Arne Niederbacher · Peter Zimmermann Grundwissen Sozialisation
Arne Niederbacher Peter Zimmermann
Grundwissen Sozial...
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Arne Niederbacher · Peter Zimmermann Grundwissen Sozialisation
Arne Niederbacher Peter Zimmermann
Grundwissen Sozialisation Einführung zur Sozialisation im Kindes- und Jugendalter 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2000 2. Auflage 2003 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2006 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16786-2
Vorwort
Auch die hiermit auf den Weg gebrachte vierte, neu bearbeitete Auflage dieses Buches, für das bisher Peter Zimmermann alleiniger Autor war, verfolgt das Ziel, einen Überblick zum Themenfeld Sozialisation im Kindes- und Jugendalter zu geben. Neben der Systematisierung im Hinblick auf die Kapitelstruktur wurden die einzelnen Kapitel einer grundlegenden Überarbeitung und Aktualisierung unterzogen. (Nicht nur) in Anbetracht der Fülle an einschlägiger Literatur zum Themenfeld Sozialisation beabsichtigen wir gleichwohl nicht, einen ‚vollständigen‘ Überblick zu Sozialisationstheorien und zur Sozialisationsforschung zu geben. Ein Beweggrund, das vorliegende Buch zu verfassen, war die Klage vieler Studentinnen und Studenten der Erziehungswissenschaft und im Lehramtsbereich, dass sie in Bezug auf das Themenfeld Sozialisation große Orientierungsprobleme hätten, da die Literaturlage unüberschaubar sei. ‚Grundwissen Sozialisation‘ richtet sich vornehmlich an Studierende der Erziehungswissenschaft und des Lehramts, aber auch an Schüler und Lehrer, die eine grundlegende Einführung in die Sozialisation im Kindes- und Jugendalter suchen. Das Buch kann gleichwohl nicht die Lektüre der Primärtexte und des in großem Umfang vorliegenden Lehrbuchangebots zu einzelnen Sozialisationstheoretikern oder Forschungsrichtungen ersetzen. Verstanden werden soll es als eine Möglichkeit der ersten Orientierung im Themenfeld Sozialisation. Zum Aufbau des Buches: Was (alles) mit dem Begriff Sozialisation bezeichnet bzw. darunter verstanden wird, darauf gehen wir im ersten Kapitel ausführlich ein. Es geht dabei vor allem um eine Definition und um eine Abgrenzung des Begriffs Sozialisation von den Begriffen Erziehung und Entwicklung. Im zweiten Kapitel werden unterschiedliche Theorieangebote, insbesondere aus der Psychologie und der Soziologie, vorgestellt. Die Leitfrage dabei lautet: Welchen Zugang zum Verständnis von Sozialisation bieten die verschiedenen Theorien? Die dargestellten Theorieansätze werden in den weiteren Kapiteln bzw. Unterkapiteln immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgegriffen und zur Klärung von Detailfragen herangezogen. Im dritten Kapitel wird der Blick auf drei wichtige Sozialisationsbereiche – die Familie, die Schule sowie das Feld der Jugendkulturen – gelenkt und der Frage nachgegangen, welchen Ein5
Vorwort
fluss und welche Auswirkungen die genannten Bereiche auf den Prozess der Sozialisation von Heranwachsenden haben und welche Theorien und Forschungen hierzu Auskunft geben. Kein anderes Merkmal hat so elementare Auswirkungen auf die Sozialisation wie das Merkmal Geschlecht. Ausführlich werden daher im vierten Kapitel Erklärungsansätze zur geschlechtsspezifischen Sozialisation erörtert, die um die Frage kreisen, wie Mädchen zu Mädchen und Jungen zu Jungen werden. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich schließlich mit einer wichtigen, derzeit häufig diskutierten Frage im Forschungsfeld Körpersozialisation, nämlich welchen Einfluss die Gesundheit auf den Prozess der Sozialisation hat. Das, was wir heutzutage als Lebensphase Kindheit und Lebensphase Jugend bezeichnen, ist etwas historisch Gewordenes, das sich – ebenso wie die Einflussfaktoren auf den Prozess der Sozialisation – beständig verändert und weiterentwickelt; es ist etwas Gewordenes und Werdendes, weswegen im abschließenden sechsten Kapitel einige Aspekte und Tendenzen der Sozialisation im 21. Jahrhundert aufgegriffen und diskutiert werden. Bedanken möchten wir uns ganz herzlich bei Dörte Gröger und Romy Siebert: Sie haben beide überaus verlässlich und effektiv Texte durchgesehen, kommentiert und das Gesamtmanuskript korrekturgelesen. Dortmund im April 2011 Arne Niederbacher und Peter Zimmermann
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1
Sozialisation – was ist das eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
2 2.1
Theoretische Überlegungen zur Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Psychologisch orientierte Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.1.1 Psychoanalyse und Bindungstheorie – Sozialisation als Trieb- und Bindungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.1.2 Krisentheorie der Persönlichkeitsentwicklung – Sozialisation als Bewältigungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1.3 Lerntheorie – Sozialisation als Reproduktions- und Veränderungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.1.4 Entwicklungstheorie – Sozialisation als Stufenmodell . . . . . 36 Sozialökologischer Ansatz – Sozialisation als Wechselwirkungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Soziologisch orientierte Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.3.1 Strukturfunktionalismus – Sozialisation als Vergesellschaftungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.3.2 Symbolischer Interaktionismus – Sozialisation als Individuierungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.3.3 Habituskonzept – Sozialisation als Zuschreibungs- und Erwerbsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.3.4 Individualisierungstheorem – Sozialisation als Reintegrationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Radikaler Konstruktivismus – Sozialisation als Ordnungs- und Organisationsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Selbstsozialisation – Sozialisation als strukturloser Subjektzentrismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
2.2 2.3
2.4 2.5
3 3.1
Sozialisationsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.1.1 Was ist eine Familie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 7
Inhalt
3.1.2 3.1.3 3.1.3.1 3.1.3.2 3.1.3.3 3.1.4
3.2
3.3
8
Zur Geschichte der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Theorien und Konzepte zur Sozialisation in der Familie . . . . 77 Sozialpsychologische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Psychoanalytische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Familiale Sozialisation in sozialökologischer Sicht. . . . . . . . 81 Familiale Sozialisation im Zeitalter von Pluralisierung und Individualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.1.4.1 Wandel der Eltern-Kind-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.1.4.2 Die Sozialisation von Kindern erwerbstätiger Mütter . . . . . . 88 3.1.4.3 Aufwachsen als Einzelkind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.1.4.4 Die Sozialisation von Scheidungskindern . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.1.4.5 Sozialisation in Ein-Eltern-Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.1.4.6 Sozialisation in armen Familien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.2.1 Schulische Sozialisation und Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.2.2 Aufgaben und Funktionen schulischer Sozialisation . . . . . . 103 3.2.3 Schulische Sozialisation über den ‚heimlichen Lehrplan‘ . . 106 3.2.4 Schulische Sozialisation über Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.2.5 Schulversagen und Schulverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.2.6 Schule und Selbstwertgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.2.7 Abweichendes Schülerverhalten – Schulische Sozialisation und Etikettierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.2.8 Mädchen und Jungen in der Schule – Koedukation . . . . . . . 121 3.2.8.1 Mädchen: Die Opfer der Koedukation? . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3.2.8.2 Einige (kritische) Anmerkungen zur Koedukationsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.2.8.3 Mädchenschulen, Mädchenförderung, Jungengruppen – Sinnvolle Lösungen oder Sackgassen? . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3.2.8.4 Reflexive Koedukation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Jugendkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.3.1 Jugend – Eine Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3.3.2 Pubertät, Adoleszenz, Postadoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3.3.3 Typologien von Jugend – Generationenspezifische Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3.3.4 Theorien und Konzepte zur Sozialisation in der Lebensphase Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.3.4.1 Strukturfunktionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3.3.4.2 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . 146 3.3.4.3 Das Konzept der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 3.3.4.4 Individuation und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
Inhalt
3.3.4.5 Individualisierte Jugend – posttraditionale Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4 4.1 4.2
4.3
Sozialisation und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Ist der Sozialisationsprozess vorbestimmt durch die Biologie? . . . . 160 Theoretische und konzeptuelle Überlegungen zur geschlechtsspezifischen Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.2.1 Geschlechtsspezifische Sozialisation als Internalisierung eines Über-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.2.2 Geschlechtsspezifische Sozialisation als rituelles Arrangement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.2.3 Geschlechtsspezifische Sozialisation als rationaler Vorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.2.4 Geschlechtsspezifische Sozialisation als Modelllernen . . . . 169 4.2.5 Geschlechtsspezifische Sozialisation als Konstruktionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Der Perspektivenwechsel in der Geschlechterdebatte: Vom Mädchen hin zum Jungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
5 5.1 5.2
Sozialisation und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Dimensionen des Begriffs ‚Gesundheit‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Das Konzept der Salutogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
6
Sozialisation im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
9
1
Sozialisation – was ist das eigentlich?
Sozialisation ist ein zentraler Begriff der Sozialwissenschaften. Der erste Versuch zur Eingrenzung und zur begrifflichen Bestimmung des Themenfeldes stammt von dem französischen Soziologen Emile Durkheim, der Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff Sozialisation den Vorgang der Vergesellschaftung des Menschen bezeichnete. Seine zentrale Fragestellung lautete, wie es möglich ist, dass Individuen in ihren Handlungen kollektiven Gesetzmäßigkeiten folgen, die ihnen (zunächst) unbekannt sind und von ihnen nicht (notwendigerweise) gewollt sind. Zur Beantwortung dieser Frage fokussierte er vor allem auf gesellschaftliche Einflüsse bzw. das Einwirken der ‚Erwachsenengeneration‘ auf die Entwicklung von Heranwachsenden. Der Mensch, so Durkheim (1973: 44), „den die Erziehung in uns verwirklichen muss, ist nicht der Mensch, den die Natur gemacht hat, sondern der Mensch, wie ihn die Gesellschaft haben will.“ Unter Erziehung versteht Durkheim (1972: 30) „die Einwirkung, welche die Erwachsenengeneration auf jene ausübt, die für das soziale Leben noch nicht reif sind.“ Und das Ziel einer so verstandenen Einwirkung im Sinne von Sozialisation ist es, „im Kinde gewisse physische, intellektuelle und sittliche Zustände zu schaffen und zu entwickeln, die sowohl die politische Gesellschaft in ihrer Einheit als auch das spezielle Milieu, zu dem es in besonderer Weise bestimmt ist, von ihm verlangen“ (Durkheim 1972: 30). Deutlich wird bereits, dass Durkheim den Fortbestand einer Gesellschaft lediglich durch Vielfalt im Sinne ‚spezieller Milieus‘ gewährleistet sieht, weswegen auch die Erziehung spezialisiert werden muss, was von ihm schließlich als methodische Sozialisation (socialisation méthodique) bezeichnet wurde. Sozialisation in diesem frühen Verständnis heißt also die Fixierung von generellen sozialen Einstellungen und die Ausbildung spezieller funktionaler Qualitäten bei Individuen, die eine arbeitsteilige Gesellschaft für ihren Zusammenhalt und die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung benötigt (vgl. Abels und König 2010: 55). Die ‚Karriere‘ des Begriffs Sozialisation begann in Deutschland Ende der 1950er Jahre. Zu dieser Zeit war die Restauration der historisch-hermeneutischen bzw. der idealistisch-normativen Pädagogik nahezu abgeschlossen. Zur umfassenden Orientierung innerhalb der Erziehungswirklichkeit, zur Einordnung der Erziehungsfelder und zum Verständnis von Persönlichkeitsentwick-
A. Niederbacher, P. Zimmermann, Grundwissen Sozialisation, DOI 10.1007/978-3-531-92901-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Sozialisation – was ist das eigentlich?
lung reichte es jedoch nicht mehr aus, lediglich den ‚pädagogischen Bezug‘, d. h. die bewusste erzieherische Einflussnahme eines Erwachsenen gegenüber dem Heranwachsenden zu betrachten und herauszustellen. Empirisch-analytische Erklärungsvorschläge, wie sie von Psychologen und Soziologen erarbeitet wurden, ließen die traditionelle Pädagogik, mit ihrer auf Wilhelm Dilthey (vgl. 1957) zurückgehenden, idealistischen Auffassung und dem starren Blick auf die intentionale Bildung und Erziehung in der Schule weitgehend fragwürdig erscheinen. Dieter Geulen (vgl. 1977) kritisiert die Annahme von Dilthey, dass die Subjektwerdung des Menschen nicht auf Erfahrungen oder der Umwelt beruhe, sondern die psychische Entfaltung nur geisteswissenschaftlich-verstehend vor sich geht. Laut Geulen kommt es nämlich gerade auf die Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt an, weswegen er den Ansatz von Dilthey als idealistischen Individualismus etikettierte. Im Zuge der sozialwissenschaftlichen Öffnung der Erziehungswissenschaft seit den 1960er Jahren gewannen sozialisationstheoretische Überlegungen immer stärker an Bedeutung. Theoretische Ansätze bzw. Schulen (wie auch die Sozialisationsforschung) entwickelten und differenzierten sich sehr stark aus. Das, was (alles) unter Sozialisation verstanden wird bzw. verstanden werden kann, zu systematisieren ist ausgesprochen schwierig, denn hinter dem Begriff steht ein ganzes Bündel an (erkenntnis-)theoretischen und empirischen Fragen wie Problemstellungen. Bereits Durkheim (vgl. 1973) konstatierte, dass der Mensch von Geburt an lediglich seine Physis mitbringt und in Bezug auf alle späteren Eigenschaften nur unbestimmte, gestaltbare Dispositionen in ihm angelegt sind. Der Säugling, dessen Persönlichkeit sich erst im sozialen Miteinander, in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt entwickelt, sei dergestalt nahezu eine Tabula rasa – eine unbeschrieben Tafel. Er muss auf das gesellschaftliche Leben erst vorbereitet, d. h. vergesellschaftet bzw. eben sozialisiert werden. Der Säugling, das Kind ist ‚Natur‘ (mit all ihren Unwägbarkeiten), was sich beispielsweise im heute noch gebräuchlichen Begriff des Kindergartens manifestiert, in welchem die Heranwachsenden durch die ‚Pflege‘ von Erziehern ‚gedeihen‘ (sollen). Damit ist bereits ein zentraler Aspekt der Sozialisationsthematik angesprochen: Die soziale Bedingtheit der Persönlichkeitsentwicklung. Durkheim versteht Sozialisation – wie bereits erwähnt – noch mehr oder weniger als eine (methodische) Veränderung der menschlichen Natur im Sinne von (An-)Passung an die soziale Umwelt und die gesellschaftlichen Erfordernisse. Geht man einen Schritt weiter und versteht Sozialisation als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung in Abhängigkeit von der sozialen Umwelt (die historisch-gesellschaftlich vermittelt ist), dann wird der Sachverhalt komplexer. Eine solche Herangehensweise enthält
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1 Sozialisation – was ist das eigentlich?
drei wesentliche Implikationen (vgl. Geulen 1977), d. h. ein solches Verständnis von Sozialisation wendet sich gegen eine biologistische Auffassung menschlicher Entwicklung und gegen eine Determinierung durch ,Anlage‘ und ,Reifung‘. Gleichwohl gilt es zu berücksichtigen, dass der Mensch ein biologisches Wesen ist; gegen eine idealistische Auffassung vom Subjekt. Es gibt kein ,freies Individuum‘, das sich gesellschaftlichen Einflüssen und wissenschaftlichen Erklärungen entziehen kann. Es muss jedoch auch berücksichtigt werden, dass der Mensch durch das (Herkunfts-)Milieu (in dem er aufwächst) nicht mechanisch determiniert wird, sondern ein reflektierendes, intentional handelndes Wesen ist; gegen eine pädagogische Verkürzung kindlicher Entwicklung, die allein das ,Erzieher-Zöglings-Verhältnis‘ in den Blick nimmt. Gleichwohl ist die Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen (z. B. Eltern, Lehrern usw.) ein grundlegendes und wichtiges Element im Prozess der Sozialisation. Eine zentrale Frage, die es bei der Beschäftigung mit dem Themenfeld Sozialisation zu klären gilt, lautet dementsprechend: Wie und warum wird aus dem Neugeborenen ein autonomes, handlungs- und gesellschaftsfähiges Subjekt? Oder vereinfacht ausgedrückt: Wie kommt die ,Welt' in das Individuum? – womit auch die Grundfrage soziologischer Theorie tangiert wird, nämlich wie soziale Ordnung möglich ist. Überlegungen zur Erziehung und Entwicklung von Heranwachsenden kommt dabei zweifelsfrei eine besondere Bedeutung zu. Sozialisation kann aber nicht auf Aspekte der Erziehung und Entwicklung reduziert werden. Das, was unter Sozialisation verstanden wird, ist wesentlich breiter angelegt: Es umfasst mehr als die Versuche von Erwachsenen, Heranwachsenden z. B. Manieren und den richtigen Umgang mit der Sprache beizubringen (Erziehung) oder eine Reihe von Veränderungen zu konstatieren, die mit Begriffen wie Reifung und Lernen belegt werden (Entwicklung).
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1 Sozialisation – was ist das eigentlich?
Mit dem Begriff Entwicklung wird eine Reihe von Veränderungen beschrieben, in der Reifung und Lernen gleichermaßen eingeschlossen sind. Unter Reifung werden die endogenen Bereiche der Entwicklung verstanden (z. B. Körperwachstum, Gewichtszunahme). Von Lernen wird gesprochen, wenn erfahrungsabhängige Komponenten der Entwicklung betrachtet werden. Die Entwicklung des Menschen vollzieht sich in – je nach theoretischem Ansatz unterschiedlich bezeichneten – ‚Phasen‘ bzw. ‚Stufen‘. Der Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung mit dem Begriff Entwicklung liegt auf den grundlegenden Eigenschaften von Menschen (z. B. Wachstum, Motorik, Sprache, logische Operationen usw.). Die Interaktion zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen ist ein wichtiger Bestandteil des Sozialisationsprozesses: Das neugeborene Kind ‚besitzt‘ eine Organausstattung, Temperament, die Fähigkeit zur optischen und akustischen Wahrnehmung, ein Bedürfnis nach neuen Eindrücken, nach Zuwendung und vielem anderen mehr. Es wird in eine Kultur – in der mannigfaltiges Wissen verfügbar ist – hineingeboren, und dieses Wissen bzw. diese Kultur ist ihm zunächst einmal fremd. Eine Aufgabe von Erwachsenen besteht nun darin, es dem Kind zu ermöglichen, sich dieses Wissen anzueignen. Erziehung ist eine Unterstützungsleistung, damit sich Heranwachsende mit der Wirklichkeit auseinandersetzen und (weiter-)entwickeln können (und dergestalt dann auch zur Stabilisierung und Veränderung von Kultur beitragen). Anders ausgedrückt: Erziehung ist nicht gleich Sozialisation, aber Sozialisation ist unter anderem durch Erziehung möglich, welche die Aneignung von Wissen durch Heranwachsende befördert. Der Begriff Erziehung fokussiert auf die Interaktion zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen – im Sinne einer bewussten und geplanten Einflussnahme der Erwachsenen. In der Regel ist hierbei ein Kompetenzgefälle zwischen dem Erziehenden und dem zu Erziehenden gegeben. Auch wenn der Erwachsene für gewöhnlich bereits mehr Erfahrungen gemacht hat, über mehr Wissen verfügt und in einer stärkeren Position ist, wird er seine Einflussnahme doch an den Verhaltensweisen und Handlungen des Kindes orientieren. Erziehung ist dergestalt also immer auch ein Interaktionsprozess. Der Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung mit dem Begriff Erziehung liegt auf den Methoden und den Zielen im Umgang von Erwachsenen mit Heranwachsenden. Die Aneignung von Wissen ist gleichwohl nicht im Sinne einer Anpassung der Heranwachsenden an die soziale Wirklichkeit zu verstehen. Im Prozess der So-
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1 Sozialisation – was ist das eigentlich?
zialisation bewegen sich Heranwachsende zwischen Innovationsanspruch und Reproduktionsverpflichtung. Sie sind keine Schwämme, die alles aufsaugen, was an Einflüssen auf sie wirkt, sondern aktive, gestaltungsfähige Subjekte – ein Aspekt, der von den Vertretern funktionalistischer (Sozialisations-)Theorien, in denen soziale Strukturen relativ statisch beschrieben werden, mitunter vernachlässigt wird (vgl. dazu Kapitel 2.3.1). Die Berücksichtigung des ‚subjektiven Faktors‘ ist mittlerweile fester Bestandteil aller neueren Arbeiten zum Themenfeld Sozialisation. Das menschliche Subjekt ‚bewegt‘ sich in einem „sozialen und ökologischen Kontext, der subjektiv aufgenommen und verarbeitet wird, der in diesem Sinn also auf das Individuum einwirkt, aber zugleich immer auch durch das Individuum beeinflusst, verändert und gestaltet wird“ (Hurrelmann 1993: 64). Vielleicht ist jetzt schon deutlicher geworden, was unter Sozialisation verstanden werden kann. Sozialisation ist als Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit eines Individuums in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten, sozialen und materiellen Umwelt zu verstehen. Der Schwerpunkt bei der Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Sozialisation liegt auf der Frage nach den gesellschaftlichen Integrations- und Partizipationsmöglichkeiten des Individuums, d. h. nach dessen Befähigung am sozialen Leben teilzuhaben und an der gesellschaftlichen Entwicklung mitzuwirken. Sozialisation impliziert dabei immer eine Vorstellung von sozialer Ordnung, die in der Regel auf einer Passung von Individuum und Gesellschaft beruht. Je nachdem, welche theoretische Vorstellung bzw. welches Menschenbild dabei zu Grunde gelegt wird, können zwei Extrempole unterschieden werden: Einerseits wird reklamiert, dass soziale Ordnung durch gesellschaftliche Überformung individueller Bedürfnisstrukturen in gesellschaftlich verlangte Bedürfnisdispositionen aufrechterhalten wird. Andererseits wird reklamiert, dass soziale Ordnung erst durch das wechselseitige Abarbeiten vom Individuum als sozialem Selbst und Gesellschaft als generalisiertem Anderen erzeugt wird. Die folgenden drei Perspektiven gilt es dabei (in ihrem Wechselverhältnis) zu berücksichtigen:
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1 Sozialisation – was ist das eigentlich?
