesundheit und Optimismus (GO!) (Junge et al. 2002)
Depression; kognitive Umstrukturierung und Förderung der Problemlösekompetenzen
Problem Solving for Life-Program (PSFL) (Spence et al. 2003) Lust an realistischer Sicht & Leichtigkeit im sozialen Alltag (LARS&LISA)(Pössel et al. 2004a, b)
Depression; Wahrnehmung und Förderung von Ressourcen, Selbst- und Stressmanagement
Resourceful Adolescent Program (RAP) (Shochet et al. 2001)
Angst; kognitiv-behaviorale Gruppenintervention, Begleitprogramm für Eltern
Macquire Early Intervention and Prevention Anxiety Project (Dadds et al. 1999)
Angst; Elternprogramm für verhaltensgehemmte Kinder
Macquire Preschool Intervention Project (Rapee et al. 2005)
Depression; kognitiv-behaviorale Intervention
Coping with Stress Course (Clarke et al. 1995; 2001) Penn Prevention Program (PPP) (Gillham u. Reivich 1999; Gillham et al. 1995)
Selektiv
Selektiv, indiziert
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Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
dem Präventionsprinzip »Förderung individueller Kompetenzen der Belastungsverarbeitung zur Vermeidung stressbedingter Gesundheitsrisiken« als förderfähig anerkannt (Kostenerstattung für Kursteilnehmer). »LARS&LISA« (Lust Auf Realistische Sicht und Leichtigkeit Im Sozialen Alltag; Pössel et al. 2004b) ist ebenfalls ein kognitiv-behaviorales, schulbasiertes Programm mit 10 Sitzungen, die in geschlechtsgetrennten Gruppen durchgeführt werden. Es umfasst einen Schwerpunkt zur kognitiven Umstrukturierung sowie ein soziales Modul (Selbstsicherheitstraining, Aufbau eines sozialen Netzwerkes). Das Programm wurde für Realschüler der 8. Jahrgangsstufe entwickelt und hier auch erfolgreich evaluiert. Derzeit erprobt die Arbeitsgruppe die Möglichkeiten und Grenzen eines Programms zum expressiven Schreiben in der Depressionsprävention bei Jugendlichen (Pössel et al. 2006).
Prävention von Essstörungen
50
Besonderheiten im Essverhalten (z. B. Diät halten, Essanfälle) bzw. manifeste Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge Eating Disorder) sind gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen prävalent, und ihre Häufigkeit nimmt zu. Demzufolge hat sich die Präventionsforschung auch diesem Anwendungsbereich zugewandt. Als Risikofaktoren für Esstörungen, an denen Präventionsmaßnahmen ansetzen oder anhand derer Zielgruppen ausgewählt werden können, sind u. a. zu nennen: weibliches Geschlecht, jugendliches Alter, übermäßige Beschäftigung mit Figur und Gewicht, Diäthalten bzw. gezügeltes Essverhalten, niedriges Selbstwertgefühl bzw. negatives Selbstkonzept, frühkindliche Essverhaltensstörungen, sexueller Missbrauch, mangelnde Interozeptionsfähigkeit, andere Psychopathologie, familiäre Vorbelastung, Besonderheiten in der familiären Interaktion, aber auch Leistungssport bzw. die Zugehörigkeit zu bestimmten gewichtsbezogenen Subkulturen (Tänzer, Modells) (Jacobi et al. 2004). Stice und Shaw (2004) definieren anhand einer Übersicht von 51 relevanten Studien mittlerweile drei Generati-
onen von Interventionen zur Prävention von Essstörungen. Die Maßnahmen der ersten Generation waren vor allem psychoedukativer Natur und folgten der Annahme, dass die Vermittlung von Wissen über gesunde Ernährung und die Risiken von Diätverhalten, die Einstellungen zu Figur und Gewicht verändern und damit Essstörungen vorbeugen würden. Diese meist universellen Interventionen führten zwar zu einer Zunahme von Wissen in den Zielgruppen, nicht jedoch zu einer Abnahme bzw. Prävention der eigentlichen Psychopathologie. In der zweiten Generation beinhalteten – die ebenfalls zumeist universellen – Interventionen neben der psychoedukativen Komponente auch übende Elemente. Ziel war hier vor allem, die Widerstandskraft gegen den soziokulturellen Druck (Schlankheitsideal) zu stärken, Medienkompetenz und gesunde Gewichtskontrollmethoden aufzubauen. Die dritte Generation von Maßnahmen zur Prävention von Essstörungen beinhaltet in den letzten Jahren vor allem Programme mit einer selektiven Hochrisikozielgruppenauswahl. Diese interaktiven Interventionen fokussieren vorwiegend auf Faktoren, für die gezeigt wurde, dass sie mit dem Erkrankungsbeginn ursächlich zusammenhängen, vor allem die individuelle Unzufriedenheit mit Figur und Gewicht (»body dissatisfaction«, »weight concern«). Bei vielen der Präventionsprogramme der ersten und zweiten Generation fiel der Wirksamkeitsnachweis nicht zufriedenstellend und nicht konsistent aus. Einige Interventionen führten zu punktuellen Verbesserungen im Bezug auf essensbezogene Einstellungen, Internalisierung und Akzeptanz des soziokulturellen Schlankheitsideals, Unzufriedenheit mit dem Körper und Diätverhalten (WHO 2004). Erfolgversprechendere Ergebnisse werden in den letzten Jahren aus zielgruppenspezifischen Interventionen berichtet (für eine Übersicht s. Stice und Shaw 2004). Interessant sind hierbei vor allem auch internetbasierte Ansätze wie »Student Bodies«, da diese gerade für junge Menschen attraktiv sind und weit verbreitet eingesetzt werden können.
Beispiel Student Bodies – ein Programm zur internetgestützten Prävention von Essstörungen Das Programm »Student Bodies« wurde in den 1990er Jahren an der Stanford Universität in Kalifornien in der Gruppe von Winzelberg und Taylor entwickelt (Winzelberg et al. 1998). Hauptziel der Intervention war die Reduktion der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und exzessiven Beschäftigung mit Figur und Gewicht. Das Programm wurde mittlerweile von Jacobi und Mitarbeitern (2005) an den Universitäten in Trier und Dresden für den deutschen Sprachraum adaptiert und auch hier durch fortlaufende Evaluationsstudien begleitet. 6
»Student Bodies« ist ein in sich geschlossenes Programm mit 8 Sitzungen, in dem die Schwerpunkte körperliche Unzufriedenheit bzw. negatives Körperbild, extreme Bedeutsamkeit von Figur und Gewicht, Diätverhalten und gezügeltes Essverhalten behandelt werden. In einer psychoedukativen Komponente werden Informationen zu den psychischen und physiologischen Folgeerscheinungen von Essstörungen vermittelt. Thematisiert werden gesunde Ernährung, Sport, Heißhungeranfälle, Selbstwertgefühl sowie die Darstellung und Rolle der Frau in der Gesellschaft und den Medien.
917 50.3 · Präventionsprogramme in Forschung und Praxis
Durch den multimedialen Charakter (Einbindung von Audio- und Video-Clips sowie schriftlichen Texten) ist die Intervention sehr abwechslungsreich gestaltet. Über eine moderierte Diskussionsgruppe können die jeweils 20–30 Teilnehmerinnen miteinander und mit dem Moderator (auch »unter vier Augen«) in Kontakt treten. Der professionelle Moderator unterstützt den produktiven Prozess in der Gruppe, kommentiert ungünstige Einstellungen kritisch und kann in Krisensituationen intervenieren. Parallel füllen die Teilnehmerinnen online Selbstbeobachtungsbögen (»Körpertagebuch«) und andere Fragebögen aus. Ergebnisse werden unmittelbar zurückgemeldet. Sie wer-
Prävention von Substanzstörungen In Zeiten zunehmender Popularität und sozialer Akzeptanz von Substanzgebrauch, z. B. beim »Flatrate-Trinken« (d. h. unbegrenzter Alkoholausschank in Kneipen nach Zahlung einer pauschalen Gebühr (»Flatrate«) mit dem erklärten Ziel eines Rausches (»Komatrinken«, Binge Drinking) sowie nahezu unbegrenzter Verfügbarkeit entsprechender Rauschmittel (z. B. Alkopop-Getränke), aber auch illegaler Drogen, kommt der Vorbeugung substanzbezogener Störungen eine höchst aktuelle Bedeutung zu. Maßnahmen zur Prävention von Substanzkonsum haben international eine relativ lange Tradition. Sie betreffen eine große Bandbreite unterschiedlicher Substanzen (Alkohol, Tabak, Ecstasy, Cannabis, und andere illegale Drogen, Medikamente) und vielfältige Interventionsansätze (Familie, Schule, Gemeinde, Medien, Freizeit/Freunde, Verfügbarkeit und gesetzliche Rahmenbedingungen). Eine umfassende Darstellung dieses Präventionsfeldes würde das vorliegende Kapitel sprengen, so dass hier nur einige wesentliche Befunde zusammengefasst werden können. Ansatzpunkte für Präventionsmaßnahmen sind auch in diesem Bereich relevante Risikofaktoren, die denen, die im Abschnitt Verhaltensstörungen bereits genannt wurden, weitgehend entsprechen. Neben familiären (Genetik, Partnerschaft, Erziehungsstil, emotionale Bindung) und intrapersonellen Faktoren (Temperament, Emotionsregulation, Psychopathologie, Copingfertigkeiten, akademische und soziale Kompetenzen u. a.) spielen Umweltfaktoren (z. B. Verfügbarkeit der Substanzen, gesellschaftliche Akzeptanz von bestimmten Konsummustern, insbesondere in der Familie, aber auch in Peergruppen bzw. Subkulturen) sowie die Beschaffenheit der Droge selbst (z. B. Abhängigkeitspotenzial, Wirkungsweise) eine wesentliche Rolle. Folgerichtig setzen gängige Präventionsansätze an diesen Entstehungsbedingungen und den damit verknüpften psychologischen Theorien an. Zu nennen ist hier die sozialkognitive Lerntheorie (Bandura 1986), deren zentrale Elemente die physischen (angenehmes Gefühl) und sozialen Wirkerwartungen (Verstärkung durch andere), die Selbst-
den außerdem dazu angehalten, Verhaltensübungen und Übungen zur kognitiven Umstrukturierung selbstständig durchzuführen, um die Einstellungsänderung und den Praxistransfer zu fördern. Die Ergebnisse der Wirksamkeitsprüfungen der deutschen Programmvariante bei Studentinnen und Schülerinnen der 8.–10.Klasse dürfen als ermutigend interpretiert werden. Insbesondere Hochrisikogruppen mit deutlich ausgeprägten essstörungsspezifischen Risikofaktoren konnten bezüglich der übermäßigen Beschäftigung mit Figur und Gewicht sowie bulimischer Symptomatik profitieren (Jacobi et al. 2005).
wirksamkeitserwartung und entsprechende Prozesse des Modelllernens sind. Neuere Lebenskompetenzenansätze in der Suchtprävention fußen auf dem Life-Skill-Ansatz (Botvin 1996), der betont, dass Risiko- und Schutzfaktoren in der Störungsgenese zusammenspielen und es entsprechend von entscheidender Bedeutung ist, Lebenskompetenzen aufzubauen, die einen Substanzkonsum quasi »unnötig« bzw. als Bewältigungsstrategie unwahrscheinlich machen (z. B. Problemlösestrategien, Fähigkeit, Nein zu sagen etc.). Je nach zugrunde liegender Theorie und Risikofaktorenfokus sind die Interventionsstrategien unterschiedlich komplex und berücksichtigen unterschiedlich viele Ebenen. Im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erschien im Jahre 2006 eine umfassende Expertise zum internationalen Forschungsstand im Bereich der Prävention von Substanzmissbrauch (Bühler u. Kröger 2006). Die Autoren sichteten und systematisierten die Befundlage zu den verschiedenen Substanzen und Präventionsansätzen anhand von 49 verfügbaren aktuellen Metaanalysen, sytematischen Reviews und relevanten Einzelarbeiten und ermöglichten so ein recht umfassendes Abbild zum Stand der Forschung (. Tab. 50.6). Kaum systematische Ergebnisse gibt es zum Handlungsfeld Freizeit/Freunde. Zwar gibt es auch hier Bemühungen zur Substanzprävention, allerdings sind die vorliegenden Evaluationsdaten noch nicht ausreichend. Ansätze umfassen dabei z. B. Mentorenprogramme, bei denen Erwachsene freiwillig Freizeit mit Jugendlichen verbringen, oder Maßnahmen, deren Ziel es ist, Aktivitäten im Freizeitund sozialen Bereich zu etablieren, bei denen der Gebrauch von Substanzen explizit ausgeschlossen ist. Ziel ist es hier, sonst unstrukturierte Zeit, die in Hochrisikogruppen ohne Beaufsichtigung durch Erwachsene häufig für Problemverhalten genutzt wird, sinnvoll zu füllen und über prosoziale Aktivitäten wichtige Lebenskompetenzen aufzubauen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Aufbau positiver und stabiler Beziehungen zu Peers und Erwachsenen (vgl. Bühler u. Kröger 2006).
50
918
Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
. Tab. 50.6. Überblick über den Forschungsstand in der Suchtprävention. (Zusammengefasst nach Bühler u. Kröger 2006) Handlungsfeld
Untersuchte Substanzen
Ausgewählte Ergebnisse
Familie
Vor allem Alkohol
Multimodale Ansätze (Eltern/Familie und Kind) haben präventive Effekte auf Konsumverhalten, vor allem bei Nichtkonsumenten Inhaltlicher Fokus der Maßnahmen sollte auf Eltern-Kind-Interaktion und Kontingenzmanagement (Erziehungspraktiken) liegen
Schule
Tabak, Alkohol, Cannabis, illegale Drogen
Interaktive schulbasierte Programme haben präventive Effekte auf Konsumverhalten; langfristige Effekte (2–3 Jahre) für Alkohol und Tabak (Effektstärken im Mittel zwischen .10 und .30) Häufig sind parallele Effekte auf anderes Problemverhalten im Vergleich stärker als auf den Substanzgebrauch Life-Skill-Ansätze und Ansätze am sozialen Lernen sind effektiv (gleichermaßen für alle Substanzen) Isolierte Informationsvermittlung oder affektive Erziehung bzw. nichtinteraktive Wertevermittlung und Entscheidungsbildung sind ineffektiv Programme mit kleineren Gruppen sind effektiver Inhaltlich sind für Effektivität u. a. ausschlaggebend: substanzbezogene Inhalte, Normbildung anhand von Schulsurveys und Medienanalysen, Verpflichtung zur Abstinenz
Medien
Vor allem Tabak
Massenmediale Kampagnen sind bezüglich des Konsumverhaltens nur in Kombination mit anderen Kompontenten (Schule, Gemeinde) wirksam (Reduktion der Raucher um bis zu 10%) Empfehlenswert scheinen landesweite Medienkampagnen, die sich an Jüngere richten, starke emotionale Bilder nutzen, über die Praktiken der Tabakindustrie informieren, eindeutig in der Botschaft sind und von jugendlichen Sprechern transportiert werden Wichtig ist das Verhältnis von Anti-Werbung zu Werbung in den Medien Alleinige Warnhinweise auf Verpackungen scheinen nicht effektiv bezüglich des Substanzgebrauchs zu sein
Gemeinde
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Gesetzliche Rahmenbedingungen
Tabak, Alkohol, Cannabis, andere illegale Drogen Tabak, Alkohol, Cannabis
Koordinierte Projekte, die auf mehrere Systeme der Gemeinde abzielen (Schule, Familie, Medien, Stadtviertel etc.), haben eher Effekte auf den Substanzkonsum als isolierte Maßnahmen Aufgrund der Komplexität der Maßnahmen sind aussagekräftige Evaluationsdaten (z. B. bezüglich Wirksamkeit/Konsum, Kosten-Nutzen-Verhältnis) jedoch extrem selten Höhere Tabakpreise vermindern die Verbreitung von Tabakkonsum um bis zu 3,7% und Menge gerauchter Zigaretten um bis zu 2,3% je 10% Preiserhöhung; Ähnliches gilt für Alkohol (3-6,5% Reduktion des Konsums bei 10% Preiserhöhung) Langfristiges und umfassendes Werbeverbot für Tabak hat präventive Effekte auf das Konsumverhalten Heraufsetzen der legalen Altersgrenze für Alkoholkonsum verringert Konsum und negative Folgen (Unfälle, Gesundheits- und soziale Probleme); günstig sind auch niedrige Promillegrenzen für junge/unerfahrene Fahrer Die Erhöhung des Cannabiskonsums in den letzten Jahren scheint relativ unabhängig davon zu sein, ob die Substanz entsprechend der jeweiligen Gesetzgebung legal oder illegal konsumiert wird; allerdings unterscheiden sich die sozialen Kosten durch Aufwendungen für Strafverfolgung etc.
Weitgehend unklar bleibt auf der Basis der dargestellten Expertise, inwieweit sich die oben dargestellten Ergebnisse auf die Situation der Suchtprävention in Deutschland verallgemeinern lassen. Da sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zwischen Europa und Nordamerika deutlich unterscheiden, ist eine Übertragbarkeit der Befunde nicht ohne Weiteres anzunehmen. Allerdings liegen für Deutschland kaum Übersichtsarbeiten vor, die die Ergebnisse von Einzelstudien aussagekräftig integrieren würden. Dennoch gibt es gerade im Bereich der schulischen Maßnahmen erfolgreiche deutsche Präventionsansätze. Prominentes Beispiel ist das Programm »ALF« [Allgemeine Lebenskompetenzen und Fertigkeiten; Institut für
Therapieforschung (IFT) et al. 1998]. Das ALF-Programm basiert auf dem Lebenskompetenzenansatz und hat zum Ziel, Kindern und Jugendlichen basale individuelle und soziale Fertigkeiten beizubringen, die gegen den Einstieg in den Substanzkonsum schützen sollen (z. B. Problemlösestrategien, Kommunikationsfertigkeiten, Selbstsicherheit, Konfliktfähigkeit, soziale Verantwortung, Wertschätzung, Standfestigkeit gegen Gruppendruck u. a.). Wichtig für die Implementierung ist, dass es sich bei dem ALF-Programm um ein Curriculum handelt, bei dem sich 20 Unterrichtseinheiten auf zwei Schuljahre (5./6. Klassenstufe) verteilen. Diese werden anhand von gut anwendbaren, vorgegebenen Materialien passend zum jeweiligen Unterrichtsstoff von Fachlehrern durchgeführt und sind somit
919 50.4 · Schlussfolgerungen und Ausblick
optimal in den regulären Schulalltag integrierbar. Das ALFProgramm konnte im Rahmen umfassender Begleitevaluation sowohl in Hauptschulen als auch Gymnasien präventive Effekte bezüglich Rauch- und Trinkverhalten nachweisen (Kröger u. Reese 2000).
50.4
Schlussfolgerungen und Ausblick
Bei der Präventionsforschung handelt es sich um ein relativ junges Arbeitsfeld, in dem in den nächsten Jahren sicherlich eine Reihe von weiteren Fortschritten zu erwarten ist. Die Vielfalt der vorliegenden Ansätze in den verschiedenen Bereichen sowie die Ergebnisse zunehmend systematischer Evaluationsbemühungen sind sehr ermutigend. Sie gehen nicht zuletzt mit einem wachsenden Interesse von Politik und Gesetzgebung für die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für die Prävention im Gesundheitswesen einher. Da epidemiologische und Versorgungsdaten ihre gesundheitspolitische Relevanz eindeutig und mit zunehmender Klarheit belegen, erhalten erfreulicherweise neben den traditionell medizinischen Präventionsthemen (z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, HIV etc.) in jüngster Zeit auch die psychischen Probleme mehr Aufmerksamkeit. Dies gilt auch und insbesondere für das Kindes- und Jugendalter. Die Verbreitung von Präventionsmaßnahmen kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Größenordnung und vor allem auch die Langfristigkeit der Effekte in den meisten Anwendungsfeldern noch nicht befriedigend sind. Mit Bezug auf das persönliche Leiden des Einzelnen ist jede vermiedene Krankheitskarriere ein wichtiges Ziel, allerdings müssen vor dem Hintergrund knapper werdender Ressourcen auch Kosten-Nutzen-Erwägungen eine Rolle spielen. Dies verlangt nach entsprechenden ökonomischen Untersuchungen, die bisher kaum vorliegen. Diese bilden die Basis für effiziente Ansätze, die sich an den Basisraten der Zielstörungen, den erwarteten Krankheitskosten, Kosten für das Screening von Risikogruppen, Durchführung von präventiven oder therapeutischen Interventionen und anderen Faktoren orientieren (Taylor et al. 2002). Zur Messung des Nutzens von Präventionsmaßnahmen ist methodisch und inhaltlich noch eine ganze Reihe von Forschungsproblemen zu lösen. Hierzu gehört vor allem auch die angemessene Erfassung der erwünschten (und unerwünschten) Effekte von Präventionsmaßnahmen, d. h. von Gesunderhaltung. Im Gegensatz zur Messung von Pathologie, d. h. von Beschwerden, liegen hierzu weit weniger tragfähige Konzepte vor, die Präventionswirkungen angemessen, in der erforderlichen Breite und mit entsprechender Änderungssensitivität abbilden. Dies ist insbesondere eine Herausforderung, weil die Vorbeugung in der Regel auf zukünftige Ziele gerichtet ist, die zeitlich häufig weit nach dem Interventionszeitpunkt liegen.
Von Bedeutung ist daneben die Weiterentwicklung vorhandener Präventionskonzepte in enger Orientierung an der Ätiologieforschung zu den einzelnen Störungsbildern. Entscheidend ist dabei die Klärung der Frage: Wer benötigt welche Intervention und in welcher Dosis? Gerade die neuen Möglichkeiten molekulargenetischer Familienforschung lassen erweiterte Perspektiven auch für die Prävention erwarten. Dies betrifft sowohl Aspekte einer effizienten Zielgruppenselektion (Intervention nur für die, die sie tatsächlich mit großer Wahrscheinlichkeit benötigen, statt »Gießkannenprinzip«), als auch die inhaltliche Programmgestaltung (z. B. spezifische Schulung zum Umgang mit einer bestimmten neurobiologischen Disposition). Solch ein empirisch basierter Zuschnitt (»tailoring«) einer Intervention im Hinblick auf die speziellen Bedürfnisse der Zielpopulation beinhaltet eine Chance für die Entwicklung kosteneffektiver Interventionsstrategien. Dabei wird jedem nur das – aber auch genau das – angeboten, was er nach wissenschaftlichem Erkenntnisstand wahrscheinlich benötigt (»stepped care«). Dies betrifft vor allem Inhalt und Intensität einer Maßnahme, aber auch weitere prozedurale Aspekte (z. B. Setting und Anbieter) und schließt sowohl Prävention als auch Therapie ein. Während für den einen eine frühzeitige Präventionsmaßnahme ausreichend ist, benötigt der andere vielleicht eine therapeutische individuelle Frühintervention nach Erstmanifestation einer Erkrankung. Ein Dritter profitiert eventuell optimal von einem medikamentösen Ansatz. Alle diese Möglichkeiten sollten im Rahmen einer Gesamtstrategie integrativ in Betracht gezogen werden. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass jede noch so gute Präventionsmaßnahme ineffizient ist, wenn sie ihre Adressaten nicht erreicht. Eine weitere Herausforderung der aktuellen Präventionsforschung ist deshalb die Auslotung geeigneter Zugangswege, gerade zu schwer erreichbaren Hochrisikopopulationen wie sozial Benachteiligten. Langfristig entscheidend ist die zeitlich und substanziell andauernde, in das System integrierte Verbreitung von bevölkerungsbasierten Interventionen in hoher Qualität. Beelmann (2006) schlägt dabei vor, auf eine gute horizontale und vertikale Vernetzung der Angebote zu achten. Die Horizontale bezieht sich dabei auf eine sinnvolle Kombination von Interventionen im zeitlichen Verlauf, d. h. abgestimmt auf den Entwicklungsverlauf des Heranwachsenden. Eine vertikale Verknüpfung zielt auf die schon erwähnte Vernetzung mit anderen Angeboten des Gesundheit- und Sozialsystems, d. h. Gesundheitsförderung, Prävention, Therapie und Rehabilitation. Diese große Aufgabe kann nicht von einer einzelnen Disziplin wie etwa der klinischen Psychologie bewältigt werden, sondern erfordert eine langfristige Kooperation von Gesundheitswissenschaften, Politik und Ökonomie. Im Sinne der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Eltern bleibt zu hoffen, dass aus den derzeitigen Tendenzen in naher Zukunft tragfähige Allianzen entstehen.
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Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
Zusammenfassung
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Vor dem Hintergrund hoher Prävalenzraten psychischer Störungen in allen Altersgruppen, des damit assoziierten Leidens der Betroffenen sowie knapper finanzieller Ressourcen für deren Behandlung im Gesundheitswesen kommt der Präventionsforschung eine zunehmende Bedeutung zu. Das vorliegende Kapitel gibt einen Überblick über Ziele, Begriffe, Konzepte sowie Anwendungsfelder der Prävention. Möglichkeiten und Grenzen von entsprechenden Interventionen, die die zugehörige aktuelle Forschung dazu aufzeigt, werden diskutiert. Zunächst wird die Prävention in die Breite gesundheitsrelevanter Maßnahmen (Gesundheitsförderung, Prävention, Therapie) eingeordnet. Verschiedene traditionelle und neuere Präventionsansätze werden begrifflich und inhaltlich anhand praktischer Beispiele voneinander abgegrenzt. Zentral für die Entwicklung und Umsetzung geeigneter präventiver Strategien ist die Kenntnis relevanter Risiko- und Schutzfaktoren für die jeweilige Zielstörung. Effektive Präventionsmaßnahmen zielen mit empirisch geprüften Mitteln systematisch auf die Reduktion kausaler und potenter Risikofaktoren oder -faktorenbündel ab und versuchen gleichzeitig, Ressourcen im Umgang mit Belastungssituationen auf der individuellen oder Umweltebene zu stärken. Eine Reihe von Faktoren beeinflusst die Wirksamkeit bestimmter Präventionsmaßnahmen für den Einzelnen. Dazu gehören der gewählte Präventionsansatz (universell oder zielgruppenspezifisch), Aufbau, Methoden und Dauer bzw. »Dosis« einer Intervention, Einbeziehung von Bezugspersonen und andere. Für verschiedene Störungsbereiche und Zielgruppen lassen sich in Deutschland und international mittlerweile eine Reihe von evidenzbasierten Präventionsprogrammen identifizieren. Überblicksartig werden in diesem Kapitel Maßnahmen zur Vorbeugung von kindlichen Verhaltensstörungen, Angst- und depressiven Störungen, Essstörungen und Substanzstörungen vorgestellt und bewertet. Trotz großer Fortschritte in der Präventionsforschung in den letzten zwei Jahrzehnten bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass noch lange nicht alle Forschungsfragen in diesem Bereich befriedigend gelöst sind. Weitere Arbeiten zur Erhöhung der Effektivität von präventiven Interventionen sowie zur zielgruppenspezifischen Verbreitung geeigneter Maßnahmen sind notwendig.
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Kapitel 50 · Prävention psychischer Störungen
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51
51 Sport und psychische Gesundheit Tim Hartmann, Uwe Pühse
51.1
Einleitung
– 924
51.2
Der Einfluss von Sport bei psychisch gesunden Kindern und Jugendlichen – 924
51.2.1 51.2.2 51.2.3
Allgemeines Wohlbefinden – 924 Psychosozialer Stress – 925 Prävention psychischer Erkrankungen
51.3
Der Einfluss von Sport bei psychisch kranken Kindern und Jugendlichen – 926
51.3.1 51.3.2 51.3.3
Angst und Depression – 926 Adipositas – 928 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – 929
51.4
Welche Mechanismen führen zu den Effekten?
51.4.1 51.4.2
Physiologische Aspekte – 930 Psychologische Aspekte – 930
51.5
Ausblick
– 931
Zusammenfassung Literatur
– 931
– 932
Weiterführende Literatur
– 933
– 925
– 930
924
Kapitel 51 · Sport und psychische Gesundheit
51.1
51
Einleitung
Fitness-Center versprechen ihren Kunden ein ganzheitliches Training. Nach dem Hanteltraining lässt man in der Wellness-Oase die Seele baumeln. Kampfsportler postulieren eine Stärkung von Geist und Körper. Zerrüttete Arbeitsgruppen finden im Klettergarten zueinander und Manager schnüren sich die Turnschuhe, um ihrem beruflichen Stress zu entfliehen. Schenkt man den Aussagen kommerzieller Anbieter Glauben, so steigern sportliche Aktivitäten nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern verhelfen auch zu einem besseren psychischen Wohlbefinden. Der Sport wird sozusagen als Allheilmittel für den stressgeplagten, gesundheitlich angeschlagenen Menschen des 21. Jahrhunderts gesehen. Was ist dran an dieser These? Inwiefern wird der Sport dieser Rolle gerecht und wo liegen seine Grenzen? Empirische Studien zeigen auf, dass bisher vor allem dem Themenbereich »Sport und körperliche Gesundheit« viel Aufmerksamkeit zuteilwurde. Laut Knoll (1997) widmeten sich alleine im Zeitraum 1980–1992 rund 8000 Veröffentlichungen diesem Forschungsfeld. Dunn u. Blair (2002) schätzen, dass sich die Literatur zu diesem Thema im darauf folgenden Jahrzehnt nochmals etwa verdoppelt hat. Danach gilt der präventive Charakter sportlicher Aktivitäten bei einer Reihe von Krankheiten als empirisch gut belegt. Namentlich zählen dazu Erkrankungen der Koronararterien, Fettstoffwechselstörungen, Hypertonie, Adipositas, Diabetes Typ 2 sowie Brust- und Dickdarmkrebs (Woll u. Bös 2004). Die Auswirkungen sportlicher Aktivität auf die psychische Gesundheit sind im Vergleich hierzu weniger intensiv untersucht worden. Den Zusammenfassungen von Broocks (2005), Knechtle (2004) und Woll u. Bös (2004) ist zu entnehmen, dass vor allem bei Angststörungen und depressiven Erkrankungen empirische Belege dafür sprechen, dass die Symptomatik über ausreichend intensive körperliche Aktivität positiv beeinflusst werden kann. Ferner liegt eine günstige Beeinflussung des psychischen Wohlbefindens bei psychisch Gesunden vor (Knechtle 2004; Woll u. Bös 2004). Zudem vermutet Broocks (2005), dass auch Patienten mit Suchterkrankungen, affektiven Störungen oder Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis von sportlichen Aktivitäten profitieren. Diesbezüglich ist aber offenbar noch Forschungsbedarf gegeben. Woll u. Bös (2004) betonen in diesem Zusammenhang, dass die Qualität vieler Studien oftmals nicht hinreichend ist. Die Interpretation der Literaturlage wird zudem erschwert, weil vielen Arbeiten ein gänzlich unterschiedliches Verständnis von psychischer Gesundheit zugrunde liegt. Auch die Verwendung unterschiedlicher Konstrukte macht oftmals ein Vergleich verschiedener Untersuchungen unmöglich. Die Mehrheit der Studien untersuchte den Einfluss körperlicher Aktivität auf die psychische Gesundheit bei Erwachsenen. Im Folgenden soll jedoch der Fokus auf die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen gerichtet wer-
den. Von Interesse ist, ob sich die Erkenntnisse aus dem Erwachsenenalter auch auf Kinder und Jugendliche übertragen lassen. Des Weiteren soll überprüft werden, ob sportliche Aktivitäten bei typischen Störungen des Kindesund Jugendalters (namentlich ADHS) eine günstige Wirkungsweise entfalten können.
Die Mär vom gesunden Geist im gesunden Körper Lobeshymnen auf den Sport beginnen nicht selten mit einem markanten Zitat. Hoch im Kurs steht dabei das »Mens sana in corpore sano«, der geschliffene Hinweis, dass im gesunden Körper auch ein gesunder Geist wohnt. Der Klassiker aus dem Lateinunterricht zergeht auf der Zunge und erntet im Publikum Kopfnicken. Der Zuhörer ahnt es bereits, Sport stärkt nicht nur die Muskeln, sondern auch die Psyche. Soweit, so gut. Pikantes Detail: Kaum ein Zitat wurde in den letzten Jahren so häufig missinterpretiert wie dieses. Der römische Dichter Juvenal gilt als Urheber dieser Redewendung. In seinen Satiren schreibt er »Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano« (Juvenal zit. in Schlicht 1994, S. 1). Auf Deutsch: »Bitten sollte man darum, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei.« Als Satiriker hat er keineswegs behauptet, dass ausschließlich in einem gesunden Körper ein gesunder Geist stecke, sondern nur, dass es wünschenswert sei, wenn dem so wäre. Mit Blick auf die sportlichen Idole seiner Zeit (60– 127 n. Chr.) schien Juvenal eben diesen gesunden Geist zu vermissen. Die Durchsicht seiner Schriften verrät dann auch, dass er sich bei seinen Parodien immer wieder gerne auf die römischen Sportler bezog. Übrigens verweisen nicht nur Politiker und Sportfunktionäre gerne auf den gesunden Geist im gesunden Körper. Auch ASICS, einer der weltweit führenden Sportartikelhersteller, ließ sich bei seiner Namensgebung von Juvenals geflügelten Worten inspirieren. ASICS ist ein Akronym für »Anima sana in corpore sano«. Aus naheliegenden Gründen wurde das ursprüngliche »Mens sano in corpore sano« etwas abgeändert. Der Firmenname MSICS hätte der Marketingabteilung wohl ziemliches Kopfzerbrechen bereitet.
51.2
Der Einfluss von Sport bei psychisch gesunden Kindern und Jugendlichen
51.2.1 Allgemeines Wohlbefinden
Wie der »Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2002« zu entnehmen ist, liegt zwischen regelmäßiger körperlicher Aktivität und psychischem Wohlbefinden ein positiver Zusammenhang vor (BFS 2006). Dies gilt für alle Altersgruppen, wobei der Effekt für junge Frauen am stärksten ausge-
925 51.2 · Der Einfluss von Sport bei psychisch gesunden Kindern und Jugendlichen
prägt ist. Andere Studien verweisen bei sporttreibenden Jugendlichen auf eine höhere Lebenszufriedenheit (Valois et al. 2004; Röthlisberger et al. 1997). Als beste Einzelindikatoren für das psychische Wohlbefinden gelten das Selbstkonzept und der Selbstwert (Biddle u. Mutrie 2001). Basierend auf dem Modell von Sonstroem u. Morgan (1989) beeinflussen wahrgenommene sportliche Kompetenz und physische Akzeptanz auf der obersten Ebene das generelle Selbstwertgefühl. Eine Metaanalyse (Ekeland et al. 2004) sowie Übersichten von Fox (2001) und Sygusch (2005) untermauern diese Modellvorstellungen empirisch. Basierend auf den Befunden von Fox (2001) fassen Stiller u. Alfermann (2005) den Stand der Forschung zusammen und stellen fest, dass Sport und Bewegung speziell im Kindes- und Jugendalter als wichtige Moderatoren für eine positive Entwicklung des allgemeinen Selbstkonzepts gesehen werden können. Eine detaillierte Betrachtung der Studien zu Bewegung und Selbstkonzept bei Kindern und Jugendlichen ergibt, dass bisher vor allem Ausdaueraktivitäten untersucht wurden. Dabei scheinen insbesondere Kinder und Jugendliche mit einem tiefen Selbstwert von sportlichen Aktivitäten zu profitieren.
51.2.2 Psychosozialer Stress
Gerber (2008) hat sich intensiv mit dem Themenbereich »Sport, Stress und Gesundheit« auseinandergesetzt und gibt diesbezüglich einen guten Forschungsüberblick. Von zentraler Bedeutung ist die Fragestellung, ob dem Sport eine stresspuffernde Wirkung zukommt. Dabei zeigen sich in rund zwei Dritteln aller Untersuchungen zumindest teilweise signifikante Puffereffekte. Dies ist ein Hinweis dafür, dass sportlich aktive Personen in stressreichen Lebenssituationen weniger gesundheitlichen Schaden erleiden. Diese Befundlage findet sich über alle Altersstufen hinweg und unabhängig vom Geschlecht. Gemäß Gerber (2008) existieren in der Altersgruppe der Jugendlichen Untersuchungen, in denen Stresspufferwirkungen gänzlich (4 Studien), teilweise (3 Studien) oder gar nicht (2 Studien) bestätigt werden konnten. Verwendete Auswahl- und Auswertungsverfahren sowie methodisches Design (Querschnitt- vs. Längsschnittuntersuchung) beeinflussen das Ergebnismuster nicht wesentlich. Im Rahmen einer globalen Analyse verweist Gerber darauf, dass der sportbedingte Einfluss in nordamerikanischen Studien stärker ausgeprägt ist als in europäischen Untersuchungen. Studien mit Jugendlichen aus dem deutschen Sprachraum untermauern diesen Befund. Weder die Längsschnittstudien von Röthlisberger et al. (1997) und Gerber (2008) noch die Querschnittstudie von Gogoll (2004) geben Hinweise auf systematische sportbezogene Stresspuffereffekte. Bei der letzteren Untersuchung sind zumindest vereinzelte stressdämpfende Einflüsse des Vereins- und Wettkampfsports zu erkennen. Die derzeit vorliegenden Ergebnisse lassen keine endgültigen Schlüsse hinsichtlich der Wirkungsweise von Sport
im Stressprozess zu. Gerade die Interpretation querschnittlicher Befunde, die hohe Sportaktivität mit niedrigem Stresserleben assoziieren, bedarf einer gewissen Vorsicht. Vermutlich besteht zwischen Sport und Stress eine reziproke Wechselwirkung, die auf Sozialisations- und Selektionseffekte zurückzuführen ist. Einerseits erscheint plausibel, dass vom Sport eine stressdämpfende Wirkung ausgeht (Sozialisationseffekt). Dabei trägt der Sport zum Aufbau und Erhalt körperlicher, psychischer und sozialer Ressourcen bei und schützt so sportlich aktive Menschen vor negativen Folgeerscheinungen des Stresses. Anderseits ist aber auch denkbar, dass gestresste Personen sich aus Zeitgründen weniger stark sportlichen Aktivitäten zuwenden (Selektionseffekt). Zur empirischen Absicherung möglicher Sozialisationseffekte dürften zukünftige Interventionsstudien beitragen.
51.2.3 Prävention psychischer Erkrankungen
Aus gesundheitspolitischer Sicht ist die Fragestellung, ob körperliche Aktivität im Kindes- und Jugendalter psychisches Wohlbefinden im Erwachsenenalter vorhersagt, von zentraler Bedeutung. Basierend auf ressourcentheoretischen Überlegungen ist eine derartig präventive Wirkungsweise des Sports durchaus denkbar (Fuchs 1997). Empirische Befunde liegen dazu derzeit nur vereinzelt vor. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die Durchführung entsprechender Studien enorm aufwendig ist und mit methodischen Schwierigkeiten einhergeht (Vielfalt von Einflussfaktoren, erforderliche Dauer). Eine englische Kohortenuntersuchung wies nach, dass sportliches Freizeitverhalten im Jugendalter positiv mit psychischem Wohlbefinden im Erwachsenenalter korreliert (Sacker u. Cable 2006). Davon ausgehend, dass Sport im Erwachsenenalter psychischen Erkrankungen entgegenwirkt, interessiert zudem, ob sportlich aktive Kinder und Jugendliche auch als Erwachsene Sport treiben. Das Vorhandensein solcher »Tracking-Effekte« (d. h. Konstanz des Verhaltens) würde die Vermutung nahe legen, dass bei sportlich aktiven Kindern das Risiko für psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter geringer ausfällt. Das Schweizerische Bundesamt für Sport (BASPO 1999) geht auf die Bedeutung lebenslänglich fortgeführter Sportaktivität ein und wirft die Frage auf, ob der »Jugendsport als Schrittmacher für ‚Lifetime’-Sport« (BASPO 1999, S. 177) taugt. Die Autoren legen dar, dass es diesbezüglich nur wenig wissenschaftlich erhärtete Fakten gibt und kommen bei der Diskussion der vorhandenen Studienergebnisse zum Schluss, dass sportliche Betätigung in der Jugend nur relativ lose mit der Sportaktivität im Erwachsenenalter verbunden ist. In diesem Zusammenhang wird bemerkt, dass das Auftreten von »Tracking-Effekten« ganz entscheidend vom Ausmaß, in dem das Schulturnen positiv und stimulierend erlebt wird, beeinflusst sein dürfte (7 Box »Theorie trifft Praxis!«).
51
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Kapitel 51 · Sport und psychische Gesundheit
Theorie trifft Praxis! Mit gemischten Gefühlen erinnern sich viele Leute an den schulischen Turnunterricht zurück. Naheliegend, dass das einst praktizierte Strammstehen zur Trillerpfeife, das Schleudern von Medizinbällen und die Laufübungen im Gleichschritt nicht nur positive Emotionen wecken. Als Sinn und Zweck des Turnens galt lange Zeit die Leibeserziehung. Ganz im Sinne des Erfinders, dem »Turnvater« Jahn, diente die körperliche Ertüchtigung der Vorbereitung auf den Wehrdienst. Die Zeiten haben sich geändert, sowohl für Theoretiker wie auch Praktiker. Im Sinne eines ganzheitlichen Forschungsansatzes integrieren Sportwissenschaftler zunehmend auch psychologische Themenbereiche in ihren Untersuchungen. Sportpädagogen ihrerseits lenken den Fokus weg von rein körperlichen Zielsetzungen und streben nach einer Vermittlung vielfältiger Sinnrichtungen. Mehrperspektivischer Sportunterricht heißt die Zauberformel, die als roter Faden durch die aktuellen Lehrbücher führt. Gemäß dem Schweizerischen Lehrmittel für Turn- und Sportlehrer (ESK 1997) sollte ein mehrperspektivischer Sportunterricht folgende Dimensionen berücksichtigen:
51.3
Der Einfluss von Sport bei psychisch kranken Kindern und Jugendlichen
51.3.1 Angst und Depression
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Zu positiven Auswirkungen von körperlicher Aktivität bei Angststörungen und Depression im Erwachsenenalter liegen umfangreiche Belege vor (Woll u. Bös 2004; Broocks 2005). Der entsprechenden Fragestellung im Kindes- und Jugendalter wurde jedoch bis dahin weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Angst Larun et al. (2006) geben eine Übersicht, inwiefern Bewegungsinterventionen bei Kindern und Jugendlichen zu einem Angstabbau beitragen können. Aufgrund methodischer Selektionskriterien fanden dabei nur sechs Studien Aufnahme in das metaanalytische Verfahren. Augenfällig ist dabei, dass es sich ausnahmslos um Studien aus den 80er Jahren handelt. Die Interventionen beinhalteten Laufeinheiten oder aerobes Fitnesstraining (Dauer: 20–30 min), die mindestens 3-mal wöchentlich über einen Zeitraum von 6–20 Wochen durchgeführt wurden. Das Alter der Studienteilnehmer bewegte sich zwischen 11 und 20 Jahren, wobei die Mehrheit der Untersuchungen den Fokus auf ältere Jugendliche richtete. Die Studien wurden in allgemeinen Populationen durchgeführt. Im Vergleich zur inaktiven Kontrollgruppe ergab die statistische Datenauswertung einen schwach signifikanten Effekt zugunsten eines Angstab-
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sich wohl und gesund fühlen, dabei sein und dazugehören, erfahren und entdecken, gestalten und darstellen, üben und leisten, herausfordern und wetteifern.
Die Berücksichtigung dieser Dimensionen erlaubt es, den individuellen Bedürfnissen und Ansprüchen des Sporttreibenden gerecht zu werden. Dies wiederum trägt zu einem gesteigerten psychischen Wohlbefinden bei. Die Umsetzung dieser theoretischen Modellvorstellungen in die Praxis ist sicherlich anspruchsvoll. Ein differenzierter Unterricht bringt immer auch organisatorische und methodisch-didaktische Herausforderungen mit sich. Zudem muss in vielen Köpfen noch ein Umdenken stattfinden: weg vom traditionell stark leistungsbezogenen Turnunterricht und hin zu erlebnisorientierten Bewegungsstunden. Geschieht dies nicht und wird der Fokus nur auf leistungs- und wettkampfbezogene Aspekte gerichtet, kann der Sportunterricht als Stressor empfunden werden (Hampel et al. 1999).
baus mittels körperlicher Aktivität. Diese Verminderung der Angstsymptome trat sowohl bei Ausdauertraining, Krafttraining wie auch bei gemischten Formen auf. Der Vergleich von aerobem Ausdauertraining und psychosozialer Intervention (Diskussionen und/oder Beratungsgespräche in der Gruppe) zeigte keine signifikanten Unterschiede (Carl 1984; Berger et al. 1988). Neuere Untersuchungen zeichnen ein gemischtes Bild. In einer Studie von Bonhauser et al. (2005) nahmen Jugendliche über einen Zeitraum von 40 Wochen an Sportstunden teil, die 3-mal wöchentlich durchgeführt wurden und polysportive Übungsformen beinhalteten. Im Vergleich zur Kontrollgruppe, die nur eine Sportstunde pro Woche erhielt, konnte bei der Interventionsgruppe ein signifikanter Angstabbau nachwiesen werden. Lau et al. (2004) untersuchten, ob ein Gesundheitsprogramm bei adipösen Kindern und Jugendlichen zu einer Verminderung von Angstsymptomen beiträgt. Die Intervention bestand aus einem sechswöchigen Krafttraining (3 Einheiten je 60 min pro Woche) und einer Diät. Die Kontrollgruppe befolgte eine Diät, aber führte kein Krafttraining durch. Es wurden keine signifikanten Gruppenunterschiede ermittelt (Lau et al. 2004). Von übergeordnetem Interesse ist, ob Gruppenunterschiede bezüglich Angstsymptomatik im Anschluss an die Intervention bestehen bleiben. Zwei Studien führten eine Follow-up-Untersuchung 6–8 Wochen nach Beendigung der Intervention durch (Smith 1983; Roth u. Holmes 1987). Dabei ließen sich keine Gruppenunterschiede mehr fest-
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stellen. Der Befund lässt sich dahin gehend interpretieren, dass ein Angstabbau mittels Bewegung zwar relativ schnell auftritt (Interventionsdauer: 10 bzw. 11 Wochen), aber auch schnell wieder verschwindet, wenn sportliche Aktivitäten eingestellt werden. Entsprechend muss bei der Konzeption von Interventionen viel Wert auf motivationale Aspekte gelegt werden. So können Teilnehmer zu einem eigenständigen, überdauernden Sporttreiben angeregt werden, was sich wiederum positiv auf ihr Angsterleben auswirken dürfte. Inwiefern die Intensität der körperlichen Aktivität von Bedeutung ist, lässt sich aufgrund der momentanen Studienlage nur schwer beurteilen. Ältere Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Intensität möglicherweise nur eine untergeordnete Rolle spielt. Zwischen Trainingsgruppen mit niedriger und hoher Intensität fanden sich nach 10- bis 12-wöchiger Intervention keine signifikanten Gruppenunterschiede (Smith 1983; Roth u. Holmes 1987; Berger et al. 1988). Auch 6–8 Wochen nach Beendigung der Intervention ließen sich keine Gruppenunterschiede nachweisen (Smith 1983; Roth u. Holmes 1987). Aussagen, inwiefern sich die Dauer der körperlichen Aktivität, die Häufigkeit und Wahl der Bewegungsform auf Angststörungen auswirken, lassen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht tätigen.
Depression Die Metaanalyse von Larun et al. (2006) untersuchte den Einfluss von körperlicher Aktivität auf Depression bei Kindern und Jugendlichen. Das Alter der Teilnehmer lag zwischen 10 und 20 Jahren, wobei ältere Jugendliche die große Mehrheit ausmachten. Mit Blick auf allgemeine Populationen berücksichtigten Larun et al. fünf Interventionsstudien mit einer inaktiven Kontrollgruppe. Vier Studien davon beinhalteten Fitnesstraining (Beffert 1994; Berger et al. 1988; Hilyer et al. 1982; Roth u. Holmes 1987), eine Studie führte mit der Interventionsgruppe ein Krafttraining durch (Goodrich 1984). Über alle Studien hinweg lässt sich ein statistisch signifikanter Effekt zugunsten der Interventionsgruppe verzeichnen. Eine Follow-up-Untersuchung 8 Wochen nach Beendigung der Intervention zeigte jedoch keine Unterschiede zwischen Kontroll- und Interventionsgruppe (Roth u. Holmes 1987). Während die vorangegangenen Studien in einer allgemeinen Population durchgeführt wurden, untersuchten Brown et al. (1992) Kinder und Jugendliche in therapeutischer Behandlung. Dabei führt die Interventionsgruppe ein aerobes Ausdauertraining durch. Im Vergleich zur inaktiven Kontrollgruppe erfuhr die depressive Symptomatik bei der Interventionsgruppe keine signifikanten Veränderungen. Studien, die die Wirkungsweise von aerobem Ausdauertraining mit psychosozialen Interventionen verglichen, fanden weder in allgemeinen Populationen (Berger et al. 1988; McArthur u. Emes 1989) noch in klinischen Populationen (Kanner 1991) signifikante Gruppenunterschiede.
In allgemeinen Populationen zeigten Vergleiche zwischen aerobem Training mit hoher und Aktivitäten mit niedriger Intensität keine signifikanten Unterschiede (Roth u. Holmes 1987; Berger et al. 1988). Zur gleichen Erkenntnis gelangen auch Studien mit Kindern und Jugendlichen in therapeutischer Behandlung. Sowohl Krafttraining (Cohen-Kahn 1995) wie auch aerobes Ausdauertraining (Kanner 1991) waren den Aktivitäten mit niedrigen Intensitäten hinsichtlich Verminderung der depressiven Symptomatik nicht überlegen. Die Erkenntnis, dass sportliche Aktivität, unabhängig von deren Intensität, zu einer Minderung depressiver Symptome führen kann, deckt sich mit Befunden aus dem Erwachsenenbereich (Dunn et al. 2001). > Fazit Eine positive Beeinflussung von Angst und Depression durch körperliche Aktivität ist wahrscheinlich, aber kann auf dem derzeitigen Forschungsstand nicht abschließend beurteilt werden. Interventionsstudien (Larun et al. 2006) und korrelative Untersuchungen (Strong 2005) weisen einen schwachen Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und reduzierter Angst- und Depressionssymptomatik nach. Bei quasiexperimentellen Studien fällt dieser Zusammenhang stark aus (Strong 2005). Der Metaanalyse von Larun et al. (2006) ist jedoch zu entnehmen, dass gerade im Kindes- und Jugendalter noch dringlicher Forschungsbedarf besteht. Interventionsstudien mit kontrolliertem, randomisiertem Design liegen derzeit nur wenige vor. Zudem liegt die Mehrheit der vorhandenen Studien rund 20 Jahre zurück. Dabei wurde der Fokus vor allem auf Jugendliche gerichtet, Untersuchungen mit jungen Kindern sind kaum vorhanden. Differenzierte Aussagen zu Dauer, Intensität und Häufigkeit sportlicher Aktivitäten lassen sich derzeit nicht tätigen. Was Kinder und Jugendliche in therapeutischer Behandlung anbelangt, so lässt die gegenwärtige Literaturlage keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Wirkweise von körperlicher Aktivität zu. Während eine isolierte Betrachtung sportlicher Aktivität in allgemeinen Populationen naheliegend ist, erscheint es in klinischen Populationen sinnvoll, die Wirkweise sportlicher Aktivität im Lichte alternativer Behandlungsformen zu sehen. Hinsichtlich Depression im Kindes- und Jugendalter gibt es eine Reihe von Übersichtsartikel, die sich mit der Wirkweise von psychologischen (Merry et al. 2004), pharmakologischen (Hetrick et al. 2007) und psychotherapeutischen (Watanabe et al. 2007) Therapien auseinandersetzen. Leider bleibt dabei unklar, in welchen Fällen sportliche Aktivitäten als Ergänzung hinzugezogen wurden. Larun et al. (2006) greifen diesen Punkt auf und plädieren für zukünftige Studiendesigns, die kombinierte Ansätze (herkömmliche Therapie in Verbindung mit sportlicher Aktivität) in Vergleich zu einfachen Ansätzen setzen.
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Kapitel 51 · Sport und psychische Gesundheit
Sport und Schizophrenie Der Forschungsfrage, ob sportbezogene Interventionen die schizophrene Symptomatik positiv beeinflussen, wurde bis dahin wenig Beachtung geschenkt. Unseres Wissens liegen diesbezüglich noch keine kontrollierten, randomisierten Studien vor. Das Fehlen empirischer Studien dürfte mit der niedrigen Prävalenzrate im Kindes- und Jugendalter zusammenhängen. Dennoch sprechen theoretische Überlegungen für eine potenziell günstige Wirkung sportlicher Aktivitäten bei schizophrenen Kindern und Jugendlichen. Broocks (2005) argumentiert diesbezüglich, dass bewegungstherapeutischen Ansätzen hinsichtlich einer Beeinflussung depressiver Begleitsymptome eine wichtige Rolle zukommen könnte. Ältere Beiträge empfehlen bei schizophrenen Kindern sportliche Gruppenwettkämpfe zur positiven Beeinflussung sozialer Defizite (Eggers 1977) oder ein tanztherapeutisches Vorgehen zur Förderung motorischer Kompetenzen (Gunning u. Holmes 1973). Zudem könnte der Sport bei der Identifikation kindlicher Risikofaktoren von Bedeutung sein. Einer finnischen Kohortenstudie ist zu entnehmen, dass das sportliche Leistungsvermögen bei Kindern, die im Erwachsenenalter an Schizophrenie erkrankten, signifikant niedriger ausfiel (Cannon et al. 1999). Die Autoren vermuten hinter diesem Phänomen motorische Defizite, motivationale Einschränkungen oder allgemeine Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit Gleichaltrigen.
51.3.2 Adipositas
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Der Anteil übergewichtiger Kinder und Jugendlicher in westlichen Ländern ist in den letzten Jahren stark angestiegen (Lissau et al. 2004). In der Schweiz ist rund jeder vierte Grundschüler (Zimmermann et al. 2004) und ungefähr jeder zehnte Jugendliche (Bärlocher et al. 2008) übergewichtig oder adipös. Was den Therapieerfolg bei adipösen Kindern und Jugendlichen anbelangt, verweist eine Übersicht empirischer Studien (American Dietic Association 2006) auf die Effizienz multimodaler Programme (7 Kap. III/39). Neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, Ernährungsberatung und Miteinbeziehung der Eltern beinhalten solche Programme eine gezielte Bewegungsförderung. Die Wirksamkeit bewegungsorientierter Maßnahmen zur Adipositas-Prävention (Dugan 2008) und zur Therapie adipöser Kinder und Jugendlicher (Reilly u. McDowell 2003; Floriani u. Kennedy 2007) gilt mittlerweile als empirisch gut abgesichert. Aus therapeutischer Hinsicht interessiert natürlich nicht nur, ob Bewegungsinterventionen kurzfristig zu einer Gewichtsabnahme beitragen, sondern auch, ob sich mittel- und langfristig eine Gewichtsregulation ein-
stellt. Maziekas et al. (2003) widmeten sich dieser Fragestellung im Rahmen einer Metaanalyse. Dabei wurden acht Studien berücksichtigt, die Kinder zwischen 4 und 17 Jahren untersuchten und Trainingsprogramme durchführten, die sich über einen Zeitraum von 8–16 Wochen erstreckten. Trainingseinheiten wurden 1- bis 7-mal wöchentlich absolviert, dauerten zwischen 20 und 60 min und beinhalteten größtenteils aerobe Aktivitäten. Zusammenfassend führten die Interventionen zu einer signifikanten Reduktion des Körperfetts, die auch ein Jahr später in der Follow-up-Untersuchung beibehalten werden konnte. Da ein Teil der berücksichtigen Studien auch Alternativmaßnahmen (z. B. Ernährungsberatung) beinhaltete, bleibt aus methodischer Sicht unklar, welcher Anteil des Therapieerfolgs durch das körperliche Training erklärt wird. Mit Blick auf die Ergebnisse fällt auf, dass kombinierte Interventionen, die sowohl Ausdauer- als auch Krafttraining beinhalteten, dem reinen Ausdauertraining überlegen waren. Neben physiologischen Erklärungen, die von einer Zunahme der fettfreien Masse ausgehen, diskutieren die Autoren auch motivationale Aspekte. Möglich ist, dass die Abwechslung, die kombinierte Trainingsformen bieten, den Kindern und Jugendlichen mehr Spaß bereitet hat und sie angeregt hat, auch im Anschluss an das Programm mit dem Training fortzufahren. Auch Floriani u. Kennedy (2007) gehen in ihrer Literaturübersicht auf inhaltliche Aspekte von Bewegungsinterventionen ein und setzen diese in Bezug zum Therapieerfolg. Spontane, abwechslungsreiche und unterhaltsame Bewegungsformen, die die intrinsische Motivation stimulieren und den Kindern und Jugendlichen Erfolgserlebnisse bieten, fördern eine überdauernde Teilnahme an sportlichen Aktivitäten und tragen so zur Gewichtsabnahme bzw. -regulation bei. In gleichem Maße heben Floriani u. Kennedy (2007) die Notwendigkeit günstiger Rahmenbedingungen hervor und appellieren an die Vorbildfunktion der Eltern. Im Einzelnen geht es um bewegte Familienaktivitäten, die Förderung aktiver Alltagsaktivitäten (z. B. Schulweg) sowie um die Reduktion inaktiver Verhaltensweisen (z. B. hoher Medienkonsum). Solche Alltagsmaßnahmen ermöglichen es auch adipösen Kindern und Jugendlichen, die gängigen Bewegungsempfehlungen zu erfüllen. Diese sehen täglich mindestens 60 min kumulative körperliche Aktivität vor (Strong et al. 2005). Elterliche Unterstützung ist auch gefragt, wenn es um das Schaffen von Freiräumen geht, die den Kindern aktives Spielen erlauben. Gerade dieser Punkt, die Betonung freier, spielerischer Formen, könnte bei den Eltern von zentraler Bedeutung sein. Burdette u. Whitaker (2005) weisen darauf hin, dass eine zu starke Fokussierung auf organisierte Sportaktivitäten bei den Eltern ungünstige Assoziationen auslösen könnte und Erinnerungen an negative Erlebnisse und/oder fehlgeschlagene Therapien wecken könnte. Freies Spielen setzt entsprechende Sportanlagen, Grünflächen oder Erholungszonen voraus, was gerade in städtischen Gebieten nicht immer der Fall ist. Sind solche Zonen schlecht zugänglich sind oder werden diese von den
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Eltern als unsicher erlebt, steigt die Wahrscheinlichkeit für Adipositas an (Gordon-Larsen et al. 2006; Weir et al. 2006). Diesbezüglich müssen sicherheits- und verkehrspolitische Maßnahmen einen Beitrag zur erfolgreichen Adipositasbekämpfung leisten.
51.3.3 Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Aus Sicht von Vertretern der Pharmako- und Verhaltenstherapie erfahren bewegungsorientierte Interventionsmodelle bei ADHS eine geringe Wertschätzung (Beudels u. Hamsen 2005). In einer allgemeinen Übersicht zu empirisch abgesicherten Therapien bei ADHS werden Bewegungsinterventionen nur am Rande erwähnt (Barkley 2004). Tatsächlich sind Belege für die Wirksamkeit von körperlicher Aktivität bei ADHS meist von anekdotischer Natur. Fundierte, empirische Untersuchungen liegen nur wenige vor. In ihrer Studienübersicht gehen Beudels u. Hamsen (2005) auf fünf bewegungsorientierte Fördermaßnahmen bei ADHS-Kindern ein. Dabei umfassten die Bewegungsmaßnahmen Orientierungslaufen, heilpädagogisches Voltigieren, Zirkusübungen sowie psychomotorische Förderung in der Turnhalle oder im Wasser. Bei allen Studien trat eine Verbesserung der Kernsymptomatik ein. Zudem fielen die Eltern- und Lehrerurteile im Anschluss an die Intervention mehrheitlich positiver aus. Eine Verbesserung der Motorik war nicht zu verzeichnen. Methodische Einschränkungen wie kleine Stichprobengrößen, fehlende Kontrollgruppen oder ausbleibende Rando-
misierung müssen bei der Interpretation dieser Ergebnisse berücksichtigt werden. Metaanalytische Befunde von Allison et al. (1995) liefern zusätzliche Hinweise, dass ADHSKinder vom Sport profitieren könnten. Demnach wirkt sich körperliche Aktivität günstig auf störendes Verhalten im Unterricht aus. Haffner et al. (2006) untersuchten bei hyperaktiven Kindern zwischen 8 und 11 Jahren die Wirksamkeit eines Yoga-Trainings im Vergleich zu einem herkömmlichen Bewegungstraining (Lauf-, Wurf- und Fangspiele). Es zeigte sich eine deutliche Überlegenheit des Yoga-Trainings sowohl hinsichtlich Testleistungen im Dortmunder Aufmerksamkeitstest (DAT) wie auch bei der Reduktion der hyperkinetischen Symptomatik. Kinder mit pharmakologischer Unterstützung profitierten mehr vom Training. Entsprechend empfehlen die Autoren, Yoga zukünftig als begleitende Therapiemaßnahme einzusetzen. Es gilt jedoch in zukünftigen Studien zu klären, inwieweit die positiven Effekte des Yoga-Training auf die Bewegung oder eher die kognitiven Anteile des Trainings zurückzuführen sind. Die Unterlegenheit eines herkömmlichen Bewegungstrainings kann auch als Indiz gewertet werden, dass körperliche Aktivität nicht per se die ADHS-Symptomatik beeinflusst. Diesbezüglich verweisen Beudels u. Hamsen (2005) auf Sportarten, die »… auf ein strukturierendes Medium zurückgreifen (z. B. Wasser, Trampolin, Ruderboot, Pferd …)« (Beudels u. Hamsen 2005, S. 82). Sinnvoll dürften auch asiatische Kampfsportarten wie Judo, Karate oder Aikido sein, denn deren Rituale geben dem ADHS-Kind eine klare Struktur vor. Der empirische Nachweis, ob gewisse Sportarten diesbezüglich einen speziellen Stellenwert besitzen, steht allerdings noch aus.
Die Kehrseite der Medaille In den USA nehmen jährlich rund 2 Mio. Kinder und Jugendliche an Turnwettkämpfen teil. Nur 7–8 Athleten qualifizieren sich für die Olympischen Spiele, die alle 4 Jahre stattfinden. Weniger als 1% aller Athleten, welche an einer Universität »American Football« spielen, erhalten später einen Profivertrag (Tofler u. Butterbaugh 2005). Ruhm und Ehre bleiben einem erlauchten Kreis vorenthalten. Was passiert, wenn immer die andern höher, schneller, weiter kommen? Der Wettkampfsport im Kindes- und Jugendalter birgt, neben allen Vorzügen, auch Gefahren und Risiken. Wettkampfstress und übertriebener Leistungsdruck gepaart mit ungenügender Leistung und Verletzungen sind potenzielle Auslöser für Dysthymie, Depression, chronische Müdigkeit, Substanzmissbrauch und Essstörungen. Solche ungünstigen Entwicklungsverläufe gelten als empirisch gesichert. Tofler u. Butterbaugh (2005) geben diesbezüglich eine gute Übersicht. Der (bewusste oder unbewusste) Wunsch junger Athleten, Wettkampfstress oder harte Trainingseinheiten zu 6
meiden, kann gar zu einer Ausprägung dissoziativer Störungen führen (Dvonch et al. 1991). Schmerzen oder Verletzungen gelten als gesellschaftlich akzeptierte Gründe für die Nichtteilnahme an einem Wettkampf und erlauben dem jungen Athleten, einer übertriebenen Erwartungshaltung zu entfliehen und dabei sein Gesicht zu wahren. Gut dokumentiert sind auch emotionale und medizinische Probleme als Folge von Übertraining (Tofler u. Butterbaugh 2005). Übertraining gilt bei jugendlichen Athleten als Hauptursache für Depression und chronische Müdigkeit (Lidstone et al. 1991). Diese pathologischen Begleiterscheinungen werden oftmals als Burn-out-Syndrom bezeichnet. Das Auftreten dieses Krankheitsbildes bei berühmten Spitzensportlern hat dazu geführt, dass das Burn-out-Syndrom in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Medien gerückt ist. Eine einseitige Fixierung auf den Sport kann zudem eine ganzheitliche psychologische Entwicklung verhindern. Der Traum vom Rampenlicht kann zu Realitätsverlust füh-
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Kapitel 51 · Sport und psychische Gesundheit
ren und die Vernachlässigung anderer Entwicklungsaufgaben zur Folge haben. Ein Phänomen, dessen ganze Tragweite oftmals erst in späteren Lebensabschnitten voll zur Geltung kommt. Mit Blick auf die aufgezeigten Risiken und Gefahren im Wettkampfsport müssen Eltern, Trainer und Verbände in die Pflicht genommen werden. Das Umfeld des Sportlers soll eine Sensibilisierung für diese Themen erfahren und lernen, Warnsignale frühzeitig zu erkennen. Auf Verbandsebene braucht es konzeptuelle Überlegungen für
51.4
Welche Mechanismen führen zu den Effekten?
Zum jetzigen Zeitpunkt ist es schwierig zu bestimmen, welche Mechanismen zur Verbesserung des psychischen Wohlbefindens oder zur Reduktion der pathologischen Symptomatik beitragen. Empirische Studien dazu wurden vor allem mit Erwachsenenpopulationen durchgeführt. Diskutiert werden physiologische und psychologische Erklärungsmechanismen.
51.4.1 Physiologische Aspekte
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Oftmals wurde vermutet, dass eine Verbesserung der Stimmungslage durch eine Ausschüttung von β-Endorphinen hervorgerufen wird. Tatsächlich führt sowohl psychischer als auch physischer Stress zu einem Anstieg von β-Endorphinen (Oltras et al. 1987). Dieser Anstieg scheint jedoch an gewisse Rahmenbedingungen gebunden zu sein, wie der Übersicht von Knechtle (2004) zu entnehmen ist. Im Krafttraining ist offenbar ein Anstieg der Endorphine nur bei hohen Wiederholungszahlen und hoher Belastungsintensität möglich (Elliot et al. 1984; Kraemer et al. 1993). Bei Ausdaueraktivitäten über 30 min mit männlichen Probanden ließ sich kein Zusammenhang zwischen Endorphinaktivität und Stimmungslage nachweisen (Farrell et al. 1982). Daher ist davon auszugehen, dass Verbesserungen des psychischen Wohlbefindens vermutlich nicht durch die Ausschüttung von β-Endorphinen erklärt werden können. Alternativ wird in diesem Zusammenhang die Serotonin-Hypothese diskutiert. Intensive motorische Aktivität hat einen erhöhten Umsatz von Serotonin zur Folge (Broocks et al. 1991). Gemäß Knechtle (2004) ist es »… vorstellbar, dass es dadurch über Wochen zu einer adaptiven Rezeptor-down-Regulation kommt, vergleichbar mit dem postulierten Wirkmechanismus der medikamentösen Behandlung mit Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI)« (Knechtle 2004, S. 1407).
junge Athleten, die den Sprung an die Spitze nicht schaffen. Vorkehrungen im schulischen und beruflichen Bereich müssen frühzeitig getroffen werden. Möglichen psychologischen Problemen, die bei einem unvorhergesehenen Verlauf oder bei einem abrupten Ende der Leistungssportkarriere auftreten, kann so vorgebeugt werden. Zudem erscheint die Hinzuziehung eines Sportpsychologen sinnvoll. Dies kann im Rahmen einer kontinuierlichen Betreuung oder auch punktuell, im Sinne eines Krisenmanagements, erfolgen.
51.4.2 Psychologische Aspekte
Außer den dargelegten endokrin-metabolen Erklärungsansätzen stehen auch psychologische Wirkmechanismen zur Diskussion. Ein tiefer Selbstwert gilt als Risikofaktor für die Entstehung von Depression (Purper-Ouakil et al. 2002) und Angststörungen (Merikangas 2005) im Kindes- und Jugendalter. Wie bereits dargestellt, ist eine positive Beeinflussung des Selbstwerts durch körperliche Aktivität wahrscheinlich. Dieser Befund ist vor allem aus präventiver Hinsicht wichtig. Demnach würde eine Steigerung des Selbstwerts, im Sinne einer Mediatorvariable, erklären, warum körperliche Aktivität vor Depression und Angststörungen schützen kann. Ein alternativer psychologischer Erklärungsansatz liegt der »Time-out-Hypothese« zugrunde (Berger u. Motl 2000). Dabei basiert das gesteigerte Wohlbefinden auf der Ablenkung, welche mit der körperlichen Aktivität einhergeht. Diesem Ansatz zufolge finden Betroffene während des körperlichen Trainings keine Zeit, sich mit ihren psychischen Problemen zu beschäftigen. Empirische Untersuchungen zu dieser Theorie liegen nur vereinzelt vor und legen den Fokus auf das Erwachsenenalter (Russell et al. 2002). Einschränkend muss angefügt werden, dass Ablenkung während des Sporttreibens vermutlich nur einen kurzfristigen Effekt zur Folge hat (Brehm 1998). Des Weiteren ist denkbar, dass Sport mittels kognitiver Prozesse positive Stimmungszustände hervorruft. Als wichtigste kognitive Einflüsse gelten der sportinduzierte Aufbau von Kompetenzerwartungen, internale Erfolgsattributionen oder eine positive Körperwahrnehmung (North et al. 1990). Ein weiterer Erklärungsansatz für ein gesteigertes Wohlbefinden beim Sporttreibenden ist die »Flow-Hypothese«. Demnach führt Sport zu meditativen Bewusstseinszuständen. Gemeint ist damit das lustbetonte Gefühl beim völligen Aufgehen in einer Tätigkeit. Charakteristisch für das »Flow-Erleben« sind ein müheloses Gelingen, der Verlust des Zeitgefühls und das Gefühl der Einheit mit der Umgebung (Csikszentmihalyi u. Aebli 2005). Ob »FlowZustände« auch einen überdauernden Effekt nach sich ziehen, ist hingegen fraglich.
931 Zusammenfassung
> Fazit Schlussfolgernd lässt sich die sportbedingte Steigerung der psychischen Gesundheit sowohl durch physiologische wie auch durch psychologische Wirkmechanismen erklären. Gemäß den theoretischen Überlegungen von Biddle u. Mutrie (2001) überwiegen bei Sporteinsteigern die psychologischen Faktoren, da physiologische Effekte, im Sinne einer Anpassung an den Trainingsreiz, erst später auftreten. Während in der anschließenden Aufrechterhaltungsphase psychologische und physiologische Wirkmechanismen ähnlich stark einwirken, dominieren in der Habituationsphase ausschließlich physiologische Faktoren.
51.5
heiten stellt sich die Frage, ob auf diesem Wege eine Reduktion der Prävalenzraten zu erzielen ist. Erkenntnisse dieser Art könnten zu einer Entlastung des Gesundheitssystems beitragen und dienen nicht zuletzt als Argumente, wenn es um die Durchsetzung sportpolitischer Anliegen geht. Gegenstand kontroverser Diskussionen war in den letzten Jahren immer wieder der Schulsport. Während Bildungspolitiker im Zuge von Sparmaßnahmen häufig zur Streichung von Sportstunden tendieren, pochen Gesundheitsexperten mit Nachdruck auf eine tägliche Sportstunde. Weitreichende Erkenntnisse, die den Nutzen von Sport bezüglich psychischer Gesundheit dokumentieren, würden der Forderung nach einer täglichen Sportstunde zusätzliches Gewicht verleihen.
Ausblick
Die empirische Befundlage stimmt zuversichtlich, dass eine positive Beeinflussung der psychischen Gesundheit mittels Sports möglich ist. Allerdings warnt Schlicht (2003) vor einer allzu optimistischen Beurteilung der Lage. Untersuchungen mit kontrolliertem, randomisiertem Studiendesign liegen, gerade im Kindes- und Jugendalter, nur wenige vor. Aussagen mit kausalem Charakter lassen sich somit nur bedingt tätigen. Forschungsbedarf besteht vor allem auch bezüglich der Rahmenbedingungen körperlicher Aktivität. So stellt sich die Frage, ob es einen Dosis-Wirkung-Zusammenhang gibt und ob der Einfluss auf das psychische Wohlbefinden von der gewählten Sportart abhängt. Im Hinblick auf die Entwicklung praxisbezogener Interventionen kommt solchen Fragestellungen eine zentrale Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang tauchen auch allgemein organisatorische Fragen auf. Verfügen therapeutische Einrichtungen über die nötige Infrastruktur und das entsprechende Material, um sportbezogene Angebote zu integrieren? Sind Fachpersonen verfügbar, die sportbezogene Interventionen in einem therapeutischen Kontext entwickeln und durchführen können? Letztere brauchen fundierte Kenntnisse im Bereich der Trainingslehre, müssen über methodisch-didaktische Kompetenzen im Sport verfügen und sollten im Umgang mit klinischen Populationen vertraut sein. Personen, die diesem Anforderungsprofil genügen, dürften schwierig zu finden sein. Entsprechend müssen bildungspolitische Maßnahmen in Betracht gezogen werden. Auf universitärer Ebene könnten Synergien besser genutzt werden, wenn sportwissenschaftliche und psychologische Institute enger zusammenarbeiten. Ein institutsübergreifender Studienlehrgang zu Sport und psychischer Gesundheit könnte angehenden Sportlehrern und Psychologen neue Perspektiven eröffnen. Ähnliche Ideen sollten im Rahmen von Nachdiplomstudien überprüft werden. Präventivmedizinischen Forschungsfragen sollte zukünftig mehr Beachtung geschenkt werden. Diesbezüglich liegen erste Hinweise vor, dass körperliche Aktivität im Kindesalter mit einem gesteigerten Wohlbefinden im Erwachsenenalter einhergeht. Mit Blick auf psychische Krank-
Die Deutschen – Ein Volk von Bewegungsmuffeln und Stubenhockern? Wie körperlich aktiv sind unsere Kinder und Jugendliche? Die HBSC-Studie gibt Aufschluss zum Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen in Europa und den USA (Currie 2004). Untersucht wurde eine repräsentative Stichprobe von 11-, 13- und 15-Jährigen. Als Referenzwerte dienten dabei die Empfehlungen für körperliche Aktivität der WHO. Danach sollten sich Kinder und Jugendliche an mindestens 5 Tagen der Woche 60 min oder mehr so körperlich betätigen, dass sie außer Atem und ins Schwitzen kommen (Currie 2004). Zusammenfassend erfüllt nur rund ein Drittel (34%) aller Kinder und Jugendlichen diese Vorgabe. Des Weiteren lassen sich markante Geschlechtsunterschiede beobachten. Während zwei Fünftel der Jungen (40%) den Bewegungsempfehlungen nachkommen, ist dies nur bei etwa jedem vierten Mädchen der Fall (27%). In der Regel nimmt die körperliche Aktivität mit fortschreitendem Alter ab. Mit Blick auf die deutschsprachigen Länder zeichnen sich erstaunliche Unterschiede ab. Die österreichischen Kinder und Jugendlichen bewegen sich in der Regel mehr als ihre Altersgenossen aus der Schweiz und aus Deutschland. Im internationalen Vergleich liegen die Österreicher auf einem Spitzenplatz, die Schweizer belegen einen Platz im Mittelfeld und die Deutschen befinden sich in der hinteren Tabellenregion.
Zusammenfassung Das vorliegende Kapitel erörtert die Fragestellung, inwiefern körperliche Aktivität die psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen beeinflusst. Bei psychisch gesunden Kindern und Jugendlichen liegen Hinweise vor, dass körperliche Aktivität das allgemeine Wohlbefinden, die wahrgenommene Lebensqualität, das Selbstkonzept sowie die Stresswahrnehmung günstig beeinflusst. Bezüglich psychischer
51
932
Kapitel 51 · Sport und psychische Gesundheit
Störungen wurden Angst und Depression am häufigsten untersucht. Auch da scheint eine positive Wirkungsweise vom Sport vorzuliegen. Hinsichtlich ADHS sprechen theoretische Überlegungen für einen günstigen Effekt des Sports. Fundierte empirische Belege dafür stehen aber noch aus. Die Aufklärung zugrunde liegender Prozesse basiert auf verschiedenen Hypothesen. Dabei erscheint eine Interaktion physiologischer und psychologischer Mechanismen plausibel.