Subjektbezogene Perspektive: Heranwachsende sind – wie oben bereits erwähnt – keine Schwämme. Zu klären gilt es also, wie sie letztlich zu autonomen, handlungs- und gesellschaftsfähigen Subjekten werden. Institutionenbezogene Perspektive: Hier steht die Zwecksetzung und Funktion von gesellschaftlichen Institutionen im Vordergrund. Es geht um die Frage, wie und mit welchen Effekten die in Institutionen agierenden Personen Normen, Werte und Kulturtechniken vermitteln. Kulturbezogene Perspektive: Wenn wir unter Kultur das (sichere) Wissen einer Gesellschaft/einer Gruppe darüber verstehen, wer wann unter welchen Umständen was wie und warum zu tun und zu lassen hat, dann stellt sich die Frage, wie sich (nicht nur) Heranwachsende dieses Wissen (immer wieder) aneignen, für ihre Selbstinterpretationen und für ihre Interpretationen der ‚Welt‘ nutzen und wie dieses Wissen modifiziert wird. Die genannten Perspektiven verweisen auf das Modell des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ (Hurrelmann 1993: 64), in welchem Sozialisation als interaktiver Prozess verstanden wird, d. h. Persönlichkeitsentwicklung findet in der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Umwelt statt. Die Vermittlung der inneren Realität zu den Bedingungen der äußeren Realität geschieht wesentlich über Interaktion und Kommunikation. Nun tritt dem Individuum (nicht nur) im Prozess der Sozialisation die äußere Realität (d. h. die Gesellschaft) nie in ihrer Totalität und Komplexität gegenüber, sondern das Individuum ist in konkrete lebensweltliche Zusammenhänge ‚eingebettet‘, die aber gleichwohl auf größere, weitaus komplexere Zusammenhänge verweisen. Für eine erste grobe Einordnung der Zusammenhänge kann das Strukturmodell der Bedingungen bzw. Abhängigkeiten von Sozialisation herangezogen werden. Klaus-Jürgen Tillmann (vgl. 1990: 17) verweist darin auf vier Ebenen: Ebene des Subjekts Einstellungen, Erfahrungsmuster, Wissen, emotionale Strukturen, kognitive Fähigkeiten
( Ebene von Interaktionen und Tätigkeiten Eltern-Kind-Beziehungen, schulischer Unterricht, Kommunikation zwischen Gleichaltrigen, Freunden und Verwandten
( Ebene von Institutionen Kindergärten, Schulen, Universitäten, Betriebe, Massenmedien, Kirchen
( Ebene der Gesamtgesellschaft ökonomische, soziale, politische und kulturelle Strukturen Abbildung 1 16
1 Sozialisation – was ist das eigentlich?
Auf der ersten Ebene geht es um die Entwicklung der Individuen, um Einstellungen, Wissen und emotionale Strukturen; kurz: um Persönlichkeitsmerkmale. Diese Merkmale entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Dementsprechend wird die zweite Ebene als Ebene von Interaktionen und Tätigkeiten bezeichnet. Interaktionen und Tätigkeiten sind eingebettet in die unmittelbare Umwelt der Heranwachsenden und finden überwiegend in Institutionen wie dem Kindergarten oder der Schule statt, welche die dritte Ebene bilden. Sie sind zum Teil ausschließlich zum Zwecke der Sozialisation eingerichtet worden. Kinder und Jugendliche sollen in ihnen auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben vorbereitet werden und sie dienen dergestalt (auch) der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung durch die Vermittlung von Normen und Werten. Die Institutionen wiederum verweisen auf die vierte Ebene, die Ebene der Gesamtgesellschaft mit ihren ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturen, aus denen heraus sich die Institutionen entwickelt haben und in denen sie verankert sind (vgl. Tillmann 1990: 16ff.). Ein Grundproblem, welches es bei der Erforschung von Sozialisationsprozessen zu berücksichtigen gilt, besteht in der Frage nach den Verbindungen zwischen den verschiedenen Ebenen. Wie sind beispielsweise die einzelnen Prozesse auf der Mikroebene (Subjektentwicklung) mit Prozessen auf der Makroebene (gesamtgesellschaftliche Strukturen) verknüpft bzw. welche Interdependenzen liegen vor. Anders ausgedrückt: Welchen Einfluss haben beispielsweise kulturelle Werte und institutionelle Vorgaben auf das konkrete Erziehungsverhalten und welche Auswirkung hat das Erziehungsverhalten wiederum auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Heranwachsenden? Neben dem Strukturmodell, welches die Bedingungen bzw. Abhängigkeiten von Sozialisationsprozessen verdeutlicht, werden Prozesse der Sozialisation auch durch die Unterscheidung von Lebensphasen strukturiert und beschrieben. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass zeitliche Phasen der Sozialisation nicht anthropologisch-allgemein erfasst, sondern immer nur am historisch-konkreten ‚Fall‘ untersucht werden können. Lebensphasen wie z. B. Kindheit oder Jugend sind also keine Konstanten, sondern abhängig von den je aktuell bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen bzw. den Veränderungen innerhalb der jeweils untersuchten Gesellschaft, was gemeinhin mit dem Begriff sozialer Wandel bezeichnet wird. Forschungen zum Themenfeld Sozialisation und die entsprechenden Erträge in Form von Theorien müssen dementsprechend darstellen können, wie sich beispielsweise die Erfahrungen der Elterngeneration auf die Entwicklung der Persönlichkeit von Heranwachsenden auswirken, bzw. wie sich die Erfahrungen von Eltern und Heranwachsenden unterscheiden, wechselseitig beeinflussen und im zeitlichen Verlauf verändern. Dergestalt wird dann auch verständlich, dass sich Heranwachsende in einem Spannungsfeld von eigenen 17
1 Sozialisation – was ist das eigentlich?
und fremden Ansprüchen und Verpflichtungen bewegen, dass Individuum und Gesellschaft nicht zwei isoliert voneinander zu betrachtende Bereiche sind, sondern dass aufgrund der Angewiesenheit des Menschen auf andere Menschen allenfalls von einer Gesellschaft der Individuen, von Netzwerken von Individuen gesprochen werden kann, die in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander stehen und mehr oder weniger labile Machtbalancen verschiedenster Art bilden (z. B. in der Familie, Schule, Peer-Group usw.) (vgl. Elias 1996: 12).
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Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Theorien lassen sich mit ‚Brillen‘ vergleichen, mit denen wir die Wirklichkeit betrachten. Wie eine Brille je nach Stärke des Glases beeinflusst oder auch bestimmt, wie wir etwas bzw. was wir sehen oder erkennen können, so bestimmt auch eine Theorie, wie und unter welchen Aspekten die Wirklichkeit betrachtet und erklärt wird. So wie es keine Brille für alle Augen gibt, so gibt es auch keine allgemeingültige, alles umfassende Theorie der Sozialisation. Das Themenfeld ‚Sozialisation‘ wird theoretisch aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet, weswegen es für eine Verständigung darüber, wie und was jeweils erklärt wird, notwendig wie auch sinnvoll erscheint, die zentralen Aspekte der jeweiligen Perspektive bzw. des jeweiligen Ansatzes herauszustellen. Dies eröffnet sodann die Möglichkeit, uns in dem – auf den ersten Blick – enorm unübersichtlichen und heterogenen Themenfeld zu orientieren. Die in den folgenden Kapiteln skizzierten Theorien werden in der Literatur häufig als theoretische ‚Ansätze‘ zum Themenfeld Sozialisation bezeichnet. Berücksichtigt werden muss jedoch, dass sie aus ganz unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Strömungen und historischen Zusammenhängen heraus entstanden sind und von ihren Begründern häufig nicht als originäre Sozialisationstheorie intendiert waren (vgl. Geulen 1991: 24). Was wir also bei der Beschäftigung mit dem Themenfeld Sozialisation vorfinden ist kein integratives Konzept, keine Theorie der Sozialisation, sondern es sind verschiedene Theorien, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, dass sie (auch) auf die für Heranwachsende relevanten Austauschbeziehungen (z. B. Familie, Peer-Group, Schule, Konsum usw.) eingehen. Aufgrund der unterschiedlichen Gewichtung relevanter Aspekte und dem dieser Gewichtung in der Regel zugrundeliegenden Menschenbild unterscheiden wir
psychologisch orientierte Theorien, sozialökologische Modelle zur Sozialisation, soziologisch orientierte Theorien, radikalkonstruktivistische Zugänge zum Themenfeld Sozialisation und Konzepte zur so genannten Selbstsozialisation.
A. Niederbacher, P. Zimmermann, Grundwissen Sozialisation, DOI 10.1007/978-3-531-92901-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Im Folgenden werden die zentralen Aspekte der unterschiedlichen Erklärungsansätze dargestellt, die jeweils einem dieser fünf Bereiche zugeordnet werden können. Zur Verdeutlichung der unterschiedlichen Zugangsweisen und Schwerpunkte werden einige der Theorien auch in anderen Kapiteln (z. B. wenn es um die schulische oder die geschlechtsspezifische Sozialisation geht) aufgegriffen, um die jeweiligen Unterschiede im Zugriff bzw. in der Perspektive auf das Themenfeld Sozialisation zu verdeutlichen.
2.1
Psychologisch orientierte Theorien
Im Bereich der in psychologischer Tradition stehenden Ansätze gehen wir auf die Psychoanalyse und Bindungstheorie, auf die Krisentheorie, auf die Lerntheorie und auf die Entwicklungstheorie näher ein. Im Vordergrund steht dabei die Frage, was diese Ansätze bzw. Modelle – die schwerpunktmäßig auf die Analyse der Wechselwirkungen zwischen innerer Realität und Persönlichkeitsentwicklung fokussieren – zur Erklärung von Sozialisationsvorgängen beitragen. 2.1.1 Psychoanalyse und Bindungstheorie – Sozialisation als Triebund Bindungsmodell Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, entwickelte Ende des 19. Jahrhunderts eine ausgesprochen komplexe und kontrovers diskutierte Theorie, die von ihm gleichwohl nicht als Sozialisationstheorie konzipiert, sondern als eine medizinisch-psychologisch orientierte Therapieform ausgearbeitet wurde (vgl. Hurrelmann 1993: 26). Freud (vgl. 1966) hat in diesem Zusammenhang elementare Begriffe wie z. B. das Unbewusste, die Verdrängung und die Neurose oder Konzepte, wie das der Sexualentwicklung, in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht und auf die Bedeutung der frühen Kindheit für die Sozialisation hingewiesen. Das zentrale Erklärungsmoment der Psychoanalyse im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung ist die Annahme der Existenz unbewusster psychischer Prozesse. Das heißt der Hintergrund für (scheinbar) rationale, absichtsvolle Handlungen sind uns verborgene unbewusste Zusammenhänge. Freud sieht in der Aufklärung dieser unbewussten Teile in unserem Seelenleben die Hauptaufgabe der Psychoanalyse als Wissenschaft. Was bringt Menschen aber überhaupt zum Handeln? Freud (vgl. 1966) zufolge sind es Triebe, zu verstehen als Teil der menschlichen Psyche, die uns zum Handeln antreiben und die unser Verhalten beeinflussen. Triebe sind als solche nicht beobachtbar: Es sind Spannungen oder Erregungen – welche subjektiv als Bedürfnis empfunden werden – die uns dazu 20
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
veranlassen, tätig zu werden, um den Erregungszustand zu beenden oder um ein Bedürfnis zu befriedigen. Diese triebtheoretische Akzentuierung wird mit der psychischen Instanz des ‚Es‘ beschrieben. Das ‚Es‘ produziert fortwährend ‚Libido‘ (die zu Spannung und Lustansprüchen und folglich einem Trieb führt). Das ‚Es‘ ist laut Freud ein Reservoir sexueller und aggressiver Triebe, das – ‚regiert‘ von den Lustansprüchen – nach vollständiger Befriedigung verlangt. Dieses auch als Lustprinzip bezeichnete Verhalten ist unbewusst, irrational und besitzt keine Moral. Damit ein Zusammenleben mit anderen Menschen möglich wird, also der Einzelne nicht nur nach der eigenen Triebbefriedigung sucht, muss die Beziehung zu anderen Menschen, zur Umwelt organisiert werden. Diese Funktion übernimmt bei Freud (vgl. 1982) die psychische Instanz des ‚Ich‘. Das ‚Ich‘ ermöglicht es uns, Triebansprüche zu verschieben, Abwehrmechanismen zu mobilisieren oder Anpassungen zu organisieren. Das ‚Ich‘ – das auch unter der Bezeichnung Realitätsprinzip firmiert – bildet die Vermittlerrolle zwischen den Triebansprüchen und den Ansprüchen der Außenwelt. Die Motive und Wertmaßstäbe dieser Vermittlung erreichen uns über die dritte psychische Instanz, das ‚Über-Ich‘. Das ‚Über-Ich‘ hat die Funktion, uns gesellschaftliche Werte und Normen nahe zu bringen und bildet sich über eine Abfolge von Identifikations- und Internalisierungsprozessen aus. Das ‚Über-Ich‘ wird von Freud als Gewissensinstanz einer Person beschrieben oder anders ausgedrückt: Das ‚Über-Ich‘ umfasst die moralische Funktion der Persönlichkeit und wird dementsprechend als Moralitätsprinzip bezeichnet. Die drei genannten Instanzen beschreibt Freud (vgl. 1966) als psychischen Apparat eines Menschen. Im Zusammenspiel der drei Instanzen ‚funktionieren‘ wir. Und nur dann, wenn der Apparat des Einzelnen ‚richtig arbeitet‘, funktioniert das Zusammenleben in der Gesellschaft. Dieses Zusammenspiel ist nicht von Anfang an im Menschen angelegt, sondern entwickelt sich im Prozess der Sozialisation, der in der Psychoanalyse als Prozess der psychosexuellen Entwicklung beschrieben wird. Das bedeutet auch, dass die Entwicklung des psychischen Apparats und die Phasen der psychosexuellen Entwicklung eng miteinander verknüpft sind. Freud vertrat die Auffassung, dass die Persönlichkeitsentwicklung dadurch beeinflusst und forciert wird, dass Kinder ihre Sexualenergie (ihre ‚Libido‘) von einem Lebensabschnitt auf den nächsten ausdehnen. Insgesamt werden von ihm fünf Phasen unterschieden, die in der folgenden Zusammenstellung in der linken Spalte aufgeführt sind. In der rechten Spalte wird ersichtlich, in welchem Entwicklungsabschnitt die psychischen Instanzen verortet sind.
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Psychosexuelle Phasen
Entwicklung/Aktivitäten
orale Phase (1. Lebensjahr)
In dieser Phase sind die Nervenenden an den Lippen und im Mund der Kinder besonders empfindlich und führen bei den Neugeborenen zu Lustempfinden. Dies geschieht unter anderem über das Beißen oder das Ausspeien von Nahrung. Die orale Phase ist geprägt durch die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, sie dient aber auch der Erkundung von Teilen der Welt.
anale Phase (2. bis 3. Lebensjahr)
Die kindliche Aufmerksamkeit verlagert sich auf den Analbereich. In dieser Phase geht es um die Kontrolle der Darmentleerung. Mit dem Akt des Auf-den-Topf-setzens macht das Kind erste Erfahrungen mit der Setzung von Regeln und Grenzen durch Erwachsene.
infantil-genitale Phase (4. bis 5. Lebensjahr)
Schlüsselobjekt dieser Entwicklungsphase sind die Geschlechtsorgane. Schlüsselerlebnis sind die sexuellen Wünsche, das gegengeschlechtliche Elternteil als Sexualpartner zu gewinnen, was aber von der sozialen Umwelt sanktioniert wird und wodurch sich nun innere Widerstände (Ekel-, Scham- und Moralgefühle) herausbilden. Freud hat diese Phase nur aus Sicht der Jungen beschrieben, die moderne Psychoanalyse analysiert bei Mädchen aber vergleichbare Prozesse.
Latenzphase (6. bis 12. Lebensjahr)
Dank erfolgreicher Sozialisation ruht in dieser Phase die Sexualität. Aufgrund innerer Widerstände verdrängt das Kind sexuelle Bedürfnisse und Aktivitäten. Deshalb gilt diese Entwicklungsphase als Latenz- bzw. Ruhephase. Sexuelle Triebziele werden umgelenkt in Freundschaftsbeziehungen.
genitale Phase (13. bis 21. Lebensjahr)
Jetzt werden die erogenen Zonen wieder stimuliert (z. B. durch Küsse oder das Betasten). Die Sexualfunktionen reifen heran, d. h. der Sexualtrieb steht nun (auch) im Dienst der Fortpflanzungsfunktion und es beginnt die Aufnahme sexueller Aktivitäten.
Psychischer Apparat
Es
Ich
Über-Ich
Abbildung 2
In den skizzierten Phasen vollzieht sich Freud (vgl. 1982) zufolge die Subjektentwicklung dadurch, dass die Heranwachsenden bestimmte Probleme (die in 22
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Auszügen in der mittleren Spalte skizziert wurden) bewältigen müssen. In dieser Sichtweise liegt auch ein Verdienst der Psychoanalyse für die Sozialisationstheorie begründet, gleichwohl sie nach wie vor (nicht nur) im Bereich der Sozialisationsforschung kontrovers diskutiert wird und nur selten Anwendung findet. Dies mag mitunter auch darin begründet liegen, dass kindliche Sexualität und das Unbewusste als Basis von Sozialisationsprozessen noch immer provozierend, unangemessen oder fremd wirken (vgl. Hagemann-White 1998). Dieter Geulen (2005: 47) hat den Gewinn der durch die Psychoanalyse gewonnenen Einsichten für das Verständnis von Sozialisation wie folgt zusammengefasst: „Vor allem verdanken wir der Psychoanalyse die Einsichten: (1) dass innerpsychische Verarbeitung von Erfahrungen sehr komplex und unbewusst sein kann, (2) dass die dabei entstehenden Persönlichkeitsformationen die Art der Handlungsfähigkeit des Individuums bestimmen, insbesondere die Chancen zu autonomerem Handeln, (3) dass die affektiven Beziehungen zu anderen Personen eine wichtige Sozialisationsbedingung sind und (4) dass die entscheidenden Formationen schon in der frühen Kindheit entstehen.“
Sozialisation ist im Sinne der Psychoanalyse kein kontinuierlicher Prozess, sondern eine Abfolge von Problemen und deren Bearbeitung, kurz: eine Abfolge von Entwicklungskrisen (vgl. Tillmann 1990: 68). Werden in einer Phase die Probleme bzw. Entwicklungskrisen bewältigt, führt das letztendlich zu einer Stärkung des Ich. Diesen Aspekt hat vor allem Erik K. Erikson aufgegriffen und durch die Berücksichtigung von Einflüssen, die auf Menschen z. B. über ihre soziale Umwelt einwirken, erweitert (siehe dazu Kapitel 2.1.2). Dergestalt hat er maßgeblich zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit sozialisationstheoretisch relevanten Aspekten der Psychoanalyse beigetragen (vgl. Hurrelmann 1993: 28). Exkurs: Sozialisation im Spiegel der Bindungstheorie Um die soziale und emotionale Entwicklung von Heranwachsenden besser zu verstehen und zu klären, warum sich Kinder und Jugendliche in Bezug auf Selbstwert, Autonomie oder Sozialverhalten unterscheiden, ist es hilfreich, auf die Ergebnisse der Bindungsforschung kurz einzugehen. Die Bindungstheorie – begründet vom Psychoanalytiker und Psychiater John C. Bowlby (vgl. 1995) – geht davon aus, dass jeder Mensch mit einem Verhaltenssystem ausgestattet ist, welches er als Bindungsverhalten (‚Attachment‘) beschreibt. Das Verhaltenssystem ist Bowlby zufolge evolutionär vorprogrammiert, d. h. Bindungsverhalten ist angeboren und insofern ‚umweltstabil‘. Bindung, im Sinne einer engen und gefühlvollen Beziehung zu anderen Menschen, wird demzufolge (neben körperlichen Bedürfnissen) als ein eigenständiges, naturgegebenes menschli23
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
ches Grundbedürfnis angesehen. Aus diesem Bedürfnis heraus entsteht in der frühen Kindheit ein spezifisches Bindungssystem, das in seinen Hauptbestandteilen während des gesamten Lebens relativ konstant bleibt. Das Bindungssystem basiert auf Bindungserfahrungen, aus denen von Bowlby (im Anschluss an Kenneth Craik) so bezeichnete internale Arbeitsmodelle in Form mentaler Repräsentationen entstehen (vgl. Bretherton 2001). Ebenso wie die Vertreter der Psychoanalyse gehen Bindungstheoretiker von der Annahme aus, dass die Arten und Weisen frühkindlicher Erfahrungen mit anderen Menschen prägend für die gesamte weitere Entwicklung eines Menschen sind. Die internalen Arbeitsmodelle lenken spätere Beziehungen und dienen dazu, Wirklichkeit zu konstruieren und zu interpretieren. Im Zusammenleben mit ihren (zentralen) Bezugspersonen entwickeln Heranwachsende kognitiv-affektive Konstrukte darüber, wann diese Personen verfügbar und wie sie ihnen zugewandt sind. Die internalen Arbeitsmodelle beziehen sich aber nicht nur auf andere Menschen, sondern auch auf das eigene Selbst, d. h. auf die Vorstellung darüber, wie man in den Augen der anderen wahrgenommen wird. Sind solche Arbeitsmodelle einmal ausgebildet, entfalten sie ihre Wirkung zum Teil auch unbewusst und fungieren als Prototypen für Beziehungen, was wiederum bedeutet, dass sie spätere Wahrnehmungen und Verhaltensweisen beeinflussen und auf nachfolgende Interaktionserfahrungen steuernd wirken können. Die Arbeitsmodelle bilden dergestalt eine Grundlage für die Fähigkeit, stabile soziale Beziehungen einzugehen bzw. aufzubauen und aufrecht zu erhalten. ‚Stabil‘ bedeutet in diesem Zusammenhang aber nicht starr und unveränderbar. Neue bedeutsame Beziehungserfahrungen, kritische Lebensereignisse oder Abläufe im Rahmen der so genannten Selbstsozialisation (siehe dazu Kapitel 2.5) können Modifizierungen der internalen Arbeitsmodelle nach sich ziehen (vgl. Hopf 2005: 45ff.). Für die Persönlichkeitsentwicklung von Heranwachsenden ist es aus Sicht von Bindungstheoretikern ausgesprochen bedeutsam, wie die Muster von Bindungen formiert sind. Unterschieden werden in diesem Zusammenhang sichere, unsicher-vermeidende und unsicher-ambivalente Bindungen:
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Sichere Bindung: Die Bezugsperson (in der Regel die Mutter) ist ein ‚sicherer Hafen‘, der immer angelaufen werden kann, wenn Schutz gesucht wird. Sicher gebundene Kinder haben erfahren, dass sie im Bedarfsfall nicht im Stich gelassen werden und sind ausgesprochen zuversichtlich im Hinblick auf die Verfügbarkeit ihrer Bezugsperson. Auch wenn die Bezugsperson einmal nicht anwesend ist, bleiben diese Kinder ruhig und entspannt. Eine sichere Bindung entwickelt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit dann, wenn sich die Bezugspersonen dauerhaft und feinfühlig auf die Bedürfnisse der Kinder einstellen. Sicher gebundene Kinder werden auch als Erwachsene ihren Mitmenschen eher Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft zusprechen. Unsicher-vermeidende Bindung: Kinder mit diesem Bindungsmuster erwarten, dass ihre Wünsche auf Ablehnung stoßen. Sie sind ohne Zuversicht, was die Verfügbarkeit ihrer Bezugsperson angeht. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder haben häufig Zurückweisung erfahren oder wurden durch äußere Umstände daran gehindert, eine enge Bindungsbeziehung aufzubauen. Dieses Bindungsmuster führt im Erwachsenenalter zur starken Betonung der eigenen Unabhängigkeit und einer Vermeidung von emotionaler Nähe zu anderen Personen. Neben schwachem Engagement bezüglich sozialer Beziehungen kann es in Einzelfällen auch zu lebenslang anhaltenden Persönlichkeitsstörungen wie zwanghafter Selbstgenügsamkeit oder Delinquenz führen. Unsicher-ambivalente Bindung: Dieses Bindungsmuster entsteht, wenn ein Kind nicht einschätzen kann, wie die Bezugsperson in bestimmten Situationen reagieren wird und sie sich also oftmals uneindeutig verhält. Das Kind ist dementsprechend unsicher, ob die Bindungsperson bei Bedarf zur Verfügung stehen wird. Unsicher-ambivalent gebundene Heranwachsende zeigen starke Neigungen zur Trennungsangst und zum ‚Klammern‘. In späteren Jahren können sie sich häufig nicht richtig festlegen – sie haben das Bedürfnis nach Nähe zu anderen Menschen, gleichzeitig haben sie aber Angst, dass ihr Bedürfnis nicht erwidert wird, d. h. sie verhalten sich dementsprechend selbst häufig widersprüchlich. Welche Voraussetzungen müssen nun beim Aufbau für die als bedeutsam gesetzten sicheren Bindungen vorliegen? Für den Aufbau sicherer Bindungen ist es – aus der Perspektive der Heranwachsenden betrachtet – wichtig, dass Bezugspersonen ‚angemessene‘ Verhaltensweisen im annähernd ‚richtigen‘ Rhythmus zeigen. Das Bindungskonzept ist dabei nicht auf die Mutter beschränkt, sondern lässt sich auch auf die Beziehung zum Vater, zu Geschwistern oder zu ‚pro-
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
fessionellen‘ Erziehungspersonen ausweiten. Von zentraler Bedeutung sind die nachfolgenden Vorgehens- und Verhaltensweisen der Bezugspersonen: Wahrnehmung der Befindlichkeit – dies bedarf einer aufmerksamen Beobachtung des Kindes. Richtige Interpretation der Äußerungen, des Verhaltens – hierzu benötigt die Bezugsperson Empathie, um die Situation des Kindes einschätzen und sein Verhalten verstehen zu können. Prompte Reaktion – damit das Kind eine Verknüpfung zwischen seinen Bedürfnissen und der Handlung der Bezugsperson spüren kann. Angemessenheit der Reaktion – es muss eine Reflexion des kindlichen Entwicklungsprozesses erfolgen bzw. das gezeigte Verhalten im Zusammenhang mit dem Prozess gesehen werden. Annahme des Kindes in seiner individuellen Eigenart – dem Kind muss das Gefühl vermittelt werden, dass seine Bedürfnisse, seine Verhaltensweisen ernst genommen werden. Die Gemeinsamkeit der ,angemessenen‘ Vorgehens- und Verhaltensweisen wird von Bindungstheoretikern mit dem Begriff Feinfühligkeit bezeichnet. Entscheidend ist der Grad der Feinfühligkeit, mit dem Bezugspersonen auf Bedürfnisse von Kindern reagieren sowie deren Verfügbarkeit und Verlässlichkeit. Der Grad der Feinfühligkeit dient als Messlatte für Bindungsqualität und ist demzufolge ein wichtiger Einflussfaktor im Hinblick auf die Empathiefähigkeit und soziale Kompetenz von Kindern, auf deren späteren Umgang mit eigenen Kindern und auf die Gestaltung von Beziehungen (vgl. Main 2001). Die soziale und emotionale Entwicklung von Kindern ist demnach die Repräsentation der Geschichte der Responsivität der Bezugsperson. „Sofern Mütter – bzw. allgemeiner gefasst: die jeweiligen Bezugspersonen – in der Interaktion mit ihren Kindern feinfühlig sind und insofern sie angemessen auf ihr Kind reagieren, wird die Sozialisation von Kindern nicht zu einer viel Theorie erfordernden Sisyphusarbeit, sondern erfolgt beiläufiger, in vielen einzelnen Interaktionen zwischen Müttern, Vätern und ihren Kindern“ (Hopf 2005: 250).
Dies ist aus Sicht von Bindungstheoretikern vor allem deshalb plausibel, weil Menschen als sozial vorangepasste Wesen mit ausgeprägtem Kommunikationsund Interaktionsbedürfnis zur Welt kommen, auf andere Menschen angewiesen sind und die ‚Bereitschaft‘ mitbringen, sich an andere Menschen zu binden. Dass es dabei mitunter zu erheblichen Irritationen und Problemen kommen kann, darauf gehen wir im nächsten Kapitel ein. 26
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
2.1.2 Krisentheorie der Persönlichkeitsentwicklung – Sozialisation als Bewältigungsmodell Erikson unterscheidet in seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung acht Phasen, in denen zwar die Dynamik der psychosexuellen Entwicklung nach Freud berücksichtigt wird, die aber darüber hinaus um Aspekte der psychosozialen Dynamik – im Sinne familialer und sozialstruktureller Einflussfaktoren sowie daraus entstehende innere und äußere Konflikte – erweitert wird. Innere und äußere Konflikte nennt Erikson Krisen, d. h. Spannungen zwischen positiven und negativen Tendenzen, die von den Heranwachsenden nicht nur ausgehalten, sondern auch bewältigt werden müssen. Von der Art der Bewältigung hängt der Verlauf der Entwicklung zu einer ‚gesunden‘ Persönlichkeit ab, d. h. einer Persönlichkeit, die „ihre Umwelt aktiv meistert, eine gewisse Einheitlichkeit zeigt und imstande ist, die Welt und sich selbst richtig zu erkennen“ (Erikson 1973: 57). Dieser Vorstellung von Persönlichkeit bzw. von Persönlichkeitsentwicklung beruht auf drei Grundannahmen: Entwicklung folgt einem epigenetischen Prinzip, d. h. alles, was wächst, hat einen Grundplan. Der epigenetische Entwicklungsplan muss mit dem sozialen Entwicklungsplan abgestimmt werden. Die Persönlichkeitsentwicklung verläuft über das Zusammenspiel von organischer Entwicklung und gesellschaftlichen Unterstützungsprozessen. Die Entwicklung der Persönlichkeit ist durch innere und äußere Konflikte gekennzeichnet. In seinem Leben hat das Individuum eine Reihe psychosozialer Krisen zu bestehen. Eine Krise ist die Differenz zwischen dem, was man haben, tun oder sein möchte und dem, was in der jeweiligen Situation möglich ist und geboten wird. Krise darf hierbei nicht als eine Störung oder Gefährdung, sondern als konstitutiver Bestandteil und als Schaltstelle menschlicher Entwicklung verstanden werden. Die Entwicklung der Persönlichkeit ist mit einer Stufenfolge von Wechselwirkungen zwischen Individuum und sozialer Umwelt verbunden. Im Durchlaufen und in der erfolgreichen Bewältigung von insgesamt acht jeweils typischen ‚Aufgaben‘ in den einzelnen Entwicklungsstufen des Lebenszyklus, baut sich die Ich-Identität auf. Der soziale Horizont der Heranwachsenden erweitert sich dabei ständig im Sinne eines Vertrauens zur Welt und zu sich selbst. Wie sehen nun die acht Phasen im Einzelnen aus? Sie werden von Erikson als Gegensatzpaare beschrieben, was darauf hinweist, dass es eine gelingende ebenso wie eine misslingende Bewältigung von Krisen geben kann. Wird eine Krise
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
produktiv gelöst, ist der Heranwachsende bereit für die nächste Entwicklungsstufe; ist das nicht der Fall, dann kann sich dies negativ auf den weiteren Lebensvollzug auswirken. 1. Phase (Säuglingsalter) – Urvertrauen gegen Urmisstrauen: Mit Urvertrauen ist ein „Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens“ (Erikson 1973: 62) gemeint. Es entsteht aus der Erfahrung, dass zwischen der Welt und den eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen eine Übereinstimmung möglich ist. Auch wenn sich Kinder körperlich unwohl fühlen, beispielsweise beim Durchbruch der ersten Zähne oder wenn sich die Mutter oder eine andere Bezugsperson zeitweilig entfernt, muss das Kind Vertrauen behalten können. Der Aufbau dieses ‚Urvertrauens‘ ist die Hauptaufgabe des ersten Lebensjahres. Kinder müssen lernen, trotz widriger Umstände anderen Menschen vertrauen zu können. Die Überwindung einer solchen Krise bedeutet auch, ein rudimentäres Gefühl von Ich-Identität aufzubauen. Haben Kinder in dieser Entwicklungsphase eher mit Vernachlässigung und Unzuverlässigkeit zu tun, gewinnt ein Gefühl des Misstrauens die Oberhand, was zu Entfremdung führen kann. 2. Phase (Kleinkindalter) – Autonomie gegen Scham und Zweifel: Ist die Vertrauensproblematik geklärt, wird eine neue Krise virulent, die eine Phase der Emanzipation von der Mutter oder einer anderen Bezugsperson einleitet. In dieser Phase experimentieren Kinder mit den sozialen Modalitäten ‚festhalten‘ und ‚loslassen‘. Es sind durchaus Parallelen zu dem erkennbar, was in der Psychoanalyse als anale Phase (Beherrschung der Ausscheidungsfunktionen) bezeichnet wird. Erikson geht in seiner Darstellung jedoch über die Sauberkeitserziehung im engeren Sinne hinaus und betont, dass es in dieser Phase vor allem um Autonomiebestrebungen der Heranwachsenden und deren Tolerierung seitens der Eltern geht. Nur so kann die Entwicklung zu einer ‚gesunden‘ Persönlichkeit voranschreiten. Durchkreuzen die Eltern beständig die Vorstellungen und Wünsche der Kinder, dann kann bei diesen ein Gefühl von Scham und Peinlichkeit entstehen, das sich im Alltag durch Unentschlossenheit, Unsicherheit oder Selbstzweifel bemerkbar macht. 3. Phase (Spielalter) – Initiative gegen Schuldgefühl: Die Krise in dieser Entwicklungsphase resultiert aus dem Wunsch des Kindes „herauszufinden, was für eine Art von Person es werden will“ (Erikson 1973: 87). Kinder im ‚Spielalter‘ entwickeln eine unermüdliche Wissbegierde in Bezug auf Gegenstände jeglicher Art im Allgemeinen wie auch in Bezug auf Geschlechter unterschiede im Speziellen. Vervollkommnung der sprachlichen Fähigkeiten und die Ausweitung der Aktivitäten begünstigen ein Initiativstreben, gleich28
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
zeitig aber auch eine Funktionserweiterung des Gewissens. Kinder beginnen, sich für bloße Gedanken schuldig zu fühlen. Wenn Eltern nicht übermäßig an das Gewissen der Kinder appellieren, kann diese Krise von den Heranwachsenden jedoch gut gemeistert werden. Andernfalls sind Schuldgefühle, Übergewissenhaftigkeit und hysterische Symptome die Folge. 4. Phase (Schulalter) – Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl: Die Heranwachsenden befinden sich nun in einer lernbegierigen Phase. Erikson (1973: 98) beschreibt diese Entwicklungsstufe mit „ich bin, was ich lerne.“ Kinder wollen jetzt das Gefühl haben bzw. vermittelt bekommen, nützlich zu sein und etwas gut machen zu können, sie wollen ein Werk vollenden, sie haben Lust zu ‚arbeiten‘ und zusammen mit anderen etwas zu schaffen. Eine Krise kann durch Gefühle der Unzulänglichkeit oder Minderwertigkeit entstehen – beispielsweise wenn Vorhaben misslingen, was bei Heranwachsenden zu Versagensängsten führen kann. 5. Phase (Adoleszenz) – Identität gegen Identitätsdiffusion: Nach der Pubertät haben die Heranwachsenden vor allem damit zu tun, ihre Identität weiter auszubilden. Die alles überlagernde Frage lautet: Wer bin und wer bin ich nicht? Diese Frage können sich Heranwachsende jetzt stellen, weil sie in der Lage sind, über sich selbst zu reflektieren und zu berücksichtigen, was andere meinen und über sie denken. Die Gefahr dieser Entwicklungsstufe liegt darin begründet, dass die Ansprüche an eine psychosoziale Selbstdefinition gehäuft auf die Heranwachsenden zukommen und sie in der Situation sind bzw. vermehrt in Situationen kommen, die eine eigene Meinungsbildung bzw. die Auseinandersetzung mit Meinungen Anderer und das Beziehen einer eigenen Position erfordern. Das Misslingen dieser Krise bezeichnet Erikson dementsprechend als Identitätsdiffusion. 6. Phase (frühes Erwachsenenalter) – Intimität gegen Isolierung: Mit dieser Phase ist das frühe Erwachsenenalter erreicht. Erst nach dem Aufbau einer relativ stabilen Ich-Identität können intime Beziehungen aufgenommen werden. Die Klärung der Frage ‚Wer bin und wer bin ich nicht?‘ erlaubt es, eine belastbare und tragfeste Partnerschaft einzugehen. Die psychosoziale Moralität dieser Phase beschreibt Erikson als ein ‚sich-verlieren‘ und ein ‚sich-finden‘ im Anderen. Gelingt es nicht, Unterschiede und Widersprüche in den Hintergrund treten zu lassen und sich anderen Menschen zu öffnen und hinzugeben, führt dies häufig zur sozialen Distanzierung und Isolierung. 7. Phase (Erwachsenenalter) – Generativität gegen Stagnierung: Auf der Basis einer stabilen Identität und sozialer Eingebundenheit entwickeln Menschen zum einen das Bedürfnis, gebraucht zu werden und zum anderen 29
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das Bedürfnis nach Freizügigkeit und Führsorglichkeit. Mit Generativität beschreibt Erikson den Wunsch von Menschen, eigene Kinder haben zu wollen und sich in der Folge um zukünftige Generationen kümmern zu können. Wer diesen Wunsch nicht lebt, fokussiert wesentlich stärker auf eigene Bedürfnisse und kommt diesen nach, was Erikson zufolge ein Gefühl der Stagnation nach sich ziehen kann. 8. Phase (reifes Erwachsenenalter) – Integrität gegen Verzweiflung: Integrität bedeutet die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und die Annahme positiver wie negativer Aspekte des Lebensvollzugs. Dabei wird das eigene Leben immer stärker eingebettet in ein Verständnis für die größeren Abläufe bzw. Zusammenhänge der Geschichte. Das Fehlen oder der Verlust eines Gefühls von Integrität führt zu Todesfurcht und Verzweiflung. Das hier skizzierte Verständnis von Sozialisation als Abfolge von Entwicklungskrisen hat im Rahmen der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Sozialisation weite Verbreitung gefunden – (auch) im Sinne einer Überwindung disziplinärer Grenzen – und wird beispielsweise im Bereich der Jugendkulturforschung breit rezipiert (siehe dazu Kapitel 3.3). Zusammengefasst kann gesagt werden, dass Sozialisation – im Verständnis von Erikson – eine Kette von übernommenen und abgestoßenen Identifikationen mit primären Bezugspersonen ist, die erst mit dem Ende der Adoleszenz abschließt. 2.1.3 Lerntheorie – Sozialisation als Reproduktions- und Veränderungsmodell Lerntheorien sind nicht allein als Theorien im Sinne der Aneignung von Wissen zu verstehen (z. B. schulisches Lernen), sondern als Theorien über das Erlernen von menschlichem Verhalten, weswegen Lerntheorien zur Analyse von Sozialisationsprozessen durchaus herangezogen werden können. Lerntheorien zufolge wird die Persönlichkeitsentwicklung im Grundsatz dem Aufbau von Lernerfahrungen gleichgesetzt. Im Hinblick auf das Ergebnis des Lernens ist das gemeinsame Merkmal eine relativ dauerhafte und vor allem beobachtbare Verhaltensänderung von Individuen, die aber nicht über angeborene Reflexe oder über Reifung stattfindet, sondern aufgrund wiederholter Erfahrungen eintritt. Sozialisation ist – aus lerntheoretischer Perspektive – als Ablauf verschiedener Lern-Gesetzmäßigkeiten zu verstehen, die unser Verhalten beeinflussen und verändern. In den verschiedenen lerntheoretischen Ansätzen werden diese Gesetzmäßigkeiten in unterschiedlicher Art und Weise dargestellt und lassen sich grob zwei Richtungen zuordnen: zum einem dem Behaviorismus und zum anderen der sozial-kognitiven Lerntheorie. 30
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Lerntheorien
v
v
Behaviorismus
Sozial-kognitive Lerntheorie
v
v
klassische Konditionierung
operante Konditionierung
Abbildung 3
Die Vertreter des Behaviorismus gehen davon aus, dass nur direkt beobachtbares Verhalten plausibel als Erklärung für menschliche Entwicklung herangezogen werden darf. Alle subjektiven Aspekte wie z. B. Gefühle oder Empfindungen werden als unwissenschaftlich abgelehnt. Das Konzept der klassischen Konditionierung fußt auf den Experimenten von Iwan Petrowitsch Pawlow (vgl. 1928), der im Rahmen seiner Untersuchungen des Speichelflusses bei Hunden festgestellt hat, dass dieser auch dann eintritt, wenn ein Reiz (z. B. die Schritte des Wärters oder ein anderer hörbarer Ton) einige Male mit dem Futter, das normalerweise den Speichelfluss auslöst, zusammen dargeboten wird. Der Speichelfluss des Hundes ist zuerst einmal ein angeborener Reflex bzw. ein unbedingter Reiz. Aus einem unbedingten, einem ursprünglich neutralen Reiz ist dann eine neue Reiz-Reaktionsverbindung, ein bedingter Reiz geworden. Entscheidende Bedingung dieses Lernvorganges ist das zeitlich gemeinsame Auftreten der Reize. Auf Basis der Ergebnisse pawlowscher Experimente wurde die Annahme formuliert, dass unsere Erziehung, unser Lernen, unsere Disziplin und unsere Gewohnheiten lange Reihen von bedingten Reizen darstellen – wir sind demzufolge in bestimmter Art und Weise konditioniert. Zucken Kinder beispielsweise bei der Ankündigung einer Mathematik-Klassenarbeit (immer wieder) erschreckt zusammen, dann handelt es sich im Sinne des Konzepts der klassischen Konditionierung um eine Koppelung von körperlicher Angstreaktion und erlernten Signalen, d. h. um einen Effekt von Konditionierung. Operante Konditionierung: Im Sinne der klassischen Konditionieren wird immer ein natürlicher, unbedingter Reflex mit einem neuen Reiz gekoppelt. Beim operanten oder auch als instrumentell bezeichneten Konditionieren kann jeder Reiz mit jedem beliebigen Verhalten gekoppelt werden. Das Konditionieren ist hier im Sinne eines Instruments zu verstehen, um ein bestimmtes Reiz-Reaktionsverhältnis zu evozieren. Zentraler Begriff des