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51
V
V
Rahmenbedingungen
52
Verhaltenstherapie in der Pädiatrie – 937 Meinolf Noeker
53
Verhaltenstherapie in der Pädagogik – 959 Ulrike Petermann, Mara Zoe Krummrich
54
Berufsethische und rechtliche Aspekte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
– 975
Jürg Forster
55
Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Kinderund Jugendlichenverhaltenstherapie in Deutschland, der Schweiz und Österreich – 987 Josef Könning, Tina In-Albon, Bibiana Schuch
56
Supervision in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie – 1001 Fritz Mattejat, Kurt Quaschner
57
Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen – 1015 Gunther Meinlschmidt, Marion Tegethoff
52
52 Verhaltenstherapie in der Pädiatrie Meinolf Noeker
52.1
Einleitung
– 938
52.2
Störungsbilder an der Schnittstelle von Pädiatrie und Verhaltenstherapie: Neue Morbidität – 938
52.3
Pädiatrisch-psychologische Störungskonzepte
52.3.1 52.3.2 52.3.3
Historische Entwicklung – 940 Frühere Morbidität und biomedizinisches Krankheitsmodell – 940 Neue Morbidität und biopsychosoziales Störungsmodell – 941
52.4
Versorgungsstrukturen und Behandlungssettings
52.4.1 52.4.2 52.4.3 52.4.4 52.4.5 52.4.6
Institutionen im Schnittfeld von Pädiatrie und klinischer Kinderpsychologie – 942 Entwicklungs- und Verhaltensdiagnostik durch den Kinderarzt – 943 Kinderarzt als »Lotse« – 944 Fachliche Abstimmung zwischen Kinderarzt und Verhaltenstherapeut – 945 Verhaltenstherapeutische Settings in der Pädiatrie – 945 Verhaltenstherapeutische Interventionsverfahren in der Pädiatrie – 946
52.5
Chronische Erkrankung
52.5.1 52.5.2 52.5.3 52.5.4
Definition und Prävalenz – 947 Komorbidität von chronischer Erkrankung und psychischer Störung Erkrankungs- und behandlungsbedingte Stressoren – 951 Körperbild und Selbstkonzept – 951
52.6
Verhaltenstherapeutische Unterstützung des Krankheitsund Selbstmanagements – 953
52.6.1 52.6.2 52.6.3
Prädiktoren eines kompetenten Selbstmanagements – 953 Verhaltenstherapeutische Arbeitsmaterialien – 953 Evidenzbasierte Therapieevaluation – 954
– 942
– 947
Zusammenfassung und Ausblick Literatur
– 940
– 955
Weiterführende Literatur – 957
– 954
– 947
938
Kapitel 52 · Verhaltenstherapie in der Pädiatrie
52.1
Einleitung
Im Verlauf des letzten Jahrhunderts hat sich in der Pädiatrie ein deutlicher Wandel im Krankheitsspektrum vollzogen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Kinderheilkunde geprägt von Infektionserkrankungen (z. B. Tuberkulose) und einer hohen Säuglingssterblichkeit. Enorme Fortschritte im Bereich der Hygiene und der Impfvorsorge haben die Neuerkrankungsraten kontinuierlich gesenkt. Bakterielle Infektionen können heute mit Hilfe moderner antibiotischer Therapie in der Regel in der Praxis des niedergelassenen Kinderarztes sicher behandelt werden. Im Gegenzug nehmen in der ambulanten wie stationären Kinderheilkunde Störungsbilder mit komorbiden Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten enorm zu. Diese Verschiebungen in der Epidemiologie von Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter erfordert die Weiterentwicklung von 4 wissenschaftlichen Störungsmodellen, die eine Integration von pädiatrischen und psychologischen Befunden leisten, 4 patientengerechten Versorgungs- und Behandlungsstrukturen mit interdisziplinärem Behandlungsverständnis.
52.2
52
Störungsbilder an der Schnittstelle von Pädiatrie und Verhaltenstherapie: Neue Morbidität
Die pädiatrische Versorgung wird zunehmend von einer sog. »neuen Morbidität« geprägt (Costello u. Pantino 1987; Petermann et al. 1987). Dazu zählen fünf übergreifende Störungsgruppen, die sich alle dadurch auszeichnen, dass ihre Entstehung, ihr Verlauf und ihr Behandlungs- und Entwicklungsergebnis wesentlich von psychischen, familiären und sozialen Einflussfaktoren mitbestimmt wird. Sie können daher alle im Einzelfall eine Indikation zur kinderpsychologischen und verhaltenstherapeutischen Intervention begründen:
Lebensstilabhängige Erkrankungen und gesundheitliches Risikoverhalten Viele der heute epidemiologisch relevanten Störungsbilder hängen in ihrer Entstehung und ihrem Verlauf vom Lebensstil und dem Gesundheitsverhalten der Kinder und ihrer Familien ab. Gesundheitliches Risikoverhalten im Kindesund vor allem Jugendalter disponiert zu verschiedenen chronischen Erkrankungen des Erwachsenenalters. Kinder und Jugendliche mit hohem Nikotinkonsum, Bewegungsmangel, Übergewicht und Störungen des Fettstoffwechsels bilden kurzfristig nur geringe pathologische Symptome heraus. Erst zeitlich verzögert manifestieren sich die kumulativen Schädigungen in Form von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen (z. B. Diabetes mellitus Typ II), orthopädischen Erkrankungen und nicht zuletzt auch in chro-
nisch-psychischen Störungen des Erwachsenenalters. Die zugrunde liegenden ungesunden Verhaltensweisen sind im Erwachsenenalter schon stark überlernt und habitualisiert. Entsprechend schwierig gestaltet sich eine spät einsetzende Korrektur solcher Verhaltensgewohnheiten. Eine besonders dramatische Entwicklung vollzieht sich aktuell im Bereich der Epidemiologie des Übergewichts bzw. starken Übergewichts (Adipositas) bei Kindern. Die Häufigkeit der Adipositas nimmt rasant zu und steht in direktem Zusammenhang mit Bewegungsmangel, exzessivem Konsum elektronischer Medien (Fernsehen, PC-Spiele etc.) sowie ungesundem Ernährungsverhalten (Fertigprodukte, Fast Food). Alle drei genannten Risikofaktoren treten gehäuft in Kombination auf und potenzieren so die Morbidität im Erwachsenenalter. Viele Kinder konsumieren parallel zu exzessivem PC-Spielen physiologisch minderwertige Nahrung und bewegen sich währenddessen naturgemäß nicht. Diesen kollektiven Gesundheitsrisiken kann durch eine nur am einzelnen Kind ansetzende pädiatrische Behandlung nicht erfolgreich begegnet werden. Erforderlich ist eine Verhältnisund Verhaltensprävention, die ein verändertes Ernährungs-, Bewegungs- und Freizeitverhalten in Kindergarten, Schule, Freizeit und häuslicher Umgebung bewirkt. Dazu sind verhaltenspsychologische Erkenntnisse anzuwenden, sowohl auf kollektiv-präventiver Ebene im Sinne eines PublicHealth-Ansatzes (z. B. Programme zur gesunden Ernährung in Schulen) als auch die Motivierung und Einübung gesundheitsorientierten Verhaltens möglichst im Gruppenformat (z. B. in Form von verhaltensmedizinisch fundierter Adipositasschulung; vgl. Reinehr et al. 2003; Warschburger et al. 2005). Nur interdisziplinär ausgerichtete Präventions- und Behandlungskonzepte unter Beteiligung von Pädiatrie, Kinderverhaltenstherapie, Pädagogik und Ökotrophologie sind geeignet, gesundheitsorientierte Verhaltensänderungen einzuleiten und dauerhaft zu stabilisieren. ! Verhaltenstherapie hat bei diesen lebensstilabhängigen Störungsbildern (»Zivilisationserkrankungen«) daher nicht nur eine Funktion für den kurzfristigen Gesundheitsstatus und die gesundheitsbezogene Lebensqualität beim Kind, sondern eine wichtige präventive Funktion für die internistische und psychopathologische Morbidität des Erwachsenenalters.
Auch gesundheitsökonomisch ist davon auszugehen, dass sich Investitionen in das Gesundheitsverhalten der heutigen Generation von Kindern und Jugendlichen langfristig durch die Prävention der kostspieligen Folgeerkrankungen mehr als auszahlen würden. Weitere Risikoverhaltensweisen des Jugendalters umfassen ein gefährliches Verhalten im Straßenverkehr mit Unfallrisiko, ungewollte Schwangerschaften, Alkohol- und Drogenabusus, sexuell übertragbare Infektionen (vor allem HIV und Hepatitis). Sie alle konfrontieren die Kinder- und Jugendmedizin außerhalb der traditionellen Versorgung genuiner Kinderkrankheiten mit starken Gefährdungen der kör-
939 52.2 · Störungsbilder an der Schnittstelle von Pädiatrie und Verhaltenstherapie: Neue Morbidität
perlichen und seelischen Gesundheit, die ihrerseits hohe soziale, familiäre und ökonomische Belastungen nach sich ziehen. Sie alle zwingen die Kinder- und Jugendmedizin und die Kinderpsychologie zur verstärkten Kooperation.
Kindesmisshandlung, körperliche und seelische Vernachlässigung, sexueller Missbrauch und Münchhausen-by-proxy-Syndrom Kinder mit willkürlichen Gewalterfahrungen sind einem hohem Risiko für spätere posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen sowie Anpassungs- und Angststörungen ausgesetzt. Die Erfahrung des Ausgeliefertseins, der Schutzlosigkeit und Ohnmacht sowie Erpressungsmanöver, das Erlebte zu verschweigen, wirken oft traumatischer als die direkte physische Gewalt- und Schmerzerfahrung. In der überwiegenden Zahl der Fälle stammen der oder die Täter aus dem direkten Umfeld des Kindes. Eine neue Metaanalyse belegt, dass psychische Störungen der Eltern und Konflikte innerhalb der Partnerschaft zu den wichtigsten Risikofaktoren für eine chronische Vernachlässigung eines Kindes zählen. Der Kinderarzt ist im Regelfall die erste Anlaufstelle für misshandelnde Eltern, die das Kind zur Behandlung der physischen Misshandlungsfolgen (Frakturen, Hämatome, Komazustände, Infektionen) vorstellen, gleichzeitig aber strikt bemüht sind, die wirklichen Ursachen zu vertuschen (»Sturz vom Wickeltisch«). Der Kinderarzt schöpft oft als Erster den Verdacht auf eine Misshandlung, ist aber schnell mit der Aufgabe überfordert, allein den Verdacht zu verifizieren und die notwendigen Schritte zur Sicherung des Kindeswohls umzusetzen. ! Auch bei dieser heterogenen Störungsgruppe ist ein erfolgreicher Schutz des körperlichen und seelischen Kindeswohls erst durch eine vertrauensvolle Kooperation von Pädiatrie, Kinderpsychologie, Jugendhilfe und Justiz zu erzielen (Herrmann 2002, 2005; Noeker 2005b).
Funktionelle und somatoforme Störungen Jeweils etwa 10% aller Schulkinder leiden an funktionellen Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Rückenschmerzen, ohne dass eine umschriebene organische Ursache für die Beschwerden diagnostiziert werden kann (Noeker 2008a). Funktionelle Störungen und Schmerzen gehen oft mit hohem Leidensdruck und exzessivem ärztlichem Inanspruchnahmeverhalten einher, weil eine bedrohliche medizinische Grunderkrankung befürchtet wird. Funktionelle Schmerzstörungen haben ein hohes Risiko des Übergangs in eine somatoforme Störung. Fibromyalgie (Noeker u. Petermann 2008a), chronisches Erschöpfungssyndrom sowie nichtepileptische Anfälle stellen weitere Manifestationsformen somatoformer Störungen im Kindes- und Jugendalter dar (Noeker 2002c). Sie weisen eine hohe Komorbidität mit Depressionen und Angststörungen auf. Ohne Behandlung
persistieren sie häufig bis in das Erwachsenenalter (Noeker u. Petermann 2002a). Sie verlaufen in der Regel episodischrekurrierend. Eine zeitlich umschriebene Schmerzepisode eignet sich daher sehr gut für die diagnostische Anwendung einer funktionalen Bedingungsanalyse. Das Auftreten der funktionellen Beschwerden bzw. Schmerzen wird als Reaktion konzeptualisiert, die vor dem Hintergrund einer angeborenen oder erworbenen Disposition (Organismusvariable) durch spezifische externe oder interne Stimulusfaktoren ausgelöst wird. Die Beschwerden werden wahrgenommen und kognitiv auf ihre Bedrohlichkeit hin eingeschätzt. Dies löst korrespondierende Emotionen (Furcht, Ärger, emotionale Kränkung) und ein Bewältigungsverhalten (problemlösend, emotionsregulierend) aus. ! Nachfolgende Bedingungen wirken operant auf die aktivierten kognitiv-emotionalen Schemata und das Bewältigungsverhalten zurück. Die Verhaltenstherapie bietet heute vielversprechende Behandlungsansätze hierzu (Noeker 2002c; Noeker u. Petermann 2002b; Noeker 2008a; 7 Kap. III/44).
Neuro- und sozialpädiatrische Risikokinder mit Entwicklungsauffälligkeiten Kinder mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen auf der Basis von genetischen Syndromen (z. B. Fragiles XSyndrom), angeborenen Stoffwechselerkrankungen (z. B. Phenylketonurie) oder Schädigungen des ZNS in der Pränatalphase (z. B. Zerebralparese) werden durch die Fortschritte in der pränatalen Ultraschalltechnik, der genetischen und metabolischen Analysetechniken und der immer feiner auflösenden radiologischen Verfahren häufiger und früher diagnostiziert. Dem steht eine zunehmende Gruppe pränataler Risikokinder und extrem früh geborener Kinder mit kognitiven, sprachlichen, motorisch-koordinativen, sinnesbezogenen oder sozioemotionalen Entwicklungsverzögerungen und dauerhaften Behinderungen gegenüber, die vor einigen Jahrzehnten noch früh verstorben wären, heute aber aufgrund neonatologischer Behandlungsfortschritte überleben können (Kliegman 1995). ! Die langzeitige Prognose dieser Kinder hängt nicht nur von der primären biologischen Läsion, sondern wesentlich von postnatalen psychosozialen Risikound Schutzfaktoren ab, die wiederum verhaltenstherapeutisch beeinflusst werden können (Moore et al. 2006; Noeker 2005c).
Chronische Erkrankungen Chronische Erkrankungen mit einer primär biologischen Ätiologie stellen die Krankheitsgruppe innerhalb der neuen Morbidität dar, bei der sich die Schnittstellen zwischen Pädiatrie und Verhaltenstherapie am deutlichsten zeigen. Der vorliegende Beitrag wird daher einen Schwerpunkt auf diese Patientengruppe legen.
52
940
Kapitel 52 · Verhaltenstherapie in der Pädiatrie
52.3
Pädiatrisch-psychologische Störungskonzepte
52.3.1 Historische Entwicklung
Infektiologie und Hygiene konnten in den letzten hundert Jahren auf der Basis der Arbeiten von Robert Koch, Louis Pasteur und Max von Pettenkofer die Säuglingssterblichkeit dramatisch senken. Diese Erfolgsgeschichte etablierte in der Folge über viele Jahrzehnte die Infektiologie als richtungsweisendes Paradigma in der Kinderheilkunde (»Wer heilt, hat Recht!«). Die Infektiologie etablierte implizit eine Reihe von weit reichenden Grundannahmen zur Genese und Therapie in die Kinderheilkunde: 1. Eine Erkrankung bricht als Folge eines akuten Ereignisses aus (Infektion, Unfall). Der vorherige Gesundheitszustand, der bisherige Lebensstil und das Gesundheitsverhalten des Kindes und seiner Familie spielen eine nur sehr untergeordnete Rolle. 2. Vorrangig ist ein umschriebenes Organsystem betroffen. Daher folgt die medizinische (im Unterschied zur psychopathologischen) Klassifikation und Störungslehre (Nosologie) den Organsystemen des Körpers. 3. Eine einzige umschriebene pathogene Ursache (z. B. Virus, Unfall) bestimmt die aktuelle Symptomatik und den weiteren Verlauf der Erkrankung (lineares, mechanistisches Krankheitsverständnis). 4. Der Weg zur Heilung führt über die therapeutische Ausschaltung der Erkrankungsursache. Psychologische Therapie kann demnach nicht wirksam sein, wenn eine somatische Ursache zugrunde liegt.
Kinderheilkunde und Kinderpsychotherapie führten entsprechend über lange Zeit eine weitgehend unverbundene Koexistenz. Die Beteiligung von Kinderpsychologie und Psychotherapie folgte in der traditionellen kinderärztlichen Sicht der Logik der Ausschlussdiagnostik. Erst wenn die pädiatrische Diagnostik bei einem Kind trotz fortbestehender Beschwerden keinen organisch positiven Befund feststellen kann, beginnt die Zuständigkeit der Psychotherapie – und gleichzeitig endet damit die Zuständigkeit der Pädiatrie. Dieses dualistisch vereinfachte Störungsverständnis gilt heute als überholt, dennoch prägt es weiterhin unterschwellig den klinischen Jargon, etwa wenn fehlende positive somatische Befunde vorschnell als hinreichender Beleg für eine »psychosomatische Genese« gewertet werden.
52.3.2 Frühere Morbidität und biomedizinisches
Krankheitsmodell Dieses klassische biomedizinische Paradigma war dualistisch angelegt. Demnach orientiert sich die pädiatrischpsychologische Differenzialdiagnostik an einer Entwederoder-Logik und nicht an einer Sowohl-als-auch-Logik im Sinne einer Mehrebenendiagnostik. In diesem Modell spielen psychische Faktoren für die Entstehung und den Verlauf von Kinderkrankheiten keine relevante Rolle. Die lange Überlebenszeit dieses biomedizinischen Paradigmas trotz zwischenzeitlich erhobener gegenläufiger Befunde stellt medizinhistorisch ein interessantes Phänomen dar. Der folgende Exkurs interpretiert dieses »langsame Sterben« des biomedizinischen Modells mit Hilfe kognitiv-verhaltenstherapeutischer Begrifflichkeit.
Exkurs
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Das langsame Sterben des biomedizinischen Krankheitsmodells in der Pädiatrie – eine Betrachtung aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Sicht Die lange Gültigkeit des biomedizinischen Paradigmas rasche Fiebersenkung nach Gabe von Antibiotika) und hohem Verstärkungswert durch Vermeiden hoch aversiver zeigt auf kollektiver Ebene erstaunliche Parallelen zur Stabilität dysfunktionaler Schemata, wie sie bei der kogniKonsequenzen (z. B. Säuglingstod). Relativ stetige Therapietiven Verhaltenstherapie auf individueller Ebene bei Patierfolge, unterbrochen von nur gelegentlichen Misserfolgen enten mit unterschiedlichen Störungsbildern regelmäßig im Einzelfall, begründeten einen konstanten bzw. intermittierenden Verstärkungsplan mit hoher Löschungsresistenz. anzutreffen sind. In beiden Fällen werden kognitive Schemata, die sich in einer kritischen Phase einmal als überleDie bei akuten Infektionserkrankungen erworbenen und benswichtig erwiesen haben, stabil aufrechterhalten, bekräftigten Schemata wurden unzulässigerweise übergeneralisiert auf das Verständnis und die Therapie chronischer auch wenn neue Erfahrungen zunehmend belegen, dass Krankheitsbilder wie Krebs, Asthma bronchiale oder rheusie nicht mehr realistisch und funktional sind. Die eindrucksvollen Erfolge bei der medizinischen Be- matoider Arthritis. Schemainkompatible klinische Erfahkämpfung akut auftretender Infektionserkrankungen harungen und wissenschaftliche Einzelbefunde bei solchen ben die kognitiven Schemata von wissenschaftlich wie Krankheitsbildern im Sinne unzureichender Heilungserfolge führten über längere Zeit nicht dazu, dass die Gültigklinisch tätigen Ärzten nachhaltig operant verstärkt. Die keit des Paradigmas grundsätzlich in Frage gestellt wurde, Verstärkung erfolgte mit hoher Kontingenz, z. B. in Form einer prompten Symptom- und Schmerzreduktion (z. B. sondern dass diesen Informationen keine hinreichende Be6
941 52.3 · Pädiatrisch-psychologische Störungskonzepte
achtung geschenkt oder sie paradigmenkonform uminterpretiert wurden. Das Paradigma erweist sich als veränderungsresistent, auch wenn es dysfunktional wird, weil es die Palette der Handlungsmöglichkeiten, also der Therapieoptionen, einschränkt. Die Stabilität des biomedizinischen Modells in der Medizingeschichte zeigt analog zur kognitiven Verhaltenstherapie, wie hartnäckig Schemata und Glaubenssysteme, die einmal erfolgreich waren, gegen neue, konträre Evidenz beibehalten werden. Ein bekanntes Beispiel für die Persistenz (Rigidität) eines monokausalen Erklärungskonzeptes in der Medizin ist das monokausale Konzept eines erhöhten Cholesterinspiegels als Ursache für die Arteriosklerose und damit die Entstehung von Herz-Kreis-
52.3.3 Neue Morbidität und biopsychosoziales
Störungsmodell Die Störungsbilder der neuen Morbidität können nicht hinreichend als Folge einer einzigen umschriebenen Ursache konzeptualisiert werden. Auch wenn bei einzelnen Krankheitsbildern in der Entstehungsphase nachweislich eine biologische Aberration steht (z. B. Gendefekt, Stoffwechseldefekt, ZNS-Läsion), so folgt doch der Verlauf und die langfristige Prognose einem komplexen Wechselspiel miteinander interagierender biologischer, psychologischer und familiär-sozialer Risiko- und Schutzfaktoren.
Beispiel Der Diabetes mellitus ist ein sehr gutes Beispiel für einen solchen Erkrankungstypus. Seine primäre Ätiologie resultiert aus biologischen (autoimmunologischen) Faktoren. Einmal manifestiert, steuert jedoch wesentlich die Qualität der psychologischen Anpassung bei Kind und Familie nicht nur die psychosoziale, sondern auch die medizinische Verlaufsprognose (Hassan et al. 2006; Holmes et al. 2006).
Um solche empirisch belegten psychologischen Verlaufsfaktoren modelltheoretisch integrieren zu können, wurde zwingend ein Übergang von einem biomedizinischen zu einem biopsychosozialen Paradigma erforderlich. Ein solcher Paradigmenwechsel vollzieht sich grundsätzlich in allen Fächern der Medizin, wird aber durch die besondere Abhängigkeit von Kindern von familiären und sozialen
lauf-Erkrankungen. Inkompatible empirische Befunde wurden über lange Zeit ausgeblendet oder neu bewertet, um sie dissonanzfrei in das etablierte Glaubenssystem einfügen zu können. Reduktionistische, monokausale Modelle belohnen immer auch kognitiv durch spürbare Reduktion von Komplexität bzw. den illusionären Gewinn von Voraussagbarkeit und Kontrolle. Ein neues, verlockendes Angebot, der bisweilen strapaziösen Komplexität moderner biopsychosozialer Modellvorstellungen wieder zu entkommen, macht die moderne Genetik mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms als neuer »prima causa« (erste Ursache) für alles Lebendige. Erneut besteht die Gefahr, psychosoziale Faktoren als reine Epiphänomene zu begreifen.
Ressourcen bzw. ihre hohe Vulnerabilität gegenüber familiären und sozialen Risikofaktoren wahrscheinlich in keiner Disziplin so evident wie in der Pädiatrie. Bei kranken Kindern tritt hinzu, dass aufgrund der im Vergleich zu erwachsenen Patienten enorm beschleunigten Dynamik der körperlichen, psychischen und sozialen Reifung die Entwicklungsdimension besonders relevant wird (Noeker u. Petermann 2003). Für das Krankheitsmodell bedeutet dies, dass die biopsychosoziale um eine entwicklungsorientierte Dimension zu ergänzen ist. Aus Sicht der Entwicklungspsychopathologie verlaufen die nichtnormativen Prozesse der chronischen Erkrankung immer im Kontext der normativen, regulären Entwicklung des Kindes. Das Zusammentreffen nichtnormativer (krankheitsbezogener) und normativer (krankheitsunabhängiger) Entwicklungsfaktoren ergibt sich auf allen drei biopsychosozialen Ebenen (Noeker u. Petermann 2003): 4 Der biologisch-medizinische Erkrankungs- und Behandlungsverlauf vollzieht sich im Kontext der allgemeinen körperlichen Reifungsentwicklung, 4 die individuelle Krankheitsbewältigung vollzieht sich im Kontext der parallelen Bewältigung altersgemäßer Entwicklungsaufgaben, 4 die familiäre Bewältigung der erkrankungsbedingten Herausforderungen vollzieht sich im Kontext der Bewältigung der allgemeinen Familienentwicklungsaufgaben. Ein solches biopsychosoziales und entwicklungspsychopathologisches Störungsmodell impliziert für die Interventionsplanung folgende übergeordnete Leitprinzipien (Noeker 2002a):
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Kapitel 52 · Verhaltenstherapie in der Pädiatrie
Leitprinzipien der Interventionsplanung 1. Leitprinzip Interdisziplinarität: Dem biopsychosozialen Störungskonzept entspricht eine interdisziplinäre Behandlungsplanung, um alle verlaufsrelevanten Faktoren im Behandlungskonzept abdecken zu können. 2. Leitprinzip Bewältigungs- und Ressourcenorientierung: Die retrospektiv gerichtete Frage nach der primären Genese der Erkrankung hat eine nachrangige Bedeutung für die Therapieplanung. Relevanter ist die Frage nach den therapeutisch beeinflussbaren Verlaufsfaktoren, d. h. mit welchen medizinischen Therapieoptionen und mit welchen Strategien der Bewältigungsoptimierung und psychologischen Ressourcenmobilisierung prospektiv der weitere Krankheitsverlauf, die gesundheitsbezogene Lebensqualität sowie das psychische Funktionsniveau optimiert werden kann. 3. Leitprinzip Familienorientierung: Eltern und Geschwister sind einerseits Mitbetroffene der psychosozialen Belastungswirkungen und andererseits die entscheidenden Unterstützungsquellen für das chronisch kranke Kind. Optimierung der Krankheitsbewältigung hat daher nicht nur eine auf das chro-
52.4
Versorgungsstrukturen und Behandlungssettings
52.4.1 Institutionen im Schnittfeld von Pädiatrie
und klinischer Kinderpsychologie
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Das Versorgungs- und Behandlungsangebot für Kinder mit somatischen Erkrankungen ist deutlich umfassender als für Kinder mit psychischen Störungen. Im Jahre 2001 standen 471 ambulant tätigen Kinder- und Jugendpsychiatern 6294 ambulant tätige Kinderärzte gegenüber. Im gleichen Jahr standen ca. 21.800 pädiatrischen Planbetten ca. 4600 kinder- und jugendpsychiatrische Betten gegenüber. Die durchschnittliche Verweildauer in kinder- und jugendpsychiatrischen Betten ist innerhalb von 10 Jahren drastisch von durchschnittlich 126 Tagen (1991) auf 47 Tage (2001) gesunken. In der Pädiatrie ist die Verweildauer dagegen von durchschnittlich 9,1 Tagen (1991) auf 6,3 Tage (2001) gesunken. Im Vergleich der stationären Behandlungskapazitäten entfallen auf 100 stationär pädiatrisch behandelte Kinder statistisch etwa nur 4 stationär kinder- und jugendpsychiatrisch behandelte Kinder. Im Schnittfeld zwischen pädiatrischer, psychologischer und heilpädagogischer Behandlung von Kindern liegen die Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ). Ihr Behandlungsschwerpunkt liegt bei Risikokindern mit
nisch kranke Kind gerichtete Stärkung zum Ziel, sondern muss die innerfamiliär heterogenen Krankheitsbewältigungsstile so miteinander abstimmen, dass sie synergistisch und konstruktiv zusammenwirken und nicht Anlass für zusätzlich belastende Auseinandersetzungen und Zerwürfnisse bieten. Die Effektivität von Bewältigungsstrategien ist daher immer zweifach zu bestimmen, auf der Ebene der Verhaltensergebnisse für das betroffene Individuum und auf der Ebene der familiären Kohärenz. Familienberatung erfolgt daher auf behavioral-systemischer Grundlage. 4. Leitprinzip Entwicklungsorientierung: Professionelle Therapeuten dürfen die Definitionen und Vereinbarungen zu Therapiezielen nicht auf medizinische Parameter einengen. Oft ist für chronisch kranke Kinder eine therapeutische Einflussnahme auf zunächst krankheitsunabhängige Faktoren und Entwicklungsaufgaben (z. B. die Verbesserung der Integration in die Gleichaltrigengruppe oder die Förderung der schulischen Entwicklung) sehr hilfreich, um darüber indirekt auch die Krankheitsbewältigung und damit die medizinische Prognose zu verbessern.
Entwicklungsverzögerungen, Regulationsstörungen und früh manifestierten Verhaltensauffälligkeiten: 4 Die etwa tausend Frühförderstellen bieten für Kinder bis zum Schuleintritt Angebote der Förderung von Wahrnehmung, Motorik, Sprache und sozialer Interaktion mit begleitender Beratung der Eltern. Sie sind interdisziplinär ausgerichtet (z. B. Ärzte, Psychologen, Sonder- und Heilpädagogen, Krankengymnasten, Logopäden, Ergotherapeuten, Sozialarbeiter). 4 Die zentrale Aufgabe der Sozialpädiatrischen Zentren liegt in der Diagnostik, Behandlung und Betreuung von Kindern mit Behinderung oder drohender Behinderung, »die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer Krankheit nicht von geeigneten Ärzten oder in geeigneten Frühförderstellen behandelt werden können» (SGB V, § 119). In Deutschland gibt es derzeit etwa 90 SPZ. In den letzten Jahren hat eine Verschiebung im Leistungsspektrum stattgefunden. Neben den traditionellen Indikationen angeborener oder früh erworbener körperlicher, geistiger und sinnesbezogener Behinderungen sowie schwerer Mehrfachbehinderungen werden heute in SPZ zunehmend viele Kinder mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) sowie mit Teilleistungsstörungen diagnostiziert und behandelt. Dadurch steigt die Überschneidung mit den Aufgaben der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie -psychotherapie.
943 52.4 · Versorgungsstrukturen und Behandlungssettings
52.4.2 Entwicklungs- und Verhaltensdiagnostik
durch den Kinderarzt Kinderärzte leisten die Grundversorgung im Bereich der Identifikation von Kindern mit Entwicklungs- und Verhaltensstörungen. Das wichtigste Instrument dazu sind die kostenlosen Vorsorgeuntersuchungen, die in regelmäßigen Abständen vom Kinderarzt durchgeführt werden und im bekannten »gelben Heft« dokumentiert werden (Baumann
2006). Der Schwerpunkt der Vorsorgeuntersuchungen liegt im Bereich der Verlaufsdiagnostik zur körperlichen, wachstumsbezogenen, motorischen, kognitiv-emotionalen und verhaltensbezogenen Entwicklung. Die Untersuchungsschwerpunkte der neun Früherkennungsuntersuchungen sind in der folgenden Übersicht aufgeführt. Sie zeigt, welch hohen Stellenwert die kinderärztliche Entwicklungsdiagnostik im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen einnimmt.
Schwerpunkte der kinderärztlichen Diagnostik im Rahmen der neun Früherkennungsuntersuchungen 4 Erste Lebenswochen – U1: nach der Geburt – Atmung – Herzschlag – Reflexe – U2: 3.–10. Lebenstag – Innere Organe – Sinnesorgane – Früherkennung von Stoffwechselerkrankungen – U3: 4.–6. Lebenswoche – Größe, Gewicht, Ernährungszustand – Hüftgelenke, Augenreaktion, Hörvermögen 4 Erste Lebensmonate – U4: 3.–4. Lebensmonat – Bewegungsverhalten und Greifreflexe – Seh- und Hörvermögen – Wachstum, Ernährung und Verdauung – Schutzimpfung – U5: 5.–7. Lebensmonat – Körperliche Entwicklung (selbstständiges Drehen vom Rücken auf den Bauch, Greifen nach Gegenständen) – Zähne, Ernährung – U6: 10.–12. Lebensmonat – Körperliche Entwicklung (Krabbeln, Hochziehen, erste Schritte)
Wesentliche Ziele dieser kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen sind die 4 diagnostische Abgrenzung von normvarianten und störungswertigen Entwicklungsverläufen, um Letztere einer spezifischen Behandlung zuführen zu können; 4 Indikationsstellung und Überweisung zur ätiologischen Abklärung bei Verdacht auf pathologisch bedingte Entwicklungs- und Verhaltensstörung und Behinderung (z. B mit Hilfe von genetischen Untersuchungen, Stoffwechseluntersuchungen sowie Bild gebenden Verfahren wie Computer- und Kernspintomographie); 4 Identifikation von (drohender) Vernachlässigung und Misshandlung des Kindes und Einleitung von Maßnahmen zum Schutze des Kindeswohls;
– Entwicklung der Geschlechtsorgane – Sprachentwicklung – Hör- und Sehtest – Verhaltensweisen – Schutzimpfung 4 Erste Lebensjahre – U7: 1 Jahr + 9 Monate bis 2 Jahre – Körperliche und geistige Entwicklungen (z. B. Laufen, Bücken, Aufrichten, Hören, Sehen, Verstehen, Sprechen) – Schutzimpfung – U8: 3 Jahre + 7 Monate bis 4 Jahre – Körperliche Geschicklichkeit (z. B. auf einem Bein stehen) – Hör- und Sehtest – Sprachentwicklung – Kontaktfähigkeit, Selbstständigkeit – Prüfung Impfstatus – U9: 5 Jahre bis 5 Jahre + 4 Monate – Körperliche und geistige Entwicklung, Bewegungsverhalten – Hör- und Sehtest – Sprachentwicklung – Prüfung Impfstatus
4 Beratung und Anleitung der Eltern in der Gesundheitsund Entwicklungsförderung ihres Kindes; 4 Indikationsstellung und Verschreibung von funktionellen Übungsbehandlungen bei motorischen, sprachlichen und sinnesbezogenen Entwicklungsverzögerungen (Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie) und nicht zuletzt 4 Indikationsstellung zur Psychotherapie und damit auch Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen. Kinderärzte leisten damit einen bedeutsamen Beitrag zur Prävention von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen. Die folgende Übersicht zeigt, wie vielschichtig diese Maßnahmen der primären, sekundären und tertiären Prävention von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen im pädiatrischen Kontext sind (vgl. Blair u. Hall 2006).
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Kapitel 52 · Verhaltenstherapie in der Pädiatrie
Prävention von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen im pädiatrischen Kontext 4 Primäre Prävention und Gesundheitsförderung: Verhinderung des Auftretens von Erkrankungen und Störungen – Prävention des Auftretens von Infektionserkrankungen durch öffentliche Maßnahmen (saubere Trinkwasserversorgung, Nahrungsmittelhygiene etc.) – Impfmaßnahmen (vgl. Empfehlungen der »Ständigen Impfkommission – STIKO«) – Persönliche Hygiene – Unfallverhütung (z. B. Autotransport des Neugeborenen, Badewasser, Wickeltisch) – Kampagnen bei (werdenden) Müttern zum Verzicht auf Rauchen sowie Alkohol- und Drogenkonsum zur Prävention pränataler Schädigung (Embryopathien) – Gesundheitsprogramme zur Unterstützung des Stillens (u. a. zur Prävention von atopischer Dermatitis), gesunder Ernährung, Zahngesundheit (z. B. Verzicht auf gesüßten Tee bei Kleinkindern), Stärkung psychischer Gesundheit bei den Eltern, Elternkurse – Maßnahmen zum Schutze des Kindeswohls vor Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch 4 Sekundäre Prävention: Frühzeitige Identifikation bei schon eingetretenen Erkrankungen und Störungen – Schwangerschaftsuntersuchungen
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Im Vergleich zur Diagnostik und Indikationsstellung des Verhaltenstherapeuten im Rahmen der fünf probatorischen Sitzungen steht einem Kinderarzt für eine Vorsorgeuntersuchung vergleichsweise wenig Zeit zur Verfügung. Ebenso nachteilig wirkt sich aus, dass die Standardisierung und Normierung für viele Verfahren zur Diagnostik von Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten in der Kinderarztpraxis noch aussteht (vgl. Petermann u. Macha 2005). Die kinderärztliche Entwicklungs- und Verhaltensdiagnostik weist jedoch auch wichtige Vorzüge auf: ! Kinderärztliche Diagnostik bietet eine niedrigschwellige Chance zur Exploration psychosozialer Belastungsfaktoren und Auffälligkeiten.
Der Untersuchungskontext einer zunächst körperlichen Untersuchung des Kindes erlaubt einen fließenden Übergang zur vertrauensvollen Anamnese psychosozialer Entwicklungsrisiken und -abweichungen, ohne bei den Eltern Angst vor Stigmatisierung im Sinne einer psychischen Störung auszulösen. ! Die Kontinuität der Beziehung des Kinderarztes zur Familie und zum Kind bietet wertvolle Verlaufsinformationen.
Die Beziehung der Familie zum Kinderarzt ist auf Kontinuität angelegt. Der Kinderarzt kennt die Familie vielleicht
– Aufmerksames Nachgehen von Beobachtungen einer Entwicklungsauffälligkeit durch Eltern, Verwandte, Kindergärtnerinnen – Follow-up-Untersuchungen von Risikokindern – Bevölkerungsweite Screening-Untersuchungen auf angeborene Stoffwechselerkrankungen (Guthrie-Test zur Identifikation von primärer Hypothyreose, Phenylketonurie, Galaktosämien, androgenitales Syndrom, Biotinisade) sowie Vitamin-K- und Vitamin-DProphylaxe – Hör- und Sehtests – Monitoring von Größe, Gewicht und Kopfumfang 4 Tertiäre Prävention: Minimierung der organischen, psychischen, sozialen und familiären Folgewirkungen bei schon eingetretener chronischer Erkrankung, Behinderung bzw. Entwicklungs- und Verhaltensstörung – Ausschöpfen der medizinischen (meistens symptomatischen) Behandlungsoptionen und funktionellen Trainingsmaßnahmen – Optimieren der Krankheitsbewältigung durch pädiatrisch-psychologische Beratung und Therapie – Schulung von Patient und Familie im Krankheits- und Selbstmanagement – Sicherung der schulisch-beruflichen Integration – Prävention sekundärer psychischer Störungen
schon aus der Behandlung älterer Geschwister oder sogar der jungen Eltern selbst. Dadurch hat der Kinderarzt oft einen guten Einblick in familiäre Risiko- und Schutzfaktoren. Der Erstkontakt zum Patienten beginnt schon kurz nach der Geburt und wird im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen und interkurrenter Erkrankungen kontinuierlich fortgeführt. Der Kinderarzt gewinnt so aus eigener Anschauung entwicklungspsychopathologisch relevante Informationen zu früh manifesten Risikofaktoren und Vorläufersymptomatiken für spätere Entwicklungs- und Verhaltensstörungen (z. B. Informationen über prä- bzw. perinatale Komplikationen, ein schwieriges Temperament oder beeinträchtigte Bindungsentwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter).
52.4.3 Kinderarzt als »Lotse«
Bei schon manifester Entwicklungs- oder Verhaltensstörung sind die Möglichkeiten des niedergelassenen Kinderarztes zur eigenen Behandlungsdurchführung begrenzt. Seine Kernaufgabe besteht in der Indikationsstellung und Überweisung an die fachlich adäquate Stelle zur Weiterbehandlung. Dabei sind die Überweisungswege nicht präzise vorgezeichnet.
945 52.4 · Versorgungsstrukturen und Behandlungssettings
Beispiel Der Kinderarzt kann z. B. bei einem achtjährigen Kind mit einem Zustand nach perinataler Asphyxie (Sauerstoffmangel bei der Geburt), einer leichten kognitiven Retardierung und gesteigerten Ablenkbarkeit und Impulsivität sowie einer emotionalen Vernachlässigung durch erzieherisch überforderte Eltern eine breite Palette an therapeutischen Institutionen in Betracht ziehen. Dazu zählen u. a. Förder- und Therapieangebote von Therapeuten mit funktioneller Übungsbehandlung (z. B. Ergotherapie), sozialpädiatrische Zentren, spezialisierte pädiatrische Kollegen in Kliniken (z. B. Neuropädiater), Erziehungsberatungsstellen, schulpsychologische Dienste sowie die Initiierung einer sonderpädagogischen Begutachtung, Hilfsmaßnahmen der Jugendhilfe (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe), privatwirtschaftlich tätige Förder- und Lerninstitute, private schulische Nachhilfe und nicht zuletzt niedergelassene Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie psychologische Psychotherapeuten für Verhaltenstherapie. Mit der Entscheidung für eine spezielle weiterbehandelnde Institution vollzieht der Kinderarzt implizit eine folgenreiche Weichenstellung für einen Schwerpunkt der Behandlung (also z. B. funktionelles Training, eingehendere medizinische Abklärung der psychomotorischen Retardation, Eltern- und Familienberatung, medikamentöse Therapie, Psychotherapie).
Für Kinder- und Jugendpsychotherapeuten empfiehlt sich eine vertrauensvolle Kooperation mit Kinderärzten nicht nur aus patientenbezogenen, sondern auch aus berufspolitischen Gründen. Kinderärzte stellen die mit Abstand wichtigsten Überweisenden zur Kinderverhaltenstherapie dar.
52.4.5 Verhaltenstherapeutische Settings
in der Pädiatrie Kinderverhaltenstherapie wird im pädiatrischen Behandlungskontext in verschiedenen ambulanten und stationären Settings angeboten. Neben den oben aufgeführten Institutionen der Frühförderung und den Sozialpädiatrischen Zentren stehen vier Settings im Vordergrund: 4 die psychologische Tätigkeit in einer Kinderklinik, 4 in einem ambulanten Schulungsteam, 4 in der stationären Rehabilitation und nicht zuletzt 4 in der niedergelassenen Praxis des verhaltenstherapeutischen Psychotherapeuten. . Tab. 52.1 bietet eine Übersicht zu den Behandlungsschwerpunkten und Indikationen. Jedes der vier Behandlungssettings beinhaltet therapeutische Vor- und Nachteile, die je nach Krankheitsbild und Indikation unterschiedlich ausfallen. Bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes mellitus wird die langzeitig angelegte psychologische Betreuung am besten in Form eines multiprofessionellen Behandlungsteams erzielt werden, wie es in der Regel nur von Kinderkliniken vorgehalten wird (vgl. die Empfehlung der Fachgesellschaft im folgenden Exkurs).
52.4.4 Fachliche Abstimmung zwischen
Kinderarzt und Verhaltenstherapeut Bei der Überweisung eines Kindes vom Kinderarzt an den Kinderverhaltenstherapeuten ist eine kontinuierliche und offene Abstimmung zwischen den beiden Disziplinen essenziell. Eltern und Patienten benötigen ein einheitlich formuliertes Störungs- und Therapiekonzept.
Beispiel Bei Überweisung eines Kindes mit atopischer Dermatitis zur Verhaltenstherapie ergeben sich z. B. für die Eltern schwer auflösbare Widersprüche, wenn der Kinderarzt ein allergologisch ausgerichtetes, der Psychotherapeut dagegen ein psychosomatisch akzentuiertes Störungsmodell vertritt. Aus divergierenden fachlichen Störungskonzepten resultieren für die Eltern eine Verunsicherung im Umgang mit dem Kind, Loyalitätskonflikte gegenüber den Therapeuten sowie Beeinträchtigungen der Compliance sowohl mit der allergologischen als auch mit der psychotherapeutischen Behandlung.
Exkurs Stellungnahme der »Arbeitsgemeinschaft pädiatrische Diabetologie« (AGPD) zur Notwendigkeit eines Kinderpsychologen in der Langzeitbetreuung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes mellitus Die AGPD betont, dass als Setting die Integration in ein interdisziplinäres Behandlungs- und Schulungsteam mit dem Kinderarzt sowie der Ernährungs- bzw. Diabetesberaterin ideal ist, um eine enge Abstimmung sicher zu stellen: In der psychologischen Betreuung von Problempatienten ist der langjährige persönliche Kontakt zum Patienten und seiner Familie von enormem Vorteil. Optimalerweise beginnt dieser Kontakt bereits bei Diagnosestellung und schließt psychologische Hilfsangebote zur Akzeptanz des Diabetes, zum Umgang mit der Erkrankung im Alltag (Schule, Freizeit), bei Verhaltensauffälligkeiten, Erziehungsfragen oder Schulproblemen mit ein. Naturgemäß sind solche Fragestellungen nicht während eines – im Interesse der Patienten, aber auch der
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Kapitel 52 · Verhaltenstherapie in der Pädiatrie
52.4.6 Verhaltenstherapeutische Kostenträger – heute möglichst kurzen stationären Aufenthaltes erschöpfend zu bearbeiten. Es erhöht die Betreuungsqualität deshalb unzweifelhaft, wenn ein fachlich kompetenter Psychologe sowohl während der stationären Betreuung als auch – wenn notwendig – nahtlos im Anschluss ambulant die notwendige Hilfe und Unterstützung leisten kann. Durch die kurzfristige Verfügbarkeit qualifizierter ambulanter Interventionen können stationäre Notfallaufnahmen oft verhindert werden. … Betreuung im Team bedeutet, dass alle Beteiligten die gleichen Behandlungsrichtlinien verfolgen und in sich kongruente Informationen an die Patienten und Familien weitergeben. Dies kann nur durch eine auch räumlich enge Integration aller Teammitglieder erreicht werden, um zum Beispiel regelmäßige Teamsitzungen zu ermöglichen. Eine auch organisatorische Anbindung des Kinderpsychologen in das Betreuungsteam erleichtert diesen engen Kontakt im Interesse der Patienten. Um bei psychologischen Problemen, die im Rahmen der Diabeteserkrankung bei Betroffenen und ihren Familien auftreten können, kompetente Hilfe leisten zu können, sind nicht nur kinderpsychologische oder gegebenenfalls kinder- und jugendpsychotherapeutische Kenntnisse, sondern auch spezifische Kenntnisse über die Diabeteserkrankung und die medizinischen Therapieanforderungen notwendig. (AGPD 2000)
Interventionsverfahren in der Pädiatrie Das übergeordnete Behandlungsziel jeder kinderpsychologischen Intervention im pädiatrischen Kontext besteht in einer kompetenz- und ressourcenorientierten Unterstützung der Bewältigung erkrankungsbedingter psychosozialer Folgebelastungen und behandlungsbedingter Anforderungen mit dem Ziel einer dauerhaften Verbesserung des medizinischen Erkrankungsverlaufs sowie der individuellen wie familiären Adaptation, Lebensqualität, sozialen Integration und psychischen Gesundheit (Noeker 2002a). Um dieses Ziel zu erreichen, kommen im Wesentlichen fünf übergeordnete Interventionsstrategien zum Einsatz. Die folgende Übersicht verdeutlicht, dass bei bestimmten prototypischen Störungsbildern jeweils ein spezifisches Interventionsverfahren im Vordergrund steht. Dennoch werden in der klinischen Praxis je nach Erfordernissen des Einzelfalls bedarfsgerecht die Methoden der Verhaltensmedizin, der Rehabilitation, des Krankheitsund Selbstmanagements, der behavioral-systemischen Familientherapie und der verhaltenstherapeutischen Psychotherapie flexibel miteinander kombiniert.
. Tab. 52.1. Settings der Kinderverhaltenstherapie in der Pädiatrie: Behandlungsschwerpunkte, Indikationen und spezifische Vorteile Setting
Behandlungsschwerpunkte und Indikationen
Vorteile
Klinischer Kinderpsychologe in einer Kinderklinik
Kurzzeittherapeutische Beratung und Krisenintervention
Zweigleisige Diagnostik durch Pädiatrie und Kinderpsychologie
Differenzialdiagnose und Therapie funktioneller und somatoformer Störungsbilder mit Bedarf nach pädiatrischer Differenzialdiagnostik
Pädiatrisch-psychologisch abgestimmte Behandlungsplanung und einheitliche Patientenaufklärung
Familienberatung und Verhaltensmedizin bei chronisch kranken Kindern und ihren Familien
Flexibilität bei der Bestimmung der Intensität der Behandlung (von akuter Krisenintervention bis zur Langzeitbetreuung mit Beginn bei Diagnosestellung)
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Neuropsychologische Diagnostik bei Erkrankungen mit ZNS-Affektion (z. B. Epilepsie, Zustand nach Frühgeburt, Schädel-Hirn-Trauma) Psychologe als Mitglied eines ambulanten Schulungsteams
Patientenschulung bei Asthma bronchiale, Neurodermitis, Epilepsie, Adipositas
Interdisziplinäres Behandlungskonzept aus Pädiatrie und Psychologie, aber auch Pädagogik, Krankenpflege, Ernährungstherapie und Sport
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in niedergelassener Praxis
Verhaltenstherapie bei Komorbidität von psychischer Störung und somatischer Erkrankung
Kontinuierliche und relativ zeitintensive Intervention (25 bzw. 45 Therapiesitzungen mit dem Kind plus Beratung der Bezugspersonen)
Stationäre Rehabilitation
Patientenschulung und Krankheitsmanagement bei Patienten mit stationärer Behandlungsindikation aufgrund des Schweregrads der Grunderkrankung sowie assoziierter psychosozialer Auffälligkeiten
Systematische und konzentrierte Einübung adäquater Krankheitsbewältigung ohne Ablenkungen durch Alltagsroutinen des häuslichen Milieus
947 52.5 · Chronische Erkrankung
Fünf kinderpsychologische Interventionsstrategien im pädiatrischen Kontext: Ziele und prototypische Störungsbilder 1. Verhaltensmedizin: Übergeordnetes Ziel ist die Reduktion der Krankheitssymptomatik, z. B. bei 4 Enuresis (Döpfner et al. 2002) 4 Bauchschmerz (Noeker 2004, 2008a) 4 Kopfschmerz (Denecke u. Kröner-Herwig 2000) 4 Behandlungsschmerz und Spritzenphobie (Noeker u. Petermann 2004) 4 Schlafstörungen (Fricke u. Lehmkuhl 2006) 2. Psychologische Rehabilitation: Übergeordnetes Ziel ist die neuropsychologische Kompensation von erkrankungsbedingten funktionellen Defiziten und Behinderungen (Training) sowie die kognitiv-verhaltenstherapeutische Integration persistierender Defizite in das Selbstkonzept (Akzeptanz), z. B. bei 4 Erkrankungen mit assoziierten Lernstörungen (Noeker 2005a) 4 chronischen Erkrankungen des ZNS wie z. B. Epilepsie (Noeker et al. 2005) 4 körperlichen, sensorischen, funktionellen Behinderungen (Sarimski 2005) 3. Krankheits- und Selbstmanagement (z. B. in Form von Patientenschulung): Übergeordnetes Ziel ist die Stärkung der Kompetenz und Motivation zum weitgehend eigenverantwortlichen Krankheitsmanagement durch Kind und/oder Eltern (Noeker 2008b), z. B. bei 4 Adipositas (Warschburger et al. 2005)
52.5
Chronische Erkrankung
4 Asthma bronchiale (Brockmann 2005) 4 Diabetes (Hürter u. Lange 2004) 4 atopischer Dermatitis (Warschburger et al. 1998) 4. Behavioral-systemische Familienberatung: Übergeordnetes Ziel ist die Stärkung der familiären Kohäsion und Kompetenzen zur Bewältigung psychosozialer und existenzieller Folgebelastungen, z. B. bei 4 Tumor- und Leukämieerkrankungen (Noeker 2002b) 4 neonatologischen Risikokindern (Noeker 2005) 5. Verhaltenstherapeutische Psychotherapie: Übergeordnetes Ziel ist die Behandlung einer komorbiden psychischen Störung bei vorliegender somatisch-chronischer Erkrankung (Noeker 2006a). Eine erhöhte Komorbidität somatischer und psychischer Störungen findet sich z. B. bei 4 Diabetes und Essstörung (Herpertz et al. 2006) 4 Asthma bronchiale und Panikstörung (Hasler et al. 2005) 4 Tumor- und Leukämieerkrankung und posttraumatischer Belastungsstörung 4 Erkrankungen mit sichtbarer Beeinträchtigung des körperlichen Erscheinungsbildes (z. B. Hauterkrankungen, Wachstumsstörung, genetische Syndrome) und internalisierenden Störungen in Folge der assoziierten Selbstwertbeeinträchtigungen (Noeker u. Haverkamp 2000a)
valenzangaben bewegen sich im Bereich von etwa 10% aller Kinder.
52.5.1 Definition und Prävalenz
Chronische Erkrankungen nehmen unter den Indikationen zur Verhaltenstherapie im pädiatrischen Kontext eine Vorrangstellung ein (Petermann et al. 1987; Noeker u. Petermann 2002c). Zu den chronischen Erkrankungen werden Krankheitsbilder gezählt, 4 deren Dauer mindestens ein Jahr überschreitet, 4 die mit Einschränkungen der Funktionsfähigkeit und sozialen Rollen einhergehen und 4 bei denen die Kinder wiederkehrend auf kompensatorische Hilfen (Medikation, Diät, Hilfsmittel, persönliche Anleitung) sowie auf wiederholte medizinischpflegerische und/oder psychologisch-pädagogische Unterstützung angewiesen sind. Die Häufigkeitsangaben variieren in der Literatur je nach Einschluss oder Ausschluss spezifischer Krankheitsbilder und der Berücksichtigung von überdauernden Behinderungen (Stein u. Silver 2002). Realistische Prä-
52.5.2 Komorbidität von chronischer Erkrankung
und psychischer Störung Die Prävalenz psychischer Störungen ist bei Kindern mit einer chronisch-somatischen Erkrankung im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen zwei- bis dreifach erhöht (Lavigne u. Faier-Routman 1992; Noeker u. Haverkamp 2000b). Diese erhöhte Komorbidität ergibt sich aus der Summe von drei unterschiedlichen Entwicklungspfaden. In der klinischen Praxis ist es wichtig, diese drei Varianten einer Komorbidität zu unterscheiden, weil sich differenzielle Konsequenzen für die Interventionsplanung und die Wahl des geeigneten Behandlungssettings ergeben. 1. Ätiologisch unabhängige Komorbidität von somatischer Krankheit und psychischer Störung. Diese Konstel-
lation ist sehr wahrscheinlich, wenn in der Anamnese die Herausbildung der psychischen Störung (z. B. eines ADHS
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Kapitel 52 · Verhaltenstherapie in der Pädiatrie
im Vorschulalter) der Manifestation der somatischen Erkrankung (z. B. der Manifestation eines Diabetes mellitus im Jugendalter) zeitlich vorausgeht. Eine unabhängige Komorbidität ist weiterhin wahrscheinlich, wenn die somatische und die psychische Störung keine gemeinsamen ätiopathogenetischen Risikofaktoren aufweisen (wie z. B. beim gemeinsamen Auftreten von ADHS und Diabetes mellitus). 2. Ätiopathogenetisch einheitliche Komorbidität. Die zu-
grunde liegende Ätiologie der somatischen Erkrankung manifestiert sich symptomatisch auch in Form einer Entwicklungs- oder Verhaltensstörung. Diese Konstellation ergibt sich vor allem bei chronisch-neuropädiatrischen Krankheitsbildern mit ZNS-Beteiligung. Viele genetische Syndrome erzeugen nicht nur typische körperliche Stigmata, sondern auch einen charakteristischen kognitiven oder behavioralen Phänotyp, der mit primären Verhaltensstörungen einhergeht (z. B. Fragiles X-Syndrom; PraderWilli-Syndrom; vgl. Sarimski 2005; Sarimski u. Steinhausen 2008). Angeborene oder erworbene Läsionen des ZNS können sowohl eine symptomatische Epilepsie als auch assoziierte Verhaltensstörungen wie z. B. ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom bewirken (Noeker u. Haverkamp 2003). Für diesen Entwicklungspfad ist typisch, dass die somatische Krankheit und die psychische Störung auf eine einheitliche Ätiologie zurückgeführt werden können. In manchen Fällen besteht die Option, über eine optimierte medizinische Behandlung der Grunderkrankung auch den Schweregrad der psychischen Störung positiv zu beeinflussen. Dies ist z. B. der Fall, wenn die Gabe eines Antikonvulsivums (Medikament zur Kontrolle epileptischer Anfälle) bei einem Kind mit Epilepsie und ADHS die Symptomatik des assoziierten ADHS besser kontrolliert als die Gabe von Psychostimulanzien (Noeker et al. 2005).
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3. Konsekutive Komorbidität. Die größte Subgruppe bezieht sich auf diejenigen Kinder, bei denen eine kumulative Fehlanpassung an die chronische Grunderkrankung mit ihren assoziierten Symptomen, psychosozialen Belastungen, Behandlungsanforderungen im Zusammenwirken mit weiteren krankheitsunabhängigen Risikofaktoren sekundär zur Entwicklung einer psychischen Störung führt. Bei diesem Entwicklungspfad geht in der Anamnese charakteristischerweise die somatische Erkrankung der psychischen Störung voraus. Zum Zeitpunkt der Manifestation der psychischen Störung finden sich in der Anamnese oft kritische Wendepunkte im Verlauf der chronischen Erkrankung (z. B. Diagnose- oder Rezidivmitteilung, Operation, hochakute Exazerbation) oder hinzutretende krankheitsunabhängige kritische Lebensereignisse (z. B. Trennung der Eltern, Klassenwiederholung). Eine Vielzahl empirischer Studien hat gezeigt, dass das jeweils vorliegende Erkrankungsbild nur wenig Vorhersagekraft zur Quantifizierung des Risikos einer komorbiden
psychischen Störung besitzt (Noeker u. Petermann 2003). Das Ergebnis des Anpassungsprozesses ergibt sich vielmehr aus einer Vielzahl interagierender Einflussfaktoren. Psychische und soziale Merkmale des Kindes und der Familie erklären in der Regel deutlich höhere Varianzanteile als medizinische Merkmale der Grunderkrankung (vgl. z. B. Barlow u. Ellard 2006). . Abb. 52.1 zeigt ein Übersichtsmodell, das den Adaptationsprozess an eine chronische Erkrankung über folgende Etappen nachzeichnet: 4 Erkrankungsmerkmale: Das medizinische Verlaufsmuster der chronischen Erkrankung (episodisch-rezidivierend, persistierend, progredient bzw. lebensbedrohlich) hat stresspsychologisch relevante Implikationen für die erlebte Vorhersagbarkeit und Kontrollierbarkeit des Erkrankungsverlaufs durch den Patienten (Noeker u. Haverkamp 1997; Noeker 2006b). 4 Resultierende Belastungen und Anforderungen: Vier Arten von Stressoren ergeben sich: Schmerzen und Beschwerden, Therapieanforderungen, Funktionseinschränkungen und psychosoziale Belastungen. Stresspsychologisch sind nicht der objektive Schweregrad, sondern das subjektive Bedrohungserleben und die Einschätzung vorhandener Bewältigungsoptionen für das Bewältigungsverhalten entscheidend (Lazarus 2006; Noeker u. Petermann 1998). 4 Moderierende Faktoren des Bewältigungsprozesses sind der kognitive und emotionale Entwicklungsstand des Kindes sowie die krankheitsunabhängigen und krankheitsabhängigen Risiko- und Schutzfaktoren, die die Bewältigungsleistung erschweren oder erleichtern (Noeker 2001). Kinder mit überwiegend protektiven Merkmalen (Intelligenz, soziale Kompetenz, gute Integration in die Peer-Group, familiäre Kohäsion u. a.) können auch eine sehr bedrohliche und belastende Grunderkrankung ohne Entwicklung einer psychischen Störung überstehen. Umgekehrt können Kinder mit einer hohen Vulnerabilität (z. B. im Sinne der fünften Achse des ICD-10) schon an der Bewältigung einer relativ harmlosen Erkrankung scheitern, wenn der Erkrankungsausbruch zu einer Vielzahl vorbestehender Belastungsfaktoren hinzutritt. 4 Der Adaptationsprozess des Kindes richtet sich zum einen auf die Regulation der Erkrankungssymptomatik im engeren Sinne (Krankheitsmanagement) und zum anderen auf die Bewältigung der sekundären psychosozialen Belastungen (Coping). Beide Aspekte interagieren über den Erkrankungs- und Entwicklungsverlauf miteinander. 4 Das Adaptationsergebnis ergibt sich aus dem Wechselspiel der genannten biologischen, psychischen und sozial-familiären Faktoren. Das Adaptationsergebnis ist nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen. Wenn sich im Rahmen einer unzureichenden Krankheitsverarbeitung eine psychische Störung herausbildet, so erhöht dies rekursiv die Vulnerabilität und das Stresserle-
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ben des Kindes. Die Manifestation einer psychischen Störung kann aber auch kompensatorische Unterstützungsmaßnamen der Familie, des sozialen Netzwerkes und professioneller Therapeuten mobilisieren, die dem Kind zu einer neuen Stabilität und einem höheren Adaptationsniveau verhelfen. Das Adaptationsergebnis lässt sich über vier Kategorien von ungünstigen zu günstigen Ausgängen abstufen: 5 Psychische Störung: Die ungünstigste Konstellation ist die Entwicklung einer komorbiden psychischen Störung. 5 Subklinische Einschränkungen des Wohlbefindens und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität: Die nächste Stufe bezieht sich auf die Kinder, die zwar unter Einbußen ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität leiden, jedoch keine störungswertigen Verhaltensprobleme herausbilden. 5 Unauffällige Normalentwicklung: Eine Reihe von Studien hat auf der Basis von Fragebogenverfahren für einen Großteil chronisch kranker Kinder unauffällige Befunde ergeben, die keine relevanten Abweichungen zu gesunden Altersgenossen zeigen. Diese Studien können jedoch methodische Artefakte im Sinne falsch-negativer Befunde beinhalten, weil sie entweder kinder- und jugendpsychiatrische Screeningverfahren (z. B. die Child Behavior Checklist) oder krankheitsübergreifende (generische) Verfahren zur Messung der Lebensqualität eingesetzt haben. Diese Verfahren weisen in der Regel keine Items zu den krankheitsspezifischen Belastungsfaktoren auf (z. B. Angst vor einem Asthmaanfall beim Asthmatiker). Ihnen fehlt daher eine spezifische Sensitivität für die besonderen Probleme
chronisch kranker Kinder (Noeker u. Haverkamp 2003). Sie können daher fälschlich den Eindruck erwecken, die chronisch kranken Kinder hätten keine besonderen Probleme. 5 Entwicklungsgewinn und Resilienz: Bemerkenswerterweise findet sich in manchen Untersuchungen auch eine umschriebene Subgruppe von Kindern, die im Zuge einer hoch kompetenten Bewältigung ihrer chronischen Erkrankung und deren existenziellen Krisen eine akzelerierte Reifungsentwicklung durchleben. Sie stellen damit ein Beispiel für die Entwicklung von Resilienz dar, die als ein möglicher Entwicklungsausgang auch bei anderen belastenden und herausfordernden Entwicklungskontexten beschrieben worden ist. Der Begriff der Resilienz ist hoch positiv konnotiert. Der folgende Exkurs zeigt dazu am Beispiel des individualpsychologischen Begriffs der Kompensation von Organminderwertigkeit, wie stark deskriptive und evaluative Dimensionen sich nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in der wissenschaftlich-psychologischen Terminologie durchdringen. Die Begrifflichkeit der Bewältigungsforschung (Coping) hat implizit bestimmte Bewältigungsstile (z. B. Verleugnung) aus der Perspektive des beobachtenden Wissenschaftlers als günstig versus ungünstig qualifiziert. In der subjektiven Sicht des Patienten können sich ganz andere Bewertungen zu Copingstrategien ergeben. Für die verhaltenstherapeutische Therapieplanung ist die Kenntnis der in . Abb. 52.1 aufgeführten Einflussfaktoren und ihres Zusammenspiels essenziell. Jeder der aufgeführten Einflussfaktoren bietet grundsätzlich einen Ansatzpunkt zur Intervention.
Exkurs Entwicklungsstimulation durch chronische Erkrankung: Echte Resilienzentwicklung oder nur neurotische Überkompensation? Alfred Adler als Begründer der Individualpsychologie hat berufliche Leistungsergebnisse auf als Personen aus der Allgemeinbevölkerung (Lee et al. 2006). Dies kann als Hinweis den populär gewordenen Begriff des Minderwertigkeitskomplexes geprägt. Weniger bekannt ist, dass er die gewertet werden, dass Personen ein überdauerndes funktiEntstehung des Minderwertigkeitskomplexes (in heutiger onelles und ästhetisches Defiziterleben in ihrem Körperschema durch eine besondere Leistung im kognitiven und Terminologie: eines negativen Selbstkonzepts) auf das Erleben eines körperlichen Defizits (Organminderwertigschulisch-beruflichen Bereich auszugleichen versuchen. Langzeituntersuchungen bei Kindern, die eine Tumorkeit) zurückführte. Erlebte Organminderwertigkeit ist oft oder Leukämieerkrankung überlebt haben, haben interesFolge einer chronischen Erkrankung oder Behinderung. Nach Alfred Adler fällt es dem Kind schwer, eine Orsanterweise nicht nur eine erhöhte Rate an posttraumaganminderwertigkeit einzugestehen und zu akzeptieren. tischen Belastungsstörungen, sondern auch an Resilienzentwicklungen im sozioemotionalen Bereich aufzeigen Daher bemüht es sich, die Organminderwertigkeit durch können. Manche Kinder akzelerieren angesichts der exisgesteigerte Anstrengungsbereitschaft und Entwicklungsakzeleration in anderen Leistungsbereichen zu kompentenziellen Bedrohungen in ihrer Persönlichkeitsentwicksieren. Empirische Belege dafür finden sich beispielsweise lung und der Bildung ihrer Wertehierarchien enorm. bei Patienten mit schweren angeborenen urogenitalen In der Tradition von Alfred Adler werden KompensatiFehlbildungen. Sie weisen deutlich bessere schulische und onsanstrengungen chronisch kranker und behinderter 6
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Kapitel 52 · Verhaltenstherapie in der Pädiatrie
Menschen alltagspsychologisch leicht in geringschätziger Weise als »neurotisch« und unreif qualifiziert. Dies zeigt sich in prototypischer Weise bei der sozialen Bewertung von kleinwüchsigen Menschen, die sozial fordernd und durchsetzungsbereit auftreten. Laienpsychologisch wird ein solches Verhalten vorschnell als Kompensation der geringen Körpergröße abgewertet (»Napoleon-Syndrom«). Bei unvoreingenommener Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Unterschiede oft stärker im Auge des Betrachters und dessen Wahrnehmungs- und Bewertungsstereotypien liegen als in objektiven Persönlichkeitsmerk-
malen des chronisch kranken, hier kleinwüchsigen Menschen: Das identische durchsetzungsbereite Verhalten wird bei Personen mit normaler oder überdurchschnittlich großer Körperstatur oft positiv konnotiert, nämlich als positiver Ausdruck von Selbstsicherheit und Autonomie. Die gegensätzlichen Konnotationen der Begriffe von Resilienz und Kompensation machen deutlich, wie stark sich deskriptive und evaluative Dimensionen zur Erfassung von Verhalten nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in der psychologischen Fachterminologie durchdringen können.
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. Abb. 52.1. Prozessmodell zur Adaptation an chronisch-somatische Erkrankung
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52.5.3 Erkrankungs- und behandlungsbedingte
Stressoren Für das Kind und die Familie resultiert aus der Erkrankung und ihrer Behandlung ein weites Spektrum an Folgebelastungen und Bewältigungsanforderungen (. Abb. 52.1). Für die verhaltenstherapeutische Therapieplanung ergibt sich vor diesem Hintergrund eine doppelte Aufgabe: 4 In einem ersten Schritt ist das gesamte Spektrum relevanter Belastungen und Anforderungen zu erheben (Makroanalyse), um die Bandbreite, aber auch den relativen Stellenwert einzelner umschriebener Anforderungen erfassen zu können. 4 In einem zweiten Schritt ist es erforderlich, gemeinsam mit dem Patienten einzelne konkrete Belastungsfaktoren herauszuarbeiten, deren Veränderung im Fokus der Therapie stehen soll (Mikroanalyse). Als Screeninginstrumente zur Erfassung des Spektrums und der Intensität erkrankungs- und behandlungsbedingter Folgebelastungen können die beiden nachfolgend beschriebenen Fragebögen für die verhaltenstherapeutische Behandlungsplanung genutzt werden (vgl. auch 7 Band IV dieses Lehrbuchs): 4 Der Fragebogen »Bewältigungsanforderungen für ein Kind mit chronischer Krankheit: Fragebogen für die Eltern« erhebt differenziert die Folgebelastungen in den Bereichen: Schmerzen und Beschwerden, Therapieanforderungen, Funktionseinschränkungen und Behinderungen, psychosoziale Folgebelastungen. 4 Der komplementäre Fragebogen »Bewältigungsanforderungen für die Eltern bei chronischer Krankheit des Kindes: Fragebogen für die Eltern« erfasst Belastungsfaktoren, die sich für die Eltern selbst aus ihrer veränderten Elternrolle und ihrer persönlichen Mitbetroffenheit ergeben. Der Fragebogen enthält zusätzlich einen Abschnitt zu Entwicklungsgewinnen, die aus der Auseinandersetzung mit den erkrankungsbedingten Belastungsfaktoren resultieren können. Mögliche Resilienzeffekte beziehen sich auf die Persönlichkeitsentwicklung der einzelnen Familienmitglieder bzw. die Funktionsfähigkeit und Kohärenz des gesamten Familiensystems.
52.5.4 Körperbild und Selbstkonzept
Eine herausgehobene Stellung innerhalb des Spektrums psychosozialer Belastungen stellt das veränderte Körperbild und damit verknüpft ein vulnerables Selbstkonzept dar. Ein negatives Selbstkonzept und eine Fehlanpassung an die Erkrankung beeinträchtigen sich wechselseitig über den Erkrankungs- und Entwicklungsverlauf hinweg (Petermann et al. 1987). Ein positives Selbstkonzept begünstigt dagegen ein erfolgreiches Bewältigungsverhalten und ist
damit ein wichtiger protektiver Faktor für einen positiven Erkrankungsverlauf und einen psychisch unauffälligen oder sogar resilienten Entwicklungspfad (Noeker 1996). Die besondere Vulnerabilität des Selbstkonzeptes bei chronisch kranken Kindern ergibt sich wesentlich aus einem kosmetisch und funktionell beeinträchtigten Körperbild. Körperliche Attraktivität ist bei gesunden wie kranken Kindern und vor allem Jugendlichen ein wichtiger Prädiktor für Akzeptanz in der Peer-Gruppe (Gilliland et al. 2006). Für Gleichaltrige mit einem ebenfalls beeinträchtigten Selbstkonzept kann die Stigmatisierung chronisch kranker und behinderter Kinder die Funktion erfüllen, sich der eigenen körperlichen Unversehrtheit, Normalität und Stärke zu vergewissern. ! Für chronisch kranke Kinder ergibt sich eine doppelte Entwicklungsgefährdung: In interpersoneller Hinsicht wird die Akzeptanz und Position in der Gleichaltrigengruppe und in intrapsychischer Hinsicht die Zufriedenheit mit dem eigenen Körperbild in Mitleidenschaft gezogen.
Offene negative Bewertungen aus der Gleichaltrigengruppe und verdeckte selbstabwertende Kognitionen potenzieren sich wechselseitig. Verletzende Bemerkungen erhöhen die Neigung, die eigene Aufmerksamkeit verstärkt auf kritische Aspekte des eigenen Erscheinungsbildes und dessen Wirkung auf andere Menschen zu fokussieren. Viele chronisch kranke Kinder mit 4 motorischen Leistungseinschränkungen (z. B. bei Muskelerkrankungen, angeborenen Herzfehlern) machen z. B. bei Mannschaftssportarten im Sportunterricht die kränkende Erfahrung »immer als Letzter gewählt zu werden« (vgl. Vitulano 2003). 4 kognitiven Einbußen und Lernbehinderungen (z. B. bei Epilepsie, Syndromen oder angeborenen Stoffwechselerkrankungen, Kinder nach Strahlentherapie eines Tumors) machen die Erfahrung, auch bei höherer Anstrengungsbereitschaft nur unterdurchschnittliche Schulnoten zu erzielen und ggf. in eine Förderschule wechseln zu müssen (vgl. Noeker 2005a). 4 Erkrankungen, die plötzlich krisenhaft entgleisen können (epileptischer Anfall, Asthmaanfall, Unterzuckerung beim Diabetiker), können das Gefühl entwickeln, in ihrem Körper nicht sicher aufgehoben zu sein. 4 sichtbaren Erkrankungen (z. B. Wachstumsstörungen, kraniofazialen Fehlbildungen, schuppender, entzündeter Haut bei atopischer Dermatitis, Haarausfall in Folge einer chemotherapeutischen Behandlung bei onkologischer Grunderkrankung) entwickeln Scham über ihr Erscheinungsbild und leiden daran, in der Öffentlichkeit angestarrt zu werden (Noeker u. Haverkamp 2003). 4 nicht direkt sichtbaren Erkrankungen (z. B. HIV/AIDS, urogenitalen Fehlbildungen) müssen entscheiden, wem gegenüber sie sich zu welchem Zeitpunkt bezüglich ih-
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Kapitel 52 · Verhaltenstherapie in der Pädiatrie
rer Erkrankung offenbaren (vgl. Lee et al. 2006). Chronisch kranke Jugendliche, die sich verlieben, erleben es als Dilemma, den »richtigen« Zeitpunkt zu bestimmen, wann sie einem möglichen Partner ihre Erkrankung und mögliche Einschränkungen mitteilen. Neben offener sozialer Zurückweisung sind es vor allem verdeckte innere Auslöser, die selbstabwertende Kognitionen triggern. Ein kurzer Blick in den Badezimmerspiegel kann beim Kind mit Neurodermitis automatisierte Kognitionen der Ablehnung des eigenen Aussehens auslösen. Akute Krankheitsbeschwerden lösen Beschämung
wegen des nicht intakten, funktionsfähigen Körpers aus. Auch Kinder, die objektiv wenig stigmatisiert werden, können folglich ruminativen, selbstabwertenden Gedanken nachgehen, die von der Krankheit auf das gesamte Körperbild und vom Körperbild auf das gesamte Selbst generalisieren. Ein negatives Selbstkonzept begünstigt ein Rückzugsverhalten, welches wiederum soziale Isolation und den Verlust von sozial-kommunikativen Fertigkeiten verstärkt. Die Erfahrung sozialer Isolation wird dann im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung als Beleg für die eigene Unattraktivität und soziale Ausgrenzung gewertet.
Beispiel Kognitionen einer 15-jährigen Diabetikerin zu ihrer Krankheit, ihrem Körper, der Therapie und ihrer Person
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4 Krankheit: – »Diabetes ist ein ständiger, lästiger Begleiter. Du kannst ihn nie wegschicken.« – »Manchmal ignoriere ich den Diabetes einfach. Die nächste Blutzuckermessung gibt mir dann unweigerlich die Quittung. Nie drückt der Diabetes mal ein Auge zu. Ich kann nicht mit ihm diskutieren und ihn auch nicht austricksen. Er ist strenger als jeder Lehrer, Vater oder Chef. Er sitzt einfach am längeren Hebel.« 4 Körper: – »Mein Körper ist launisch, er zickt, ständig will er Aufmerksamkeit. Ich kann mich nicht auf ihn verlassen. Manchmal hasse ich ihn, weil er einfach nicht so funktioniert wie bei anderen auch.« – »Heimlich schäme ich mich für meinen Körper, auch wenn ich es niemandem sage. Wenn ich einen Jungen kennen lerne, habe ich fast das Gefühl, ich müsste mich für meinen Körper entschuldigen. Ein Körper ohne irgendwelche Macken entscheidet doch heute alles. Ich habe das Gefühl, ich kann meinen Körper nicht vorzeigen, der hat einen Defekt. Ich wäre gern stolz auf meinen Körper, dann könnte ich ihn auch besser leiden und genießen«.
Das Beipiel illustriert solche selbstabwertenden Kognitionen einer jugendlichen Diabetikerin. Dysfunktionale kognitive Bewertungsprozesse, reale Erfahrungen sozialer Herabsetzung und Ausgrenzung, defensive und evasive Copingstrategien können sich wechselseitig bis zur Entwicklung von Angststörungen und Depressionen aufschaukeln (Cobb et al. 1998; Hains et al. 2006). Für die verhaltenstherapeutische Intervention ergeben sich zwei übergeordnete Ansatzpunkte: Verhaltensorientierte Interventionen sind vorrangig indiziert bei objektiv erfahrener Stigmatisierung, kognitive Techniken eigenen
4 Therapie: – »Nach dem Insulinspritzen denkt man immer schon an das nächste Insulinspritzen. Das ist ein ewiger Kreislauf.« – »Du behandelst und behandelst, richtig gesund wirst Du trotzdem nicht.« – »Diabetesbehandlung findet an 365 Tagen im Jahr statt. Weihnachten, Geburtstag, Urlaub – keine Ausnahme. Einfach unerbittlich.« – »Die Therapie unterbricht und nervt mich immer im genau falschen Moment: wenn ich gerade etwas Schönes mache und nicht gestört werden will oder wenn ich mit anderen zusammen bin.« – »Wenn ich in der Straßenbahn Insulin spritze, glotzen manche Leute so aufdringlich unaufdringlich, dass ich denke, die halten mich für drogenabhängig.« 4 Person: – »Manchmal zweifle ich, wer mich wirklich mag. Ich fühle mich dann im Vergleich zu anderen wie eine zweite Wahl. Welcher Junge will schon mit einer Diabetikerin zusammen sein, wenn es so viele gesunde Mädchen gibt, in die man sich auch verlieben kann.« – »Manche Freundlichkeit mir gegenüber ist bestimmt nicht ehrlich gemeint, sondern nur Show und Mitleid, und das kann ich am wenigsten ausstehen.«
sich besser zur Emotionsregulation verdeckt ausgelöster, ruminativer Selbstabwertungen. Verhaltensorientierte Interventionen. Sie zielen auf die Einübung eines assertiven Kommunikationsverhaltens für soziale Situationen, in denen die Erkrankung thematisiert wird. Als Vorbereitung werden zunächst im therapeutischen Gespräch und dann im Rollenspiel prototypische Formulierungen erarbeitet und eingeübt, auf die das Kind in kritischen Situationen zurückgreifen kann. Folgende drei Szenarien stehen im Vordergrund:
953 52.6 · Verhaltenstherapeutische Unterstützung des Krankheits- und Selbstmanagements
4 Gehänselt werden von Gleichaltrigen bei auftretenden Symptomen oder bei der Durchführung von Selbstbehandlungsmaßnahmen. 4 Zielgerichtet Hilfe holen können bei einer akuten Exazerbation, die das Kind überfordert. 4 Aktive Erstaufklärung von Mitschülern und Freunden.