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
operanten bzw. instrumentellen Konditionierens ist die Verstärkung. Verstärker kann alles sein, was die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Reaktionen oder Verhaltensweisen erhöht. Das kann beispielsweise ein Lächeln sein oder ein Lob wie ‚Das hast du aber schön gemacht!‘. Je nach den Konsequenzen eines Verhaltens unterscheidet Burrhus Frederic Skinner (vgl. 1938), einer der Hauptvertreter des operanten Konditionierens, vier Formen des Lernens: Positive Verstärkung: Hier folgt auf ein Verhalten eine positive Konsequenz und es wird angenommen, dass das Verhalten dann häufiger auftreten wird. Hat sich z. B. ein Kind für eine Unterrichtsstunde gut vorbereitet und erhält dafür vom Lehrer Anerkennung, dann ist es wahrscheinlich, dass sich dieses Kind für die nächste Stunde ähnlich gut vorbereiten wird. Negative Verstärkung: Hierbei wird ein unangenehmer Zustand durch ein bestimmtes Verhalten beendet. Beispielsweise meldet sich ein Kind im Unterricht und wird wegen seiner Antwort vom Lehrer verspottet. Nun ist anzunehmen, dass es zukünftig eher passiv im Unterricht bleibt, um Spott als unangenehmen Zustand zu vermeiden. Bestrafung: Durch Darbietung eines unangenehmen Reizes (z. B. eine Ohrfeige oder ein böser Blick) oder durch Beseitigung eines positiven Reizes (z. B. Taschengeldkürzung) soll unerwünschtes Verhalten verringert werden. Löschung: Dies ist eine Methode der Nicht-Verstärkung, um ein unerwünschtes Verhalten zu beseitigen. Wenn störende Verhaltensweisen eines Kindes im Unterricht vom Lehrer konsequent nicht beachtet werden, kann dies dazu führen, dass die Störungen immer seltener werden. Sozialisation vollzieht sich aus dieser Perspektive in erster Linie über die beschriebenen Lernprozesse, die ausgesprochen funktional angelegt sind bzw. mechanisch interpretiert werden. Wegen der Festlegung solcher Mechanismen wird das operante Konditionieren häufig auch als Dressur bezeichnet (vgl. Schraml 1990: 117). Die zentrale Kritik zielt jedoch vor allem auf die Ausklammerung innerpsychischer Aspekte wie beispielsweise Gefühle oder Kreativität ab. Die Vertreter der sozial-kognitiven Lerntheorie gehen davon aus, dass Lernen bzw. Lernprozesse stets sozial vermittelt sind, d. h. dass Aspekte wie Beobachtung oder Nachahmung wichtige Bestandteile im Sozialisationsprozess sind. Die Wirkung von Vorbildern spielt hierbei eine große Rolle. Das so genannte Lernen am Modell ist aber nicht bloße Imitation. Im Umgang mit anderen Menschen, d. h. in ihrer sozialen Umwelt bauen Menschen kognitive Schemata auf und ändern ihr Verhalten. Menschliches Verhalten hat somit immer einen sozialen Ursprung. Bei der Beobachtung anderer Menschen macht man sich eine Vorstellung davon, 32
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
wie sich diese in bestimmten Situationen verhalten (werden). „Später dient diese codierte Information dann als Handlungsrichtlinie. Da Menschen am Beispiel anderer zumindest ungefähr lernen können, was sie tun müssen, bevor sie die betreffende Verhaltensweise selbst ausgeführt haben, bleiben ihnen überflüssige Fehler erspart“ (Bandura 1979: 31). Nach der sozial-kognitiven Lerntheorie von Albert Bandura wird das Individuum als gut informierter Bürger beschrieben, weswegen es in der Lage ist, Fehler zu vermeiden. Dies versucht Bandura (vgl. 1979: 44ff.) anhand zahlreicher Experimente zu belegen und kommt zu dem Schluss, dass Menschen (sobald sich bei ihnen die Fähigkeit des Lernens über Beobachtung ausgebildet hat), in der Lage sind, ihr eigenes Verhalten den jeweiligen situativen Gegebenheiten oder Anforderungen aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen entsprechend zu modifizieren. Die Informationen bzw. die Modelle werden durch physische Darbietungen, bildliche Repräsentationen oder verbale Beschreibungen übermittelt (vgl. Bandura 1979: 47f.). Ob nun das Verhalten über Wörter, Bilder oder über konkrete Handlungen beeinflusst wird, ist nachrangig, denn der zugrundeliegende Prozess des Lernens am Modell ist derselbe. Die sozial-kognitive Lerntheorie würde jedoch verkürzt dargestellt werden, wenn Modellierung bzw. das Lernen am Modell als einseitiger Prozess (d. h. Verhalten als Effekt von Beobachtungslernen) interpretiert wird. Bandura weist immer wieder daraufhin, dass Menschen aktive, gestaltungsfähige Subjekte sind. Diese Gestaltung geschieht vor dem Hintergrund von Verifizierungsprozessen (Bandura 1979: 180ff.). So gewinnen Menschen Erkenntnisse aus unmittelbaren Erfahrungen über stellvertretende Erfahrungen, d. h. durch die Überprüfung der Auswirkungen, die die Handlungen eines anderen hervorrufen, und sie gewinnen Erkenntnisse durch die Überprüfung der Gültigkeit des eigenen Denkens durch den Vergleich mit dem Urteil Anderer. Es handelt sich hierbei demnach auch um eine soziale Verifizierung. Bandura belegt also seine Theorie mit der prinzipiellen Lernfähigkeit der Subjekte und mit dem sozialen Austausch, der ihm für Lernprozesse notwendig erscheint. Die Theorie des Modelllernens nach Bandura erklärt Lernen also als einen aktiven Aneignungsprozess. Dieser Aneignungsprozess ist durch vier Merkmale gekennzeichnet: Wir sind aufmerksam, wir behalten, wir reproduzieren und wir bewerten. Nicht jedes Modell wird jedoch nachgeahmt, sondern nur dasjenige, das nach einer Bewertung (Selbstbewertung) als geeignet eingestuft wird. Das Lernen am Modell kann auch als eine Art Selbstregulierungsprozess bezeichnet werden. Anders ausgedrückt: Sozialisation beinhaltet Bandura zufolge immer auch den Aspekt der Selbstsozialisation (siehe dazu Kapitel 2.5). Doch nun zu
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
den einzelnen Merkmalen bzw. Teilprozessen des Lernens am Modell. Die verschiedenen Aspekte sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt. Aufmerksamkeit Modellperson attraktiv lebendig
Modellverhalten
Beobachter
erfolgreich kompetent
Erregung Erwartung Interessen
v Gedächtnis symbolische Kodierung
kognitive Orientierung
Wiederholen im Kopf
v Reproduktion physische Fähigkeiten
Verfügbarkeit der Teil-Reaktionen
Selbstbeobachtung, Feedback, Korrektur
v Motivation äußere Bekräftigung
stellvertretende Bekräftigung
Selbstbekräftigung
Abbildung 4
Aufmerksamkeit: Menschen können aus einer Beobachtung nur lernen, wenn sie auf die wichtigen Verhaltensweisen eines Modells achten und sie exakt wahrnehmen. Sie müssen auf ein Modell aufmerksam werden. Die Aufmerksamkeitszuwendung wird durch verschiedene Determinanten beeinflusst: Es werden vor allem Modelle gewählt, die gewinnende Eigenschaften besitzen. Dies sind Menschen, die attraktiv und lebendig wirken, die sich glaubwürdig und kompetent verhalten. Auf der Seite des Beobachters sind Merkmale wie emotionale Erregung, Unsicherheit, Abhängigkeit und Erwartungen aufmerksamkeitsfördernd. Entscheidend ist die Struktur der Interaktionen, d. h. es wird davon ausgegangen, dass sich eine emotional positive Beziehung zwischen Modell und Beobachter förderlich auf die Aufmerksamkeitszuwendung auswirkt.
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Gedächtnis/Behalten: Beobachtete Modelle werden nur dann wirksam, wenn sich Menschen an bestimmte Verhaltensweisen erinnern. Mitunter ist Modellverhalten nämlich nicht sofort umsetzbar oder es wird erst nach einem längeren Zeitraum benötigt. In der Zwischenzeit muss das Beobachtete gespeichert werden; es muss im Gedächtnis bleiben, um für zukünftige Situationen verfügbar zu sein. Dafür wird es verschlüsselt, oder anders ausgedrückt: kodiert. Dies geschieht mit bildhaften Vorstellungen, sprachlichen Beschreibungen oder mit begrifflichen Kennzeichnungen. Bandura (1979: 32) bezeichnet dieses Vorgehen als „symbolische Kodierung“. Eine weitere Gedächtnishilfe bildet die Wiederholung. Wenn wir ein beobachtetes Verhalten in der Phantasie wiederholend ausführen, dann behalten wir es länger. Der nächste Schritt besteht nun darin, das Beobachtete in eigenes Verhalten zu transformieren. Reproduktion: Soll ein Modellverhalten in das eigene Verhalten umgesetzt werden, müssen die entsprechenden körperlichen Fähigkeiten vorhanden sein. Wie schnell eine solche Umsetzung geschieht, hängt zum einen von der Verfügbarkeit von Teilfertigkeiten und zum anderen von der Fähigkeit zur Selbstkorrektur ab. Selten lassen sich Verhaltensvorstellungen sofort beim ersten Versuch entsprechend umsetzen. Gewöhnlich sind etliche korrigierende Wiederholungen notwendig. Beispielsweise lernen wir Schwimmen eben nicht dadurch, dass wir einfach ins Wasser springen, sondern durch Beobachtung, Übung, Wiederholung und Korrektur. Motivationsprozesse/Bewerten: Damit Menschen eine Beobachtung auch tatsächlich umsetzen, muss diese einen gewissen Wert für sie haben, d. h. es muss ein Motiv vorhanden sein. Genauso wichtig sind aber auch beobachtete Konsequenzen auf das modellierte Verhalten. Bandura unterscheidet hierbei die äußere Bekräftigung (z. B. ein Lob): Dergestalt wird ein Anreiz geboten, das gelobte Verhalten auch weiterhin zu zeigen; die stellvertretende Bekräftigung: Wenn eine Modellperson positive Konsequenzen erfährt, ist das ein Anreiz, sich entsprechend wie diese zu verhalten; die Selbstbekräftigung (z. B. Eigenlob). Mit diesen Bekräftigungen sind nicht die Verstärker aus dem behavioristischen Konzept des Lernens gemeint, die immer mit den jeweiligen tatsächlichen Ausführungen verknüpft sein müssen. In der sozial-kognitiven Lerntheorie hat auch schon die bloße Erwartung von Konsequenzen eine verhaltenssteuernde Wirkung, d. h. dass die gedankliche Vorwegnahme von Konsequenzen motivierend oder demotivierend wirken kann.
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Der Nutzen der Theorie von Bandura für das Verständnis von Sozialisation ist unter anderem im Hinweis darauf zu sehen, dass Verhaltensweisen von Menschen durch Entscheidungsfreiheit, Selbstbestimmung, reflexives Bewusstsein und Fähigkeit zur Verhaltensveränderung geprägt sind. Lernen über Beobachtung heißt im Sinne Banduras auch Lernen über Selbstbeobachtung der eigenen Verhaltensweisen. Wir sind in der Lage, unser Verhalten nach bestimmten Kriterien zu bewerten und uns selbst zu kritisieren oder zu belohnen. Ein weiterer wichtiger Akzent der Theorie Banduras liegt in der stellvertretenden Bekräftigung. Vergleicht man sich mit der Leistung eines ‚Modells‘ und zieht aus dessen Leistung den Schluss, dass man auch selbst zu dieser Leistung in der Lage ist, wirkt dies maßgeblich auf die eigene Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit. Dieser Vorgang der Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Leistungen wird von Bandura (vgl. 1997) als ‚self-efficacy‘ bezeichnet. Die sozialkognitive Theorie weist darüber hinaus plausibel nach, dass wir nicht einfach irgendwelche Modelle bzw. Verhaltensweisen imitieren, sondern dass unsere Modellierungen in einer umfassenden Person-Situation-Interaktion stattfinden. Es fehlen hierzu jedoch Hinweise darauf, wie diese Interaktionen mit sozioökonomischen Bedingungen zusammenhängen, d. h. Variablen wie Familiensituation, Wohnumfeld oder Geschlecht müssten stärker in die Analyse mit einbezogen werden. Unberücksichtigt bleibt zudem der emotionale Bereich, d. h. Ängste, Zwänge, Wünsche oder Sehnsüchte werden von Bandura nur unzureichend berücksichtigt. 2.1.4 Entwicklungstheorie – Sozialisation als Stufenmodell Die Theorie der kognitiven Entwicklung geht von der Annahme aus, dass Menschen durch eigenes Handeln zu einem Verständnis ihrer Umwelt gelangen. Jean Piaget (vgl. 1991) zufolge, dem Hauptvertreter der kognitiven Entwicklungspsychologie, schreitet die Persönlichkeitsentwicklung in Stadien voran, wobei jedes Stadium auf dem vorhergehenden aufbaut (im Sinne einer Voraussetzung für die Erreichung des nächsten Stadiums). Dergestalt werden stufenweise kognitive Strukturen ausgebildet, die uns eine (bessere) Orientierung in der ‚Welt‘ ermöglichen. Piaget (vgl. 1983) unterscheidet vier Stufen der kognitiven Entwicklung:
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die senso-motorische Stufe (von der Geburt an bis zum 2. Lebensjahr), die prä-operatorische Stufe (vom 2. bis zum 6./7. Lebensjahr), die konkret-operatorische Stufe (vom 7. bis zum 11./12. Lebensjahr) und die formal-operatorische Stufe (ab dem 11./12. Lebensjahr).
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Die senso-motorische Stufe: Ausgangspunkt der ersten Entwicklungsstufe sind Reflexe, d. h. spontane Betätigungen des Kindes wie z. B. strampeln oder saugen. Aufgrund der Wiederholung bzw. Übung verfeinern sich diese Reflexe immer stärker. Tätigkeiten gehen nun auch über das Reflexhafte hinaus (z. B. wird das Saugen auch auf andere Dinge als die Brustwarze der Mutter übertragen). Vermehrt setzt das Kind sodann Mittel ein, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Es zieht z. B. an der Tischdecke, um den darauf liegenden Schnuller ergreifen zu können. Die prä-operatorische Stufe: Beginnt das Kind, Vorstellungen und Symbole zur Zielerreichung in seinem Denken zu benutzen, ist die senso-motorische Entwicklung beendet. Allerdings ist das Kind noch immer darauf angewiesen, Handlungsvorstellungen in konkretes Handeln zu transformieren. In der prä-operatorischen Stufe ändert sich das allmählich: Die Aneignung der Sprache ermöglicht es Kindern, sich vom konkreten Kontext zu lösen und das Symbolspiel, das Kinder in dieser Entwicklungsphase nun verstärkt vollziehen, führt zum So-tun-als-ob, d. h. zum Umgang mit Fiktionen. Die konkret-operatorische Stufe: Sind Kinder in der Lage, sich von der unmittelbaren Anschauung zu lösen, dann beginnt die konkret-operatorische Entwicklungsphase, in welcher sie Merkmale der Reversibilität zu beherrschen lernen. Heranwachsende sind nun in der Lage, in Gedanken Schritte zurückzuverfolgen, mit Zahlen umzugehen und so etwas wie eine ‚innerliche Diskussion‘ (vgl. Piaget 1972: 227) zu führen. Dies geschieht aber immer noch vor dem Hintergrund konkreter Ereignisse und Wahrnehmungen. Die formal-operatorische Stufe: Der Begriff ‚formal‘ weist darauf hin, dass nun Operationen ohne konkrete Handlungsgrundlage, d. h. rein gedanklich vollzogen werden können. Das für die formal-operatorische Stufe charakteristische Denken beinhaltet die Kompetenz, hypothetische oder kontrafaktische Problemlösungen zu erarbeiten. Zusammengefasst verläuft der stufenförmige Aufbau der menschlichen Entwicklung vom unmittelbaren senso-motorischen Verhalten über das vorstellungsvermittelte konkrete Handeln zum abstrakten geistigen Operieren (vgl. Veith 1996: 458). Neben diesen Stufenmerkmalen gibt es in der Theorie von Piaget einen weiteren zentralen Aspekt, der für das Verständnis von Sozialisation wichtig ist: Es ist die Beantwortung der Frage, wie Entwicklung überhaupt stattfindet bzw. möglich ist und welche Mechanismen dabei wirksam sind. Hierzu hat Piaget (vgl. 1983) drei Bedingungen formuliert:
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Erste Bedingung sind die organischen, neuronalen und hormonellen Reifungs- und Wachstumsprozesse. Sie sind die konstitutionelle Voraussetzung dafür, dass sich die oben beschriebenen Stufen der geistigen Entwicklung überhaupt herausbilden können. Zweite Bedingung sind die sozialen und materiellen Erfahrungen. Der handelnde Umgang mit anderen Menschen kann die Entwicklung des Kindes anregen und unterstützen (aber auch hemmen). Zu den sozialen Erfahrungen gehören auch Einflüsse, die von der Erziehung ausgehen sowie der Spracherwerb. Piaget sieht Entwicklung aber immer auch im Zusammenhang mit dem handelnden Umgang der Kinder mit Dingen ihrer unmittelbaren Umwelt. Die dritte Bedingung ist das Streben nach Gleichgewicht (Äquilibration). Störungen, die ein Ungleichgewicht verursachen, versucht der Mensch grundsätzlich zu kompensieren. Wenn jemand beispielsweise einen Gegenstand aufheben will, der schwerer als erwartet ist, muss er – um zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen – sich eine neue Methode überlegen. Piaget orientiert sich in diesem Punkt an naturwissenschaftlichen Überlegungen, die besagen, dass Menschen – wie alle anderen lebenden Organismen auch – sich selbstorganisierende Systeme sind, weswegen er in diesem Zusammenhang häufig auch als Vertreter einer konstruktivistischen Denkweise bezeichnet wird (siehe dazu Kapitel 2.4). Anders ausgedrückt: Menschen haben im fortwährenden Austausch mit ihrer Umwelt die Tendenz, ihr Leben systematisch zu ordnen und zu gestalten. Menschen werden von der Umwelt nicht gesteuert, sondern suchen selbstständig aus einer Vielzahl von Umweltreizen all jene für sich heraus, die ihre spezifischen Interessen befriedigen. Dieser Aspekt wird von Piaget als Selbststeuerungsfähigkeit bezeichnet und findet im Prozess der Äquilibration seine Anwendung. Zwei Begriffe sind hierbei noch zu nennen: Assimilation und Akkommodation. Assimilation meint die Anpassung der Umwelt an das eigene Handlungs- und Vorstellungsrepertoire. Akkommodation meint die Anpassung an die Umwelt. Immer dann, wenn die Assimilation für die Orientierung nicht mehr ausreicht, wenn beispielsweise Handlungen (z. B. bestimmte Greifschemata in einer Spielsituation) das Kind nicht mehr zufrieden stellen, dann ist Akkommodation erforderlich: Kinder entwickeln sich, sie nehmen neue Wahrnehmungsmuster, neue Deutungsmöglichkeiten auf und ‚erproben‘ alternative Handlungsweisen. Im Zusammenspiel von Assimilation und Akkommodation werden auftretende Erfahrungen eines Ungleichgewichts sozusagen mit neuen Mitteln ‚bearbeitet‘.
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Auf der höchstmöglichen Stufe der Entwicklung (formal-operatorische Stufe) wird zwar (immer wieder) ein zufriedenstellendes Maß an (kognitivem) Gleichgewicht erreicht. Das jedem Menschen innewohnende Streben nach Äquilibration bleibt aber dauerhaft bestehen, d. h. es kommt nie zu einer Gleichgewichtssituation, die Bestand hat. Für die Klärung von sozialisationstheoretisch relevanten Fragestellungen ist der Ansatz von Piaget vor allem deshalb interessant, da er Entwicklung als aktive Aneignung, als eine aktive Auseinandersetzung mit der sozialen und materiellen Umwelt interpretiert und dergestalt auf die Möglichkeiten und Grenzen äußerer Einflüsse hinweist. Es wird von ihm jedoch nicht in ausreichendem Maß thematisiert, dass „der Mensch in einer Umwelt lebt, die nicht nur biologisch angemessen ist, sondern auch zum großen Teil durch den Menschen selbst geschaffen ist und den Stempel des menschlichen Handelns und Arbeitens trägt“ (Hurrelmann 1993: 33). Exkurs: Sozialisation als moralische Entwicklung In Anlehnung an die Analysen von Piaget hat der Amerikaner Lawrence Kohlberg ein Stufenmodell der moralischen Entwicklung vorgelegt (vgl. Kohlberg 1974). Die zentrale Frage für das Verständnis von Sozialisation lautet bei ihm: Wie kommt es, dass Menschen gesellschaftlich ‚akzeptierte‘ moralische Wertvorstellungen zu eigenen persönlichen Wertvorstellungen machen? Kohlberg hat im Rahmen seiner Untersuchungen einzelne Stadien identifiziert, die Heranwachsende durchlaufen, um zu moralischen Urteilen zu gelangen. Er ist der Meinung, dass als Voraussetzung für ein bestimmtes moralisches Urteilsstadium eine bestimmte kognitive Entwicklungsstufe erreicht werden muss. Er geht aber auch davon aus, dass es Kindern und Jugendlichen lohnenswert erscheinen muss, sich mit einzelnen Themen (z. B. mit Gerechtigkeit) auseinanderzusetzen. Anders ausgedrückt: Es muss bei ihnen ein Wunsch bzw. eine Motivation vorhanden sein. Allein durch den kognitiven Entwicklungsprozess ergibt sich noch keine Moralentwicklung. Zudem weist Kohlberg darauf hin, dass die Entwicklung von moralischen Urteilen zum einen von der Kultur und der Sozialschicht und zum anderen von der Gerechtigkeitsstruktur sozialer Gruppen und Institutionen abhängig ist, an der bzw. an denen die Heranwachsenden partizipieren. In seinem Modell unterscheidet er drei Stadien der moralischen Entwicklung, die jeweils zwei Stufen umfassen: Das vorkonventionelle Stadium – Stufe 1: Orientierung an Strafe und Gehorsam – Stufe 2: Naiver instrumenteller Hedonismus
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Das konventionelle Stadium – Stufe 3: Orientierung am Ideal ‚Guter Junge, liebes Mädchen‘ – Stufe 4: Orientierung an ‚Gesetz und Ordnung‘ Das postkonventionelle Stadium – Stufe 5: Orientierung am Sozialkontrakt, Anerkennung demokratischer Gesetze – Stufe 6: Orientierung an universellen ethischen Prinzipien oder am Gewissen Stadium I: Auf der ersten Stufe im vorkonventionellen Stadium handeln Kinder noch ungeachtet tieferliegender Moralordnungen und blicken nur auf die Folgen für das eigene Wohlergehen. Richtig ist eine Handlung dann, wenn sie belohnt wird, falsch ist eine Handlung dann, wenn sie bestraft wird. Auch auf der zweiten Stufe geht es nicht um Vorstellungen von Dankbarkeit oder Gerechtigkeit, sondern – getreu nach dem Motto ‚Eine Hand wäscht die andere‘ – darum, was eine Handlung ‚einbringt‘. Stadium II: Auf der dritten Stufe im konventionellen Stadium steht das Bemühen um gute Sozialbeziehungen im Vordergrund. Die Anerkennung und Einhaltung von Normen und Werten ist von persönlichen Beziehungen abhängig. Es wird gehandelt, um andere zu erfreuen oder um anderen zu helfen. Die vierte Stufe ist dadurch gekennzeichnet, dass nunmehr Autoritäten, Ordnungszusammenhänge und das Rechtssystem anerkannt werden. Stadium III: Die fünfte Stufe im postkonventionellen Stadium ist dadurch gekennzeichnet, dass moralisches Verhalten vor dem Hintergrund rationaler Erwägungen und von der Gesellschaft g eteilter Werte und Normen überprüft wird. Das moralische Handeln wird am Gemeinwohl orientiert. Die sechste und höchste Stufe der moralischen Entwicklung basiert dann auf universellen Gerechtigkeitsprinzipien. An diesen wird die eigene Gewissensentscheidung in Verbindung mit selbstgewählten ethischen Anschauungen ausgerichtet. Die Entwicklungstheorie von Kohlberg hat umfängliche Kritik erfahren. Es wurde unter anderem reklamiert, dass moralische Urteile nur in Bezug auf Gerechtigkeit hin untersucht wurden und Aspekte wie Mitleid, Ausdauer oder Mut keine Beachtung fanden (vgl. Baacke 1979: 178f.). Zudem wurde auf die Ausblendung des situativen Kontextes und die Vernachlässigung psychodynamischer und emotionaler Dimensionen hingewiesen. Trotz aller Kritik bleibt aber festzuhalten, dass Kohlberg eine Möglichkeit aufgezeigt hat, wie die Herausbildung moralischen Bewusstseins und das damit in Zusammenhang stehende soziale Handeln erklärt werden können.
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
2.2
Sozialökologischer Ansatz – Sozialisation als Wechselwirkungsprinzip
Eine Scharnierfunktion zwischen psychologisch und soziologisch orientierten Ansätzen in der Sozialisationsforschung kommt dem sozialökologischen Ansatz zu, dessen Vertreter zwar einerseits von biologisch begründeten Vorstellungen der Persönlichkeitsentwicklung ausgehen, andererseits aber die soziale und materielle Umwelt hinsichtlich ihrer Einflüsse auf die Sozialisation von Heranwachsenden mit in die Analyse einbeziehen. Die Grundannahme lautet, dass zwischen Mensch und Umwelt komplexe Wechselwirkungen bestehen, die den Sozialisationsprozess maßgeblich beeinflussen. Im sozialökologischen Ansatz finden wir den Gedanken des handelnden, sich Umwelt aneignenden Menschen von Piaget wieder, wobei der Fokus in Bezug auf die Klärung von Sozialisationsvorgängen ein anderer ist. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht die Frage, welche Bedeutung die konkrete Beschaffenheit der menschlichen Umwelt (insbesondere) für die Persönlichkeitsentwicklung hat. Sehr viel prägnanter als in der Theorie von Piaget (vgl. 1991) wird im sozialökologischen Ansatz von einer Wechselseitigkeit der Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt ausgegangen. Sozialisation lässt sich nach Urie Bronfenbrenner (1981: 44), einem der führenden Vertreter des sozialökologischen Ansatzes, als Prozess charakterisieren, „durch den sich die entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verlässlichere Vorstellungen über ihre Umwelt erwirbt. Dabei wird sie zu Aktivitäten und Tätigkeiten motiviert und befähigt, die es ihr ermöglichen, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu erkennen und zu erhalten oder auf nach Form und Inhalt ähnlich komplexem oder komplexerem Niveau umzubilden.“
Wie sieht dieser Entwicklungsprozess der Persönlichkeit nun genauer aus? Für einen Säugling erscheint die Umwelt zunächst auf einen einzigen Lebensbereich – dem Hier und Jetzt – beschränkt. Mit der allmählichen Ausweitung des Aktivitäts- und Erkundungsradius kommen vielfältige Handlungsoptionen hinzu und die Heranwachsenden werden mit neuen Rollen- und Beziehungsanforderungen konfrontiert. Mit der Ausweitung der Lebensbereiche wird es den Heranwachsenden immer besser möglich, ihre Umwelt zu begreifen und sie auch gezielt zu beeinflussen bzw. zu verändern. Umwelt wird von den Vertretern des sozialökologischen Ansatzes als Form von ineinander geschachtelten und konzentrisch – von innen nach außen – angeordneten Strukturen begriffen. Bronfenbrenner hat hierzu ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, um die komplexe ‚Verschachtelung‘ der unterschiedlichen sozialisationsrelevanten Strukturen abzubilden. In seinem Mehrebenenmodell unterscheidet er das Mikro-, Meso,- Exo-,
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Makro- und das Chronosystem (zeitliche Dimension), wobei das Individuum im Zentrum, d. h. im innersten Bereich aller angelegten Strukturen, verortet wird (vgl. Bronfenbrenner 1981: 38).
Abbildung 5
Sozialisation beginnt mit der ‚Erkundung‘ des Mikrosystems – d. h. den unmittelbaren Beziehungen des Individuums – und schreitet voran bis hin zur Partizipation am Makrosystem. Das Makrosystem ist in diesem Zusammenhang als Kontrolle der untergeordneten Systeme zu verstehen und dient sozusagen als Klammer aller Beziehungen in der Gesellschaft. Mikrosystem: „Ein Mikrosystem ist ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt“ (Bronfenbrenner 1981: 38). Das Mikrosystem besteht zunächst aus den konkreten Interaktionsbeziehungen im engen Familienkreis. Der aktuelle Lebensbereich eines Kindes ist begrenzt durch die Menschen, mit denen es zu Hause direkt Kontakt aufnehmen kann (in der Regel Vater, Mutter, ggf. Geschwister und Verwandte). Die Entwicklung des Kindes ist in dieser Phase abhängig von den Anregungen, die es in der Familie erhält: Ist die Beschäftigung bzw. die Auseinandersetzung der Eltern mit dem 42
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Kind abwechslungsreich und interessant? Wird das Rollenrepertoire der Kinder gefördert oder wird das Verhalten (entwicklungsfeindlich) auf eine Rolle fixiert? Mesosystem: Das Mesosystem meint alle „Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist“ (Bronfenbrenner 1981: 41). Im Mesosystem werden alle Beziehungen erfasst, die zwischen verschiedenen Lebensbereichen eines Menschen existieren. Entwicklung im Mesosystem bedeutet, dass der Zugang zu verschiedenen Lebensbereichen kontinuierlich erweitert wird. Entwicklungsfördernd ist in diesem Zusammenhang, wenn die Heranwachsenden nicht alleine in unbekannte Bereiche ‚hineingestoßen‘, sondern unterstützend begleitet werden. Exosystem: „Unter Exosystem verstehen wir einem Lebensbereich oder mehrere Lebensbereiche, an denen die sich entwickelnde Person nicht selbst beteiligt ist, in denen aber Ereignisse stattfinden, die beeinflussen, was in ihrem Lebensbereich geschieht, oder die davon beeinflusst werden“ (Bronfenbrenner 1981: 42). Das Exosystem beschreibt jene Lebensbereiche, mit denen das Kind nicht direkt zu tun hat, in denen aber Ereignisse stattfinden, die beispielsweise auf das Leben in der Familie oder im Freundeskreis zurückwirken können. Solche Lebensbereiche sind z. B. die Arbeitsstelle des Vaters/der Mutter oder die Schule der Freundin/des Freundes. Sozialisation wird also auch von Aspekten beeinflusst, die mit der Lebenswelt des Heranwachsenden nur indirekt zu tun haben. Makrosystem: „Der Begriff des Makrosystems bezieht sich auf die grundsätzliche formale und inhaltliche Ähnlichkeit der Systeme niedrigerer Ordnung (Mikro-, Meso- und Exo-), die in der Subkultur oder ganzen Kultur bestehen oder bestehen können, einschließlich der ihnen zugrundeliegenden Weltanschauungen und Ideologien“ (Bronfenbrenner 1981: 42). Die jeweiligen Mikro-, Meso- und Exosysteme der Individuen besitzen in Funktion und Erscheinung trotz aller Unterschiede innerhalb einer Kultur etliche Gemeinsamkeiten. Die Gemeinsamkeiten verweisen auf das Makrosystem, welches kulturelle Normen und Werte oder Aspekte des Zeitgeistes umfasst, die in der Gegenwartsgesellschaft von Bedeutung sind und zur sozialen Ordnung beitragen. Im unmittelbaren Erfahrungsraum eines Kindes sind die Aspekte des Makrosystems noch wenig repräsentiert. Kommen Heranwachsende (insbesondere) über verantwortliche, aufgabenorientierte Tätigkeiten mit Personen außer43
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
halb des Elternhauses in Kontakt, werden sie sukzessive mit den Ansprüchen des Makrosystems konfrontiert. Neben sozialräumlichen Umwelteinflüssen ist aber auch die zeitliche Strukturierung von Umweltkontexten zu berücksichtigen. Die Zeitdimension hat Bronfenbrenner mit Chronosystem bezeichnet. Dem Chronosystem werden markante biographische Übergänge zugeordnet (z. B. Abschluss der Schulausbildung, Berufsabschluss usw.). Solche Übergänge haben mitunter starken Einfluss auf die weitere Entwicklung des Individuums (siehe dazu auch die Überlegungen von Erikson zur Frage der Entwicklung über Krisen im Kapitel 2.1.2). Dieter Baacke (vgl. 1991: 96ff.) hat das Mehrebenenmodell von Bronfenbrenner auf einzelne Handlungs- und Erfahrungsräume von Kindern und Jugendlichen bezogen und unterscheidet vier sozialökologische Zonen: Als das ökologische Zentrum wird die Familie, das ‚Zuhause‘ mit den wichtigsten und unmittelbarsten Bezugspersonen der Heranwachsenden bezeichnet. Unter dem ökologischen Nahraum werden all jene Orte gruppiert, an denen Kinder ihre ersten Außenbeziehungen knüpfen. Gemeint sind die Nachbarschaft bzw. das Wohnviertel und die dort vorfindbaren Angebote wie Vereine oder Jugendeinrichtungen. Unter ökologischen Ausschnitten werden Zonen verstanden, in denen Interaktion durch Rollenerwartungen geregelt ist (z. B. in der Schule Æ Schülerrolle). Es handelt sich um zweckbestimmte Erfahrungsräume, die einen ,Ausschnitt‘ der insgesamt zur ,Verfügung‘ stehenden Räume markieren. Die ökologische Peripherie ist durch gelegentliche Kontakte gekennzeichnet und es gehören auch ‚Ausnahmesituationen‘ (wie z. B. Urlaube) dazu. Die genannten sozialökologischen Zonen sind ausgesprochen durchlässig, können aber, sofern es z. B. zu Krisen innerhalb der Familie kommt, auch scharfe Grenzziehungen durch die Heranwachsenden erfahren. Die zentrale These des sozialökologischen Ansatzes lässt sich im Anschluss an Bronfenbrenner und Baake wie folgt formulieren: Je mehr Bewegungsfreiheit, Kommunikations- und Handlungschancen die einzelnen Zonen für Kinder und Jugendliche bereithalten, desto stärker wird deren Entwicklung gefördert. Besonders entwicklungsfördernd sind Menschen, die als ‚Modelle‘ in verschiedenen Zonen – sozusagen grenzüberschreitend – wirken, d. h. Personen, die jeweils Rollen in unterschiedlichen Lebensbereichen einnehmen und diese zu integrieren wissen (vgl. Bronfenbrenner 1981: 71). Gegenüber den bisher vorgestellten Theorien wird im sozialökologischen Ansatz der Mensch konsequent als ein soziales Wesen verstanden und die Fra44
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
ge, wie sich Lebensbedingungen auf die psychische Entwicklung auswirken, am deutlichsten herausgestellt und theoretisch rückgebunden. Die empirische Umsetzung ist jedoch erst am Anfang und es gilt abzuwarten, ob der theoretische Anspruch, den wechselseitigen Einfluss von Mikro- und Makrostrukturen auf den Sozialisationsprozesses nachzuweisen, eingelöst werden kann (siehe dazu Kapitel 3.1.3.3). Große Resonanz hat das sozialökologische Verständnis kindlicher und jugendlicher Entwicklung gleichwohl bereits in der Praxis gefunden, wo Entwicklungsschwierigkeiten von Heranwachsenden nur mehr selten isoliert, d. h. unabhängig von Familien- oder Umwelteinflüssen, betrachtet werden.
2.3
Soziologisch orientierte Theorien
Vier Stränge soziologisch orientierter Theorien werden in diesem Kapitel für die Analyse und Erklärung von Sozialisationsprozessen herangezogen: der Strukturfunktionalismus, der Symbolische Interaktionismus, das Habituskonzept und das Individualisierungstheorem. Während bei den psychologisch orientierten Theorien vor allem auf die emotionalen und kognitiven Entwicklungsdynamiken fokussiert wird, geht es bei den soziologisch orientierten Theorien stärker um Fragen der gesellschaftlichen Ordnung sowie um die Auswirkungen der ökonomischen, rechtlichen und politischen Bedingungen auf Kindheit/Jugend als Lebenslage (z. B. Familien-, Arbeits-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse oder das Bildungsniveau) und als Lebensphase (subjektiv biographisch). 2.3.1 Strukturfunktionalismus – Sozialisation als Vergesellschaftungsprozess In dieser Theorie wird Sozialisation als ein Prozess verstanden, in dem Individuen Kompetenzen und Dispositionen erwerben bzw. abverlangt werden, die notwendig sind, um in der Gesellschaft bestimmte Rollen einnehmen zu können. Wie ist das im Einzelnen zu verstehen? Das soziale Handeln von Menschen tritt nicht vereinzelt auf, sondern immer nur in Konstellationen und spezifischen Verbindungen (vgl. Hurrelmann 1993: 41). Diese Konstellationen und spezifischen Verbindungen nennt Talcott Parsons – der Hauptvertreter des Strukturfunktionalismus – soziale Systeme. Soziale Systeme haben eine Struktur und eine Funktion:
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Die Struktur kennzeichnet die statischen Anteile eines sozialen Systems wie auch der zugehörigen Subsysteme. Die Struktur besteht aus verhältnismäßig stabilen Teilen (z. B. dem Aufbau und der Organisation der Schule bzw. des Schulwesens). Die Funktion beschreibt die dynamischen Aspekte eines sozialen Systems (z. B. die Art und Weise, wie die Schule funktioniert bzw. wie sie qualifizierend oder selektierend wirkt). Die soziale Realität der Gesellschaft wird letztlich aus den Beiträgen der sie konstituierenden Elemente, den sozialen Handlungen abgeleitet, d. h. die sozialen Beziehungen werden als ein sich selbst regulierendes soziales System der Wechselwirkungen aufeinander bezogener Handlungen verstanden. Die Basis aller sozialen Systeme ist das handelnde Individuum. Das handelnde Individuum ist aber immer in verschiedenen Subsystemen – wie z. B. in das Subsystem Familie, das Subsystem Schule oder das Subsystem Arbeitswelt – eingebunden. Das ordnende Element des Handelns bilden bestimmte Rollen, welche die Grundeinheit der sozialen Interaktion bilden. Die Bedeutung der Rollen liegt darin begründet, dass sie das Verhalten und das Handeln eines Menschen gegenüber anderen Personen in deutlich identifizierbaren Mustern festlegen. Die in den Rollen gebündelten Erwartungen sind zudem mit einer gewissen Verbindlichkeit bzw. Normativität gekoppelt, sodass der Einzelne nicht ohne weiteres aus einer Rolle ausbrechen kann. Jede Rolle verlangt also eine bestimmte Motivation vom Handelnden. Parsons geht es dabei aber nicht um die Frage, wie sich in einem Subjekt eine individuelle Motivation ausbilden kann, sondern um die Frage, welche Motive durch gesellschaftliche Institutionen als zulässig festgelegt werden (vgl. Abels und König 2010: 117f.) Im Prozess der Sozialisation werden von den Heranwachsenden verschiedene Rollen (z. B. Rolle als Sohn oder Tochter, Schülerrolle usw.) erlernt, was gleichzeitig das Durchlaufen einer Hierarchie unterschiedlich strukturierter und sich zunehmend differenzierende Rollenbeziehungen impliziert (vgl. Hurrelmann 1993: 43). Vor allem in der Schule werden Heranwachsende verstärkt mit dem Problem konfrontiert, dass sie nicht nur in familialen, sondern auch in außerfamilialen Rollen agieren und in Interaktionen eingebunden sind, in denen ganz unterschiedliche Wertorientierungen und Verhaltensmöglichkeiten bestehen, sie dergestalt also Handlungsalternativen haben und Entscheidungen treffen müssen. Parsons nennt diese Handlungsalternativen pattern variables und unterscheidet in diesem Zusammenhang unter anderem partikularistische und universalistische Orientierungen (vgl. Parsons 1951: 58ff.). Partikularistische Orientierungen erleben Kinder in der Familie: Hier begegnet man sich affektgeladen und in partikularen, wenig spezifizierten Rollen. In anderen so-
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zialen (Sub-)Systemen, z. B. in der bereits angesprochenen Schule, müssen die Heranwachsenden lernen, sich sachlich und differenziert mit Erwartungen, die an bestimmte soziale Positionen geknüpft sind, auseinanderzusetzen. Wollen sie beispielsweise später einmal Richter werden, dann müssen sie ein Verständnis dafür entwickeln, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Es gibt demnach Rollen, von deren Trägern erwartet wird, dass sie universalistische Orientierungen internalisiert haben. Im Sozialisationsprozess müssen Heranwachsende also unter anderem lernen, partikularistische und universalistische Orientierungen zu unterscheiden und in Rollenverhalten zu transformieren. Zielgerichtet verläuft die Entwicklung des Rollenhandelns, wenn sich gesellschaftliche Anforderungen mit den Bedürfnissen des Individuums decken. Dies ist auch ein Hinweis darauf, dass die zentrale Kategorie ‚Rolle‘ im Strukturfunktionalismus den Schnittpunkt zwischen Individuum und Gesellschaft bildet. Parsons war auch in der Tat darum bemüht, die Verbindung zwischen der Mikroperspektive der individuell-psychischen Dynamik und der Makroperspektive gesellschaftlicher Strukturen aufzuzeigen (vgl. Hurrelmann 1993: 41). Die Vorgänge in beiden Perspektiven pendeln sich auf einen Gleichgewichtszustand ein, beispielsweise dann, wenn Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche eines Menschen in Übereinstimmung mit den Strukturen eines sozialen Systems stehen. In der Konzeption Parsons ist die Vorstellung eines Gleichgewichtszustands Ziel eines jeden Sozialisationsprozesses, wobei aber das Gleichgewicht durch eine eher einseitige Anpassung des Menschen an die Gesellschaft herausgestellt wird. Letztendlich bedeutet Sozialisation für Parsons die Internalisierung kultureller Werte und das Erlernen von Rollen, die in einer bestimmten Gesellschaft gelten bzw. geteilt werden (vgl. Abels und König 2010: 115). Auch wenn Parsons an etlichen Stellen seines Werkes auf individuelle Dispositionen von Subjekten im Sozialisationsprozess hingewiesen hat, wird letztendlich ein ‚mechanistisches‘ Menschenbild offenkundig, d. h. der Mensch wird nicht als Gestalter seiner Umwelt verstanden, sondern es wird auf die Notwendigkeit der Anpassung von Individuen an gesellschaftliche Strukturvorgaben hingewiesen, um soziale Ordnung zu gewährleisten (vgl. Hurrelmann 1993: 44f.). 2.3.2 Symbolischer Interaktionismus – Sozialisation als Individuierungsprozess Der folgende Erklärungsansatz zur Sozialisation basiert auf der Überlegung, dass Menschen nicht nur in einer natürlichen, sondern zugleich auch in einer symbolisch vermittelten Umwelt leben. Die mit spezifischen Bedeutungen verbundenen Symbole (z. B. Wörter und Gesten) ermöglichen die Definition sozialer Situationen und ein wechselseitig aneinander orientiertes Handeln (In47
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
teraktion). Georg Herbert Mead (vgl. 1973), der den Grundstein für das gelegt hat, was Herbert Blumer später als Symbolischen Interaktionismus bezeichnet hat, geht von der Grundannahme aus, dass sich die Kommunikation von Tieren und Menschen in einem wesentlichen Punkt unterscheidet: Während die meisten Tiere auf Gesten anderer Tiere nach einem (auf Instinkten basierenden) Reiz-Reaktions-Schema reagieren, sind Menschen durch Instinktarmut gekennzeichnet und werden von ihm dementsprechend als symbolverwendendes ‚Tier‘ beschrieben. Durch die Verwendung (signifikanter) Symbole (in Form von Sprache) sind Menschen in der Lage, das instinkthafte Reiz-Reaktions-Schema zu ‚verlassen‘ und Handlungen vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen denkend zu planen. Die Besonderheit des menschlichen Verhaltens besteht dementsprechend in seiner Intentionalität und Zielgerichtetheit. Nach Herbert Blumer (1973: 81) liegen dieser Feststellung drei Prämissen zugrunde: „Die erste Prämisse besagt, dass Menschen ,Dingen‘ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutung handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Unter ,Dingen‘ wird hier alles gefasst, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag – physische Gegenstände, wie Bäume oder Stühle; andere Menschen, wie eine Mutter oder einen Verkäufer; Kategorien von Menschen, wie Freunde oder Feinde; Institutionen, wie eine Schule oder eine Regierung; Leitideale wie individuelle Unabhängigkeit oder Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen, wie ihre Befehle oder Wünsche; und solche Situationen, wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen.“ „Die zweite Prämisse besagt, dass die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht.“ „Die dritte Prämisse besagt, dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden.“
Im Mittelpunkt der interaktionistischen Sichtweise von Sozialisation steht die soziale Konstitution des Subjekts als sinnhaft aufeinander bezogene Aktion von mindestens zwei Menschen (vgl. Hurrelmann 1993: 49). Mead geht davon aus, dass über diesen Konstituierungsprozess der Grundzug menschlicher Sozialität freigelegt wird. Eine Entfaltung der Aktion zwischen zwei Menschen kann nur geschehen, wenn das Symbolsystem Sprache als gemeinsames Verständigungssystem benutzt wird. Nur über den Austausch von (signifikanten) Symbolen wird eine gemeinsame Orientierung möglich. Die Interaktion (das wechselseitige aneinander orientierte Handeln) findet als Verständigung über das gemeinsame Symbolsystem Sprache statt. „Ein Mensch hat eine Persönlichkeit, weil er einer Gemeinschaft angehört, weil er die Institutionen dieser Gemeinschaft in sein eigenes Verhalten hereinnimmt. 48
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Er nimmt ihre Sprache als Medium, mit dessen Hilfe er seine Persönlichkeit entwickelt, und kommt dann dadurch, daß er die verschiedenen Rollen der anderen Mitglieder einnimmt, zur Haltung der Mitglieder dieser Gemeinschaft. Das macht in gewissem Sinn die Struktur der menschlichen Persönlichkeit aus“ (Mead 1973: 204f.).