Beispiel Eine prototypische Formulierung, die ein Kind mit Asthma anwenden kann, lautet: »Manchmal bekomme ich schlecht Luft, wenn ich mit Katzenhaaren oder Blütenpollen in Kontakt komme. Ich reagiere dann allergisch und bekomme deswegen Asthma. Manchmal komme ich auch aus der Puste, wenn ich zu schnell renne. Ich kann mir meistens aber gut selber helfen. Ich inhaliere dann mit einem Spray und mache bestimmte Atemübungen. Willst Du das Spray mal sehen?«
Beispiel Hilfreich bei Kindern ist die Vorstellungsübung, sich selbst aus der Perspektive eines sehr guten, wohlmeinenden Freundes wahrzunehmen, in dessen Perspektive sich der Stellenwert der chronischen Erkrankung für die Beziehungsqualität enorm relativiert. Selbstabwertenden Kognitionen kann eine Liste positiver und für Gleichaltrige attraktiver Persönlichkeitseigenschaften gegenüber gestellt werden (»Ich mag an mir…; andere mögen an mir…«). Die Erkrankung wird damit als nur eine Facette der Person relativiert, die für die Fremdund Selbstbewertung nicht ausschlaggebend ist.
52.6
Verhaltenstherapeutische Unterstützung des Krankheits- und Selbstmanagements
52.6.1 Prädiktoren eines kompetenten
Je besser ein Kind in der Lage ist, sein Umfeld mit solchen Formulierungen über die Erkrankung und Behandlung aufzuklären und je höher seine Selbstwirksamkeitserwartung ist, sich kompetent mitteilen zu können, desto geringer wird seine soziale Angst sein, Maßnahmen der Selbstbehandlung im Beisein von Klassenkameraden oder Passanten durchzuführen. Die soziale Sicherheit stärkt damit wesentlich die Compliance mit der medizinischen Behandlung. Kognitive Interventionen. Sie dienen dem Ziel, trotz objek-
tiver gesundheitlicher, funktioneller und kosmetischer Einschränkungen ein positives Körper- und Selbstkonzept aufrecht zu erhalten. Objektive Stigmatisierung durch verletzende Bemerkungen und subjektiv verzerrte Interpretationen vermeintlicher Ausgrenzung sind in der verhaltenstherapeutischen Exploration chronisch kranker Kinder mitunter kaum voneinander abzugrenzen. Die intermittierende Erfahrung realer Stigmatisierung erschwert eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Umstrukturierung in dem einfachen Sinne, die erlebten Kränkungen des Kindes als »unrealistisch« zu qualifizieren. Respektvolle Anerkennung faktischer Ausgrenzung und kognitive Umstrukturierung kognitiver Verzerrung und Generalisierung stehen daher in einem komplementären Verhältnis zueinander. Kognitive Umstrukturierung zur Stärkung eines positiven Selbstkonzeptes bedeutet daher bei chronisch kranken Patienten vor allem, zwei häufigen Formen der Fehlverarbeitung entgegenzuwirken: 4 der überzogenen Generalisierung von einem spezifischen umschriebenen gesundheitlichen »Defizit« auf ein global negatives Körperbild, und von diesem wiederum auf eine vermeintliche Ablehnung durch signifikante andere Personen; 4 von dem spezifisch umschriebenen gesundheitlichen »Defizit« auf den Wert und Liebenswürdigkeit der Person.
Selbstmanagements Im Bereich des Diabetes mellitus konnte eine Reihe psychologischer Prädiktoren für ein gelungenes Krankheitsund Selbstmanagement identifiziert werden (vgl. Day 2000; Knight et al. 2006; Krichbaum et al. 2003; Noeker 1998, 2008b): 4 differenziertes Wissen um die Erkrankung und Behandlung, 4 Beherrschen von behandlungsbezogenen und sozialkommunikativen Fertigkeiten, 4 Wahrnehmung wünschenswerter Ziele und Festlegung von Standards einer subjektiv als erfolgreich erlebten Krankheitsbewältigung, 4 Erwartung eines spürbaren Nutzens bei Durchführung des funktionalen Bewältigungsverhaltens (positive Ergebniserwartungen) nicht nur im Bereich gesundheitlicher Ziele, sondern auch mit Blick auf das psychophysische Wohlbefinden und die gesundheitsbezogene Lebensqualität, 4 internale Kontrollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitserwartungen, Barrieren bei der Durchführung des Diabetesmanagements aktiv überwinden zu können.
52.6.2 Verhaltenstherapeutische
Arbeitsmaterialien Zur Unterstützung des Krankheits- und Selbstmanagements können verschiedene Arbeitsmaterialen eingesetzt werden (vgl. auch 7 Band IV dieses Lehrbuchs). Die Arbeitshilfe »Selbstmanagement für das chronisch kranke Kind« ist für Kinder mit unterschiedlichen chronischen Krankheitsbildern entwickelt worden. Die Arbeit mit dem Instrument unterstützt die Kinder bei der Klärung
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Kapitel 52 · Verhaltenstherapie in der Pädiatrie
und Umsetzung ihrer individuell definierten Ziele im Rahmen des Krankheits- und Selbstmanagements. Das Instrument erfragt die bisherigen Barrieren und notwendigen Ressourcen für eine Zielerreichung und mündet in einen konkreten Verhaltensplan. Es basiert auf theoretischen Modellvorstellungen aus der Selbstregulationstheorie, dem Problemlösetraining und der lösungsorientierten Kurzzeittherapie. Die Arbeitshilfe »Ich im Cockpit – Selbstmanagement für Kinder und Jugendliche mit Diabetes mellitus« führt diabeteskranke Kinder mit Hilfe der Metapher der Steuerung eines Flugzeuges in das komplexe Konzept des Krankheits- und Selbstmanagements ein. Folgende Analogie wird benutzt: Die Blutzuckerregulation und Insulinsekretion beim gesunden Menschen funktioniert »per Autopilot«; beim Diabetes mellitus ist dieser Autopilot ausgefallen und muss nach der Diabetesmanifestation durch eine bewusste Steuerung und Selbstkontrolle durch den Patienten ersetzt werden. Die Verwendung dieser Metapher beinhaltet eine Reihe therapeutisch förderlicher Implikationen, die die Motivation und Kompetenz des Kindes zur Übernahme einer aktiven Rolle beim Diabetesmanagement stärken können.
52.6.3 Evidenzbasierte Therapieevaluation
Mittlerweile sind eine Vielzahl pädiatrisch-psychologischer Interventionsstudien bei unterschiedlichen funktionellen Störungen und chronisch-somatischen Erkrankungen im pädiatrischen Kontext durchgeführt worden. Zu klinisch besonders relevanten Störungsbildern konnten Metaanalysen gerechnet werden, die die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer, verhaltensmedizinischer und verwandter Interventionsverfahren im Sinne der evidenzbasierten Medizin evaluieren konnten (vgl. Noeker u. Petermann 2008b). . Tab. 52.2 fasst die Ergebnisse dieser Metaanalysen zusammen.
Zusammenfassung und Ausblick Die Weiterentwicklung der Verhaltenstherapie in der Pädiatrie wird gleichermaßen von aktuellen Praxiserfordernissen wie von wissenschaftlichen Entwicklungen stimuliert. Die epidemiologischen Veränderungen im Sinne der neuen Morbidität mit der Zunahme von lebensstilabhängigen Erkrankungen, Varianten von Vernachlässigung und Misshandlung, funktionellen und somatoformen Störungen
. Tab. 52.2. Evidenzbasierte psychologische Interventionsverfahren bei chronischer Erkrankung des Kindes- und Jugendalters
52
Chronische Erkrankung bzw. assoziiertes Symptom (Quelle des Reviews)
Anzahl Studien
Gut etabiliert/wirksam
Wahrscheinlich wirksam
Vorläufige Hinweise für Wirksamkeit
Kopfschmerzen (Holden et al. 1999)
31
Entspannungsverfahren/ Hypnose
Biofeedback
Multimodale Verfahren
Kognitiv-behaviorale Therapie
Ballaststoffreiche Ernährungstherapie
Funktioneller Bauchschmerz (Janicke u. Finney 1999)
9
Schmerz bei medizinischen Prozeduren (Powers 1999)
13
Erkrankungsbedingter Schmerz (Walco et al. 1999)
12
Schwere Fütterstörungen (Kerwin 1999)
29
Differenzielle Verstärkung durch Aufmerksamkeit; manuelle Anleitung
Therapeutisch induziertes Schluckverhalten
Adipositas (Jelalian u. Saelens 1999)
42
Multimodale Trainingsprogramme bei Kindern
Multimodale Trainingsprogramme bei Jugendlichen
Enuresis nocturna (Mellon u. McGrath 2000)
39
Weckgerät (Klingelhose/ Klingelapparat)
Enkopresis und Verstopfung (McGrath et al. 2000)
42
Krankheitssymptome (McQuaid u. Nassau 1999)
30
Therapiemitarbeit (Lemanek et al. 2001)
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Kognitiv-behaviorale Therapie Kognitiv-behaviorale Therapie
Anleitung
Hypnose
Positive Verstärkung (mit/ohne ballaststoffreicher Ernährungstherapie; Biofeedback und medizinische Maßnahmen Biofeedback (Asthma); Imagination (Chemotherapie bei Krebs)
Entspannung (Asthma); Ablenkung und Entspannung (Chemotherapie)
Familientherapie (Asthma); Videospiele (Chemotherapie)
Praxisorganisation; verhaltensbezogene Maßnahmen; multimodale Verfahren
Patientenaufklärung; kognitiv-behaviorale Therapie
955 Literatur
sowie chronisch-somatischen Erkrankungen stellen drängende klinische Herausforderungen dar, für deren Prävention und Behandlung die Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin des Kindes- und Jugendalters einen vorrangigen Beitrag einbringen kann. Die heute prägenden wissenschaftlichen Paradigmen der klinischen Kinderpsychologie und Verhaltenstherapie des Kindes- und Jugendalters finden andererseits im pädiatrischen Kontext ein klinisches Anwendungsfeld vor, das in besonderer Weise vor reduktionistischen Vereinfachungen bei der Erforschung der kindlichen Verhaltensanpassung und Entwicklungsdynamik schützt und damit für die wissenschaftliche Theoriebildung von hohem Wert ist. Die Unausweichlichkeit eines biopsychosozialen und entwicklungspsychopathologischen Störungsverständnisses und eines interdisziplinären Behandlungsverständnisses werden vielleicht in keinem Praxisfeld der Kinder- und Jugendlichentherapie so evident wie in der pädiatrischen Psychologie. Biologische Entstehungsfaktoren, kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Bewältigungsfaktoren und familiär-systemische Kontextfaktoren steuern über multiple Transaktionen den gesundheitlichen und psychosozialen Entwicklungsverlauf von Kindern mit körperlichen Symptomatiken. Die Anwendung von Verhaltenstherapie in der Pädiatrie führt damit wissenschaftlich wie klinisch regelmäßig zu fruchtbaren und spannenden Schnittstellen und Kooperationsnotwendigkeiten mit vielen anderen psychologischen wie medizinischen Fachdisziplinen. Das wissenschaftliche und klinische Potenzial, das in dieser Schnittstellenfunktion liegt, ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.
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Kapitel 52 · Verhaltenstherapie in der Pädiatrie
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52
53
53 Verhaltenstherapie in der Pädagogik Ulrike Petermann, Mara Zoe Krummrich
53.1
Einleitung
– 960
53.2
Schnittstellen zwischen Kinderverhaltenstherapie und Pädagogik – 961
53.3
Verhaltenstherapeutische Methoden im schulischen Kontext – 962
53.3.1 53.3.2 53.3.3 53.3.4
Ruherituale und Entspannungsverfahren Verstärkungssysteme – 962 Verhaltensübungen – Rollenspiel – 963 Verhaltensvertrag – 963
53.4
Zusammenarbeit von Verhaltenstherapeuten und Lehrern
53.5
Verhaltenstherapeutische Präventionsprogramme im schulischen Kontext – 965
53.5.1 53.5.2
Unspezifische Präventionsprogramme – 965 Spezifische Präventionsprogramme – 969
Zusammenfassung – 972 Literatur
– 973
Weiterführende Literatur
– 974
– 962
– 964
960
Kapitel 53 · Verhaltenstherapie in der Pädagogik
53.1
Einleitung
Verhaltenstherapeutische Methoden spielen heute in unterschiedlichen pädagogischen Settings eine Rolle, z. B. in der Frühförderung im Kindergarten oder in sozialpädiatrischen Zentren, in allgemeinen oder Sonderschulen oder auch im pädagogischen Alltag von Jugendhilfeeinrichtungen, Rehabilitationskliniken oder Kinder- und Jugendpsychiatrien. Das Alltagssetting »Schule« erfasst wegen der Schulpflicht alle Kinder und Jugendlichen. Deshalb soll das Thema »Verhaltenstherapie in der Pädagogik« auf diesen Bereich fokussieren. Darüber hinaus scheint das Unterrichten und Erziehen von Kindern und Jugendlichen in heutiger Zeit anspruchsvoller, vielleicht auch schwieriger geworden zu sein, wenngleich die Prävalenzen für Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend kaum gestiegen sind (Petermann 2008b). An erster Stelle der Verhaltensstörungen steht aggressives Verhalten, oft komorbide mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS; vgl. Baving 2008; Döpfner et al. 2008). In den Medien und der Öffentlichkeit wird in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren das Thema »Gewalt an Schulen« (z. B. Amokläufe, Bullying s. unten) diskutiert; es sind aber auch Kinder und Jugendliche mit emotionalen Störungen (z. B. soziale Angst) und affektiven Störungen (z. B. depressive Störung) zu finden (vgl. Petermann u. Suhr-Dachs 2008; Groen u. Petermann 2008).
Bullying als spezielle Erscheinungsform aggressiven Verhaltens Bullying gehört mittlerweile zum Schulalltag und bezeichnet die wiederholte und sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Erniedrigung und/oder Quälerei einzelner Kinder durch einen oder mehrere Gleichaltrige. Kennzeichnend für Bullying ist dabei das Machtungleichgewicht zwischen Tätern und Opfern (vgl. Marées u. Petermann 2008; Scheithauer et al. 2003).
53 Das deutsche Schulsystem befindet sich, insbesondere nach dem Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse, im Wandel: Die öffentliche Diskussion dreht sich immer wieder um die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen. Daneben wird vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktentwicklung und der damit verbundenen Bedingungen für Familien vermehrt eine tageszeitlich umfassendere staatliche Kinderbetreuung gefordert. In verschiedenen Bundesländern (z. B. Bremen, Baden-Württemberg, Hessen, Schleswig-Holstein) hatte dies zur Folge, dass in den letzten Jahren die sog. verlässliche Grundschule eingeführt wurde, so dass sich nun die Grundschulkinder von der ersten Klasse an täglich für eine feste Stundenanzahl in der Schule aufhalten. Zu-
gleich wurden aufgrund der Finanzlage in öffentlichen Haushalten und in Folge der bildungspolitischen Umstrukturierungen im Laufe der letzten Jahre Förderstunden und Vorklassen abgeschafft und Sonderschulen in sog. Förderzentren umgewandelt. Zunehmend sieht das deutsche Schulsystem vor, Kinder mit beispielsweise aggressivem oder hyperkinetischem Verhalten in integrativer Form mit stundenweiser Unterstützung durch mobile oder ambulante Dienste in allgemeinbildenden Schulen zu fördern (Hillenbrand 2006). Im deutschen Schulgesetz ist die Förderung sozialer Kompetenz als wesentlicher Erziehungsauftrag verankert, um dadurch frühzeitig Risikoentwicklungen (z. B. aggressives Verhalten, politischer Extremismus, Delinquenz, Drogenmissbrauch) vorzubeugen (Jerusalem u. Klein-Heßling 2002). Eine positive Entwicklung im Bereich sozial-emotionaler Kompetenzen stellt einen Schutzfaktor dar, der mit günstigen Prognosen auch bei vorliegenden Verhaltensund emotionalen Störungen verbunden ist (Petermann u. Wiedebusch 2008).
Die Betreuung und Erziehung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher fällt heutzutage verstärkt in den Aufgabenbereich von Lehrkräften an allgemeinbildenden Schulen. Dies erhält eine große Bedeutung dadurch, dass Familien bei psychischen Störungen nur selten professionelle Hilfe in Anspruch nehmen (vgl. Heinrichs et al. 2008; Kaluza u. Lohaus 2006). Die Bedeutung der Schule als Ort, an dem Kinder und Jugendliche einen Großteil ihres Alltags verbringen, wächst aufgrund gesellschaftlicher und bildungspolitischer Bedingungen sowohl für präventive Maßnahmen als auch für verhaltenstherapeutische Interventionen. Verhaltenstherapie in der Pädagogik kann vor diesem Hintergrund zweierlei bedeuten: 1. die Kooperation von Verhaltenstherapeuten und Lehrkräften im Rahmen einer Kinderverhaltenstherapie, 2. die Implementierung verhaltenstherapeutischer Methoden bzw. multimethodaler Programme in den Schulalltag zur Prävention von psychischen Störungen.
Das vorliegende Kapitel geht deshalb den folgenden Fragen nach: 4 Warum eignen sich gerade verhaltenstherapeutische Methoden und Programme für den Einsatz in der Schule (7 Abschn. 53.2)? 4 Welche verhaltenstherapeutischen Methoden (7 Abschn. 53.3) können sich Lehrer zur Bewältigung ihrer Erziehungs- und Betreuungsaufgaben zunutze machen?
961 53.2 · Schnittstellen zwischen Kinderverhaltenstherapie und Pädagogik
4 Wie kann eine Zusammenarbeit zwischen Verhaltenstherapeut und Lehrer aussehen (7 Abschn. 53.4)? 4 Welche verhaltenstherapeutischen Präventionsprogramme (7 Abschn. 53.5) sind für den schulischen Kontext geeignet?
53.2
Schnittstellen zwischen Kinderverhaltenstherapie und Pädagogik
Im Rahmen von Prävention und Gesundheitsförderung überschneiden sich der Erziehungsauftrag der Schule, nämlich psychischen Störungen durch die Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen entgegenzuwirken, und der Teilbereich der Verhaltenstherapie, der sich mit dem Schutz vor psychischer und körperlicher Krankheit beschäftigt. Die Kinderverhaltenstherapie ist in ihrer praktischen Umsetzung interdisziplinär orientiert (Petermann 2008a). Für eine erfolgreiche Arbeit ist es wichtig, unterschiedliche Berufsgruppen zu beteiligen, da sich die Kinder und Jugendlichen einen Großteil des Tages in außerfamiliären sozialen Lebensfeldern, sei es in der Schule, sei es in Betreuungsangeboten am Nachmittag, bewegen. Von daher ist es notwendig, Berufsgruppen wie Lehrer, Sozialpädagogen und Erzieher in die verhaltenstherapeutische Behandlung einzubeziehen. Daraus wiederum ergibt sich die Notwendigkeit, geeignete verhaltenstherapeutische Methoden ausfindig und auch für Nicht-Psychologen anwendbar und zugänglich zu machen. In der Kinderverhaltenstherapie wurden für unterschiedliche Störungsbilder sowie im Rahmen von Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung manualgestützte Trainingsprogramme, oftmals mit spezifischen Materialen, entwickelt (Petermann 2006). Es existieren z. B. altersangemessene Programme zur Förderung prosozialen Verhaltens sowie für den Aufbau emotionaler und sozialer Kompetenzen (7 Abschn. 53.5.1), zur Suchtprävention (7 Abschn. 53.5.2) oder zur Prävention von Gewalt an Schulen (u. a. bei Bullying; vgl. Spröber et al. 2008). Die Trainingsprogramme sind in der Regel so konzipiert, dass sie von dem Klassenlehrer eigenverantwortlich durchgeführt werden können. Dazu nimmt das Kollegium einer Schule vor der erstmaligen Durchführung in der Regel an einer entsprechenden Lehrerfortbildung teil. Einige strukturelle Merkmale (z. B. Rituale und Regeln) sowie Arbeitsmethoden (z. B. Einsatz von Tokenplänen) von Verhaltenstherapie und Pädagogik überschneiden sich, da sie in ihrer praktischen Umsetzung auf den Prinzipien der Lerntheorien (7 Kap. I/5) beruhen. Sowohl die Pädagogik als auch die Verhaltenstherapie streben dabei eine gezielte Veränderung von Wissen, Einstellungen und Verhalten an (Winkel et al. 2006). Diese Überschnei-
dung erleichtert die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Implementierung verhaltenstherapeutischer Methoden in den Schulalltag. Methodische Überschneidungen beider Bereiche werden außer in der Prävention und Gesundheitsförderung besonders im sonderpädagogischen Bereich deutlich, der durch Diagnostik, Gutachtenerstellung, Bildung, Förderung und Therapie geprägt ist. Die sonderpädagogische Diagnostik kann als Problemlöse- und Entscheidungsprozess definiert werden. Sowohl die Planung verhaltenstherapeutischer Maßnahmen als auch die Begründung geeigneter Fördermaßnahmen für den Einzelfall im sonderpädagogischen Setting erfordern im Vorfeld differenzierte Informationen über ein Kind. Dieses Vorgehen in der Sonderpädagogik unterscheidet sich nicht prinzipiell von einem verhaltenstherapeutischen (Petermann u. Petermann 2006c). Verhaltenstherapie in der Pädagogik beginnt von daher schon in der Phase der Diagnoseerstellung. Für die Schule generell geeignete Verfahren, wie Checklisten zur Einschätzung des Schülerverhaltens durch eine Lehrkraft, bilden die Basis der Zusammenarbeit von Verhaltenstherapeut und Lehrkraft. Viele symptomatische Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen zeigen sich erst im schulischen Alltag (z. B. bei ADHS, Störung mit oppositionellem Trotzverhalten, Störung des Sozialverhaltens oder sozialer Angst und Trennungsangst). Aus diesem Grund kann ein Verhaltenstherapeut auch nicht auf eine standardisierte Beurteilung des Lehrers verzichten. Bekannte Verfahren sind die »Teachers Report Form« (TRF, Achenbach 1991), der »Strengths and Difficulties Questionnaire« (SDQ, Goodman 1997; deutsch Woerner et al. 2002) und die »Lehrereinschätzliste zum Sozial- und Lernverhalten« (LSL, Petermann u. Petermann 2006b). Speziell die Lehrereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten orientiert sich an den vorhandenen Ressourcen eines Schülers im Bereich seines Sozial- und Lernverhaltens. Der Vorteil der LSL liegt neben dem Ressourcenansatz darin, dass auch Aussagen zum schulischen Lernverhalten eines Kindes gewonnen werden können, was zurzeit durch kein anderes Verfahren abgedeckt ist. Eine Reihe von Verhaltensstörungen geht mit Lern- und Schulleistungsstörungen einher (z. B. ADHS), die sowohl im Kontext einer Therapie als auch in der Zusammenarbeit von Verhaltenstherapeut und Lehrkraft berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus zeigen sich Merkmale des Lernverhaltens, z. B. Anstrengungsbereitschaft (. Tab. 53.1), auch in der Therapiemitarbeit eines Kindes. > Fazit Verhaltenstherapie in der Pädagogik beginnt mit der Zusammenarbeit bei der Gewinnung diagnostischer Informationen; auf dieser Basis werden die weiteren Schritte von Therapie oder Prävention geplant.
53
962
Kapitel 53 · Verhaltenstherapie in der Pädagogik
. Tab. 53.1. Skalen und Beispielaussagen für die Lehrereinschätzliste zum Sozial- und Lernverhalten (LSL) Skalen
Beispielaussagen
Sozialverhalten Kooperation
4 Schließt Kompromisse 4 Akzeptiert gemeinsame Ziele
Selbstwahrnehmung
4 Schätzt die Folgen eigenen Handelns realistisch ein 4 Versucht, eigene Fehler wiedergutzumachen
Selbstkontrolle
4 Schiebt eigene Bedürfnisse auf 4 Zeigt außerhalb des Unterrichts Selbstkontrolle
Hilfsbereitschaft und Einfühlungsvermögen
4 Erkennt, wenn andere Hilfe brauchen 4 Muntert andere auf
Angemessene Selbstbehauptung
4 Äußert eigene Meinung angemessen 4 Äußert Kritik angemessen
Sozialkontakt
4 Zeigt Gefühle angemessen 4 Nimmt angemessen Kontakt auf
Lernverhalten Anstrengungsbereitschaft und Ausdauer
4 Strengt sich an, um eine Aufgabe zu lösen 4 Bearbeitet Aufgaben über die Pflichtaufgaben hinaus
Konzentration
4 Sieht bei Anforderungen genau hin 4 Hört bei Anforderungen genau zu
Selbstständigkeit beim Lernen
4 Setzt sich erreichbare Ziele 4 Geht gezielt vor
Sorgfalt beim Lernen
4 Erledigt Hausaufgaben sorgfältig 4 Geht mit Heften ordentlich um
53.3
53
Verhaltenstherapeutische Methoden im schulischen Kontext
Die Kinderverhaltenstherapie weist ein breites Spektrum an störungsspezifischen und störungsunspezifischen Methoden zur Behandlung der emotionalen und Verhaltensstörungen auf (7 Kap. III/11–18). Hierbei handelt es sich beispielsweise um 4 Selbst- und Fremdverstärkungsmethoden, 4 systematische Desensibilisierung, 4 Konfrontationstherapie, 4 Biofeedback, 4 Selbstkontrolltechniken, 4 kognitive Methoden sowie 4 Rollenspiele und Entspannungsverfahren. In 7 Abschn. 53.3.1–4 werden insbesondere störungsunspezifische Methoden ausgewählt, die für den Einsatz im Schulalltag geeignet sind und eine Hilfe für den Umgang mit Problemverhalten von Schülern darstellen. Es handelt sich dabei um Methoden, die gut erlernt und in den Schulalltag integriert werden können.
53.3.1 Ruherituale und Entspannungsverfahren
Wie schon in 7 Kap. III/16 beschrieben wurde, haben Entspannungsverfahren ein weites Anwendungsfeld (z. B. häusliche, psychotherapeutische Settings); manche Verfahren sind unter bestimmten Bedingungen auch für den Einsatz im schulischen Bereich geeignet. So müssen Lehrkräfte entsprechend weitergebildet sein. Besonders sind für Kinder sensorische oder imaginative Verfahren geeignet, da sie empirischen Studien zufolge wirksam sind und von Kindern gut akzeptiert werden. Manche Verfahren kombinieren sensorische und imaginative Ansätze oder enthalten kognitive Elemente (z. B. Ruheinstruktionen). Beispiele für kombinierte Verfahren, die sich mit Schulklassen gut durchführen lassen, sind die Kapitän-NemoMethode und das Schildkröten-Phantasie-Verfahren (7 Abschn. 16.4.4). Imaginative Entspannungsverfahren sind schon gut ab der ersten Grundschulklasse einsetzbar, da sie keine hohen Anforderungen an die Konzentrationsleistung von Kindern stellen (7 Abschn. 16.4.2). Bei älteren Schülern eignen sich auch sensorische Verfahren, wie die Methode der progressiven Muskelentspannung, die als aktive, nicht suggestive und körperbezogene Methode gut von Jugendlichen akzeptiert wird (7 Abschn. 16.4.1; Petermann 2006).
Das Ziel beim Einsatz von Entspannungsverfahren im schulischen Kontext ist, dass Kinder und Jugendliche Strategien erlernen, mit denen sie Erregung und Unruhe reduzieren können. Dies hilft ihnen, sich im Unterricht für eine gewisse Zeit besser zu konzentrieren und mitzuarbeiten. Es unterstützt und motiviert sie auch darin, sich erfolgreich an verhaltenstherapeutischen Maßnahmen im Unterricht zu beteiligen (z. B. an einem Tokenprogramm). Voraussetzung für positive Effekte bei den Schülern ist, dass eine Lehrkraft ein Entspannungsverfahren in standardisierter Weise über mehrere Wochen beibehält und als Ritual regelmäßig durchführt (vgl. Petermann 2007).
53.3.2 Verstärkungssysteme
Bei jeder Verhaltensänderung sind operante Verfahren, die Verhalten steuern und formen, beteiligt. Verhaltenstherapeutische Techniken, die sich diesen Sachverhalt zunutze machen, sind Verstärkungssysteme, z. B. Tokenpläne. In 7 Kap. III/13 wurde im Rahmen der Darstellung operanter Methoden an mehreren Stellen auf die Möglichkeit des Einsatzes von unterschiedlichen Verstärkerplänen im pädagogischen Setting Schule hingewiesen. Für den Abbau von unerwünschtem Schülerverhalten, wie z. B. ständiges Dazwischenrufen, kann ein Lehrer
963 53.3 · Verhaltenstherapeutische Methoden im schulischen Kontext
das Verhalten eines Schülers konsequent ignorieren (s. Box; besonders effektiv ist diese Methode in Kombination mit einem systematischen Verstärkerplan für erwünschtes Verhalten (z. B. sich melden).
Methode der Löschung (Extinktion) Die Methode der Löschung erfordert zwar eine hohe Erziehungskompetenz von Lehrern, stellt aber – konsequent angewendet – eine sehr wirksame und langfristig erfolgreiche Methode zum Abbau unerwünschter Verhaltensweisen dar. Vor allem im Vergleich zur direkten Bestrafung (= C–) kann sie als eine alternative Technik (C/+) zur Verhaltensmodifikation eingesetzt werden, bei der kaum negative Wirkungen, wie Verletzung der Gefühle eines Schülers, zu erwarten sind (Winkel et al. 2006).
Die Time-out-Technik (s. Box) lässt sich ebenfalls gut mit Verstärkungssystemen im Rahmen des Abbaus unerwünschten Verhaltens und des Aufbaus erwünschter Verhaltensweisen kombinieren. So kann ein Schüler, der sich während der Stillarbeitsphase mit einem Mitschüler unterhält, statt ruhig und konzentriert zu arbeiten, für kurze Zeit an einen Einzeltisch gesetzt werden. Ist der Schüler in der Lage, sein Verhalten zu kontrollieren, darf er an seinen Platz zurück.
Time-out Unter Time-out versteht man eine Bestrafungstechnik; sie wird in der Kinderverhaltenstherapie vor allem bei massiv oppositionellem und aggressivem Verhalten eingesetzt, und ihre Wirkung beruht auf der gezielten Reizkontrolle. Das heißt, es werden alle ein Problemverhalten verstärkenden Konsequenzen (z. B. Aufmerksamkeit durch den Lehrer oder die Mitschüler) ausgeschaltet (Petermann u. Petermann 2006a).
Für den Aufbau erwünschten Schülerverhaltens eignen sich positive und negative Verstärkungen (= Belohnung C+ und C/-), die systematisch in einem Verstärkerplan nach dem Token- oder Response-Cost-System eingesetzt werden können. Die Kombination der verschiedenen Verstärkungssysteme ist besonders hilfreich, Schülerverhalten zu modifizieren. So kann, um auf das Beispiel von oben zurückzukommen, der Schüler sogar Punkte im Rahmen eines Tokenplanes verdienen, wenn er, zurückgekehrt auf seinen Platz, ruhig und konzentriert arbeiten kann, ohne sich mit einem Mitschüler zu unterhalten.
53.3.3 Verhaltensübungen – Rollenspiel
Die Methode des Rollenspiels dient in der Kinderverhaltenstherapie in erster Linie dem Aufbau neuen Verhaltens; sollen soziale Fertigkeiten ausgeformt werden, so kommt man in der Verhaltenstherapie nicht ohne Rollenspiele aus (Hautzinger 2008a). Sie ermöglichen, auch im pädagogischen Kontext, das Einüben von angemessenen, sozial kompetenten Verhaltensweisen und unterstützen deren Transfer in den Alltag. Durch Rollentausch und damit Perspektivenwechsel können neue Einsichten vermittelt und die Wirkung unterschiedlicher Verhaltensweisen erfahrbar gemacht werden. Solche kognitiven wie emotionalen Prozesse fördern die Motivation zur Verhaltensänderung. Der gelungene Einsatz von Rollenspielen erfordert klare Vorgaben:
Struktur von Rollenspielen in der Kinderverhaltenstherapie 1. Besprechen einer vorgegebenen Situation mit möglichem Verhalten 2. Rollenverteilung durch den Therapeuten bzw. Pädagogen 3. Spielen der Situation mit den ausgearbeiteten Verhaltensweisen 4. Wiederholtes Spielen mit Rollentausch 5. Reflexion der Rollenspiele bezüglich Ablauf, Erfahrungen und Erkenntnissen 6. Eventuell Wiederholen einzelner Sequenzen 7. Wiederholte Reflexion 8. Übertragung in den Alltag: frühere Erfahrung mit ähnlichen Situationen und Verhaltensauftrag für zukünftige Situationen (= Hausaufgabentechnik)
Darüber hinaus muss eine vertrauensvolle Atmosphäre innerhalb einer Lerngruppe bestehen, da es viele Schüler Überwindung kostet, vor ihren Mitschülern in eine andere Rolle zu schlüpfen, und sie anfangs Verlegenheitsreaktionen zeigen.
53.3.4 Verhaltensvertrag
Der Verhaltensvertrag fixiert Absprachen, legt wechselseitige Verpflichtungen fest und dient dazu, die Rahmenbedingungen einer verhaltenstherapeutischen Maßnahme transparent zu gestalten (Hautzinger 2008b). Verträge sind altersgemäß und unter Beteiligung der Kinder zu formulieren; sie können mit einem einzelnen Kind, aber auch mit einer Gruppe von Kindern geschlossen werden.
53
964
Kapitel 53 · Verhaltenstherapie in der Pädagogik
Die in einen Verhaltensvertrag aufgenommenen Aufgaben und Regeln müssen so genau wie möglich formuliert sein. Mit den Schülern muss ausführlich über die Bedeutung und die Erwartungen, die hinter den Regeln stehen, gesprochen werden. Es ist wichtig, dass die Regeln als konkretes Verhalten und am besten positiv formuliert werden. Positive und negative Konsequenzen für Regelverletzungen sind festzulegen. Diese müssen ebenfalls konkret angegeben werden, realisierbar, der Regelverletzung angemessen sowie prompt umsetzbar sein. Beispiele sind: 4 Wenn ich etwas von einem Klassenkameraden ausleihen möchte, frage ich ihn, ob ich es haben darf. 4 Wenn wir uns streiten, dann versuchen wir, eine Lösung zu finden, ohne dass ein Kind wütend oder traurig ist (vgl. Petermann et al. 2006).
Für ein positives Klassenklima und die konsequente Umsetzung von Verhaltensrichtlinien in einer Klasse ist es sinnvoll, ergänzend zu klassenübergreifenden Schulregeln gemeinsam mit den Schülern Klassenregeln aufzustellen. Wird dies in Form eines Klassenvertrages realisiert, der für alle Beteiligten sichtbar im Klassenraum aufgehängt und von Schülern und Lehrern unterschrieben wird, hat das den Vorteil, dass in der Klasse erwünschte Verhaltensweisen genau beschrieben sind und sie für alle Schüler als bekannt vorausgesetzt werden können. Dieser Sachverhalt erleichtert die Durchsetzung von Konsequenzen, wenn Regeln nicht eingehalten werden; zugleich können einzelne Schüler positiv verstärkt werden, die sich an die Absprachen des Klassenvertrages halten. Zum systematischen Aufbau erwünschter Verhaltensweisen und zum gezielten Abbau unerwünschten Verhaltens kann der Klassenvertrag mit einem Verstärkungssystem gekoppelt werden (7 Abschn. 53.3.2).
53.4
53
Zusammenarbeit von Verhaltenstherapeuten und Lehrern
Es stellt sich die Frage, ob und in welcher Form Lehrkräfte einen Beitrag im Rahmen einer Kinderpsychotherapie leisten können und sollen. Eine Zusammenarbeit ist dann sinnvoll oder sogar notwendig, wenn sich Symptome einer psychischen Störung in der Schule zeigen. Dies ist vor allen Dingen bei einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, einer Störung mit oppositionellem Trotzverhalten, einer Störung des Sozialverhaltens, einer sozialen Phobie und einer Störung mit Trennungsangst der Fall. Bei den externalisierenden Störungen ist nicht nur das Kind selbst beeinträchtigt; zudem werden der Lehrer im Unterrichten und die Mitschüler im Lernprozess gestört. Bei den internalisierenden bzw. emotionalen Störungen handelt es sich oftmals um »heimliche« Probleme, die von einem Leh-
rer nicht unbedingt sofort erkannt werden. Bei der sozialen Phobie kann beispielsweise die Angst vor Bewertungen ein Kernsymptom darstellen. Dies führt dazu, dass diese Kinder sozial hervorgehobene Situationen, wie sie häufiger im Unterricht vorkommen können, versuchen zu vermeiden. Die generelle Bewertungsangst kann zu massiven Prüfungsängsten führen, was die Schulleistungen beeinträchtigt (Petermann u. Suhr-Dachs 2008).
Diese Kooperation ist an zwei Voraussetzungen gebunden: 1. Die Eltern müssen ihr Einverständnis dazu geben, dass der Verhaltensterapeut mit der Lehrkraft in Kontakt treten darf. 2. Die Lehrkraft muss über die Symptome der psychischen Störung eines Kindes aufgeklärt werden; hier können keine Kenntnisse vorausgesetzt werden. Ein Störungsverständnis auf Seiten des Lehrers ist für eine effektive Kooperation unabdingbar.
Im Rahmen des diagnostischen Prozesses können Lehrer mit Hilfe von Checklisten wichtige Informationen zum Auftreten der Symptomatik im Unterricht oder im sonstigen Schulkontext geben. Sie können im Rahmen einer systematischen Exploration zu Verhaltensweisen eines Kindes befragt werden, die kaum im therapeutischen Setting, eventuell auch nicht zu Hause, jedoch bevorzugt im schulischen Kontext auftreten. Die Zusammenarbeit von Therapeut und Lehrer sowie der Erfolg einer Therapie werden dadurch sehr begünstigt, dass eine Lehrkraft einen strukturierten Unterricht mit klaren und transparenten Anforderungen realisiert. Diese Bedingungen sind denen einer Kinderverhaltenstherapie ähnlich. Dadurch lassen sich Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit finden. Dabei soll der Therapeut der Lehrkraft vermitteln, dass sie ihn durch eine Reihe von abgesprochenen Maßnahmen deutlich unterstützen kann. Hierbei handelt es sich um folgende Möglichkeiten:
Beispiel Mögliche Absprachen zwischen Lehrkraft und Therapeut sowie unterstützendes Lehrerverhalten 1. Ignorieren von unangemessenem, auf sich aufmerksam machendem Schülerverhalten (z. B. bei ADHS). 2. Ermöglichen einer reizarmen Sitzplatzwahl (z. B. in Lehrernähe) sowie einer reizarmen Lernumgebung (z. B. bei ADHS nur die Unterrichtsmaterialien auf dem Tisch bereit halten, die benötigt werden). 6
965 53.5 · Verhaltenstherapeutische Präventionsprogramme im schulischen Kontext
3. Sich vergewissern (z. B. durch Nachfragen, Blickkontakt dabei aufnehmen), dass ein Kind eine Aufforderung verstanden hat (z. B. bei Kindern mit ADHS und Kindern mit Prüfungsangst sowie sozialer Phobie). 4. Bekräftigen, wenn Klassenregeln und sonstige Absprachen von einem Kind eingehalten werden (z. B. Anwendung einer Vertragstechnik bei aggressiven, oppositionellen Vehaltensweisen). 5. Implementierung eines individuellen Verstärkungsplanes in den Unterricht (Token- oder ResponseCost-Prinzip oder beides kombiniert). 6. Einem Kind mit sozialer Phobie bewältigbare Anforderungen im Kontext sozial hervorgehobener Situationen abverlangen (z. B. nach einem mit dem Therapeuten abgesprochenen hierarchisch geordneten Plan, der Situationen enthält, die von leicht nach schwer geordnet sind). 6. Ermutigen und Bekräfigen eines Kindes mit sozialer Phobie, wenn es sich beispielsweise mündlich am Unterricht – freiwillig oder auf Aufforderung – beteiligt. 7. Während der Konfrontationsphase in vivo bei einem trennungsängstlichen Kind muss der Lehrer den Anweisungen des Verhaltenstherapeuten folgen (z. B. das Kind freundlich begrüßen und ohne weiteres Aufsehen mit dem Unterricht beginnen; je nach Schweregrad der Trennungsangst verbleibt der Therapeut im Klassenraum oder wartet vor der Tür des Klassenzimmers).
Die aufgeführten Möglichkeiten zeigen, dass ein Lehrer oftmals über ein therapeutisches Vorgehen und dessen Begründung, bezogen auf eine spezifische psychische Störung, aufgeklärt werden muss, damit es zu einer konstruktiven Zusammenarbeit kommt. Die Informationen für eine Lehrkraft können zugleich diese zur Zusammenarbeit motivieren. Von der Motivation des Lehrers hängt es letztendlich ab, inwieweit die Kooperation von Verhaltenstherapeut und Lehrer erfolgreich sein wird.
53.5
Verhaltenstherapeutische Präventionsprogramme im schulischen Kontext
Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten einzelne verhaltenstherapeutische Methoden, die in den schulischen Alltag integriert werden können (7 Abschn. 53.3), und die Zusammenarbeit von Verhaltenstherapeuten und Lehrern (7 Abschn. 53.4) beschrieben wurden, wird im Folgenden auf einige verhaltenstherapeutisch orientierte Präventionsprogramme eingegangen, die für den schulischen Kontext entwickelt wurden. Die Inhalte der Trainingsprogramme
ähneln sich oft trotz unterschiedlicher Präventionsziele. Die meisten Programme setzen dabei auf die Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen. Sie vermitteln Stressbewältigungsstrategien (z. B. Entspannungsverfahren, 7 Abschn. 53.3.1) und unterstützen die Selbstsicherheit. Methodisch kommen oftmals Rollenspiele, Einzel- und Gruppenarbeit, Tokensysteme und Hausaufgabentechniken zum Einsatz. Es liegen Programme für alle Altersstufen und Schulformen vor. In der Regel sind die Programme so konzipiert, dass sie durch einen geschulten Lehrer mit der ganzen Klasse durchgeführt werden können. Programme, die schwerpunktmäßig auf die Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen abzielen, können als unspezifische Maßnahmen bezeichnet werden, da sie auf allgemeine Aspekte, die bei der Entstehung psychischer Störungen eine Rolle spielen können, ausgerichtet sind (7 Abschn. 53.5.1). Unspezifische Präventionsprogramme sind vor allem in der Grundschule indiziert. Neben unspezifischen Programmen existieren auch spezifische schulische Präventionsmaßnahmen, die sich auf eine bestimmte Risikogruppe und auf ein engbegrenztes Phänomen (z. B. Tabak- oder Alkoholmissbrauch, Essstörungen) beziehen (7 Abschn. 53.5.2). Sie kommen bevorzugt im höheren Schulalter mit Beginn der Pubertät zum Einsatz (z. B. Suchtprävention).
53.5.1 Unspezifische Präventionsprogramme
Der Aufbau sozial-emotionaler Kompetenzen bildet einen wichtigen Ansatzpunkt für die Gesundheitsförderung und Prävention. In den vergangenen Jahren erstellte die Bremer Arbeitsgruppe um Franz Petermann ein entwicklungsorientiertes Präventionsprogramm für Kinder und Jugendliche zur gezielten und regelmäßigen Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen im Rahmen pädagogischer Einrichtungen, wie Kindergärten und Schulen. Es besteht aus vier Verhaltenstrainings für den pädagogischen Bereich. Folgende drei Trainings zählen zu dem Basismodul des entwicklungsorientierten Präventionsprogramms für Kinder und Jugendliche: 4 das »Verhaltenstraining im Kindergarten« (Koglin u. Petermann 2006), 4 das »Verhaltenstraining für Schulanfänger« (Petermann et al. 2006) und 4 das »Verhaltenstraining in der Grundschule« (Petermann et al. 2007). Das »Training mit Jugendlichen« (Petermann u. Petermann 2007) stellt als Aufbaumodul die vierte Komponente des Präventionsprogramms dar. Im Rahmen dieses Unterkapitels werden exemplarisch das »Verhaltenstraining für Schulanfänger« und das »Training mit Jugendlichen« als komplexe soziale Fertigkeitstrainings (vgl. Box) vorgestellt.
53
966
Kapitel 53 · Verhaltenstherapie in der Pädagogik
Soziale Fertigkeitstrainings Soziale Fertigkeitstrainings zielen auf den systematischen Aufbau neuer angemessener Verhaltensweisen ab. Globale Ziele sozialer Fertigkeitstrainings sind die Förderung der sozialen Wahrnehmung sowie der Aufbau von prosozialem Verhalten (z. B. Freude ausdrücken, Freundschaften schließen). Derartige Fertigkeitstrainings zählen insofern zu den komplexen Verhaltenstrainings, als sie mehrere verhaltenstherapeutische Methoden und Techniken, beispielsweise die in 7 Abschn. 53.3 beschriebenen Entspannungstechniken, Rollenspielmethoden, Verhaltensvertragtechnik und Verstärkungssysteme, miteinander kombinieren.
Verhaltenstraining für Schulanfänger Das »Verhaltenstraining für Schulanfänger« nach Petermann et al. (2006) ist den universellen Präventionsprogrammen zuzuordnen (Heinrichs et al. 2008); es wird in den ersten beiden Grundschulklassen eingesetzt und mit der ganzen Schulklasse durchgeführt. Es berücksichtigt drei miteinander im Zusammenhang stehende Kompetenzbereiche: 4 sozial-kognitive Kompetenzen, 4 emotionale Kompetenzen und 4 soziale Kompetenzen.
53
Sozial-kognitive Kompetenzen. Sie beeinflussen entscheidend, wie soziale Informationen aufgenommen, interpretiert, bewertet und abgespeichert werden. Es handelt sich dabei vor allem um Prozesse, die dem eigentlichen Handeln vorausgehen. Petermann et al. (2006) sprechen deshalb in diesem Zusammenhang von einer »inneren Handlungsvorbereitung und -steuerung« (S. 14). Crick und Dodge (1994) gliedern den sozial-kognitiven Informationsverarbeitungsprozess in folgende sechs Stufen: 1. Erkennen sozialer Informationen (Encodierung), 2. Interpretation und Bewertung der aufgenommenen Informationen, 3. Klärung des Handlungsziels anhand der Interpretation und Bewertung, 4. Suche nach Handlungsalternativen, abgestimmt auf das Handlungsziel, 5. Handlungsauswahl, 6. Handlungsausführung und -bewertung, Reaktion der Umwelt sowie eigene Empfindungen. Emotionale Kompetenzen. Diese umfassen Fertigkeiten, die den Umgang mit unseren eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer Menschen entscheidend beeinflussen. Folgende Bereiche sind dabei von besonderer Bedeutung (vgl. Petermann u. Wiedebusch 2008):
4 der eigene Emotionsausdruck (Mimik, Körperhaltung, sprachlicher Ausdruck),
4 das Erkennen des Emotionsausdrucks anderer, 4 das Wissen über Emotionen und das Verstehen von Emotionen (Empathie), 4 die Fähigkeit, eigene Emotionen mit Hilfe spezifischer Fertigkeiten angemessen zu regulieren, und 4 emotionales Selbstwirksamkeitserleben. Soziale Kompetenzen. Soziale Kompetenzen sind entscheidend für das friedliche Miteinander in sozialen Situationen. Defizite in diesem Bereich stellen in besonderem Maße einen Risikofaktor für die Entwicklung problematischer Verhaltensweisen im Kindes- und Jugendalter dar (vgl. Cillessen u. Bellmore 2006; Merrell 2003; Petermann et al. 2006). Nach Caldarella und Merrell (1997) umfassen soziale Kompetenzen insbesondere folgende Bereiche:
4 Interaktionsfertigkeiten in Gleichaltrigenbeziehungen (z. B. prosoziales Verhalten), 4 ausgewogenes Selbstmanagement, 4 schulische Anpassungs- und Leistungsfähigkeit, 4 Kooperationsbereitschaft und 4 Selbstsicherheit sowie Selbstbehauptungsfähigkeit. Auf der Grundlage der drei Kompetenzbereiche werden für die Kinder Ziele abgeleitet und in einem mehrstufigem Vorgehen angestrebt. Diese Fertigkeiten sollen prosoziales Verhalten in der Schulklasse aufbauen sowie bekräftigen und oppositionelles sowie aggressives Verhalten verhindern oder verringern. Darüber hinaus sind Ziele für den Lehrer bzw. Trainer, der das Verhaltenstraining durchführen will, formuliert; er soll u. a. über Kenntnisse zu den drei Kompetenzbereichen sowie zu lernpsycholgischen Grundlagen neben dem Wissen zur Klassenführung verfügen. Um die Kinder zum Training zu motivieren, sind die einzelnen Trainingssitzungen in eine kindgerechte Rahmenhandlung eingebettet. Das Leitthema dieser Rahmenhandlung bildet eine Schatzsuche. Die Schatzsuchergeschichte ist in der folgenden Box verkürzt dargestellt (Petermann et al. 2006):
Beispiel Die Schatzsuchergeschichte Der Klassenlehrer bringt seinen alten Freund, das Chamäleon Ferdinand, mit in seine Schulklasse. Ferdinand ist vor einiger Zeit mit sieben Chamäleonfreunden auf eine Schatzsuche gegangen. Sie haben die Insel gefunden, auf der der Schatz versteckt ist. Jedoch kommen sie nicht zu der Insel hin, da sie die dazu erforderliche Brücke vom Strand zur Insel nicht alleine bauen können. Ferdinand bittet die Schulkinder um Hilfe. Die Kinder schließen mit ihm einen Schatzsuchervertrag ab. Er zeigt ihnen die Schatzkarte und bringt ihnen einen 6
967 53.5 · Verhaltenstherapeutische Präventionsprogramme im schulischen Kontext
Schatzsucherruf bei. Während der Schatzsuche wacht Ferdinand mit einem Verstärkerplan über die Mitarbeit der Kinder. Auf der Schatzsuche begegnen die Kinder unter anderem der Waldfee Cordula von Eich und einem Orakel. Sie kommen durch ein menschenleeres altes Gespensterschloss und erreichen schließlich das Land des Drachen Ärger. Hinter diesem Land liegt die Schatzinsel.
Unter didaktischem Aspekt wird eine Chamäleon-Handpuppe eingesetzt; sie begleitet die Kinder durch das gesamte Training. Der Einsatz einer Handpuppe hat für Kinder einen hohen Aufforderungscharakter und hilft ihnen, ihre Aufmerksamkeit zu lenken. Die Schatzsuche erstreckt sich über 26 Trainingssitzungen. Jede Trainingssitzung entspricht dabei einer Schulstunde (45 Minuten). Die Autoren des Trainings empfehlen, jeweils zwei Sitzungen pro Woche mit einer mindestens eintägigen Pause zwischen den Sitzungen durchzuführen. Das Training wurde so konzipiert, dass es sich innerhalb des Schatzsucherthemas inhaltlich in vier aufeinanderfolgende Stufen gliedert. In jeder der vier Stufen wird dabei ein Schwerpunktthema bearbeitet. Die Inhalte der vier Stufen werden in . Tab. 53.2. beschrieben. Jede Trainingssitzung folgt einer festen Struktur. Am Anfang werden die Kinder durch die Chamäleon-Handpuppe begrüßt, danach folgt ein Ruheritual. Es schließt sich eine Einführung in die zu bearbeitende Trainingsaufgabe
an, und es ertönt eine Selbstinstruktion zur visuellen und auditiven Aufmerksamkeit, der sog. Schatzsucherruf. Am Ende der Sitzung wird das Erarbeitete kurz reflektiert, und Ferdinand verteilt im Rahmen des Verstärkerplans in der Belohnungsphase die Punkte für gute Mitarbeit an die einzelnen Schüler. Das Verhaltenstraining für Schulanfänger wurde in verschiedenen Studien überprüft (vgl. Natzke u. Petermann 2009; Petermann et al. 2006; Petermann u. Natzke 2008). Die aktuellste Evaluationsstudie führten Petermann und Natzke (2008) in Luxemburg durch. In einem Kontrollgruppendesign (n=183) wurden zu drei Messzeitpunkten (Prä-Messung, Post-Messung, Followup-Messung nach 12 Monaten) die sozial-emotionalen Probleme (»Strengths and Difficulties Questionnaire«, SDQ, Goodman 1997), aggressives und oppositionelles Verhalten (»Skala aggressives Verhalten«, SAV) sowie emotionale (Kurzform des »Fragebogens zur Erfassung emotionaler Kompetenzen«, FEEK) und soziale Kompetenzen (deutsche Version der »Social Competence ScaleTeacher«, SCS, Conduct Problems Prevention Research Group 2003) erfasst. Die Studie zeigte positive Veränderungen, die über 12 Monate aufrechterhalten wurden. Am deutlichsten reduzierte sich aggressiv-oppositionelles Verhalten (gemäß SAV) und die sozial-emotionalen Probleme (gemäß SDQ); für diese Veränderungen und für die Lehrerurteile (gemäß SCS), also die Verbesserung der emotionalen und sozialen Kompetenzen, konnten mittlere Effektstärken erzielt werden (vgl. Petermann u. Natzke 2008).
. Tab. 53.2. Aufbau des Verhaltenstrainings für Schulanfänger (vgl. Petermann et al. 2006) Trainingsstufe
Trainingsstunden
Inhalte
Stufe 1: Trainingsgrundlagen
1–3
Das Training beginnt mit einer Einführungs- und Motivationsphase, in der den Schülern die Rahmenbedingungen, d. h. die Schatzsuche mit der Chamäleon-Handpuppe Ferdinand anhand einer in der Klasse aufgehängten Schatzkarte, erläutert werden. Des Weiteren werden ein Verstärkerplan und ein Ruheritual eingeführt, und schließlich wird ein Trainingsvertrag mit Klassenregeln unterschrieben.
Stufe 2: Verbesserung der sozial-kognitiven Kompetenzen
4–6
In der zweiten Stufe des Trainings erlernen die Kinder eine Selbstinstruktion, die sie in allen folgenden Trainingsstunden begleitet und sie an die Vorteile einer möglichst differenzierten visuellen und auditiven Wahrnehmung in Problemsituationen erinnert.
Stufe 3: Selbst- und Fremdwahrnehmung emotionaler Grundkategorien (Ärger, Angst, Trauer, Freude), Aufbau sozial-emotionaler Fertigkeiten, Aufbau von prosozialem Verhalten
7–12
Es sollen sozial-emotionale Kompetenzen erweitert werden. Das betrifft u. a. folgende Fertigkeiten: Erkennen und Benennen von Gefühlen, Einfühlen in einen Interaktionspartner als Grundlage für Hilfeverhalten, Aufschieben von Bedürfnissen sowie angemessene Selbstbehauptung. Im Rahmen des Schatzsucherthemas ist die dritte Stufe durch die Begegnung mit drei Gespenstern gekennzeichnet. Jedes der Gespenster hat ein Problem: Baltasar ist traurig, Mortimer ist ängstlich und Caesar ist wütend. Die Kinder bekommen die Aufgabe, sich in jedes der Gespenster einzufühlen und ihnen zu helfen, wieder fröhlich zu werden. Sie nehmen dabei über Briefe, Bilder und Lieder mit den Gespenstern Kontakt auf.
Stufe 4: Vermittlung von sozialen Kompetenzen und angemessenem Problemlöseverhalten
13–26
In der letzten Trainingsphase sollen die Kinder ihr Konflikt- und Problemlösemanagement erweitern. Zu diesem Zweck analysieren die Kinder eine Reihe von alltagstypischen Konflikt- und Problemsituationen anhand von kindgerecht gestalteten Bildergeschichten oder Hörspielen. Sie erarbeiten im Anschluss daran angemessene Handlungsalternativen. Sie lernen dabei, mögliche Folgen einer konkreten Handlung zu berücksichtigen.
53
968
Kapitel 53 · Verhaltenstherapie in der Pädagogik
Training mit Jugendlichen Das »Training mit Jugendlichen« nach Petermann und Petermann (2007) ist ein in den 1980er Jahren entwickeltes multimodales und -methodales Programm, bei dem die Optimierung des Arbeits- und Sozialverhaltens im Vordergrund steht. Es wurde für Jugendliche im Alter zwischen 13 und 20 Jahren als symptomunspezifisches Vorgehen konzipiert, das drei globale Ziele verfolgt: 4 Abbau von aggressiv-dissozialen Verhaltensweisen, 4 Abbau von initiativlosem Verhalten und 4 Abbau von sozial unsicheren Verhaltensweisen. Das Training wurde ursprünglich als sekundärpräventiver Ansatz für verhaltensauffällige Jugendliche entwickelt und empirisch geprüft (Petermann u. Vonnahme 1987). Es war weniger für den primärpräventiven Einsatz in ganzen Schulklassen gedacht. Dennoch haben neuere Untersuchungen zur Wirksamkeit des »Trainings mit Jugendlichen« im schulischen Kontext (Roos u. Petermann 2005; Petermann u. Petermann 2007) gezeigt, dass es sich mit entsprechenden Modifikationen hinsichtlich der Anwendung in größeren Gruppen gut für den Einsatz in Schulklassen eignet. Im Rahmen dieses Kapitels wird das »Training mit Jugendlichen« in seiner modifizierten und empirisch abgesicherten Schulversion dargestellt. Es besteht aus zehn Modulen, die sich aus den 15 Modulen des Einzel- und Gruppentrainings zusammensetzen und an die spezifischen Belange von Schülern in
den letzten beiden Haupt- sowie Realschulklassen anknüpfen. Dabei sind besonders Verhaltensziele im Blick, die in der Arbeitswelt von großer Bedeutung sind. Oft beklagen sich Arbeitgeber über erhebliche Mängel im Hinblick auf soziale Kompetenzen und ausbildungstaugliches Arbeitsverhalten (Roos u. Petermann 2005). Roos und Petermann (2005) nennen insbesondere folgende drei Vorteile für die Trainingsdurchführung mit einer gesamten Schulklasse: 4 Sozial kompetente Schüler können in diesem Rahmen Modell- und Verstärkerfunktion für wenig kompetente Schüler übernehmen. 4 Der Stigmatisierungsgefahr einzelner Schüler wird dadurch vorgebeugt, dass alle Jugendlichen einer Klasse an dem Training teilnehmen, was wiederum die Akzeptanz des Trainings unter den Jugendlichen erhöhen kann. 4 Die Durchführung des gesamten Trainings in einem Gruppensetting (= Schulklasse) garantiert einen guten Alltagstransfer der Trainingsinhalte. Für die Durchführung hat sich pro Modul eine Unterrichtsdoppelstunde bewährt (also 90 Minuten), die wöchentlich realisiert werden sollte. In der folgenden Übersicht sind die zehn Module der schulbasierten Trainingsform des »Trainings mit Jugendlichen« mit den wichtigsten Inhalten und Methoden aufgeführt.
Module der schulbasierten Trainingsform (Roos 2006, S. 76; Petermann u. Petermann 2007, S. 201)
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1. Erstkontakt und Gruppenregeln 4 Vorstellen der Trainingsstruktur und des Ablaufes 4 Vereinbaren von Trainingsgruppenregeln (z. B. sich ausreden lassen, gut zuhören, pünktlich anfangen und aufhören, nicht über andere lästern, gemeinsames Arbeiten) 4 Unterzeichnen eines Klassen-Trainingsvertrages 4 Festlegen von ein bis zwei individuellen Verhaltensregeln (z. B. laut sprechen, abwarten können) für Schüler und Trainer, die in den Trainingssitzungen geübt werden 4 Einführen von Checklisten (Hausaufgabentechnik) 2. Beruf und Zukunft 4 Auseinandersetzen mit eigenen beruflichen Vorstellungen sowie mit Chancen und Grenzen ausgewählter Berufsgruppen (z. B. Polizist, Büroangestellter, Gärtner, Handwerker, Erzieher, Friseurin) anhand von Cartoons 4 Zur beliebten und zur unbeliebten Berufsgruppe wird je ein Rollenspiel durchgeführt 3. Freizeit und Familie 4 Auseinandersetzen mit Vorstellungen über die private Zukunft anhand freier Assoziationen zu 6
vier vorgegebenen Cartoons, die »privates Glück« thematisieren 4 An die Beschreibung der Cartoons schließen sich Rollenspiele an 4. Lebensschicksale und Eigenverantwortung 4 Erkennen und eingestehen von Eigenverantwortung 4 Zuordnen von Alltagsbeispielen zu den Kategorien »Glück« und »Pech« 4 Einschätzen von Eigenanteilen 4 Erhöhen der Eigenverantwortung durch Vertiefung von Beispielen im Rollenspiel 5. Gefühle und Verhalten und Einfühlungsvermögen üben 4 Darstellen vorgegebener Gefühle (Freude, Wut, Trauer, Angst) im Rollenspiel 4 Erarbeiten von Gefühlsausdrücken 4 Üben von Einfühlungsvermögen 4 Verantwortung erfahren 6. Vorstellungsgespräche üben 4 Ideen zum Thema Vorstellungsgespräch sammeln 4 Rollenspiele zum Thema Vorstellungsgespräch durchführen
969 53.5 · Verhaltenstherapeutische Präventionsprogramme im schulischen Kontext
4 Ideen und Rollenspielerfahrungen einander gegenüberstellen 7. Anerkennung aussprechen und loben 4 Üben zu loben und gelobt zu werden 4 Erarbeiten, wann einem Lob zusteht und was für Lob spricht 8. Teamwork 4 Erarbeiten, was einen Außenseiter ausmacht und wie wichtig Teamwork ist 4 Einüben, mit einer konkreten Außenseiterproblematik umzugehen
Jede Trainingsstunde ist gleich strukturiert. Am Anfang eines Moduls werden die Selbstbeobachtungsaufgaben mit Hilfe einer Checkliste ausgewertet. Es folgt die Bearbeitung des thematischen Modulschwerpunktes mit spezifischen Aufgaben und gelenkten Rollenspielen zur Verhaltensübung (s. Übersicht). Am Ende der Stunde erhält jeder Schüler für seine individuelle Trainingsregel eine Rückmeldung zu dem gezeigten Verhalten. Das Ergebnis wird in eine Rückmeldungstafel eingetragen, die mit einem Tokensystem gekoppelt sein kann. Die Darstellung von Evaluationsergebnissen beschränkt sich an dieser Stelle auf eine Studie, die sich auf die Wirksamkeit der in diesem Abschnitt beschriebenen Trainingsversion bezieht (Roos u. Petermann 2005). Die Evaluationsstudie basiert auf einem Kontrollgruppendesign mit drei Messzeitpunkten (Prä-, Post- und Follow-up-Testung). Es nahmen insgesamt 27 Jugendliche (12 Jungen und 15 Mädchen; 12 in der Interventions- und 15 in der Kontrollgruppe) im Alter von 16 Jahren teil. Zur Erfassung sozialer Kompetenz wurde eine multimodale Diagnostik gewählt. Zum einen wurden die Schüler selbst befragt (»Anstrengungsvermeidungstest«, AVT, Rollett u. Bartram 1998; Rückmeldebogen zur globalen Akzeptanz des Trainings; Rückmeldebogen zur Selbsteinschätzung) und die Lehrer um eine Einschätzung gebeten (Einschätzbogen zur Mitarbeit der Jugendlichen); zum anderen wurden videografierte Verhaltensübungen mit einem standardisierten Verhaltensbeobachtungsbogen durchgeführt, die durch unabhängige Beobachter ausgewertet wurden. Aus Lehrersicht fand während des Trainings eine signifikante Zunahme positiven Sozialverhaltens bei gleichzeitiger bedeutsamer Abnahme negativen Sozialverhaltens statt (Prä-post-Vergleich). Bei einer nachträglichen Berechnung der Effektstärken ergaben sich mittlere Kenngrößen; diese mittleren Effektstärken bezogen sich auf die Skala »angemessenes Durchsetzungsvermögen« im Lehrerurteil. Die Auswertung der Verhaltensbeobachtungen 5 Monate nach Trainingsabschluss ergab, dass das Training eine zumindest 5 Monate anhaltende Verbesserung verschiedener
9. Umgehen mit Kritik im Beruf und Umgehen mit Misserfolg 4 Lernen, mit berechtigter und unberechtigter Kritik umzugehen 4 Die Schüler sollen einen Jugendlichen, der mit provozierendem Verhalten von einem Trainer gespielt wird, überzeugen, mit seinen Misserfolgen bei der Lehrstellensuche nicht aggressiv, aber auch nicht resignativ, umzugehen 10. Rückmeldung zum Training 4 Rückmeldung zum Training geben 4 Gegebenenfalls Absprachen zu zukünftigen Folgeprojekten und Auffrischungsstunden treffen
sozialer Fertigkeiten zur Folge hatte (Prä-Follow-up-Vergleich). Bei diesen videografierten Verhaltensübungen traten ebenfalls mittlere Effektstärken auf, und zwar beim »Kommunikations- und Einfühlungsvermögen«. Zusätzlich konnte mit dem AVT eine bedeutsame Abnahme von Anstrengungsvermeidungsverhalten nachgewiesen werden. Aus der Schülerbefragung ergab sich qualitativ der Nachweis einer guten Akzeptanz des Trainings bei den Jugendlichen (vgl. Roos u. Petermann 2005).
53.5.2 Spezifische Präventionsprogramme
Kaluza und Lohaus (2006) haben zehn spezifische, evaluierte Interventionsprogramme für den Einsatz im schulischen Kontext zusammengestellt. Vier von den zehn Programmen setzen ihren thematischen Schwerpunkt auf die Suchtprävention im Schulalter. Diese vier Programme beziehen verhaltenstherapeutische Methoden (z. B. Rollenspiel, Entspannungsübungen, Selbstbeobachtung, Verstärkerprogramme) in das Vorgehen ein. Unter anderem üben die Schüler, Gefühle bei sich und anderen wahrzunehmen, selbstsicher und standfest zu werden. Sie lernen Stressbewältigungsstrategien kennen und setzen sich mit Risiken und Gefahren des Rauchens aktiv auseinander. Die Programme werden in der Regel von Lehrkräften mit der gesamten Klasse durchgeführt. Ein kürzlich erschienenes, auf Alkoholkonsum abzielendes Suchtpräventionsprogramm stellen Weichold und Silbereisen (2009) vor. Es handelt sich um das Lebenskompetenzprogramm »IPSY« (»Information + Psychosoziale Kompetenz = Schutz«) für die Klassenstufen 5–7. Exemplarisch wird für den Schulbereich das Fertigkeitstraining »ALF: Allgemeine Lebenskompetenzen und Fertigkeiten« (Walden et al. 1998, 2000) und der Ansatz »Be Smart – Don’t Start« (Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung, IFT-Nord 2008) näher beschrieben. Für den Bereich der Essstörungen wird ein Programm von Dannigkeit et al. (2005) vorgestellt.
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Kapitel 53 · Verhaltenstherapie in der Pädagogik
Suchtprävention
schulbasierte Programme, die über die Gefahren von Tabak, Alkohol und Drogen aufklären und eigenverantwortliches Verhalten bei den Jugendlichen fördern (vgl. Lampert u. Thamm 2007; Weichold u. Silbereisen 2009).
Der Tabak- und Alkoholkonsum ist unter Jugendlichen in Deutschland weit verbreitet, während illegale Drogen und die Drogenabhängigkeit bei den unter 15-Jährigen eher selten vorkommen (Mühlig 2008). Nach Lampert und Thamm (2007) liegt das Einstiegsalter für den Substanzgebrauch im Alter von 13 bis 14 Jahren. Das Ausprobieren verschiedener Drogen im frühen Jugendalter gilt als guter Prädiktor für Substanzmissbrauch oder Substanzabhängigkeit (European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction 2007). Insofern kommt der Suchtprävention insbesondere vor dem 13. Lebensjahr eine entscheidende Bedeutung zu. Ein wichtiger Zugang zu dieser Altersgruppe eröffnet sich über
ALF. Das ALF-Programm wurde für Schüler der 5. und 6. Jahrgangsstufe aller Regelschulformen (Haupt-, Real-, Gesamtschulen und Gymnasien) entwickelt. Es besteht aus je einem hochstrukturierten Lehrermanual für die 5. und die 6. Klasse. Das Manual für die 5. Klasse umfasst 12 aufeinander aufbauende Einheiten. In der 6. Klasse sind es acht Einheiten. Die insgesamt 20 Themen können der folgenden Übersicht entnommen werden.
Themen des ALF-Programms (Walden et al. 1998, 2000)
53
5. Klasse
6. Klasse
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
4 4 4 4 4 4 4 4
Sich kennen lernen Sich wohl fühlen Informationen zum Rauchen Gruppendruck widerstehen Kommunikation und soziale Kontakte Gefühle ausdrücken Selbstsicherheit Informationen zu Alkohol Medien und Werbung widerstehen Entscheidungen treffen/Problemlösung Verbesserung des Selbstbildes Freizeitgestaltung
Jede der Einheiten wird innerhalb einer Doppelstunde (90 Minuten) von einem geschulten Lehrer mit den Schülern durchgeführt. Nicht jede der Einheiten ist substanzspezifisch. Der Großteil der Einheiten beschäftigt sich, wie in den unspezifischen Trainingsprogrammen schon zu sehen war (7 Abschn. 53.5.1), mit der Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen (soziale Kontakte, Problemlösung, Gefühlswahrnehmung usw.) sowie mit der Verbesserung von Kommunikations- und Stressbewältigungsfertigkeiten, dem kritischen Umgang mit Medien und Ähnlichem. Die Methoden im ALF-Programm umfassen Rollenspiele, Gruppendiskussionen, Kleingruppen- und Partnerarbeit. Darüber hinaus erhalten die Schüler Hausaufgaben, um das Gelernte zu festigen und auf ihren Alltag zu übertragen. Das Ziel des Programms ist es, den Missbrauch von psychoaktiven Substanzen durch die Stärkung der Persönlichkeit, der Kommunikations- sowie der Stress- und Problembewältigungsfertigkeiten zu verhindern. Das von Walden et al. (1998; 2000) entwickelte ALF-Programm wurde von Bühler et al. (2007) in einer schulbasierten Interventionsstudie evaluiert. In diese Studie gingen 448 Schüler ein, und es wurden die Vorher-Nachher-Effekte untersucht. Es zeigten sich kleine Effektstärken in den Kompetenzberei-
Gruppendruck widerstehen Einstellungen zum Rauchen Klassenklima verbessern Mit Frust umgehen/Problemlösung Freundschaften und Kommunikation Angst und wie man damit umgeht Einstellungen zum Alkohol Positives Selbstbild
chen »Wissen um Problemlösungen«, »Kommunikationsund Selbstbeurteilungsfertigkeiten« sowie in der »Selbstbeurteilung der Ressourcen« bei den Schülern, die am ALFTraining teilnahmen, und zwar verglichen mit einer Kontrollgruppe, die kein spezifisches Suchtpräventionsprogramm erhielt. »Be Smart – Don’t Start«. Ziel dieses primärpräventiven Programms ist es, den Einstieg in das Rauchen zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Aus diesem Grund werden besonders Schulklassen angesprochen, in denen bisher keine oder nur wenige Schüler rauchen. Schulklassen der 6. bis 8. Jahrgangsstufe aller Schulformen können an dem Programm unter der Bedingung teilnehmen, dass weniger als 10% der Schüler rauchen. Das Ziel der Primärprävention ist es, dass alle Schüler einer Schulklasse erfolgreich darin sind, für eine definierte Zeit nicht zu rauchen bzw. mit dem Rauchen nicht zu beginnen. Das Programm ist als Wettbewerbssituation angelegt, und zwar findet der Wettbewerb zwischen den Klassen verschiedener Schulen statt, also nicht zwischen einzelnen Schülern einer Klasse. Im Schuljahr 2008/2009 wird der »Be Smart – Don’t Start«Wettbewerb zum zwölften Mal durchgeführt.
971 53.5 · Verhaltenstherapeutische Präventionsprogramme im schulischen Kontext
Die teilnehmenden Schulklassen verpflichten sich, ein halbes Jahr lang nicht zu rauchen. Zur Verstärkung wird die Einhaltung der Regel, nicht zu rauchen, wöchentlich abgefragt und einmal im Monat an die Wettbewerbsleitung zurück gemeldet (vgl. Box »Wettbewerbsregeln«).
Wettbewerbsregeln (Hanewinkel 2007) 4 Die Klasse entscheidet selber, ob sie an dem Wettbewerb teilnehmen möchte oder nicht (mindestens 90% müssen sich für eine Teilnahme aussprechen). 4 Wenn eine Lehrkraft eine Klasse zum Wettbewerb angemeldet hat, wird ihr das zur Durchführung notwendige Material (Aktionsmappe: »Be Smart – Don’t Start« mit Lehrerbroschüre, einer Kopiervorlage für einen Schülervertrag, einem Klassenvertrag plus Aufklebern, Informationsmaterial für die Eltern und einer CD-Rom mit Unterrichtsvorschlägen und Hintergrundinformationen zur Prävention des Rauchens) zugeschickt. 4 Alle Schüler unterschreiben einen Vertrag, in dem sie sich verpflichten, von November bis April des laufenden Schuljahres nicht zu rauchen. 4 Die Schüler müssen einmal pro Woche angeben, ob sie in der Woche geraucht haben oder nicht. Wenn zweimal mehr als 10% der Schüler geraucht haben, scheidet die Klasse aus dem Wettbewerb aus. 4 Am Ende jeden Monats meldet die Klasse der Wettbewerbsleitung zurück, ob sie noch im Rennen ist (Postkarte oder online).
Parallel zum Wettbewerb führen viele Klassen Aktionen rund um das Thema »Nichtrauchen« durch (z. B. die Gestaltung von Videos, Theaterstücken, Songs, Musik, Geschichten, Rätseln, Plakaten). Klassen, die es schaffen, innerhalb des halben Jahres nicht zu rauchen, erhalten ein Klassenzertifikat. Als Hauptpreis des Wettbewerbs können die Klassen im Rahmen einer Lotterie eine Klassenfahrt (im Wert von ca. 5.000 Euro) gewinnen. Die einzelnen Bundesländer vergeben darüber hinaus Geld- und Sachpreise. Schulklassen, die wiederholt an dem Wettbewerb teilnehmen oder besonders kreative Aktionen durchgeführt haben, können Sonderpreise gewinnen (Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung, IFT-Nord 2008/2009). Methoden der Selbstverpflichtung, des Kontraktmanagements und der positiven Verstärkung über den Wettbewerb werden eingesetzt. Die Auseinandersetzung mit dem Thema »Rauchen« erfolgt dadurch, dass die Schüler einer teilnehmenden Klasse in einen Diskussionsprozess über das Rauchen/Nichtrauchen gelangen (Hanewinkel 2007). Um die Nachhaltigkeit des Programms zu steigern, wurden besondere Anreize für die Klassen ge-
schaffen (z. B. Sonderpreise), die wiederholt an dem Wettbewerb teilnehmen. Einmal im Jahr finden vor Beginn des Wettbewerbs regionale Einführungs- und Fortbildungsveranstaltungen statt. Der Wettbewerb selbst wird jährlich von November bis April in Deutschland und in 18 weiteren europäischen Ländern (z. B. Italien, Spanien, Schweiz, Luxemburg, Belgien) durchgeführt und im Klassenverband von den Lehrern betreut. Im Schuljahr 2007/2008 haben sich 11.350 Klassen zum Wettbewerb angemeldet, von denen ihn 63,3% (=7.184) erfolgreich abgeschlossen haben (Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung, IFT-Nord 2008/2009). Im Rahmen von randomisierten Kontrollgruppenstudien konnte Hanewinkel (2007) den Erfolg der Maßnahme anhand der Number-needed-to-treat-Analyse belegen. Hanewinkel kommt zu dem Ergebnis, dass aufgrund der Teilnahme einer Klasse am Präventionsprogramm ein bis zwei Schüler pro Klasse in einem Zeitraum von ein bis zwei Jahren – im Vergleich zu Klassen ohne Intervention – nicht zu rauchen beginnen.