Aber nicht nur soziales Handeln, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung insgesamt findet über Interaktion statt. Was bedeutet Interaktion in dieser Perspektive nun genauer? Mead (vgl. 1973: 327) geht davon aus, dass wir andere sein müssen, um wir selbst sein zu können. Durch die Teilhabe an einem gemeinsamen Symbolsystem ist das Individuum in der Lage, sein Handeln auch vom Standpunkt seines Gegenübers aus zu betrachten. Mead spricht in diesem Zusammenhang von I und Me. Der Begriff ‚I‘ bezeichnet das spontane, das kreative, das individuelle am Individuum. Das ‚Me‘ bezeichnet die Vorstellung, die Menschen davon haben, wie sie von anderen Menschen gesehen werden. Das ‚Me‘ ist also die soziale Komponente, die Vorstellung von dem, was andere von mir erwarten oder das Bild, was andere von mir haben. Beide Komponenten müssen als Bestandteile eines entstehenden Selbstbildes vom Individuum zusammengefügt werden, d. h. aus dem Wechselspiel von ‚I‘ und ‚Me‘ entwickelt sich das Self, die Ich-Identität. Die Fähigkeit, ‚I‘ und ‚Me‘ aufeinander zu beziehen, ist uns nicht mit in die Wiege gelegt worden, sondern das Ergebnis eines langwierigen Sozialisationsprozesses. An Meads Darstellung der Entwicklung kindlicher Spielformen lässt sich dies gut verdeutlichen. Er unterscheidet zwischen dem play und dem game. Als ‚play‘ bezeichnet Mead das nachahmende Rollenspiel von Kindern (z. B. Puppenstube), bei dem diese mit einem imaginären Partner spielen und dessen Rolle mimen. Hierbei werden zunächst vor allem die Rollen der signifikant Anderen (‚significant other‘) übernommen (insbesondere die der Bezugspersonen Mutter und Vater). Die signifikant Anderen sind es auch, die Kinder im Alltag mit ersten Reaktionen auf ihr Verhalten konfrontieren. Durch das ‚play‘, das keinen festen Regeln folgt und in der wechselnden Rollenübernahme verschiedener Bezugspersonen besteht, wird die Fähigkeit zur Verhaltensantizipation entwickelt. Will ein Kind jedoch an Gruppenspielen teilnehmen, genügt die Antizipation des Verhaltens eines Einzelnen nicht mehr aus. Es muss Spielregeln beachten und diese in Zusammenhang mit dem Verhalten der anderen Spielpartner bringen (z. B. bei Sportspielen oder Wettkämpfen). Kann ein Kind dies, dann hat es die Fähigkeit zum ‚game‘ entwickelt und hat damit eine wesentliche Aufgabe auf dem Weg zum kompetenten sozialen Handeln erfüllt (vgl. Joas 1991: 139). Durch das Einhalten von Regeln und die Verinnerlichung der Rollen beteiligter Mitspieler, dem Ausrichten des eigenen Handelns an einem von allen Handelnden geteilten Ziel, erlernt das Kind sich auf den generalisierten Anderen (‚gene49
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
ralized other‘) zu beziehen. Der generalisierte Andere ist quasi der Repräsentant der Gesellschaft und trägt dergestalt gesellschaftliche Normen und Werte an das Individuum heran. Der Mensch verinnerlicht im Lauf der Entwicklung die verschiedenen Einstellungen sowie das Werte- und Normensystem der Gesellschaft – und dies nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern auch im Hinblick auf die Gesellschaft als Ganzes und die Beziehungen ihrer Mitglieder untereinander. Er internalisiert den generalisierten Anderen, und nur dadurch, dass er die Einstellungen und Rollen der anderen im Rahmen organisierter Gruppen gegenüber sich selbst, wie gegenüber den anderen einnimmt, ist er in der Lage, seine eigene Identität zu entwickeln und zu stabilisieren. Die Herausbildung von (nur vom Subjekt selbst erfahrbarer) Ich-Identität hat Erving Goffman (vgl. 1967) als einen beständigen Prozess, als eine immer wieder in sozialen Interaktionen neu zu erbringende Leistung herausgestellt. Individuen machen ihre jeweiligen (biographischen) Erfahrungen, was Goffman als personale Identität (im Sinne der ‚Einzigartigkeit‘ im Hinblick auf die Kombination besonderer Kennzeichen eines Individuums) beschreibt. Individuen sind aber auch in Gruppenkontexte und gesellschaftliche Strukturen eingebunden, die von Goffman als soziale Identität (im Sinne von Erwartungen der anderen, die diese gegenüber dem Individuum im Interaktionsprozess hegen) bezeichnet werden. Ich-Identität entsteht über die Fähigkeit des Menschen, eine Balance zwischen personaler und sozialer Identität zu finden. Vereinfacht ausgedrückt: Im alltäglichen Handeln müssen die eigenen Erwartungen und die Erwartungen der anderen beständig aufeinander bezogen werden. Soziale Identität (Gruppenkontexte, Erwartungszusammenhänge)
Personale Identität (eigene biographische Erfahrungen)
Ich-Identität (Balance zwischen personaler und sozialer Identität) Abbildung 6
Zur Balancefindung bzw. zur Balancierung ist es erforderlich, dass Menschen die Fähigkeit zur Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz entwickeln.
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Rollendistanz bezeichnet die Fähigkeit, sich reflektierend und interpretierend mit Rollen-Erwartungen und Rollen-Anforderungen auseinanderzusetzen. Im Gegensatz zum Strukturfunktionalismus gehen die Vertreter des Symbolischen Interaktionismus davon aus, dass Rollen nicht determiniert, sondern gestaltbar sind. Empathie bezeichnet die Fähigkeit, sich in andere Individuen hineinzufühlen, Motive des Gegenüber zu verstehen und Handlungen zu antizipieren. Empathie in diesem Sinne darf aber nicht mit ‚Gefühle für andere entwickeln‘ verwechselt werden, denn es geht hier um die kognitive Fähigkeit, die Perspektive des gegenüber einzunehmen und zu verstehen. Ambiguitätstoleranz bezeichnet die Fähigkeit, in Interaktionen Ambivalenzen und Widersprüche auszuhalten, da in der Regel nicht alle eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse in die Interaktion eingebracht bzw. in der Interaktion durchgehalten oder ausgehandelt werden können. In der Konzeption des Symbolischen Interaktionismus wird deutlich, wie Sozialisation im Wechselspiel von Vergesellschaftung und Individuation begriffen werden kann. Gegen die normativen Vorstellungen von Parsons wendet Blumer (1973: 99) ein, dass es der soziale Prozess des Zusammenlebens ist, „der die Regeln schafft und aufrechterhält, und es sind nicht umgekehrt die Regeln, die das Zusammenleben schaffen und erhalten.“ Das vorrangige Interesse liegt in diesem Ansatz darin, soziale Interaktionen bzw. deren Interaktionsordnungen und -rituale zu untersuchen. Die Vertreter des Symbolischen Interaktionismus gehen dabei „vom Modell eines kreativen, produktiv seine Umwelt verarbeitenden und gestaltenden Menschen aus. Der Mensch wird als ein schöpferischer Interpret und Konstrukteur seiner sozialen Lebenswelt verstanden“ (Hurrelmann 1993: 51). Das ‚I‘ bzw. die ‚personale Identität‘ und das ‚Me‘ bzw. die ‚soziale Identität‘ sind die beiden Pole des ‚Self‘ bzw. der ‚Ich-Identität‘. Sie bilden je nach Interaktionssituation unterschiedliche Balancen aus. Das Wechselspiel bzw. die Identitätsbalance ist sowohl im Falle zu großer sozialer Anpassung als auch im Falle zu großer Egozentrik ‚gestört‘ und beeinträchtigt die Persönlichkeitsentwicklung. Unterbestimmt ist dabei sowohl bei Mead wie auch bei Goffman das ‚I‘ bzw. die ‚personale Identität‘, denn es wird letztlich nicht geklärt, worauf die Fähigkeit von Individuen beruht, sich gegen die antizipierten bzw. artikulierten Erwartungen der anderen in der sozialen Interaktion durchzusetzen. Im Grunde handelt es sich bei dem Verweis auf besondere Kennzeichen und Eigenheiten von Individuen um eine Behelfskonstruktion, die es ermöglichen soll, Unvorhersehbarkeiten im Verhalten von Individuen zu erklären.
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
2.3.3 Habituskonzept – Sozialisation als Zuschreibungs- und Erwerbsprozess Die Persönlichkeitsentwicklung, das gesamte Leben eines Individuums wird von seinem sozialen Status, von seiner Klassenzugehörigkeit bestimmt. So knapp ließe sich die zentrale Aussage des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zum Themenfeld Sozialisation formulieren. Bourdieu selbst hat zwar keine grundständige Theorie der Sozialisation entwickelt, aber sein Gesamtoeuvre beinhalte mannigfaltige Hinweise und kann ohne weiteres als eine implizite Theorie der Sozialisation gelesen werden (vgl. Liebau 1987: 81). In seinen Arbeiten versucht er darzulegen, wie das gesamte Leben eines Menschen von seiner jeweiligen Position im sozialen Raum bestimmt ist. Der soziale Raum bildet die Relationen innerhalb einer Gesellschaft ab und stellt den Rahmen für Erfahrungen und Praxis dar (vgl. Bourdieu 1993). Ein bestimmter Lebensstil entwickelt sich – und dies bis in die feinsten Verästelungen von Geschmack, Wahrnehmungs- oder Ausdrucksformen – im Verlauf der Sozialisation in der Auseinandersetzung mit sozialen Gruppen, in denen wir aufwachsen und die im sozialen Raum verortet sind: Wir verhalten uns in einer bestimmten Art und Weise, bevorzugen einen bestimmten Kleidungsstil oder streben gewisse Bildungsabschlüsse an – anders ausgedrückt: Wir übernehmen Normen, Werte und kulturelle Muster einer sozialen Gruppe und sind dergestalt also – wie bereits erwähnt – im sozialen Raum verortet. Geschmack ist keine Wesenseigenschaft von Individuen, sondern das Produkt ihrer Verankerung im jeweiligen sozialen Raum. Soziale Räume unterscheiden sich durch eine klassenspezifische Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die Bourdieu als Habitus bezeichnet (vgl. Abels und König 2010: 210f.). Unter Habitus werden typische Muster des Denkens und Handelns verstanden, die durch typische Konfigurationen der Beziehungen geprägt werden. Jedes Kind erwirbt über alltägliche Handlungen, die es von Erwachsenen oder anderen Kindern nachahmt, Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Handlungsschemata. Der Habitus ist eine allgemeine Grundhaltung, ein System dauerhafter Dispositionen gegenüber der Welt und als eine Art ‚Handlungsgrammatik‘ zu verstehen, die wir in uns und nach außen tragen – sei es eben in Geschmacksvorlieben, in der Körperhaltung, im Gang, in Manieren oder im Gebrauch der Sprache. Der Habitus wirkt hinter dem Verhalten eines jeden Individuums als generatives Prinzip, er ist dem Körper eingeschrieben und „erzeugt – unabhängig vom Wissen und Wollen jedes Einzelnen – Motive des Handelns, Bedürfnisse und 52
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Welterklärungen“ (Abels und König 2010: 217). Der Habitus bildet sich über den Erwerb von Kompetenzen aus: „Der Erwerb der Kompetenzen geschieht nach Bourdieu in der und durch die Teilnahme an der Praxis selbst. Das Kind ist gleichzeitig Objekt von Praxisformen, in denen sich die Habitusformen der sozialisierenden Personen äußern, und Subjekt von Praxisformen, in denen es seine eigenen, bereits erworbenen Kompetenzen aktualisiert und erweitert“ (Liebau 1987: 83).
Dieser Prozess findet seinen Ausdruck als Gestalt des primären Habitus, der je nach Soziallage zwar nicht als Verhängnis, so als wäre von Geburt an alles Weitere ein für alle Mal festgelegt, wohl aber als schicksalsprägend aufgefasst werden kann. Anders ausgedrückt: In den ersten Lebensjahren werden die Grundlagen der späteren Entwicklung gebildet. Ähnlich wie in der Psychoanalyse ist nach dem Habituskonzept davon auszugehen, dass die frühen Einflussfaktoren tatsächlich auch die am stärksten wirkenden sind. Zugleich werden dadurch die herrschenden sozialen Verhältnisse gefestigt. „Es ist eine tendenziell zirkuläre Struktur, die sich im Sozialisationsprozess entwickelt. Das Kind trifft auf die durch den Habitus der Eltern erzeugten Praxisformen; es nimmt mit zunehmender Dauer umso kompetenter an diesen Praxisformen teil; und es reproduziert in dem Maße, in dem es seine Kompetenzen entwickelt, die Praxisformen, in die es einsozialisiert worden ist“ (Liebau 1987: 83f.).
Die Basis des Habitus ist die Soziallage und der Raum sozialer Positionen in einer Gesellschaft ist durch eine spezifische Konfiguration von Kapitalsorten bestimmt. Gesellschaft meint bei Bourdieu immer Klassengesellschaft und die einzelnen Klassen unterscheiden sich demnach im Hinblick auf die Struktur ihres Kapitals. Bourdieu unterscheidet hierbei (durch eine ungewöhnliche und unorthodoxe Benutzung des Kapital-Begriffs) ökonomisches, kulturelles sowie soziales Kapital (Bourdieu 1992) und weist darauf hin, dass der individuelle Habitus den Klassenhabitus widerspiegelt (vgl. Abels und König 2010: 218). Anders als Karl Marx sieht Bourdieu die Verfügung über ökonomisches Kapital jedoch nicht als alleiniges Kriterium zur Unterscheidung von Klassen in einer Gesellschaft. Unter ökonomischem Kapital wird das Eigentum in materieller Form verstanden – sei es in Form von Grundbesitz, Geld oder Eigentum an Produktionsmitteln. Ein erster Unterscheidungspunkt zwischen den Klassen einer Gesellschaft ist der Besitz und Umfang des ökonomischen Kapitals. Die Soziallage eines Menschen ist aber nicht nur hiervon abhängig. 53
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Eine zweite und für Bourdieu sehr wichtige Kapitalsorte ist das kulturelle Kapital. Dieses eignen wir uns in Form von Wissen, Qualifikationen und Bildungstitel an. Es werden aber auch Einstellungen und Handlungsformen dazu gezählt, die wir uns in der Familie oder im Ausbildungssystem angeeignet haben. Die Familie ist in diesem Kontext ein bedeutsamer Wirkfaktor und der Wert des kulturellen Kapitals macht sich schließlich im Umfang der Kompetenzen bemerkbar, die man für eine bestimmte gesellschaftliche Position mitbringt. Das kulturelle Kapital trägt damit entscheidend zur Klassendifferenzierung bei und über das kulturelle Kapital wird auch der Klassenhabitus maßgeblich geformt (vgl. Abels und König 2010: 206) Klassenabhängige Unterschiede des Habitus zeigen sich schließlich im Umfang und Ausmaß des sozialen Kapitals. Dieses besteht in Form von Ressourcen, die sich aus dem Beziehungsnetzwerk eines Menschen ergeben. Soziales Kapital kann sehr schnell in ‚Euro und Cent‘ eingetauscht werden, wenn beispielsweise gute Beziehungen zu einer Berufskarriere beitragen bzw. diese befördern. Die Akkumulation und Nutzung von sozialem Kapital erfordert umfängliche Beziehungs- bzw. Netzwerkarbeit. Im Grunde ist hierzu auch kulturelles Kapital notwendig. Es kommt nämlich sehr stark darauf an, wie bzw. in welchem Umfang Individuen gelernt haben, Beziehungen zu pflegen oder Gruppenkontexte zu erkennen und zu nutzen; kurz: es kommt darauf an, in welchem Umfang sie sich die hierfür erforderlichen sozialen Kompetenzen angeeignet haben bzw. welche Gelegenheiten und Chancen ihnen im Sozialisationsprozess zur Aneignung geboten wurden. Sehr anschaulich, durch empirisches Material untermauert, zeigt Bourdieu auf, wie sich der ‚Besitz‘ an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital in der Praxis bzw. in den Praktiken eines Individuums niederschlägt und dergestalt auch zur Positionierung im sozialen Raum beiträgt. Am stärksten wird der Habitus durch das kulturelle Kapital geprägt, denn dieses eignen sich Menschen in der Kindheit (familiale und schulische Sozialisation) an. Neben den drei genannten Kapitalsorten erwähnt Bourdieu noch eine weitere Kapitalsorte, nämlich das symbolische Kapital. Im Grunde handelt es sich dabei jedoch ‚lediglich‘ um gesellschaftliche Effekte bzw. Reaktionen auf die Verfügbarkeit von Kapital. Je nach Verortung im sozialen Raum, wird den drei Kapitalsorten eine unterschiedliche Bedeutung beigemessen und insofern hängt es von der jeweiligen Gruppe ab (in der man sich bewegt), ob beispielsweise ökonomisches Kapital, das ein Spielhallenbetreiber akkumuliert hat, in ähnlicher Weise anerkannt wird, wie das der Erben eines Großgrundbesitzers.
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In seinen Arbeiten hat Bourdieu (vgl. 1993) darauf hingewiesen, dass sich Klassenunterschiede bis in den kleinsten Verästelungen des Lebensstils bemerkbar machen. Arbeiter, Angestellte, Beamte oder Industrielle unterscheiden sich beispielsweise im Hinblick auf ihre Präferenzen für bestimmte Speisen und Getränke, ihr Verhalten, die Wahl ihrer Kleidung oder aber im Hinblick auf ihre Essmanieren. Nach Bourdieu sind die ‚feinen Unterschiede‘, die beim Verzehr von Speisen und Getränken und die – wie er es beschreibt – „im Sichtbaren und Unsichtbaren“ (Bourdieu 1993: 322) bei der Selbstdarstellung zu beobachten sind, auch Kennzeichen und Anhaltspunkte für die Körpersozialisation. „Der Körper, gesellschaftlich produzierte und einzige sinnliche Manifestation der ‚Person‘, gilt gemeinhin als natürlichster Ausdruck der innersten Natur – und doch gibt es an ihm kein einziges bloß ‚physisches‘ Mal, Farbe und Dicke des aufgetragenen Lippenstifts werden ebenso wie ein spezifisches Mienenspiel, wie eine bestimmte Mund- oder Gesichtsform unmittelbar als Indiz für eine gesellschaftlich gekennzeichnete ‚moralische‘ Physiognomie gelesen“ (Bourdieu 1993: 318).
Das gesamte Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen ist von der sozialen Umwelt beeinflusst. Anders ausgedrückt: Unser Habitus ist gesellschaftlich geformt. Unübersehbar setzt Bourdieu dabei auch gesellschaftskritische Akzente. Die unterscheidbaren Lebensstile werden Bourdieu zufolge in der Gesellschaft nicht als gleichwertig angesehen. Das, was den ‚richtigen‘ Lebensstil ausmacht, was ‚guten‘ Geschmack kennzeichnet und was im Kampf um Anerkennung und Privilegien gewinnträchtig erscheint, wird von den ‚feinen Leuten‘, von der herrschenden Klasse definiert. Bourdieu geht davon aus, dass der individuelle Habitus den Klassenhabitus widerspiegelt, d. h. dem Habituskonzept liegt ein Strukturierungsprinzip zugrunde: Der Habitus ist Struktur und er reproduziert Struktur. Gesellschaftlicher Wandel ist mit den Mitteln seines theoretischen Konzepts nicht hinreichend auslotbar, weswegen Bourdieu häufig vorgeworfen wurde, er vertrete einen ausweglosen Determinismus, der Individualität ausblende und lediglich auf die Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheit verweise. Die Bedeutung des Habituskonzepts von Bourdieu für die Sozialisationstheorie und Sozialisationsforschungen liegt dergestalt vor allem darin, dass er die ökonomischen, kulturellen und sozialen Faktoren der Klassenzugehörigkeit herausgearbeitet hat, welche den Prozess der Sozialisation maßgeblich beeinflussen.