Prävention von Essstörungen Zu den Essstörungen werden Krankheitsbilder, wie Magersucht (Anorexia nervosa), Ess-/Brechsucht (Bulimia nervosa), Binge Eating Disorder (Fressanfälle ohne gewichtsregulierende Gegensteuerung) und die Adipositas (Fettsucht) gezählt. Der Beginn einer Essstörung liegt häufig in der Pubertät, bei der Adipositas jedoch bereits im Vorschulalter. Im Rahmen einer Prävention von Essstörungen kommt vor allem der Aufklärung von Jugendlichen, Erziehungsberechtigten und Lehrkräften über das Krankheitsbild und die Risikofaktoren eine große Bedeutung zu. Darüber hinaus müssen durch die Förderung sozialer Kompetenzen (einschließlich emotionaler Fähigkeiten) das Selbstwertgefühl gefestigt und Problemlösestrategien eingeübt werden. Prävention von Essstörungen – Ein Trainingsprogramm für Schulen. Dieses Programm setzt sich aus einem Grund-
und einem Auffrischungstraining zusammen. Das Grundtraining wurde für Schüler der 6. Klasse, das Auffrischungstraining für den 8. Jahrgang entwickelt. Damit setzt das Training als primärpräventive Maßnahme zu Beginn der Pubertät ein – also in den meisten Fällen vor dem Auftreten einer Essstörung. Das Ziel des Trainings ist eher die Stärkung der Widerstandskraft der Kinder gegen eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, gegen ein gesteigertes Diätverhalten und gegen Verluste beim Selbstwertgefühl als die Reduktion auffälliger Verhaltensweisen und ungesunder Einstellungen. In das Programm werden Jungen und Mädchen gleichermaßen einbezogen. Zum einen treten Essstörungen zunehmend auch bei Jungen auf, zum anderen tragen Jungen und Männer in der Gesellschaft dazu bei, dass ungesunde Diätnormen und Schönheitsideale aufrechter-
53
972
Kapitel 53 · Verhaltenstherapie in der Pädagogik
. Tab. 53.3. Themen und Inhalte des Programms »Prävention von Essstörungen«. (Nach Dannigkeit et al. 2005, S. 83) Einheit
Themen
Inhalte
1. Programmstunde (Doppelstunde)
Das Schönheitsideal in den Medien
4 Diskussion der Subjektivität des Schönheitsideals 4 Medienkompetenz
2. Programmstunde (Einzelstunde)
Gesunde Ernährung und Essstörungen
4 Darstellung der verschiedenen Essstörungssymptomatiken 4 Informationen über gesundes Ernährungsverhalten 4 Genussübung
3. Programmstunde (Doppelstunde)
Problemlösen und soziale Kompetenz
4 4 4 4
1. Programmstunde (Doppelstunde)
Schönheitsideale und Geschlechtsstereotypien in den Medien Umgang mit negativen figurbezogenen Kommentaren
4 Diskussion der Subjektivität des Schönheitsideals 4 Erstellung und Diskussion von Postercollagen zu Geschlechtsstereotypien 4 Fallbeispiel und Rollenspiel
2. Programmstunde (Einzelstunde)
Gesunde Ernährung und Essstörungen
4 Darstellung der verschiedenen Essstörungssymptomatiken 4 Informationen über gesundes Ernährungsverhalten 4 Spiel zur Vertiefung der Inhalte
3. Programmstunde (Doppelstunde)
Pupertäre Entwicklung und Umgang mit Stress Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper Allgemeines Selbstwertempfinden
4 4 4 4
Grundtraining
Problemlösetraining/ Fallbeispiel Rollenspiel Selbsterfahrung Abschlussspiel
Auffrischungstraining
53
halten werden. Insgesamt umfasst das Training zehn Unterrichtsstunden, die in sechs Programmstunden aufgeteilt sind. . Tab. 53.3. gibt einen Überblick über die Themen und Inhalte des Trainingsprogramms. Jeweils in der dritten Einheit arbeiten Jungen und Mädchen in getrennten Gruppen (Dannigkeit et al. 2005). Das Trainingsprogramm wurde von Dannigkeit et al. (2005) in einer quasi-experimentellen Kontrollgruppenstudie an 153 Gymnasiasten evaluiert; die Studie umfasste insgesamt sechs Messzeitpunkte, je drei für das Grund- und für das Auffrischungstraining (Prä-, Posttest, Follow-up). Es wurden Daten zum Wissen über Essstörungen, zum Essverhalten und zum Selbstwertgefühl erhoben. Das Trainingsprogramm steigerte das ernährungsrelevante Wissen, und im langfristigen Verlauf konnten sich die Schüler, die am Training teilnahmen, deutlich im Vergleich zur Kontrollgruppe in ihrem Essverhalten sowie in ihrem Selbstwertgefühl verbessern. Hierfür konnten kleine und mittlere Effektstärken bestimmt werden.
Zusammenfassung Ausgehend von den Schnittstellen zwischen Kinderverhaltenstherapie und Pädagogik, 4 Prävention und Gesundheitsförderung, 4 lerntheoretische Prinzipien und 4 Diagnosestellung,
Fallbeispiele Austausch eigener Erfahrungen Spiegelübung Kofferspiel
befasst sich das vorliegende Kapitel zuerst mit verhaltenstherapeutischen Methoden, die für den pädagogischen Bereich geeignet sind (Ruherituale und Entspannungsverfahren, Verstärkungssysteme, Rollenspiel und Verhaltensvertrag); dabei wird wie auch im Weiteren auf den schulischen Kontext fokussiert. Die Schule ist ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche heutzutage einen Großteil ihres Alltags verbringen, so dass die Bedeutung der Schule für präventive und verhaltenstherapeutische Interventionen groß ist. Anschließend werden Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit von Verhaltenstherapeuten und Lehrern dargestellt. Lehrkräfte sind wichtige Bezugspersonen für Kinder und Jugendliche und stehen aufgrund gesellschaftlicher und bildungspolitischer Bedingungen vermehrt vor der Aufgabe, auch psychisch gestörte Kinder und Jugendliche zu betreuen und zu erziehen. Es werden konkrete Beispiele für mögliche Absprachen und unterstützendes Lehrerverhalten gegeben. Das Kapitel schließt mit der Beschreibung ausgewählter spezifischer und unspeszifischer Präventionsprogramme, die durch einen geschulten Lehrer mit einer ganzen Schulklasse durchgeführt werden können. Unspezifische Programme zielen allgemein auf die Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen ab, um eine gesunde psychische Entwicklung zu ermöglichen; hingegen enthalten spezifische Programme darüber hinaus Einheiten zu ausgewählten Problematiken, wie Substanzmissbrauch, Gewalt oder Essstörungen.
973 Literatur
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53
974
Kapitel 53 · Verhaltenstherapie in der Pädagogik
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54
54 Berufsethische und rechtliche Aspekte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Jürg Forster
54.1
Einleitung
– 976
54.2
Ethische und rechtliche Normen – 976
54.2.1 54.2.2 54.2.3
Eide – 976 Berufsordnungen – 976 Rechtsnormen – 978
54.3
Einige berufsethisch relevante Themen – 979
54.3.1 54.3.2 54.3.3 54.3.4 54.3.5 54.3.6 54.3.7 54.3.8
Kindeswohl – 979 Aufklärungspflicht – 979 Einsichtsfähigkeit und Einwilligung – 979 Dokumentation – 980 Vertraulichkeit – 980 Kindesschutz – 982 Nähe und Distanz in der beruflichen Beziehung Elektronische Kommunikationsmittel – 983
54.4
Aus der Arbeit einer Berufsethik-Kommission – 983 Zusammenfassung – 985 Literatur
– 985
Weiterführende Literatur
– 986
– 983
976
Kapitel 54 · Berufsethische und rechtliche Aspekte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
54.1
Einleitung
Berufsethische Richtlinien sind ein wesentliches Element der Qualitätssicherung. Psychologische und psychotherapeutische Berufsverbände verpflichten ihre Mitglieder auf die Einhaltung ihrer Berufsordnung. Damit schützen sie einerseits die Klienten ihrer Verbandsmitglieder vor unqualifiziert oder unverantwortlich handelnden Fachleuten. Auf der anderen Seite liegt ein korrektes berufsethisches Verhalten aber auch im Interesse der einzelnen Verbandsmitglieder und des ganzen Berufsstandes. Wenn sich psychologische Fachleute unethisch verhalten, indem sie etwa die Sorgfaltspflicht verletzen oder vertrauliche Informationen an Unberechtigte weitergeben, wenden sich Klienten nicht selten an den Berufsverband oder – wenn sie den Eindruck haben, dass dieser ihr Anliegen nicht ernst nimmt – an die Medien. Das Ansehen eines Berufsstandes aufzubauen dauert Jahrzehnte, wenige »schwarze Schafe« können es jedoch innerhalb kürzester Zeit nachhaltig schädigen. Der vorliegende Beitrag geht auf berufsethische und rechtliche Aspekte ein, die es in der psychologischen und psychotherapeutischen Tätigkeit zu berücksichtigen gilt. Spezielle Fragestellungen ergeben sich dabei in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
54.2
Ethische und rechtliche Normen
54.2.1 Eide
54
Eide sind eine verbindliche, feierliche Form, sich zu einer Verpflichtung zu bekennen. Als erster berufsethischer Kodex wird ein Eid angesehen, der um 400 v. Chr. entstand und dem griechischen Arzt Hippokrates von Kos zugeschrieben wird (Bauer 1995). Dieser Eid hält bereits wesentliche Elemente einer modernen Berufsethik fest und formuliert sie als Selbstverpflichtung des Arztes: die Vermeidung von Schaden, die integre Berufsausübung und die Wahrung der Vertraulichkeit. Auch die Ablehnung sexueller Beziehungen mit Patienten findet im Eid des Hippokrates Erwähnung. Das Versprechen, sich an die ethischen Regeln des Berufsstandes zu halten, wird heute eher in Form einer Unterschrift unter eine Berufsordnung geleistet, es gibt aber auch in neuerer Zeit noch Eide. So zirkuliert in schulpsychologischen Diensten Russlands ein »Eid des Kinderpsychologen«, der mit der folgenden Formulierung schließt:
Ich werde nicht zulassen, dass das, was ich über einen Menschen erfahre, gegen diesen verwendet wird. Als psychologische Fachperson habe ich nur einen wichtigen Wunsch: für Menschen eine Vertrauensperson zu sein.
6
Ich werde meinem Berufsstand nicht Schaden zufügen durch inkompetentes Vorgehen, durch mangelhafte Qualifikation, durch unehrenhaftes Handeln, Gleichgültigkeit oder Gewinnsucht. Und möge es mir gelingen, mit meinem aufrichtigen Bestreben die Begabungen des Kindes zu wecken und zu fördern, ihm in schwierigen Zeiten seiner Entwicklung zu helfen und das Wunder seiner Einzigartigkeit zu respektieren, zu würdigen und zu bewahren. (Rossijskaja Akademija Obrazovanija 1998, Übersetzung des Autors)
54.2.2 Berufsordnungen
Berufsordnungen heißen in manchen Verbänden auch Standesregeln oder Ethik-Richtlinien (engl. »code of conduct«, franz. »code de déontologie«). Sie stellen eine Richtlinie für ethische Entscheidungen der Verbands- bzw. Kammermitglieder dar. Über die Wichtigkeit der Berufsethik gibt es in psychologischen Verbänden einen guten Konsens, in den Präambeln verschiedener Berufsordnungen finden sich oft ähnliche Zielformulierungen. Als Beispiel aus der Bundesrepublik Deutschland kann die Muster-Berufsordnung der Bundespsychotherapeutenkammer (2007) erwähnt werden. Ihr Ziel ist es 4 das Vertrauen zwischen Psychotherapeuten und ihren Patienten zu fördern, 4 den Schutz der Patienten zu sichern, 4 die Qualität der psychotherapeutischen Tätigkeit im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung sicherzustellen, 4 die freie Berufsausübung zu sichern, 4 das Ansehen des Berufs zu wahren und zu fördern und 4 auf berufswürdiges Verhalten hinzuwirken und berufsunwürdiges Verhalten zu verhindern. Die psychologische Berufstätigkeit ist in zahlreichen Staaten Europas noch nicht gesetzlich geregelt. Unabhängig davon, ob es Psychologie- oder Psychotherapiegesetze gibt, kommt Berufsordnungen jedoch weiterhin eine zentrale Bedeutung zu. In einigen europäischen Staaten gibt es nationale psychologische Dachverbände mit eigener Berufsordnung und einer Ethik-Kommission, die sowohl gegenüber Mitgliedern der Berufsverbände als auch gegenüber Klienten eine beratende Funktion haben. Andere nationale Berufsverbände verfügen zudem über ein reglementiertes Beschwerdeverfahren und über ein Schieds- und Ehrengericht, eine Ethik- oder Berufsordnungskommission, die bei Beschwerden gegen Mitglieder des Berufsverbandes vermitteln und allfällige Verstöße ahnden kann. Die Schlichtungs- und die Sanktionierungsfunktionen werden mancherorts von verschiedenen Gremien wahrgenommen. Am
977 54.2 · Ethische und rechtliche Normen
weitesten geht in Europa die British Psychological Society (BPS), die das Beschwerdeverfahren sehr differenziert regelt (BPS 2006). Beschwerden gegen Mitglieder der BPS werden von einer Untersuchungskommission entgegengenommen, die sie prüft und an einen Berufsethikausschuss (»Conduct Panel«) oder an einen Arbeitsfähigkeitsausschuss (»Fitness to Practise Panel«) weiterleitet. Für die Wahl des Verfahrens entscheidend ist, ob die Untersuchungskommission Anhaltspunkte dafür hat, dass das allfällige Fehlverhalten durch eine gesundheitliche Beeinträchtigung des Mitglieds bedingt sein könnte. Entsprechend werden im Anschluss an die Untersuchung auch Maßnahmen, die bis zum Ausschluss des Mitglieds aus der BPS führen können, von einem »Conduct Committee« oder einem »Fitness to Practise Committee« beschlossen (Lindsay 2008, persönliche Mitteilung)1. Verhandlungen des Conduct Committees sind in der Regel öffentlich, und Sanktionen werden mit voller Namensnennung des betroffenen Mitglieds publiziert, was europaweit wohl einmalig ist. In den meisten nationalen Berufsverbänden hat die Schlichtungs- und Beratungsfunktion der Ethik-Komitees einen weit höheren Stellenwert als die Sanktionierung von Fehlverhalten. Die schwerste Strafe stellt neben dem Ausschluss aus dem Verband die Benachrichtigung der staatlichen Aufsichtsbehörde dar. In Europa haben zwölf nationale Psychologieverbände im Jahr 1981 ihre Berufspolitik im Rahmen eines Dachverbandes koordiniert. An der Gründungsversammlung in Heidelberg entstand damals die European Federation of Professional Psychologists Associations (EFPA). 1995 gab sich dieser Dachverband einen berufsethischen »MetaCode«, eine Richtlinie für die Berufsordnungen der natio-
1
nalen Berufsverbände. Bis 2006 hat sich die EFPA stark erweitert. Sie repräsentiert nun 200.000 Psychologinnen und Psychologen aus 34 nationalen Verbänden Europas. Im deutschen Sprachraum sind der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), der Berufsverband Österreichischer Psychologinnen und Psychologen (BÖP), der Berufsverband der Psychologinnen und Psychologen Liechtensteins (BPL) und die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) Gliedverbände der EFPA. Die unten beschriebenen (7 Box) ethischen Prinzipien sind für alle nationalen Gliedverbände verbindliche Leitlinien (EFPA 2005, Übersetzung durch den Autor). Respekt, Kompetenz, Verantwortlichkeit und Integrität sind als berufsethische Prinzipien in den Berufsordnungen der meisten Psychologieverbände festgehalten. Dazu gibt es nicht nur in Europa, sondern weltweit eine beachtliche Übereinstimmung. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe der internationalen Psychologieverbände IUPsyS, IAAP und IACCP entwirft zurzeit eine »Universal Declaration of Ethical Principles for Psychologists« (IUPsyS 2006) und stellt diese an Kongressen sowie im Internet zur Diskussion. Im Entwurf heißen die Prinzipien 4 Achtung vor der Würde aller Menschen, 4 kompetente Sorge um das Wohlergehen anderer, 4 Integrität, 4 berufliche und wissenschaftliche Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Das Verhältnis von Ethik und Recht ist im Idealfall konfliktarm: Beide basieren auf Grundwerten, die von den meisten Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt werden. In Rechtsnormen werden ethische Prinzipien konkretisiert und fest-
Achtung vor den Rechten u. der Würde des Menschen
Verantwortung
Psychologinnen und Psychologen achten und fördern die Entfaltung der Grundrechte, der Würde und des Wertes aller Menschen. Sie respektieren die individuellen Rechte auf Privatsphäre, Vertraulichkeit, Selbstbestimmung und Autonomie, übereinstimmend mit den anderen Verpflichtungen der psychologischen Berufstätigkeit und mit den gesetzlichen Bestimmungen.
Psychologinnen und Psychologen sind sich ihrer professionellen und wissenschaftlichen Verantwortung gegenüber ihren Klientinnen und Klienten, der Gemeinschaft und der Gesellschaft, in welcher sie leben und arbeiten, bewusst. Sie vermeiden es Schaden zuzufügen und sind für ihre eigenen Handlungen verantwortlich, und sie stellen so weit wie möglich sicher, dass ihre Dienstleistungen nicht missbraucht werden.
Kompetenz
Integrität
Psychologinnen und Psychologen streben danach, in ihrer Arbeit hohe Standards der beruflichen Kompetenz sicherzustellen und zu erhalten. Sie anerkennen die Grenzen ihrer eigenen Kompetenzen und die Beschränktheit ihres Fachwissens. Sie bieten nur jene Dienstleistungen an und verwenden nur jene Methoden, für die sie durch Ausbildung, Training oder Erfahrung qualifiziert sind.
Psychologinnen und Psychologen setzen sich für Integrität in der Wissenschaft, in Lehre und Praxis der Psychologie ein. In diesen Tätigkeiten sind sie ehrlich, fair und respektvoll gegenüber anderen. Sie versuchen beteiligten Personen und Instanzen ihre eigene Rolle zu erklären und entsprechend dieser Rolle ihre Tätigkeit angemessen auszuführen.
Professor G. Lindsay vertritt die BPS im EFPA Standing Committee on Ethics und präsidiert dieses.
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Kapitel 54 · Berufsethische und rechtliche Aspekte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
geschrieben. Wenn sich das Rechtsempfinden in einer Gesellschaft verändert, werden Gesetze angepasst. Analog überarbeiten auch Berufsverbände ihre ethischen Richtlinien, wenn diese auf aktuelle berufsethische Fragen keine angemessene Antwort mehr geben. Eine möglichst große Übereinstimmung zwischen Ethik und Recht ist wünschenswert, ethische Normen gehen aber oft weit über den Bereich hinaus, der rechtlich geregelt ist. Aus diesem Grunde behalten psychologische und psychotherapeutische Berufsverbände und Kammern ihren Berufskodex bzw. ihre Berufsordnung in der Regel auch dann bei, wenn ihre Berufstätigkeit gesetzlich normiert wird. Zwei beispielhafte Situationen, in denen die Kenntnis der Rechtslage keine genügende Handlungsorientierung geben kann, seien kurz geschildert:
Beispiel 4 Eine klinische Psychologin wird in einem Strafverfahren gegen ihren Patienten als Zeugin vor Gericht geladen. Die Strafprozessordnung ihres Landes sieht für sie ein Zeugnisverweigerungsrecht vor, ihr Patient hat sie aber von der Schweigepflicht entbunden. Die berufsethischen Regeln ihres Verbandes können ihr Hinweise dafür geben, ob und in welcher Weise sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen soll. 4 Ein Kinderpsychologe hat nach dem Gesetz seines Landes ein Mitteilungsrecht, aber keine Mitteilungspflicht gegenüber den Behörden, die für den Kindesschutz zuständig sind. In einem konkreten Beratungsfall orientiert er sich an der Berufsordnung seines Verbandes und entscheidet darauf, was am besten zu tun ist (7 Kap. 54.3.6).
54.2.3 Rechtsnormen
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Rechtsnormen sind für Qualitätssicherung und Konsumentenschutz in Psychologie und Psychotherapie von großer Bedeutung. Psychologie- und Psychotherapiegesetze regeln die Berufspflichten, die auch Thema von berufsethischen Richtlinien der Verbände sind. Darüber hinaus regeln die Gesetze aber auch die Ausbildung, die Berufsausübung (Approbation/Praxisbewilligung), die Berufsbezeichnungen (Titelschutz), die fachlichen Kompetenzen und Leistungen, die Aufsicht u.a.m. Falls das Gesetz eine Behörde vorsieht, die bei Verstößen von Berufsleuten gegen deren berufliche Pflichten aktiv wird, so kann es für den Berufsverband vor allem bei schweren berufsethischen Verstößen Sinn machen, die Bearbeitung von Beschwerden den staatlichen Organen zu überlassen. Die Ethik-Komitees konzentrieren sich dann auf die beratende Tätigkeit. Diese Entwicklung ist zurzeit in den skandinavischen
Staaten zu beobachten. Im Vergleich zu Gesetzen können Berufsordnungen viel differenzierter auf Situationen eingehen, die sich in der Berufspraxis stellen. Als Leitlinien für berufsethisch korrektes Verhalten bleiben sie deshalb für die Verbände und ihre einzelnen Mitglieder unentbehrlich. Weitere Rechtsnormen, die für die kinder- und jugendpsychologische Tätigkeit von Belang sind, finden sich in der UNO-Kinderrechtskonvention, in der Europäischen Menschenrechtskonvention, auf nationaler Ebene in den Verfassungen, im Familienrecht, im Strafrecht, im Arbeitsrecht, im Persönlichkeitsrecht, im Sozialversicherungsrecht, in der Gesundheitsgesetzgebung u.a.m. – in jedem Staat und in der Schweiz sogar in jedem Kanton sieht die Rechtslage wieder etwas anders aus. Die Vielzahl der relevanten Rechtsgrundlagen ist für psychologische und psychotherapeutische Fachleute verwirrend. Kann von ihnen erwartet werden, dass sie auch in Rechtsfragen Experten sind? Sicher nicht. Was aber unbedingt erwartet werden kann, ist die Kenntnis der berufsethischen Grundprinzipien und das ernsthafte Bemühen, sie in der Praxis umzusetzen. Dieser Beitrag soll eine Hilfestellung geben, wie man sich einen Überblick über die relevanten Bestimmungen verschaffen kann. Zudem werden einige ausgewählte Fragestellungen aus der Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie besprochen. > Fazit Was können Sie tun? 4 Lesen Sie die Ethik-Richtlinien (Berufsordnung, Berufskodex, Standesregeln) Ihres Berufsverbandes bzw. Ihrer Kammer. 4 Erkundigen Sie sich bei Ihrem Berufsverband bzw. Ihrer Kammer über die für Ihre Berufsausübung relevanten Rechtsgrundlagen und studieren Sie sie. 4 Diskutieren Sie berufsethische und rechtliche Fragen, die sich in Ihrer Praxis stellen, mit Kollegen oder thematisieren Sie sie in der Supervision. 4 Versuchen Sie sich für Ihren beruflichen Alltag die wichtigsten vier berufsethischen Prinzipien zu merken: Achtung vor der Würde des Menschen, kompetentes Handeln, Verantwortung und Integrität. 4 Beachten Sie diese Prinzipien in Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit und in Ihrer beruflichen Praxis, besonders auch im Umgang mit Auftraggebern, im Kollegenkreis, mit Auszubildenden und Klienten. 4 Geben Sie ein Exemplar Ihrer Berufsordnung Ihrem Arbeitgeber ab und weisen Sie ihn darauf hin, dass Sie an diese berufsethischen Richtlinien gebunden sind. 4 Legen Sie an Ihrem Arbeitsplatz Berufsordnungen aus für die interessierte Kundschaft. 4 Wenn Sie in einer berufsethischen Frage nicht weiterwissen, nehmen Sie rechtzeitig Unterstützung in Anspruch. Diese wird vom Ethik-Komitee oder von der 6
979 54.3 · Einige berufsethisch relevante Themen
Geschäftsstelle Ihres nationalen oder regionalen Berufsverbandes gerne angeboten. 4 Bei Rechtsfragen wenden Sie sich an die Rechtsberatung Ihres Verbandes/Ihrer Kammer. 4 Falls Sie sich in einem Dilemma befinden und zum Schluss kommen, dass Sie wichtige ethische oder rechtliche Normen nur einhalten können, wenn Sie andere verletzen, nehmen Sie eine Güterabwägung vor und entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen. 4 Im Zweifelsfall vertrauen Sie auf Ihren gesunden Menschenverstand, übernehmen Sie Verantwortung und verhalten Sie sich so, dass Sie drohenden Schaden möglichst abwenden können.
54.3
Einige berufsethisch relevante Themen
54.3.1 Kindeswohl
Das Wohl des Kindes (»the best interests of the child«) ist ein sehr hohes Rechtsgut, das in der kinder- und jugendpsychologischen Praxis handlungsleitend ist. Das Kindeswohl ist ein »unbestimmter Rechtsbegriff«, eine in rechtlichen Normen nicht näher definierte Maxime und bedarf der Auslegung bzw. der Umschreibung aus fachlicher Sicht. Das von fast allen Staaten der Welt ratifizierte Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UNO-Kinderrechtskonvention vom 20.11.1989) enthält Angaben zu grundlegenden Rechten von Kindern und Jugendlichen. Dazu gehören u. a. der Schutz ihres Wohlergehens durch die Eltern oder andere Betreuungspersonen sowie der Schutz vor Diskriminierung und vor Missbrauch. Wie das Kindeswohl im Einzelfall am besten zu gewährleisten ist, muss im Rahmen der jeweiligen Gegebenheiten beurteilt werden. Zu berücksichtigen sind Risiko- und Schutzfaktoren für die körperliche und psychische Entwicklung des Kindes, die Qualität und Stabilität der innerfamiliären Beziehungen, der Wille des Kindes u.a.m. (7 Kap. 54.3.6). Wenn Zweifel bestehen, kann etwa zur Beurteilung eines umstrittenen Sorgerechts oder Besuchsrechts (Umgang des Kindes mit dem nicht sorgeberechtigten Elternteil) fachliche Unterstützung nötig sein. Aus diesem Grunde ist die Gewährleistung des Kindeswohls häufig eine Fragestellung in psychologischen Gutachten. Einen guten Überblick dazu gibt Salzgeber (2005).
54.3.2 Aufklärungspflicht
Die Aufklärungspflicht bezieht sich auf die verschiedensten Bereiche psychologischen und psychotherapeutischen Handelns. Klienten haben ein Anrecht auf offene und klare Informationen von Seiten der Fachperson, die mit ihnen eine berufliche Beziehung eingeht. Bei Kindern und Jugendlichen bedeutet dies, dass sie in einer Weise, die ihrem Entwicklungsalter Rechnung trägt, schon zu Beginn der
Arbeitsbeziehung und später laufend über Folgendes informiert werden: 4 Grund der Kontaktaufnahme und Auftrag der Fachperson, 4 geplantes Vorgehen, 4 zeitlicher Ablauf der Sitzungen (Frequenz, geplante Dauer), 4 Umgang mit vertraulichen Angaben des Kindes/Jugendlichen. Bei Psychotherapien sind Diagnose, Indikation und Therapieplan ebenfalls in angemessener Form mit dem Kind oder Jugendlichen zu besprechen. Die entsprechenden Informationen gegenüber den Sorgeberechtigten sind meist umfassender, enthalten etwa auch die Rahmenbedingungen wie die Honorarregelung etc., sie sollen sich aber nicht grundsätzlich von jenen gegenüber dem Kind unterscheiden. Die ausführliche Information über eine geplante Behandlung ist eine notwendige Vorbedingung für die aufgeklärte Einwilligung (»informed consent«) der zu therapierenden Person und den Abschluss eines Behandlungsvertrags (7 Kap. 54.3.3).
54.3.3 Einsichtsfähigkeit und Einwilligung
Psychologinnen und Psychologen beachten das Selbstbestimmungsrecht ihrer Klientinnen und Klienten. Sie drängen ihnen ihre Angebote nicht auf. Die Bedeutung dieses Grundsatzes zeigt sich insbesondere zu Beginn und beim Abschluss einer Psychotherapie. Es dürfen keine falschen Versprechungen über Therapieerfolge gemacht werden. Wenn der Klient die Therapie beenden möchte, verstoßen Druckversuche oder gar Drohungen, dass sich ihr Zustand verschlechtern wird, klar gegen die Berufsethik. Was ist nun im Umgang mit minderjährigen Patienten besonders zu beachten? Die Einwilligung zu einer Behandlung kann ein Kind nur geben, wenn es einsichts- bzw. urteilsfähig ist. Diese Rechtsbegriffe meinen die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, die Tragweite eines Sachverhaltes zu erfassen und vernunftgemäß zu handeln. Einsichts- und Urteilsfähigkeit entwickeln sich im Laufe der Kindheit und sind bei kognitiv normal entwickelten Jugendlichen ab etwa 12 Jahren weitgehend vorhanden. Sie sind nicht nur vom Entwicklungsalter der Person abhängig, sondern auch von der Komplexität eines Sachverhalts. Bei Jugendlichen, die selbst in der Lage sind, sich über die Notwendigkeit einer Behandlung Gedanken zu machen, sind Therapeuten verpflichtet, deren Einwilligung zur Behandlung einzuholen. Bei Kindern, die noch nicht einsichtsfähig sind, sind die Sorgeberechtigten um ihre Einwilligung anzufragen. Ab und zu kommt es zwischen zwei Sorgeberechtigten zu keiner Einigung über die Frage, ob die Therapie ihres Kindes indiziert ist. In solchen Fällen soll unter Berücksichtigung der Situation im Interesse des Kindes entschieden werden.
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Kapitel 54 · Berufsethische und rechtliche Aspekte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
Einsichtsfähige Jugendliche können grundsätzlich auch ohne elterliches Einverständnis eine psychologische oder psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen. Die Frage der Finanzierung hält sie manchmal davon ab, weil sie nicht möchten, dass die Krankenkasse die Eltern kontaktiert. In diesen Fällen sind psychotherapeutisch tätige Fachleute aufgefordert, sich auf Grund einer Güterabwägung zu entscheiden: Sie können, wenn die Interessen des Jugendlichen dies erfordern, Finanzierungswege suchen, die die Eltern nicht einbeziehen – z. B. über Stiftungen. In anderen Fällen werden sie ihre Unterstützung dem Jugendlichen nur anbieten, wenn die Eltern zumindest in groben Zügen über die therapeutische Begleitung informiert werden dürfen.
54.3.4 Dokumentation
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Die Dokumentation der beruflichen Tätigkeit ergibt sich aus der Sorgfaltspflicht der Psychologen. Kammern und andere größere Institutionen verfügen zur Aktenführung meist über Richtlinien. Allgemein empfiehlt es sich, Besprechungen knapp, aber aussagekräftig zu dokumentieren. Wichtig ist, dass man respektvoll formuliert – immer im Bewusstsein, dass die betroffenen Personen eines Tages Einblick in die Akten nehmen könnten. Eine »doppelte Buchführung« mit Dokumenten, die den Betroffenen gezeigt werden dürfen, und anderen, die sie nicht einsehen sollen, ist keinesfalls zu empfehlen. In der Regel können persönliche Notizen der beratenden oder therapierenden Fachperson bei Gesuchen um Akteneinsicht abgedeckt werden – Notizen, die für den weiteren Verlauf der Beratung oder Therapie relevant sind, können allerdings nicht als persönlich bezeichnet werden. Abzudecken sind auch alle Aufzeichnungen, die andere Personen betreffen. Wenn also ein Mann, der als Kind in schulpsychologischer Beratung war, seine Akten im Schulpsychologischen Dienst einsehen möchte, muss eine zuständige Fachperson diese zuerst lesen und entscheiden, was beim Kopieren der Akten abzudecken ist. Bemerkungen der Eltern und der Lehrerin über das Kind sind offenzulegen, andere Angaben dieser Personen jedoch abzudecken (z. B. wenn es um deren eigene Schwierigkeiten geht). Eine Verweigerung der Einsichtnahme zur Verhinderung einer gesundheitlichen Gefährdung der Person, die Einsicht in ihre Akten wünscht, ist in einzelnen Berufsordnungen vorgesehen. Sie soll jedoch sehr zurückhaltend gehandhabt und auf Fälle begrenzt werden, bei denen z. B. Suizidalität besteht. Akten sind unter Verschluss aufzubewahren. Zur Dauer der Aufbewahrung gibt es rechtliche oder institutionelle Vorschriften. Wenn es keine solchen Bestimmungen gibt, ist eine Vernichtung der personenbezogenen Akten nach 10 Jahren zu empfehlen. Bei Akten, die elektronisch geführt werden, sind spezielle Sicherheitsmaßnahmen zu beachten (7 Kap. 54.3.8).
54.3.5 Vertraulichkeit
Das Vertrauen der Klienten ist eine der wichtigsten Vorbedingungen für die psychologische oder psychotherapeutische Tätigkeit. Wo das Vertrauen fehlt, ist psychologische Unterstützung nicht möglich. Wenn ein Vertrauensverhältnis nicht oder nicht mehr besteht, sollen deshalb Aufträge abgelehnt oder beendet werden (Kryspin-Exner u. Schuch 1996). Beratungen und Behandlungen benötigen einen geschützten Rahmen, und zu diesem gehört auch die Einhaltung der beruflichen Schweigepflicht. Wenn ein Auftrag beinhaltet, dass Dritte über Befunde oder Beratungsinhalte in Kenntnis gesetzt werden (wie dies etwa bei Gutachten der Fall ist), so ist auf diese Einschränkung der Vertraulichkeit frühzeitig und deutlich hinzuweisen. Das Datenschutzrecht spricht bei allen Informationen, die sich auf die Privatsphäre einer bestimmten, d. h. nicht anonymen Person beziehen, von besonders schützenswerten bzw. sensiblen Daten. Solche Informationen sind von Psychologen streng vertraulich zu behandeln. Allein schon der Umstand, dass ein Kind psychologisch betreut wird, fällt unter die berufliche Schweigepflicht. Inhalte von Gesprächen, Testbefunde und Diagnosen fallen selbstverständlich auch darunter. Den Anspruch auf Vertraulichkeit hat ein Kind unabhängig von seinem Alter. Gegenüber Dritten dürfen vertrauliche Informationen nur weitergegeben werden, wenn das mündliche oder schriftliche Einverständnis der betroffenen Person (des Kindes/Jugendlichen oder einer sorgeberechtigten Person) vorliegt oder ein gesetzliches Mitteilungsrecht die Weitergabe der Information erlaubt, was im Einzelfall abgeklärt werden muss. Das Einverständnis zur Weitergabe von vertraulichen Informationen soll immer in den Akten festgehalten werden. Die betroffenen Personen können es jederzeit widerrufen. Auch wenn ein Mitteilungsrecht besteht, soll die weitergegebene Information die Privatsphäre der betroffenen Personen so wenig wie möglich verletzen, sie soll sich auf Inhalte beschränken, die für den Adressaten der Mitteilung »geeignet und erforderlich« sind (diese Begriffe entstammen dem Datenschutzrecht). Zudem ist – auch im Falle, dass sie rechtlich unbedenklich ist – zu prüfen, ob die Weitergabe nicht berufsethische Richtlinien verletzt (Forster 2000). In der Regel können in Absprache mit dem Kind/Jugendlichen die Eltern bzw. Sorgeberechtigten über Inhalte der Besprechung informiert werden. Die Schweigepflicht ist jedoch auch Eltern gegenüber einzuhalten, wenn dies der klare Wunsch des Kindes oder Jugendlichen ist. Vor allem in therapeutischen Settings ist schon bei der Auftragsklärung auf diesen Punkt hinzuweisen, damit eine Vertrauensbeziehung gegenüber Klient und Sorgeberechtigten aufgebaut werden kann. Für die Beachtung des Wunsches nach Vertraulichkeit gibt es aber Ausnahmen: Notfalls müssen die Sorgeberechtigten auch gegen den ausdrücklichen Willen von Kindern oder Jugendlichen informiert werden, damit sie ihrer Für-
981 54.3 · Einige berufsethisch relevante Themen
. Abb. 54.1. Umgang mit vertraulichen Informationen in der psychologischen Praxis: Wie lässt sich entscheiden, ob eine Schweigepflicht oder ein Mitteilungsrecht besteht? (Nach Forster 2000)
sorgepflicht nachkommen können. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Jugendliche ernsthafte suizidale Absichten äußern. Auch wenn für andere Personen eine ernsthafte Gefahr besteht, muss nach einer Güte rabwägung oft auf die strikte Wahrung der Vertraulichkeit verzichtet werden (Forster 2005).
Das Flussdiagramm in . Abb. 54.1 zeigt auf, wie geprüft werden kann, ob ein Mitteilungsrecht besteht oder ob sich die psychologische Fachperson auf ihre Schweigepflicht berufen muss.
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Kapitel 54 · Berufsethische und rechtliche Aspekte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
54.3.6 Kindesschutz
Bis Jugendliche volljährig werden, haben ihre Eltern bzw. Sorgeberechtigten die Aufgabe, ihren Schutz zu gewährleisten. Wenn sie ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen können oder sie vernachlässigen, sind staatliche Instanzen aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, die den Kindesschutz bestmöglich sicherstellen. Psychologische Fachpersonen haben bei Beratungen und in Psychotherapien oft einen Einblick in die familiären Verhältnisse, der es ihnen erlaubt, fachlich fundiert zu beurteilen, ob das Kindeswohl gefährdet ist. Ist das der Fall, besteht ein klarer Handlungsbedarf. Die meisten staatlichen Gesetzgebungen sehen in solchen Fällen auch für Personen, die an ein Berufsgeheimnis gebunden sind, ein Mitteilungsrecht gegenüber den Kindesschutzbehörden vor. ! Der Handlungsbedarf ergibt sich aus der berufsethischen Verpflichtung gegenüber den betroffenen Kindern und ist unabhängig davon, ob auch auf Grund der Rechtsnormen eine Mitteilungspflicht besteht.
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Der Kindesschutz ist nicht täterorientiert, die Schuldfrage bleibt häufig offen. Er erfordert keine polizeiliche Anzeige, sondern die Feststellung gegenüber den Instanzen des Kindesschutzes, dass ein Kind Hilfe braucht. Einer solchen Mitteilung hat immer eine Güterabwägung voranzugehen, in der auch eine allfällige Vertrauensbeziehung der überforderten Eltern zur psychologischen Fachperson und ihre Bereitschaft zur Kooperation berücksichtigt werden sollen. Den Belastungen, die sich aus einer allfälligen zwangsweisen Trennung des Kindes von den Eltern ergeben können, ist Rechnung zu tragen. Wenn nun der Einbezug des Kindesschutzes auf Grund dieser Güterabwägung als notwendig erscheint, sind besorgte Bezugspersonen des Kindes (z. B. Lehrer oder andere Erwachsene, die das Wohl des Kindes in Gefahr sehen) oft besser in der Lage, Meldung zu erstatten als die psychologische Fachperson. Findet sich niemand, der bereits von der Gefährdung Kenntnis hat und zur Meldung bereit ist, so darf die Sorge um den Ruf der Praxis nicht so hoch gewertet werden, dass nötige Schritte unterbleiben. Grundsätzlich sind auch anonyme Meldungen gegenüber den Instanzen des Kindesschutzes möglich. Es besteht aber die Gefahr, dass solche Meldungen mit niedriger Priorität oder gar nicht behandelt werden. Sie werden von den betroffenen Eltern in der Regel als unsachliche Diffamierung bezeichnet. Am klarsten ist die Ausgangslage für Kindesschutzmaßnahmen, wenn das von Fachpersonen betreute Kind selbst bereit ist, Angaben zu seiner schwierigen Situation zu machen. Für den Therapeuten von überforderten Eltern, die ihre fürsorgerischen Pflichten aus psychischen oder anderen Gründen nicht mehr genügend wahrnehmen können, ist eine sorgfältige Güterabwägung besonders wichtig. Es kann
in Einzelfällen nötig werden, dass sie aus berufsethischer Verantwortung gegenüber den betroffenen Kindern die Kindesschutzbehörde avisieren. Sie dürfen nicht nur das Wohl ihres Klienten im Auge haben, sondern müssen auch an jenes der betroffenen Kinder denken (7 Kap. 54.3.1).
Fallbeispiel Eine Verhaltenstherapeutin behandelt einen 10-jährigen Jungen. Dieser geht seit Wochen nur noch unregelmäßig zur Schule. Seine Lehrerin ist sehr besorgt, während die alleinerziehende Mutter sich weniger zu kümmern scheint. Wenn der Junge ab und zu in die Schule kommt, wirkt er ungepflegt und hat oft Hunger. Seine Mutter erscheint nach mehrmaliger Einladung in der Praxis der Therapeutin. Nach dem zweiten Gespräch ist für diese klar, dass die Mutter depressiv und medikamentensüchtig ist. Ihre Überforderung mit der Erziehung und Betreuung des Jungen ist offensichtlich. Die Mutter zeigt sich aber uneinsichtig und will weder fachliche noch nachbarschaftliche Hilfe in Anspruch nehmen. Eine sozialpädagogische Unterstützung durch das Sozialamt lehnt sie ab, weil sie keine Amtspersonen in ihrer Wohnung haben wolle. Die Therapeutin teilt ihr mit, dass der Junge in erster Linie eine geregelte Betreuung brauche und dass sie sich mit der Lehrerin in Verbindung setzen werde, um die offenen Fragen zu besprechen. Den Wunsch der Mutter, der Lehrerin keine Details über die familiären Verhältnisse zu berichten, respektiert sie, sie weist aber darauf hin, dass sie sich große Sorgen um den Jungen mache und ihm helfen möchte. Im darauf folgenden Beratungsgespräch sagt die Therapeutin der Lehrerin, dass sie selbst keine genügende Hilfe für den Jungen anbieten könne und dass die Mutter mit ihrer Erziehungsaufgabe überfordert sei. Die Lehrerin wendet sich darauf an die Schulleitung. Diese ersucht die Kindesschutzbehörde schriftlich, die nötigen Schritte in die Wege zu leiten, damit dem Jungen und seiner Mutter geholfen werde. Das Schreiben erwähnt auch die Therapeutin, die allenfalls nähere Angaben zur Situation des Jungen machen könne. Die Kindesschutzbehörde beauftragt eine Sozialarbeiterin der Jugend- und Familienhilfe, die Betreuungssituation des Jungen abzuklären und bei Bedarf Vorschläge für helfende Maßnahmen zu unterbreiten. Im Rahmen dieser Abklärung ist die Therapeutin auch ohne ausdrückliches Einverständnis der Mutter frei, ihre Stellungnahme einzubringen und Maßnahmen zu empfehlen, die sie für die weitere Entwicklung des Jungen für notwendig hält. Auf eine Information der Therapeutin über die erfolgte Stellungnahme hat die Mutter einen Anspruch.
983 54.4 · Aus der Arbeit einer Berufsethik-Kommission
54.3.7 Nähe und Distanz in
der beruflichen Beziehung Psychologische und psychotherapeutische Fachpersonen nützen weder das Vertrauen noch die allfällige Hilflosigkeit oder Schwäche ihrer Klienten aus. – Was bedeutet dieser Grundsatz für die beruflichen Beziehungen mit Kindern? Kinder verfügen noch nicht wie Jugendliche und Erwachsene über die Fähigkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden und Kritik zu artikulieren. Sie kommen vorerst in die psychologische Praxis, weil ihre Eltern dies gut oder nötig finden. Ihre noch unkritische Haltung birgt besondere Risiken. Kinder können, wenn sie Vertrauen gefasst haben, oft kaum zwischen therapeutischen und familiären oder freundschaftlichen Beziehungen unterscheiden. Sie können die Distanz zu ihrem Gegenüber noch schlecht regulieren, müssen erst lernen, zu spüren und zu sagen, was gut für sie ist. Umso wichtiger ist es gerade auch in Kinderpsychotherapien, dass Therapeuten weder durch bohrende Fragen noch durch distanzlose Bemerkungen oder Berührungen die Grenzen der kindlichen Privatsphäre verletzen. Auf keinen Fall sollen Kinder aktiv davon abgehalten werden, zu Hause über das zu sprechen, was sie nach dem Besuch in der psychologischen Praxis beschäftigt. Sie sollen selbst bestimmen können, mit wem sie was besprechen wollen. Die therapeutische Zurückhaltung den Kindern und Jugendlichen gegenüber muss sich auch auf deren Eltern und Sorgeberechtigte erstrecken. Gegenseitige Geschäfte, größere Geschenke, private Beziehungen und insbesondere sexuelle Kontakte sind mit einer therapeutischen Beziehung absolut unvereinbar.
54.3.8 Elektronische Kommunikationsmittel
Die psychologische Fachperson ist verantwortlich für die Wahrung der Vertraulichkeit in der Kommunikation mit ihrer Klientel. Beim Versenden von Berichten und anderer klientenbezogener Korrespondenz ist deshalb besondere Vorsicht geboten. Während der Postweg im Allgemeinen als sicher eingestuft wird, ist mit dem Faxen ein Sicherheitsrisiko verbunden. Kritisch ist die Situation bei der Korrespondenz per E-Mail. Hier besteht die Gefahr, dass unberechtigte Personen Zugriff zu vertraulichen Angaben
erhalten. Diese Problematik stellt sich auch bei der OnlineBeratung (psychologische Beratung über das Internet). Verschiedene nationale Berufsverbände – darunter FSP und BDP – haben Richtlinien zu diesem Thema erarbeitet. Wirklich befriedigend kann das Problem der unsicheren Datenübertragung nur durch die Einhaltung hoher Sicherheitsstandards gelöst werden, wozu u. a. eine gute Datenverschlüsselung gehört. Auch in diesem Bereich gibt es Angebote von Berufsverbänden. Bei Kommunikationen über Kinder und Jugendliche ist eine unsichere elektronische Datenübertragung mit besonderen Problemen verbunden. Es ist daran zu denken, dass Kinder oft weder gefragt wurden noch damit einverstanden sind, wenn ihre Eltern, ihre Berater und Lehrer höchst vertrauliche Angaben über sie per E-Mail austauschen. Falls die Mitteilungen auf einem Computer so abgespeichert sind, dass noch weitere Personen darauf Zugriff haben, verletzt dies den Anspruch des Kindes auf Schutz seiner Privatsphäre.
54.4
Aus der Arbeit einer Berufsethik-Kommission
Berufsethik-Kommissionen (Berufsordnungs-Kommissionen, Ethik-Komitees) haben die Aufgabe, die Mitglieder der Kammer oder des Berufsverbandes in allen berufsethischen Fragen zu unterstützen. So ist es ihnen ein Anliegen, die Berufsordnung bekannt zu machen und deren Umsetzung im beruflichen Alltag der Mitglieder durch Publikationen, Fortbildungsveranstaltungen und Beratungsangebote zu fördern. Neben diesen direkten Dienstleistungen für Psychologen können sie vom Berufsverband auch als jene Stelle bezeichnet werden, die Beschwerden gegen Verbandsmitglieder entgegennimmt und bearbeitet. Wenn es in den Beschwerden um Vorwürfe geht, die keine gravierenden Verletzungen der Berufspflichten darstellen, kann manchmal ein Beschwerdeverfahren vermieden werden. Den Berufsethik-Kommissionen kommt dann die Funktion einer Schlichtungsstelle zu. Die folgenden Beispiele schildern in leicht veränderter Form fünf Fälle von Beschwerden und Anfragen, mit denen sich eine nationale Berufsethik-Kommission in den vergangenen Jahren befasst hat.
Fallbeispiel Grenzüberschreitung Eine 20-jährige Frau, die bei einer Tante lebte, litt unter Panikattacken. Diese traten vor allem dann auf, wenn sie abends schlecht beleuchtete Plätze überquerte. Sie suchte auf Anraten ihres Arztes einen Psychotherapeuten auf, der mit ihr einen Therapieplan aufstellte. Während der 6
ersten Sitzungen machte die Patientin gute Fortschritte, sie fasste mehr Mut und fühlte sich durch die Aufmerksamkeit des Therapeuten in ihrem Selbstvertrauen gestärkt. Sie begann ihm zwischen den Sitzungen E-Mails zu schreiben, in denen sie ihm ihre Bewunderung mitteilte. Er war irritiert
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Kapitel 54 · Berufsethische und rechtliche Aspekte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Die Behandlung verlief nicht mehr nach Plan. Nach 2 Monaten schlug der Therapeut Sitzungen im Freien vor. Er begann von eigenen Schwierigkeiten zu erzählen. Bald erklärte er die Therapie für beendet, da seine Patientin nun ihr Therapieziel weitgehend erreicht habe. Er bot ihr seine Freundschaft an, was diese freute. Abends beantwortete er ihre E-Mails jeweils zu später Stunde. Beide vereinbarten sich weiter zu sehen, was sie auch taten. An einem Abend erlebte die junge Frau bei einem gemeinsamen Spaziergang eine Panikattacke, die schlimmer war als alle vorangehenden. Sie rannte davon, der Therapeut konnte sie nicht aufhalten. Am anderen Tag vertraute sie sich ihrer Tante an, sie hatte eine große Wut auf diesen Mann und fühlte sich von ihm ausgenutzt. Er habe ihre Therapie nicht zu Ende geführt, weil er ihr Freund werden wollte. Die Tante half der jungen Frau, sich an den Berufsverband des Therapeuten zu wenden. Die Berufsethik-Kommission eröffnete ein Beschwerdeverfahren und ließ sich von beiden Seiten dokumentieren. Der Therapeut argumentierte, dass die private Beziehung erst angefangen habe, als die Therapie beendet war und dass er sich nichts Unrechtes habe zuschulden kommen lassen. Er konnte die Kommission aber nicht überzeugen und wurde wegen schwerer Verstöße gegen die Berufsordnung aus dem Verband ausgeschlossen.
Zweifelhafte Referenz
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Eine Kinderpsychologin eröffnete, nachdem sie jahrelang in einer Klinik gearbeitet hatte, eine eigene Praxis. Zur Praxiseröffnung lud sie verschiedene Fachleute aus ihrer Kleinstadt mit einem Faltblatt ein, auf dem sie ihren Werdegang schilderte und sich als Kinderpsychologin empfahl. Sie erwähnte darauf namentlich ihren ärztlichen Vorgesetzten aus der Klinik, in der sie gearbeitet hatte, und schrieb, dass er sie für die Behandlung von Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen empfehle. Dies traf offenbar nicht zu. Jedenfalls meldete sich dieser Arzt empört beim Berufsverband der Psychologin und sagte, er könne sie sicher nicht empfehlen, ihre Leistungen in der Klinik seien sehr mittelmäßig gewesen. Die Berufsethik-Kommission konfrontierte die Psychologin mit dem Schreiben des Arztes, bat um eine schriftliche Stellungnahme, prüfte die Unterlagen und sprach eine Ermahnung aus. Die Psychologin ließ ihr Praxis-Faltblatt neu drucken und entschuldigte sich bei dem Arzt.
Kompetenz und Verantwortung Ein Psychotherapeut nahm einen 8-jährigen Jungen in Therapie. Dieser fühlte sich in seiner Klasse nicht akzeptiert und schwänzte ab und zu die Schule, zudem beklagte er sich über Kopfschmerzen. In die Therapie wurden re6
gelmäßig die Eltern einbezogen. Sie hatten sich schon seit Jahren viele Sorgen um ihr Kind gemacht. Ziel des Therapeuten war, die Eltern soweit zu stärken, dass sie ihren Jungen zur Schule gehen lassen konnten ohne Angst um ihn zu haben. Mit dem Jungen wurden soziale Interaktionen im Rollenspiel eingeübt. Der Therapeut motivierte ihn dazu, Kontakt mit Nachbarjungen aufzunehmen. Als die Kopfschmerzen sich nicht legten, beruhigte der Therapeut die Eltern und deutete sie als normale Begleiterscheinung der Ängste ihres Sohnes. Nach 5 Monaten suchten die Eltern einen Neurologen auf, der bei ihrem Jungen einen gutartigen Hirntumor diagnostizierte. Die Eltern machten dem Psychotherapeuten Vorwürfe, dass er sie nicht selbst an einen Arzt weitergewiesen hatte, und beschwerten sich beim Berufsverband. Sie forderten vom Psychotherapeuten einen größeren Geldbetrag als Entschädigung. Die Berufsethik-Kommission lud zu einer Schlichtungsverhandlung ein. Der Therapeut entschuldigte sich zwar bei den Eltern seines Patienten, war aber nicht bereit, ihnen die geforderte Summe zu bezahlen. Die Eltern wandten sich darauf an den Friedensrichter und konnten sich schließlich außergerichtlich mit dem Therapeuten einigen.
Gutachtenauftrag für einen Therapeuten Ein Psychotherapeut betreute einen 10-jährigen Jungen, der in der Schule den Unterricht störte und sich Erwachsenen gegenüber respektlos zeigte. Die Mutter des Kindes kam sporadisch zu begleitenden Gesprächen. Das Sozialamt der Gemeinde zweifelte an ihrer Erziehungsfähigkeit und veranlasste, dass die Kindesschutzbehörde ein Gutachten in Auftrag gab. Der Therapeut, der die familiären Verhältnisse bereits gut kannte, wurde als Gutachter angefragt. Er informierte die Mutter über die Anfrage. Diese war einverstanden, weil sie sich Unterstützung von seiner Seite erhoffte. So akzeptierte er. Sein Gutachten kam zum Schluss, dass der Junge trotz der schwierigen familiären Verhältnisse weiterhin unter der Sorge der Mutter aufwachsen solle. Um offene Fragen zu klären, wurde der Therapeut und Gutachter von der Kindesschutzbehörde vorgeladen. Einige Aussagen, die er bei der Einvernahme machte, wurden von der Behörde als so schwerwiegend eingestuft, dass sie die Unterbringung des Jungen in einem Heim verfügte. Die Mutter war sehr besorgt und vom Therapeuten enttäuscht. Sie setzte sich mit Unterstützung eines Rechtsanwaltes gegen die Verfügung zur Wehr und erhielt Einblick in die Aufzeichnungen des Psychotherapeuten wie auch in das Protokoll seiner Einvernahme. Ihre Appellation an die Aufsichtsbehörde hatte keinen Erfolg. Da wandte sie sich mit einer Beschwerde an den Berufsverband des Therapeuten und warf diesem vor, er habe ihr Vertraulichkeit zugesichert, als er die Therapie mit ihrem Sohn anfing. Sie habe nie zugestimmt, dass er sie vor der Kindesschutz-
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behörde anschwärze. Die Berufsethik-Kommission nahm die Beschwerde entgegen und lud beide Parteien zu einer Anhörung ein. Dabei kam sie zum Schluss, dass der Psychotherapeut die Mutter seines Klienten zu wenig umfassend informiert hatte über die möglichen Konsequenzen eines doppelten Auftrages als Therapeut und als Gutachter. Sie stellte einen Verstoß gegen die Berufsordnung fest und sprach gegen ihn eine Verwarnung aus.
Unterstützungsangebot Eine Psychotherapeutin wandte sich an die BerufsethikKommission und bat um Rat. Sie habe einen 16-jährigen Schüler ein Jahr lang therapeutisch betreut, weil er öfters traurig wirkte und seine schulischen Leistungen stagnierten. Nun habe sich der Jugendliche kürzlich das Leben genommen, ohne dass es davor Anzeichen für eine Verschlechterung seines Zustandes gegeben habe.
Die fünf Fallbeispiele zeigen die große Bandbreite von Situationen auf, in denen sich in der psychologischen und psychotherapeutischen Praxis berufsethische Fragen stellen. Jeder psychologische Berufsverband sollte auf eine für Fragen der Berufsethik kompetente Stelle verweisen können oder selbst eine solche führen. Die meisten psychologischen Ethik-Kommissionen haben im Vergleich zur Mitgliederzahl ihres Verbandes eine relativ kleine Zahl von Beschwerden zu bearbeiten, was ein gutes Zeichen ist. Es spricht dafür, dass sich psychologische und psychotherapeutische Fachleute der großen Wichtigkeit eines berufswürdigen Verhaltens bewusst sind.
Zusammenfassung In der psychologischen und psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen stellen sich spezifische berufsethische und rechtliche Fragen. Die Ansprüche von jugendlichen Klienten sind nicht immer vereinbar mit jenen der Sorgeberechtigten. Die Einsichtsfähigkeit von Kindern ist noch nicht voll entwickelt, was die Frage aufwirft, ob sie bei einer von Eltern gewünschten Behandlung um ihre Einwilligung gefragt werden müssen. Eltern sind sich manchmal uneinig, ob eine psychologische Unterstützung für ihr Kind nötig ist. Was ist zu tun? – Der vorliegende Beitrag schildert einige praxisrelevante Fragestellungen und gibt Hinweise für die Umsetzung der international anerkannten berufsethischen Prinzipien: Achtung, Kompetenz, Verantwortung und Integrität.
Die Therapeutin sagte, die Eltern würden ihr vorwerfen, dass sie sie nicht häufiger in die Therapie einbezogen habe. Sie sei in den Augen der Eltern mitverantwortlich für den tragischen Tod des Jugendlichen, weil sie dessen Sorgen vertraulich behandelt und sie nicht den Eltern mitgeteilt habe. Ein Mitglied der Berufsethik-Kommission hörte der Therapeutin aufmerksam zu und bot für den Fall, dass die Eltern und sie Interesse hätten, ein vermittelndes Gespräch an. Das Gespräch kam zustande. Trotz der angespannten Atmosphäre bemühten sich beide Seiten um einen fairen Umgangston. Der Therapeutin gelang es den Eltern zu erklären, dass sie sich sofort an sie gewendet hätte, wenn sie bei ihrem Patienten Hinweise auf eine suizidale Entwicklung gesehen hätte. Die Eltern brauchten im Anschluss an das Gespräch noch einige Zeit, um das Geschehene zu verarbeiten, bedankten sich aber schließlich bei der Therapeutin für ihre Unterstützung.
Literatur Bauer, A. W. (1995). Der Hippokratische Eid. Medizinhistorische Neuinterpretation eines (un)bekannten Textes im Kontext der Professionalisierung des griechischen Arztes. Zeitschrift für medizinische Ethik, 41, 141–148. BundesPsychotherapeutenKammer (2007). Muster-Berufsordnung für die Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. http://www2.bptk. de/uploads/download_der_musterberufsordnung.pdf. Gesehen 10 Jun 2008. EFPA/European Federation of Psychologists’ Associations (2005). Meta-Code of Ethics. Report to the General Assembly 2005 in Granada. Forster, J. (2000). Anleitung für Psychologinnen und Psychologen FSP zum Umgang mit Personendaten (Broschüre). Bern: Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen. Forster, J. (2005). Zum Schweigen verpflichtet? Vertraulichkeit – berufsethische und rechtliche Aspekte. Psychoscope, 26(10). IUPsyS/International Union of Psychological Science (2006). Interim report on the development of a universal declaration of ethical principles for psychologists. http://www.am.org/iupsys/ethintro.html. Cited 10 Jun 2008. Kryspin-Exner, I. & Schuch, B. (1996). Ethische Prinzipien in der Psychologie. In: Hutterer-Krisch, R. (Hrsg.), Fragen der Ethik in der Psychotherapie. Konfliktfelder, Machtmissbrauch, Berufspflichten. Berlin: Springer Rossijskaja Akademija Obrazovanija (1998). Prakticheskaja psikhologija obrazovanija. http://www.informika.ru/text/magaz/newpaper/ messedu/n1_98/co-4/0inst.html. Gesehen 10 Jun 2008. Salzgeber, J. (2005). Familienpsychologische Gutachten. Rechtliche Vorgaben und sachverständiges Vorgehen (4. Aufl.). München: Beck.
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986
Kapitel 54 · Berufsethische und rechtliche Aspekte in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
Weiterführende Literatur Bersoff, D. N. (2003). Ethical conflicts in psychology. Washington, D.C.: APA. EFPA/European Federation of Psychologists’ Associations (2005). Recommendations on evaluative procedures and corrective actions in case of complaints about unethical conduct. Report to the General Assembly 2005 in Granada. Francis, R. D. (1999). Ethics for psychologists. A handbook. Leicester: British Psychological Society. Hutterer-Krisch, R. (2007). Grundriss der Psychotherapieethik. Praxisrelevanz, Behandlungsfehler und Wirksamkeit. Berlin: Springer Psychologie in Österreich (2005) Themenschwerpunkt: Rechtliche Aspekte in der Psychologie. Psychologie in Österreich, 5.
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55
55 Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie in Deutschland, der Schweiz und Österreich Josef Könning, Tina In-Albon, Bibiana Schuch
55.1
Zur Situation in Deutschland Josef Könning
55.1.1 55.1.2 55.1.3 55.1.4
Einleitung und historische Entwicklung – 988 Unterscheidung zwischen Aus-, Fort- und Weiterbildung – 988 Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten – 989 Fortbildung für Psychologische Psychotherapeuten zum Kinderund Jugendlichenverhaltenstherapeuten – 992 Weiterbildung – 992 Ausblick – 993 Zusammenfassung – 993 Literatur – 994 Weiterführende Literatur – 994
55.1.5 55.1.6
– 988
55.2
Zur Situation in der Schweiz Tina In-Albon
55.2.1 55.2.2 55.2.3 55.2.4
Einleitung – 994 Weiterbildung – 995 Fortbildung – 996 Ausblick – 996 Zusammenfassung – 996 Weiterführende Literatur – 996
55.3
Zur Situation in Österreich Bibiana Schuch
55.3.1 55.3.2 55.3.3 55.3.4
Einleitung – 996 Zugänge zur Ausbildung – 997 Fort- und Weiterbildung – 997 Zur Weiterbildung in Verhaltenstherapie von Kindern und Jugendlichen in Österreich – 998 Ausblick – 998 Zusammenfassung – 999 Literatur – 999
55.3.5
– 994
– 996
988
Kapitel 55 · Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie in Deutschland, Schweiz und Österreich
55.1
Zur Situation in Deutschland
55.1.2 Unterscheidung zwischen Aus-, Fort-
und Weiterbildung Josef Könning 55.1.1 Einleitung und historische Entwicklung
55
Bis zur Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes 1998 gab es in der Bundesrepublik Deutschland keine eigenständige Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapieausbildung, die sozialrechtlich anerkannt war. Nach dem 2. Weltkrieg hatte sich in der sog. Psychagogenausbildung ein eigenständiger Beruf des analytischen Kinder- und Jugendlichentherapeuten herausgebildet. Auf verhaltenstherapeutischer Seite gab es hierzu kein Äquivalent. Wenn ein Psychotherapeut an einem, von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung anerkannten, Verhaltentherapieausbildungsinstitut seine Psychotherapieausbildung abgeschlossen hatte, konnte er eine Zusatzausbildung im Bereich Kinderverhaltenstherapie machen. Diese Zusatzausbildung umfasste 200 Stunden Theorie und 180 Stunden Therapie unter Supervision bei mindestens 5 praktischen Fällen. Hinzu kam, dass es bis zur Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes keinen eigenen Heilberuf Kinderpsychotherapie gab. Niedergelassene Kinderpsychotherapeuten in eigener Praxis mussten behelfsweise einen Heilpraktikertitel beantragen, um formaljuristisch heilkundlich tätig sein zu dürfen. Mit der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes und dem Inkrafttreten zum 01.01.1999 gibt es den eigenständigen Beruf des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Zurzeit gibt es die Schwerpunktausbildung in Verhaltenstherapie, in tiefenpsychologischen Verfahren und in Psychoanalyse. In Europa ist es bisher einzigartig, dass ein eigener Heilberuf für den Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie geschaffen wird. In den anderen Ländern ist die Therapie von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Hand eines Psychotherapeuten. Die Ausbildung zum approbierten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten ist mit dem Psychotherapeutengesetz staatlich geregelt. Nur staatlich anerkannte Ausbildungsinstitute dürfen die Ausbildung zum Kinderund Jugendlichenpsychotherapeuten mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie anbieten, die mit der staatlichen Approbationsprüfung abschließt und die Möglichkeit eröffnet, sozialrechtlich ins Arztregister eingetragen zu werden und einen Kassensitz zu beantragen. Bis zum Psychotherapeutengesetz gab es unterschiedliche Ausbildungsangebote im Bereich Kinderverhaltenstherapie von Universitäten, Berufs- und Fachverbänden und von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) anerkannten Ausbildungsinstituten.
Die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapeuten ist in Deutschland als Ausbildung nach einem abgeschlossenen Hochschulstudium in Pädagogik oder Psychologie organisiert. In der ärztlichen Weiterbildung schließen die Ärzte ihr medizinisches Hochschulstudium mit der Approbation ab. Die fachärztliche Ausbildung ist bereits für die approbierten Mediziner als Weiterbildung organisiert. Aus diesem Unterschied zwischen Ausbildung und Weiterbildung ergeben sich eine Menge berufspolitischer Probleme für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJP) und Psychologischen Psychotherapeuten (PP). Ausbildung. Sie dient dem Erwerb von Kenntnissen, Fähig-
keiten und Fertigkeiten im angestrebten Grundberuf als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Fortbildung. Hiermit werden im Gegensatz dazu Maßnahmen zur Erhaltung der in der Ausbildung erworbenen Qualifikation bezeichnet. Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz ist seit 2004 in Deutschland eine Fortbildung von 50 Stunden pro Jahr für alle Anbieter im Gesundheitssystem (Hausärzte, Fachärzte, Psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten) gesetzlich vorgeschrieben. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat in einer Musterfortbildungsordnung die wesentlichen Punkte, die die berufsrechtliche Fortbildung der Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten berühren, geregelt. Weiterbildung. Diese umfasst den Erwerb neuer Kompe-
tenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, die über den gelernten Grundberuf hinausgehen und den Weiterbildungskandidaten am Ende der Weiterbildung zusätzlich für neue Aufgaben qualifizieren. An diesem Punkt gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen der Weiterbildungsordnung der Fachärzte und der Weiterbildungsordnung der Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Die Weiterbildung zum Facharzt, z. B HNO, begrenzt die Tätigkeit dieses HNOFacharztes nur auf dieses sein Gebiet. Er darf nicht Aufgaben aus anderen Facharztgebieten übernehmen und ausführen. Die Weiterbildungsordnung für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten dagegen begrenzt nicht die Tätigkeit der Therapeuten auf Spezialgebiete, die in der Weiterbildungsordnung definiert sind, so wie es bei den Fachärzten der Fall ist. Die anderen Kollegen, die diese Weiterbildung nicht gemacht haben, sind nicht automatisch von diesen Tätigkeiten ausgeschlossen. Ein Psychologischer Psychotherapeut oder Kinder- und Jugendlichentherapeut kann eine Weiterbildung in Neuropsychologie haben. Diese Weiterbildung be-
989 55.1 · Zur Situation in Deutschland (Josef Könning)
fähigt ihn in besonderer Weise, Leistungen in diesem Gebiet zu erbringen. Trotzdem darf ein approbierter Psychologischer Psychotherapeut oder Kinder- und Jugendlichentherapeut vergleichbare Leistungen erbringen. Der Kollege mit der Weiterbildung in Neuropsychologie kann auch alle anderen psychotherapeutischen Tätigkeiten, die ihm mit der Approbation offen stehen, weiter ausführen. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat eine Musterweiterbildungsordnung verabschiedet, die zunächst nur für die Weiterbildung in im Bereich Neuropsychologie Geltung hat. Diskutiert werden weitere Weiterbildungen, z. B. in Somatopsychologie, »Eye movement Desensitation Reprocessing« (EMDR) oder »interpersoneller Psychotherapie«.
55.1.3 Ausbildung zum Kinder-
und Jugendlichenpsychotherapeuten Allgemeine Aspekte Die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten regelt das Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (PsychotherapeutengesetzPsychThG vom 16.06.1998). Wer die heilkundliche Psychotherapie unter der Berufsbezeichnung »Psychologische Psychotherapeutin« oder »Psychologischer Psychotherapeut« oder heilkundliche Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie unter der Berufsbezeichnung »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin« oder »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut« ausüben will, bedarf der Approbation als Psychologischer Psychotherapeut oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. … Die Bezeichnung »Psychotherapeut« oder »Psychotherapeutin« darf von anderen Personen als Ärzten, Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten nicht geführt werden.(§ 1 Abs. 1 PsychThG)
Damit ist die Berufsbezeichnung »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut« bzw. auch der Titel »Psychotherapeut« in jeglicher nur denkbaren Kombination ein gesetzlich geschützter Titel. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten dürfen Patienten behandeln, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (§ 1 Abs. 2 PsychThG). Ausübung von Psychotherapie im Sinne dieses Gesetztes ist jede, mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist. Im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung ist eine somatische Abklärung herbeizuführen. Zur Ausübung von Psychotherapie gehören nicht psychologische Tätigkeiten, die die Aufarbeitung und Überwindung sozialer Konflikte oder sonstige Zwecke außerhalb der Heilkunde zum Gegenstand haben. (§ 1 Abs. 3 PsychThG)
Zugang zu dieser Ausbildung als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut haben grundsätzlich approbierte Ärzte, Diplom-Psychologen und Diplom-Pädagogen oder Diplom-Sozial- oder Heilpädagogen. Die Ausbildung schließt mit einer staatlichen Prüfung ab, die zur Approbation führt. Das Nähere der Ausbildung und die staatliche Prüfung werden in § 5 geregelt. In der Vollzeitform dauert die Ausbildung mindestens 3 Jahre, in der Teilzeitform mindestens 5 Jahre. Die Ausbildung wird an Hochschulen oder an anderen Einrichtungen vermittelt, die als Ausbildungsstätten für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie staatlich anerkannt sind (§ 6). Voraussetzungen für die staatliche Anerkennung sind: 4 Die Institution muss über ausreichend Patienten verfügen, die an psychischen Störungen mit Krankheitswert leiden und die nach wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren stationär oder ambulant behandelt werden. 4 Es müssen zahlenmäßig ausreichend Patienten zur Verfügung stehen. 4 Es muss eine angemessene technische Ausstattung mit einer fachwissenschaftlichen Bibliothek vorhanden sein. 4 Es müssen in ausreichender Zahl geeignete Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und qualifizierte Ärzte für die Lehre zur Verfügung stehen. 4 Die Ausbildung wird nach Ausbildungsplänen durchgeführt, die auf der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten aufbauen. 4 Die Ausbildungsteilnehmer werden während der praktischen Tätigkeit angeleitet und beaufsichtigt. 4 Wenn eine Ausbildungsstätte Teile der Ausbildung nicht vollständig durchführen kann, hat sie sicherzustellen, dass eine andere geeignete Einrichtung diese Aufgabe in erforderlichem Umfang übernimmt und dies in Form eines Kooperationsvertrages gesichert ist. Das Bundesministerium für Justiz erlässt eine Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapeuten. In dieser Ausbildungs- und Prüfungsverordnung ist vorgeschrieben: 4 Die Ausbildung erstreckt sich auf die Vermittlung eingehender Grundkenntnisse in wissenschaftlich anerkannten, psychotherapeutischen Verfahren sowie auf eine vertiefte Ausbildung in einem dieser Verfahren. 4 Wie die Ausbildungsteilnehmer während der praktischen Tätigkeit einzusetzen sind, insbesondere welche Patienten sie während dieser Zeit zu betreuen haben. 4 Die praktische Tätigkeit wird in unterschiedlichen Kontexten und für unterschiedliche Zeiträume abgeleistet.
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Kapitel 55 · Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie in Deutschland, Schweiz und Österreich
a) Für die Dauer von mindestens einem Jahr in Abschnitten von mindestens 3 Monaten in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik, die eine Weiterbildungsermächtigung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Ärztekammer nachweisen kann. b) Für mindestens 6 Monate an einer von einem Sozialversicherungsträger anerkannten Einrichtung in der psychotherapeutischen oder psychosomatischen Versorgung (z. B. Tagesklinik oder psychosomatische Klinik), in der Praxis eines Arztes, der die psychotherapeutische Behandlung durchführen darf, oder eines Psychologischen Psychotherapeuten oder eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. 4 Die Gesamtstundenzahl für die theoretische Ausbildung beträgt mindestens 600 Stunden. 4 Die praktische Ausbildung beträgt mindestens 600 Stunden mit mindestens 6 Patientenbehandlungen. (§ 8, Abs. 2, 1–4).
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In der staatlichen Prüfung werden eingehende Grundkenntnisse in den wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren geprüft und schwerpunktmäßig auf das Verfahren eingegangen, dass Gegenstand der vertieften Ausbildung gewesen ist. Die Prüfung wird vor einer staatlichen Prüfungskommission abgelegt, in der jeweils zwei Mitglieder sind, die nicht Lehrkräfte derjenigen Ausbildungsstätte sind, an der die Ausbildung erworben wurde (§ 8, Abs. 4) Darüber hinaus ist im Psychotherapeutengesetz geregelt, dass eine Gebührenordnung für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten erlassen wird, nach der diese Leistungen, die bei Privatpatienten erbracht wurden, abrechnen können. Die Gebührenordnung für Psychologen ist zurzeit identisch mit der Gebührenordnung für Ärzte. Im § 11 ist die Tätigkeit des »Wissenschaftlichen Beirates« geregelt, die über die wissenschaftliche Anerkennung von psychotherapeutischen Verfahren entscheidet. Im Jahr 2005 hat der Wissenschaftliche Beirat entschieden, dass die Gesprächspsychotherapie ein wissenschaftlich anerkanntes Verfahren ist, neben der Psychoanalyse, den tiefenpsychologischen Verfahren und den verhaltenstherapeutischen Verfahren. Die Verhaltenstherapie und die Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie hat in einem separaten Verfahren die wissenschaftliche Anerkennung der Verhaltenstherapie im Sinne des Wissenschaftlichen Beirates noch einmal überprüfen lassen. ! Die Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie ist das einzig wissenschaftlich anerkannte Verfahren im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Deutschland.
Die Anerkennung als wissenschaftliches Verfahren führt noch nicht automatisch zur Zulassung dieses Verfahrens im
Sinne des Krankenkassenrechtes. Hierüber entscheidet in einem getrennten Verfahren der »Gemeinsame Bundesausschuss bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung«, in dem Vertreter der Krankenkassen, Vertreter der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Patientenvertreter zusammen sitzen. Für die Zulassung eines wissenschaftlich anerkannten Verfahrens zur Kassenleistung gelten zusätzliche Kriterien als die des Wissenschaftlichen Beirates. Der »Gemeinsame Bundesausschuss« prüft, ob ein Verfahren in der Krankenversorgung wirtschaftlich, zweckmäßig und notwendig ist. Die Vorschriften für diese Prüfung wurden in der Verfahrensordnung 2005 vom »Gemeinsamen Bundesausschuss« neu festgelegt.
Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJPsychTh-APrV) Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wurde am 18. Dezember 1998 erlassen. In § 1 ist geregelt, dass die Ausbildung sich »auf die Vermittlung von eingehenden Grundkenntnissen in wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren sowie auf eine vertiefte Ausbildung in einem dieser Verfahren« bezieht. »Sie ist auf der Grundlage des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes praxisnah und patientenbezogen durchzuführen.« »Die Ausbildung hat den Ausbildungsteilnehmern insbesondere die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln, die erforderlich sind« für Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von Störungen mit Krankheitswert. Ziel ist, dass die Ausbildungskandidaten selbstständig und eigenverantwortlich auf der Grundlage der wissenschaftlichen, geistigen und ethischen Grundlagen der Psychotherapie tätig werden können. Die gesamte Ausbildung umfasst 4200 Stunden. Sie besteht aus einer praktischen Tätigkeit, einer theoretischen Ausbildung und einer praktischen Ausbildung mit Krankenbehandlung unter Supervision und einer Selbsterfahrung. Praktische Tätigkeit (§ 2)
Die praktische Tätigkeit steht in der Regel am Beginn der Ausbildung. Die Ausbildungskandidaten sollen die psychotherapeutische Tätigkeit in Diagnostik und Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie kennenlernen und an der Behandlung von Kindern, Jugendlichen und Familien über einen längeren Zeitraum beteiligt werden. Die praktische Tätigkeit umfasst mindestens 1800 Stunden. Hiervon sollen 1200 Stunden an einer kinder- und jugendpsychiatrischen klinischen Einrichtung und 600 Stunden an einer von einem Sozialversicherungsträger anerkannten Einrichtung, die der psychotherapeutischen oder psychosomatischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen dient, erbracht werden. Dies kann z. B. eine ambulante Praxis eines Kinder- und Jugendpsychiaters sein oder die Praxis
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eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. In Ausnahmefällen können Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten auch 1200 Stunden an einer von einem Sozialversicherungsträger anerkannten Einrichtung absolvieren und lediglich 600 Stunden an einer kinder- und jugendpsychiatrischen klinischen Einrichtung, die im Sinne des ärztlichen Weiterbildungsrechts zur Weiterbildung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie zugelassen ist. Während der praktischen Tätigkeit sollen die Ausbildungskandidaten mindestens an 30 Behandlungen von Kindern und Jugendlichen unter Einbeziehung der bedeutsamen Bezugspersonen beteiligt werden. Die Ausbildungsteilnehmer sollen dabei Kenntnisse und Erfahrungen über die akute, abklingende und chronifizierte Symptomatik unterschiedlicher psychiatrischer Erkrankungen erwerben sowie die Patientenbehandlung fallbezogen und unter Angabe von Umgang und Dauer dokumentieren (§ 2 APrv). Theoretische Ausbildung (§ 3)
Die theoretische Ausbildung umfasst mindestens 600 Stunden und erstreckt sich auf die zu vermittelnden Grundkenntnisse für die psychotherapeutische Tätigkeit und im Rahmen der vertieften Ausbildung auf Spezialkenntnisse in einem wissenschaftlich anerkannten, psychotherapeutischen Verfahren. Insbesondere in Seminaren sollen Ausbildungsinhalte vertiefend und anwendungsbezogen erörtert werden (§ 3, Abs. 2). Praktische Ausbildung (§ 4) Die praktische Ausbildung nach § 1 Abs. 3 Satz 1 ist Teil der vertieften Ausbildung in einem wissenschaftlich anerkannten, psychotherapeutischen Verfahren und dient dem Erwerb sowie der Vertiefung von Kenntnissen und praktischen Kompetenzen bei der Behandlung von Patienten mit Störungen mit Krankheitswert. Sie umfasst mindestens 600 Behandlungsstunden unter Supervision mit mindestens 6 Patientenbehandlungen sowie mindestens 150 Supervisionsstunden, von denen mindestens 50 Stunden als Einzelsupervision durchzuführen sind. (§ 4, Abs. 1)
Während der gesamten praktischen Ausbildung sollte der Ausbildungskandidat 3 unterschiedliche Supervisoren kennengelernt haben. Der Ausbildungsteilnehmer sollte das ganze Spektrum von Störungen mit Krankheitswert bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen kennenlernen. Die Supervisoren werden von den Ausbildungsstätten berufen. Voraussetzung für die Anerkennung als Supervisor ist eine mindestens 5-jährige psychotherapeutische Tätigkeit in der Krankenbehandlung nach der Approbation zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, eine mindestens 3-jährige Lehrtätigkeit an einer Ausbildungsstätte und die persönliche Eignung. Während der praktischen Ausbildung hat der Ausbildungsteilnehmer mindestens 6 schriftliche Falldarstellungen über eigene Patientenbehandlung, die unter Supervision stattgefunden haben, zu erstellen (§ 4, Abs. 6). Hierbei
sollen die wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt werden für Diagnostik und Indikation. Eine Evaluation der Therapieergebnisse sollte vom Ausbildungskandidaten am Ende der Therapie sowie ein Jahr später durchgeführt werden. Ein ätiologisch orientiertes Krankheitsverständnis soll nachgewiesen werden und Behandlungsverlauf und Behandlungstechnik in Verbindung mit der Theorie dargestellt werden. Selbsterfahrung (§ 5) Die Selbsterfahrung nach § 1 Abs. 3 Satz 1 richtet sich nach dem wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren, das Gegenstand der vertieften Ausbildung ist, und umfasst mindestens 120 Stunden. Gegenstand der Selbsterfahrung ist die Reflexion oder Modifikation persönlicher Voraussetzungen für das therapeutische Erleben und Handeln unter Einbeziehung biografischer Aspekte sowie bedeutsamer Aspekte des Erlebens und Handelns in Zusammenhang mit einer therapeutischen Beziehung und mit der persönlichen Entwicklung im Ausbildungsverlauf. (§ 5, Abs. 1)
Die Ausbildung schließt mit einer staatlichen Prüfung nach § 8 ab. In der Prüfungskommission sollte ein approbierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, der gleichzeitig Supervisor für diesen Bereich ist, den Vorsitz haben. Ein Arzt mit ärztlicher Weiterbildung sowie mindestens zwei weitere Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gehören der Prüfungskommission an. Zwei Kinder- und Jugendlichentherapeuten sollten nicht dem Ausbildungskörper der Ausbildungsstätte angehören. Der schriftliche Teil der Prüfung wird zwei Mal im Jahr zentral von dem Institut für medizinische und pharmakologische Prüfungen organisiert. Der Prüfling muss in 120 Minuten 80 Fragen schriftlich beantworten. Der mündliche Teil der Prüfung gliedert sich in eine halbstündige Einzelprüfung über eine von den zur Prüfung eingereichten Falldokumentationen sowie in eine zweistündige Gruppenprüfung mit 4 Teilnehmern über die vertiefte Ausbildung im speziellen Psychotherapieverfahren. Die Inhalte im mündlichen Teil der Prüfung sind theoretische Grundlagen und klinisch empirische Befunde zu wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren bei Kindern und Jugendlichen, Ätiologie, Pathogenese und Aufrechterhaltung von Störungen mit Krankheitswert, Kriterien der generellen und differenziellen Indikation in den wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren und Theorie und Praxis der Patienten-Therapeuten-Beziehung. Der Prüfling soll insbesondere zeigen, dass er die Technik der Anamneseerhebung beherrscht, Informationen, die zur Stellung der Diagnose erforderlich sind, gewinnen kann (differenzialdiagnostische Überlegungen), in der Lage ist ätiologische Zusammenhänge zu erkennen, generelle und differenzielle Indikation zu stellen, zeigen, dass er über vertiefte Kenntnisse und eingehende Fertigkeiten in den psychotherapeutischen Verfahren verfügt, die Gegenstand der
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Kapitel 55 · Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie in Deutschland, Schweiz und Österreich
vertieften Ausbildung waren, in der Lage ist, die PatientenTherapeuten-Beziehung in ihren zentralen Aspekten zu handhaben, in der Lage ist, die erworbenen Grundkenntnisse in Prävention und Rehabilitation fallbezogen anzuwenden sowie die allgemeinen berufsrechtlichen und ethischen Regeln psychotherapeutischen Verhaltens kennt und anzuwenden weiß (§ 17 Abs. 2, 1-8).