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2.3.4 Individualisierungstheorem – Sozialisation als Reintegrationsprozess Ein nach wie vor sehr populärer Ansatz, mit dem insbesondere Veränderungen im Hinblick auf den Sozialisationsprozess erklärt werden können, ist die These von der Individualisierung und Pluralisierung gesellschaftlichen Lebens. Ulrich Beck (vgl. 1986) interpretiert den gesellschaftlichen Wandel als Durchsetzung eines neuen Modus von Vergesellschaftung. Was ist damit gemeint? In der vorindustriellen bzw. vormodernen Zeit waren die Menschen in eine Vielzahl traditioneller Lebensformen eingebunden – sei es in die Familie, in die Dorfgemeinschaft, in religiöse oder in ständische Zusammenhänge. In die Vorgaben und Erfordernisse bzw. das Ordnungsprinzip traditionaler Gesellschaften wurde man schlechterdings hineingeboren. Mit der Ausbreitung freier Lohnarbeit, mit der Anhebung des Bildungsniveaus und des verfügbaren Einkommens, mit der Verrechtlichung der Arbeitsverhältnisse und vielem anderen mehr ging die Freisetzung der Individuen aus traditionell gewachsenen Bindungen einher: „Die Biographie der Menschen wird aus traditionellen Vorgaben und Sicherheiten, aus fremden Kontrollen und überregionalen Sittengesetzen herausgelöst, offen, entscheidungsunabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt. Die Anteile der prinzipiell entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten nehmen ab, und die Anteile der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographien nehmen zu (Beck und Beck-Gernsheim 1990: 12f.).
Beck beschreibt diesen Wandel als Übergang zu einer Wahl- oder Bastelbiographie, d. h. das Individuum plant und führt sein Leben in eigener Regie. Jeder muss demnach lernen, Entscheidungen für sein Leben selbst zu treffen und jeder muss auch die Konsequenzen für getroffene Entscheidungen selbst tragen (vgl. Beck 1986: 217). Die ‚Bastelbiographie‘ ist demnach immer auch eine ‚Risikobiographie‘. Chancen und Risiken der Moderne müssen von den Individuen selbst wahrgenommen und bearbeitet werden (vgl. Beck und Beck-Gernsheim 1994: 15). Im Rahmen der Sozialisation müssen sich (auch) die Heranwachsenden ein erhebliches Abstimmungs-, Koordinations- und Integrationsvermögen aneignen. Der Lebensweg, der eingeschlagen wird, die Berufswahl oder die Wohnortwahl können sich schnell als falsch erweisen, private Umbrüche wie Scheidung, Krankheit oder Arbeitslosigkeit lassen die ‚Bastelbiographie‘ zur ‚Bruchbiographie‘ werden (vgl. Beck und Beck-Gernsheim 1994: 13). Beck zufolge resultieren gesellschaftliche Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse aus einer sukzessiven Transformation der durch Hierarchien (im Sinne von Klassen und Schichten) geprägten Gesellschaft, ohne damit jedoch ungleiche Lebensbedingungen und Lebenschancen aufzuheben. Auch
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Ungleichheiten bzw. deren Reproduktion individualisieren sich. Sozialisation gestaltet sich dementsprechend ausgesprochen individuell, nur eben nicht ausschließlich entlang der lange Zeit vorherrschenden Grenzen von Klassen und Schichten. „Die ‚Klassengesellschaft‘ wird insgesamt eine Etage höher gefahren. Es gibt bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten – ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum. In der Konsequenz werden subkulturelle Klassenidentitäten und -bindungen ausgedünnt oder aufgelöst. Gleichzeitig wird ein Prozess der Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterläuft und in seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt“ (Beck 1986: 122).
Wenn sich auch bei Beck nur spärliche Verweise zu einer individualisierten Sozialisation von Kindern und Jugendlichen finden, so lassen sich doch entsprechende Annahmen aus seiner Theorie ableiten. Es gibt keinen Grund nicht anzunehmen, dass auch Heranwachsende in der Situation sind, sich zunehmend eigenständig mit ihrer (inneren und äußeren) Umwelt auseinanderzusetzen, um das eigene Leben, d. h. die eigene Biographie, zu gestalten und sich zu verorten. Kinder planen zunehmend ihre Freizeit in eigener Regie und halten sich zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten auf. Freundschaften und Freizeitaktivitäten werden aufgrund persönlicher Präferenzen eingegangen und speisen sich nicht mehr (ausschließlich) aus dem sozialräumlichen Umfeld (Nachbarschaft). Eltern kommt dabei zunehmend die Funktion von Erfüllungsgehilfen für die Wünsche und Neigungen des Nachwuchses zu. Wollen oder können sie diesen Wünschen und Neigungen nicht nachkommen, dann greifen Heranwachsende auf die umfänglichen Möglichkeiten der ‚Nebenerwerbstätigkeit‘ zurück, um sich diese Wünsche zu erfüllen und ihren Neigungen nachzugehen. Heranwachsende sind mithin die kompetentesten Anwender des Lebens in eigener Regie, da sie mit den Widersprüchen und Ambivalenzen der Individualisierung in der Regel aufgrund ihres Alters noch nicht umfänglich konfrontiert bzw. in die Verantwortung gezogen werden (können). Zusammenfassend lassen sich die Dimensionen der Individualisierung wie folgt beschreiben (vgl. Beck 1986: 211): Freisetzungsdimension: Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge. Entzauberungsdimension: Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen.
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Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension: Neue Art(en) der sozialen Einbindung (wie z. B. Jugendszenen, zeitlich befristete Gruppen, soziale Bewegungen, bürgerschaftliches Engagement). Die Dimensionen der Individualisierung können nicht strikt voneinander getrennt betrachtet werden, vielmehr greifen sie ineinander und bedingen sich wechselseitig. Um den Prozess der Freisetzung und Entzauberung zu verdeutlichen, werden von Beck verschiedene Blickwinkel auf die Herauslösung des Individuums und den damit einhergehenden Stabilitätsverlust skizziert. Das Individuum löst sich aus der Kollektivität seiner unmittelbaren Umgebung heraus. Orts- und Sozialbindungen, bezogen auf alle Lebensbereiche (z. B. Familie, Arbeit, Wohnraum, Rollenverteilung usw.), verlieren ihre Stabilität. Der Verlust von traditionalen Sicherheiten wird dadurch ersichtlich, dass Glaube und Tradition oder andere handlungsleitende Normen an Bedeutung einbüßen und ihre fraglose Anerkennung verloren geht. Für das Aufwachsen in der Gegenwartsgesellschaft wird konstatiert, dass nur noch wenige Heranwachsende in lokalen und dichten sozialen Kontrollnetzen mit klaren Autoritätsverhältnissen und geschlossener weltanschaulicher Sinngebung leben. Individualisierung gilt als Emanzipation von traditionellen Bindungen, als Lösung von ursprünglichen Gruppen mit wechselseitiger Abhängigkeit. Dabei können sechs Komponenten unterschieden werden: Familiale Emanzipation, d. h. keine lebenslange Gebundenheit an Familie. Damit einher geht die Abnahme familialer Traditionen. Soziale Emanzipation, d. h. die soziale Mobilität und der soziale Status sind nicht mehr durch Familienzugehörigkeit bzw. von Geburt an festgelegt, sondern können durch eigenes Handeln verändert werden. Ökonomische Emanzipation, d. h. freie Wahl der beruflichen Tätigkeit. Geographische Emanzipation, d. h. geographische Mobilität im Sinne der Möglichkeit, Wohn- und Aufenthaltsorte zu wechseln. Kulturelle Emanzipation, d. h. dass die Gebundenheit an überlieferte Werte abnimmt. Die Lebensgestaltung unterliegt nicht mehr dem direkten Einfluss anderer Personen. Moralische Emanzipation, d. h. die Verpflichtung, Leistungen für bestimmte Personen oder Gruppen zu erbringen, nimmt ab. Der Einzelne wird, wie bereits erwähnt, zum Akteur der eigenen Biographie, zum Planungsbüro seiner selbst, der marktvermittelten Existenzsicherung und somit zur eigenen lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen. Was jedoch nicht heißt, dass er von jeglicher Kontextgebundenheit befreit ist. Dies 58
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zeigt sich in der höheren Arbeitsmarkt- und Bildungsabhängigkeit, sowie in der Abhängigkeit von sozialstaatlichen Regelungen. Die Besonderheit des Individualisierungsschubes liegt darin begründet, dass Individualisierung paradoxerweise mit einer zunehmenden Standardisierung einhergeht. Beck (vgl. 1986: 209f.) spricht in diesem Zusammenhang auch von institutionenabhängigen Individuallagen und bezeichnet Individualisierung als sehr weit fortgeschrittene Form markt-, rechts- und bildungsabhängiger Vergesellschaftung. „An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfamilie) treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des Einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewusstseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen“ (Beck 1986: 211).
Welche Auswirkungen die oben genannten Aspekte und Tendenzen auf den Sozialisationsprozess haben, muss noch weiter erforscht werden. Offenkundig ist jedoch, dass Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse zu einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft beigetragen und sich insbesondere für Heranwachsende vielfältige Optionen eröffnet haben, jenseits von Familie und Schule ihre Umwelt nach Sinnangeboten und Lebensmodellen zu durchforsten, d. h. mit dem Leben in eigener Regie zu experimentieren. Die Schwierigkeit des zur (Wahl-)Freiheit ‚verdammten‘ Menschen besteht gleichwohl darin, sich aus den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten die für ihn ‚richtigen‘ zu finden (und dies gerade ohne verlässliche historische bzw. traditionelle ‚Vorbilder‘), damit sich die performative Konstruktion des Selbst zu einem gelingenden Projekt entwickelt und dergestalt ein Leben auf der ‚Sonnenseite‘ der Moderne (zumindest) möglich erscheint.
2.4
Radikaler Konstruktivismus – Sozialisation als Ordnungs- und Organisationsprinzip
Der radikale Konstruktivismus ist vermutlich der spektakulärste wie auch der umstrittenste Versuch, auf den man bei der Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Sozialisation stößt. Die einfachste Umschreibung lautet: Jeder entwickelt sich nach seinen Vorstellungen und deutet die Welt seinen Wünschen entsprechend. Eine andere Umschreibung wäre: Wir tragen alle eine individuelle Landkarte von Bedeutungen in uns. Damit ist gemeint, dass wir nicht die gesamte Welt wahrnehmen können, sondern immer nur einen kleinen Ausschnitt, sozusagen den von uns überschaubaren und begreifbaren Lebensbereich. Allerdings
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lässt sich der radikale Konstruktivismus nicht durchgängig mit diesen einfachen Umschreibungen darstellen. In der Literatur wird zwischen sozialkonstruktivistischen und radikalkonstruktivistischen Theorieperspektiven unterschieden. Letztere wird häufig auch als kognitionstheoretischer oder erkenntnistheoretischer Konstruktivismus bezeichnet. Beiden konstruktivistischen Vorstellungen gemeinsam ist der Gedanke, dass individuelle (ebenso wie wissenschaftliche) Erkenntnis nicht eine Widerspiegelung oder Repräsentation subjektunabhängiger, objektiv natürlicher Realität ist, sondern eine Konstruktion. Beispielsweise sind unterschiedliche Verhaltenweisen von Männern und Frauen nicht auf biologische Aspekte (z. B. die Gebärfähigkeit der Frau) zurückzuführen, sondern werden als das Ergebnis von Konstruktionsprozessen interpretiert. Der radikale Konstruktivismus, auf den wir im Folgenden näher eingehen werden, beschäftigt sich mit den Vorgängen bei der Wahrnehmung und bei der Entstehung von Erkenntnis. Man kann diese Theorieperspektive des Konstruktivismus auch als eine Kognitions-Theorie verstehen, wobei aber neben den Aspekten Steuerung und Reaktion besonders auch die Aspekte Selbstorganisation und Autonomie Berücksichtigung finden (vgl. Schmidt 1987). So gibt es im konstruktivistischen Denken beispielsweise keine Beobachtung, die unabhängig vom Beobachter ist. Die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, ist ein subjektives Konstrukt (vgl. Watzlawick 1985). Eine Wahrnehmung liefert eben niemals ein Abbild der Realität, sondern ist immer eine Konstruktion aus den Sinnesreizen und der Gedächtnisleistung eines Individuums. Objektivität – im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem (konstruiertem) Bild und Realität – ist unmöglich, denn ausnahmslos jede Wahrnehmung ist subjektiv. In den Worten Heinz von Glasersfeld (1985: 23), dem Begründer des radikalen Konstruktivismus, ist dieser eben „deswegen radikal, weil er mit der Konvention bricht und eine Erkenntnistheorie entwickelt, in der die Erkenntnis nicht mehr eine objektive, ontologische Wirklichkeit betrifft, sondern ausschließlich die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens.“ Dennoch leben wir zweifelsohne in einer relativ verlässlichen Welt, d. h. es gibt Orientierungen und Ordnungen, auf die wir uns beziehen können. Dies ist nun aber kein Widerspruch zur Annahme der je eigenen Konstruktion: „Wenn die Welt, die wir erleben und erkennen, notwendigerweise von uns selber konstruiert wird, dann ist es kaum erstaunlich, dass sie uns relativ stabil erscheint. Um das klar zu sehen, muss man freilich den Grundzug der konstruktivistischen Epistemologie im Auge behalten – nämlich, dass die Welt, die da konstruiert wird, eine Welt des Erlebens ist, die aus Erlebtem besteht und keinerlei Anspruch auf ‚Wahrheit‘ im Sinne einer Übereinstimmung mit einer ontologischen Wirklichkeit erhebt“ (Glasersfeld 1985: 28).
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Solche Gedanken finden sich auch bei einem anderen wichtigen Vertreter radikal-konstruktivistischen Denkens, dem Biologen Humberto Maturana (vgl. 1982). Wirklichkeit und Erkenntnis sind in seinem Verständnis keine Repräsentation der ‚Welt da draußen‘, sondern als andauernde Hervorbringung einer Welt durch den Prozess des Lebens selbst zu verstehen. Erfahrung der Gewissheit einer verlässlichen Welt ist in der Konzeption von Maturana ein individuelles Phänomen, das gegenüber der kognitiven Handlung des anderen blind ist. Realität erweist sich hiermit als ein Konzept, das für subjektgebundene Konstrukte steht, die den Charakter des Realen, d. h. des von uns unabhängig Existierenden bekommen. Für Maturana ist Objektivität, Realität und Wissen im Sinne von Absolutheit unmöglich, weil der Mensch nicht aus seinem Interaktionskreis, der durch Organisation und Struktur eingegrenzt ist, heraustreten kann (vgl. Maturana 1982: 268). Wie funktioniert aber nun Erkenntnis und wie wird Wirklichkeit konstruiert? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Vertreter des radikalen Konstruktivismus unter Hinzuziehung neurobiologischer und kybernetischer Erkenntnisse im Rahmen von Prozessanalysen (vgl. Foerster 1985, Maturana und Varela 1987). Ein zentraler Aspekt zur Beantwortung der Fragen wird mit der Theorie lebender Systeme geliefert. Lebewesen bestehen nach Maturana aus einer Organisation und einer Struktur. Die Organisation beinhaltet bestimme Relationen. „Damit ich ein Objekt als einen Stuhl bezeichnen kann, muss ich zuvor anerkennen, dass gewisse Relationen zwischen den Teilen, die ich Beine, Lehne, Sitzfläche nenne, auf eine Weise gegeben sind, die das Sitzen möglich machen“ (Maturana und Varela 1987: 49f.). Auf Lebewesen bezogen bedeutet diese Feststellung, dass etwas Gemeinsames zwischen ihnen existieren muss. Das gemeinsame Charakteristikum von Lebewesen besteht darin, dass sie sich beständig selbst erzeugen. Im radikalen Konstruktivismus wird dieser Aspekt mit dem Begriff Autopoiesis bezeichnet, verstanden als Prozess der Selbsterschaffung und Selbsterhaltung eines Systems (Lebewesens). Ein autopoietisches System ist zwar insoweit ‚offen‘, als dass durch Stoffwechsel Energie gewonnen werden muss. Das dabei verfolgte Ziel besteht jedoch lediglich im Systemerhalt. Autopoietische Systeme sind dementsprechend operational geschlossen und selbstreferentiell, d. h. dass sie für die Aufrechterhaltung ihrer Existenz keinerlei Informationen benötigen, die nicht in der einen oder anderen Form in ihnen selbst angelegt wäre. Neben der Organisation besteht ein Lebewesen zusätzlich aus einer Struktur, die als Bestandteile und Relationen beschrieben wird, aus denen sich eine bestimmte Einheit konstituiert und dergestalt die Organisation verwirklicht wird. Ein einfaches Beispiel dazu:
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
„So besteht die Organisation zur Steuerung des Wasserpegels in einem Spülkasten des Wasserklosetts aus den Relationen zwischen einem Gerät, das fähig ist, den Wasserpegel einzuschätzen und einem Gerät, das fähig ist, den Wasserzufluss zu unterbinden. Im häuslichen WC wird diese Geräteklasse heute mit einem System aus verschiedenen Materialien wie Kunststoff und Metall verwirklicht, das aus einem Schwimmer und einem Durchflussventil besteht. Diese besondere Struktur könnte aber dadurch verändert werden, dass der Kunststoff durch Holz ersetzt wird, ohne dass damit die Organisation, die das Ding zu einem Spülkasten macht, betroffen wäre“ (Maturana und Varela 1987: 54).
Auf den Menschen bezogen lässt sich dieser Aspekt am körperlichen Wachstum verdeutlichen. Ein Mensch wächst und wird älter, d. h. es verändert sich die Struktur (unter Beibehaltung der Organisation). Die Organisation bleibt das gesamte Leben lang erhalten, wohingegen die Struktur offen für Veränderungen ist (vgl. Maturana und Varela 1987: 84). Jeder Mensch entscheidet aber selbst, in welche Richtung Strukturveränderungen stattfinden. Lebewesen sind in diesem Sinne autonom, nur ihre Autopoiesis bestimmt, wie mit externen Einflüssen umgegangen wird. Maturana weist in diesem Zusammenhang aber darauf hin, dass es sich lediglich um eine ‚prinzipielle‘ Autonomie handelt: Menschen selektieren ihre Wahrnehmungen nach den eigenen inneren Bedürfnissen und der eigenen inneren Struktur – hierin sind sie autonom, denn es ist nicht die Umgebung der ausschlaggebende ‚Kausalfaktor‘. Doch Menschen verhalten sich entsprechend ihrer inneren Struktur immer in Abstimmung zur Verträglichkeit, zur Kommensurabilität zum jeweiligen Milieu – in diesem Sinne besitzen sie also lediglich ‚prinzipiell‘ Autonomie. Ob diese Abstimmung ‚passend‘ oder ‚unpassend‘ ist, beurteilt das System Mensch selbst, was im radikalen Konstruktivismus mit dem Konzept des Beobachters verdeutlicht wird. Bei der Herstellung von Wahrnehmung interagiert unser Gehirn mit seinen inneren Zuständen, es beobachtet sich sozusagen selbst. Ein System, das in der Lage ist, mit seinen internen Zuständen zu interagieren und von diesen Interaktionen auch Repräsentationen, d. h. Beschreibungen liefern kann, operiert als Beobachter und kann Konstrukte des Systems und der Umgebung kognitiv erzeugen. Beschreibungsfähigkeiten sind also zentrale Elemente eines beobachtenden Systems. Des Weiteren brauchen wir aber auch eine Unterscheidungsfähigkeit. Für einen Beobachter wird erst dann ein Gegenstand beschreibbar, wenn er ihn von anderen unterscheiden kann. Für Maturana ist dieser Vorgang das Zentrum jedes Verstehens und jeder Realitätsauffassung. Realität ergibt sich aus dem erkennenden Tun des Beobachters, der Unterscheidungen trifft und damit den Einheiten seiner Beobachtung Existenz verleiht. Was ein Beobachter nun als Einheit definiert, kann er auf verschiedenen Ebenen betrachten, je nach den Unterscheidungen, die er macht. Zum einen könn-
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
ten Beschreibungen des Bereichs der inneren Zustände eines Individuums als Bereich seiner Zustandsveränderungen angefertigt werden. Dafür, also für die interne Dynamik, ist die Umgebung irrelevant. Zum anderen könnte der Bereich betrachtet werden, in dem das Individuum mit seiner Umwelt interagiert. Dabei werden Beziehungen zwischen bestimmten Eigenschaften des Milieus und dem Verhalten eines Individuums beschrieben. Die innere Dynamik der Einheit ist hierfür irrelevant, denn es ist ganz allein ‚der Beobachter‘, der von seinem distanzierten Standpunkt aus die jeweiligen Korrelationen herstellt (vgl. Maturana und Varela 1987: 148). Das Beispiel vom Unterseeboot mag dies verdeutlichen: „Stellen wir uns jemanden vor, der sein ganzes Leben in einem Unterseeboot verbracht hat, ohne es je zu verlassen, und der in dem Umgang damit ausgebildet wurde. Nun sind wir am Strand und sehen, dass das Unterseeboot sich nähert und sanft an der Oberfläche auftaucht. Über Funk sagen wir dann dem Steuermann: Glückwunsch, du hast alle Riffe vermieden und bist elegant aufgetaucht; du hast das Unterseeboot perfekt manövriert. Der Steuermann im Inneren des Boots ist jedoch erstaunt: Was heißt denn ‚Riffe‘ und ‚Auftauchen‘? Alles, was ich getan habe, war, Hebel zu betätigen und Knöpfe zu drehen und bestimmte Relationen zwischen den Anzeigen der Geräte beim Betätigen der Hebel und Knöpfe herzustellen – und zwar in einer vorgeschriebenen Reihenfolge, an die ich gewöhnt bin. Ich habe kein ‚Manöver‘ durchgeführt, und was soll das Gerede von einem ‚Unterseeboot‘?“ (Maturana und Varela 1987: 149).