Wie ist die praktische Ausbildungssituation 10 Jahre nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes?
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In den letzten Jahren haben die ersten Ausbildungskandidaten, die nach der neuen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung und dem Psychotherapeutengesetz ihre Ausbildung gemacht haben, die Prüfung absolviert. Dabei zeigten sich nach mündlicher Auskunft des »Instituts für medizinische und pharmakologische Prüfungen« (IMPP) zwischen den schriftlichen Prüfungen bei den Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten deutliche Notendifferenzen. Insbesondere die Ausbildungskandidaten mit den pädagogischen Grundberufen wie Sozialpädagogen und Heilpädagogen von den Fachhochschulen oder Lehrer schneiden schlechter ab als die Ausbildungskandidaten mit dem Grundberuf DiplomPsychologe. Im Jahr 2007 legten ca. 1000 Absolventen die Prüfung ab, davon waren 25% Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und von diesen hatten 2/3 den Schwerpunkt Verhaltenstherapie gewählt. Zurzeit gibt es 23 Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie-Ausbildungsinstitute in der Bundesrepublik Deutschland und ungefähr gleichviel Ausbildungsinstitute mit tiefenpsychologischem oder analytischem Schwerpunkt. Die verhaltenstherapeutischen Ausbildungskapazitäten werden mittelfristig dazu führen, dass ca. 300 approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten jährlich die Ausbildung abschließen können und sich um einen frei werdenden Kassensitz bewerben können. Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetztes hatten lediglich 10% der niedergelassenen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten einen verhaltenstherapeutischen Schwerpunkt. Von den niedergelassenen 2300 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten haben nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zurzeit ca. 600 eine Approbation als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Daneben gibt es einige Tausend doppelt approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die gleichzeitig auch Psychologische Psychotherapeuten sind, bzw. als Psychologische Psychotherapeuten eine Abrechnungsgenehmigung für Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie haben. Auch wenn keine genauen Zahlen über die Versorgung mit Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie in der Bundesrepublik vorliegen, weiß der Autor aus seiner Tätig-
keit als Gutachter für Psychotherapiekassenanträge in Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie, dass ca. 25% der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie von den Ausbildungsinstituten und ihren Institutsambulanzen bestritten werden, dass weitere 50% der ambulanten Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen von den doppelt approbierten Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten durchgeführt werden. Der Rest der ambulanten Psychotherapie wird von den niedergelassenen, approbierten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie durchgeführt.
55.1.4 Fortbildung für Psychologische
Psychotherapeuten zum Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapeuten Es besteht nach wie vor die Möglichkeit für die approbierten Psychologischen Psychotherapeuten, im sozialrechtlichen Sinne eine Fortbildung im Bereich Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie an einem anerkannten Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie zu machen, um die Abrechnungsgenehmigung für Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie zu erwerben. Diese zusätzliche Fortbildungsmöglichkeit im Bereich der Verhaltenstherapie besteht an ca. 12 staatlich anerkannten Ausbildungsinstituten. Die approbierten Psychologischen Psychotherapeuten müssen 200 Stunden Theorie plus 180 Stunden Therapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien unter Supervision bei mindestens 5 durchgeführten Therapien nachweisen, um eine Abrechnungsgenehmigung für Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie zu bekommen. Für die zunehmende Anzahl der approbierten Kinderund Jugendlichenpsychotherapeuten wird in Zukunft ein größerer Markt im Bereich der Fortbildung entstehen, weil das Gesundheitsstrukturgesetz von 2004 die Fortbildung für alle Leistungserbringer im medizinischen Bereich im Umfang von 50 Stunden im Jahr vorschreibt.
55.1.5 Weiterbildung
Im Mai 2006 wurde eine Musterweiterbildungsordnung der Bundespsychotherapeutenkammer verabschiedet. In dieser Weiterbildungsordnung ist im Moment nur die Weiterbildung in Neuropsychologie geregelt. Es gibt Bestrebungen zusätzliche Weiterbildungsbereiche auf dem Gebiet der Somatopsychotherapie einzuführen und in der Regelung des Erwerbs eines Zweitverfahrens zu bestimmen. Somatopsychotherapie meint, im Gegensatz zur Richtlinienpsychotherapie, den ganzen Bereich der Krankheitsbewältigung, Schmerztherapie, Psychoonkologie und
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der Tätigkeiten, die in den »Disease-Management-Programmen« erforderlich sind und zu denen bisher nur die Fachärzte, nicht aber die Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Zugang haben. Die Zielsetzung hierbei ist, über die Weiterbildungsordnung zusätzliche Tätigkeitsbereiche zu schaffen, die dann auch zu weiteren Abrechnungsmöglichkeiten im sozialrechtlichen Sinne außerhalb der Richtlinienpsychotherapie führen.
55.1.6 Ausblick
Die Bedeutung der Ausbildung in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie für jüngere Kollegen nach dem Studium bemisst sich nicht nur nach den konkreten Inhalten der Ausbildung, sondern auch nach den Möglichkeiten, die sich durch die Ausbildung im späteren Berufsleben erschließen lassen. Deshalb sollen zum Abschluss des Kapitels dazu einige kurze Ausblicke referiert werden. Die Nachfrage nach psychotherapeutischen Angeboten mit kognitiv-behavioralem Schwerpunkt im Bereich der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien ist sehr groß in Deutschland. Es gibt überall lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz, meist zwischen 3 und 12 Monaten. Meine Ausführungen haben deutlich gemacht, dass 70–80% der approbierten niedergelassenen Kindertherapeuten mit Kassensitz zurzeit noch tiefenpsychologisch oder psychoanalytisch arbeiten. Das führt zu einem flächendeckenden Defizit an evidenzbasierter Psychotherapie für Kinder in Deutschland. Ca. 70% der neuapprobierten Kollegen im Bereich der Kinderpsychotherapie hat zurzeit einen kognitiv behavioralen Schwerpunkt. Da der Altersdurchschnitt der niedergelassenen Kindertherapeuten in Deutschland über 50 Jahre liegt, werden in den nächsten 10–15 Jahren die Hälfte der Kollegen ihren Kassensitz an Jüngere verkaufen. Es ist zu erwarten, dass sich durch diesen Prozess der Anteil der Verhaltenstherapeuten unter den Kindertherapeuten in den nächsten 10 Jahren so verändert, dass es dann eben soviel Kinderverhaltenstherapeuten gibt wie Kinderanalytiker. Aktuell (2008) wurde in einem Gesetzentwurf geregelt, dass auch »halbe Kassensitze« weitergegeben werden können. Ein Hindernis für die bessere Versorgung der Kinder, Jugendlichen und Familien mit Verhaltenstherapie ist die Tatsache, dass es keine getrennte Bedarfsplanung für den Bereich der Kinderpsychotherapie gibt. Ärztliche Psychotherapeuten und Psychologische Psychotherapeuten waren in der Vergangenheit durch eine 40%-Quote im Psychotherapeutengesetz geschützt. Für den Bereich der Kinderpsychotherapie gab es keine Mindestquote. Es konnte also sein, dass ein Planungsbezirk mit ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten überversorgt war und sich kein neuer
Kollege niederlassen konnte, auch wenn im ganzen Zulassungsbezirk kein Kindertherapeut einen Kassensitz hatte. Neben den guten Ausbildungskonzepten für kognitivbehaviorale Kindertherapie braucht es also weitere sozialrechtliche Veränderungen im Gesundheitssystem, um dem Ziel einer besseren Versorgung für Eltern, Kinder und Jugendliche näherzukommen. Seit 2007 gibt es im Zuge des europaweiten BolognaProzesses zur Vereinheitlichung der Hochschulabschlüsse die Diskussion um die Zugangsvoraussetzungen zur Kinderpsychotherapieausbildung. Weil im Psychotherapeutengesetz steht, dass auch die Absolventen der bisherigen Fachhochschulen zur Ausbildung zugelassen sind, möchte das Bundesministerium die Zugangsvoraussetzungen für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutenausbildung über den Bachelorabschluss regeln. Alle relevanten Berufs- und Fachgruppen der Verbände und Universitäten und der Psychotherapeutenkammern in Deutschland haben sich für den Masterabschluss als Zugangsvoraussetzung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutenausbildung ausgesprochen. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund dafür, warum ein Kinderpsychotherapeut eine geringere akademische Qualifikation braucht als ein Psychologischer Psychotherapeut. Es gibt allerdings in dieser Diskussion auch Stimmen, die aus den beiden getrennten Berufen – Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut – wieder einen psychotherapeutischen Grundberuf mit unterschiedlichen Spezialisierungen für die Bereiche »Kinder Jugendliche und Familien« oder »Erwachsenenpsychotherapie« machen möchten. Aus diesen Gründen wird im Zeitraum Sommer 2008 bis Frühjahr 2009 eine umfangreiche empirische Erhebung über die aktuelle Ausbildungssituation der Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums durchgeführt. Die Ergebnisse sollen im Sommer 2009 vorliegen. Auf der Grundlage dieses Forschungsgutachtens wird dann möglicherweise über eine Neufassung des Psychotherapeutengesetzes nachgedacht.
Zusammenfassung Die Ausbildungssituation im Bereich Kinderverhaltenstherapie vor dem Psychotherapeutengesetz 1998 wird beschrieben. Anders als bei den Kinderanalytikern gab es in Deutschland keine eigenständige Kinderverhaltenstherapieausbildung. Bevor die Ausbildung zum Psychotherapeuten für Kinder, Jugendliche und Eltern mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie beschrieben wird, erfolgt eine Abgrenzung der Begriffe Ausbildung, Fortbildung und Weiterbildung. Die aktuellen Zugangsvoraussetzungen werden benannt. Es werden die unterschiedlichen Teile der Ausbildung beschrieben: theoretische Ausbildung, praktische
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994
Kapitel 55 · Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie in Deutschland, Schweiz und Österreich
Tätigkeit, praktische Ausbildung, Supervision und Selbsterfahrung. Die Ausbildung ist eine staatlich anerkannte Ausbildung, schließt mit der Approbation ab, ist als Heilberuf anerkannt und erfolgt an dafür anerkannten Institutionen. Die Kinderverhaltenstherapie ist zurzeit in Deutschland das einzige Psychotherapieverfahren für Kinder, das wissenschaftlich anerkannt ist. Die Ausbildungs- und Versorgungssituation 10 Jahre nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes wird beschrieben. Im Ausblick wird auf die ungelösten Probleme der bundesweiten Unterversorgung im Bereich Kinderverhaltenstherapie hingewiesen, die Tatsache, dass es keine eigenständige Bedarfsplanung für Kinderpsychotherapie gibt, benannt und die Diskussion um die Zugangsvoraussetzung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutenausbildung (Bachelor-Master) dargestellt.
Literatur Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Kinder und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJPsychTh-APrV). (1998). Bundesgesetzblatt 3745 G 5702 Nr.83 S.3761-3767. Bundesministerium der Justiz (1998). Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (KJPsychTh-AprV) vom 18. Dez. 1998. Bundesgesetzblatt I S. 3761. Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Psychotherapeutengesetz – PsychThG vom 16.6.1998 Bundesgesetzblatt I. S. 1311. Psychotherapierichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (1998). In: Deutsches Ärzteblatt 51/52 Ausgabe A, S. 3315–3322. Musterberufsordnung für die Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (MBO-PP/KJP). (2006). Verfügbar unter: htpp://www.bptk.de [2006]. Musterfortbildungsordnung der Bundespsychotherapeutenkammer. (2004). Psychotherapeutenjournal S. 153. Verfügbar unter: htpp:// www.bptk.de Musterweiterbildungsordnung für Psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. (2006). I.d.F. der Beschlüsse des 8. Deutschen Psychotherapeutentages in Frankfurt/Main am 13.5.2006. Verfügbar unter: htpp://www.bptk.de Vereinbarung über die Anwendung von Psychotherapie in der vertragsärztlichen Versorgung (Psychotherapie-Vereinbarung). (1998). In Deutsches Ärzteblatt 51/52, Ausgabe A, S. 3308–3314.
Weiterführende Literatur
55
Behnsen, E., Bell, K., Gerlach, H., Best, D., Schmid, R. & Schirmer, H. D. (2008). Management Handbuch für die psychotherapeutische Praxis. Heidelberg: Psychotherapeutenverlag. Best, D., Kleiniken, B., Hess, R. & Krimmel, L. (2002). Kommentar zur Gebührenordnung für Psychotherapeuten. Köln: Deutscher Ärzte Verlag. Rüger, U., Dahm, A. & Kallinke, D. (2003). Faber Haarstrick Kommentar zu den Psychotherapierichtlinien. München: Urban & Fischer. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. (2000). Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Bd. III Über- Unter- und Fehlversorgung. Bonn.
55.2
Zur Situation in der Schweiz Tina In-Albon
55.2.1 Einleitung
In der Schweiz ist das Psychologieberufe-Gesetz (PsyG)seit 1998 in Bearbeitung. Der Bundesrat hat 2007 das Eidgenössische Departement des Innern beauftragt, bis Mitte 2009 einen überarbeiteten Gesetzesentwurf vorzulegen. Ziel des Bundesgesetzes über die Psychologieberufe ist die Regelung der Anforderungen an die Aus-, Fort- und Weiterbildung der verschiedenen psychologischen Berufe. Handlungsleitend für die inhaltliche Erarbeitung des PsyG sind die Anliegen der öffentlichen Gesundheit. Des Weiteren hält das PsyG allgemein verbindliche Berufsregeln zum Schutz der Klienten und Patienten fest. Ein zentrales Anliegen ist der Schutz von Personen gegen Täuschung und Irreführung durch selbst ernannte »Psychologen«. Deshalb sollen qualifizierte Fachpersonen einen geschützten Titel erhalten. Die Zulassung der psychologischen Psychotherapeuten zur Krankenversicherung ist nicht Gegenstand des Gesetzes. Für jene psychologischen Tätigkeiten, die eine Weiterbildung erfordern (wie z. B. Psychotherapie), ist darüber hinaus wie bisher für die selbstständige Berufsausübung eine Bewilligung des Kantons einzuholen. Die Kantone können ergänzende Bestimmungen zum PsyG festlegen. Die im Gesetz genannten Berufsregeln verlangen u. a. ethisches Verhalten und kontinuierliche Fortbildung. Der gegenwärtige Stand ist, dass im Gegensatz zu Deutschland die Berufsbezeichnung »Psychologe« oder »Psychotherapeut« in der Schweiz noch nicht geschützt ist. Bezüglich der Ausübung von Psychotherapie ist die Psychotherapieverordnung der einzelnen Kantone verantwortlich. Die jeweiligen Anforderungen und Vorgaben, die der Bewilligung für die selbstständige Berufsausübung im Bereich der Psychotherapie zugrunde liegen, sind in den Kantonen unterschiedlich. Dabei wird bislang nicht zwischen der Anwendung der Psychotherapie bei Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen unterschieden. Psychologische Psychotherapeuten können derzeit nicht selbstständig über die Krankenkasse abrechnen; Zusatzversicherungen der Krankenkassen übernehmen in unterschiedlichem Ausmaß einen Teil der Kosten. Unter einem Arzt »delegiert« arbeitende Psychologen dürfen hingegen über die Krankenkasse abrechnen. Dabei gelten bestimmte Voraussetzungen: Die Psychotherapie muss in den Praxisräumen des Arztes und nach anerkannten Methoden durchgeführt werden. Die Entscheidung und Verantwortung liegt beim Arzt, so dass der psychologische Psychotherapeut als medizinische Hilfsperson des Arztes ohne eigenständige Fachkompetenz angesehen werden kann. Im Gegensatz zu Deutschland, wo durch das Psychotherapeutengesetz die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapeuten und der Beruf des Psy-
995 55.2 · Zur Situation in der Schweiz (Tina In-Albon)
chologischen Psychotherapeuten eingeführt worden ist, ist das in der Schweiz nicht der Fall. Für den Psychologischen Psychotherapeuten gibt es hier nur die Weiter- und Fortbildung. Die Ausbildung zum Psychologen ist das Hochschulstudium.
55.2.2 Weiterbildung
Die »Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen« (FSP) regelt die Anerkennung der Psychotherapie-Weiterbildungen von Personen mit einem Hochschulabschluss mit Hauptfach Psychologie. Gemäß der FSP wird Weiterbildung wie folgt definiert: Weiterbildung ist eine praxisbezogene, berufsqualifizierende Spezialisierung nach dem Abschluss des Psychologiestudiums an einer Universität. Dabei wird Psychotherapie als psychologischer Beruf verstanden, der einer Weiterbildung nach dem Studienabschluss in Psychologie bedarf. Die erfolgreiche Absolvierung einer FSP-anerkannten Psychotherapie-Weiterbildung berechtigt zum Antrag für den FSP-Fachtitel: Fachpsychologe/Fachpsychologin für Psychotherapie FSP. Grundsätzliches zur Psychotherapie-Weiterbildung gemäß FSP: Eine Psychotherapie-Weiterbildung dauert mindestens 4 Jahre. Die FSP hat bisher insgesamt 25 PsychotherapieWeiterbildungen anerkannt. Von der FSP anerkannte postgraduale Weiterbildungen mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche sind: 4 Die postgraduale Weiterbildung in Verhaltenstherapie mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche der Universitäten Freiburg, Basel und Zürich (AVKJ; Akademie für Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter; www.avkj.ch) und 4 die postgraduale Weiterbildung in systemischer und kognitiv-behavioraler Psychotherapie mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche, Institut für systemische und kognitiv-behaviorale Psychotherapie, Bern (s. www. psychologie.ch). Im Folgenden werden diese beiden Weiterbildungen kurz erläutert.
Postgraduale Weiterbildung in Verhaltenstherapie mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche der Universitäten Freiburg, Basel und Zürich (AVKJ) Die Aufnahmebedingung für die Weiterbildung ist ein Universitätsabschluss im Hauptfach Psychologie. Die erfolgreiche Absolvierung der AVKJ berechtigt zur Erlangung des Titels »Fachpsychologe/Fachpsychologin für Psychotherapie FSP«, resp. zum »Master of Advanced Studies in Behavioral Psychotherapy with Children and Adolescents«. Dabei anzumerken ist, dass für den MAS-Abschluss das klinische Jahr nicht erforderlich ist. Die Inhalte der Weiterbildung sind: theoretische Weiterbildung mit Kursmodulen zu verschiedenen Themenbereichen, interne und externe Supervision, klinisches Praxisseminar, Selbsterfah-
rung, Dokumentation der praktischen Arbeit. Die einzelnen Inhalte werden im Folgenden kurz beschrieben. Theoretische Weiterbildung »Wissen und Können«. Der Weiterbildungsteil »Wissen und Können« umfasst 29 Module und insgesamt mindestens 448 Stunden. Beispiele für Wissen- und Können-Module sind: Ausscheidungsstörungen im Kindesalter, Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Krankheiten, juristische Aspekte in der Arbeit mit Familien, Aufbau der therapeutischen Beziehung, Anamnese und Erstgespräch, Elternverhaltenstraining »Triple P« usw. Supervision. Im Rahmen der Weiterbildung findet eine interne Supervision statt. Diese erlaubt die konkrete Umsetzung des therapeutischen Handelns anhand von eigenen Therapiefällen. Die interne und externe Supervision ermöglicht die vertiefte Schulung der Methode sowie die Behandlung von Problemen, die sich bei deren Anwendung stellen. Der Weiterbildungsteilnehmer soll in der Supervision lernen, sein theoretisches Wissen umzusetzen, seine diagnostischen Fertigkeiten und technischen Kompetenzen zu verbessern, seine Behandlungspläne zu optimieren und seine therapeutische Arbeit zu evaluieren. Klinisches Praxisseminar. Die Grundidee des klinischen Pra-
xisseminars ist, einen vertieften Praxiseinblick in die verhaltenstherapeutische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien im Kontext einer klinischen Versorgungseinrichtung zu vermitteln. Ziel ist es, ein Verbindungsglied zwischen den Modulen, die in der theoretischen Weiterbildung erworben und in der Supervision erarbeitet wurden, anzubieten und somit den Transfer von der Theorie in die Praxis zu gewährleisten. Dabei sollen die Fallkonzeption und die Behandlungsplanung unter verhaltensanalytischen Gesichtspunkten (u. a. videogestützt) sowie wichtige verhaltenstherapeutische Behandlungsbausteine (wie z. B. In-vivo-Konfrontationsverfahren, sokratischer Dialog etc.) praxisnah durchgeführt und eingeübt werden (u. a. mit Rollenspieltechniken). Selbsterfahrung. Ziel der Selbsterfahrung ist das Erkennen von eigenen Schwierigkeiten und Problemen sowie der eigenen Belastbarkeit und der Beeinflussung des therapeutischen Geschehens durch die eigene Persönlichkeit. Des Weiteren soll die Sicht des Patienten erlebt und dadurch das Verständnis für den Patienten gefördert werden. Klinische Praxis. Als klinische Praxis wird 1 Jahr in einer Institution der psychologischen Grundversorgung, in der Personen mit psychischen Störungen behandelt werden, zur Erlangung des FSP-Fachtitels, nicht jedoch für den MAS-Abschluss, verlangt. Dokumentation der praktischen Arbeit. Für den Abschluss
sind 7 Fallberichte und die »Master Thesis« erforderlich.
55
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Kapitel 55 · Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie in Deutschland, Schweiz und Österreich
Postgraduale Weiterbildung in systemischer und kognitiv-behavioraler Psychotherapie mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche, Institut für systemische und kognitiv-behaviorale Psychotherapie, Bern Entsprechend dem Schwerpunkt der Weiterbildung steht die Behandlung von Kindern und Jugendlichen im Vordergrund. Jedoch werden auch Grundkompetenzen in der Behandlung von Erwachsenen vermittelt. Aufnahmebedingung ist wiederum ein universitärer Hauptfachabschluss in Psychologie. Die Lerninhalte beinhalten Bestandteile der systemischen und der kognitiv-behavioralen Therapie. Die Module bestehen wiederum aus den Modulen Wissen und Können, Supervision, Selbsterfahrung und einem Jahr klinische Praxis in einer Institution der psychosozialen Grundversorgung. Nach erfolgreichem Abschluss der Weiterbildung erhalten die FSPMitglieder auf Antrag den FSP-Fachtitel »Fachpsychologe/ Fachpsychologin« für Psychotherapie FSP.
55.2.3 Fortbildung
Neben der Weiterbildung regelt die FSP für die Schweiz auch die Fortbildung. Fortbildung wird definiert als Tätigkeiten, die der kontinuierlichen beruflichen Entwicklung nach Abschluss des Psychologiestudiums dienen. FSP-Mitglieder verpflichten sich gemäß FSP-Berufsordnung zu regelmäßiger Fortbildung, um die Qualität ihres beruflichen Handelns zu sichern. Die FSP-Fortbildungsrichtlinien definieren verbindliche Vorgaben für die Fortbildung der FSPMitglieder. Verschiedene Formen der Fortbildung sind möglich: 4 Kurse, Kongresse, Seminare, Workshops, 4 Supervision und Intervision, 4 Studium von Fachliteratur, 4 Mitarbeit als Psychologe in Forschungs-, Organisations-, Qualitätsentwicklungs-, Aus-, Weiter- und Fortbildungsprojekten usw., die neben der eigentlichen beruflichen Haupttätigkeit erfolgt und gleichzeitig zur Weiterentwicklung der eigenen Kompetenz führt, 4 Mitarbeit als Psychologe in Berufsverbänden und Kommissionen.
55
Der erforderliche Umfang der Fortbildung beträgt 240 Stunden im Zeitraum von jeweils 3 Jahren. Dabei sind mindestens drei der fünf aufgeführten Formen angemessen zu berücksichtigen. Während der Zeit der postgradualen Weiterbildung, die mit einem FSP-anerkannten Fachtitel abgeschlossen wird, ist keine zusätzliche Fortbildung erforderlich.
55.2.4 Ausblick
Eine rasche Bearbeitung des Psychologieberufe-Gesetzes ist wünschenswert, da die derzeitige Situation für Psychothe-
rapeuten und Patienten unbefriedigend ist. Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit psychischen Störungen ist der Zugang zu wirksamen psychotherapeutischen Behandlungen weniger gut gewährleistet als für Patienten mit körperlichen Erkrankungen. Auch wenn die Kostenabrechnung über die Grundversicherung der Krankenkassen nicht Gegenstand des Gesetzes ist, wären aufbauend auf einem Gesetz, Verhandlungen psychologische Therapien in die Grundversicherung der Krankenkassen aufzunehmen, erfolgsversprechender als ohne gesetzliche Vorlagen.
Zusammenfassung Das sich seit 10 Jahren in Bearbeitung befindende PsyG, der derzeitige Stand des Gesetzes und dessen Ziele wurden im Kapitel aufgeführt. Im Weiteren wurde ein Überblick zur Weiter- und Fortbildung zum »Psychologischen Verhaltenspsychotherapeuten mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche« in der Schweiz gegeben. Abschließend kann festgehalten werden, dass aufgrund der hohen Prävalenzraten psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter psychologische Berufe im Gesundheitssystem entsprechend berücksichtigt werden sollten.
Weiterführende Literatur Homepage der FSP mit Informationen zu Weiterbildungen und zum PsyG. Verfügbar unter: http://www.psychologie.ch Für die Weiterbildung: Verfügbar unter: http://www.psychologie.ch/de/ aus-weiter-fortbildung/weiterbildung_br_fachtitel/weiterbildung. html Für das PsyG: Verfügbar unter: http://www.psychologie.ch/de/die_fsp/ fsp_positionen/psyg.html [10.12.2007] Informationen zum Psychologieberufe-Gesetz vom Bundesamt für Gesundheit. Verfügbar unter: http://www.bag.admin.ch/themen/ berufe/ Für die Niederlassungsbewilligungen für Psychologische Psychotherapeuten wird auf die Gesundheitsdepartemente der jeweiligen Kantone verwiesen.
55.3
Zur Situation in Österreich Bibiana Schuch
55.3.1 Einleitung
Um die Situation der Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen in Österreich darzustellen, ist es notwendig, die Besonderheiten des österreichischen Psychotherapiegesetzes zu skizzieren. Bis zum 1.1.1991 war in Österreich jede Form einer eigenständigen Krankenbehandlung, somit auch die Psychotherapie, ausschließlich den Ärzten vorbehalten (vgl. §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 1 und 2 Abs. 4 des österreichischen Ärz-
997 55.3 · Zur Situation in Österreich (Bibiana Schuch)
tegesetzes; Aigner u. List 1984). Durch das Inkrafttreten zweier Gesetze, des Psychologengesetzes und des Psychotherapiegesetzes, wurde diese Bestimmung aufgehoben. Psychotherapeuten und Psychologen waren nicht länger Hilfspersonen, die unter ärztlicher Aufsicht ihre Tätigkeit ausübten, sondern wurden als selbstständige Berufsgruppe im Gesundheitssystem etabliert. Das österreichische Psychotherapiegesetz (s. Kierein et al. 1991) regelt alle Belange im Zusammenhang mit der Ausübung des Berufes und unterscheidet sich von Gesetzen in anderen Ländern vor allem durch einen sehr breiten Zugang zur Ausbildung. Psychotherapeuten haben nach ihrer Eintragung in die Psychotherapeutenliste zwei Berufe, einen Grundberuf und den des Psychotherapeuten. Der Titel ist geschützt.
55.3.2 Zugänge zur Ausbildung Gruppe 1: Personen mit bestimmten akademischen Studienabschlüssen (Medizin, Psychologie, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Theologie, Lehramt an höheren Schulen). Gruppe 2: Abschluss bestimmter Berufsvorbildungen (Krankenpfleger, medizinisch-technische Fachdienste, Sozialarbeiter, Pflichtschullehrer, Ehe- und Familienberater, Musiktherapeuten). Gruppe 3: Der Gesetzgeber eröffnet jedoch auch einzelnen Personen den Zugang zur Ausbildung, die keiner der oben genannten Gruppen angehören, sondern über eine besondere Eignung für die Ausübung des psychotherapeutischen Berufes verfügen (§ 6, Abs. 1,Z5 des Psychotherapiegesetzes). Ein entsprechendes Gutachten des Psychotherapiebeirates (beratendes Gremium des Ministeriums) ist Voraussetzung für die Zulassung. Dieser sehr breite Zugang hat auch Konsequenzen für die Ausbildung, die zweistufig erfolgt. Das »psychotherapeutische Propädeutikum« soll als erste Stufe der Ausbildung ein ausreichendes Basiswissen über Psychotherapie für die mit unterschiedlichstem Vorwissen startenden Personen vermitteln, um anschließend in einer 2. Stufe mit einer schulenspezifischen Ausbildung (»psychotherapeutisches Fachspezifikum«) zu beginnen. Ausbildungseinrichtungen für das Fachspezifikum sind üblicherweise private Vereine, deren Curriculum vom Bundesministerium anerkannt wurde1, und die auch eine Reihe von gesetzlichen Auflagen zu erfüllen haben. Diese betreffen Art und Ausmaß der Inhalte (Mindestausmaß an Selbst-
1
Ein weiteres Spezifikum der österreichischen Psychotherapielandschaft betrifft die Anzahl der Psychotherapiemethoden, die als eigenständig und wissenschaftlich fundiert gelten. Derzeit sind es 21.
erfahrung im Einzel- und Gruppensetting, Theorie, Anzahl der Behandlungsstunden, der Supervision, des klinischen Praktikums). Eine Ausbildungseinrichtung ist nicht gezwungen, jede Person zuzulassen, die sich als Kandidatin bewirbt, sondern kann aufgrund fehlender »persönlicher Eignung« – festgestellt im Rahmen von zum Teil sehr aufwendigen Ausleseverfahren – die Aufnahme verweigern. Eine Ablehnung aufgrund fehlender klinischer Erfahrung, wie es bei vielen Bewerbern der Fall ist, wäre jedoch nicht zulässig, da dies dem Gesetz widerspricht. Die Ausbildungseinrichtungen garantieren, dass ihre Absolventen über ausreichende Kompetenzen zur Behandlung sämtlicher Störungsbilder sowie verschiedener Zielgruppen verfügen. Das gilt auch für die psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen und bedeutet konkret, dass jeder Psychotherapeut, der in der Liste der zur selbstständigen Ausübung der Psychotherapie berechtigten Personen (Psychotherapeutenliste) eingetragen ist, mit diesen Altersgruppen arbeiten darf. Es bedarf – rein rechtlich – keiner zusätzlichen Qualifikation. Den Schutz der Patienten vor unsachgemäßer Behandlung aufgrund mangelnder Kompetenz wird jedoch durch den Berufskodex geregelt der Psychotherapeuten verpflichtet »ausschließlich jene psychotherapeutischen Leistungen anzubieten, für die eine entsprechende Qualifikation und Kompetenz erworben worden ist« (Bundesministerium für Gesundheit und Frauen 1996, S. 170) und eine verpflichtende Fortbildung für Psychotherapeuten vorschreibt. Der Kompetenzerwerb für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erfolgt zunächst durch die Grundausbildung und soll durch Fort- und Weiterbildung, allerdings auf freiwilliger Basis, garantiert werden.
55.3.3 Fort- und Weiterbildung
»Fort- und Weiterbildung erweitert und vertieft die während der Ausbildung zum Psychotherapeuten/zur Psychotherapeutin erworbenen Kenntnisse in der Psychotherapie« (Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen 2000, S. 89).
Fortbildung Der regelmäßige Besuch von Fortbildungsveranstaltungen (psychotherapierelevante Vorträge und Seminare, Supervision und Intervision) gilt als Berufspflicht für Psychotherapeuten nach abgeschlossener Ausbildung mit einem empfohlenen Richtwert von 90 Stunden innerhalb von 3 Jahren. Ministerielle Empfehlungen betreffen die Professionalität der Anbieter; inhaltlich gelten der gesamte Bereich der Psychotherapie und der damit assoziierten Fächer als anrechenbar.
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998
Kapitel 55 · Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie in Deutschland, Schweiz und Österreich
Weiterbildung Zusatzqualifikationen für die Arbeit mit spezifischen Zielgruppen, z. B. für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, werden durch den Abschluss einer entsprechenden Weiterbildung erworben. Sie soll auf der »Grundlage eines nachvollziehbaren, definierten und (wissenschaftlich) fundierten Curriculums erfolgen und zur Erlangung einer besonderen Befähigung auf einem oder mehreren Arbeitsbereichen führen« (Bundesministerium für Gesundheit und Frauen 2000, S. 90). Das erfolgreich absolvierte Curriculum wird durch ein Zertifikat bestätigt (eine Zusatzbezeichnung in der Psychotherapeutenleiste ist jedoch nicht vorgesehen). Lehrinhalte und Weiterbildungsziele sind festzulegen und sollen den definierten Bereich fundiert behandeln. Die Dauer soll 2 Jahre nicht unterschreiten, kontinuierlich verlaufen, mindestens 200 Stunden beinhalten und ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und Praxis aufweisen. Besonders zu beachten ist auch die Qualifikation des Lehrpersonals, das über ausreichende didaktische, wissenschaftliche und praktische Kompetenzen verfügen soll. Das entspricht den Anforderungen, die auch für die Grundausbildung gelten. Weiterbildungen können von verschiedenen Institutionen angeboten werden. Während Curricula für störungsspezifische Zielgruppen, wie z. B. Suchterkrankungen, oft Therapieschulen übergreifend konzipiert sind, erfolgt die Weiterbildung hinsichtlich der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen in Österreich derzeit schulenspezifisch. Ausbildungsvereine sind aufgefordert, die Besonderheiten einer Kinder- und Jugendlichentherapie zu vermitteln und damit die Versorgung dieser Altersgruppen zu verbessern.
55.3.4 Zur Weiterbildung in Verhaltenstherapie
von Kindern und Jugendlichen in Österreich
55
Weiterbildungscurricula für Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen können ein gewisses Maß an Basiswissen und -können voraussetzen, das in der Grundausbildung erworben wurde. Das betrifft die wichtigsten Störungsbilder, Besonderheiten der Gesprächsführung in unterschiedlichen Settings (Einzeltherapie, Familie), die wichtigsten Techniken (Aufbau sozialer Kompetenzen, Entspannung etc.), modifiziert für diese Altergruppen. Die Verhaltenstherapeuten haben üblicherweise ausreichend Selbsterfahrung absolviert, und sich im Einzel- als auch Gruppensetting mit ihren persönlichen Erfahrungen in Kindheit und Adoleszenz auseinandergesetzt. So sollten z. B. vergangene Beziehungsmuster so weit bearbeitet sein, dass sie einen objektiven Umgang mit dem Kind, seinen Eltern, den Lehrern und anderen signifikanten Bezugspersonen gewährleisten.
Die Weiterbildung kann sich somit auf jene Bereiche konzentrieren, die das Besondere in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen repräsentieren. Das betrifft im theoretischen Teil Störungs- und Veränderungswissen sowie darauf aufbauende Therapiekonzepte, Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie, ethische und rechtliche Aspekte. Die Praxis betrifft den unmittelbaren Umgang mit Kindern und Jugendlichen und deren Eltern, wie z. B. die Berücksichtigung kindlicher Kommunikationsformen, adoleszenztypische Motivationsarbeit, systemische Aspekte. Das therapeutische Vorgehen bei verschiedenen Störungsbildern soll seminaristisch über Kleingruppenarbeit sowie im Rahmen der Supervision vermittelt werden. Derzeit sind in Österreich zwei Vereine für das Fachspezifikum Verhaltenstherapie anerkannt. Die Weiterbildung für Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen wird von diesen Institutionen getragen.
55.3.5 Ausblick
Der Bedarf an Verhaltenstherapeuten, die auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen spezialisiert sind, ist groß, die Anzahl tatsächlicher Experten gering. In Österreich arbeiten ca. 25% der eingetragenen Verhaltenstherapeuten auch mit Kindern und Jugendlichen, nur einige wenige ausschließlich mit diesen Altersgruppen. Das hat mehrere Gründe. Ein größerer Teil kindertherapeutischer Institutionen ist tiefenpsychologisch orientiert und beschäftigt keine Verhaltenstherapeuten. Manche Kliniken und Beratungsstellen bevorzugen wiederum Therapeuten unterschiedlicher Schulen, darunter auch Verhaltenstherapeuten, und hoffen, durch die Vielfalt zur Qualitätsverbesserung beizutragen. Ein zweiter Grund für die geringe Anzahl kognitivbehavioraler, für Kinder und Jugendliche spezialisierter Therapeuten, ist ein finanzieller. Vor allem freiberuflich Tätige stellen sich die Frage, ob sie tatsächlich von der Kinder- und Jugendlichentherapie leben könnten (nachdem sie die Kosten für Aus- und Weiterbildung selbst zu tragen haben). Die meisten Psychotherapien in Österreich werden auf privater Basis durchgeführt; die Krankenkassen refundieren ca. 1/4 der Behandlungskosten. »Psychotherapie auf Krankenschein« gibt es nur für einen kleinen Teil der Behandlungsbedürftigen; das Honorar für die Vertragspsychotherapeuten ist äußerst niedrig. Die psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist den Sozialversicherungsträgern zwar ein Anliegen und Zusatzqualifikationen sind sehr erwünscht. Sie werden jedoch in keinster Weise honoriert. Diesbezügliche Verhandlungen sind zukünftige Aufgaben der Berufsvertretung.
999 55.3 · Zur Situation in Österreich (Bibiana Schuch)
Zusammenfassung
Literatur
Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen ist in Österreich keine eigenständige Ausbildung. Das gilt auch für die Verhaltenstherapie. Eine entsprechende Spezialisierung nach erfolgter Grundausbildung in Verhaltenstherapie kann im Rahmen einer Weiterbildung erworben werden, ist aber nicht verpflichtend für die Arbeit mit diesen Altersgruppen.
Aigner, G. & List, W. (1984). Ärztegesetz. Wien. Kierein, M., Pritz, A. & Sonneck, G. (1991). Psychologengesetz, Psychotherapiegesetz. Wien. Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen (1996). Berufskodex für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Psychotherapie Forum, 4, Suppl. 4, Nr. 4. Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen (2000). Fort- und Weiterbildungsrichtlinie für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Psychotherapie Forum, 8, Suppl.3, Nr. 3.
55
56
56 Supervision in der Kinderund Jugendlichenpsychotherapie Fritz Mattejat, Kurt Quaschner
56.1
Grundlagen: Definition, Ziele und Aufgaben – 1002
56.2
Der Supervisionsprozess
56.2.1
Der konkrete Ablauf von Supervisionsepisoden: Supervision als Problemlösungsprozess – 1003 Entwicklung/Veränderung der Supervisionim Verlauf der Ausbildung: Entwicklungsmodelle der Supervision – 1004
56.2.2
– 1003
56.3
Besonderheiten und spezielle Interventionsprinzipien bei Therapien mit Kindern und Jugendlichen – 1004
56.4
Thematische Schwerpunkte der Supervision: Orientierung am diagnostisch-therapeutischen Prozess – 1007
56.4.1 56.4.2 56.4.3 56.4.4 56.4.5
Vorstellungskontext und Therapieerwartungen – 1007 Diagnostik – 1008 Fallkonzeptualisierung, Indikationsstellung und Therapieplanung – 1008 Beratung – 1008 Therapiedurchführung, Therapiekontrolle und -evaluation – 1009
56.5
Spezielle Supervisionsmethoden
56.6
Empirische Forschung und Weiterentwicklung der verhaltenstherapeutischen Supervision – ein Ausblick Zusammenfassung Literatur
– 1011
– 1012
Weiterführende Literatur
– 1013
– 1009
– 1010
1002
Kapitel 56 · Supervision in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
56.1
Grundlagen: Definition, Ziele und Aufgaben
Während zur Supervision im Bereich der Verhaltenstherapie erwachsener Patienten eine Reihe von Veröffentlichungen vorliegen, in denen auch theoretische Modelle und empirische Befunde dargestellt sind, gibt es zum Thema »Supervision in der Kinder- und Jugendlichentherapie« bisher nur sehr wenige Veröffentlichungen. Was die Einschätzung der Kindertherapie-Supervision in ihrem Verhältnis zur Supervision von Erwachsenentherapien angeht, wird einerseits betont, dass »Supervision« nicht neu erfunden werden müsse (Neill et al. 2006, S. 9), auf der anderen Seite heißt es aber in demselben Zusammenhang, dass Supervision in der Kinderund Jugendlichenpsychotherapie sich deutlich von derjenigen in der Erwachsenentherapie unterscheide. Für die Behandlung des Themas im vorliegenden Artikel bedeutet dies, dass Darstellungen der Supervision – die sich fast ausschließlich an der Erwachsenentherapie orientieren – hier nur kurz referiert werden, um dann auf die Spezifika der Supervision im Kinder- und Jugendlichenbereich eingehen zu können. Im Verlaufe des letzten Jahrhunderts hat sich eine große Fülle von Supervisionsansätzen entwickelt, in denen »Supervision« sehr unterschiedlich verstanden wird. Im englischen Sprachraum wird der Supervisionsbegriff weiter gefasst als im Deutschen: Mit »Supervision« ist im Englischen auch die Führung, Anleitung und Kontrolle durch Vorgesetzte gemeint. Im deutschen Sprachgebrauch wird »Supervision« meist als Beratungsprozess aufgefasst und von der rein administrativen Führung, Anleitung und Kontrolle durch Vorgesetzte abgegrenzt (. Abb. 56.1). Im Kontext der Sozialarbeit wird Supervision häufig sehr breit definiert, so wie dies z. B. auf der Homepage der »Deutschen Gesellschaft für Supervision« (DGSv) geschieht: Supervision ist ein Beratungsformat, das zur Sicherung und Verbesserung der Qualität beruflicher Arbeit eingesetzt wird, dient grundsätzlich der Entwicklung von Personen und Organisationen, betrachtet personale, interaktive und organisationale Aspekte, bezieht sich auf Kommunikation und Kooperation im Kontext beruflicher Arbeit, ist Reflexion und keine Instruktion, ist gemeinsame Erörterung eines Problems, keine Schulung, kein Training. (Deutsche Gesellschaft für Supervision 2007)
. Abb. 56.1. Supervision
56
In Abhebung von diesem sehr breiten Supervisionsverständnis kann die Supervision im Rahmen der Psychotherapie genauer spezifiziert werden; im Folgenden wollen wir uns hier ausschließlich auf die Supervision im Kontext der Psychotherapie beziehen. In Abhängigkeit von den jeweiligen psychotherapeutischen Rahmenkonzepten wird »Supervision« von Vertretern der verschiedenen psychotherapeutischen Traditionen (psychoanalytisch, tiefenpsychologisch, systemisch etc.) recht unterschiedlich definiert. Für eine ausführliche Diskussion des Supervisionsbegriffes sei auf Schmelzer (1997, S. 37 ff.) verwiesen. Wir wollen uns im Folgenden auf ein verhaltenstherapeutisches Verständnis von Supervision konzentrieren; dabei orientiert sich die verhaltenstherapeutische Supervision an den gleichen Prinzipien wie die Verhaltenstherapie insgesamt (Mattejat et al. 2006, S. 6).
Verhaltenstherapeutische Supervision orientiert sich an 4 wissenschaftlich fundierten Konzepten und den Ergebnissen der empirischen Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen, 4 einer therapeutischen Grundhaltung, die durch die Begriffe »Transparenz«, »Kooperation« und »gemeinsame Problemlösung« gekennzeichnet werden kann, 4 ethischen Prinzipien wie z. B. den menschlichen Grundrechten und der Beachtung der Patientenrechte (Patientenselbstbestimmung). Die inhaltlichen Modellvorstellungen sind vielfältig; sie dienen dazu, die psychotherapeutische Arbeit zu strukturieren und zu verbessern.
Bei der Supervision können die folgenden Settings unterschieden werden
4 Einzelsupervision: Die Supervision findet im Einzelgespräch zwischen Supervisor und Supervisand statt. 4 Gruppensupervision: Die Supervision findet im Gespräch zwischen einem Supervisor und einer Gruppe
1003 56.2 · Der Supervisionsprozess
von Supervisanden statt; dabei thematisiert jeder Supervisand eigene Therapiefälle, die gemeinsam in der Gruppe besprochen werden. 4 Teamsupervision: Ein Supervisor berät ein therapeutisches Team (z. B. einer Beratungsstelle oder einer psychiatrischen Station). ! In Anlehnung an Zimmer (1996) können wir Supervision definieren als eine Form der Qualitätssicherung, die eine adäquate Durchführung psychotherapeutischer Behandlungen sicherstellen soll. Dies geschieht, in dem die Supervisoren den Supervisanden ihre Erfahrung, ihr Wissen und ihre Kompetenz zur Verfügung stellen.
Supervision bildet einen zentralen Baustein der Psychotherapieausbildung (»Ausbildungssupervision«); darüber hinaus wird Supervision auch von Psychotherapeuten mit abgeschlossener Ausbildung und ihren Arbeitskollegen (ggf. auch andere Berufsgruppen) wahrgenommen, um ihre psychotherapeutische Tätigkeit kritisch zu überprüfen und weiterzuentwickeln (»Praxissupervision« zur Qualitätssicherung, Weiterbildung, Fortbildung). Eine besondere Form stellt die wechselseitig kollegiale »Intervision« dar, bei der sich eine Gruppe von Psychotherapeuten ihre psychotherapeutische Arbeit vorstellt und miteinander diskutiert. Schmelzer (1997) unterscheidet in Anknüpfung an Kadushin (1976) die edukative, administrative, supportive und emanzipatorisch-aufklärerische Funktion der Supervision (. Tab. 56.1). In der Psychotherapieausbildung wird die Verzahnung von Theorie und Praxis hauptsächlich im Rahmen der Ausbildungssupervision geleistet; die Supervision nimmt deshalb zu Recht in den einschlägigen Ausbildungscurricula großen Raum ein. Dementsprechend orientiert sich auch die folgende Darstellung in diesem Artikel vorrangig am Ausbildungskontext (. Abb. 56.2). In Anknüpfung an Lohmann (2004, 2006) können wir die Zielsetzungen und Aufgabenstellung der Ausbildungssupervision in der Psychotherapie wie folgt definieren:
. Abb. 56.2. Supervision als zentraler Ausbildungsbestandteil
4 Fachwissen: In der Supervision wird den Ausbildungskandidaten Fachwissen vermittelt und aufgezeigt, wie dieses Wissen praktisch angewandt werden kann: Wie kann/soll ich die Therapie konkret durchführen? 4 Reflexion: Die Supervision dient weiterhin der Reflexion der beruflichen Tätigkeit: Wie komme ich in diesen Beruf hinein, wie schaffe ich es, mit diesem Beruf zurechtzukommen? 4 Unterstützung: Durch die Supervision sollen die Ausbildungskandidaten Unterstützung in schwierigen Situationen bekommen: Wie komme ich mit diesem Verhalten des Patienten zurecht? Wie kann ich mit meinen Arbeitsbedingungen zurechtkommen? 4 Fachaufsicht: Durch die Supervision soll die Fachaufsicht sichergestellt sein, um zu gewährleisten, dass die Therapie den professionellen Qualitätsstandards entspricht.
56.2
Der Supervisionsprozess
56.2.1 Der konkrete Ablauf von Supervisions-
episoden: Supervision als Problemlösungsprozess . Tab. 56.1. Funktionen der Supervision. (Mod. nach Schmelzer 1997) 1.
Edukative Funktion
Vermittlung von Wissen und Können; Training/ Übung von Methoden und Vorgehensweisen; Förderung der professionellen Identität
2.
Administrative Funktion
Qualitätssicherung und Evaluation der Therapien; Sicherung des Patientenschutzes; Einhaltung von ethisch-berufsständischen Richtlinien
3.
Supportive Funktion
Emotionale Unterstützung bei schwierigen Berufssituationen; Begleitung und Entlastung bei beruflichem Stress; persönliche Psychohygiene
4.
Emanzipatorisch-aufklärerische Funktion
Reflexion, Aufdecken, Bewusstmachen und Verändern bislang unbekannter persönlicher, interaktioneller und institutioneller Bedingungen; Förderung der persönlichen Entwicklung.
Supervisionssitzungen können sich thematisch auf alle Probleme beziehen, die im Rahmen einer psychotherapeutischen Tätigkeit auftauchen (z. B. Probleme in der Kooperation mit Kollegen; Probleme bei der Strukturierung der eigenen Arbeit etc.). Das zentrale Thema der Psychotherapiesupervision bezieht sich aber auf die Frage, wie eine konkrete Therapie mit einem bestimmten Patienten gestaltet werden kann; dies gilt insbesondere für Ausbildungssupervisionen: Der überwiegende Teil der Ausbildungssupervisionen besteht darin, dass einzelne Therapiefälle besprochen werden (»fallbezogene Supervision«).
56
1004
Kapitel 56 · Supervision in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
! Die fallbezogene Supervision bezieht sich jeweils auf einen einzelnen Therapiefall. Sie geht aus von einem Anliegen oder einer Fragestellung des Supervisanden, die von Supervisor und Supervisand gemeinsam behandelt wird, mit dem Ziel, dass die therapeutische Arbeit mit dem Patienten verbessert wird.
Schmelzer (2006, S. 5) spricht in diesem Zusammenhang von »Supervisionsepisoden«, die mit einem Anliegen oder einer Fragestellung des Supervisanden beginnen, aus dem ein Auftrag an den Supervisor abgeleitet wird. Hieran schließt sich ein Problemlöseprozess an. »Beendet ist eine Supervisionsepisode, wenn das Ziel erreicht ist oder wenn man zum Schluss kommt, es hat keinen Sinn, an dieser Stelle weiterzumachen, wir müssen uns anderen Anliegen zuwenden oder wir müssen bestimmte Dinge umdefinieren« (Schmelzer 2006, S. 5). Supervisionsepisoden in diesem Sinne können von sehr unterschiedlicher Dauer sein. Manche Episoden bestehen nur darin, dass z. B. eine Informationsfrage nach einem Buch gestellt und beantwortet wird, sie können daher schnell beendet sein. Andere Episoden wiederum können dazu führen, dass z. B. Rollenspiele gemacht werden, die in der nächsten Stunde aufgegriffen und weitergeführt werden und so einen längeren Zeitraum einnehmen. Es gibt eine Reihe von unterschiedlichen Versuchen, den konkreten Prozess im Verlauf einer Supervisionsepisode inhaltlich genauer zu beschreiben; in der Verhaltenstherapie wird häufig das Problemlöseschema verwendet. Schmelzer z. B. (1997, 2006) verwendet ein komplexes Problemlösemodell zur Beschreibung dieses Prozesses; Lohmann (2004) orientiert sich ebenfalls am Problemlöseschema. Lieb (2005) hat für die »Phasen einer fallbezogenen Supervisionsarbeit« ein sehr differenziertes Schema entwickelt.
Supervision als Problemlöseprozess (im Anschluss an Schmelzer 2006, S. 6): Sie beginnt mit einer ersten Orientierung, darauf folgt der Versuch den Ist-Zustand zu klären und den Soll-Zustand (Ziele) herauszuarbeiten, um dann auf die Mittel bzw. Lösungen zu kommen; dabei geht es nicht nur darum, das Ganze theoretisch durchzusprechen, sondern auch praktisch umzusetzen.
56.2.2 Entwicklung/Veränderung der
Supervision im Verlauf der Ausbildung: Entwicklungsmodelle der Supervision
56
Eine zentrale Zielvorstellung der Psychotherapieausbildung besteht darin, dass Wissen, Erfahrung und Kompetenz der Supervisanden so weit aufgebaut und weiterentwickelt werden, dass sie in der Lage sind, Psychotherapien auf hohem Qualitätsstandard in eigener Verantwortung durchzuführen. Mit zunehmender psychotherapeutischer Kompetenz
der Supervisanden verändern sich auch der Supervisionsprozess und die Beziehung zwischen Supervisor und Supervisand. Neill et al. (2006) fassen diese Entwicklung wie folgt zusammen: Erfolgreiche und zufriedenstellende Supervisionsbeziehungen sind solche, die am Anfang didaktisch-belehrend und unterstützend sind, mit einem Fokus auf den Kompetenzen des Supervisanden. Wenn sich die Beziehung weiterentwickelt, kann der Fokus sich verändern hin zu dem persönlichen Anliegen des Supervisanden im Therapieprozess. Zum Ende hin benötigt der zukünftige Therapeut wenige direktive und strukturierende Vorgaben und die Beziehung erhält einen eher beratenden Charakter (ausführliche und differenzierte Darstellungen dieses Entwicklungsprozesses s. Zimmer 1996; Ronnestad u. Skovholt 2005).
56.3
Besonderheiten und spezielle Interventionsprinzipien bei Therapien mit Kindern und Jugendlichen
Die Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen unterscheidet sich durch zwei grundsätzliche Kriterien von der Erwachsenentherapie: 1. Entwicklungsdimension. Entwicklungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen verlaufen tiefgreifender und schneller als bei Erwachsenen. Kindliche Symptome können als verstärkte oder zeitlich verlängerte Verhaltensweisen aufgefasst werden, die in der normalen Entwicklung auftreten (z. B. Fremdeln, mutistisches Verhalten) oder »normative Entwicklungsübergänge« (z. B. Schuleintritt, Pubertät, Ablösung von den Eltern) können psychische Symptome ebenso auslösen wie die Verknüpfung mit umschriebenen Entwicklungsstörungen (z. B. im motorischen oder sprachlichen Bereich, Legasthenie). Die Berücksichtigung des jeweiligen Entwicklungsstandes und die entwicklungsabhängigen Veränderungen sind für das Verständnis und die Behandlung von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen deshalb von essenzieller Bedeutung. 2. Systemdimension. Leben und Verhalten bei Kindern und Jugendlichen ist enger auf die aktuelle Umwelt bezogen und stärker vom Entwicklungskontext abhängig als bei Erwachsenen. Dies bedeutet, dass Risiko- und Schutzfaktoren im sozialen Umfeld eine besondere Bedeutung haben und dementsprechend psychische Symptome häufig unmittelbare Reaktionen auf dieses Umfeld darstellen und in einem weiteren Sinne als Anpassungsversuche aufgefasst werden könnten. Im Rahmen der Therapie ist insbesondere die Abhängigkeit von den primären Bezugspersonen zu berücksichtigen sowohl in psychologischer, materieller und rechtlicher Hinsicht. Aus diesen Besonderheiten lassen sich eine Reihe von speziellen Interventionsprinzipien ableiten, die das therapeu-
1005 56.3 · Besonderheiten und spezielle Interventionsprinzipien bei Therapien mit Kindern und Jugendlichen
tische Vorgehen der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie in besonderer Weise kennzeichnen (ausführlich hierzu Mattejat et al. 2006). Störungsverständnis. Die Möglichkeiten zu einem differenzierten Krankheits- und Störungsverständnis bilden sich bei Kindern und Jugendlichen erst im Laufe der Entwicklung heraus. Der in der Erwachsenentherapie so wichtige Schritt des Erarbeitens eines Störungskonzeptes ist daher zu modifizieren und das Vorgehen ist unter Berücksichtigung der alterstypischen Reflexionsfähigkeit und Kommunikationsformen auf das altersspezifisch mögliche Störungsverständnis abzustimmen. Beziehungsgestaltung. Neben der therapeutischen Rollenverteilung spielt im Verhältnis zwischen Patient und Therapeut der generationale Unterschied eine wesentliche Rolle. So z. B. kann es bei Jugendlichen deshalb zu Konflikten kommen, weil eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben darin besteht, gegenüber Erwachsenen mehr Autonomie zu gewinnen und sich abzugrenzen. Die Teilnahme an einer Therapie widerspricht in diesem Sinne einer normalen Entwicklungstendenz. Das Generationsgefälle beeinflusst auch das Ausmaß, in dem die Therapie vom Patienten explizit gesteuert werden kann. In Therapien mit Kindern und Jugendlichen muss der Therapeut häufig Therapieentscheidungen treffen, ohne sich auf explizite Angaben des Patienten stützen zu können. Dadurch wird der Therapieprozess weitaus mehr von dem Therapeuten beeinflusst (Fremdsteuerung) als durch den Patienten (Selbststeuerung), was wiederum im Vergleich zu Erwachsenentherapien eine zusätzliche Verantwortung für den Therapeuten mit sich bringt. Spieltherapeutische und aktionale Methoden. Zur Anpas-
sung der Methoden an den jeweiligen Alters- und Entwicklungsstand gehört insbesondere die Integration von praktischen, aktionalen und spielerischen Interaktionsmöglichkeiten; Therapie findet nicht nur im verbalen Medium statt (so wie dies bei Erwachsenen vorrangig der Fall ist), vielmehr müssen wir auf das Spiel und die praktische Handlung zurückgreifen, um die Therapie akzeptabel, interessant und hilfreich zu gestalten. Einbeziehung der Bezugsperson. Die bei erwachsenen Patienten unterstellte Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit bzw. Entscheidungsfähigkeit kann bei Kindern und Jugendlichen nicht in demselben Ausmaß angenommen werden. Je jünger das Kind ist, desto enger ist die Verzahnung zwischen individuellem und interpersonell-sozialem Bereich zu sehen. Vom Kleinkindalter bis zum Jugendalter variiert so die Bedeutung der Bezugspersonen innerhalb der Therapie in einem sehr großen Ausmaß. Die Bedeutung des jeweiligen sozialen Umfeldes (Familie, Schule, Hintergrundkultur, ökonomische Bedingung, soziale Rahmenbe-
dingungen) des Patienten impliziert in aller Regel in der Therapie mit Kindern und Jugendlichen immer auch die therapeutische Arbeit mit den Eltern oder anderen Bezugspersonen. Dies geschieht meist dadurch, dass die wichtigsten Bezugspersonen mehr oder minder intensiv in die Therapie miteinbezogen werden. Therapie in natürlichen Settings. Aus der erwähnten Bedeutung der sozialen Umfeldbedingungen ergibt sich für die Therapie, dass diese sich nicht nur auf die klassische Therapiesituation im Therapiezimmer beschränken darf, sondern dass der Therapeut gemeinsam mit dem Kind oder dem jugendlichen Patienten die Situation, in denen die Probleme auftreten, aufsucht und dort die gemeinsamen alternativen Möglichkeiten erprobt. Typische Beispiele für derartige Vorgehensweisen sind die Behandlung im häuslichen Milieu (»Home Treatment«) und therapeutische Interventionen in der Schule. Auch die Nutzung von teilstationären bzw. tagesklinischen Behandlungsmöglichkeiten tritt als wesentliche Komponente neben ambulante und stationäre Behandlungsmodalitäten. In allen Behandlungsmodalitäten spielt der milieutherapeutische Aspekt eine besondere Rolle. Interdisziplinäre Zusammenarbeit. Kinder- und Jugend-
lichenpsychotherapeuten sind schließlich in besonderer Weise auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen. Es wird häufig eine ganze Reihe von Personen und Instanzen miteinbezogen, wenn es darum geht, ein Kind bzw. einen Jugendlichen in seiner Entwicklung zu fördern und zu unterstützen bzw. bei der Bewältigung von Erkrankungen oder anderen Problemen zu helfen. Die sinnvolle Koordination dieser Personen und Dienste etwa im Rahmen eines »Fallmanagements« (»Case Management«) zielt darauf ab, den Hilfseffekt für das Kind bzw. den Jugendlichen möglichst zu optimieren und auch zu verhindern, dass Hilfsangebote interferieren oder sich gar schädlich auswirken. Aus den angeführten spezifischen Interventionsmerkmalen von Kinder- und Jugendlichentherapien ergeben sich besondere Anforderungen an die Therapeuten; hieraus wiederum ergeben sich spezielle Probleme und Fragestellungen für die Supervision (. Tab. 56.2). Die aufgeführten Besonderheiten zeigen, dass die Therapie mit Kindern und Jugendlichen vonseiten der Therapeuten eine hohe Anpassungsfähigkeit und Flexibilität sowie eine hohe Toleranz für komplexe und chaotische Situationen erfordert. Es ist deshalb sinnvoll, sich schon vor dem Beginn einer kinder- und jugendlichenpsychotherapeutischen Ausbildung zu fragen, ob man in der Kinder- und Jugendlichentherapie »am richtigen Platz« ist. Gleichzeitig ist es notwendig, dass der Therapeut lernt, komplexe Situationen übersichtlich zu strukturieren, ohne sie allzu sehr zu vereinfachen. Als Strukturierungshilfe und heuristische Rahmenkonzeption bietet sich für diese Ausgangslage die Entwicklungspsychopathologie an. Sie erlaubt es, die ver-
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1006
Kapitel 56 · Supervision in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
. Tab. 56.2. Spezielle Interventionsprinzipien und Therapeutenkompetenzen in der Kinder- und Jugendlichentherapie: Probleme und Fragestellungen in der Supervision Interventionsprinzipien
Therapeutenkompetenzen mit Beispielproblemen und Beispielfragen
Störungsverständnis
Fähigkeit, sich in die Welt eines Kindes/Jugendlichen hineinzufühlen und hineinzudenken und Fähigkeit altersentsprechend mit ihm zu kommunizieren Beispielfrage: 4 Wie kann ich dem Kind/Jugendlichen in konkret altersspezifischer Weise erklären, warum es in die Therapie kommen soll und worin die Therapie besteht?
Beziehungsgestaltung
Fähigkeit, die Therapiebeziehung alters- und entwicklungsspezifisch zu gestalten Beispielfragen: 4 Ein Jugendlicher kommt häufig zu spät zur Therapie oder lässt Therapiestunden kurzfristig ausfallen: Wann sollte ich flexibel reagieren und wann ist es sinnvoller »hart« zu bleiben? Sollte ich das gemeinsam mit den Eltern besprechen? 4 Soll ich den Patienten fragen, was er möchte oder ist es besser, dass ich einfach Vorgaben mache (»Wir machen das so, gell«) 4 Ein Jugendlicher zeigt sich in der Therapie wenig motiviert (Null-Bock-Haltung): Sollte ich das hinnehmen oder ist es sinnvoller konfrontativ zu reagieren?
Spielerische und aktionale Methoden
Bereitschaft, die eigenen Fähigkeiten zu spielerischen Aktivitäten zu entdecken und weiterzuentwickeln. Fähigkeit, den Stundenverlauf verantwortlich zu steuern und parallel dazu selbst authentisch und »kindlich« am Spiel teilzunehmen. Bereitschaft und Fähigkeit, therapeutische Interventionen im Rahmen von spieltherapeutischen Interaktionen zu erproben Beispielfragen: 4 Die Spiele sind mir oft zu wild, wie kann ich mich da verhalten? 4 Das wäre doch nur herumgespielt, wo ist der therapeutische Sinn? 4 Wie kann ich die Stunde aufteilen? (Typisch in der Kindertherapie: Das Konzept der geteilten Stunde: »Zuerst machen wir/besprechen wir die therapeutischen Übungen/Hausaufgaben, dann spielen wir, was du möchtest«)
Einbeziehung der Bezugspersonen
Bereitschaft und Fähigkeit, den komplexen Entwicklungskontext in die Therapie einzubeziehen; Fähigkeit, größere komplexe Zusammenhänge zu überschauen, die Bedeutung von Einzelaspekten zu gewichten. Einarbeitung in die Methoden der Elternberatung, des Elterntrainings und der Familientherapie Häufiges Problem am Beginn der Ausbildung: Die komplexen systemischen Zusammenhänge und die Probleme im Umfeld werden ausgeblendet, um die gelernten individuenbezogenen Therapiemethoden »geordnet« anwenden zu können. Beispielfragen: 4 Ich habe keinen rechten Überblick, wo soll ich beginnen, bei diesen vielen Problemen! 4 Soll ich den Vater einladen, der möchte nicht so gerne? 4 Ich glaube die Eltern nehmen mich nicht ernst, was kann ich tun? 4 Ich habe selbst ja keine Kinder und viel weniger Lebenserfahrung als die Eltern, wie kann ich denen helfen? (Gestaltung der Beziehung zu den Eltern so, dass tatsächliche Erfahrungsunterschiede respektiert werden und trotzdem die fachliche Kompetenz des Therapeuten genutzt werden kann)
Therapie in natürlichen Settings
Bereitschaft und Fähigkeit, auch außerhalb der eigenen Räume eine professionelle Struktur zu entwickeln und aufrechtzuerhalten Keine Standardtherapiesituation; zurechtfinden in Situationen, in denen der Therapeut nicht »zu Hause« ist (z. B. Interventionen im Schulsetting) Beispielfragen: 4 Die machen den Fernseher nicht aus, wenn ich in der Familie bin; das stört. Wie kann ich da Ordnung hineinbringen? 4 Wie kann ich der Erzieherin das operante Programm erklären?
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
56
Hinreichende Kenntnisse über die anderen Berufsgruppen und deren Arbeitsfelder. Bereitschaft und Fähigkeit, ein Therapiekonzept anderen Berufsgruppen (z. B. Lehrern gegenüber) darzustellen und zu erläutern. Fähigkeit zu respektvoller interdisziplinärer Kooperation. Dabei auch interaktionale Kompetenz zur Verdeutlichung der eigenen Kompetenz Beispielfragen: 4 Die Lehrerin meint, dass ich noch öfter in die Schule kommen sollte; wie soll das gehen? 4 Der Arzt hat mir gesagt, er kann mir wegen der ärztlichen Schweigepflicht keine Auskunft geben. Was schlagen Sie jetzt vor? 4 Es kommt mir so vor, als ob die Schwestern und Erzieher (auf einer Station) überhaupt kein Interesse haben, mit mir über den Fall zu sprechen. Wie würden Sie vorgehen?
1007 56.4 · Thematische Schwerpunkte der Supervision: Orientierung am diagnostisch-therapeutischen Prozess
wendeten theoretischen Modelle und therapeutischen Methoden in einen Zusammenhang zu stellen und auf den jeweils individuellen Therapiefall zu beziehen. Zu einer ausführlichen Darstellung des Konzeptes einer entwicklungsorientierten Therapie s. Mattejat (2003). > Fazit Besondere Anforderungen an Kinderund Jugendlichenpsychotherapeuten Die Therapie mit Kindern und Jugendlichen erfordert von den Therapeuten: 4 Die Bereitschaft und Fähigkeit, ihren Kommunikationsstil auf altersspezifische Besonderheiten und sehr unterschiedliche Entwicklungsniveaus einzustellen. Spielerische und aktionale Momente sind dabei ebenso wichtig wie die verbale Kommunikation. 4 Eine weitere Voraussetzung ist die Bereitschaft und Fähigkeit, sich gleichzeitig auf mehrere unterschied6
liche Menschen mit divergenten Wünschen, Zielen, Ansprüchen Möglichkeiten einzustellen und mit ihnen zurechtzukommen. 4 Schließlich erfordert die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und ihren Familien die Bereitschaft und Fähigkeit, Unordnung und schnelle Wechsel auszuhalten und vielleicht sogar Freude am Chaos zu haben. Vonseiten der Therapeuten ist in der Kinder- und Jugendlichentherapie somit eine hohe Toleranz für schwer überschaubare und nur partiell planbare Situationen erforderlich. Die Fähigkeit, sich – ähnlich wie ein Kind – in neugieriger und kreativer Weise auf neue Situationen einzustellen, ist dabei von Nutzen. 4 Flexibilität, Kreativität und Spontanität sollten durch strukturierende Fähigkeiten ergänzt werden, um bei der Komplexität der Anforderungen den Überblick zu behalten und so eine zielgerichtete und verantwortungsvolle Therapie zu ermöglichen.
Lebensalter und Lebenserfahrung der Supervisanden Im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie spielt neben der beruflichen Erfahrung auch das Lebensalter bzw. die »Lebenserfahrung« der Supervisanden eine größere Rolle, als dies im Bereich der Erwachsenenpsychotherapie der Fall ist. Nicht nur die häufig anzutreffende Situation, dass ein relativ junger Therapeut deutlich älteren Personen, in diesem Fall den Eltern oder Bezugspersonen eines Patienten, gegenübersitzt (derartige Konstellationen sind auch in der Erwachsenentherapie häufig anzutreffen) und dies therapeutisch zu »bewältigen« hat, sondern auch Fragen nach »eigenen Kindern«, Erziehungserfahrungen und anderen elterlichen Kompetenzen bringen die Supervisanden unter besonderen Le-
56.4
Thematische Schwerpunkte der Supervision: Orientierung am diagnostisch-therapeutischen Prozess
Die Orientierung am Ablauf des diagnostisch-therapeutischen Prozesses (Mattejat u. Quaschner 2006, S. 187) kann als Strukturierungshilfe für die Supervision genutzt werden.
56.4.1 Vorstellungskontext
und Therapieerwartungen Allein die mit dem Vorstellungsanlass verknüpfte Frage, ob überhaupt eine Therapie erforderlich oder möglich ist, wirft eine Fülle von Fragestellungen und Problemen auf, die in ihrer Komplexität oft unterschätzt werden und den
gitimationsdruck. Die erzieherische – und verknüpft damit häufig auch die therapeutische – Kompetenz des Therapeuten, seine »Umgangsfähigkeit« mit Kindern und Jugendlichen, wird von Eltern nicht selten in Frage gestellt. Über den konkreten, direkten Umgang mit Eltern hinaus spielen die eigene Biographie und die Lebenserfahrung des (zukünftigen) Therapeuten eine wichtige Rolle bei dessen Auffassungen der Vater- oder Mutterrolle und in Fragen des Erziehungsstils und der Wertevermittlung. Die eigenen Schul- bzw. Ausbildungserfahrungen des Therapeuten sowie seine eigene Bewältigung von Entwicklungsaufgaben prägen in starkem Maße seine Einschätzung des Patienten bzw. der Therapie.
Berufsanfänger überfordern. Die Fragen, wer sich als Patient vorstellt bzw. wer als »Therapieauftraggeber« fungiert und wie die Motivationslagen der beteiligten Parteien aussehen, sind mitunter erst mühsam in den Supervisionssitzungen zu entwirren. Nicht zu unterschätzen sind dabei rechtlich-ethische Fragen, etwa die Berücksichtigung der jeweiligen Sorgerechtsregelungen und das Einverständnis mit einer durchzuführenden Therapie. Diese Phase der vorläufigen Indikationsstellung wird insbesondere von Anfängern häufig zu schnell übergangen, weil diese bestrebt sind, mit der »eigentlichen Therapie« zu beginnen. Nicht nur die mitunter ausgesprochen brüchigen Motivationslagen der beteiligten kindlichen und jugendlichen Patienten können sich nachteilig auf die Entscheidung für oder gegen den Beginn einer Therapie auswirken, es finden sich auch häufig Meinungen und Ansichten von Eltern bzw. Bezugspersonen (Lehrer, Erzieher, Kinderärzte, Mit-
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1008
Kapitel 56 · Supervision in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
arbeiter von Jugendämtern etc.), die in ihren Vorstellungen davon, was ambulante Psychotherapie ist, und was sie erreichen kann, erheblich von dem abweichen, was die Fachleute anbieten können. So kommt es z. B. vor, dass Eltern Vorstellungen einer – zumeist rein verbal orientierten – Psychotherapie haben und erwarten, dass die Psychotherapie ihrer Kinder in ganz ähnlichen Mustern abläuft. Dementsprechend bildet sich etwa die Vorstellung, dass mit einem Patienten nur lange, ausführlich und intensiv genug »gesprochen« werden muss, um alle Probleme »aufzuarbeiten«. Für die Supervision heißt dies, dass nicht nur immer Möglichkeiten und Grenzen von ambulanter Psychotherapie erörtert werden müssen, sondern dass auch das verhaltenstherapeutische Selbstverständnis, die verhaltenstherapeutische Identität des Therapeuten klar herausgearbeitet werden muss. Unterbleibt eine Thematisierung derartiger, häufig unausgesprochener Erwartungen und Vorstellungen, tauchen diese im weiteren Verlauf der Therapie als Hindernisse auf.
56.4.2 Diagnostik
56
Die Diagnostik setzt mit den Fragen ein, welche relevanten Informationen benötigt werden und welche diagnostischen Maßnahmen durchgeführt werden sollen. Die in vielen Bereichen vorhandene weitgehende Standardisierung diagnostischer Prozeduren stellt sich für den angehenden Therapeuten in der Regel unproblematisch dar. Schwieriger gestalten sich demgegenüber »freiere«, d. h., weniger strukturierte diagnostische Aufgaben wie etwa die Erhebung eines »klassischen« psychopathologischen Befundes oder aber auch die Durchführung einer systematischen verbalen Verhaltensexploration, deren Schwierigkeiten oft erst in der Anwendung auf den konkreten Fall deutlich werden. Des Weiteren überschaut der Anfänger meist auch nicht die gesamte Bandbreite von psychischen Störungen und Symptomen und die damit verknüpften differenzialdiagnostischen Fragen sowie die individuell, je nach Patient oft sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ausprägungsgrade ein und desselben Störungsbildes. In der Abstimmung auf dieses vielfältige Aufgabengebiet liegt eine wichtige didaktische Funktion der Supervisionen. Ein Spezifikum der Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie ist zudem dadurch gegeben, dass es sehr komplexe diagnostische Prozeduren gibt, z. B. sei nur das »familiendiagnostische Interview« genannt, die mit der Vielfalt der Frage- bzw. Problemstellung korrespondieren. Die Einübung und Verwendung solcher aufwendiger und komplexer Untersuchungsverfahren macht direktere Hilfestellungen seitens des Supervisors erforderlich, als dies in der Supervision von Erwachsenentherapien der Fall ist.
56.4.3 Fallkonzeptualisierung, Indikations-
stellung und Therapieplanung Der Schritt der Fallkonzeptualisierung oder auch »Fallrekonstruktion« (Lieb 2005) als zentraler Bestandteil des diagnostisch-therapeutischen Prozesses entscheidet ganz wesentlich über Gelingen oder Misslingen einer Therapie. Dementsprechend stellt die Neu- bzw. Reformulierung des Fallkonzepts sehr häufig auch einen zentralen Bestandteil des Supervisionsprozesses dar. Das jeweilige Fallkonzept kann wiederum in verschiedene Teilschritte zerlegt werden. Insbesondere für den Therapieanfänger ist es keineswegs eine Selbstverständlichkeit, eine multiaxiale ICD-10-Diagnose, wie sie im Kinder- und Jugendlichenbereich verwendet wird, in ein tragfähiges Behandlungskonzept zu überführen, in dem, ausgehend von der Diagnose, mögliche Ansatzpunkte für die Behandlung im Sinne von Auswahl und Gewichtung von Zielverhaltensweisen formuliert werden. Neben der deskriptiv gefassten diagnostischen Beschreibung der Symptomatik besteht in der ätiologisch ausgerichteten Erstellung eines Störungsmodells ein zweiter wichtiger Schritt. Die Formulierungen von tragfähigen ätiologischen Hypothesen, die in ein für den Patienten plausibles Modell eingebunden werden und therapeutisch wirken sollen, ist ein außerordentlich komplexer Vorgang. Er umfasst die Überprüfung (Änderung, Optimierung, Ergänzung, Akzentuierung etc.) derjenigen Annahmen, Denkmuster und kognitiven Schemata, die bislang in der Behandlung zugrunde gelegt wurden bzw. Einfluss ausübten. Erst wenn die Fallkonzeptualisierung geleistet ist, kann die Indikationsstellung für die Therapie erfolgen, bei der auch die Überlegungen zur Anfangs- oder (Vor-) Indikation (7 Abschn. 56.4.1), wie sie sich im Licht der mittlerweile erhobenen diagnostischen Informationen zeigen, wieder aufgegriffen werden. Mit dieser Zielformulierung kann jetzt in die Therapieplanung eingetreten werden, so dass vor diesem Hintergrund therapeutische Methoden und Techniken ausgewählt werden können. Eine gängige Gefahr bei diesem Schritt besteht z. B. darin, dass die mittlerweile im Rahmen der Manualisierung erfolgte Standardisierung bestimmter therapeutischer Prozeduren und Routinen vorschnell und zu wenig auf den individuellen Fall abgestimmt werden und ein bestimmtes therapeutisches Procedere gewählt wird, welches sich hinterher als nicht tragfähig erweist.
56.4.4 Beratung
In der Erwachsenenpsychotherapie wird zwischen Therapieplanung und Therapiedurchführung meist keine größere Zäsur gemacht. In der Therapie von Kindern und Jugendlichen hat es sich allerdings außerordentlich bewährt, an dieser Stelle einen Beratungs- (Zwischen-) Schritt einzuführen. Dabei ist zu entscheiden, welche (bisher erhobenen diagnostischen) Ergebnisse und Befunde dem Patienten
1009 56.5 · Spezielle Supervisionsmethoden
und seiner Familie mitgeteilt werden, in welcher Form dies geschehen soll und was dem Patienten und seiner Familie als weiteres Vorgehen empfohlen wird. Dieses Innehalten, gemeinsames Besprechen und Verhandeln der folgenden Maßnahmen berücksichtigt wiederum die Tatsache, dass es in aller Regel nicht ein Einzelpatient ist, mit dem man es zu tun hat, sondern mehrere Personen, d. h., eine Familie bzw. ein Patient und Bezugspersonen, die über das weitere Vorgehen informiert und mit eingebunden werden müssen. Rechtliche Fragen sowie die Klärung von Verantwortlichkeiten kennzeichnen ebenfalls diesen Verhandlungs- und Einigungsprozess mit Kompromisscharakter.
56.4.5 Therapiedurchführung, Therapiekontrolle
und -evaluation Erst nach dem geschilderten Vorlauf geht es in der Therapiedurchführung um die Umsetzung der geplanten Methoden im individuellen Fall. Die Anpassung, Abstimmung und Abänderung dieser Maßnahmen und Techniken unter Berücksichtigung der Einzelfallbedingungen gehören sicherlich zum klassischen Aufgabengebiet von Supervision. Eine Gleichsetzung oder Reduktion der Supervision auf diesen Aspekt stellt allerdings eine Verkürzung und Verzerrung dar, die meist auch auf einem einseitigen, falschen Verständnis von Verhaltenstherapie insgesamt beruht. Der angemessene, »richtige« Einsatz von – oft sehr komplexen – Techniken entspricht der didaktischen Funktion von Supervision, aber er erschöpft sich keineswegs darin. Vor allen »technischen« Fragen sind es häufig Probleme auf der Beziehungsebene und in der Interaktionsgestaltung, die im Mittelpunkt der Supervision stehen. Die Einbettung einer einzelnen Technik in ein komplexes therapeutisches Beziehungsgefüge macht letzten Endes deren Wirksamkeit in entscheidendem Maße aus. Daher kommt Fragen der Beziehungsklärung eine fundamentale Bedeutung zu. Der einfühlsame Umgang mit einem ängstlichen Kind oder einem sich verweigernden Jugendlichen gehört ebenso in diesen Bereich wie der Kontakt mit verunsicherten oder auch fordernd auftretenden Eltern. Probleme in der therapeutischen Beziehung spiegeln sich auch fast immer in der Supervisionsbeziehung wieder und verdeutlichen den engen Zusammenhang dieser beiden Beziehungsgeflechte. So z. B. können Fragen des Supervisanden an den Supervisor in einer Weise thematisiert und bearbeitet werden, dass eine Rückkopplung der artikulierten Probleme in die Therapie, an den Ort ihres Entstehens, stattfindet. Die reflexive Funktion der Supervision wird dadurch in besonderer Weise gewährleistet. Wenn im Verlauf des Supervisionsprozesses schwerwiegende Probleme in der therapeutischen Beziehung auftreten, wenn geplante Maßnahmen sich nicht umsetzen lassen oder sich während der Therapie wesentliche, neuartige Informationen ergeben, dann stellt sich im Rahmen
der Supervision die Frage eines grundsätzlichen Umdenkens. Aufseiten der Ausbildungskandidaten finden sich dabei häufig »Sackgassengefühle«, Insuffizienzvorstellungen und erhebliche Verunsicherungen. Derart grundlegende Probleme erfordern meist eine Neu- bzw. Rekonzeptualisierung des Falles. Die Reformulierung eines Fallkonzeptes verlangt z. B. die Generierung neuartiger ätiologischer Hypothesen und die Entwicklung eines veränderten Störungsmodells, auf dessen Basis ein Neuansatz der Therapie versucht werden kann. Grundlegende Strategiewechsel dieser Art verlangen insbesondere für den Ausbildungskandidaten nach einer engen supervisorischen Unterstützung. Strategiewechsel sind in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie häufig verknüpft mit Settingfragen. Wer in welcher Form und mit welcher Intensität in die Therapie eingebunden wird, ist angesichts von mehreren beteiligten Personen eine Grundfrage des therapeutischen Prozesses. Settingumstellungen können im Verlauf der Therapie mehrfach vorkommen und es stellt sich die Frage des optimalen Zeitpunktes für derartige Entscheidungen. Doch nicht nur Settingfragen, eine Vielzahl anderer, vom Therapeuten zu treffender Entscheidungen, berühren das Problem des richtigen »Timings«. Gemeint ist damit, dass angehende Therapeuten ein Gefühl für die Abfolge einzelner Schritte und das Ineinandergreifen therapeutischer Maßnahmen entwickeln müssen, kurzum ein Gefühl für den »Rhythmus« einer Therapie. Der Aspekt der Evaluation schließt nicht nur die Frage nach der Wirksamkeit und dem Erfolg einer Intervention mit ein, sondern auch den Aspekt der Kontrolle in einem umfassenden Sinn. Kontrolliert werden im Rahmen der Supervision nicht nur die »technische Durchführung« der Therapie und ihr Erfolg bzw. Misserfolg, sondern es geht immer auch darum, ob die rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen, die »Regeln der (psychotherapeutischen) Kunst« eingehalten werden.
56.5
Spezielle Supervisionsmethoden
Falldarstellung und Präsentation. Eine häufig unterschätzte, aber für die Supervision, sei es in Einzel- oder Gruppenform, unabdingbare Fähigkeit, die der Supervisand zu erlernen hat, ist die angemessene Fallaufbereitung und Fallpräsentation bzw. -darbietung. Verkürzt wird dieser Schritt oft lediglich auf das »Anliegen« oder die »Supervisionsfrage« bzw. »das Supervisionsproblem« reduziert. Natürlich ist die »richtig« gestellte Frage eines Supervisanden von zentraler Bedeutung, sie ist aber nur die Spitze einer Pyramide, die auf dem Fundament einer optimalen Fallkonzeptualisierung beruht und eine konzise, die erhobenen Informationen angemessen berücksichtigende Zwischenstufe, die die »Sichtweise« des Falles durch den Supervisanden widerspiegelt, ebenso mit einschließt.
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Kapitel 56 · Supervision in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Ergänzung der verbalen Darstellung durch Rollenspiele und andere Methoden. Die Supervision bietet darüber hin-
aus die Möglichkeit, bestimmte Situationen, Interaktionen und Konstellationen im Rollenspiel nachzustellen und diese Methode als Supervisionstechnik einzusetzen. Auch alle anderen aktionalen und nichtverbalen Therapiemethoden (z. B. Genogramm, soziometrische Darstellungen, spieltherapeutische Inszenierungen) können in der Supervision nutzbringend eingesetzt werden. Live-Supervision. Die im Rahmen der Erwachsenensupervision eher selten angesetzte Live-Supervision, d. h., die direkte, persönliche Anwesenheit des Supervisors und ggf. auch sein Eingreifen in den therapeutischen Prozess, liegt im therapeutischen Umgang mit Familien sehr nahe. Dadurch, dass es der Therapeut in der Regel mit mehreren Personen zu tun hat, kann es aus vielfältigen Gründen hilfreich und gar erforderlich sein, dass der Therapeut »Verstärkung« erfährt und sei es durch die »reine Anwesenheit und Präsenz« einer weiteren therapeutisch legitimierten Person. Direktbeobachtung (per Tonband, Video oder Einwegscheibe). Eine reduzierte Variante der Live-Supervision
kann bei der Direktbeobachtung eines therapeutischen Geschehens eingesetzt werden. Dabei kann sich der Beobachter gänzlich zurückhalten und von dem Patienten und der Familie überhaupt nicht gesehen werden. Er kann aber auch in verschiedener Form eingreifen, z. B., wenn er gegen Ende der Therapiestunde gemeinsam mit dem Therapeuten eine »Hausaufgabe« für die Familie formuliert oder in bilanzierender Absicht das Therapiegeschehen zusammenfasst.
56.6
56
Empirische Forschung und Weiterentwicklung der verhaltenstherapeutischen Supervision – ein Ausblick
Obwohl die Arbeit von Schmelzer (1997) nun schon einige Jahre zurückliegt, gibt sie trotz des als »desolat« beklagten Forschungsstandes einen guten Überblick über verschiedene Aspekte der empirischen Supervisionsforschung. In der Supervisionsforschung wurde bisher hauptsächlich untersucht, wie nützlich und wirksam sich Supervision aus der Sicht von Supervisoren und von Supervisanden darstellt (Fragebogenangaben von Supervisoren und Supervisanden); es gibt aber leider kaum Untersuchungen über die Auswirkungen von Supervision auf die Patienten. Neueren Datums ist die von Frank (2005) herausgegebene Übersicht, in deren Einleitung sie »ein wachsendes Interesse an Forschung im Bereich der Psychotherapieausbildung« feststellt und im Sinne einer Bestandsaufnahme aktuelle Forschungsarbeiten auflistet (Laireiter u. Willutzki 2005). Trotz der von Frank (2005) konstatierten positiven Veränderungen der
Forschungslage kann dennoch mit der Arbeit von Neill et al. (2006) von einem weiterhin bestehenden Defizit an empirischen Befunden ausgegangen werden, insbesondere was die Supervision der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie angeht (Neill et al. 2006, S. 9). Ihren Niederschlag dürfte diese unbefriedigende Situation auch darin finden, dass nach wie vor eine Vielzahl unterschiedlicher Supervisionsmodelle und Konzepte existiert und sich erst langsam allgemeinere, übergreifende »Supervisionsbausteine« herauskristallisieren. Aufgrund der vorliegenden empirischen Ergebnisse zieht Frank (1999) unter anderem die folgenden Schlüsse: 4 Supervision kann in ihrer praxisanleitenden und dialogischen Form nicht durch andere Lehr- und Lernmethoden ersetzt werden. 4 Es wurde mehrfach bestätigt, dass Supervisanden sich durch Supervision unterstützt fühlen, durch die Supervision sicherer werden und mit der Supervision zufrieden sind. 4 Supervision leistet für die Therapeuten im Wesentlichen, was sie leisten soll: »Sie gibt Anleitungen, Anregungen und Rückmeldung, entlastet, schafft unterschiedlich nutzbare Selbstdarstellungsmöglichkeiten und unterstützt die psychotherapeutische Entwicklung in positiver Weise.« 4 Bisher ist noch kaum überprüft worden, ob und in welcher Hinsicht sich Supervision auch auf die Patienten auswirkt. Es gibt aber Hinweise, dass durch Supervision Therapieabbrüche reduziert werden können. 4 Es gibt weiterhin Hinweise, dass Supervision auch negative Effekte haben kann; deshalb ist die Qualifikation bzw. Ausbildung von Supervisoren von hoher Bedeutung. 4 In einer anderen Arbeit aus der Arbeitsgruppe (RzepkaMeyer et al. 1998) wird aufgezeigt, dass der Nutzen der Supervision wesentlich von der Mitarbeitsbereitschaft der Supervisanden abhängig ist; ein weiterer interessanter Einzelbefund verweist darauf, dass das Abfassen von schriftlichen Fallberichten zu einer Kompetenzsteigerung beitragen kann. Auch Laireiter u. Botermans (2005), die einen sehr schönen aktuellen Überblick über die Ausbildungsforschung (einschließlich Supervisionsforschung) in der Verhaltenstherapie vermitteln, stellen fest, dass es angesichts der hohen Bedeutung der Supervision »paradox« erscheint, dass es bisher »kaum nennenswerte Ergebnisse zur ihrer Effektivität« gibt. Sie ziehen aus den vorliegenden Ergebnissen unter anderem die folgenden Schlüsse (Laireiter u. Botermans 2005, S. 84): 4 Eigene therapeutische Tätigkeit im Rahmen der Ausbildungstherapien und deren Supervision stellen die wichtigsten kompetenz- und effektivitätsfördernden Elemente in der Psychotherapieausbildung dar. 4 Die Supervision ist insbesondere notwendig für den Transfer von Wissen und Kompetenz in die therapeutische Praxis ebenso wie für die Entwicklung von Bezie-
1011 Zusammenfassung
4
4 4
4
hungsfähigkeiten, der Fallkonzipierungskompetenz und der Fähigkeit zur Selbstreflexion. Eine gute Arbeitsbeziehung zwischen Supervisor und Supervisand und ein aktiver Arbeitsstil des Supervisors tragen insbesondere bei Supervisanden, die am Beginn ihrer therapeutischen Arbeit stehen, zur Effektivität der Supervision bei. Während der Ausbildung sollte viel Supervision bei möglichst unterschiedlichen Supervisoren der gleichen theoretischen Orientierung absolviert werden. Bei Anfängern sollte in der Supervision die konkrete therapeutische Tätigkeit fokussiert werden (konkrete Anleitung durch den Supervisor); fortgeschrittene Ausbildungsteilnehmer dagegen profitieren eher von einem reflexiven und kooperativen Supervisionsstil. Der Nutzen und die Effektivität von Supervisionen sind schließlich auch abhängig von der Qualifikation der Supervisoren. Voraussetzungen und Kompetenzen aufseiten der Supervisoren werden unter anderem bei Schmelzer (1997), Zimmer (1996), Neill et al. (2006) diskutiert und ausführlich dargestellt. Zusammenfassend kann mit Zimmer (1996) die Kompetenz der Supervisoren beschrieben werden als eine – gelungene und ausbalancierte – Mischung aus therapeutischer Erfahrung (Behandlungserfahrung), theoretischem Wissen (Überführung von theoretischem in praktisches, handlungsrelevantes Wissen) und zwischenmenschlichen bzw. interaktionellen Fähigkeiten (Beziehungskompetenz). Die Frage, ob es sinnvoll ist eine Supervisorenausbildung in standardisierter Form zu entwickeln und anzubieten, wird heute noch nicht einheitlich be-
antwortet. Lieb (2005) hat hierzu ein differenziertes Ausbildungsmodell vorgestellt, mit dem bereits praktische Erfahrungen gesammelt wurden.
Zusammenfassung Verhaltenstherapeutische Supervision orientiert sich an den Ergebnissen der empirischen Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen, an einer therapeutischen Grundhaltung, die durch die Begriffe »Transparenz«, »Kooperation« und »gemeinsame Problemlösung« gekennzeichnet werden kann und an ethischen Prinzipien, wie z. B. den menschlichen Grundrechten und der Beachtung der Patientenrechte (Patientenselbstbestimmung). Supervision kann als Problemlöseprozess verstanden werden: Sie beginnt mit einer ersten Orientierung, darauf folgt der Versuch den IstZustand zu klären und den Soll-Zustand (Ziele) herauszuarbeiten, um dann die Mittel bzw. Lösungen zu entwickeln. In der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sind spezielle Kompetenzen erforderlich (z. B. Fähigkeit altersentsprechende Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen), die im Rahmen der Supervision gefördert werden sollen. Die thematischen Schwerpunkte der Supervision orientieren sich am Ablauf des diagnostisch-therapeutischen Prozesses; eine zentrale Bedeutung haben die Fallkonzeptualisierung, Indikationsstellung und Therapieplanung. Neben der verbalen Fallvorstellung werden in der Supervision auch andere Methoden genutzt; hierzu zählen Videoaufzeichnungen, aktionale Methoden (Rollenspiel) und die direkte Beobachtung der Therapie.
Anhang Beispiele für typische Supervisionsfragen im Kinder- und Jugendlichenbereich* Allgemein-organisatorische Aspekte: Ich weiß nicht, ob das ein Therapiefall/ein möglicher Supervisionsfall sein könnte. 4 Ich benötige Hilfe bei der Formulierung des Therapieantrages/bei Abrechnungsfragen. 4 Soll ich einen Verlängerungsantrag stellen? 4 Ich möchte wissen, wie ich das dokumentieren soll. Diagnostik und Therapieevaluation: 4 Mir ist nicht klar, ob ich noch andere diagnostische Verfahren einsetzen soll. Welche diagnostischen Methoden sollte ich noch anwenden? 4 Ich weiß nicht sicher, wie ich den Fall diagnostisch einschätzen soll. 4 In welchem Verhältnis stehen Fragebogendaten zu anderen Informationen. Beispiel: Der Patient soll eine Depression haben, obwohl die entsprechenden 6
Fragebogenverfahren unauffällig sind. Wie ist das zu beurteilen? 4 Wie kann eine Verhaltensanalyse für diesen Fall erstellt werden? Was bringt mir die SORK-Analyse für die Therapieplanung und -durchführung? 4 Wie ist der Therapieverlauf rückblickend zu bewerten? Was hätte ich anders machen sollen? Therapiemethoden: 4 Wie kann ich methodisch vorgehen, was könnte ich tun? Welche Empfehlungen/Ideen haben Sie dazu? 4 Ich habe Angst, dass mir nichts einfällt; was kann ich in den nächsten Stunden tun? 4 Ich bräuchte ein paar Anregungen, was ich machen kann? Haben Sie Literaturhinweise? Fallkonzept, Therapiekonzept: 4 Die diagnostische Klassifikation ist zwar klar; aber mir ist nicht klar, wie die Störung bei diesem Patienten zu erklären ist.
56
1012
Kapitel 56 · Supervision in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
4 Bei Komorbidität: Welche Probleme sollen in der Therapie im Vordergrund stehen? 4 Ich habe den roten Faden in der Therapie verloren. 4 Ich habe ein Konzept, die Therapie läuft gut; ich bin mir nicht sicher, ob das o. k. ist. Ich würde gerne wissen, wie Sie (andere) das sehen? 4 Soll ich einen Verlängerungsantrag schreiben oder die Therapie eher beenden? 4 Ich komme nicht weiter – was kann ich noch tun? 4 Eigentlich existiert das Problem primär auf Eltern-/ Paarebene, vorgestellt wird aber das Kind – wie soll ich damit umgehen? Konkrete Umsetzung/Gestaltung der Therapie: 4 Wie gestalte ich die Einzelstunde? 4 Der Patient redet so wenig/so viel – und nun? 4 Eigentlich müssten die Eltern mehr einbezogen werden, aber wie? 4 Ich glaube, die Eltern nehmen mich gar nicht ernst. 4 Wie gehe ich mit sehr jungen Patienten um; wie gestalte ich konkret die ersten Kontakte? 4 Die mir geläufige Methoden/Interventionen »stocken«. 4 Ich möchte gerne »besser verstehen«, was mit dem Patienten los ist. 4 Wie stelle ich die Therapie um, wenn sich der Verdacht auf eine Persönlichkeitsstörung erhärtet? 4 Die Zwangsstörung hat sich trotz vieler Therapiestunden nicht wirklich verbessert; was muss ich anders machen?
4 Der Patient hat den Termin kurzfristig abgesagt oder lässt Termine unabgesagt aus; wie kann ich mich verhalten? 4 Ich weiß eigentlich nicht mehr, was ich mit dem Patienten machen soll – die Therapie läuft aber eigentlich noch über 10 Stunden oder mehr? 4 Wie kann ich die Beziehungsstörung zwischen Kind und Elternteil beeinflussen? 4 Wie unterstütze ich Eltern darin, sicherer für die emotionalen Bedürfnisse der Kinder zu werden, denn ich will keine »Dauer-Super-Nanny« sein? 4 Beispiel Essstörungen bei jugendlichen Patienten: 4 Die Therapiemotivation ist recht ambivalent/schwach: Wie stelle ich emotionalen Zugang zur dem Patienten her? 4 Wie verbessere ich die Kooperation und »Compliance«? 4 Wie komme aus der Rolle der Kontrolleurin heraus? 4 Wie verhindere ich einen Therapieabbruch? Fragen, die sich auf die eigene Person des Supervisanden beziehen: 4 Ich fühle mich überfordert, wie kann ich damit umgehen? 4 Ich schaffe es nicht, die Eltern anzuleiten, was kann ich tun? 4 Ich bin gefühlsmäßig stark einbezogen, wie kommt das? 4 Ich bin gefühlsmäßig parteiisch und komme da nicht heraus, wie kann ich das verstehen, was kann ich tun? * Wir danken unseren Supervisorenkolleginnen und -kollegen Bunnenberg, Lutz, Maiworm, Schütz und Siemon für Hinweise und Anregungen.
Literatur
56
Deutsche Gesellschaft für Supervision (2007). Supervision. Verfügbar unter: http://www.dgsv.de/supervision.php [26.02.2007]. Frank, R. (1999). Die Relevanz der Supervisionsforschung für die Praxis der Psychotherapie. In H. Petzold & M. Märtens (Hrsg.), Wege zu effektiven Psychotherapien (S. 327–349). Wiesbaden: Leske & Budrich. Frank, R. (Hrsg.). (2005). Schwerpunkt Psychotherapie-Supervision. Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis, 3 Kadushin, A. (1976) Supervision in social work (2nd ed.). New York: Columbia University Press. Laireiter, A.-R. & Botermans (2005). Ausbildungsforschung in der Psychotherapie – Entwicklungen und aktueller Stand. In A.-R. Laireiter, & U. Willutzki (Hrsg.). (2005) Ausbildung in Verhaltenstherapie (S. 53–101). Göttingen: Hogrefe. Laireiter, A.-R. & Willutzki, U. (Hrsg.). (2005). Ausbildung in Verhaltenstherapie. Göttingen: Hogrefe. Lieb, H. (2005). Verhaltenstherapeutische Supervision – Ein Modell in Haupt- und Unterprogrammen. Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis, 3, 483–496. Lohmann, B. (2004). Effiziente Supervision. Praxisorientierter Leitfaden für Einzel- und Gruppensupervision (2., unveränderte Aufl.). Hohengehren (Baltmannsweiler): Schneider.
Lohmann, B. (2006). Effiziente Supervision – ein Erfahrungsbericht. Unveröffentlichtes Manuskript. Mattejat, F. (2003). Entwicklungsorientierte Psychotherapie. In B. Herpertz-Dahlmann, M. Schulte-Markwort & A. Warnke (Hrsg.), Entwicklungspsychiatrie (S. 264–304). Stuttgart: Schattauer. Mattejat, F. & Quaschner, K. (2006). Problemanalyse, Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung. In W. Hiller, E. Leibing, F. Leichsenring & S. K. D. Sulz (Hrsg.), Lehrbuch der Psychotherapie, Bd. 4. Verhaltenstherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien (S. 171–196). München: CIP-Medien. Mattejat; F., Quaschner, K. & Remschmidt, H. (2006).Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen: Definition, Prinzipien, Besonderheiten. In F. Mattejat (Hrsg.) Verhaltenstherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Lehrbuch der Psychotherapie, Bd. 4, (S. 3– 12): München: CIP-Medien. Neill, T.K., Holloway, E.L. & Kaak, H.O. (2006). A systems approach to supervision of child psychotherapy. In T. K. Neill (Ed..), Helping others help children (S. 7–34). Washington, DC: American Psychological Association. Ronnestad, M. H. & Skovholt, T. M. (2005). Die professionelle Entwicklung von Psychotherapeuten während der Ausbildung. In A.-R. Laireiter & Willutzki, U. (Hrsg.), Ausbildung in Verhaltenstherapie (S. 102–120). Göttingen: Hogrefe.
1013 Weiterführende Literatur
Rzepka-Meyer, U., Frank, R. & Vaitl, D. (1998). Entwicklung therapeutischer Kompetenzen: Zur Rolle von Therapieerfahrung und Reflexionsbereitschaft. Verhaltenstherapie, 8, 200–207. Schmelzer, D. (1997). Verhaltenstherapeutische Supervision: Theorie und Praxis. Göttingen: Hogrefe. Schmelzer, D. (2006). Ausbildungssupervision nach dem Selbstmanagement-Ansatz: 12 Leitgedanken und ein Modell. Unveröffentlichtes Manuskript. Überarbeitete Version des Tonbandprotokolls eines Vortrages, gehalten am 18.03.2006 bei der ersten Supervisorentagung des DVT in Bremen. Zimmer, D. (1996). Supervision in der Verhaltenstherapie. In J. Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Bd. 1. Berlin: Springer.
Weiterführende Literatur Frank, R. (2005). (Hrsg.) Schwerpunkt Psychotherapie-Supervision. Verhaltenstherapie & Psychosoziale Praxis, 3. Lohmann, B. (2004). Effiziente Supervision. Praxisorientierter Leitfaden für Einzel- und Gruppensupervision (2., unveränderte Aufl.). Hohengehren (Baltmannsweiler): Schneider. Laireiter, A.-R. & Willutzki, U. (Hrsg.). (2005). Ausbildung in Verhaltenstherapie. Göttingen: Hogrefe. Neill, T. K. (Ed.). (2006). Helping others help children. Washington, DC: American Psychological Association
56
57
57 Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen Gunther Meinlschmidt, Marion Tegethoff
57.1
Einleitung
57.2
Zweck, Erstellung und Aufbau von Fallberichten – 1016
57.2.1
57.2.3
Bericht zum Antrag an den Kostenträger im Rahmen ambulanter Psychotherapie – 1016 Fallberichte im Rahmen der Aus- oder Weiterbildung zum Psychotherapeuten – 1022 Fallberichte in Fachzeitschriften für Forschung und Lehre
57.3
Ethische Aspekte von Fallberichten – 1032
57.4
Ausblick
57.2.2
– 1016
– 1032
Zusammenfassung Literatur
– 1032
– 1033
Weiterführende Literatur
– 1033
– 1031
1016
Kapitel 57 · Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen
57.1
Einleitung
57.2.1 Bericht zum Antrag an den Kostenträger
im Rahmen ambulanter Psychotherapie Wissen Sie, was ein malendes Kind und – zuweilen – ein Psychotherapeut gemeinsam haben? Beide versuchen, ihre Eindrücke auf Papier zu bannen. Denn Psychotherapeuten sind nicht nur die »Heilkünstler der Seele«, sondern dürfen und müssen immer wieder Psychotherapie (mehr oder weniger kunstvoll) schriftlich darstellen. Manchmal nur einzelne Stunden (7 Kap. I/58), manchmal ganze Psychotherapien, in Form von Fallberichten. Das vorliegende Kapitel stellt vor, welche Arten von Fallberichten es gibt und wie diese speziell bei Therapien mit Kindern und Jugendlichen zu erstellen sind. Zu allgemeinen Aspekten psychotherapeutischer Fallberichte 7 Kap. I/56.
Fallbeispiel Einer der ersten Fallberichte der Psychotherapie eines Kindes waren Sigmund Freuds Aufzeichnungen zum »kleinen Hans«. Hans, mit echtem Namen Herbert Graf, der später ein bekannter Opernregisseur wurde, entwickelte mit ca. 4 Jahren Ängste davor, aus dem Haus zu gehen und von Pferden gebissen zu werden (Equinophobie). Freud selber sah den Jungen zwar nur einmal (erst viele Jahre später begegnete er ihm wieder), aber er beriet oder supervidierte die durch den Vater durchgeführte »Behandlung« über längere Zeit. Am Fallbericht des »kleinen Hans« entfachten sich später hitzige Diskussionen zur Ätiologie von Phobien bei Kindern (Eysenck 1986).
57.2
Zweck, Erstellung und Aufbau von Fallberichten
Inhalt und Aufbau eines Fallberichts variieren je nach Zweck und Adressaten. Meistens gibt es Richtlinien oder Vorgaben, die der Verfasser unbedingt befolgen sollte. Die wichtigsten Arten von Fallberichten sind: 4 Berichte zum Antrag an den Kostenträger, 4 Fallberichte im Rahmen der Aus- und Weiterbildung sowie 4 Fallberichte für Fachveröffentlichungen. In den folgenden Abschnitten stellen wir die verschiedenen Fallberichtsarten kurz vor und geben Hinweise, was jeweils bei deren Erstellung und Verwendung, insbesondere im Rahmen von Psychotherapien mit Kindern- und Jugendlichen zu beachten ist.
57
In Deutschland müssen ambulante Psychotherapien, die über die gesetzliche Krankenversicherung abgerechnet werden, nach den sog. probatorischen Sitzungen1, beim Kostenträger beantragt werden. In der Schweiz müssen Psychotherapien nach der 6. Stunde dem Vertrauensarzt des zuständigen Versicherers gemeldet werden. Diese Meldung dient gleichzeitig als Gesuch für Kostenübernahme für vorerst maximal 30 Sitzungen. Erst danach sind ein ausführlicher Bericht an den Vertrauensarzt und ein weiterer Antrag auf Kostenübernahme erforderlich. Bei Langzeittherapien ist mindestens einmal jährlich Bericht zu erstatten. Einige Kostenträger weichen davon jedoch ab oder haben besondere Anforderungen. Es gibt keine einheitlichen Richtlinien für diesen Bericht. In Österreich muss ab der 11. Sitzung (und später ggf. bei Erschöpfung des bewilligten Kontingents) ein Antrag auf Weitergewährung des Kostenzuschusses an die Krankenkasse gestellt werden. Dabei erteilt der Psychotherapeut im Auftrag des Patienten der Krankenkasse Informationen anhand eines einseitigen Fragebogens. Dieser beinhaltet Fragen zu den behandelten Störungen, deren Intensität, Einschätzung des Krankheitsverlaufes seit Therapiebeginn (bei bereits länger laufenden Therapien), Therapiemethode, Sitzungsform, frühere Psychotherapien, Anzahl bisheriger, noch geplanter und davon zu bezuschussender Sitzungen der aktuellen Psychotherapie, geplante Sitzungsfrequenz und eine Erklärung zur Zweckmäßigkeit. Die folgenden Angaben beziehen sich auf das deutsche Abrechnungssystem.
Zweck eines Berichts zum Antrag an den Kostenträger Die meisten Psychotherapeuten empfinden es als ein unvermeidbares Übel und störende »Bürokratie«, Berichte zum Antrag an den Kostenträger zu erstellen. Gerade unerfahrenen Kollegen können die Anträge jedoch helfen, die anstehenden Psychotherapien zu strukturieren und zu planen. Der Bericht wird von einem unabhängigen Gutachter begutachtet (7 Box). 1
In Deutschland werden von den Krankenkassen üblicherweise die Kosten für bis zu fünf probatorische Sitzungen übernommen. Die probatorischen Sitzungen dienen dazu festzustellen, ob eine Indikation für Psychotherapie gegeben ist und die Psychotherapie zu planen.
1017 57.2 · Zweck, Erstellung und Aufbau von Fallberichten
Im Rahmen des »Berichts zum Antrag an den Kostenträger« prüft der Gutachter anhand des Fallberichts, ob eine Erkrankung vorliegt, bei der Psychotherapie indiziert, d. h. die Behandlungsnotwendigkeit bei ausreichend positiver Prognose gegeben ist, und ob die geplante Psychotherapie dafür zweckmäßig ist. Außerdem muss die Behandlung wirtschaftlich sein, d. h. das Therapieziel muss in einem angemessenen Verhältnis zum Behandlungsaufwand stehen, und das kostengünstigste Vorgehen, um das Ziel zu erreichen, ist zu wählen.
Aufbau eines Berichts zum Antrag an den Kostenträger Wie ein Bericht zum Antrag an den Kostenträger gegliedert sein muss, ist in . Tab. 57.1 dargestellt. Jeder Abschnitt wird zudem nachstehend durch ein Beispiel veranschaulicht. Bei den Anträgen ist zu unterscheiden, ob es sich um einen Antrag auf Kurzzeittherapie (25 Stunden) oder einen Antrag auf Langzeittherapie (45 Stunden) oder einen Umwandlungsantrag von Kurz- auf Langzeittherapie (nach 25 Stunden Kurzzeittherapie) handelt. Weitere Informationen zum Antragsverfahren finden sich in 7 Kap. I/59. . Tab. 57.1 bezieht sich primär auf den Bericht bei Langzeittherapie bzw. auf den Umwandlungsantrag. Auf die Besonderheiten beim Antrag auf Kurzzeittherapie wird weiter unten eingegangen.
. Tab. 57.1. Gliederung des »Bericht zum Antrag an den Kostenträger«. (Altherr 2003) Nr.
Abschnittsbezeichnung
Beschreibung
Überschrift
Art des Antrags, Chiffre
1
Angaben zur spontan berichteten und erfragten Symptomatik
Schilderung der Symptomatik des Kindes/Jugendlichen bei der Vorstellung, der subjektiven Klagen und Beobachtungen der Eltern/Bezugspersonen – Informationen aus der Schule. Sinnvoll sind hierbei wörtliche Zitate des Patienten bzw. der Eltern. Wer hat die Therapie veranlasst und warum kommt der Patient gerade jetzt?
2
Lebensgeschichtliche Entwicklung des Patienten und Krankheitsanamnese
4 Darstellung der lerngeschichtlichen Entwicklung, die zur Symptomatik geführt hat und für die Verhaltenstherapie relevant ist 4 Angaben zur psychischen und körperlichen Entwicklung, Darstellung der Entwicklung der familiären Situation, Schilderung der zurückliegenden vorschulischen und schulischen Entwicklung, evtl. bei Jugendlichen Berufsausbildung, Bildungsabschluss 4 Darstellung der besonderen Belastungen und Auffälligkeiten in der zurückliegenden individuellen Entwicklung und der familiären Situation (Schwellensituation), besondere Auslösebedingungen 4 Beschreibung der aktuellen sozialen Situation (familiäre, ökonomische, schulische oder Ausbildungsverhältnisse), die für die Aufrechterhaltung und Veränderung des Krankheitsverhaltens bedeutsam ist. Bereits früher durchgeführte psychotherapeutische Behandlungen (ambulant/stationär) und möglichst alle wesentlichen Erkrankungen, die ärztlicher Behandlung bedürfen, sollen erwähnt werden 4 Für die Verhaltensanalyse relevante Angaben zur lerngeschichtlichen Entwicklung der Bezugspersonen möglichst berichten
3
Psychischer Befund
(Testbefunde, sofern sie für die Entwicklung des Behandlungsplans und für die Therapieverlaufskontrolle relevant sind) 4 Aktuelles Interaktionsverhalten in der Untersuchungssituation, emotionaler Kontakt 4 Intellektuelle Leistungsfähigkeit, Entwicklungsstatus und Differenziertheit der Persönlichkeit 4 Psychopathologischer Befund (z. B. Bewusstseinsstörungen, Störungen der Stimmungslage, der Affektivität und der mnestischen Funktion, Wahnsymptomatik, suizidale Tendenzen)
4
Somatischer Befund
Bei Behandlung durch Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten bitte »Ärztlichen Konsiliarbericht« beifügen (bei Kindern: Allgemeinarzt, Kinderarzt oder Kinder- und Jugendpsychiater) (sonst keine Bearbeitung möglich!). Gibt es Bemerkenswertes zur Familienanamnese oder Auffälligkeiten der körperlichen Entwicklung?
5
Verhaltensanalyse
Beschreibung der Krankheitsphänomene, möglichst in den vier Verhaltenskategorien Motorik, Kognitionen, Emotionen und Physiologie. Unterscheidung zwischen Verhaltensexzessen, Verhaltensdefiziten und qualitativ neuer spezifischer Symptomatik in der Beschreibung von Verhaltensstörungen. Funktions- und Bedingungsanalyse der für die geplante Verhaltenstherapie relevanten Verhaltensstörungen in Anlehnung an das SORKC-Modell mit Berücksichtigung der zeitlichen Entwicklung der Symptomatik. Beschreibung von psychologischen Grundbedürfnissen, Verhaltensaktiva und bereits entwickelten Selbsthilfemöglichkeiten und Bewältigungsfähigkeiten. Wenn die Symptomatik des Kindes/Jugendlichen durch gestörte Interaktionsprozesse der Bezugspersonen aufrechterhalten wird, ist dies in einer Verhaltensanalyse der Bezugspersonen zu berücksichtigen
6
Diagnose zum Zeitpunkt der Antragstellung
Darstellung der Diagnose aufgrund der Symptomatik und der Verhaltensanalyse. Differenzialdiagnostische Abgrenzung unter Berücksichtigung auch anderer Befunde, ggf. unter Beifügung der Befundberichte
6
57
1018
Kapitel 57 · Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen
. Tab. 57.1 (Fortsetzung) Nr.
Abschnittsbezeichnung
Beschreibung
7
Therapieziele und Prognose
Darstellung der konkreten Therapieziele mit ggf. gestufter prognostischer Einschätzung (dabei ist zu begründen, warum eine gegebene Symptomatik direkt oder indirekt verändert werden soll); Motivierbarkeit, Krankheitseinsicht und Umstellungsfähigkeit; Einschätzung der Mitarbeit der Bezugspersonen, deren Umstellungsfähigkeit und Belastbarkeit
8
Behandlungsplan
Darstellung der Behandlungsstrategie in der Kombination bzw. Reihenfolge verschiedener Interventionsverfahren, mit denen die definierten Therapieziele erreicht werden sollen. Angaben zur geplanten Behandlungsfrequenz und zur Sitzungsdauer (50 min, 100 min). Begründung der Kombination von Einzel- und Gruppenbehandlungen, auch ihres zahlenmäßigen Verhältnisses zueinander mit Angabe der Gruppenzusammensetzung und Darstellung der therapeutischen Ziele, die mit der Gruppenbehandlung erreicht werden sollen Wichtig: Soll bei einer Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen in der begleitenden Behandlung der Bezugspersonen vom Regelverhältnis 1:4 (im Durchschnitt 1 Stunde begleitende Behandlung der Bezugsperson pro 4 Stunden Therapie mit Patient) abgewichen werden, muss dies begründet werden! Begründung der begleitenden Behandlung der Bezugspersonen in Einzel- und Gruppensitzungen sowie zur Gruppengröße und Zusammensetzung
Datum
Unterschrift/Stempel
Falls es sich um einen Umwandlungsantrag handelt, müssen noch folgende Informationen hinzugefügt werden: 9
Begründung einer Umwandlung von Kurzzeittherapie in Langzeittherapie
4 Womit wurde die Kurzzeittherapie begründet? 4 Welches sind die Gründe für die Änderung der Indikation und Umwandlung in Langzeittherapie? 4 Welchen Verlauf hatte die bisherige Therapie?
Fallbeispiel Bericht zum Antrag auf Kurzzeittherapie – J. N. (geb. 300793) Datum: 30.05.08
1. Angaben zur spontan berichteten und erfragten Symptomatik Die Patientin J. kommt im Beisein ihres Betreuers Herrn S. zum Erstgespräch. Herr S. hatte um die Therapiemöglichkeit gebeten. Laut Herrn S. habe J. oft Wutausbrüche, sei dann sehr angespannt, geladen (»sie rastet dann völlig aus«) und fühle den Drang, etwas kaputt zu machen. Bisher habe es in den meisten Fällen, jedoch keine Schäden gegeben. Die Ursachen für die Wutausbrüche seien manchmal mehr, manchmal weniger deutlich. Vor ca. drei Wochen sei die Patientin gemeinsam mit zwei Freundinnen abgehauen. Im Anschluss habe sie dann nach einem Gespräch Hausarrest bekommen, worauf die Wut sehr stark wurde. J. sei in der letzten Zeit oftmals gedrückter Stimmung (»manchmal liege ich den ganzen Tag auf meinem Bett und hör’ Musik«). Die Mutter der Patientin, zu der die Patientin eine gute Beziehung habe, sei schwer krank. Herr S. gibt an, dass dies die Patientin sehr belaste und zur allgemeinen Anspannung hinzukomme.
2. Lebensgeschichtliche Entwicklung des Patienten und Krankheitsanamnese
57
Die Patientin wohnt seit drei Jahren gemeinsam mit fünf anderen Jugendlichen (drei Mädchen, zwei Jungen) in ei6
ner Wohngruppe. Da die Mutter der Patientin schwer an Krebs erkrankt ist, konnte diese sich nicht mehr um ihre Tochter kümmern. Gemeinsam mit dem Jugendamt sei beschlossen worden, dass die Patientin in einer Wohngruppe unterkommen sollte. Aktuell gehe es der Mutter schlecht. Es könne sein, dass sie bald sterbe. Die Patientin habe zur Mutter eine gute Beziehung, telefoniere mit ihr mehrmals pro Woche und sehe sie ca. alle sechs Wochen. Die Mutter wohnt weiter entfernt. Die Motivation des Jugendamtes, die Patientin damals in einer so weit entfernten Wohngruppe unterzubringen, sei gewesen, sie aus dem sozialen Umfeld ihrer Peers herauszubringen. Die Patientin hat einen Bruder, der in einer anderen Wohngruppe lebt. Sie besucht die 7. Klasse Hauptschule. Die Patientin berichtet, gerne zu schwimmen, in einem Verein Volleyball zu spielen und Musik zu hören. Die Patientin erzählt im Laufe der probatorischen Sitzungen, dass sie zu ihrem Vater ca. seit ihrem 8. Lebensjahr keinen Kontakt mehr habe. Der Vater sei Alkoholiker gewesen und habe ihre Mutter und auch sie selbst geschlagen. Sie sei immer wieder mit ihrer Mutter zu einer Nachbarin geflüchtet, wobei ihr Vater sie beide dann zurückgeholt habe. (Die Alkoholerkrankung des Vaters und die intensiven Konflikte der Eltern werden auch durch einen schriftlichen Bericht, den die Mutter der Patientin zur Therapie mitgibt, bestätigt.) Die Mutter habe sich dann scheiden lassen und lebe nach verschiedenen Beziehungen nun mit einem festen Partner zusammen. Dieser Stiefvater habe die Patientin
1019 57.2 · Zweck, Erstellung und Aufbau von Fallberichten
ebenfalls geschlagen. Die Patientin erzählt, dass sie, bevor sie in die Wohngruppe kam, oft mit einer Gruppe Jugendlicher zusammen gewesen sei, bei denen Gewalt (Schlägereien auch mit Waffen), Diebstahl und Drogenkonsum auf der Tagesordnung gestanden haben. Seitdem sie umgezogen ist, habe sie damit jedoch nichts mehr zu tun. Vor ca. einem Jahr habe sich die Patientin einige Male an den Unterarmen geritzt, was sie als von Anspannung entlastend erlebt habe. Sie habe damit dann jedoch wieder aufgehört, da sie »nicht zu jemandem werden wollte, der sich so etwas regelmäßig antut«. Des Weiteren gibt die Patientin an, auch vor knapp einem Jahr mehrere Male absichtlich erbrochen zu haben, da sie Angst gehabt habe zuzunehmen. Auch jetzt noch fühle sie sich zu dick. Sie habe dann in der Schule bei der Behandlung des Themas Ernährung Informationen zu Bulimie bekommen und wieder damit aufgehört. Die Patientin berichtet, dass sie mit ca. sieben Jahren für kurze Zeit zu einer Logotherapie ging.
3. Psychischer Befund Die Patientin zeigt im Erstgespräch ein zurückhaltendes, etwas trotziges Verhalten und macht einen leicht misstrauischen Eindruck. In den darauf folgenden probatorischen Sitzungen ist sie dann von Mal zu Mal offener. Sie ist vom äußeren Erscheinungsbild gepflegt. Die Patientin ist wach und zu allen Qualitäten voll orientiert. Auf Fragen antwortet sie engagiert und stellt im Erstgespräch Anmerkungen von Herrn S. energisch richtig, sobald sie nicht ihrer Meinung entsprechen. Das Verhalten in der Gesprächssituation deutet auf eine durchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit hin. In einigen Gesprächssituationen wird eine emotionale Schwingungsfähigkeit deutlich. Im Erstgespräch ist J. jedoch darauf bedacht, möglichst keine Gefühlsregungen zu zeigen. Als im Verlauf der probatorischen Sitzungen das Thema auf die Erkrankung der Mutter kommt, wird J. still und äußert auf Nachfrage den Wunsch, jetzt noch nicht über dieses Thema zu sprechen, da ihr dies sehr nahe gehe.
4. Somatischer Befund (siehe Konsiliarbericht) 5. Verhaltensanalyse Die Probleme der Patientin sind als Entwicklung aus den früh erlebten und miterlebten familiären Gewalt- und Trennungserfahrungen zu verstehen. Dadurch bedingt, entwickelt die Patientin einen Mangel an Selbst- und Emotionssteuerungsmöglichkeiten. Die Patientin wird durch Peers bereits im späten Kindesalter mit Drogenkonsum und antisozialem Verhalten konfrontiert, was diesen Zustand weiter verstärkt. Auch, wenn die Mutter durch ihre Erkrankung sich immer weniger um die Patientin 6
kümmern kann, bleibt sie für die Patientin die zentrale Bezugsperson und wichtigster emotionaler Haltepunkt. Nachdem die Patientin dann in die Wohngruppe umzieht, kann sie sich in ihrem neuen Umfeld stabilisieren und sozial ausgewogenere Kontakte und Aktivitäten aufbauen. Sie behält weiter enge Kontakte zur Mutter bei. Nachdem die Erkrankung der Mutter jedoch lebensgefährliche Ausmaße annimmt, kommt es durch den antizipierten Wegfall der wichtigsten Vertrauens- und Bezugsperson der Patientin zu einer depressiven Entwicklung. Dies wird vermutlich dadurch verstärkt, dass die Patientin bereits in frühen Lebensjahren gravierende Erfahrungen von Trennung und Enttäuschung machen musste. Verbunden damit empfindet die Patientin eine emotionale Leere und fühlt sich verzweifelt. Auf Konfliktsituationen in ihrer Wohngruppe hin reagiert die Patientin zunehmend aggressiv und impulsiv, sie haut auch aus der Wohngruppe ab. Durch die erzieherischen Konsequenzen dieser Regelübertretungen (z. B. Hausarrest) kommt es zu weiteren Konflikten und einer Verstärkung der depressiven Entwicklung infolge von Verstärkerverlusten.
6. Diagnose zum Zeitpunkt der Antragstellung Mit Hilfe des Kinder-DIPS ergeben sich folgende psychopathologische Diagnosen: 4 Mittelgradige depressive Episode (F32.10G) 4 Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0G) Differenzialdiagnostische Überlegungen. Die Diagnose Bulimie wird nicht in Betracht gezogen, da die Patientin die Symptomatik nur über eine kurze Zeit hinweg gezeigt hat, es wird aber ein deutliches Risiko der Patientin zur Entwicklung einer Bulimie deutlich. Daneben ergeben sich Hinweise auf Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Diese sind jedoch nicht ausreichend ausgeprägt (besonders fehlt ein ausgeprägtes Vermeiden von Situationen, die sie an die Gewaltszenen durch Vater und Stiefvater erinnern). Es ergeben sich verschiedene Hinweise auf Symptome, die in das Bild einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typus passen. Jedoch ist aufgrund des aktuellen Alters der Patientin diese Diagnose nicht zu stellen. Allerdings kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Gefahr einer zukünftigen Entwicklung in Richtung dieser Symptomatik nicht ausgeschlossen werden.
7. Therapieziele und Prognose Hauptziel der Psychotherapie ist sowohl für den Betreuer als auch für die Patientin, dass die Patientin besser mit Konfliktsituationen umzugehen lernt und nicht mehr so »ausrastet«.
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Kapitel 57 · Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen
8. Behandlungsplan
4 Durch kognitive Interventionen, wie sokratischem Dialog und kognitiver Umstrukturierung, sollen dysfunktionale Kognitionen, die die Patientin unter anderem an einer positiven Wahrnehmung und ausgeglichenen Beziehungsgestaltung hindern, modifiziert werden. Im Rollenspiel soll J. lernen, ohne »Ausraster« Konfliktsituationen konstruktiv zu lösen. 4 Die mit der Erkrankung der Mutter verbundenen Emotionen von Trauer und Angst sollen im Rahmen einer die Patientin unterstützenden und Halt gebenden therapeutischen Beziehung thematisiert werden und es sollen mit der Patientin Wege erarbeitet werden, wie sie diese Gefühle in ihr Erleben und Leben integrieren kann und wie sie außerhalb der Therapie dabei Unterstützung bekommen kann. 4 Im Rahmen von Gesprächen mit dem Betreuer sollen Möglichkeiten erarbeitet werden, wie mit impulsivem und aggressivem Verhalten von J. umgegangen werden kann, und wie auf Regelüberschreitungen reagiert werden kann, ohne dabei eine Verstärkung der depressiven Symptomatik zu riskieren. 4 Im Rahmen eines psychoedukativen Ansatzes sollen der Patientin und dem Betreuer Informationen zu Entwicklungsverläufen von Bulimie und posttraumatischer Belastungsstörung vermittelt werden und Möglichkeiten des Umgangs mit sich evtl. anbahnenden Symptomen erarbeitet werden.
Im Rahmen der Behandlung sollen folgende Methoden zum Einsatz kommen: 4 Der Patientin soll ein Entspannungsverfahren (progressive Relaxation nach Jacobson) vermittelt werden. 4 Zur Verbesserung der depressiven Symptomatik sollen Strategien zum Aufbau einer festen Tagesstruktur und Verstärkerpläne zum Einsatz kommen.
Für den vorliegenden Behandlungsabschnitt werden im Rahmen einer Kurzzeittherapie 25 Therapiestunden mit der Patientin und 6 Stunden für Gespräche mit dem Betreuer beantragt. Aus gesundheitlichen Gründen können keine Gespräche mit der Mutter der Patientin durchgeführt werden.
Weitere Ziele der Therapie sind: 4 Vermittlung von Strategien zur Reduktion von Anspannung. 4 Verbesserung des Umgangs der Patientin mit Stimmungsschwankungen und depressiver Stimmung. 4 Verbesserung der Problemlösequalität der Patientin in interpersonalen Konflikten. 4 Bearbeitung und Umgang mit den Sorgen um die Gesundheit der Mutter. 4 Mit dem Betreuer: Erarbeitung von alternativen Strategien zum Umgang mit Wutausbrüchen und Regelübertretungen von J. 4 Sowohl der Patientin, als auch dem Betreuer sollen Informationen zu Entwicklungsverläufen und Therapieansätzen von Bulimie und posttraumatischer Belastungsstörung vermittelt werden, um einer vollen Entwicklung dieser Störungen rechtzeitig vorzubeugen. Prognose. Im Rahmen der absolvierten probatorischen Sitzungen gelang es, eine tragfähige therapeutische Beziehung zur Patientin anzubahnen. In Anbetracht dessen ist die Prognose insgesamt bei vorhandener Änderungsmotivation und kooperativem Betreuer der Patientin sowie der die Therapie befürwortenden Mutter, als ausreichend günstig zu betrachten.
Hinweise zur Erstellung eines Berichts zum Antrag an den Kostenträger Allgemeine Hinweise
57
Der Bericht zum Antrag an den Kostenträger sollte den vorgegebenen Umfang nicht überschreiten. Ein Bericht zum Antrag auf Kurzzeittherapie (25 Therapiestunden) sollte 1,5 Seiten umfassen (7 Beispiel). Ein Bericht zum Antrag auf Langzeittherapie (45 Therapiestunden) wie auch ein Umwandlungsantrag von Kurzzeit- auf Langzeittherapie sollte drei Schreibmaschinenseiten umfassen. Auch der Bericht zum Antrag auf Kurzzeittherapie enthält in kondensierter Form die Informationen eines Antrags auf Langzeittherapie (. Tab. 57.1). Insbesondere gibt der Psychotherapeut weniger Informationen zur biographischen Anamnese (7 Beispiel Punkt 2), fokussiert beim psychischen Befund (7 Beispiel Punkt 3) auf den psychopathologischen Befund und stellt die »Verhaltensanalyse« (7 Beispiel Punkt 5) knapper dar, üblicherweise ohne
SORKC-Schema, ohne Funktionsanalyse, ohne Beschreibung der Verhaltensaktiva, ohne Beschreibung der Selbsthilfemöglichkeiten und ohne Beschreibung aufrechterhaltender pathogener Interaktionsprozesse mit der Umwelt.
Spezifische Hinweise zu den einzelnen Berichtsabschnitten bei Kindern und Jugendlichen Nutzen Sie beim Gliederungspunkt 1 »Angaben zur spontan berichteten und erfragten Symptomatik« möglichst eigene Aussagen des Patienten und/oder einer Bezugsperson (z. B. Eltern) zur aktuellen Problematik in wörtlicher Rede (z. B. Patient über seine Eltern: »Die nerven mich die ganze Zeit und regen sich ständig über alles auf«). Stellen Sie dar, ob der Patient Wünsche und Zielvorstellungen für die Therapie hat und was die Bezugspersonen (Eltern) als Ziel erwarten. Verwenden Sie den Konjunktiv für den Rückblick auf die Lebensgeschichte beim Gliederungspunkt 2 »Lebensgeschichtliche Entwicklung des Patienten und Krankheits-
1021 57.2 · Zweck, Erstellung und Aufbau von Fallberichten
anamnese«, soweit die Inhalte allein auf den Aussagen des Patienten oder seiner Bezugsperson beruhen (z. B.: »Die Mutter gibt an, P. hätte sich schon in der ersten Klasse nie länger als ein paar Minuten konzentrieren können«). Biographische Informationen mit objektivem Charakter stehen im Indikativ (z. B. »Er besucht zur Zeit die 3. Klasse der Grundschule«). Einen gewissen Sonderstatus innerhalb des Berichts eines Psychologischen Psychotherapeuten zum Antrag an den Kostenträger hat der Gliederungspunkt 4 »Somatischer Befund«. Er wird bei Psychologischen Psychotherapeuten oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten durch den Konsiliarbericht eines konsiliarisch tätigen Arztes abgedeckt. Falls es sich beim Patienten um ein Kind handelt, soll der Konsiliarbericht von einem Allgemeinarzt, Kinderarzt oder Kinder- und Jugendpsychiater verfasst werden. Falls notwendig, kann der Psychotherapeut den Konsiliarbericht kommentieren. Um dem Gliederungspunkt 5 »Verhaltensanalyse« (7 Kap. I/21) mehr Struktur zu geben, fügen Sie gängige Abkürzungen (. Tab. 57.2) in den Text ein – z. B.: »Wegen der regelmäßigen Regelübertretungen (z. B. Hören von sehr lauter Musik) muss sich der Vater immer wieder um A. kümmern/mit A. schimpfen, was zur kurzfristigen Konsequenz hat, dass A. weniger Angst hat, der Vater könne die Familie verlassen (C-/), aber langfristig dazu führt, dass früher als angenehm erlebte gemeinsame Familienaktivitäten nicht mehr initiiert werden (C+/)«. Es gibt verschiedene Vorschläge, wie genau eine Verhaltensanalyse beschrieben werden soll. So gibt es z. B. unterschiedliche Empfehlungen, ob zuerst die Kontingenz und dann die Konsequenz oder umgekehrt zu nennen sind. Unter Gliederungspunkt 6 »Diagnose zum Zeitpunkt der Antragstellung« ist die Diagnose nach der aktuellen Version der »International Classification of Diseases« (ICD; zzt. ICD-10) zu verschlüsseln. Ggf. kann das »Multiaxiale Klassifikationsschema für psychiatrische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD-10 der WHO« (Remschmidt 2006) herangezogen werden. Dies gliedert die Diagnose anhand der Achsen: 1. klinisch-psychiatrisches Syndrom, 2. umschriebene Entwicklungsstörungen, 3. Intelligenzniveau, 4. körperliche Symptomatik,
5. assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände, 6. Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung. Beachten Sie, dass es in der ambulanten Versorgung obligatorisch ist, die Zusatzkennzeichen für die Diagnosesicherheit (A, G, V, Z, . Tab. 57.3) anzugeben (z. B.: »Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10: F90.0G)«). Beziehen Sie sich unter Gliederungspunkt 7 »Therapieziele und Prognose« jeweils auf Elemente der Verhal. Tab. 57.2. Gängige Abkürzungen bei der Verhaltensanalyse Abkürzung
Bedeutung
S
Stimulus, Situation
SD
Diskriminativer Stimulus, ist mit Verstärkung assoziiert, ruft also Verhalten hervor oder fördert es
SΔ (delta)
Stimulus, der Ausbleiben der Verstärkung signalisiert und mit Extinktion assoziiert ist, also Verhalten verringert oder verhindert
CS
Stimulus, dessen Reaktion konditioniert/gelernt ist
UCS
Stimulus, dessen Reaktion nicht konditioniert und rein biologisch determiniert ist
O
Organismus (individuelle Reaktionsbereitschaft)
R
Reaktion
Remot
Emotionale Reaktion
Rphys
Physiologische Reaktion
Rkogn
Kognitive Reaktion
Rverh
Verhaltensreaktion (manchmal auch »Rmotor« für motorische Reaktion)
K
Kontingenz (Zusammenhang zwischen Reaktion und Konsequenz)
C
Konsequenz
Ce
Externe Konsequenz (z. B. Umwelt, andere Personen)
Ci
Interne Konsequenz (z. B. Selbstbewertung, physiologische Reaktionen)
C+
Positiver Stimulus/positive Verstärkung
C-
Negativer Stimulus/Bestrafung (Typ 1)
C+/ (durchgestrichen)
Wegfall positiver Stimulus/Bestrafung (Typ 2 = indirekte Bestrafung)/Löschung
C-/ (durchgestrichen)
Wegfall negativer Stimulus/negative Verstärkung
. Tab. 57.3. Liste der Zusatzkennzeichen für die Diagnosesicherheit Zusatzkennzeichen
Bedeutung
A
Ausgeschlossene Diagnose
Kommentar
G
Gesicherte Diagnose
Auch anzugeben, wenn A, V oder Z nicht zutreffen
V
Verdachtsdiagnose
Ggf. auszuschließende Diagnose
Z
(Symptomloser) Zustand nach der betreffenden Diagnose
Voraussetzung: Die Störung ist zzt. nicht vorhanden
Kommentar: Zusatzkennzeichen der ICD-10 Diagnosen sind in Deutschland seit Januar 2004 (ICD-10-GM 2004) für die vertragsärztliche ambulante Versorgung verpflichtend; nicht in der stationären Versorgung zu verwenden.
57
1022
Kapitel 57 · Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen
tensgleichung (SORKC-Schema): Falls Sie etwa unter Rverh dysfunktionales Verhalten, z. B. »Der Vater schreit die Tochter an«, beschrieben haben, führen Sie unter Punkt 7 aus: »Ziel 1 zu Rverh: Aufbau alternativer und konstruktiver Reaktionsmöglichkeiten des Vaters«. Beziehen Sie bei der Abschätzung der Prognose die Motivierbarkeit, die Krankheitseinsicht und die Umstellungsfähigkeit des Patienten und der zentralen Bezugspersonen, wie auch die Unterstützung des Umfeldes und die Mitarbeit der Bezugspersonen mit ein. Beziehen Sie sich unter Gliederungspunkt 8 »Behandlungsplan« bei den einzelnen Behandlungsverfahren jeweils auf ein Ziel, z. B. »zu Ziel 1: Kognitive Gesprächsführung mit sokratischem Dialog zur Wahrnehmung der Dysfunktionalität des bisherigen Verhaltens; Suche alternativer Verhaltensstrategien und Erprobung im Rollenspiel«. Bei Psychotherapien von Kindern und Jugendlichen können pro Antrags- bzw. Verlängerungsschritt bis zu 25% des Stundenkontingents zusätzlich zum Zweck der begleitenden Behandlung der Bezugspersonen beantragt werden (1:4-Regelung) (. Tab. 57.4). Falls der Therapeut den Eindruck hat, dass die begleitende Behandlung von Bezugspersonen in einem größeren Verhältnis als 1:4 nötig ist (mehr als durchschnittlich 1 Stunde begleitende Behandlung der Bezugsperson pro 4 Stunden Therapie mit Patientin), kann er dies beantragen, muss dies aber begründen. Der Therapeut hat dann die Freiheit, Stunden des Patienten für die Sitzungen mit den Bezugspersonen zu verwenden unter Beachtung der möglichen Höchstzahl. Die Gesamtzahl des
Therapiestundenkontingents erhöht sich dadurch jedoch nicht. Je jünger der Patient ist, desto häufiger wird die Einbeziehung von Bezugspersonen nötig sein. Manchmal sind neben der Psychotherapie andere Therapieverfahren (außerhalb der Psychotherapie-Richtlinien) zusätzlich nötig, wie z. B. Ergotherapie, Legasthenietraining, Psychomotorik, Logopädie. Sie sollen im Antrag erwähnt werden, können aber im Rahmen der Psychotherapie-Richtlinien nicht beantragt und nicht befürwortet werden. Der Gliederungspunkt 9 »Begründung einer Umwandlung von Kurzzeittherapie in Langzeittherapie« ist nur relevant, falls es sich um einen Umwandlungsantrag handelt. Antworten auf die aufgeführten Fragen sind in diesem Fall im Bericht den anderen Punkten voranzustellen. Hinweise zu Berichten bei Fortführungsanträgen finden sich in . Tab. 57.5.
57.2.2 Fallberichte im Rahmen der Aus- oder
Weiterbildung zum Psychotherapeuten Nach dem deutschen Psychotherapeutengesetz haben angehende Psychotherapeuten die Aufgabe, während der Ausoder Weiterbildung sechs ausführliche Fallberichte zu erstellen. Auch in der Schweiz und Österreich werden Fallberichte im Rahmen der Aus- und Weiterbildung als wichtiges Mittel zum Erwerb und zur Prüfung von verhaltenstherapeutischer Kompetenz gesehen (Laireiter u. Hampel 2003).
. Tab. 57.4. Beantragbare Stundenkontingente bei Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen in Deutschlanda Stundenkontingent Patient
Stundenkontingent Bezugspersonb
Gesamtkontingent pro Phase
Biographische Anamnese
01
–
01
Probatorische Sitzungen
05
–
05
Therapie-/Antragsphase Krankenkassenregelung
Kurzzeittherapie
25
06
31
Umwandlung in Langzeittherapie
20
05
25
Langzeittherapie
45
11
56
1. Fortführungsantrag
15
04
19
2. Fortführungsantrag
20
05
25
Beihilferegelungc Biographische Anamnese
01
–
01
Probatorische Sitzungen
05
–
05
Kurzzeittherapie
10
03
13
Langzeittherapie
40
10
50
Fortführungsantrag
40
10
50
a b
57
c
Informationen zur beantragbaren Stundenkontingenten in der Schweiz und in Österreich finden sich unter 7 Abschn. 57.2.1. Anmerkung: Soll bei einer begleitenden Behandlung der Bezugspersonen vom Regelverhältnis 1:4 (im Durchschnitt 1 Stunde begleitende Behandlung der Bezugsperson pro 4 Stunden Therapie mit Patient) abgewichen werden, muss dies begründet werden. Beihilfe ist eine finanzielle Unterstützung, die deutschen Beamten, Soldaten und Berufsrichtern sowie deren Ehepartnern und Kindern u. a. im Krankheitsfall gewährt wird. Erstattet werden in der Regel 50–80% der beihilfefähigen Aufwendungen. Der verbleibende Kostenanteil wird durch Mitgliedschaft in einer privaten oder gesetzlichen Krankenkasse gedeckt.
1023 57.2 · Zweck, Erstellung und Aufbau von Fallberichten
. Tab. 57.5. Inhalte des Berichts zum Fortführungsantrag Nummer
Abschnittsbezeichnung
Kommentar
1.
Wichtige Ergänzungen zu den Angaben in den Abschnitten 1. bis 3. und 5. des Erstberichtes
Lebensgeschichtliche Entwicklung und Krankheitsanamnese, psychischer Befund und Bericht der Angehörigen des Patienten, Befundberichte aus ambulanten oder stationären Behandlungen, ggf. testpsychologische Befunde. Ergänzungen zur Diagnose bzw. Differenzialdiagnose
2.
Zusammenfassung des bisherigen Therapieverlaufs
Ergänzungen oder Veränderungen der Verhaltensanalyse, angewandte Methoden, Angaben über die bisher erreichte Veränderung der Symptomatik, ggf. neu hinzugetretene Symptomatik, Mitarbeit des Patienten und der Bezugspersonen
3.
Beschreibung der Therapieziele für den jetzt beantragten Behandlungsabschnitt und ggf. Änderung des Therapieplans
Prognose nach dem bisherigen Behandlungsverlauf und Begründung der noch wahrscheinlich notwendigen Therapiedauer mit Bezug auf die Veränderungsmöglichkeiten der Verhaltensstörungen des Patienten
Der Fortführungsantrag sollte 1,5 Seiten umfassen.
. Tab. 57.6. Regelungen zu Fallberichten. (Akademie für Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter 2008) Möglichst zu dokumentierende Störungen
Techniken, die innerhalb des vorgeschriebenen Störungsspektrums zum Einsatz kommen sollen
4 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung 4 Ausscheidungsstörungen 4 Angststörungen 4 Affektive Störung 4 Oppositionelles Trotzverhalten/Störung des Sozialverhaltens 4 Partnerschaftsstörung 4 Zwei Fälle nach freier Wahl
4 Selbstbeobachtungsmethoden 4 Kontingenzmanagement (»token economies«, Kontingenzverträge, »response-cost«, Time-out, Löschung) 4 Selbstsicherheitstraining 4 Training mit aggressiven Kindern 4 Kognitives Aufmerksamkeitstraining 4 Konfrontationsverfahren (Exposition in vivo, systematische Desensibilisierung) 4 Verdeckte Konditionierungsmethoden 4 Methoden der kognitiven Umstrukturierung 4 Entspannungsmethoden 4 Arbeit mit Mediatoren
Es wird erwartet, dass in Abhängigkeit der zu behandelnden Störung die angemessenen Verfahren angewandt werden.
Zweck von Fallberichten im Rahmen der Ausoder Weiterbildung zum Psychotherapeuten
Aufbau eines Fallberichts im Rahmen der Ausoder Weiterbildung zum Psychotherapeuten
In der Supervision helfen die Fallberichte dem Supervisor, die bisherigen Prozesse der Psychotherapie zu verstehen und dienen als Grundlage für die zu besprechenden Themen. Die Fallberichte dokumentieren ferner die in der Ausund Weiterbildung erbrachten Leistungen.
Für die Fallberichte gibt es unterschiedliche Vorgaben. In der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Psychologische Psychotherapeuten (PsychTh-AP, § 4, Abs 6) in Deutschland sind die Rahmenanforderungen definiert.
Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Psychologische Psychotherapeuten (PsychTh-AP, § 17, Abs 2,3) stellt folgende Anforderungen an die Dokumentation der »eigenen Fälle« während der praktischen Ausbildung: Während der praktischen Ausbildung hat der Ausbildungsteilnehmer mindestens sechs anonymisierte schriftliche Falldarstellungen über eigene Patientenbehandlungen,
Die Vorgaben in Österreich und der Schweiz weichen zum Teil davon ab, z. B. verlangt die Akademie für Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter in der Schweiz, dass die Fallberichte die therapeutische Arbeit mit Patienten mit bestimmten Störungsbildern und unter Einbeziehung bestimmter Behandlungstechniken dokumentieren (. Tab. 57.6).
die unter Supervision stattgefunden haben, zu erstellen. Die Falldarstellungen haben die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berücksichtigen, die Diagnostik, Indikationsstellung und eine Evaluation der Therapieergebnisse mit einzuschließen, ein ätiologisch orientiertes Krankheitsverständnis nachzuweisen sowie den Behandlungsverlauf und die Behandlungstechnik in Verbindung mit der Theorie darzustellen. Sie sind von der Ausbildungsstätte zu beurteilen.
Nachfolgend findet sich ein Beispiel für einen Fallbericht der Therapie eines 14-jähren Jungen mit der Diagnose »hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens« (ICD-10: F90.1G). Der Fallbericht ist nach dem Leitfaden eines universitären Ausbildungsinstituts für die Falldarstellung nach § 4 Abs 6 PsychTh-APrV gegliedert (Krampen 2008; Meinlschmidt u. Tegethoff 2009).
57
1024
Kapitel 57 · Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen
Fallbeispiel Fallbericht2 Deckblatt:
Informationen zum Aus-/Weiterbildungsteilnehmer und zum Ausbildungsinstitut: Name und Anschrift des Aus-/Weiterbildungsteilnehmers:
P. Therapeut Im Grund 7 D-45899 Beckhausen
Name des Ausbildungsinstituts:
Institut für VT bei Kindern und Jugendlichen
Informationen zum Fall: Angaben zum Patienten:
14 jähriger Junge (O. L.)
Angaben zu Bezugspersonen:
Mutter (Frau L.), 43 Jahre; Erziehungsbeistand (Frau S.); 31 Jahre
Diagnose(n):
Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1G)
Behandlungszeitraum:
04.11.2006 bis 28.08.2007
Anzahl der Therapiestunden:
30 Stunden
Anzahl der Supervisionsstunden:
8 Stunden
Die Therapie wurde selbstständig durchgeführt. Max Mustermann, Dipl.-Psych., Supervisor (Name und Unterschrift des Supervisors)
0. Angaben zum Behandlungsrahmen Die vom Leistungsträger genehmigte Langzeitverhaltenstherapie wurde in einer universitären Forschungsambulanz ambulant durchgeführt. Die Therapie kam zustande, nachdem sich der Erziehungsbeistand Frau S. direkt an die Einrichtung wendete. Die Therapie erfolgte vom 04.11.2006 bis zum 28.08.2007 in 30 Sitzungen, die normalerweise in einwöchigem Abstand durchgeführt wurden, unter Einbezug der Eltern (überwiegend der Mutter) und Frau S.
1. Angaben zur spontan berichteten und erfragten Symptomatik
57
Der Patient O. kommt in Begleitung seines Erziehungsbeistandes Frau S. zum Erstgespräch. Frau S. hatte um die Therapiemöglichkeit gebeten. Laut Frau S. sei O. bis Mai dieses Jahres über ein Jahr hinweg für mehrere Nachmittage pro Woche in der Gruppe eines Jugendtreffs gewesen, wo sie als Betreuerin gearbeitet habe. O. habe die Gruppe dann vor den Sommerferien verlassen. Seitdem sei er jeden Nachmittag zu Hause. Frau S. ist seither Erziehungsbeistand. Laut Frau S. gebe es in letzter Zeit eine Vielzahl von Problemen mit O.: Er könne sich nicht an Grenzen halten und brauche viel Struktur. Es sei ein Gerichtsverfahren wegen mutmaßlichen Diebstahls anhän6
gig. Außerdem habe O. in der Nachbarschaft geklaut (Geld und ein Computerspiel). Des Weiteren habe O. in seinem Wohnort Hauswände beschmiert. Daneben gebe es Probleme in der Sonderschule, die O. besucht (Konflikte mit Lehrern). Früher sei O. auch manchmal körperlich übergriffig geworden, was sich aber seit einem Antigewalttraining deutlich gebessert habe. Außerdem gebe es Konflikte zwischen O. und seinem älteren Bruder. Der Vater halte sich aus vielen Problemen heraus. Die Mutter trage die Hauptlast und fühle sich vollständig überfordert. Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konflikte und auch aufgrund der durch O.s Alter absehbaren rechtlichen Konsequenzen seines Verhaltens, hält Frau S. eine Psychotherapie für O. für dringend erforderlich. Die Mutter sei sehr froh, dass sich die Therapiemöglichkeit ergeben hat. O. berichtet: »Ich habe in der letzten Zeit einigen Mist gemacht und jetzt steht Ärger ins Haus.« Außerdem gebe es heftige Konflikte mit einem Lehrer, der ihn provoziere. Mit den anderen Lehrern sei das besser. Er streite sich oft mit seinem Bruder, der auf ihm »herumtrample«.
2
Die Initialen und andere persönliche Daten des Fallbeispiels wurden geändert oder modifiziert und einige Detailangaben weggelassen.
1025 57.2 · Zweck, Erstellung und Aufbau von Fallberichten
2. Lebensgeschichtliche Entwicklung und Krankheitsanamnese Der Patient wohnt zu Hause bei seinen Eltern gemeinsam mit seinem Bruder (17 Jahre alt, besucht Gymnasium). Die Mutter arbeitete zuletzt als Kassiererin, ist aber seit Mai 2004 wegen der Probleme mit O. nicht mehr tätig. Sie trage die Hauptlast der Erziehung und sei »am Ende«. Der Vater arbeitet als Kfz-Mechaniker in einer Werkstatt. Er halte sich eher aus der Erziehung heraus. Bereits im Kleinkindalter (mit dem Eintritt in den Kindergarten) seien bei O. Verhaltensprobleme aufgetreten. Von seinem (O.s) Eintritt in den Kindergarten an sei die Mutter für drei Jahre in eine Erziehungsberatungsstelle gegangen. Im Rahmen einer körperlichen Untersuchung seien damals keine Auffälligkeiten im EEG von O. festgestellt worden. Außerdem sei eine ergotherapeutische Behandlung eingeleitet worden, die jedoch nur eine geringfügige Änderung in O.s Verhalten bewirkt habe. Sehr bald sei eine Lese-Rechtschreib-Schwäche aufgefallen. Von Beginn seiner Schulzeit an sei O. ein sehr langsamer Schüler gewesen. Die Hausaufgabensituation sei immer schwierig verlaufen. Schon nach kurzer Zeit habe er sich nicht mehr konzentrieren können und habe nie still gesessen. Die Probleme beim Lesen und Schreiben hätten sich durch Unterricht (2-mal wöchentlich) in einem Lehrinstitut für Orthographie und Schreibtechnik etwas gebessert. Mit 10 Jahren sei die Umschulung von der Grundschule in die erweiterte Realschule erfolgt. Im Februar 2005 sei bei O. eine Störung schulischer Fertigkeiten sowie in der Folge eine Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert worden. Dies geschah im Rahmen einer teilstationären Psychotherapie für Kinder und Jugendliche vom 16.01. bis 28.03.2005. Im Anschluss an diese Behandlung wurde die Umschulung auf eine Förderschule für Lernbehinderte veranlasst. Im März 2006 wurde O. auf Veranlassung seiner Mutter bei einem Kinder- und Jugendpsychiater vorgestellt, der aufgrund von Fragebogenverfahren, testpsychologischer Untersuchung und Beobachterbeurteilung folgende Verdachtsdiagnosen stellte: intellektuelle Minderbegabung vom Grad der Lernbehinderung; Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit nur leichter Beeinträchtigung. Es wurde damals kein aktueller Interventionsbedarf gesehen. O. berichtet, dass er fast jeden Nachmittag mit Freunden verbringe. Ein Hobby, das ihm viel Spaß mache, seien Modellflugzeuge. Leider habe er nur wenig Geld, um sich die Modelle zu leisten. Weiter gibt O. an, dass er sich von seiner Mutter gegenüber seinem Bruder benachteiligt fühle. Diese halten immer zusammen und immer sei er schuld, wenn es irgendwelche Probleme gäbe. Außerdem berichtet O., dass ihm seine Mutter manchmal den Besuch des Jugendclubs am Samstagabend verbiete. Auf die Fra6
ge, was er, falls er später einmal eine Familie habe, anders als seine Eltern machen würde, gibt er unter anderem an, dass er mehr mit seinen Kindern unternehmen würde, mehr wegfahren würde.
3. Psychischer Befund Aus vorherigen Behandlungen liegt ausreichend Intelligenzdiagnostik (HAWIK III) vor, die deshalb im Rahmen der aktuellen Therapie nicht wiederholt wurde. O. weist eine leicht unterdurchschnittliche Intelligenz auf: 4 Gesamt-IQ: 84 4 Verbal-IQ: 89 4 Handlungs-IQ: 82 Im Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (CBCL 4–18) (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998) zeigen sich folgende Werte: 4 CBCL Mutter: Gesamt-T-Wert = 71, INT-T-Wert = 71, EXTT-Wert = 74, Hauptproblemschwerpunkte: »dissoziales Verhalten« (T-Wert = 73), »Aufmerksamkeitsprobleme« (T-Wert = 71) 4 CBCL Erziehungsbeistand: Gesamt-T-Wert = 72, INT-TWert = 70, EXT-T-Wert = 73, Hauptproblemschwerpunkte: »dissoziales Verhalten« (T-Wert = 72), »Aufmerksamkeitsprobleme« (T-Wert = 74) Im Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF) (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1993) zeigen sich folgende Werte: 4 TRF Klassenlehrer: Gesamt-T-Wert = 70, INT-T-Wert = 72, EXT-T-Wert = 68, Hauptproblemschwerpunkt: »Aufmerksamkeitsprobleme« (T = 74), Freitext: aggressives Verhalten Der Patient macht im Erstgespräch einen eher zurückhaltenden Eindruck. Er ist vom äußeren Erscheinungsbild gepflegt. Der Patient ist wach und zu allen Qualitäten voll orientiert. Auf Fragen antwortet er, manchmal wird er jedoch erst nach nochmaliger Nachfrage konkret. Das Verhalten in der Gesprächssituation deutet auf eine mäßige intellektuelle Leistungsfähigkeit hin. In einigen Gesprächssituationen wird eine emotionale Schwingungsfähigkeit deutlich. Es liegen keine Hinweise auf einen Alkohol- oder Medikamentenabusus vor. O. berichtet, dass er hin- und wieder Zigaretten raucht. Beim Ausfüllen von Fragebögen liest O. die Anweisungen nur ungenau und fragt nach ca. 10 min, ob er den Bogen weiter zu Hause ausfüllen könne. Im Gespräch mit der Mutter erscheint diese verzweifelt wegen der momentanen Probleme mit O. zu Hause, in der Schule und wegen der Diebstähle und Probleme mit der Polizei. Sie beschreibt ihren anderen Sohn als »das komplette Gegenteil« von O. Sie ist nur schwer in der Lage, auf
57
1026
Kapitel 57 · Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen
O. einzugehen, der oftmals Fragen seiner Mutter an ihn völlig ignoriert.
4. Somatischer Befund In mehreren Voruntersuchungen wurden keine Auffälligkeiten im EEG oder in Laborparametern festgestellt. Im Rahmen der konsiliarischen Abklärung wurden keine Besonderheiten festgestellt.
5. Verhaltensanalyse
57
Aus der Anamnese und den Vorbefunden ergeben sich deutliche Hinweise auf Verhaltensauffälligkeiten, die bereits im Vorschulalter begonnen haben. Während der Bruder von O. in der Schule und in sozialen Kontakten erfolgreich ist, gerät O. zunehmend in die Rolle des »Versagers«. Unterstützt wird die Entwicklung durch die Vergleiche, die die Eltern zwischen O. und seinem Bruder anstellen. Nach Wechsel von O. in die Sonderschule spitzt sich diese Situation zu. O. versucht nun, durch sein antisoziales Verhalten Aufmerksamkeit von seinen Eltern zu erhalten, was ihm auch gelingt. Daneben kommt es, durch sein Aufmerksamkeitsdefizit bedingt, zunehmend auch zu Problemen in der Schule, im Kontakt mit einem Lehrer. Dabei verstärkt das Aufmerksamkeitsdefizit vermutlich auch die Schwierigkeiten von O., die Konsequenzen seines devianten Verhaltens vorherzusehen. Als ein zentrales Motiv für seine Diebstähle wird der Wunsch nach materiellen Möglichkeiten und der damit verbundenen sozialen Anerkennung bzw. dem gesellschaftlichen Status deutlich. Ätiologisch von Relevanz ist womöglich auch ein Mangel von Anregung und Förderung O.s zu Aktivitäten vonseiten der Eltern, so dass O. wenig Alternativen zur Erfüllung seiner Wünsche nach Aufmerksamkeit, Erfolgserlebnissen und sozialer Anerkennung zur Verfügung stehen. Durch die Konflikte entwickeln sich typische Störungen der Interaktionen zwischen O. und seinen Bezugspersonen (Döpfner 2000), die auch für die Aufrechterhaltung der Symptomatik von Bedeutung sind. Im Vordergrund steht hierbei die mangelnde Aufmerksamkeit der Eltern für angemessene prosoziale Verhaltensansätze von O. Außerdem spielen bei den antisozialen Verhaltensweisen von O. vermutlich die Störungen in der sozial-kognitiven Problemlösefähigkeit und die Aufmerksamkeitsproblematik eine wichtige, aufrechterhaltende Rolle. Es wird deutlich, dass O. in sozialen Situationen fehlerhafte Schlüsse zieht und mögliche Handlungskonsequenzen, vor allem langfristige, nicht beachtet (Döpfner 2000). Mikroanalyse von antisozialem Verhalten (Diebstahl eines Computerspiels): S: Ein Freund von O. fordert diesen auf, ein Computerspiel zu klauen, welches er dann O. abkaufen 6
würde und deshalb O. eine Menge Geld einbringen würde. O: O. zeigt das stabile Muster, nicht an die längerfristigen Konsequenzen seines Verhaltens zu denken. Rkogn: »Sobald ich das Computerspiel habe, kann ich es gut zu Geld machen«, »Mit dem Geld könnte ich mir was Schönes leisten«, »Geld zu haben bedeutet, etwas geschafft zu haben«. Remot: Starker Impuls, das Computerspiel zu klauen. Rverh: O. klaut das Computerspiel, der Verdacht fällt aber sehr schnell auf ihn, da niemand anderes anwesend war, dem der Diebstahl zugetraut wird. O. gesteht nach längerem Drängen den Diebstahl ein und gibt das Computerspiel zurück. K: Intermittierend C+(kurzfrist.): O. fühlt sich kurzfristig erfolgreich. Er erhält Aufmerksamkeit. C-(langfrist.): Er erreicht nicht sein Ziel (Geld und damit Handlungsmöglichkeiten zu haben). Er kommt mit dem Gesetz in Konflikt. Die Eltern machen sich Sorgen und die Atmosphäre zu Hause stellt sich als zunehmend angespannt dar. Die Eltern vertrauen O. immer weniger. Verhaltensaktiva: Es wird deutlich, dass bei O. ausgeprägtes Wissen um soziale Normen und sozial erwünschtes Verhalten vorhanden sind. Er ist gut in der Lage, sich verbal auszudrücken und sein Verhalten darzustellen.
6. Diagnose und Differenzialdiagnose Anhand des Kinder-DIPS mit und unter Berücksichtigung weiterer Informationen ergibt sich folgende multiaxiale Diagnose nach ICD-10: Achse-I (klinisch-psychiatrisches Syndrom): 4 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1G) Achse-II (umschriebene Entwicklungsstörungen): 4 keine Diagnose Achse-III (Intelligenzniveau): 4 (grenzwertig) niedrige Intelligenz (Testbefund) Achse-IV (relevante körperliche Symptomatik): 4 keine Diagnose Achse-V (aktuelle assoziierte abnorme psychosoziale Umstände): 4 abnorme Erziehungsbedingungen Achse-VI (globales psychosoziales Funktionsniveau): 4 4 (ernsthafte soziale Beeinträchtigung in mindestens ein oder zwei Bereichen)
1027 57.2 · Zweck, Erstellung und Aufbau von Fallberichten
Es werden nach ICD-10 sowohl Kriterien für eine Störung des Sozialverhaltens (Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen, leichte Ausprägung) als auch für eine hyperkinetische Störung erfüllt. Da die Verknüpfungsregeln im DSM-IV hier deutlich von denen des ICD-10 abweichen, wird auf eine Diagnose nach DSMIV verzichtet.
vierten probatorischen Sitzungen gelang es, eine tragfähige therapeutische Beziehung zum Patienten anzubahnen. In Anbetracht dessen ist die Prognose bei vorhandener Änderungsmotivation des Patienten und kooperativer Mutter insgesamt als ausreichend günstig zu betrachten.
8. Behandlungsplan Differenzialdiagnostische Überlegungen: 4 Es finden sich keine Symptome, die die Diagnose einer emotionalen Störung rechtfertigen würden.
7. Therapieziele und Prognose Nach möglichen Zielen für die Psychotherapie gefragt, gibt O. an, »weniger Ärger zu bekommen« (in der Schule und wegen Gesetzesübertretungen) und sich besser gegen seinen Bruder durchsetzen zu können. Die Mutter gibt folgende Ziele an: O. soll keine weiteren Probleme mit dem Gesetz bekommen. Die Konflikte zu Hause (z. B. »Aufstehsituation«, Hausaufgaben) sollen reduziert werden. Die Konflikte zwischen O. und seinem Bruder sollen reduziert werden. O. soll weniger Konflikte in der Schule haben (sie befürchtet sonst einen Schulverweis, der bereits angedroht wurde). Kurzfristige Therapieziele sind: 4 mit O.: Verbesserung der Aufmerksamkeit; 4 mit O.: Stärkung der Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen, um Konsequenzen eigener Handlungen abschätzen zu können; 4 Stärkung der Fähigkeit der Eltern zu antizipieren, welche Gefühle ihr Verhalten bei O. auslöst; 4 mit den Eltern: Modifikation des Vergleichsverhaltens, das die Eltern zwischen O. und seinem Bruder zeigen. Mittelfristige Therapieziele sind: 4 mit O.: Erarbeitung sozial akzeptabler Wege, um einen Teil seiner Wünsche und Ziele erreichen zu können; 4 Verbesserung interpersonaler Kompetenzen von O.; 4 mit den Eltern: Erarbeitung von Strategien für beide zum Umgang mit deviantem Verhalten von O.; 4 mit den Eltern: Verbesserung des Interaktionsverhaltens gegenüber O. Langfristige Therapieziele sind: 4 mit O.: Aufbau einer beruflichen Perspektive; 4 mit O.: Stärkung seines Verantwortungsgefühls für seine Handlungen.
Prognose: Der Patient konnte in der Vergangenheit eine stabile therapeutische Beziehung im Rahmen seines stationären Aufenthalts aufbauen. Auch im Rahmen der absol6
Wie empfohlen (Döpfner 2000; Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u. a. 2007) sollen zunächst Interventionen zur Behandlung der Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätssymptomatik erfolgen, da diese als die basale Störung betrachtet wird, die zur Aufrechterhaltung aggressiver oder antisozialer Auffälligkeiten beiträgt. Im Rahmen der Behandlung sollen (bezogen auf die unter Punkt 7. dargestellten Ziele) zunächst 4 Selbstinstruktionstechniken zur Verbesserung der Aufmerksamkeit vermittelt werden (zu Ziel 1.). (Insbesondere bei diesem, aber auch bei einigen anderen Behandlungsbausteinen sollen Bausteine des Programms »Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern« (Lauth u. Schlottke 2002), z. B. das Strategietraining, zum Einsatz kommen). 4 Im Rollenspiel soll O. lernen, sich in andere hineinzuversetzen, alternative Verhaltensstrategien aufbauen und mehr Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen (Punkt 2., 6., 10.). 4 Im Rahmen von Elterngesprächen sollen mit den Eltern alternative Möglichkeiten erarbeitet werden, wie diese unabhängig von O.s Bruder Botschaften vermitteln können und O. ohne Vergleiche mit seinem Bruder einschätzen und bewerten können. Dabei sollen auch die Konsequenzen ihres bisherigen Verhaltens für O. besprochen werden (Punkt 3. und 4.). 4 Außerdem sollen den Eltern im Rahmen eines Trainingsblocks Möglichkeiten zum konsequenten Umgang mit deviantem Verhalten von O. vermittelt werden. Hierbei wird besonders auf die Einbeziehung beider Elternteile in die Erziehungsarbeit fokussiert. Insgesamt soll das Interaktionsverhalten zwischen den Eltern und O. verbessert, z. B. positive gemeinsame Aktivitäten initiiert werden (Punkt 7. und 8.). 4 Im Gespräch und im Rollenspiel sollen mit O. Alternativen erarbeitet werden, wie er einen Teil seiner Wünsche und Ziele verwirklichen und erreichen kann. Dies soll im Anschluss auch die Erarbeitung beruflicher Alternativen beinhalten (Punkt 5. und 9.)
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Kapitel 57 · Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen
Am Anfang der Behandlung sollen O., Frau S. und den Eltern Informationen zur Störung vermittelt werden.
9. Behandlungsverlauf
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Wegen der Schwere der Beeinträchtigungen des Patienten und da im Rahmen der probatorischen Sitzungen bereits eine tragfähige Beziehung angebahnt werden konnte, wurde direkt eine Langzeittherapie mit 45 Stunden und 11 Stunden für Elterngespräche beantragt. Aufgrund der unter Punkt 7. und 8. dargestellten Notwendigkeit für intensive Elterngespräche wurde vom Regelverhältnis 1:4 zugunsten von Elterngesprächen abgewichen. Es fanden neben fünf probatorischen Sitzungen und einer Sitzung zur biographischen Anamnese 24 weitere Termine mit dem Patienten, dem Erziehungsbeistand und den Eltern (überwiegend der Mutter) im Rahmen der genehmigten Langzeittherapie statt. Im Rahmen der probatorischen Sitzungen konnte eine tragfähige therapeutische Beziehung aufgebaut werden und Informationen für den Antrag auf Langzeittherapie zusammengetragen werden. Außerdem wurde das weitere therapeutische Vorgehen geplant. 7. bis 9. Sitzung: Den Eltern, dem Erziehungsbeistand und O. wurden Informationen zum Störungsbild anhand der konkreten Situation vermittelt. Durch Übungen zur Perspektivübernahme wurde das Verständnis für die Situation aller Beteiligten gestärkt. 10. bis 21. Sitzung: Basierend auf dem Training von Lauth u. Schlottke wurden mit O. Strategien zur Verbesserung der Aufmerksamkeitsproblematik (Selbstinstruktionstraining) aufgebaut, die O. am Ende der Therapie bei Bedarf selbstständig anwandte. Ein weiterer Focus in dieser Phase der Therapie lag auf der Stärkung der Fähigkeit von O., sich in andere Personen hineinzuversetzen, um Konsequenzen eigener Handlungen abschätzen zu können. Dies wurde in Rollenspielen geübt und immer wieder anhand unterschiedlichster aktueller Lebenssituationen von O. vor- und nachbesprochen und dadurch in häufiger Wiederholung eingeübt. 22. bis 25. Sitzung: In dieser Phase wurden mit den Eltern schrittweise Veränderungen im Umgang mit O. und in den Reaktionen auf sein Verhalten erarbeitet. Dabei wurde mit den Eltern (meist konnte jedoch nur die Mutter anwesend sein) der Zusammenhang zwischen ihren Reaktionen auf O.s Verhalten wie auch die Folgen der regelmäßigen Vergleiche zwischen O. und seinem Bruder erarbeitet und alternative Reaktionsstrategien besprochen und entwickelt, die auch konsequenten Umgang mit deviantem Verhalten von O. beinhalteten. 26. bis 30. Sitzung: Gemeinsam mit den Eltern und O. wurden positive Aktivitäten initiiert (z. B. Messebesuch), die erfolgreich etabliert und von allen als positiv erachtet 6
wurden. Mit O. wurden Alternativen erarbeitet, wie er einen Teil seiner Wünsche und Ziele erreichen kann, insbesondere auch im beruflichen Bereich. Hier entwickelte O. konkrete Aktivitäten (z. B. bewarb er sich bei einem ansässigen Handwerker um einen Praktikumsplatz, den er dann gerne besuchte).
10. Supervisionsprozess Im Rahmen der Reflexion des Therapieprozesses in der Supervision wurden folgende Hauptthemen bearbeitet: 4 Reflexion des diagnostischen und differenzialdiagnostischen Prozesses, insbesondere die Einordnung der Vorbefunde und Überlegungen zur Wiederholung von diagnostischen Maßnahmen (z. B. Intelligenzdiagnostik) in kurzem Zeitabstand. 4 Aufbau der Beziehung zum Patienten und Strategien, um ihn ausgehend von seiner Sichtweise der Problematik für Veränderungen zu motivieren. 4 Umgang mit der Problematik der Einbeziehung des Vaters in die Therapie. 4 Überlegungen, ob eine stärkere Fokussierung bzw. Diagnostik einer vielleicht vorliegenden Beziehungsproblematik der Eltern sich positiv auf die langfristige Stabilität der Symptomfreiheit des Patienten auswirken würde und Reflexion der Gründe, warum diese Fokussierung nicht erfolgte.
11. Behandlungsergebnis Die Kriterien der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens sind bei Therapieende nicht mehr erfüllt. Auch die auffälligen Werte der CBCL haben sich normalisiert. Im Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (CBCL 4–18) (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 1998) zeigen sich zum Ende der Therapie folgende Werte: 4 CBCL Mutter: Gesamt-T-Wert = 60, INT-T-Wert = 58, EXTT-Wert = 61, Hauptproblemschwerpunkte: »dissoziales Verhalten« (T-Wert = 62), »Aufmerksamkeitsprobleme« (T-Wert = 58) 4 CBCL Erziehungsbeistand: Gesamt-T-Wert = 59, INT-TWert = 60, EXT-T-Wert = 58, Hauptproblemschwerpunkte: »dissoziales Verhalten« (T-Wert = 57), »Aufmerksamkeitsprobleme« (T-Wert = 59) Es liegen zum Ende der Therapie nach Angaben des Patienten, seiner Eltern sowie des Erziehungsbeistandes seit mehr als sechs Monaten keine bedeutsamen sozialen Konflikte mehr vor. Nach Angaben des Patienten, beider Elternteile sowie des Erziehungsbeistandes haben sich im Verlauf der Therapie die anfangs bestehenden Probleme in verschiedenen Bereichen des Sozialverhaltens stark gebessert. Auch gäbe
1029 57.2 · Zweck, Erstellung und Aufbau von Fallberichten
es weniger Streitigkeiten und Konflikte in der Familie und der Patient sei eigenständiger in seinen alltäglichen Aufgaben geworden. Beurteilung der Zielerreichung (vgl. Punkt 7): Es konnten deutliche Verbesserungen insbesondere bezüglich der Ziele 1–2 und 5–10 erreicht werden. Die Lebensqualität von O. und seinem Lebensumfeld hat sich nach der Therapie verbessert. O. gibt an »Ich habe jetzt weniger Stress und Ärger«. Die Mutter fühle sich im Vergleich zum Anfang der Therapie deutlich entlastet. Die Eltern und Frau S. zeigen sich mit dem Ergebnis der Therapie sehr zufrieden. O. empfand die Therapiestunden laut eigenen Angaben als angenehm, auch wenn er den zeitlichen Aufwand als belastend einstuft. Er ist froh, dass die Therapie zu Ende ist, gibt jedoch an, es hätte sich gelohnt und er sei zufrieden, dass er weniger Ärger habe, da er sich damit besser fühle. Er würde auch einem Freud in einer ähnlichen Situation sagen »geh da mal hin«. Die Prognose für die Psychotherapie wurde bei Antragstellung als ausreichend günstig eingeschätzt. Vor dem Hintergrund der ausreichend günstigen Prognosestellung kann die positive Bilanz der Therapie und deren Effekte als guter Erfolg bewertet werden, auch wenn nicht alle therapeutischen Ziele erreicht werden konnten und die Stabilität der erreichten Veränderungen zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht abgeschätzt werden kann.
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12. Abschließende Diskussion Aus kritischer Distanz ist festzuhalten, dass es gut gelang, eine tragfähige Beziehung zum Patienten aufzubauen und erfolgreich Verhaltensveränderungen beim Patienten und seinen Bezugspersonen durchgeführt wurden. Einige Schritte hätten womöglich die Exaktheit der Diagnosestellung wie auch die Stabilität der Effekte erhöhen können und ihnen hätte deshalb mehr Beachtung geschenkt werden sollen: 4 Auf eine anfängliche Intelligenzdiagnostik wurde verzichtet, da diese bereits kurz vorher durchgeführt wurde, um die Motivation des Patienten nicht zu gefährden. Jedoch hätte eine erneute Intelligenzdiagnostik ggf. im späteren Verlauf der Psychotherapie durchgeführt werden können, um die Gültigkeit der früheren Befunde zu prüfen. 4 Der Lehrer wurde (bis auf einen Fragebogen) nicht in die Therapie einbezogen. Auch auf eine Informationsvermittlung zur aktuellen Problematik wurde verzichtet (da davon ausgegangen wurde, dass in der Sonderschule ausreichende Informationen zu vergleichbaren Störungen vorlagen). Jedoch hätten hier (ggf. auch telefonische) Kontakte helfen können, das schulische Umfeld explizit in die Behandlungsstrategie 6
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einzubinden. In diesem Falle hätte man jedoch mit O. abklären müssen, ob er einverstanden ist, wenn der Therapeut mit seinem Lehrer über ihn spricht, gerade auch um zu vermeiden, dass O. dies als Vertrauensbruch wertet. Bei der erfolgten Behandlung wurde das Vorgehen gewählt, zuerst mittels kognitiver Techniken die Aufmerksamkeitsproblematik zu bearbeiten, da davon ausgegangen wurde, dass die Aufmerksamkeitsproblematik das deviante Verhalten bedeutsam mitbedingte. Da jedoch das deviante Verhalten schon beim Erstgespräch eine zentrale Rolle einnahm, wäre es womöglich sinnvoller gewesen, zuerst diesen Problembereich, z. B. mit behavioralen und operanten Prinzipien, zu bearbeiten und erst mittelfristig die Aufmerksamkeitsproblematik anzugehen. Es hätte ggf. darauf bestanden werden sollen, dass der Vater häufiger an Therapiesitzungen teilnahm (dies war aus zeitlichen Gründen schwierig, aufgrund langer Arbeitszeiten und weiter Anfahrt), um mit ihm nachhaltigere Veränderungen im Erziehungsverhalten erarbeiten zu können. Mögliche Gründe für das Therapieergebnis: Das positive Therapieergebnis hat vermutlich mehrere Gründe: 1. Es gelang gut, mit dem Patienten eine tragfähige Beziehung aufzubauen und ihn für die Therapie zu motivieren, so dass ein zielführendes Arbeiten möglich war. 2. Insbesondere die Mutter, fühlte sich durch die Therapie entlastet, was es ihr erleichterte neue Interaktionsmuster mit O. zu etablieren. Dies hatte eine positive Bestätigung und auch eine Entlastung von O. zur Folge. 3. Im Gegensatz zu der Zeit vor der Therapie, während der O. immer im Schatten seines Bruders stand, bekam O. durch die Therapie, auch unabhängig von etwaigem deviantem Verhalten, regelmäßig Aufmerksamkeit zugesprochen. Dies – gemeinsam mit den Erfolgserlebnissen im Rahmen der Therapie – steigerte sein Selbstwertgefühl und wirkte sich vermutlich auf den Therapieerfolg positiv aus. Reflexion des eigenen Lernzuwachses: Durch den dargestellten Fall war es mir möglich, insbesondere in zwei Bereichen wichtige Lernerfahrungen zu machen: 1. Diagnostik im Bereich Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung und Störung des Sozialverhaltens: Der Fall erlaubte es mir, mich mit den verschiedenen Ein- und Ausschlusskriterien, wie auch mit den relevanten diagnostischen Entscheidungsbäumen, praktisch vertraut zu machen. Die bereits vorliegenden Vorbefunde mussten dabei gesichtet, bewertet und integriert werden. Außerdem musste
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Kapitel 57 · Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen
jeweils entschieden werden, welche Informationen für Diagnose und Therapieplanung noch notwendig waren und selbst gewonnen werden mussten. Eine weitere Herausforderung war die Integration der Informationen von fünf verschiedenen Quellen (Vorbehandler, Eltern, Beistand, Lehrer und Patient). 2. Es war eine besondere Aufgabe, den 14-jährigen Jungen zur Psychotherapie zu motivieren. Hier gab es für mich gute Gelegenheit, verschiedene Strategien und Techniken auszuprobieren und im Rahmen der Supervision zu reflektieren sowie bezüglich ihrer Brauchbarkeit zu bewerten. Die da-
Hinweise zur Erstellung eines Fallberichts im Rahmen der Aus- oder Weiterbildung zum Psychotherapeuten
bei gewonnenen Erfahrungen werde ich sicherlich bei Therapien mit ähnlichen Patienten gut nutzen können.
13. Literatur An dieser Stelle sind die Literaturangaben der im Fallbericht zitierten Referenzen einheitlich aufzulisten (7 »Literatur des Fallbeispiels« im Literaturverzeichnis).
14. Unterschriften ……………, den ………………………… (P. Therapeut, Dipl.-Psych.)
4 Name und Unterschrift des Supervisors, 4 ggf. Erklärung, dass die Therapie selbstständig durchgeführt wurde.
Allgemeine Hinweise
Im Gegensatz zu den einheitlichen Richtlinien für den Bericht zum Antrag an den Kostenträger sind die Vorgaben zu Fallberichten im Rahmen der Aus- und Weiterbildungen von Institut zu Institut verschieden. Der angehende Psychotherapeut sollte die Vorgaben des eigenen Lehrinstituts unbedingt beachten. Viele Vorgaben basieren auf den in 7 Kap. I/56 vorgestellten Gliederungspunkten 1 bis 8 der Fallberichte, die im Rahmen des Gutachterverfahrens anzufertigen sind, wobei die einzelnen Aspekte in der Ausund Weiterbildung oft ausführlicher dargestellt werden müssen. Hinzu kommen meist weitere Punkte wie Therapieverlauf, Behandlungsergebnis, Supervisionsprozess oder Literatur. Der jeweils vorgegebene maximale Seitenumfang sollte nicht überschritten werden. Spezifische Hinweise zu einzelnen Abschnitten
Jeder Fallbericht ist aufliegend mit einem Deckblatt zu versehen. Es sollte beinhalten: Informationen zum Aus-/Weiterbildungsteilnehmer und zum Ausbildungsinstitut: 4 Name und Anschrift des Aus-/Weiterbildungsteilnehmers, 4 Name des Ausbildungsinstituts. Informationen zum Fall:
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4 Angaben zum Patienten (Geschlecht, Alter), 4 Angaben zu in die Therapie einbezogenen Bezugspersonen (Geschlecht, Alter, Rolle gegenüber Patienten – z. B. »Betreuer«), 4 Diagnose(n), 4 Behandlungszeitraum, 4 Anzahl der Therapiestunden (inkl. Therapiestunden mit Bezugspersonen), 4 Anzahl der Supervisionsstunden,
Falls es sich um einen Prüfungsfall handelt, muss ggf. auch dokumentiert sein, dass die Falldarstellung vom Ausbildungsinstitut als Prüfungsfall angenommen worden ist. Bei den Angaben zum Behandlungsrahmen sind üblicherweise Zeitraum, Stundenzahl und ggf. Frequenz der Behandlung, Umfang der Einbeziehung von Bezugspersonen, Rollen der Bezugspersonen wie auch die Behandlungsinstitution zu nennen. Im Vergleich zum Bericht zum Antrag an den Kostenträger sind in einem Fallbericht der Aus- und Weiterbildung unter dem psychischen Befund die Testbefunde meist ausführlicher darzustellen. Insbesondere der Darstellung des aktuellen Entwicklungsstatus (z. B. Intelligenz, Spracherwerb, …) kommt bei Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen eine besondere Bedeutung zu. Unter dem somatischen Befund sind etwaige Informationen aus dem Konsiliarbericht zusammen mit eigenen Angaben darzustellen. Bei der Verhaltensanalyse wird neben der horizontalen Verhaltensanalyse (SORKC-Schema), die die Mikroebene, also das Verhalten in einer konkreten Situation, in den Blick nimmt, oft auch eine vertikale Verhaltensanalyse oder Plananalyse verlangt. Des Weiteren spielt die Analyse des Verhaltens der Bezugspersonen eine zentrale Rolle. Je jünger das Kind, desto stärker muss eine Verhaltensanalyse der Bezugspersonen einbezogen werden. Die Diagnose und Differenzialdiagnose ist ausführlicher zu diskutieren, ggf. mit Diskussion der einzelnen diagnostischen Kriterien. Bei Kindern und Jugendlichen bedingen sich oft psychische Störungen, umschriebene Entwicklungsstörungen, somatische Erkrankungen und psychosoziale Belastungsfaktoren gegenseitig und beeinflussen wesentlich die Entwicklung des Kindes. Deshalb ist ergänzend eine Klassifizierung nach dem »Multiaxialen
1031 57.2 · Zweck, Erstellung und Aufbau von Fallberichten
Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters« (Remschmidt et al. 2006) zu empfehlen. Für Kinder im Alter von 0–3 Jahren besteht die Möglichkeit einer ergänzenden Klassifikation nach DC:0– 3R (»ZERO TO THREE« – »Diagnostic Classification of Mental Health and Developmental Disorders of Infancy and Early ChildhoodTM«, revised 2005). Die Verwendung eines diagnostischen Interviews (z. B. Das diagnostische Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter – Kinder-DIPS, Schneider et al. 2009) wird angeraten, von manchen Institutionen sogar verpflichtend verlangt. Unter dem Punkt Behandlungsverlauf ist es zu empfehlen, die Sitzungen in Therapiephasen zusammenzufassen. Etwaige Abweichungen und Modifikationen vom Behandlungsplan sind zu erläutern und begründen. Unter dem Punkt Supervisionsprozess sind die wichtigsten für den Fall relevanten Themen darzustellen. Das Behandlungsergebnis wird idealerweise auf unterschiedlichen Ebenen dargestellt: 4 Der Therapeut prüft, ob der Patient die Kriterien der eingangs gestellten Diagnose(n) noch erfüllt. 4 Er diskutiert die Ergebnisse Therapie begleitender diagnostischer Verfahren zur direkten und indirekten Veränderungsmessung. 4 Er stellt dar, inwieweit die Therapieziele erreicht wurden (ggf. unter Verwendung einer Zielerreichungsskala). 4 Er gibt Hinweise auf Veränderungen in der Lebensqualität des Patienten und seines Lebensumfeldes (z. B. »Am Ende der Therapie isst R. wieder regelmäßig und es kommt zu keinen regelmäßigen Konfliktsituationen mehr im Bereich Essen. Die Eltern erleben die Mahlzeiten als entspannt.«). Ggf. kann auch ein Fragebogen zur Lebensqualität (»quality of life«) eingesetzt werden. 4 Der Therapeut beschreibt, wie zufrieden sich der Patient und die Bezugspersonen über das Ergebnis der Therapie äußern. 4 Der Therapeut beschreibt seine subjektive Zufriedenheit und bewertet die Therapie aus seiner eigenen Sicht. In der abschließenden Diskussion hat der Therapeut die Möglichkeit, den Fall aus einer kritischen Distanz zu diskutieren und das therapeutische Vorgehen, den Behandlungsverlauf und die weitere Prognose abschließend zu bewerten. Die Diskussion bietet Raum, ggf. nicht ideale oder nicht erfolgreiche Therapieschritte zu reflektieren und mögliche Alternativen zu diskutieren. Die Literatur enthält alle zitierten Referenzen. Sie sollte nach gängigen Vorgaben einheitlich formatiert sein (7 Literaturverzeichnis).
57.2.3 Fallberichte in Fachzeitschriften
für Forschung und Lehre Fachzeitschriften im Bereich klinische Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie veröffentlichen verschiedene Formen von Artikeln: Thematische Übersichtsartikel und theoretische Arbeiten (»reviews«), Artikel, die neue empirische Daten präsentieren (Originalarbeiten) sowie andere, seltenere Artikelformen (Leitartikel, Buchrezensionen etc.). Einige dieser Zeitschriften publizieren auch Fallberichte (»case reports«), manchmal auch Fallvignetten oder Kasuistiken genannt, unter einer entsprechenden Rubrik oder als Brief an den Herausgeber (»letter to the editor«). Oder sie veröffentlichen Artikel unter einer Rubrik »klinische Fallkonferenzen« (»clinical case conferences«). Dies sind üblicherweise Beschreibungen von Fällen, die vorab zwischen Fachkollegen in einer Klinikoder Forschungsabteilung besprochen wurden. Diese Fallberichte können verschiedene Aspekte zum Inhalt haben und unterschiedliche Ziele verfolgen, z. B.: 4 Sie beschreiben Diagnose und Behandlung eines Patienten mit einer ungewöhnlichen, seltenen oder besonders interessanten Problemkonstellation, evtl. um auf bisher unbekannte oder klassifikatorisch nur schwer greifbare Probleme oder Störungen hinzuweisen. 4 Sie beschreiben exemplarisch die Anwendung eines neuen oder modifizierten Behandlungsansatzes oder die Anwendung eines bekannten Behandlungsansatzes im Rahmen einer nicht bereits etablierten Indikation, evtl. um Hinweise auf neue Therapieverfahren zu geben und anzuregen, die Wirksamkeit dieses Verfahrens in kontrollierten Studien zu überprüfen. 4 Sie beschreiben exemplarisch die Anwendung eines neuen oder modifizierten diagnostischen Verfahrens oder die Anwendung eines bekannten diagnostischen Verfahrens bei einer nicht etablierten Indikation, evtl. um auf das Verfahren aufmerksam zu machen. 4 Sie illustrieren anhand eines Falles einen bisher wenig oder nicht beachteten Aspekt der Entwicklungsgeschichte des Patienten oder einen Aspekt aus dessen Lebensumfeld, der für die Ätiologie seiner Probleme oder Störungen von Relevanz sein könnte mit dem Ziel, Forschung in diesem Bereich zu stimulieren. 4 Sie beschreiben anhand eines Beispiels, aufbauend auf dem aktuellen Wissensstand (»evidenzbasiert«), relativ ausführlich den Umgang mit einer häufigen, anspruchsvollen klinischen Situation, als Mittel der Aus- und Weiterbildung für angehende oder sich weiterbildende Kollegen. Beim Erstellen dieser Fallberichte sind unbedingt die Vorgaben der jeweiligen Fachzeitschrift zu beachten. Diese sind meist über die Webseite der Zeitschrift unter der Rubrik »Informationen für Autoren« (»instructions for authors«) zu erhalten. Man sollte sich genau fragen: Was ist für
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Kapitel 57 · Fallberichte von Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen
die Leserschaft dieser speziellen Zeitschrift an diesem Fall interessant und warum möchte ich über diesen Fall berichten? Besonders wichtig ist es zu unterscheiden, ob sich die Fachzeitschrift eher an Praktiker oder eher an Forschende wendet. Bei Fragen oder Unsicherheiten ist es oft lohnenswert, vorab einen der Herausgeber der Zeitschrift zu kontaktieren, um zu besprechen, inwieweit der Fall oder das Thema des Falles für die Zeitschrift interessant sein könnte. Der Verfasser des Fallberichts sollte unbedingt sicherstellen, dass der Patient und seine Bezugspersonen anonym bleiben. Einzelne Fachzeitschriften machen hierzu spezifische Vorgaben. Allgemein darf der Verfasser keine Namen, Initialen, Patientennummern oder Behandlungstermine nennen. Auch muss er alle spezifischen Informationen zum Patienten und seiner Lebensgeschichte, die die Anonymität verletzen könnten, weglassen oder modifizieren. Ein Beispiel für eine deutschsprachige Fachzeitschrift, die Fallberichte abdruckt, ist die Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (7 Beispiel). Fallberichte in Fachzeitschriften bieten eine gemeinsame Kommunikationsplattform für Forschung und Praxis. Praktiker können Forscher über neue Beobachtungen, Entwicklungen und Fragestellungen aus der Praxis informieren. Forschende können an praktischen Beispielen die Relevanz neuer Forschungsbefunde illustrieren oder neue diagnostische und therapeutische Methoden vorstellen.
Beispiel Vorgaben der Zeitschrift Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie für Fallberichte (Kasuistiken) (nach Blanz u. Herpertz-Dahlmann 2008): 4 Der Umfang der Kasuistik soll 10 Seiten, inkl. Tabellen und Literatur nicht überschreiten. 4 Die Manuskripte, die für die Publikation von Kasuistiken eingereicht werden, müssen eine Aussage enthalten, dass alle Studien am Menschen vom betreffenden Ethikausschuss bewilligt und den ethischen Standards folgend durchgeführt worden sind, die in der Erklärung von 1964 von Helsinki niedergelegt wurden. 4 Es sollte im Text auch angegeben werden, dass alle Patienten ihre Zustimmung zu ihrer Teilnahme an der Studie gaben. Einzelheiten, die Rückschlüsse auf die Identität der Studienteilnehmer zulassen, sind zu vermeiden.
57.3
57
Ethische Aspekte von Fallberichten
Wer Fallberichte verfasst, weitergibt oder veröffentlicht, ist immer auch mit ethischen Fragen konfrontiert. So sind Fallberichte etwa unbedingt zu anonymisieren. In Berich-
ten zum Antrag an den Kostenträger nennt man anstelle des Namens eine Chiffre (bestehend aus erstem Buchstaben des Familiennamens und Geburtsdatum). Für Berichte in Fachzeitschriften werden üblicherweise nicht einmal die wahren Initialen beibehalten. Sind die Berichte für die (Fach-) Öffentlichkeit gedacht, sind Informationen, die den Patienten identifizieren, wegzulassen oder zu modifizieren, ohne jedoch dem Bericht verfälschende, erdachte und gleichzeitig inhaltlich bedeutsame Tatbestände hinzuzufügen. Dies erfordert manchmal etwas Fingerspitzengefühl, aber im Zweifelsfall hat die Anonymisierung oberste Priorität. Möchte der Therapeut einen nichtanonymisierten Fallbericht an einen Kollegen (z. B. einen Psychotherapeuten, der die Therapie fortführen wird) weiterleiten, muss der Patient bzw. sein Erziehungsberechtigter eine zweckgebundene Schweigepflichtentbindung unterzeichnen. Aus ethischen Gründen sollten die Inhalte der Berichte korrekt sein. Stellt man einen so komplexen Prozess wie eine Psychotherapie dar, ist es unumgänglich, Aspekte und Details auszulassen oder zu vereinfachen. Dies ist, wie gerade erwähnt, manchmal auch aus Gründen der Anonymisierung geboten. Jedoch dürfen diese Vereinfachungen nicht verfälschen. Aufgrund der Anonymität ist es allerdings normalerweise nicht möglich zu prüfen, ob die Falldarstellung tatsächlich korrekt ist. Übrigens: Offensichtlich hat man seinerzeit den Fall von Herbert Graf alias »kleiner Hans« nicht ausreichend anonymisiert. Inzwischen hilft sogar das Internet via Google, einen Zusammenhang zwischen beiden Namen herzustellen.
57.4
Ausblick
Die Einführung von Gutachterverfahren und Psychotherapeutengesetz in Deutschland haben dazu geführt, dass die Struktur psychotherapeutischer Fallberichte vereinheitlicht wurde. Inzwischen existieren Materialien, die dabei helfen, die Berichte anhand der geforderten Struktur zu erstellen (Meinlschmidt u. Tegethoff in Vorbereitung). Durch die Vereinheitlichung erscheint es nun sinnvoll, Computeranwendungen zu entwickeln, die helfen, die Erstellung von Fallberichte zu erleichtern (Sulz 2006). Hilfe hin oder her: Für viele Psychotherapeuten ist und bleibt die Erstellung von Fallberichten wohl eher ein unumgängliches »Übel« als ein er- und ausfüllender Teil ihrer Tätigkeit als »Heilkünstler der Seele«.
Zusammenfassung Fallberichte bei Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen sind ein gängiger Bestandteil der psychotherapeutischen Praxis. Auf ihrer Grundlage entscheiden die
1033 Weiterführende Literatur
Krankenkassen, ob sie die Kosten für eine Psychotherapie übernehmen werden. In der Aus- und Weiterbildung dokumentieren die Berichte die Leistungen und Fortschritte des Ausbildungskandidaten und dienen als Grundlage für Supervision und Prüfung. In Fachzeitschriften fördern sie den Austausch zwischen Forschenden und Praktikern. Meist bestehen klare Vorgaben zur Struktur von Fallberichten. Diese Vorgaben variieren jedoch je nach Zweck des Fallberichts und Institution und sind, ebenso wie die Wahrung der Anonymität der Patienten, unbedingt zu beachten.
Literatur Akademie für Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter (2008). Postgraduale Weiterbildung: Verhaltenstherapie mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche. Verfügbar unter: http://www.unifr.ch/iff/0_ eingang/download/14_download/141_download/curriculum2004.pdf. [30.05.2008]. Altherr, P. (2003). Das Antragsverfahren für Richtlinientherapie bei Verhaltenstherapie von Kindern und Jugendlichen. Forum der Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Heft 2. Verfügbar unter: http://www.bkjpp.de/index.php5?x=/for203_ntragsverfahrenVerhaltenstherapie.php5&. [30.05.2008]. Blanz, B. & Herpertz-Dahlmann, B. (2008). Hinweise der Schriftleitung zur Manuskriptgestaltung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Verfügbar unter: http://www.verlag-hanshuber.com/zeitschriften/autorenrichtlinien/autorenrichtlinien_kij. pdf. [30.05.2008]. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u. a. (Hrsg.) (2007). Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. (3. Aufl.) (S. 239–254 u. 265–275). Köln: Deutscher Ärzte Verlag. Eysenck, H. (1986). Decline and Fall of the Freudian Empire. Harmondsworth: Pelican. Freud, S. (1909). Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben. Gesammelte Werke, Band VII, S. 241–377. Frankfurt/M.: Fischer. Krampen, G. (2008). Leitfaden zur Falldokumentation. Verfügbar unter: http://www.uni-trier.de/index.php?id=9085&L=0. [29.01.2008]. Laireiter, A.-R. & Hampel, A. (2003). Fallberichte zum Erwerb und zur Prüfung von verhaltenstherapeutischer Kompetenz in der Verhaltenstherapieausbildung. Verhaltenstherapie, 13, 192–201. Meinlschmidt, G. & Tegethoff, M. (in Vorbereitung). Fallberichte in der Therapie mit Kindern- und Jugendlichen. In G. Meinlschmidt, S. Schneider & J. Margraf (Hrsg.). Lehrbuch der Verhaltenstherapie: Materialien für die Psychotherapie (Bd. 4). Berlin: Springer. Meinlschmidt, G. & Tegethoff, M. (2009). Psychotherapeutische Fallberichte bei Erwachsenen. In J. Margraf & S. Schneider (Hrsg.). Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Bd. 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen (3. Aufl.) (S. 899–924). Berlin: Springer. Remschmidt, H., Schmidt, M. & Poustka, F. (2006). Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO (5. Aufl.). Bern: Huber. Sulz, S. K. D. (2006) Verhaltensdiagnostik und Fallkonzeption (4. Aufl.). München: CIP-Medien. Zero to three (Hrsg.) (2005). Diagnostic classification of mental health and developmental disorders in infancy and early childhood, (rev. ed.). Washington: ZERO TO THREE Press. Verfügbar unter: www.zerotothree.org [30.05.2008].
Literatur des Fallbeispiels Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1993). Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen; deutsche Bearbeitung der Teacher’s Report Form der Child Behavior Checklist (TRF). Einführung und Anleitung zur Handauswertung, bearbeitet von Döpfner, M., Melchers, P. Köln: Arbeitsgruppe Kinder-, Jugendund Familiendiagnostik (KJFD). Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1998). Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen; deutsche Bearbeitung der Child Behavior Checklist (CBCL/4–18). Einführung und Anleitung zur Handauswertung (2. Aufl. mit deutschen Normen, bearbeitet von Döpfner, M., Plück, J., Bölte, S., Lenz, K., Melchers, P., Heim, K.). Köln: Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD). Döpfner, M. (2000). Hyperkinetische Störungen und Störungen des Sozialverhaltens. Verhaltenstherapie, 10, 89–100. Lauth, G. W. & Schlottke, P.F. (2002). Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern (5. Aufl.). Weinheim: Beltz. Schneider, S., Unnewehr, S. & Margraf, J. (Hrsg.). (2009). Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Kinder-DIPS). (2. Aufl.). Berlin: Springer.
Weiterführende Literatur Bundespsychotherapeutenkammer (2008). http://www.bptk.de/ service/rechtsquellen/index.html. [10.01.2008] Auf dieser Webseite finden sich verschiedene Rechtsquellen (einschließlich: Psychotherapeutengesetz, Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Psychologische Psychotherapeuten, Psychotherapierichtlinien sowie Psychotherapie-Vereinbarung). Lairaiter, A.-R. & Baumann, U. (2009). Dokumentation von Verhaltenstherapie. In J. Margraf & S. Schneider (Hrsg.). Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Bd. 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen (3. Aufl.) (S. 937–962). Berlin: Springer. Hier finden sich allgemeine Hinweise zur Dokumentation von Verhaltenstherapie. Liebeck, H., Merod, R. & Borg-Laufs, M. (2008). Verhaltenstherapeutische Fallberichte für die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichentherapeuten/zur Kinder- und Jugendlichentherapeutin. Tübingen: DgvtVerlag. Hier finden sich allgemeine Hinweise zu verhaltenstherapeutischen Fallberichten bei Kindern und Jugendlichen für die Ausund Weiterbildung. Meinlschmidt, G. & Tegethoff, M. (2009). Psychotherapeutische Fallberichte bei Erwachsenen. In J. Margraf & S. Schneider (Hrsg.). Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Bd. 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen (3. Aufl.) (S. 899–924). Berlin: Springer. Hier finden sich allgemeine Hinweise zu psychotherapeutischen Fallberichten. Rüger, U. & Dahm, A. & Kallinke, D. (2005). Kommentar Psychotherapierichtlinien (Faber & Haarstrick) (7. Aufl.). München und Jena: Urban & Fischer in Elsevier. Hier finden sich alle formalen und definitorischen Aspekte des Antrags- und Gutachterverfahrens in Deutschland, inklusive Hinweise zu Psychotherapie-Richtlinien, Psychotherapie-Vereinbarungen, Psychotherapeutengesetz.
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1035
A–B
Personenverzeichnis A AACAP 324, 327 Abeck 794 Abikoff 447, 891 Ablon 891 Abramovitz 514 Abramowitz 643 Abramson 672, 674–676 Absolon 788 Achenbach 466, 467, 669, 697, 961 Adams 370, 599 Adler 949 Adornetto 1, 117, 123 Aebli 930 Agran 355 Agras 508 Ahrens-Eipper 546, 547, 549 Ainsworth 57, 60, 61, 63, 64, 70, 299, 317, 320, 322, 370 Albano 536, 537, 545, 546, 549, 551 Albee 82, 904 Alexander 278, 279, 287, 720, 786, 824 Alfano 534 Alfermann 925 Allison 929 Alloy 682 Alpert-Gillis 861 Alsaker 34 Altherr 1017 Aman 356, 358, 361 Amato 90, 91, 260, 856–861 Ambrosini 894 American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 315, 322, 323, 415, 441, 442 American Academy of Sleep Medicine 742 American Association on Intellectual and Developmental Disabilities 352 American Association on Mental Retardation 352 American Psychiatric Association 318 American Psychological Association 353 Amir 357 Amthauer 352 Anderson 99–101, 106, 234, 235, 359 Andlin-Sobocki 902
Andrews 379, 477, 914 Ang 476 Angold 114, 141, 667 Annenberg Public Policy Center 234 Anttila 806 APA 371, 382, 388 APA 2000 665, 667, 669 Apley 805 Apter 895 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften 175 Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist 134, 467 Arbeitskreis OPD-KJ 120 Arindell 539 Aristoteles 867 Armatudra 151 Arnold 263, 346, 890 Arsenio 414, 425 Ärztliche Zentralstelle für Qualitätssicherung 175 Asay 184, 190 Asendorpf 307, 535, 539 Asher 821 Asmundson 807 Asperger 332, 336, 349 Aster 397 Auer 403 Aukett 305 Aures 547 Aviv 252 Ayllon 299, 517 Azrin 174, 356, 655, 660
B Bachmann 287 Backhaus 755, 757 Baeyens 384 Baeyer 808 Bahmer 181, 193 Bahr 561, 564, 565 Bailer 670 Baird 336 Bakermans-Kranenburg 66, 328 Bakwin 384, 389 Balagué 805 Ball 252
Bamburg 358 Bamler 788 Banaschewski 436, 442, 447, 648 Bandelow 888 Bandura 103, 195, 516, 518, 769, 917 Bar-Or 695 Barkley 278, 279, 285, 412, 414, 417, 436, 438, 890, 929 Barkmann 258 Bärlocher 928 Barlow 205, 272, 296, 598, 697–699, 715, 948 Barnes 252, 767 Baron 339 Baron-Cohen 339 Barr 296–298, 310 Barrett 173, 237, 492, 525, 535, 544, 545, 551, 600, 633, 745, 915 Barry 421 Barsky 807 Bartholow 100 Bartram 969 Bates 680 Baucke 389, 391 Bauer 239, 976 Baumann 78, 82, 943 Baumeister 103, 105, 353, 354, 464 Baumgärtel 263 Bäuml 278 Bavelier 235 Baving 960 Baxter 634 Bayley 152, 305 BDP 983 Beach 89 Bear 230 Beaver 80 Beck 278, 672–674, 681, 683, 770 Becker 252, 310, 600 Bedrosian 81 Beelmann 168, 169, 230, 231, 288, 466–468, 470, 474–476, 857, 858, 860, 909–911, 919 Beffert 927 Beglin 698 Behl 869 Beidel 484, 508, 518, 534, 536, 537, 540, 541, 545, 549, 551, 580 Bell 299 Bell-Dolan 535 Bellingrath 226
1036
Personenverzeichnis
Bellmore 966 Bender 454, 459–461, 463, 465, 472, 909 Benn 252 Bennett 230, 680 Benninga 388, 389, 391 Benoit 72 Bensel 867 Bensley 240 Bentler 514 Berendt 205 Berg 490 Berger 278, 926, 927, 930 Bergman 564, 565 Berkowitz 104 Berman 168, 169 Bernstein 484, 490, 893 Berufsverband der Psychologinnen und Psychologen Liechtensteins (BPL) 977 Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) 977 Berufsverband Österreichischer Psychologinnen und Psychologen (BÖP) 977 Beudels 929 Beutler 891 Biäsch 150 Biddle 925 Biederman 436, 438, 597 Binet 149, 151, 152 Binswanger 720 Birch 302, 307 Birmaher 599, 668, 685, 893 Bischoff 807 Bittner 599 Bjorkqvist 98, 103 Black 558, 562, 569, 570 Blagg 515 Blair 297, 924, 943 Bland 597 Blanz 29, 1032 Blatter 481 Bleuler 332 Bliesener 455, 457, 458, 460, 463, 464 Block 857 Bloodstein 369 Blum 567 Boake 150 Bobertag 150 Bodenmann 1, 77, 81, 84, 86, 89 Bodenmann-Kehl 80, 83 Bodmer 1, 145 Bögels 535 Boggio 195
Bogner 476 Bohme 789 Bohus 880 Boie 493, 517, 600 Bölte 338, 343 Bolten 1, 55 Bolton 595 Bondy 344, 345 Bonhauser 926 Bonta 477 Borer 195, 493, 497, 517, 521 Borg-Laufs 6, 181, 183–190, 224, 229 Boris 319, 323 Bös 924, 926 Bossardt 368, 371, 379 Boston 172, 287 Botermans 1010 Botting 436 Botvin 917 Bouras 357 Bovasso 768 Bovill 234 Bowers 400 Bowlby 57–59, 63, 65, 73, 74, 487, 846 Bozicas 81 Brack 566, 570 Bradley 400, 481, 487, 488 Brähler 125, 127, 134, 135, 140, 148 Brandeis 436 Brandt 147, 152, 154 Brehm 930 Bremer 234 Brennan 260 Breslau 614 Brestan 230 Bretherton 63–65 Brewin 615, 873 Brezinka 181, 233, 236, 238, 239, 914 Bridges 150 Brill 720 British Psychological Society (BPS) 977 Broc 786 Brockmann 947 Bronfenbrenner 279 Broocks 924, 928, 930 Brown 236, 598, 643, 927 Browne 73, 234 Bruch 539 Bruchmüller 124 Brückl 118, 486, 508, 599 Bruininks 352 Brunnhuber 777 Brunsting-Müller 224 Bryant 400 Bryant-Waugh 694, 698
Buchanan 859, 860 Buehler 87, 89 Bühler 152, 917, 918, 970 Bühringer 772, 782 Bundeskriminalamt 457 Bundesministerium für Gesundheit und Frauen 997, 998 Bundesministerium für Justiz 989 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien 96 Bundespsychotherapeutenkammer 976, 988, 989 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 195 Burdette 928 Burke 437, 506, 902 Burlingham 57 Bushman 99, 101, 105, 235 Buske-Kirschbaum 790 Bütikofer 34 Butler 252 Butterbaugh 929
C Cable 925 Caldarella 966 Calhound 570 Calipel 252 Callahan 517 Campbell 103, 105, 436 Cannon 928 Capp 744 Carey 417 Carl 926 Carlson 288 Carnagey 234 Carnelley 74 Carr 287, 356, 360, 660 Carter 698 Cartwright-Hatton 486, 536, 893 Casey 46, 48, 168, 169 Caspar 187 Caspi 25, 462, 846 Cassidy 63, 64, 317, 318 Castellanos 48, 412 Catalano 909 Cedar 271, 272 Celano 625, 626 Chambless 172, 173, 219, 229, 230, 499 Channon 735 Chansky 541 Chaplin 532
1037 Personenverzeichnis
Chater 9 Chemtob 626 Cheung 895 Chiccetti 873 Chida 798, 799 Chisholm 321 Chitkara 806 Chong 660 Chorpita 230, 510, 598, 599 Christoff 550 Cicchetti 279, 873, 874 Cierpka 138, 914 Cillessen 966 Clark 534–536, 540, 633, 873 Clarke 421, 516, 896, 915 Cobb 952 Coca 787 Cohen 168, 169, 339, 570, 618, 620, 626, 651, 652, 875, 877, 878, 895 Cohen-Kahn 927 Cohn 90 Coleman 336 Coles 630 Colwell 234 Comer 632 Comery 67 Como 651 Compas 198 Comstock 96, 98 Conduct Problems Prevention Research Group 471 Conners 446 Conradt 666, 667 Constantino 338 Cook 849 Cooke 787 Cooper, J. O. 361 Cooper, S.-A. 355 Corbett 298 Corcoran 288 Costello 114, 437, 832, 938 Cotrell 287 Cottrell 172 Cox 87, 195, 389, 391 Crick 414, 425, 464, 966 Crimmins 359 Crittenden 63–65, 73, 317, 318 Crombez 807, 809 Crowell 72 Crowley 288, 894 Crowther 753 Csikszentmihalyi 930 Cui 90 Cummings 84, 86–90, 860 Cumsille 88
Cunningham 404 Curlee 372 Currie 931 Currin 722 Curry 508 Curtis 288
D D’Zurilla 223, 227, 779 Dabholkar 46 Dadds 263, 912, 915 Dahl 297 Dahlquist 518 Dahme 831 Daleiden 489, 535 Dalton 358 Damm 1, 23 Dann 325, 467 Dannigkeit 969, 972 Danquah 514 Darwin 149 Dattalo 288 Daud 789 David-Ferdon 173 Davidson 47, 389, 538 Davies 86–90 Davis 510, 513 Day 953 De Berdt-Hovell 720 Deblinger 626 DeCaspar 7, 8 De Grandpre 415 De Haan 643, 897 Deimann 152, 154 de Jong 509 Deldotto 729 Delfos 189 Demos 299 Denecke 809–813, 947 Dennis 174, 790 De Ruiter 73 Dettling 68 Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie 297, 382 Deutsche Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 175, 314, 316, 319, 321, 323, 415, 1027 Deutsche Gesellschaft für Supervision (DGSv) 1002 DeVries 36, 198 Dewey 223
B–E
Dewis 512 Deykin 668 de Zwaan 722, 734, 735 Diamond 17 Diekmann 260 Dietz 697– 699, 715 DiLalla 318 Dilling 120, 315, 358, 396, 401, 413, 455, 613, 665, 872 DiLorenzo 360 Dinkmeyer 262 DiScipio 300, 310 Dishion 914 Dixon 205 Dobslaff 557–561, 568 Dobson 252 Dodge 414, 425, 464, 966 Döpfner 1, 10, 17, 18, 37, 38, 113, 125, 126, 128, 132–134, 159–163, 166–169, 171, 175, 176, 261, 279, 284, 416, 420, 429, 431, 433–448, 467, 474, 511, 520, 575, 576, 578, 580–583, 586, 587, 589, 590, 599, 600, 647, 648, 650–655, 657, 658, 660, 670, 888, 892, 893, 947, 960, 1026, 1027 Doyle 86 Dozier 73, 325 Drabman 99 Dreisörner 447 Dretzke 288 Drewett 298 Dubois 720 Dugan 928 Duhm 352 Dumas 476 Dummer-Smoch 404 Dummit 558, 570 Dunican 729 Dunitz-Scheer 119 Dunn 924, 927 Durand 303, 304, 309, 356, 359, 360 Durlak 171, 229, 230, 909, 911 Dürrwächter 425 Durston 48 Dvonch 929 Dworzak 790 Dykens 357
E Ebbinghaus 149 EFPA 977 Egan 167
1038
Personenverzeichnis
Egeland 324 Eggers 928 Egle 84, 89, 884 Ehlers 134, 135, 541, 560, 796, 798, 799, 873 Ehrenreich 535 Ehri 399 Eichhorn 788 Einfeld 358 Eisenberg 17, 18 Eisler 287, 730, 734, 735 Eisner 463, 471 Ekeland 925 El-Faddagh 417 Elbaum 407 Eldridge 299 Eley 597 Elklit 614 Ellard 205, 948 Elliot 930 Elsner 12 Eltz 190 Emery 859 Emes 927 Emmelkamp 543 Emmerling 856 Emminghaus 112 Ende 755 Engelhardt 260 Engfer 868, 870 English 359 Epiktet 222 Epikur 222 Eppley 251 Epstein 80, 81, 85, 88, 707 Epston 636 Erickson 324 Erikson 58 Eron 107 Erssner 205 Esquirol 149 Essau 508, 537, 575, 595, 614, 666, 667, 902, 915 Esser 32, 38, 112, 128, 175, 310, 397, 399, 407, 456, 467 Estes 482 European Federation of Professional Psychologists Associations (EFPA) 977 Evans 174 Eyberg 230, 467 Eysenck 461, 462, 509, 1016
F Fabiano 163, 446, 447 Fachpsychologe/Fachpsychologin für Psychotherapie FSP 996 Fagot 463 Faier-Routman 822, 823, 947 Fairburn 698, 723 Fallahpour 850 Falloon 278 Faraone 417, 435, 447 Farrell 633, 930 Farrington 462, 465, 475, 476 Fawcett 400 Federer 595 Fegert 317, 319, 320, 328, 789, 790 Fehm 544, 545 Feldman 72 Felt 389 Fergus 771 Fergusson 385, 508, 599, 767 Fichter 725 Fiedler 367–371, 373, 375, 376 Field 489, 508–510 Fiese 460 Fifer 8 Finch 237 Findeisen 404 Fink 45 Finkelhor 872 Finlay-Jones 598 Finney 954 Fisak 33, 37 Fisher 470 Flannery-Schroeder 543, 545, 550, 551, 605, 910 Fletcher 358 Fliegel 224 Floriani 928 Florin 510, 517, 535, 536, 540, 542, 698 Florsheim 190 Flynn 673 Foa 636, 643 Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) 977, 995 Foley 599 Folkman 615 Fölster-Holst 787, 794 Fombonne 332, 336 Fonagy 72–74, 172, 287, 550 Forehand 167, 261, 262 Forster 975, 980, 981 Forsyth 309 Forth 467
Foster 49, 278, 279, 285 Fox 484, 534, 925 Francis 541 Franco 550 Frank 761, 1010 Franke 134, 135 Franklin 897 Franze 907 Franzen 698 Frederick 618 Freedman 99 Freeman 650 Fremmer-Bombik 66 French 824 Freud 325, 504, 1016 Freuds Tochter Anna 57 Frevert 138 Frey 467 Frick 455, 467 Fricke 745, 748, 750, 751, 754, 755, 757, 758, 760, 947 Fricke-Oerkermann 739, 744, 746, 747, 751, 752, 759 Friedlmeier 16 Friedman 844 Friend 541 Fritsch 352, 358 Frölich 436, 447 Frost 344, 345 Frye 671 FSP 983, 996 Fthenakis 861 Fuchs 925 Füchsel 617, 618, 874 Fuhrer 78 Fuhrmann 381 Fundundis 559 Funk 234 Fuqua 660 Fyer 538
G Gable 355 Galton 149 Gandhi 532 Gani 425 Garber 669–671, 673, 909, 911 Gardner 236, 860 Garmezy 610 Garner 725 Garrison 88 Gaschke 256
1039 Personenverzeichnis
Ge 857, 859 Gee 235 Gehring 138, 491 Geist 735 Gelfond 235, 240 Geller 632 Gemeinsamer Bundesausschuss bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 990 Gentile 234 George 63–66 Gerard 860 Gerber 816, 925 Gerber-von Müller 816 Gerlach 536, 888 Gershoff 871 Gesell 149, 151, 152 Gesellschaft für Pädiatrische Pneumologie 821, 828 Gevensleben 421 Gevirtz 814 Ghandour 804 Giaconia 614 Gibson 230 Giedd 44–46 Gil 790 Gilbreth 859, 860 Gilger 415 Gillberg 336 Gillham 915 Gilliland 951 Gilsbach 47 Ginsburg 510 Glaser 869 Glass 168, 169, 535 Gloeckner 252 Gloger-Tippelt 63, 65 Gödde 860 Gogoll 925 Goldbeck 252 Goldfried 223, 227, 779 Goldstein 343, 355, 469 Gontard 382–385 Goodman 38, 134, 135, 223, 227, 257, 263, 467, 697, 846, 848, 961, 967 Goodrich 927 Gordon 262, 271, 412, 760, 771, 775 Gordon-Larsen 929 Görtz-Dorten 433, 444, 467 Gotlib 38, 846 Gottman 81, 86, 90 Götz 236 Grados 897 Graf 534, 541, 542, 613 Graham 126, 278, 280
Granfield 352 Grant 49 Grawe 44, 52, 160–162, 169, 184, 270, 637 Grawe-Gerber 270 Grazzi 805 Greenberg 73, 471, 909, 914 Greene 891 Greenhill 889 Greenspan 352 Gregory 370, 744 Greisberg 635 Griese 826 Griffiths 151, 152, 235, 236, 305 Grills 142 Grills-Taquechel 33, 37 Grimm 147, 148 Grindler 590 Grissemann 403 Grob 1, 145, 147, 150, 152, 154 Groen 30, 32, 34, 666–668, 670, 960 Gross 100, 535 Grossman 914 Grossmann 15, 65, 69, 317, 320 Grove 345 Gruber 338 Gsellhofer 773 Guevera 205 Guillion 278 Guitar 373, 374, 379 Gull 720 Gullotta 904 Gunning 928 Gustafsson 788, 825 Gutzmann 556
H Haby 896 Hacker 471 Häcker 112 Hackethal 404 Hadwin 489, 510 Haedt 173 Haffner 252, 929 Hagberg 357 Hagenah 729, 730 Hagmann-von Arx 1, 145, 148, 149 Hahlweg 181, 255, 259, 849 Hains 952 Hall 149, 215, 943 Halmi 726 Halpern 298
E–H
Hamilton-Giachritsis 234 Hammen 260 Hammond 230, 252 Hampel 198, 199, 467, 926, 1022 Hampson 80, 88 Hamsen 929 Handwerker 747 Hanewinkel 971 Hanifin 792 Hanisch 165, 447, 914, 915 Hansburg 63, 65 Hardesty 150 Hare 455, 467 Harlow 7, 58–60 Harrington 894 Harris 299 Harrison 252, 723 Hartl 407 Hartmann 556–561, 564, 565, 568, 714, 923 Harwood 891 Hasler 947 Hassan 941 Hastings 359 Häußler 345 Hautmann 165 Hautzinger 670, 672, 678, 685, 894, 963 Haverkamp 947, 948, 949, 951 Havighurst 29 Hawkins 252, 463, 617, 914 Hay 459, 460 Hayden 558, 568 Hayes 639 Hayne 14 Haynes 370 Hayward 545, 551 Hazell 44 Heather 770 Hebebrand 722–724 Heekerens 79, 81, 279, 287 Heffner 252 Heidbreder 68 Heim 66, 69, 874 Heimberg 539, 543, 545, 551 Heinicke 328 Heinrich 421 Heinrichs 181, 252, 255, 264, 271, 273, 469, 909, 912, 914, 960, 966 Hellbrügge 152 Helmke 416 Hemmings 355 Henggeler 174, 279, 287, 471, 472 Hensdiek 511, 520 Herbauts 755 Herbrecht 343
1040
Personenverzeichnis
Hermann 251, 813 Herpertz 947 Herpertz-Dahlmann 719, 720, 722–724, 729, 734, 735, 1032 Herrmann 939 Hesse 66, 320 Hesselmann 556 Hesser 630 Hetherington 90, 856–860 Hetrick 927 Hetzer 152 Heubeck 231 Heubrock 125 Heyes 20 Heyman 632 Hilbert 692, 698, 710, 713 Hillenbrand 960 Hiller 773 Hilyer 927 Hinsch 779 Hinshaw 173 Hippokrates von Kos 824, 976 Hirsch 99 Hirshberg 52, 252 Hirshfeld-Becker 37 Hoch 763, 775, 780 Hock 85, 89 Hodges 319, 321 Hoek 722, 723 Hofecker 850 Hofecker-Fallahpour 849, 850 Hoffman 332 Hoffmann 430 Hogarth 867 Hogg 352 Holden 954 Hölling 456 Hollon 172, 173, 219, 230, 668 Holmes 873, 926–928, 941 Holodynski 16 Holt 357 Holtkamp 694, 721, 727, 729 Holtmann 52 Holtz 187, 352 Homer 824 Honkanen-Schoberth 262 Hood 376 Hope 536, 543 Hops 260 Horaz 222 Horner 361 Hornstein 39, 849 Horowitz 74, 909, 911 Hosman 271 Houts 393
Hovestadt 239 Howie 370 Howlin 337, 344, 345 Hoyer 599 Hoza 891 Hubbard 299 Hubel 67 Hubl 343 Hublin 385 Hübner 46 Hudson 511, 597, 598, 910 Hudziak 635 Huesmann 99, 107, 107, 234, 464 Hughes 174, 476 Humpert 467 Humphreys 814 Hünecke 791, 794 Hungerige 184–186, 188, 224, 229 Hünsler 809 Hurley 9 Hürter 947 Hurwitz 761 Huss 352 Huttenlocher 46 Hutton 336 Huxley 58 Huyson 536
I Ihle 175, 285, 287, 456, 668, 671, 678 Illingworth 299 In-Albon 117, 171, 257, 288, 488, 490, 499, 525, 544, 593, 604, 605, 607, 893, 987, 994 Innerhofer 278 Inoff-Germain 896, 897 Insabella 90 International Children’s Continence Society 382 International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) 353 Irblich 359 Irwin 100 Isensee 570 Ittel 89 Iwata 356, 359 Izard 536
J Jackson 514 Jacobi 727, 902, 916, 917 Jacobson 45, 246, 353 Jacqet 786 Jaede 861, 862 Jaeger 558 Jahnke 287 James 288 Jané-Llopis 909 Janicke 954 Janicki 358 Janoff-Bulman 873 Jansen 404 Jayakanthan 235 Jelalian 954 Jenmalm 790 Jenni 744 Jensen 447, 448, 890 Jerusalem 960 Jessor 458, 464 Johns 768 Johnson 12, 68, 97, 234, 304, 309, 535 Johnston 263, 884 Joiner 674 Jokeit 412 Jones 504, 720 Joormann 545, 546, 549 Jordan 88, 234 Joseph 846 Josephson 106 Junge 911, 912, 915 Junge-Hoffmeister 901 Juniper 828 Juzi 558
K Kaback 768 Kaczynski 86, 260 Kadushin 1003 Kafka 532 Kagan 487, 538, 597 Kahn 309 Kahng 359 Kain 403 Kalarchian 693 Kales 749 Kaluza 960, 969 Kaminski 669–671 Kamtsiuris 822
1041 Personenverzeichnis
Kandel 44 Kanfer 188, 224, 278, 384, 519, 775 Kanner 332, 927 Kaplan 65, 872 Karni 46 Karver 172, 184, 190 Kaslow 173, 668 Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) 988, 992 Kast-Zahn 195 Kästner 104 Kastner-Koller 152, 154 Katschnig 574 Katz 86, 90, 556 Katz-Bernstein 558, 560, 561, 563, 565, 567, 568 Kaufman 150, 352 Kaugars 823, 825 Kavsek 14 Kaye 722, 729 Kazdin 18, 160, 161, 164, 166, 168, 174, 190, 210, 230, 287, 363, 447, 888, 893, 894 Keel 173 Keeser 725 Keith 90, 91 Kellam 903, 914 Keller 31, 486, 578, 580, 586 Kendall 190, 237, 481, 487–489, 492, 510, 525, 526, 541, 543, 545, 546, 549, 550, 551, 594–596, 600, 605, 910 Kendler 538, 597, 768 Kennedy 515, 928 Kern 375 Kerwin 954 Kessler 506, 595, 844, 902, 903 Keuler 632 Kidd 370 Kiecolt-Glaser 89 Kierein 997 Kierfeld 447 King 357, 484, 490, 514, 516, 575, 625, 626, 893 Kirriemuir 235 Klagsbrun 63, 65 Kleffner 336 Klein 57, 58 Klein-Heßling 198, 960 Klemenz 187, 188 Klicpera 399 Kliegman 939 Klin 333, 340 Klüsche 252 Knechtle 924, 930 Knell 185
Knight 953 Knölker 112, 195 Knoll 924 Knopik 435 Knudsen 626 Knye 416 Koch 940 Kochanska 17 Koenen 258 Koenig 65 Koglin 34, 36, 462, 965 Kohen 761 König 63, 65 Könning 987, 988 Konrad 1, 43, 45, 47 Konstantin der Große 867 Köppe 263 Korsten-Reck 195 Kowalczyk 214 Kraemer 142, 908, 909, 930 Kraenz 744 Krahe 234 Krakow 761 Kramer 150 Krampen 248, 620, 1023 Kratochvil 889 Kratochwill 570 Kremberg 550 Kreppner 436, 859 Krichbaum 953 Krischer 467 Krishnakumar 87, 89 Kristensen 557 Kröger 917–919 Krohn 569, 570 Krohne 85, 89, 138, 849 Kromeyer-Hauschild 690, 691, 694 Kronbichler 401, 403 Kröner 252 Kröner-Herwig 803, 806, 807, 810–813, 816, 947 Kronmüller 185, 191 Krüger 791 Krummrich 959 Kryspin-Exner 980 Kubinger 150, 153, 352 Kuder-Richardson 541 Küfner 773 Kuhlmann 425 Kuhn 408 Kuhr 376 Kumpulainen 558 Kupfer 793 Kusch 339 Kusché 471
H–L
Kuschel 258 Küspert 403, 404 Kussmaul 556
L L’Abate 83 La Greca 540, 541 Lahey 434, 456 Laireiter 1010, 1022 Lambert 184, 190, 352 Lampert 970 Landau-Kleffner 336 Landenberger 477 Landerl 395, 397, 399, 401–403, 406 Landolt 609, 610, 613–615, 618 Lang 513, 542 Lange 947 Langfeldt 790 Långström 336 Largo 389 Larson 299 Larun 926, 927 Laségue 720 Last 490, 517, 537, 595 Lau 926 Laub 459, 465 Laucht 26, 32, 38, 84, 845 Lauth 6, 9, 10, 17, 18, 181, 221, 228, 231, 262, 411, 412, 414–420, 424, 425, 444, 447, 1027 Lavigne 822, 823, 947 Lawson 509 Lazarus 514, 615, 948 Lazovik 542 Leal 590 Leavitt 300 Leckman 651, 652, 660 Lecours 44 Lee 358, 949, 952 Legenbauer 731 LeGrange 735 Lehmann 403 Lehmkuhl 160, 161, 175, 319, 326, 385, 416, 436, 511, 575, 670, 745, 748, 750, 751, 754, 755, 757–760, 888, 947 Lehtonen 297 Leins 421, 425 Leitenberg 517 Lemanek 954 Lemerise 414, 425 Lenhard 403
1042
Personenverzeichnis
Lenz 185 LePage 104 Leplow 546, 547, 549 Lerner 30 Lesser-Katz 556, 558 Levant 271, 272 Leve 174 Levine 391, 694 Lewinsohn 599, 672, 676, 902 Lewis-Jones 789 Li 252 Liberman 399 Lichtenstein 788 Liddle 174, 279 Lidstone 929 Lieb 763, 767, 768, 1004, 1008, 1011 Lieberman 236, 324, 325 Lilenfeld 722 Lilienfeld 696 Lindberg 297, 298, 305, 306 Lindenmeyer 776 Linder 403 Linderkamp 181, 209, 216 Lindsay 89, 90, 518, 977 Linehan 880 Lingg 357 Linnet 435 Linscheid 300, 310 Liossi 252 Lipsey 475, 477 Lisofsky 844, 845 Lissau 928 Lister 299, 393 Lister-Sharp 393 Littell 288 Livingstone 234 Lock 735 Loeber 455, 458–460, 462, 463 Loening 389, 391 Loevinger 484 Löffler 89 Lohaus 198, 252, 960, 969 Löhe 107 Lohmann 1003, 1004 Londen 386 Long 447 Lonigan 173 Lopata 252 Lopez 664 Lorenz 57, 58 Lösel 230, 453–455, 457–470, 472, 475–477, 909, 914 Lotter 337 Lovaas 341, 343–345, 356
Lowenstein 550 Lowry-Webster 915 Lübben 546, 549 Luborsky 74 Luckasson 352, 354 Luka-Krausgrill 807 Luna 46 Lundahl 264, 272, 273, 476 Lynch 873 Lyneham 597, 598, 600, 605
M Maccoby 860, 861 MacDonald 539, 883 Mace 359 Macha 147, 944 MacKenzie 28 Mackowiak 181, 188, 221 MacMillan 869 Magiati 345 Mahoney 89 Main 62–64, 70, 317, 318, 320 Majewicz-Hefley 288 Manassis 481, 487, 538, 544, 551 Mannarino 626 Mansueto 632 Marc Aurel 222 March 636, 637, 641, 643, 890, 895, 896 Marcus 693 Marées 960 Margraf 515, 544, 545, 600, 773 Markie-Dadds 266, 278 Markiewicz 86 Marlatt 771, 775 Marshburn 358 Marten 545, 546 Martin 216, 355, 510 Martinez 52, 821, 824 Martschinke 404 Marvin 63, 64, 317, 318 Marx 403 Mash 263 Masi 594, 595 Masia-Warner 541, 542 Masten 40, 83 Masters 252 Masuda 639 Mataix-Cols 634 Mathisen 305 Mathwig 405 Matson 358, 360
Mattejat 138, 161, 181, 277, 279, 280, 285, 287, 491, 730, 731, 844, 845, 1001, 1002, 1005, 1007 Maughan 434, 458 Maurice 355 Mause 867 Max 435 Mayringer 396, 398, 403 Maziekas 928 Mazur 211, 673 McArthur 927 McBride 56, 74 McCart 171, 288, 447 McCarty 172, 894 McConnell 343 McCord 475 McCracken 346 McDonough 324 McDougle 346 McDowell 928 McFarlane 235 McGill 356 McGrath 811, 814, 954 McIntosh 735 McKay 631, 635 McKeen Cattell 149 McLeod 273, 487 McMahon 261, 262 McManus 534, 535, 544 McMaster 80, 84 McNaab 829 McQuaid 822, 829, 838, 954 Mead 58 Meichenbaum 223, 227 Meier 298 Meinlschmidt 1015, 1023, 1032 Melchers 150, 152–154 Melfsen 531, 535, 536, 540, 542, 546, 551, 555, 562, 578, 580, 708 Mellon 954 Melvin 896 Melzer 463 Menzies 516 Merckelbach 509, 510 Merikangas 768, 930 Merrell 669, 966 Merry 927 Messer 309, 484, 518 Messner 1, 95 Metzker 558 Metzner 570 Meyer 670 Meyerhofer 31 Meyers 559 Michael 247, 288, 894
1043 Personenverzeichnis
Michelson 889 Mikail 808 Miller 263, 464, 775, 880 Miltenberger 660 Minde 301, 302, 304, 318, 321, 325 Mindell 303, 304, 309, 755, 757 Mineka 509 Minnis 315 Minns 296 Minuchin 79–81, 729, 824 Miranda 807 Mitte 550 Mnookin 860, 861 Möbius 795, 799 Moffitt 459–463, 846 Mogg 488 Moggi 865, 868, 870–872, 875 Möhrenschläger 788 Molitor 99 Möller 234 Moore 370, 760, 789, 939 Mor 258 Moreno 506, 508, 513, 515, 517 Morgan 925 Morgenroth 195 Morris 534, 537 Mosheim 74 Moss 352, 358 Mößle 98 Motl 930 Motzkau 874 Mowrer 508, 770 Mrochen 187 MTA Cooperative Group 446 Muchitsch 567 Mühlig 196, 517, 518, 970 Mulick 353 Mulle 636, 637, 643 Müller 271, 755, 757 Munakata 47 Munn 869 Munoz 454 Munsch 689, 692, 695, 698, 699, 709, 711–714 Muris 40, 85, 510, 599 Murphy 205 Murray 518, 664 Musty 768 Mutius 821, 822, 824 Mutrie 925, 931
N Nagle 590 Naish 805 Nakaya 252 Nakumara 540 Nanke 252 Nassau 829, 838, 954 Nathanson 108 National Center for Clinical Infant Programs 119 Nationaler Ethikrat 430 National Institute of Health and Clinical Excellence 271 Natzke 967 Nauta 526 Neidhardt 252, 510 Neill 1002, 1004, 1010, 1011 Nelson 237 Nemeroff 66, 67, 69 Neudeck 778 Néveus 382, 383 Newcorn 415 Newman 597 Nicholson 844, 846 Nickel 252 Nicolle 720 Nicolson 400 Niebel 795, 796, 798, 799 Nietzel 230 Nigg 32, 436, 437, 438 Nihira 352 Nissen 569, 888 Noack 856, 861 Noeker 24, 32, 36, 202, 203, 937, 939, 941, 946–949, 951, 953, 954 Noone 359 North 930 Norton 536 Nowack 822 Nowak 271, 273 Nündel 486, 508 Nunn 655, 660
O O’Connor 90, 169, 318, 319, 321–323, 660 O’Leary 260 O’Neill 361 Odom 355 Oerter 16, 279
Ogden 693 Ohayon 746 Olds 476 Ollendick 142, 229, 499, 508, 510, 513, 514, 516, 541, 580, 893 Olsen-Rando 236 Olson 79, 80, 88 Oltras 930 Olweus 463 Omizo 247 Onslow 372, 373 Orlinsky 184, 190 Ortiz 462 Orton 399 Öst 506, 519, 525, 539 Owens 744, 755–757
P Paclawskyj 359, 360 Paik 96, 98 Palma 720 Palos 790 Pankau 697 Pantino 938 Papert 234 Papoušek 6, 9, 17, 297, 298, 301 Paracelsus 786 Parker 72 Parsons 287 Pasteur 940 Pätel 181, 243 Paterok 755, 757 Patterson 85, 86, 256, 272, 278, 434, 437, 438, 458, 462 Pauen 1, 3, 14 Paul 160 Pauls 651 Pavlow 7 Pawlow 770 Payne 234 Pear 216 Pears 463 Peck 252 Pelham 163, 174, 230, 446, 447, 889, 890 Pelissolo 537 Perfetti 399 Peris 859 Perkonigg 614 Perner 20 Perrez 1, 77, 78, 81–85, 88, 90, 871, 872
L–P
1044
Personenverzeichnis
Petermann 1, 8, 15, 21, 23, 24, 26, 28, 30–32, 34–36, 38–40, 125, 147, 148, 150, 152–154, 167, 175, 181, 193, 195–204, 215, 226, 243–252, 263, 339, 438, 441, 442, 444, 467, 469, 470, 541, 542, 546, 549, 620, 653, 680, 804, 823, 902, 938, 939, 941, 944, 947, 948, 951, 954, 959–969 Petersen 666, 768 Peterson 660 Pfeiffer 98, 259, 319, 326, 328, 731 Pfingsten 546, 549, 779 Pfister 773 Piacentini 660 Piaget 4, 58, 229 Pietz 149 Pihl 590 Pike 735 Pilkonis 74 Pimentel 594 Pina 513, 525 Pincus 467 Pine 486, 508, 599, 620 Pinheiro 866 Pinilla 302 Piquero 475, 476 Pliszka 434 Plomin 461 Plück 165, 444 Plume 404 Polanczyk 434 Polemikos 252 Pössel 663, 672, 678, 679, 685, 894, 911, 915, 916 Poustka 119, 175, 331, 333, 336–338, 342, 345 Powell 263 Powers 355, 805, 954 Poznanski 664 Prange 88 Prause 532 Prensky 234, 235 Preuss 150, 153 Preyer 149 Priester 150 Pryce 67, 68 Pudel 203 Pühse 923 Puliafico 489 Pulsack 138, 849 Purdie 425 Purdon 633 Purper-Ouakil 930 Pynoos 873, 874
Q Quadflieg 725 Quaschner 1001, 1007
R Raabe 466 Raberger 400 Rabinowicz 45 Rabovsky 206 Rachman 509 Racusin 668 Radcliffe 617 Radomsky 635 Raine 461, 462 Rajka 792 Ramchandani 309 Rao 298 Rapee 536, 543, 597–601, 605, 912, 915 Rapoport 896, 897 Raskind 590 Rasnake 300, 310 Rasquin 388 Rathner 809 Rauh 483 Rausche 540 Ravens-Sieberer 257 Rayner 504 Rechtschaffen 749 Reck 6, 8, 15, 17, 847, 849, 850 Redd 235 Reddy 328 Reed 903 Rees 321 Reese 919 Reicher 104 Reid 278, 914 Reilly 297, 305, 928 Reinecker 211 Reinehr 938 Reinemann 883 Reinhardt 820, 824 Reinhold 807 Reiss 44, 357, 358, 361 Reister 658, 660 Reivich 915 Remschmidt 118, 119, 121, 138, 279, 335, 455, 491, 506, 539, 557, 559, 1021, 1031 Renkl 416
Renziehausen 152, 154 Repp 359 Resch 24, 26, 29, 39 Reuner 149, 152, 153 Reuter-Liehr 405 Ribeaud 471 Ribordy 590 Ricci 795, 799 Richman 309 Richter 319 Richters 164 Rickert 304, 309 Riddle 897 Rief 252 Rieger 67 Riemann 745, 755, 757 Rimland 332 Ring 790 Ringdahl 361 Ritter 516, 785 Riviere 58 Robert-Koch-Institut 822 Robert-Tissot 327 Robertson 318, 650, 770 Robin 249, 252, 278, 279, 285, 287 Robinson 174 Robles 89 Robson 384 Rockstroh 421 Roehrle 862 Roessner 38, 651, 652, 655 Rojahn 351, 355, 357, 358, 360 Rollett 969 Rollnick 775 Ronan 481, 487, 488, 510, 541 Ronen 19 Ronnestad 1004 Roos 968, 969 Rosaen 252 Rösler 557, 560 Rossmann 670, 809 Rost 577, 578, 579, 587 Roth 407, 694, 699, 712, 713, 788, 926, 927 Rothenberger 650, 651, 653, 660, 888, 894 Röthlisberger 925 Rotter 590 Rovée-Collier 14 Royal College of Psychiatrists 355 Rueda 51 Rueden 793 Ruf 618, 621 Ruhl 727 Rühl 335, 338
1045 Personenverzeichnis
Ruhmland 515 Runkel 453 RUPP Autism Network 345, 346 Russel 169, 279 Russell 734, 930 Rutter 24, 33, 34, 39, 73, 119, 126, 336, 338, 344, 465, 610, 848 Rydell 297 Rynn 893 Rzepka-Meyer 1010
S Saarni 15 Saavedra 507 Sacker 925 Sacks 648 Saelens 954 Safren 44 Sagi 66 Saile 244, 247, 251, 252 Saiz 185 Salisch 89 Salkovskis 632 Salonius-Pasternak 235, 240 Salter 89, 871 Salzgeber 979 Sameroff 27, 28, 33, 460 Sampson 459, 465 Sandberg 826 Sanders 261, 264, 266, 271, 814, 851, 912 Sandman 356 Santosh 889 Saradijan 195 Sarimski 357, 358, 947, 948 Saslow 384, 775 Sass 113, 114, 118, 396, 413, 455, 456, 574, 611, 612, 648, 872, 873 Sattel 447 Scahill 436, 635 Scarborough 400, 401 Schaller 561, 566 Scharff 806, 807 Schauerte 203 Scheeringa 613, 617 Scheewe 796 Scheib 278 Scheithauer 914, 960 Scher 298 Scherer 540 Schermer 211, 215, 577–579, 587 Scheurich 773
Schick 914 Schindler 779 Schlicht 931 Schlottke 10, 17, 18, 228, 411, 412, 414–420, 424–426, 444, 1027 Schlup 503 Schmaling 455 Schmelzer 1002–1004, 1010, 1011 Schmid 252 Schmid-Traub 788 Schmidt 24, 28, 31, 34, 35, 40, 198, 407 Schmidt-Denter 857, 858, 860–862 Schmidtchen 161 Schmidtke 561, 566 Schmucker 462, 477 Schneewind 78, 79, 279 Schneider 1, 16, 49, 111–114, 117, 123, 125–127, 129, 132, 137, 140, 142, 163, 168, 169, 171, 175, 195, 213, 230, 249, 257, 288, 403, 404, 407, 416, 467, 474, 475, 481, 484, 486–494, 497, 499, 503, 508, 511, 512, 517, 520, 521, 523, 525, 544, 564, 588, 599, 600, 604, 605, 607, 617, 697, 708, 710, 773, 843, 847, 850, 893, 1031 Schöbi 85, 871, 872 Schöler 147 Scholing 543 Scholz 138, 491 Schopler 345 Schredl 742, 756, 761 Schreiner-Zink 381 Schuch 631, 980, 987, 996 Schulte 186 Schulte-Körne 401, 405, 408 Schulte-Markwort 258 Schulz 340 Schumacher 125, 127, 140 Schwarte 719 Schwarz 855–857, 859–861 Schwarzer 26 Schweinhart 475 Schwimmer 692 Seemann 816 Séguin 149 Seifert 569 Seil 874 Seipp 575 Seitz 540 Seligman 508, 509, 893 Selz 227 Seneca 222 Serketich 476 Sevecke 467 Sexton 278, 279, 287
P–S
Seymour 305, 309 Shaffer 118 Shannon 68 Share 398 Sharenow 660 Sharp 393 Shaw 532, 909, 911, 916 Sheehan 376 Sheidow 176, 287, 471 Shimada 299 Shirk 169, 172, 184, 185, 190 Shochet 912, 915 Shogren 360 Shure 228, 470 Siegel 287 Sigman 338 Silbereisen 969, 970 Silberg 599 Sillanpää 806 Siller 338 Silver 947 Silverman 173, 490, 491, 506–508, 510, 513, 515, 517, 518, 525, 545, 551, 575 Sim 617 Simmons 356 Simon 149, 152 Simonoff 336 Simons 629, 643 Singer 107 Siqueland 484 Sisk 48, 49 Skinner 210, 770 Skounti 433 Skovgaard 120 Skovholt 1004 Skowron 883 Skuse 297–299, 305, 306 Slep 260 Smedje 744 Smetana 859 Smiley 355 Smith 168, 169, 184, 195, 626, 848, 926, 927 Smyke 317, 319 Snider 634 Snijders 151, 153 Snow 397 Snyder 85 Soeder 903 Solomon 62, 64, 65, 317, 318 Sonntag 782 Sonstroem 925 Sonuga-Barke 174, 437 Sood 807 Sorce 847
1046
Personenverzeichnis
Southam-Gerow 550 Sowers 355 Soyka 807 Spangler 64, 69, 317, 320 Sparrow 339, 352 Spear 47 Spence 7, 535, 536, 543, 544, 599, 915 Spencer 650, 889 Spitz 57 Spitzer 98 Spivack 228 Spröber 914, 961 Squires 707 Sreenivasan 515 Sroufe 24, 29, 30, 39, 70, 73, 483 Staab 795, 799 Stahl 359, 408 Stallard 237, 625 Standop 368–371, 373, 376 Stangier 543, 785, 793–795, 799 Stanovich 404 Stapf 112 Stark 484 Starkweather 371, 373 Stathakos 862 Steele 72 Steer 626 Steigman 849 Steil 617, 618 Stein 305, 400, 626, 903, 947 Steinacker 252 Steinberg 618 Steinberger 631 Steinhausen 112, 175, 357, 358, 558, 559, 564, 565, 595, 723, 887–889, 894, 948 Stemberger 539 Stern 150 Stevens 590 Stewart 632 Stice 695, 909, 911, 916 Sticker 147, 152, 154 Stieglitz 287 Stiensmeier-Pelster 578, 580, 670, 708 Stiller 925 Stone 570 Stopa 536, 540 Stoppe 206 Storch 634 Stores 296, 300, 749, 756, 757 Storksen 858 Strauss 484, 490, 537 Strayhorn 263 Strehl 247, 252, 411, 412, 415, 417, 421, 422, 426 Stresau 532 Strohschein 860 Strong 927, 928
Strouthammer-Loeber 459 Stuart 846 Stubbe 847 Stuber 616 Stueck 252 Sturge-Apple 87 Subrahmanyam 235 Suchodoletz 404 Suhr 589,590 Suhr-Dachs 573, 576, 578, 581–583, 586, 587, 589, 590, 960, 964 Sulz 1032 Summerbell 697–699 Sun 857 Sundelin 297 Suomi 68 Suppiger 1, 111, 117, 124 Süss-Burghart 557 Suter 235 Svartegren 788 Swanson 234, 425, 448, 889, 891 Sweeney 46 Sydow 287 Sygusch 925 Szagun 19 Szapocznik 174
Tinbergen 58, 349 Tizard 319, 321 Tofler 929 Tonge 358 Torey 568 Torgesen 407 Toumbourou 781 Tramer 556 Traue 807 Trautman 550 Trautmann 812, 813, 815 Trautner 6, 229 Treasure 729 Tremblay 457, 462, 467 Tretter 782 Trevarthen 298 Tronick 847 Tröster 152, 154 Trott 195 Trudeau 252 Tully 51, 436 Tunner 517 Türke 903 Türke-Teubner 125, 127, 137 Turmes 849 Turner 508, 534, 537, 540, 541, 551, 633, 915 Twenge 504
T Tacke 404, 408 Tallal 401 Tanner 50 Tannock 412 Tanofsky-Kraff 692–694 Target 63, 66, 550 Tasto 514 Taubman 309, 389 Taubmann 388 Taylor 44, 415, 441, 889, 890, 916, 919 Tegethoff 1015, 1023, 1032 Tellegen 151, 153 Terman 149, 150 Terr 610, 611, 873 Tewes 352, 511 Thamm 970 Theunissen 357 Thiel 578, 580, 725 Thomas 99 Thomasius 768 Thompson 45, 46, 353, 871 Thorndike 770 Thronick 20 Thünstrom 298 Thurner 511 Timimi 415
U Uhde 558, 562, 569, 570 Uhlmann 234 Ullrich 859 Ulrich 356 Underwood 455 Unnewehr 545, 546, 549, 845
V Vaitl 251 Valentino 873, 874 Valois 925 Vandeleur 88 Vandereyken 720 van der Plas 393 Van der Ploeg 590 Van der Ploeg-Stapert 590 Van Eenwyk 240 Van Furth 730 van Goor-Lambo 119 Van Ijzendoorn 66, 73, 299 van Londen 386
1047 Personenverzeichnis
Van Riper 376 Van Strien 698 Varni 814, 823, 828 Vasey 489, 535 Vasterling 235 Verdoux 767 Vernberg 539 Veron-Guidry 698 Versager 256 Vineland 339 Vitaro 27 Vitousek 728 Vitulano 951 Vloet 729 Vocks 731 Vögele 695 Vogt 773 Vogt-Hillmann 547 Volkmar 319 Vollmer 360 von Aster 888 von Bingen 786 Vonderlin 1, 3 von Gontard 381, 387–389, 391, 393 Vonnahme 968 von Pettenkofer 940 Vossen 120
W Wade 666 Wagenbach 532 Wagenschein 231 Wagner 674, 880, 893, 894 Waizenhofer 859 Wakschlag 437 Walco 814, 954 Walden 969, 970 Waldron 174 Walker 345, 805 Walkup 893 Walper 858, 859 Walsh 400, 729 Walter 444, 445, 447 Walters 231 Wamboldt 822 Warman 596 Warnke 278, 531, 555 Warren 355, 487, 575 Warschburger 204, 790, 796, 819, 823, 825, 828, 835, 836, 938, 947 Watanabe 288, 927 Watson 504, 541 Watzlawick 633 Weber 351, 352, 358, 558
Webster-Stratton 90, 230, 261, 262, 271, 278, 470, 471, 911, 912, 914 Wechsler 150 Weckstein 569 Weems 518 Weersing 285, 287 Weichold 970 Weidman 263 Weiler 773 Weinberg 20, 621, 624, 664 Weindrich 89 Weinstein 822 Weir 929 Weiss 166 Weisshaupt 412 Weissman 850 Weissmann 437 Weisz 18, 166, 168–172, 216, 219, 285, 287, 288, 474, 893, 894 Wekerle 877, 880 Wells 167, 534, 632, 633, 890, 891, 909, 911 Welsh 475, 476 Weltgesundheitsorganisation (WHO) 271 Wendlandt 376 Werner 34, 83, 84, 848 Werry 219 Wessel 296 Westenberg 485 Wetter 743 Wewetzer 634, 897 Whalen 891 Whitaker 928 White 636 Whitehouse 50 Whiteside 634 WHO 34, 58, 119, 371, 382, 388, 664, 695 Wieczerkowski 578, 579 Wiedebusch 15, 960, 966 Wiedemann 194 Wiesel 67 Wiggs 749 Wignall 600 Wikström 463 Wilhelm 660 Wilkins 556 Willcutt 397, 436 Williams 510, 643, 788 Williamson 698 Willutzki 1010 Wilson 174, 475– 477, 590 Wimmer 20, 396, 399, 400, 403, 407 Wing 332 Winkel 961, 963 Winkelman 73 Winquist 258
S–Z
Winzelberg 916 Wirsching 278 Wittchen 120, 537, 538, 595, 767, 771, 773, 778, 902, 903 Witting 61, 63, 64 Wlazlo 545 Woerner 961 Wolf 400 Wolff 298 Wolke 32, 33, 37, 293, 295–301, 305, 309, 310 Woll 924, 926 Wollersheim 219 Wood 252 Woodard 234 Woodward 508, 599 World Health Organization (WHO) 114, 278, 318 Wright 65, 299, 559, 825 Wundt 149 Wurst 150, 153, 352
Y Yagci 252 Yairi 372 Yakovlev 44 Yale 340 Yerkes 150 Yu-Feng 252 Yue 518 Yule 515
Z Zabinski 913 Zangerle 809 Zboyan 52 Zeanah 317–319, 321–323 Zehrl 48 Zeltzer 814 Zernikow 808, 809 Ziegenhain 36, 293, 313, 317, 319, 320, 324, 327, 328 Ziegler 875 Ziemann 652 Zigterman 535 Zimmer 1003, 1004, 1011 Zimmerman 7 Zimmermann 59, 508, 690, 694, 771, 781, 782, 928 Zink 385, 387 Zrull 664
1049
Sachverzeichnis A ABA-Programm 344 ABAB-Plan 363 Abbau inadäquaten Elternverhaltens 496 ABC-Beobachtungsbögen 362 ABC-Schema 681 Abhängigkeitssyndrom 764 Ablehnungstraining 778 Abschiedsritual 777 Adaptabilität 79, 88 ADHS 400, 403, 667 Adipositas 928, 938 – Ätiologie – Essverhaltensweise 695 – genetische Prädisposition 695 – multifaktorielle Ätiologie im Kindesalter 696 – passiver Lebensstil 695 – somatische Folge 691 – sozioökonomische Benachteiligung 691 – Verlauf 694 Adipositas-Rebound 690 Adoleszenz 46, 48, 49 Adult Attachment Interview 66 Affektbenennung 619 Affektive Störung, anhaltende 665 Affektregulation 619 Aggression 96, 630 Aggression Replacement Training (ART) 469 Aggressionsmodell, generelles 101, 103, 105 aggressiv-oppositionelles Verhalten 967 aggressive Kinder 249 aggressives Verhalten 250 Aggressivität 455 Ainsworth, Mary 57, 60 Akteneinsicht 980 Aktenführung 980 Aktivierungsregulation – mangelnde 414 Aktivität, körperliche 924 Akzeptanz- und Commitment Therapie (ACT) 639 Albtraum 742 ALF-Programm 970
algogene Substanz 807 Alkohol 938 allgemeine Entwicklung 155 allgemeine Entwicklungsdiagnostik – Geschichte 151 allgemeiner Entwicklungstest 151 Alltagspraxis, psychotherapeutische 72 Alternativverhalten 777 altersabhängige Kompetenz 6 amotivationales Syndrom 768 Amphetamine 889 Analyse des Problemverhaltens 772 Anamnese 772 Angst 630, 807, 825, 832, 926 – schlafbezogene 753 Angsthierarchie 494, 515, 523, 602 Ängstlichkeit 36, 809 – Lernmechanismus 37 Angstmanagement 636 Angstreaktion 505 Angstsensitivität 807 Angststörung 201, 481, 503, 531, 542, 573, 593, 632, 667, 722, 822 Angstsymptom 862 Angstthermometer 523 Angstverlauf 521 Angst vor medizinischem Eingriff 517 Annäherungsmotivation 638 Anorexia nervosa 720 – Definitionskriterien 722 Anpassungsstörung 787, 791 anteriorer cingulärer Gyrus 17 Anti-Stress-Training (AST) 199 antibiotische Therapie 634 Antidepressiva 889 antinozizeptive Systeme 807 antisocial behavior 455 antisoziale Persönlichkeitsstörung 455 Antrag an den Kostenträger 1016 apparative Verhaltenstherapie 386 Applied Behavior Analysis 343 Approbationsprüfung 988 Äquifinalität 30 Arbeitseingliederung 345 Arbeits- und Sozialverhalten, schulbasiertes Training 968 Ärgerkontrolle 468 Asperger-Autismus 632 Asperger-Syndrom 543 Assoziationslernen 770
Asthma 202, 819 Asthma-Management 204 Asthma-Verhaltenstraining (AVT) 203 Asthmaanfall 822, 837 Asthmaattacke 826, 829, 830, 832 Asthma bronchiale 203, 250, 819 – Erziehungsberatung 835 – Exploration 827 – Gruppentherapie 811 – Hyperreagibilität 823, 824 – Krankheitsbewältigung 822, 828, 829, 833, 838 – Moderator 823 – Lebensqualität 822, 828, 830, 838 – Schweregrad 821, 826, 835 – Spontanremission 822 – Stress 823, 825, 826, 828–830, 835, 925 Asthmapersönlichkeit 824 Atmungsstörung – schlafbezogene 749 Atomoxetin 889 Atopie 787 Attentional Bias 510 Attribution 576 Attributionsmuster 678 Audiofeedforward 567 Aufbau sozialer Kompetenz 779 Aufbau von Autonomie 496 Auffrischungssitzung 604 Auffrischungstraining 972 Aufklärungspflicht 979 Aufmerksamkeit 12 – Aufmerksamkeitsspanne 12 – Aufmerksamkeitssteuerung 13 – visuelle Aufmerksamkeit 12 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) 37, 250, 397, 412, 431, 667, 929, 960 – komorbide Störung 434 – Psychopharmakatherapie 889 – Verhaltenstherapie 888 Aufmerksamkeitsstörung 411, 431 – Ätiologie 415 – Auffälligkeit, neuroanatomische und biopsychologische 412 – Basistraining 419, 420 – biologisch-behaviorales Modell 415 – Diathese-Stress-Konzept 414, 418 – Erziehungsschwierigkeiten 413 – falsch negative Diagnose 417
A
1050
Sachverzeichnis
Aufmerksamkeitsstörung – Interaktionsmuster, negative 414 – Komorbidität 415 – Meidungsverhalten 414 – Subtyp 426 – Spontanaktivität 421 – Umweltreaktion, negative 419 – zentrales Defizit 417 Aufmerksamkeitstraining 548 Augmentationsbehandlung 897 Ausbildung – Deutschland 988 – Österreich 997 – Schweiz 994 Ausbildungssupervision 1003 Auslöser 820, 825, 826, 830, 833, 835 – Allergen 820 – Inhalationsreiz 820 Ausscheidungsstörung 382 Autismus 332 – Ätiologie 337 – genetische Untersuchung 337 – Störung der Synapsenbildung 337 – verminderte Konnektivität 337 – biologische Auswirkung 343 – Frühförderung 344 – soziale Interaktion 333 – zerebrale Bildgebung 337 – Spracherwerb 338 – Untersuchungsinstrument 338 – ADI-R 338 – ADOS 339 – Fragebogen zur sozialen Kommunikation 338 – soziale Reziprozitätsskala (SRS) 338 autistische Psychopathen 332 – Behandlung 341 – Differenzialdiagnose 336 – Epidemiologie 336 – Komorbidität 336 – Pharmakotherapie 341, 345 – Prognose 337 – Psychoedukation 342 – Sprachaufbau 341 – Symptomverteilung 334 Autismus, frühkindlicher 898 Autismus-Spektrum-Störung 332 autistische Störung 332 Autoaggression 357 autogenes Training 248, 252, 757 Automatisierungsdefizit 400 autonome Dysfunktion 807 autosuggestive Verfahren 757 aversive Intervention 778
B Basalganglien 46, 634 Basisverhaltensweise 186 Basler-Bilder-Angst-Test, B-BAT 511 Bauchschmerz 806 BED 692 – Ätiologie – genetische Transmission von Essanfällen 696 – psychische Vulnerabilität 696 – Diagnose 692 – Komorbidität 694 – Verlauf 694 Befund – psychischer 1030 – somatischer 1030 Begleit- und Folgestörung 38 begleitende Elternarbeit 324 Behandlung der Adipositas – Advocatus-Diaboli-Übung 702 – Ampeldiät 707 – Behandlungsziel 699 – familiäre Essensregeln 703 – Hänselei 704 – Indikationsstellung 698 – Psychoedukation 701 – realistisches Gewichtsziel 702 – Richtlinie 698 – stationäre Behandlung 699 – TAKE 699 Behandlung der BED – Beeinträchtigung der Impulskontrollregulationsfähigkeit 711 – Psychoedukation 710 – Reaktionskontrolltechnik 711 – Selbstverbalisation 711 – Stimuluskontrolle 711 – vorläufige Richtlinie 709 Behandlungsleitlinie 175 Behandlungsplan 1022 Behandlungsrahmen 1030 Behandlungsziel 138 Behavioral Avoidance Test, BAT 511 behavioral inhibition 597 Belohnungsaufschub 9, 17 Belohnungssystem (reward system) 769 Benennungsflüssigkeit 400 Benzodiazepine 893 Beobachtungslernen 9 Beobachtungsprotokoll 213 – Dauerprotokoll 213 – Häufigkeitsprotokoll 213 – Intervallprotokoll 213
Beratungs- und Planungsgespräch 282 Berufsethik 985 – Eide 976 – Kompetenz 977, 984 – Nähe und Distanz 983 – private Beziehung 983, 984 – Privatsphäre 980, 983 – Verantwortung 977, 978, 984 Berufskodex 997 Berufsordnung 976 Bestrafungsverfahren 360 β-Endorphine 930 Bewältigungs- und Ressourcenorientierung 942 Bewegungsspiel 249 Bewegungsstörung, schlafbezogene 744 – Bruxismus 743 – Periodic Limb Movement Disorder 743 – Restless-Legs-Syndrom 743 – rhythmische 743 Beziehung 184, 185, 187, 188, 190, 191 Beziehungsgestaltung 637, 1005 Bindung 184, 187, 190, 314, 846 – Familie 71 – hochunsichere 317, 320 – Jugendalter 71 – Kindesalter 71 – Säugling und Kleinkind 71 – sichere 317 – unsichere 415 – unsicher-ambivalente 317 – unsicher-vermeidende 317 Bindungsqualität – Klassifikation 62 – Längsschnittstudie 72 – transgenerationale Weitergabe 72 Bindungsrepräsentanz 74 Bindungsstil – Methoden zur Erfassung 63 – Typ A unsicher-vermeidender 320 – Typ B sicherer 320 – Typ C unsicher-ambivalenter 320 Bindungsstörung 314 – des Kindesalters mit Enthemmung 314, 316 – Entwicklungsverlauf 321 – mit fehlender Bindung 318 – reaktive 415 – Therapie und Behandlung 323 bindungstheoretische Grundannahme 319 Bindungsverhalten 61 Binge Eating Disorder (BED) 692
1051 Sachverzeichnis
Biofeedback 247, 252, 811 Biofeedbacktraining 387 biographische Anamnese 1020 biomedizinisches Krankheitsmodell 940 biopsychosozial 27 bipolare Störung 664 Blasen-/Darmschulung 391 Blasendysfunktion 382 Blut-, Spritzen- oder Verletzungsphobie 519 BMI-Perzentil 690 Bobo Doll 103 Body-Mass-Index 690 Bologna-Prozess 993 Bowlby, John 57 Bremer Neurodermitis Training für Eltern 204 Bronchodilatator 820, 824 Buchstabe-Laut-Beziehung 396–398, 405, 406 Buchstabe-Laut-Zuordnung 398, 407 Bullying 415, 960 Bundesfamilienministerium 108 Bundespsychotherapeutenkammer 976 Burn-out-Syndrom 929
C Cannabis 49 Cannabispsychose 767 case reports 1031 Chaining 214 – backward chaining 215 – forward chaining 215 Checking 302–304, 308 Chiffre 1032 Child Attachment Interview 65 Child Behavior Checklist (CBCL) 135, 635, 822 Children‘s Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (CY-BOCS) 635 Childrens Depression Rating Scale, Revised 895 chronische Erkrankung 202, 947 – Makroanalyse 951 – Mikroanalyse 951 chronischer Schmerz 803 – Eltern 808, 816 – Epidemiologie 806 – Hypersensitivität 807 – Internettraining 813 – Katastrophisierung 807
– life events 808 – Selbsthilfeprogramm 811 – soziale Einflüsse 808 Circumplex-Modell 79 Clomipramin 897 Clonidin 889 Co-Abhängigkeit 779 Cognitive-Behavioral Group Therapy for Social Anxiety Disorder in Adolescents (CBGT-A) 545 Cognitive Biases 510 Compliance 140, 194, 821, 822, 825, 830, 832, 834, 835 Computerspiel 100, 234 – 3D-Umgebung 239 – Abstumpfung, emotionale 234 – Animation 239 – Auswirkung, negative 234 – Einsatz, innovativer 235 – Fantasiespiel 240 – First Person Shooter 100, 235, 237 – Gütesiegel 238 – Handlung, aggressive 234 – Inhalt, gewalttätiger 234 – Lernansatz, neuer 235 – Mangel an Empathie 234 – Mehrwert 238 – Potenzial, innovatives 238 – psychotherapeutisch 236 – Regel, soziale 240 – Schatzsuche 236 – Schatzsuche, Indikation 238 – Überraschungseffekt 238 – Verhaltenstherapie light 238 Cool Kids 600 Coping Cat 600 Copingstile 807 Copingstrategien 579 Craving 778
D daily hassles 808 Definitionskriterien 722 Delinquenz 455, 464 Depression, atypische 666 Depression 38, 857, 927, 929 – automatischer Gedanke 673 – entwicklungsbedingtes Symptom 669 – funktionaler Gedanke 681 – ICD-10, Unterschiede in der Klassifikation 665, 670
A–D
– Kernsymptom 665 – kognitiver Fehler 672, 673 – Kombinationsbehandlung 678, 686 – komorbide Störung 667, 686 – Mortalität 664 – mütterliche Depression 38 – Psychopharmakotherapie 894 – Psychotherapie 685 – SSRI 894 – Transmission 38 – trizyklische Antidepressiva 894 – Verhaltenstherapie Effektstärke 894 Depression, larviert 667 depressive Erkrankung 632 Depressive Mütter, Gruppentherapie 849 Depressivität 809 Deprivation 68 Desensibilisierung, systematische 514 Desipramin 889 Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination 384 DIA-X 773 Diabetes mellitus 945 Diagnose 874 – falsch negative 417 – Checklisten 126, 132, 438, 653, 773 Diagnostik der Adipositas – evidenzbasierte Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter 696 Diagnostik der BED – ChEDE 698 – Kinder-DIPS 697 Diagnostikkomponenten 126 Diagnostik psychischer Störungen 124 diagnostische Klassifikation 0–3 119 Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen, DSM 118 diagnostisches Vorgehen – Grenzen und Schwierigkeiten 140 diagnostische Verfahren 126 dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) 880 Diättagebuch 305 Differenzialdiagnose 137, 1030 Differenzialdiagnostik – Depression 669, 683 – Generalisierte Angststörung 596 – Trennungsangst 489 differenzielle Verstärkung 641 Diffusionstensor-Bildgebung (DTI) 46 digitale Lernspiele 235, 236 DIPS 773
1052
Sachverzeichnis
Disease-Management-Programme 993 Diskontinuität 25 Diskriminationslernen 13, 200, 212 Diskriminationstraining 775 Dissozialität 458 Diversität 258 Dopaminrezeptor 417 Dopaminsystem, mesolimbisch-mesokortikales 769 Doppel-Defizit-Theorie 400 Dranginkontinenz – idiopathische 384 DSM-IV 670 DSM-IV-TR 665, 669 – Unterschiede in der Klassifikation 665 dynamischer Entwicklungsbegriff 148 dysfunktionale Gedanken der Eltern 494, 522 Dyslexie 396 dysthyme Störung 665 Dysthymie 664
E EFFEKT 470 Effizienz 816 Effortful Control 17 Ego-Shooter 100 EIBI-Programm 345 Einfluss auf die Hauterkankung 787 Einkoten 387 Einnässen – nächtliches 383 – Pharmakotherapie 387 – tags 383 Einschlafzuckung 743 Einsichtsfähigkeit 979 Einwilligung 979 Einzelfall-Versuchspläne 363 Einzelsupervision 1002 elektiver Mutismus 556 eleos 105 elterlicher Konflikt 90 elterliche Therapie 850 Eltern-Jugendlichen-Konflikt 444 Eltern-Kind-Beziehung 79, 86, 257, 324 – gestörte 79 Eltern-Kind-Interaktion 790 Eltern-Kind-Programm 476 Eltern-Kind-System 81 – Störungen des 81
Eltern-Kind-Übereinstimmung 114, 141, 599 Elternarbeit 681, 684 Elternberatung 264 Elternkonflikt 857 Elternrolle 81 – Störungen der 81 Elterntraining 256, 257, 278, 285, 287, 442, 470 – Evidenz 271 – Indikation 269, Elternverhalten 81 – geschwächtes 81 emotionale Kompetenz 966 emotionale Grundfunktion 15 – emotionale Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit 15 – Emotionsausdruck 15 – Emotionsverständnis 15 emotionales Schlussfolgern 633 emotionale Störung 960, 964 Emotionsbewältigung 250 Endophänotyp 412 Endophänotypisierung 425 Endorphinhypothese 356 Enkopresis 381, 387 – Klassifikation 388 – mit Obstipation 388 – ohne Obstipation 388 Entkatastrophisieren 602 Entspannung 679, 812, 829, 830, 832 – Körperhaltung 246 – Körpersensation 244 Entspannungsreaktion 245 Entspannungstechnik 204 Entspannungstraining 655, 680 Entspannungsübung 200 Entspannungsverfahren 243, 620, 754, 811, 962 – sensorische Verfahren 245, 246 – vorbereitende Maßnahmen 244 Entwicklungsabweichung 146 Entwicklungsaufgabe 6, 28, 494 Entwicklungsbedingung 146, 149 Entwicklungsdefizit 146, 149, 151 Entwicklungsdiagnostik 146, 149, 151 – Testbatterie 147, 152 Entwicklungsgenetik 50 Entwicklungsmodell 26 – Interaktionsmodell 27 – Transaktionsmodell 27 Entwicklungsnormativität 146 Entwicklungsnorm 5, 148, 151 Entwicklungsorientierung 942 – positive 280
Entwicklungspfad 29 – Modell der Entwicklungspfade von Sroufe 30 Entwicklungsprofil 146, 149 Entwicklungsprognose 148 Entwicklungsprozess 146 Entwicklungspsychopathologie 24, 279, 941 – frühe Anzeichen (Vorboten) 37 – Prozessproblem 269 – Querschnittstudie 26 Entwicklungsinventar 147 Entwicklungstest 146–149, 151, 153, 155 – Screeningverfahren 147, 149 Entwicklungsverlauf 146 Entwicklungsverzögerung 148 Entwicklungsvorsprung 148 Entzugserscheinung 764 Entzugssymptom 769, 777 Enuresis 293, 381 – Klassifikation 382 Enuresis nocturna 383 – Komorbidität 384 – monosymptomatisch 383 – nicht monosymptomatisch 383 – primär 383 – sekundär 383 ereigniskorreliertes Potenzial 421 erlernte Hilflosigkeit 201 Ernährungsmanagement 814 Ernährungsprotokoll 726 Erstgespräch 136, 185 Erstkontakt 184, 185, 189–191 – Rollenstruktur 188 – Rollenstrukturierung 188, 191 erzieherische Verhaltenskontrolle 81 – Störungen der 81 Erziehung 256, 834, 835, 837, 857, 859 – Defizite 462 – Verhalten 87 Essanfall 692 Essstörung 297, 305, 720, 971 Essstörung, atypische 722 Ethik-Richtlinie 978 Ethologie 57 EuropASI 773 European Federation of Professional Psychologists Associations (EFPA) 977 evidenzbasierte Therapie 172 exekutive Funktion 436 Explorationsgespräch 187 Explorationsverhalten 61
1053 Sachverzeichnis
Exposition – graduierte oder gestufte Exposition 636 externalisierende Störung 964 Externalisierungsstörung 667 Extinktion 302, 303, 770, 963 – graduelle 754 exzessives Schreien 296–298, 300
F Fading 215 Fähigkeit zur Selbststeuerung 419 Fallbericht 1016 – ethischer Aspekt 1032 – Fachzeitschrift 1032 Falldarstellung 991, 1009 Fallkonzeptualisierung 1008 Fallrekonstruktion 1008 Fallvignetten 1031 False-Belief-Geschichten 339 False Belief 20 familiale Häufung psychischer Störungen 844 Familie 78–80, 83, 84, 88, 256, 808 – Entwicklung von Störungen 83 – familienexterne Risikofaktoren 83 – familieninterne Risikofaktoren 83 – Folgen von Störungen 88 – gestörte 78, 79 – Kompetenzdefizite 80 – pathogene Verhaltensmechanismen 84 – Resilienzfaktoren 83 – Schutzfaktoren 83 Familien-Kooperations-Modell 280 Familien-Problemlösungstraining 285 Familienberatung 282, 947 Familienberatungsgespräch 280 familiendiagnostisches Interview 280 Familienform 78 Familienforschung 78 – klinisch-psychologische 78 Familienintervention 278 – kognitiv-behaviorale 278 – Indikationsstellung 286 – Problemlösung, störungsbezogene 284 – Wirksamkeit 287, 288 Familienklima 79 Familienorientierung 942 Familienstil 80 – zentrifugaler 80
– zentripetaler 80 Familientherapie im engeren Sinn 287 FAST-Track 471 Feinfühligkeit 60 Fernsehen 98 Flow-Hypothese 930 Fluoxetin 895 Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) 995 Fort- und Weiterbildung – Deutschland 988 – Österreich 997 – Schweiz 994 Fort- und Weiterbildung, praktische Tätigkeit 990 Fortführungsantrag 1022 Fragebogen 127, 133 – Vorschulalter 134 Fragebogen zur Erfassung sozial ängstlicher Kognitionen bei Kindern und Jugendlichen (SÄKK) 541 Fragebogen zu Stärken und Schwächen »The Strengths and Difficulties Questionnaire« (SDQ) 135 Frankfurter Test und Training des Erkennens von fazialem Effekt (FEFA) 343 Fremdbeurteilungsbogen 653 Fremdbeurteilungsbogen Angst für Eltern, Lehrer oder Erzieher, FBB-ANG 511 Fremde-Situations-Test 64 Fremdenangst 483 fremde Situation 61, 64, 322 Fremdplatzierung 471 Frequenztraining 426 Freud 57 FREUNDE 600 Frontalhirn 5 frühe Kindheit 6 Frühförderstelle 942 Frühpsychose 767 funktionaler Gedanke 681 funktionale Kognition – Aufbau 681 funktionale Verhaltensanalyse 213 funktionelle Harninkontinenz 382, 383, 385 funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) 47 funktionelle Störung 939 Füttern 297, 300, 301, 305 Fütterungsproblem 297, 298, 305
D–G
G Game Engines 239 Gebührenordnung 990 Gedankenunterdrückung 633 Gedankenunterdrückungsexperiment 603 Gedeihstörung 297, 298 Gefühl, feindseliges 104 geleitetes Entdecken 493 Gemeinsamer Bundesausschuss bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 990 Gen-Umwelt-Interaktion 846 Gen-Umwelt-Interaktionseffekt 50 Generalisierte Angststörung 593 – Diagnosekriterien 596 – Epidemiologie 595 – Erstauftretensalter 595 – Differenzialdiagnostik 596 – Gruppensetting 605 – Imagination 604 – Komorbidität 595 Genetik 25 – Asthma bronichiale 824 – Aufmerksamkeitsstörung 412 – Generalisierte Angststörung 597 – Hyperkinetische Störung 435 – Intellektuelle Beeinträchtigung 357 – Substanzmissbrauch und -abhängigkeit 768 – Ticstörung 651 – Zwangsstörung 634 Genotyp 27 geregeltes Wecken 755 Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung 65 Geschlechtsspezifische Hirnentwicklung 48 Geschlechtsunterschied – Depression 660 – Medien und Gewalt 103 – Scheidung 861 Gesichtsausdruck 536 gestörtes Körperkonzept – vertiefte Behandlung 713 Gesundheitsausgabe 664 Gesundheitsförderung 146, 904, 944, 961 Gewalt 81, 89, 95, 464, 614 – körperliche 89 – Freiheit 107 – Lerngeschichte 102 – Lieder 101
1054
Sachverzeichnis
Gewalt – Musik 101 – Perspektive des Opfers 106 – Prävention 107 – psychische 89 – staatliche Intervention 107 Goal Attainment Scaling 891 Goldene Regeln zur Fernsehnutzung 108 Grenzüberschreitung 983 Grenzverletzung 81 Grundbedürfnisse, psychologische 184, 190 Gruppennorm 104 Gruppensupervision 1002 Gutachten 984 Gutachterverfahren 1030
H Habit-Reversal-Training 655, 796 Habituation 515, 636, 807 Habituation und Dishabituation 13 Hämophilie 804 happy slapping 101 Harlow, Harry 59 Harninkontinenz bei Miktionsaufschub 384 Hausaufgabe 600 – therapeutische 188 Hausaufgabentechnik 963 Haushaltsorganisation 307 Held 106 High-Risk-Studien 768 Hinweisreiz, aggressiver 104 Hippocampus 8 hirnelektrische Reifungsverzögerung 421 Hirnentwicklung 44 Hirnhautgefäß 807 Hirnschädigung 435 HIV 938 Hoffnungslosigkeit 671, 673, 682 Hoffnungslosigkeitsdepression 675 Hoffnungslosigkeitstheorie 674, 675 Homo ludens 234 Hungergefühl 307, 309 Hyperaktivität 412, 431 Hyperarousal – beta-excess 421 Hyperkinetische Störung (HKS) 431 – erzwingende Interaktion 434 – medikamentöse Therapie 440
– kombinierte Verhaltens- und Pharmakotherapie 447 – Leitlinie 438 – Spieltraining 442, 444 hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens 1023 Hypersomnie – nichtorganische 741 Hypnose 247, 252 Hypoarousal 421 hypomanisch 683
I I Can Problem Solve (ICPS) 470 Ich-Dystonie 632 Ich-fremd 630 Ideenolympiade 425 imagery rehearsal 761 imaginative Methode 247, 252 imaginative Verfahren 245, 247 Imipramin 893 Imitation 103 implizites Lernen 13 Impulsivität 412, 431 Incredible Years 262, 470 Individualisierung von Schulungsmaßnahmen 206 individuelles Behandlungsprogramm 360 Inflammation 823 Inner Working Model 62 Insomnie – idiopathische 742 – konditionierte 745, 754 – nichtorganische 740 – psychophysiologische 742 – verhaltensbedingte, in der Kindheit 742 Instruktionslernen 509 instrumentelles Lernen 210 Integratives Modell zur Manifestation und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeitsstörungen 418 integriertes behaviorales InhibitionAttachment-Modell 487 Integrität 977, 978 Intellektuelle Beeinträchtigung 351 – funktionale Analyse 356 – funktionale Äquivalenz 360 – funktionale Problemanalyse 359 – individuelles Behandlungsprogramm 360
– Intelligenztest 352 – psychische Störung 355 – sozial-adaptive Kompetenz 352 – sozial-adaptives Verhalten 352 Intelligenz 147, 149 Intelligenzdiagnostik 137 – Geschichte 149 Intensivtäter 454 Interdisziplinarität 942 internale Attribution 675 internales Arbeitsmodell 62 internalisierende Störung 664, 669 International Classification of Diseases 114, 1021 Internet 234 Interpretation Bias 510 Intervision 1003 intrinsische Verstärkung 356
J Juckreiz-Kratz-Zirkel 790 Jugendhilfe 454 Just-right-Zwänge 650 juvenile Arthritis 804
K Kapitän-Nemo-Geschichten 200, 248, 249, 252 Kapitän-Nemo-Methode 962 Kasuistik 1031 kategorialer vs. dimensionaler Ansatz 113 Katharsis 105 Kausalrichtung 96 Kettenreaktionsmodell 460 Kiddie-SADS-PL 668 Kinder 81 – chronische Zurückweisung der 81 Kinder-Angst-Sensitivitätsindex, KASI 511 Kinder-Angst-Test II, Kat-II 511 Kinder-DIPS 129, 416, 599, 668, 683 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut 988 – Ausbildung 988 – Ausbildungs- und Prüfungsverordnung 990 – Fortbildung 988
1055 Sachverzeichnis
Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie – Fortbildung 992 Kinderarzt 943 Kinder psychisch kranker Eltern – Lebensqualität 848 – Problembereich 845 – Psychoedukation 851 – Sorgerecht 846 Kinderpsychotherapie 201 Kinderschulung 201 Kindesmisshandlung 81, 614, 865, 939 – Bewältigungsfertigkeit 879 – Bewältigungstraining 877 – elternzentrierte Therapie 876 – graduierte Exposition 878, 879 – Interventionsmethode 875 – Interventionsziel 875 – kindzentrierte Therapie 876 – kognitive Verarbeitung 877 – Leitlinie 888 – Orientierung 879 – Psychoedukation 879, 880 – Reizkonfrontation 878 – Strukturmodell 875, 876 – systematische Desensibilisierung 878 – Zielgruppe 875 Kindesschutz 982 – Überforderung 982 Kindeswohl 979, 982 Klassenvertrag 964 Klassifikation 112 – entwicklungsstadienspezifische 116 – Gütekriterien 114 Klassifikationssystem 114 klassische Konditionierung 7, 86, 770 Klinische Bindungsforschung 55 – psychobiologischer Ansatz 66 – Psychotherapieprozess 74 klinisches Praxisseminar 995 koersiver Prozess 86 Kognition 222, 576 kognitiv-affektive Klärung 163 kognitiv-behaviorale Fertigkeit 199 kognitive Entwicklung 148, 152, 155 kognitive Methode 222 kognitives Verfahren 223 – Anwendungsbereich 228 – Effektivität 229 – Erziehung 230 – kognitiv orientierter Ansatz 223 – Persönlichkeitsentwicklung 230 – Problemlösetraining 223 – Selbstbeobachtung 223
– Selbstinstruktionstraining 223 – Selbstkontrolle 223 – Wirkmechanismus 229 kognitive Grundfunktion 12 kognitive Theorie von Beck 672 kognitive Triade 673, 674 kognitive Umstrukturierung 493, 755 Kohäsion 79, 88 Kölner ADHS-Therapiestudie(CAMT) 892 – Effektstärke 892 Kombinationsbehandlung 678, 686, 895 Kommunikation – nichtlautsprachliche 565 Kommunikationstraining 285, 680, 779 Kommunikation und Sprache 333 Komorbidität 24, 120, 947 Kompensationsstrategie, mimischgestische 565 Komponenten der Angst 600 Konditionierung – instrumentelle 770 – klassische 770 – operante 770 Konditionierungseffekte 210 Konflikt der Eltern 860 Konfrontation in sensu 545 Konfrontation in vivo 524, 602, 603, 965 Kontamination 630 Kontaminationsbefürchtung 630 Kontiguität 213 Kontingenz 85, 213 – dysfunktionale 85 Kontingenzmanagement 219, 641, 655, 777 Kontinuität 25 – heterotypische Kontinuität 25 – homotypische Kontinuität 25 Kontrolle 85, 184, 190 – aversive 85 Konzentrations- und Selbstinstruktionstraining 440 Kooperation, elterliche 860 Kopfschmerztraining, kognitivbehaviorales 812 Kopfschmerz vom Spannungstyp 805 Körperbild 951 Körpersymptom 600 krankheitsbedingter Schmerz 804 Krankheitskonzept 828 Krankheitsmanagement 947, 953 Krankheitstheorie 195 Kriminalität 458
G–M
L langsames Potenzial 421, 425 – Training 426 Längsschnittstudie 26, 599 Langzeiteffekt 447 LARS&LISA 679 lautes Denken 224 lautierendes Lesen 398, 402, 404–406 lautorientiertes Schreiben 398, 401, 403, 404, 406 Lautsynthese 398, 406 lebensbedrohliche Krankheit 614 Lebensspanne 70 Legasthenie 396 Lehrereinschätzliste zum Sozial- und Lernverhalten (LSL) 962 Leptin 721 Lernen durch Einsicht 10 Lernen und Gedächtnis 13 Leseflüssigkeit 399, 404, 406, 407 – Lesestörung 398 Lese-/Rechtschreibstörung – Komorbidität 397, 400, 495 – Komorbidität mit ADHS 400, 403 Leseverständnis 399, 402 Live-Supervision 1010 Löschung 770, 963 Lungenfunktion 821, 826, 838 Lungenfunktionstest 826 Lustgewinn 184, 190
M Magersucht 720 – atypische Neuroleptika 729 – Definitionskriterium 722 – Diagnostik 725 – Familientherapie 730 – genetischer Faktor 723 – Gewichtsphobie 720 – Gruppentherapie 728 – Klassifikationskriterium 721 – Komorbidität 722, 731 – Körper- und Entspannungstherapie 731 – körperliche Hyperaktivität 721 – Leitlinie 734 – Modellessen 727 – Mortalitätsrate 723 – Prävalenzrate 722 – Prognose 723
1056
Sachverzeichnis
Magersucht – Psychoedukation für Eltern 729 – selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer 729 – somatische Veränderung 725 – soziales Kompetenztraining 731 – soziokultureller Faktor 723 – stationäre Behandlung 725 – Unterbringung mit Freiheitsentzug 726 Magnozelluläres Defizit 400 Major Depression 665, 895 manisch 683 Massenunruhe 104 massierte Übung 655 Materialien 1032 McMaster-Modell 84 Medien 95 Medienkompetenz 108 Medienkonsum 464 Meditation 252 meditative Verfahren 248 medizinische Differenzialdiagnose 137 Memory Bias 510 Metaanalyse 168, – Angststörung 499 – chronischer Schmerz 812 – Generalisierte Angststörung 604, 607 – Kindesmisshandlung 883 Metakognition 18, 636 metakognitiv-behavioraler Ansatz 632 metakognitive Bewertung 636 metakognitives Interview 224 metakognitiver Prozess 419 metakognitive Therapie 639 – kognitive Defusion 639 – metakognitive Intervention 639 – narrativ-metakognitives Rollenspiel 640 Metaphern 637 Methylphenidat 889 Migräne 805 Migräneprophylaxe 813 Milieutherapie 472 Minderwertigkeitskomplex 949 Mindmaps 733 Misshandlung 89, 259 – sexuelle 89 Misshandlungsbegriff – Misshandlungsbegriff, enge Def. 866 – Misshandlungsbegriff, weite Def. 868
Misshandlungsfolge – Breitbandfaktor 871 – Diagnose 869, 874 – Kurzzeitfolge 869, 874 – Langzeitfolge 869 – Störung 871 Misshandlungsform Misshandlungshäufigkeit Mitgefühl 106 Mitteilungsrecht 981 Mittelpunktsübung 545 Modell 85 – unangemessenes Verhalten 85 Modelllernen 237, 509, 516 Moderator 106, 164, 272 MODS 239 Morbidität, neue 938 Motivationsstruktur 359 motivierende Gesprächsführung 775 motorische Tics 648 MTA Study 446, 889 – Kombinationsbehandlung 889 multiaxiale Klassifikation 118 multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindesund Jugendalters (MAS) 118 multifaktorielles Depressionsmodell 676, 677 Multifinalität 30 multimodale Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie 161 multimodale Therapie 161 – Aufmerksamkeitsstörung 417 – chronischer Schmerz 811 – Hyperkinetische Störung 440 – Prüfungsangst 581 – Neurodermitis 795 multimodales Verfahren 811 Multimodal Treatment Study of ADHD 446, 889 Multiproblem-Milieu 463 Multisystemische Therapie (MST) 471 Münchhausen-by-proxy-Syndrom 868, 939 Münchner Aufmerksamkeitsinventar 416 Musterweiterbildungsordnung 992 Mutismus – Ätiologie 559, 561 – Begleitsymptom 557 – Diagnostik 562, 563 – Epidemiologie 558 – Prädisposition 560 – stationäre Behandlung 566 – Untergruppe 558
– Verlauf 558 Mutismus, elektiver 556 Mutismus, selektiver 556 Myelinisierung 44
N Nachtschreck 754 Nähe-Distanz-Regulation 190, 191 Nähe-Distanz-Regulierung 188 Narkolepsie 743 narrative Therapie 636 Naturkatastrophe 614 negative Verstärkung (Vermeidungslernen) 211, 633 negative Erwartung 86 – Entwicklung 86 negativ evaluierte Methode 342 negative Verstärkung 356 neue Gesundheitsbeeinträchtigung 353 Neurobiologie 5 neurobiologischer Ansatz 634 neurobiologisches Risiko 415 Neurochemie 634 Neurodermitis 202, 786 – Diagnose psychologischer Faktoren 787 – Diagnostik 792 – Effektivität 798 – Imaginationstechnik 795 – Klassifikation 787 – Phänomenologie 786 – Verhaltenstherapie 794 Neurodermitis-Schulung 205 Neurodermitiserkrankung 204 Neurofeedback 247, 422, 811 Neurofeedback-Training 417, 421, 426 Neurofeedbackverfahren 52 Neuropsychologie 339, 635 – exekutive Funktion, Autismus 339 – geistige Behinderung, Autismus 339 – schwache zentrale Kohärenz, Autismus 339 Neuropsychotherapie 52 Neurotransmittersystem 68 Non-Compliance 196 non-shared environmental factor 597 Noradrenergika 889 Notfallmaßnahme 472 Nucleus caudatus 634
1057 Sachverzeichnis
O On-Job-Coaching 348 operante Konditionierung 8, 210, 770 operante Technik 496 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter (OPD-KJ) 120 oppositionelles Trotzverhalten 431 Orientierung, Erstkontakt 184, 190 orthographisches Lexikon 398, 402, 404
P Paarbeziehung 78, 81 – gestörte 78 – Störung der 81 Paar 78 Pädiatrie 937 PANDAS (»pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infections«) 632 Panik, Asthma bronchiale 820, 822, 829 paradoxe Reaktion 251 Parasomnie 741 Parentifizierung 81, 859 Partnerschaftskonflikt 86 Partnerschaftsqualität 89 Partnerschaftsstörung 89 – Folge 89 Patient-Therapeut-Beziehung 73 Patientenrolle 188 Patientenschulung 206, 829, 833, 834, 838 Pavor nocturnus 741 Peak 830 Peak-Flow 826, 833 Peak-Flow-Meter 826 PECS 342 Pediatric OCD Treatment Study 2004 643 Penn State Worry Questionnaire for Children and Adolescents 599 Perfektionismus 595 perfektionistischer Anspruch 630 Phänotyp 27 Pharmakotherapie 887 – Depression 678, 685 – Prüfungsangst 569 – Zwangsstörung 634 Phenylketonurie 353
Phobiefragebogen für Kinder und Jugendliche (PHOKI) 511 phobische Reaktion 505 phobische Störung des Kindesalters 506 phobos 105 phonologische Bewusstheit 398, 404, 406, 407 phonologische Verarbeitung 397 phonologisches Defizit 400 physiologische Reaktion, Soziale Phobie 536 Plananalyse 187, 190 Polysomnographie 747 positive Aktivität, Depression 684 – Aufbau 679 – Liste 680 positive Kognition – Aufbau 682 positives Verstärkermodell 356, 360 posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 610, 873, 893 – dysfunktionale Kognitionen 621 posttraumatische Wiederholung 742 Potenzial – ereigniskorreliert 421 – langsam 421, 425 Prädiktion 25 Prävalenz – Depression 666 – Substanzabhängigkeit und -missbrauch 693 Prävention 146, 257, 925, 961, 965 – Angst und Depression 915 – Essstörung 916 – Expansives Problemverhalten 444 – indizierte 905 – primäre 904, 944 – sekundäre 904 – selektive 905 – Substanzstörung 917 – tertiäre 904 – universelle 905 – Verhaltensstörung 913 – Wirksamkeit 910 – Ziel von 902 – Präventionsprogramm für die Schule 969 Praxisevaluation 813 PREDI 773 Preparedness-Theorie 509 primäre Entwicklungsstörung 29 primäre Verhaltensstörung 29 Problem- und Verhaltensanalyse 125, 137, 212
M–P
Probleme bei Scheidung – externalisierende 859, 860 – internalisierende 859, 860 Problemlöseprozess, Supervision 1004 Problemlösetraining 227, 680, 684 Problemlöseverhalten – angemessenes 967 Programme zur bindungsorientierten Eltern-Kind-Therapie 327 progressive Muskelentspannung 246, 252, 604, 877 Prompting 215, 268 Prozessmodell 873 prozessuale Aktivierung 184 Prüfungsangst 573 – Kognition 576 – Komorbidität 575 – supportive Maßnahme 583 Psychoanalyse 57, 105 psychodiagnostisches Testverfahren 125 Psychoedukation 194, 197, 440, 600, 619, 641, 774 – präventive 194, 198 psychoedukativer Ansatz 278, 287 Psychologe – delegiert arbeitender 994 Psychologengesetz, Österreich 997 Psychologieberufe-Gesetz (PsyG), Schweiz 994 Psychologischer Psychotherapeut 988 Psychopathologie 72 psychopathologisches Symptom 358 Psychopharmakotherapie 888 – Angststörung 893 – Wirksamkeit 888 – Evidenzbasierung 898 – Ticstörung 898 psychosozialer Faktor 436, 651 Psychotherapeutengesetz 993, 1022 – Deutschland 988 – Österreich 996, 997 psychotherapeutisches Fachspezifikum 997 psychotherapeutisches Propädeutikum 997 Psychotherapieforschung – effectiveness 165, 425 – Effektstärke 168 – efficacy 165, 425 – Erfolgskriterium 166 – Erfolgsmaß 167 – Grade empirischer Bewährung 173 – Mediator 164
1058
Sachverzeichnis
Psychotherapieforschung – Übertragbarkeit 165 – Wirkprinzip 162 Psychotherapie-Weiterbildung 995 Psychotherapieprozessforschung 184 psychotrope Substanz 764 Publizität – negative 240
R »Rebound-Effekt« 633 Rahmenbedingung, Therapie 185 Reaktionsumkehr 655 – Wirksamkeit 660 – Wirksamkeitsstudie 660 Reaktionsverzögerung 420 reaktive Bindungsstörung 314 Realitätscheck 681 Realitätsüberprüfung 601 Rechenstörung 397 – basisnumerische Verarbeitung 397 – Komorbidität 397 – Lesestörung 397 Recht des Kindes 979 rechtlicher Aspekt 975 Rechtschreibstörung 397 Rechtsnorm 978 Reflexdystrophie 804 Regulationsproblem 32 Regulationsstörung 295 – Regelmäßigkeit 299, 301, 303 Rehabilitation 947 Reinszenierung des Beziehungsabbruches 325 Reizkonfrontation 514 Reizüberflutung, Flooding 636 rekurrierende Schmerzstörung 814 Relaxation Induced Anxiety, RIA 251 Reorganisation Familie, Scheidung 856 repetitive transkraniale Magnetstimulation, rTMS 52 Resilience 848 Resilienz 31, 949 – Resilienzentwicklung 36 – Resilienzfaktor 35 – Resilienzforschung 36 – Widerstandsfähigkeit 36 Respekt 977 Response-Cost 217 Ressource 31, 198 Ressourcenaktivierung 163
Ressourceninterview 189 Restless-Legs-Syndrom 743 Reynolds Adolescent Depression Scale 895 Rezidivierender idiopathischer Bauchschmerz 805 Risikofaktor 31, 460, 908 – extern (umgebungsbezogen) 31 – intern (kindbezogen) 31 – Wirkmechanismus 33 Ritual – Kontrollrituale 630 – mentales oder kognitives Ritual 631 – offen 631 – verdeckt 631 – Waschritual 630 – Zubettgeh-Ritual 630 Rollenspiel 198, 963 Rückenschmerz 805 Rückfallprophylaxe 497, 604, 681, 778, 830 Rückversicherung 594, 604 Rückversicherungsversuch 632 Rückzug 325 Ruheritual 962
S Saugpräferenzparadigma 8 »Stopp-Signal« 633 Scham 637 scheduled awakening 304 Scheidung 90, 855 – Einkommensverlust 858 – Folgen 90 – Gruppenintervention 861 – Interventionsstudien 862 – Schulleistung 857, 858 – Umgangsverweigerung 860 Scheidungskinder 91 Schemata 672, 673, 678 Schildkröten-Fantasie-Verfahren 249, 252 Schildkrötengeschichte 250 schizophrene Psychose 898 Schizophrenie 928 Schlaf-Wach-Rhythmus 745 – nichtorganische Störung des 741 Schlafanpassungsstörung 742 Schlafapnoe – obstruktive 743 Schlafarchitektur 749 Schlafbedürfnis 749
Schlafedukation 753 Schlafen, Kleinkind 297–299, 301–303 Schlafhygiene 750 – inadäquate 742 Schlafmangelsyndrom – verhaltensbedingtes 743 Schlafproblem, Kleinkind 296–298, 300 Schlafprotokoll 747 Schlafrestriktion 755 Schlafrhythmusstörung – zirkadiane 743 Schlafstadium 749 Schlafstörung – Fragebogen 747 – nichtorganische 740 – organische 740 Schlafwandeln 754 Schmerzanamnese 809 Schmerzattacke 804 Schmerzbewältigung 809 Schmerzdiagnostik 808 Schmerzempfindung 804 Schmerzerleben 808 Schmerzintensität 809 Schmerzklassifikationssystem 806 Schmerzreduktion 814 Schmerzsyndrom 816 Schmerztagebuch 809 – elektronisches Tagebuch 809 Schmerzthermometer 808 Schreien 296–303 Schriftspracherwerb 396, 397, 400 – Lesestörung 396 – Rechtschreibstörung 396 Schule 982 schulintegrierter Förderprozess, Selektiver Mutismus 568 Schulsport 931 Schulvermeidung 595 Schulverweigerung 490, 893 Schutzfaktor 31, 465, 847, 909 – kindbezogener 34 – umgebungsbezogener 34 Schweigepflicht 980 Schweigepflichtentbindung 1032 sekundäre Störung 29 Selbstaufmerksamkeit 535 Selbstbekräftigung 218 Selbstbeobachtung, Asthma bronichiale 828 Selbstbeobachtungs- und Selbstkontrolltechnik 225 Selbstbeobachtungsaufgabe 969 Selbstbeobachtungsbogen 219
1059 Sachverzeichnis
Selbstbild – Aufmerksamkeitsstörung 414 – Gewalt 103 Selbsterfahrung 991, 995 Selbsthilfeprogramm, computerunterstütztes 236 Selbsthilfespiel 237 Selbstinstruktion 200, 583, 602, 832 Selbstinstruktionstraining 227 Selbstkontrolle 223, 463 Selbstkontrolltechnik 657 Selbstkonzept 858, 925, 951 Selbstmanagement 829, 830, 947, 953, 966 – Selbstkontrolle 830 – Selbstmonitoring 830 – Selbstverstärkung 830 Selbstmanagementkompetenz 196 Selbstmanagementmethode 444 Selbstmonitoring 831 – Peak-Flow 831 Selbstmord 668 Selbstregulation 16, 265 Selbstregulationsfähigkeit 422 Selbstregulationskompetenz – Beeinträchtigung 426 Selbstständigkeitstraining 214 Selbststeuerung – Beeinträchtigung 414 Selbststeuerungsfertigkeit 419 Selbstverletzungsverhalten 357 Selbstverstärkung 216 Selbstwahrnehmungstraining, Ticstörung 655 Selbstwert 103, 857, 861, 930 Selbstwerterhöhung 184, 187, 190 Selbstwirksamkeit (self efficacy) 602, 769, 814, 828, 831, 838 Selbstwirksamkeitserleben 638 selektiver Mutismus 555 – kognitiv-behaviorale Interventionsmethode 566 – Lernerfahrung 561 – Sprachdiagnostik 563 – Sprechverhalten 557 – Überforderungsverhalten 560 sensation seeking 461 sensible Phase 28, 51, 67 Separation-Anxiety-Test 65 Separationsangst 302 Serious Game 100, 235, 236 Serotonin 807, 930 Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) 893 Settingansatz 906
sexueller Gedanke 631 sexueller Kontakt, Berufsethik 983 sexueller Missbrauch 939 Shame attack 545 Shaping 215 shared decision making 195 shared environmental factors 597 Sichelzellenanämie 804 Sicherheitsverhalten 535 Signalbefund 151 Signallernen 770 SKID 773 Skills Training 776 Smiley-Analogskala 808 Social anxiety Scale for Children – Revised (SASC-R) 540 Social Effectiveness Therapy for Children (SET-C) 545 sokratische Frage 582 somatoformer Schmerz, anhaltender 806 somatoforme Störung 939 somatosensorische Amplifikationsneigung 807 Somnambulismus 741 Somniloquie 743 Sonderpädagogik 961 Sorgeberechtigte 979, 980 Sorgen 594 – normale 599 Sorgendrehbuch 603 Sorgenkette 603 Sorgenkonfrontation 603 Sorgentagebuch 601 Sorgfaltspflicht 980 SORKC-Schema 1020 sozial-emotionale Kompetenz 965 sozial-kognitive Kompetenz 966, 967 soziale Angst 200 soziales Fertigkeitstraining 966 soziale Informationsverarbeitung 464 soziale Kompetenz 201, 202, 465, 536, 680, 684, 960, 966 soziales Kompetenztraining 441, 543 soziale Lerntheorie 769 soziale Perspektivenübernahme 20 soziale Phobie 200, 531 – Ätiologie 538 – Diagnostik 539 – Gedächtnisleistung 535 – Gruppen- vs. Einzelsetting 543 – Komorbidität 537 – Lernerfahrung 539 – therapeutisches Vorgehen 543 – Untergruppe 537
P–S
soziale Grundfunktion 19 sozialer Status 107 Sozialpädiatrisches Zentrum 942 Sozialphobie und -angstinventar (SPAIK) 540 Sozialtraining 217 Sozialverhalten und soziale Fertigkeit 19 Spaß 105 spezifische Phobie 504, 507 – kognitiver Faktor 510 Sport 924 – Adipositas 928 – Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) 929 – Depression 927 – Schizophrenie 928 Sportunterricht 926 Sprachaufbau, Autismus 344 Sprachentwicklung 4, 400, 401, 404 – phonologische Bewusstheit 400 Sprache und Kommunikation 19 SSRI 895, 897 – Wirksamkeit 893 staatliche Anerkennung 989 staatliche Prüfung 990, 991 Stabilisation des Körpergewichts 712 Standesregeln 976 stationäre Mutter-Kind-Einheiten 849 STEP 262 stereotype Verhaltensmuster, Autismus 333 – motorische Manierismen 334 – Reduktion 342 – Spezialinteresse 334 Stereotypie 357 Stichprobenselektion 166 Stigmatisierung 465 Still-Face-Paradigma 20 Stimmungsprotokoll 679 Stimulanzien 889 – Effektstärke 889 – Wirksamkeit 889 Stimulus 210 – diskriminativer Stimulus 210 Stimulus-Fading 567 Stimuluskontrolle 360, 755, 777 Störung der Selbstregulation 412 Störung der Überängstlichkeit 596 Störung des Sozialverhaltens – Ätiologie 460 – Diagnostik 466 – early starters 458 – late starter 458
1060
Sachverzeichnis
Störung des Sozialverhaltens – Prävalenz 456 – Prävention 466 – Problemlösefertigkeit 470 – Subtyp 456 – Therapie 466 – Verlauf 458 Störung 82 – Antezedenzien 82 Störung (in) der Familie 82 – Entwicklung von 82 – Risikofaktor für die Entwicklung 82 Störung, substanzinduziert 764, 766 Störung der sicheren Basis 318 Störung des Sozialverhaltens 454, 898 – Kindertraining 470 Störung durch Substanzkonsum 764 Störung nach Verlust einer Bindungsperson 318 Störung mit oppositionellem Trotzverhalten (SOT) 455 Störung mit sozialer Ängstlichkeit im Kindesalter 533 Störungskonzept 112 Störungsmodell 195, 1008 Störungsverständnis 1005 Straftäter 459 Strafverfahren 978 strange situation 61 Strategieerwerb 419 Strategietraining 419 Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) 848, 961 Stress 925 Stressbewältigungskompetenz 199 Stresshormon 68 Stressor 82 Striatum 634 Stroop-Tests 17 strukturiertes Interview 113, 126 – Kinder-DIPS 129 – Mannheimer Elterninterview 128 – Training 132 Stufenleiterverfahren 147, 151, 152 subklinischer Fall 114 Substanzabhängigkeit 458, 764 Substanzentzug 766 Substanzintoxikation 766 Substanzmissbrauch 458, 668, 764 Subsystem 78 – familiäres 78 Substanzmissbrauch und -abhängigkeit 763 – Expositionsübung, in sensu, in vivo 778
– Familienstudie 768 – kognitives Erklärungsmodell 770 – organische Ursache 772 – psychopathologischer Befund 772 – Therapierational 774 Suchtprävention 970 suizidale Tendenz 683 Suizidalität 668, 671, 678, 682, 685 Suizidgedanke 671, 673, 682, 683, 685 Supervision 995, 1002, 1023 – Direktbeobachtung 1010 – Entwicklungsdimension 1004 Supervisionsbegriff 1002 Supervisionsepisode 1003 Supervisionsforschung 1010 Supervisionsprozess 1003 Supervisor 991 Symptom-Checkliste 135 Systemdimension 1004 systemische Mutismus-Therapie 568
T TAFF-Programm 499 Tagebuch 128, 300, 308, 809 TEACCH 342 Teamsupervision 1003 Teilleistungsprofil 580 Teilleistungsstörung 580 Temperament 32, 597 – distal 32 – einfach 32 – proximal 32 – schwierig 32 – Temperamentsmerkmal 32 Thalamus 634 theoretische Ausbildung 991 Theory-of-Mind-Training 342 Theory of Mind 5, 20, 339 Therapeutenrolle 188 Therapeutenvariable 191 therapeutische Beziehung 184 Therapiecompliance 206 Therapieevaluation 954 Therapiemitarbeit 196 Therapiemotivation 186, 195, 197, 600, 605 Therapieproblem 880 Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) 443
Therapie sozialer Ängste, kognitivbehaviorales Behandlungsprogramm 546 Therapieziel 1021 Three-Pathways-Theorie 509 Ticstörung 630, 647 – chronische 649 – funktionelle Auffälligkeit 651 – funktionales Störungsmodell 652 – Generalisierungstraining 655 – Infektion 651 – komorbide Störung 650 – neuroanatomische Auffälligkeit 651 – Pharmakotherapie 655, 898 – Spontanschwankung 652 – Störungskonzept 655 – symptomzentrierte Intervention 654 – vorübergehende 649 tiefgreifende Störung 334 Time-out 215 Time-out-Hypothese 930 Time-out-Technik 963 Titel 997 – geschützt 994 Toilettentraining 390 Toilettenverweigerungssyndrom 388 Token-System 9, 216, 405 Toleranz 764 Tourette-Syndrom 649 – Prävalenz 650 Tracking-Effekt 925 Training langsamer Potenziale 426 Training für sozial unsichere Kinder 201 Training inkompatibler Reaktion 655 Training mit aggressiven Kindern 469 Training mit Jugendlichen 968 Training sozialer Fertigkeit 342 transaktionales Stressbewältigungsmodell 615 Transaktionalität 258 Transmittersysteme – dopaminerge, noradrenerge und adrenerge 415 transzendentale Meditation 251 Traum 755 Trauma 610 Traumaanamnese 617 Traumaexposition 620 traumafokussierte kognitiv-behaviorale Therapie (TF-KBT) 618 Traumafolgestörung 611 Traumanarrativ 621
1061 Sachverzeichnis
Traumaskript 621 Traumatheorie 873 traumatisches Spiel 611 Traumatisierung 84 Traumatyp 873 Treatment of Adolescent Depression Study (TADS) 895 treatment spillover 605 Trennungsangst 482 – Beziehung zu Gleichaltrigen 484 – Coaching der Eltern 495 – Diagnosekriterium 485 – Diagnostik 489, 491 – entwicklungsphasentypische 482 – Epidemiologie 486 – Erziehungsstil 487 – familiäres Merkmal 484 – Familiendiagnostik 491 – Fragebogen 490 – kognitives Modell 488 – Neurose 482 – Symptomatik 483 – Verhaltensbeobachtung 492 – Zusammenhang mit Panikstörung 486 Trennungsangstprogramm für Familien (TAFF) 492 Trigger-Hypothese 767 TripleP 261 trizyklische Antidepressiva 893
U Überstimulation 300, 302 Umgang mit Nähe und Distanz 325 Umwandlungsantrag 1022 Umweltfaktor 27 Unaufmerksamkeit 412 Unfall 614 Unsicherheit 630 Unterstützungsbedarf 352 Unterstützungsressource 197 Unvollständigkeitsempfindung 630
V Vagusnervstimulation, VNS 52 Veränderungsmotivation – Aufbau 775 Verbalisationsfähigkeit 353 verdeckte Kontrolle 779
Verhaltensanalyse 347, 635, 828, 1020 – orientierende 416 Verhaltensauffälligkeit 355, 694 Verhaltensbeobachtung 127, 670 Verhaltensexperiment 544 Verhaltenshemmung 597 Verhaltenskontingenz 356 Verhaltenskontrolle 85 – koersive 85 Verhaltensmanagement 309 Verhaltensmedizin 947 Verhaltensphänotyp 357 Verhaltensprävention 906 Verhaltensproblem 355 Verhaltensregel 11 Verhaltensregulation 297, 298, 419 Verhaltenstest 636 Verhaltenstherapie, traumafokussiert kognitiv 876 Verhaltenstraining für Schulanfänger 966, 967 Verhaltensübung – videografierte 969 Verhaltensvertrag 963 Verhaltensweise – unkontrolliert-expansive 414 Verhältnisplan 216 – Quotenplan 216 Verhältnisprävention 906 Vermeidungsverhalten 356, 597, 631 Vernachlässigung 89, 868, 939 Versorgung 992, 993 Versorgungsstruktur 942 Verspannung 807 Verstärker 84, 210 – Handlungsverstärker 211 – Mangel 84 – materieller Verstärker 211 – primärer Verstärker 210 – sekundärer Verstärker 210 – sozialer Verstärker 211 Verstärkerentzugsprogramm 638 Verstärkererosion 86 Verstärkerplan 215, 963 Verstärkung 211 – direkte Bestrafung 211 – indirekte Bestrafung 211 – kontinuierliche Verstärkung 216 – negative Verstärkung 211 – positive Verstärkung 211 Verstärkungsbedingung 84 – inkonsistente 84 Verstärkungssystem 216, 962 – Münzverstärkung 216 – Response-Cost-System 216
S–W
– Token-System 216 Vertrauen 247 Vertraulichkeit 980, 984 Verunreinigung 630 Verunsicherung, emotionale 860 Verzerrung der Informationsbearbeitung 597 Verzögerungsaversion 437 videogestützte Interventionsansätze 324 Vier-Felder-Tafel 775 Vigilianztest 747 visuelle Analogskala 808 visuelle Klippe 847 vokale Tics 648 Vorbereitung auf die Konfrontation 493, 494 Vorgehen bei Konfrontation 495 Vorsatzbildung 757 Vorschulalter 630 Vorsorgeuntersuchung 943 Vulnerabilität 31, 33 – primäre Vulnerabilität 33 – sekundäre Vulnerabilität 33 Vulnerabilitäts-Stress-Modell 767, 789
W Wahrnehmungsschulung 203 Weiterbildung – Deutschland 988 – Österreich 998 – Schweiz 995 Wettkampfsport 930 Widerstand 270 Wirkmechanismus, Therapie 190 Wissenschaftlicher Beirat 990 Wissensvermittlung 200, 203 Wohlbefinden 924 Worterkennung 399, 402 Worterkennungsleistung 402 Wut 105 Wutanfall 299, 302, 306, 307
Y Yoga 248 Youth Self Report 135
1062
Sachverzeichnis
Z Zeitstichprobeverfahren 363 Zen-Meditation 248 zerebrale Auffälligkeit 436 Ziele der Diagnostik 125 Zielgewicht 727 Zielklärung 185 zirkadianer Rhythmus 749 ZNS-Schädigungen 651 Zwang 630 – »Just-right-Zwänge« 630
– Berührungs- 630 – taktiler Zwang 630 Zwangserkrankung 722 Zwangsgedanke 630 Zwangshandlung 630, 631 – interpersonelle 631 Zwangsinteraktion 462 Zwangsstörung 630, 631, 650 – familiäre Akkomodation 641 – familienbezogene Intervention 641 – Gedanken-Absichts-Fusion/ Gedanken-Persönlichkeits-Fusion 633
– Gedanken-Ereignis-Fusion 633 – Gedanken-Handlungs-Fusion 633 – kognitiv-behavioraler Erklärungsansatz 632 – kognitive Verhaltenstherapie 636 – Kombinationsbehandlung 897 – Pediatric OCD Treatment Study (POTS) 897 – Psychopharmakotherapie 897 – Subtypen 631 – Verhaltenstherapie 896 Zwei-Faktoren-Theorie 508, 509 Zwillings- und Adoptionsstudie 26