Beide Systeme – der Unterseebootfahrer und der Spaziergänger am Strand – haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht und verfügen über unterschiedliche Wissensbestände. Anders ausgedrückt: Die Bedingungen, unter denen sie sozialisiert wurden, unterscheiden sich offensichtlich voneinander. Für den Steuermann gibt es offensichtlich nur die Instrumente. Sie bilden die Elemente seiner Wirklichkeit. Und nur für den Strandgänger gibt es das Unterseeboot, Riffe und den Strand. Beide Systeme sind für sich genommen prinzipiell autonom. Beide Systeme haben sich nun getroffen. Was passiert hierbei? Ziel eines autopoietischen Systems ist es, in einer Umwelt durch situationsadäquates Verhalten zu überleben. Dieses Verhalten wird bei Lebewesen durch das Nervensystem erzeugt. Ein überlebensförderndes Verhalten kann ein operational geschlossenes System lediglich durch strukturelle Koppelung erzeugen – ein weiterer zentraler Grundgedanke des radikalen Konstruktivismus. Strukturelle Koppelung kann grob als eine gegenseitige Adaption verstanden werden und ist ein Prozess wechselseitiger Strukturveränderungen. Steuermann und Strandgänger können gegenseitig Strukturveränderungen auslösen, sie können sie aber nicht determinieren. Anders ausgedrückt: Interaktionen mit der Umwelt können Anstöße für Veränderungen geben, sie aber nicht vorschreiben, denn Veränderungen werden von einem lebenden System strukturdeterminiert, d. h. gemäß seiner jeweiligen 63
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Struktur vollzogen. Über Interaktion, also über die Beziehung zu anderen Systemen, kann eine gemeinsame soziale Wirklichkeit geschaffen werden. Grundsätzlich haben Steuermann und Strandgänger demnach im Interaktionsprozess Gelegenheit, Wirklichkeit zu konstruieren. Der Steuermann erfährt vielleicht mehr über Strände und Riffe, der Strandgänger vielleicht mehr über Unterseebootinstrumente. Beide verändern bzw. erweitern ihre Erfahrungshorizonte, ihr Wissen und gelangen womöglich zu neuen Interpretationen von Welt. Die Relevanz des radikalen Konstruktivismus bei der Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Sozialisation liegt in der Annahme, dass Umweltgegebenheiten und Umweltereignisse nicht aus sich selbst heraus verständlich werden, sondern immer nur im Kontext der interpretierenden und konstruierenden Menschen. Zur Analyse von subjektiven Wahrnehmungsprozessen in der Sozialisation bietet der radikale Konstruktivismus brauchbare Hinweise dafür, wie eine Choreographie der Konstruktion von Wissen und Erkenntnis aussehen kann. Eine zentrale Kritik am radikalen Konstruktivismus lautet, dass diese Theorieperspektive zwar die Vielfalt des menschlichen Denkens und Verhaltens betont, aber keine plausible Begründung für das Leben von Individuen in der Gesellschaft liefert. Niemand kann einem Menschen vorschreiben, wie er sich und die Welt zu verstehen hat und natürlich auch nicht, was er zu tun hat. Vor allem das Konzept der Autopoiesis legt eine fast grenzenlose Autonomie des Subjektes zugrunde (vgl. Girgensohn-Marchand 1992: 110ff.) und blendet die Frage nach der Möglichkeit bzw. den Gründen sozialer Ordnung aus.
2.5
Selbstsozialisation – Sozialisation als strukturloser Subjektzentrismus?
Friedrich H. Tenbruck (vgl. 1965: 98) hat den Begriff ‚Sozialisierung in eigener Regie‘ bzw. ‚Selbstsozialisierung‘ bereits Anfang der 1960er erstmals, aufgrund der Diagnose einer sich ausdifferenzierenden modernen Gesellschaft und dem damit einhergehenden Wandel bzw. Bedeutungsverlust der Familie, in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht. Subjektive, auf das Individuum bezogene Aspekte der Sozialisation zu betrachten, ist so neu also nicht und auch die in den vorausgehenden Kapiteln dargestellten theoretischen Überlegungen zum Themenfeld Sozialisation beinhalteten teilweise bereits den Versuch, soziale und personale Aspekte im Prozess der Sozialisation in ihrem Wechselverhältnis zu thematisieren. Im Mittelpunkt steht nun aber ein Ansatz, der es ermöglichen soll, den Eigenanteil bzw. die Eigenaktivitäten von Kindern und Jugendlichen zur Beeinflussung und Gestaltung ihres Lebens zentral in den Blick zu nehmen
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
und damit auch zu einer Neujustierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu gelangen. Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Zinnecker (vgl. 2000: 277) hat das Thema erneut aufgegriffen und weist darauf hin, dass sich Selbst- und Fremdsozialisation zwar auf entgegengesetzten Polen befinden, aber immer auch in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. Veränderungen auf der einen Seite ziehen in der Regel Konsequenzen auf der anderen Seite nach sich. Anders ausgedrückt: Von außen auf das Individuum einwirkende Anteile und Eigenanteile in der Sozialisation sind keine voneinander isolierten Bereiche, sie vermischen sich und beeinflussen dergestalt den Prozess der Sozialisation eines Individuums. Das Konzept der Selbstsozialisation basiert auf der empirischen Erkenntnis, dass Kinder und Jugendliche tendenziell immer früher in ihrer Entwicklung biographisch relevante Haltungen und Einstellungen selbstständig ausbilden (siehe dazu Kapitel 2.3.4). Sie lernen frühzeitig in der Familie, in Vorschuleinrichtungen, später in der Schule, aber vor allem außerhalb pädagogischer Institutionen, d. h. in ihren Gleichaltrigengruppen (Peer-Groups) und den dort bestehenden Beziehungsgeflechten, eigene Wünsche zu artikulieren, ihre Aktivitäten räumlich, sozial und zeitlich zu koordinieren, eigenständig Konsuminteressen auszubilden und Medienangebote in ihren Alltag einzubeziehen. Familiäre und schulische Erziehungsabsichten haben in diesem Zusammenhang nur noch geringen Einfluss auf die Entscheidungen von Heranwachsenden. Die genannten Veränderungen werden durch Ergebnisse der neueren Entwicklungspsychologie gestützt, die sich nicht mehr zwingend an den klassischen Stufenmodellen und den stadienspezifischen Auffälligkeiten von Heranwachsenden orientiert (vgl. Veith 2002: 170). Kinder und Jugendliche sind nicht mehr umfänglich von den sie umgebenden Strukturen abhängig bzw. determiniert, sondern sie entwickeln von Beginn an ihre eigene ‚Weltsicht‘ – alleine und in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen – weswegen Konzepte, die auf die Vorstellung von relativ festen entwicklungspsychologischen Stufen und Stadien zurückgreifen, immer stärker in Frage gestellt werden. Nach Zinnecker (vgl. 2000: 281) birgt die Rede von der Selbstsozialisation aber auch eine Doppeldeutigkeit, denn auf den ersten Blick könnte darunter die „Sozialisation eines Selbst (als eines aktiven Persönlichkeitskerns)“ verstanden werden. Es geht bei diesem Ansatz aber vielmehr um die Bestimmung der personalen Ressourcen in der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen, also um das, was die Heranwachsenden für ihre Entwicklung selbst aktiv beitragen können. Anders ausgedrückt: Es geht um die Eigenleistung des Subjekts in Entgegensetzung zur Leistung von Familien oder pädagogischen Institutionen im Sinne von Fremdsozialisation. Selbstsozialisation wird von Zinnecker als ein 65
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Dreischritt beschrieben (vgl. Zinnecker 2000: 279), bei dem Kinder und Jugendliche sich selbst und den Dingen in ihrer Umwelt eine eigene Bedeutung zuschreiben, eine eigene Handlungslogik entwerfen und Ziele für ihr Handeln formulieren, die sich in ihrem Verhalten niederschlagen. Eine Nähe, zumindest was die Bedeutungszuschreibung anbelangt, zu den Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus klingt hier an (siehe dazu Kapitel 2.3.2). Damit werden aber andere Prozesse in der Sozialisation – weiter oben als Fremdsozialisation bezeichnet – nicht obsolet. Zweifellos hat sich der Eigenspielraum im Alltag von Heranwachsenden in den letzten Jahrzehnten erheblich vergrößert, dennoch bleibt der Einfluss von Familie oder Schule auf die Persönlichkeitsentwicklung bestehen. Auch wenn sich die Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen mitunter gegen Normen und Werte der Erwachsenenwelt richten, sind sie doch eingebettet in strukturierte Interaktionen, in denen sie ihre Selbstsozialisation bewusst oder unbewusst betreiben (vgl. Abels und König 2010: 234). Klaus Hurrelmann (vgl. 2002: 158) schlägt in diesem Zusammenhang vor, eher von einer Form der ‚Selbstorganisation‘ zu sprechen, denn unverkennbar wächst der Grad der Eigenleistung in der Gestaltung der eigenen Biographie. Möglicherweise gibt es ja tatsächlich die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Analyse von Sozialisationsprozessen. Dieser Wechsel sollte aber nicht als schlichte Abkehr von einem ‚Objektzentrismus‘ hin zu einem ‚Subjektzentrismus‘ verstanden werden. Ob wir nun Eigenleistungen in der Persönlichkeitsentwicklung Selbstsozialisation oder Selbstorganisation nennen, es ist immer von einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis für die Sozialisation bedeutsamer Instanzen auszugehen. Damit Kinder und Jugendliche sich überhaupt selbst sozialisieren können, damit sie überhaupt erfolgreich eigene Ziele und Vorstellungen einbringen können, bedarf es eines Bewusstseins der eigenen Kompetenz. Theoretische Überlegungen mit dem Fokus auf Selbstsozialisation verweisen dementsprechend häufig auf den Begriff Selbstwertgefühl. Mit Selbstwertgefühl ist eine spezifische Einstellung zu sich selbst gemeint, und zwar bezogen auf die Einschätzung des eigenen Werts innerhalb einer Gemeinschaft (sei es z. B. die Familie, die Freundschaftsgruppe oder die Schulklasse). Das Selbstwertgefühl ergibt sich des Weiteren aus dem Resultat der Einschätzung oder Selbstbewertung der eigenen Fähigkeiten und es ist Ausdruck der Meinung, die man von sich selbst hat. Selbstwertgefühl ist die Summe aller 66
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Werte, die man seiner eigenen Person zuschreibt. Bekommt ein Heranwachsender wenig Anerkennung, dann kann seine Selbstbewertung negativ ausfallen. Die Entwicklung des Selbstwertgefühls ist immer eingebunden in soziale Kontexte. Hieraus ergibt sich auch eine gewisse Dynamik, denn über die Reaktionen aus der sozialen Umwelt passen wir unser Verhalten an bestimmte Anforderungen an. Das folgende Schaubild soll diese Dynamik verdeutlichen:
Abbildung 7
Vor dem Hintergrund unserer Selbstbewertung verhalten wir uns, wir bemerken bzw. beobachten die Reaktionen von anderen, die unser Verhalten spiegeln und bewerten, worauf wir wiederum unser selbstwertbedingtes Verhalten ebenfalls bewerten und nachfolgend abstimmen bzw. neu justieren. Das Selbstwertgefühl unterliegt also einer ständigen Selbstvergewisserung. Eine Komponente des Selbstwertgefühls ist das Selbstvertrauen. Dieses kommt dadurch zum Ausdruck, dass Menschen sich zutrauen, durch eigene Bemühungen und Aktivitäten zum Ziel zu kommen und Erfolge zu verzeichnen. Selbstvertrauen entwickelt sich als Summe dessen, was an positiven Erfahrungen über eigene Fähigkeiten in der persönlichen Wahrnehmung gespeichert wird. Ist das soziale Umfeld so geschaffen, dass Kinder und Jugendliche selbst zur Stärkung und Entwicklung ihrer Persönlichkeit beitragen können, dann wächst auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. In der Regel ist es so, dass wir uns gegen negative Bewertungen durch andere wehren, aber auch gegen eine negative Bewertung durch uns selbst, d. h. wir schreiben Erfolge unseren eigenen Fähigkeiten, unserer eigenen Leistung zu (interne Attribuierung), wohingegen wir Misserfolge extern attribuieren.
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2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
Der Soziologe William I. Thomas (vgl. 1965: 165) hat in diesem Zusammenhang bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ‚vier Wünsche‘ formuliert, die für die Persönlichkeitsentwicklung von großer Bedeutung sind:
das Verlangen nach neuem Erleben, das Verlangen nach Sicherheit, das Verlangen nach Erwiderung und das Verlangen nach Anerkennung.
Ein positives Selbstwertgefühl erfordert vor allem die Erfüllung der Wünsche ,Erwiderung‘ und ,Anerkennung'. Geschieht das, dann besteht die Chance, dass Heranwachsende sich vertrauensvoll mit sich selbst und zielorientiert wie auch selbstständig mit der Umwelt auseinandersetzen. Seit einiger Zeit wird in diesem Zusammenhang auf das Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung (vgl. Schwarzer und Jerusalem 2002) verwiesen, das auf der sozial-kognitiven Lerntheorie von Bandura beruht (siehe dazu Kapitel 2.1.3) und zu klären sucht, wie die Auseinandersetzung mit der Umwelt durch subjektive Überzeugungen gesteuert wird. Besitzen Kinder und Jugendliche positive Selbstwirksamkeitserwartungen, so zeigt sich dies unter anderem darin, dass sie sich neugierig und zuversichtlich mit Aufgaben, sei es im Kindergarten, in der Schule oder in der Freizeit, auseinandersetzen und bereit sind, sich zur Verwirklichung ihrer Ziele oder zur Lösung von Problemen einzusetzen oder Anstrengungen zu unternehmen. Kinder und Jugendliche mit positiven Selbstwirksamkeitserwartungen sind sensibel gegenüber Beeinflussungsversuchen (der erziehenden Erwachsenen), fokussieren also stärker auf ihre eigene Interpretation der Welt und formulieren selbstständig die Ziele ihres Handelns. Dass dies in der Realität nicht so einfach ist, weist auf die Probleme und die Kritik am Konzept der Selbstsozialisation hin. Der Fähigkeit, sich selbst und den Dingen in der Umwelt eine eigene Bedeutung zuzuschreiben, eine eigene Handlungslogik zu entwerfen und Ziele für das eigene Handeln zu formulieren, stehen gesellschaftliche Vorgaben entgegen (vgl. Hurrelmann 2002: 159). Hinzu kommt, dass Kindern und Jugendlichen unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung stehen bzw. Chancen, das Leben in eigener Regie zu gestalten, ungleich verteilt sind. Auch in der Selbstsozialisation wirken altbekannte Mechanismen sozialer Ungleichheit, d. h. auch die Eigenanteile der Heranwachsenden an ihrer Sozialisation entwickeln sich unterschiedlich. Im Zuge von Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen (siehe dazu Kapitel 2.3.4) sind die selbstbestimmten Spielräume zweifelsfrei größer geworden, aber Selbstsozialisation wird nicht ausschließlich von persönlichen Vorstellungen geleitet: „Fremd- und Selbstsozialisation können deshalb nur analytisch getrennt werden; die Handlungsmus68
2 Theoretische Überlegungen zur Sozialisation
ter und Sozialisationsprozesse der ‚selbsttätigen Subjekte‘ dürfen nicht von den strukturellen Gegebenheiten abstrahiert werden“ (Abels und König 2010: 236). Das Konzept der Selbstsozialisation kann dergestalt als Aufforderung verstanden werden, innerhalb der Sozialisationsdebatte den Eigenanteilen der Heranwachsenden (noch) mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Was hier einmal mehr deutlich geworden sein dürfte ist, dass alle Theoriemodelle ihre Stärken wie ihre Schwächen haben und als einzelnes Modell nicht alle Aspekte des Themenfeldes Sozialisation erfassen können. Gleichwohl forderte Tillmann (1990: 253) bereits Anfang der 1990er Jahre, dass eine Sozialisationstheorie zu entwickeln ist, „die von einem umfassenden Subjektverständnis und einer kritischen Sicht der Gesellschaft ausgeht und die ihre Kategorien innerhalb eines einheitsstiftenden Paradigmas entwirft.“ Eine solche integrale Theorie der Sozialisation müsste den Mikro-Makro-Dualismus überwinden und ein geteiltes Menschenbild stiften, was einerseits die Vorstellung wissenschaftlichen Fortschritts in Abrede stellen und andererseits den mannigfaltigen Perspektiven der Sozialwissenschaften nicht gerecht werden würde.
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3
Sozialisationsbereiche
Wie bereits bei der Beschäftigung mit den theoretischen Überlegungen zur Sozialisation deutlich wurde, sind (nicht nur) Heranwachsende in unterschiedliche Interdependenzgeflechte eingebunden. Solche Interdependenzgeflechte bzw. Gruppen oder soziale Kontexte, bei denen Menschen in ihrem Dasein aufeinander eingestellt und angewiesen sind und in denen Sozialisationsprozesse ablaufen, werden als Sozialisationsbereiche oder -instanzen bezeichnet. In allen Kulturen ist es vor allem die Familie, die als zentraler Sozialisationsbereich von Kindern gilt. Mit zunehmendem Alter kommen weitere Bereiche hinzu, gleichwohl wir hier ausführlich lediglich auf die Bereiche Schule und Jugendkulturen eingehen werden. Daneben spielen aber auch Medien oder Arbeitszusammenhänge eine immer größere Bedeutung als Sozialisationsbereiche bzw. -instanzen für Heranwachsende, ja im Grunde gibt es so viele Sozialisationsbereiche bzw. -instanzen, wie es Gruppen oder soziale Kontexte gibt, in denen Individuen große Teile ihres Lebens verbringen (vgl. Giddens 1995: 84ff.).
3.1
Familie
Die mit dem Begriff Familie bezeichneten Lebensformen nehmen für die Sozialisation eine herausragende Stellung ein, weil sie zum einen die personale Identität eines Menschen konstituieren und zum anderen zugleich kollektive und soziale Identitäten begründen. In allen Theorien und Forschungsarbeiten zur Sozialisation ist unstrittig, dass die Familie für den größten Teil der Heranwachsenden der zentrale Ort ist, „an dem sich Frauen und Männer, Eltern und Kind, junge Erwachsene und Alte treffen, miteinander leben, miteinander streiten. Niemand kann der Familie ausweichen, in wie unterschiedlichen Strukturen sie sich auch formiert. Durch die Herkunftsfamilie werden die Menschen in ihren Haltungen, Werten, Chancen massiv geprägt. Die eigenständig eingegangenen Beziehungen prägen Partner und Kinder, wirken aber auch auf die Älteren und auf die Gesellschaft als Ganzes zurück.“ (Erhalt 2011: 1)
A. Niederbacher, P. Zimmermann, Grundwissen Sozialisation, DOI 10.1007/978-3-531-92901-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Sozialisationsbereiche
Was alles mit dem Begriff Familie zu fassen versucht wird, ist gar nicht so einfach auf einen Nenner zu bringen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, weswegen es im folgenden Kapitel zunächst um eine Annäherung an den Begriff ‚Familie‘ geht. 3.1.1 Was ist eine Familie? Es gibt keine allgemein anerkannte Definition von Familie, weder im alltäglichen noch im wissenschaftlichen Diskurs. Lange Zeit dominierte die makrosoziologisch orientierte strukturfunktionalistische Sichtweise die wissenschaftliche Diskussion: Parsons betont in diesem Zusammenhang zwei ‚unabdingbare‘ Funktionen von Familie: Ihr kommt zum einen die Funktion als primäre Sozialisationsinstanz im Sinne der Einführung der Kinder in ihre Rolle als Gesellschaftsmitglied zu und zum anderen die Funktion, die Erwachsenenpersönlichkeit zu stabilisieren. Zur weiteren Bestimmung verwendet Parsons den Begriff ‚pattern variables‘ (vgl. Parsons 1951: 67). In ihnen sind all jene Werte repräsentiert, die sich in konkreten Rollenanforderungen wiederspiegeln. Für die Familie sind dies z. B. Werte wie die Emotionalität des Verhaltens oder die umfassende und fast unbegrenzte Bedeutung der Mutter. Parsons bezeichnet diese Wertorientierungen als ‚partikularistisch‘. Zudem gibt es ‚universalistische‘ Orientierungen. Gemeint sind damit Wertorientierungen, die im gesellschaftlichen Leben oder im Wirtschaftssystem gelten. Die Verknüpfung der beiden unterschiedlich orientierten Systeme – Familie und Gesellschaft – gelingt über den Vater, der als ‚Ernährer‘ der Familie an beiden Systemen partizipiert. Diese Beschreibung der Rollenbeziehung in der Familie wird heutzutage als nicht mehr zeitgemäß kritisiert, gleichwohl ist die theoretische Leistung von Parsons zur Analyse der Familie evident. Er hat sehr plausibel hergeleitet, wie die Rollendifferenzierung in der Familie im funktionalen Zusammenhang zu anderen gesellschaftlichen (Sub-)Systemen steht. Eine Grobtypisierung von Familie hat die Soziologin Rosemarie Nave-Herz (vgl. 1994) in die Diskussion eingebracht. Sie unterscheidet Drei-GenerationenFamilien (Großeltern, Eltern, Kinder), Eltern-Familien und Ein-Eltern-Familien (und hier wiederum Mutter- und Vater-Familien) (vgl. Nave-Herz 1988). Üblicherweise wird Familie dann im Weiteren als biologische, wirtschaftliche und geistig-seelische Lebensgemeinschaft von Eltern und ihren Kindern beschrieben (vgl. Hettlage 1998: 20). Sehr weit wird der Familienbegriff seit einigen Jahren vom Statistischen Bundesamt (kurz: Destatis) gefasst: „Als Familie im Sinne der amtlichen Statistik zählen – in Anlehnung an Empfehlungen der vereinten Nationen – Ehepaare ohne und mit Kind(ern) sowie alleinerziehende ledige, verheiratet getrenntlebende, geschiedene und verwitwete Väter und Mütter, die 72
3 Sozialisationsbereiche
mit ihren ledigen Kindern im gleichen Haushalt zusammenleben“ (Statistisches Bundesamt 1997). Des Weiteren wird zur Bestimmung dessen, was unter dem Begriff Familie verstanden werden kann, auch die Sichtweise der ‚Betroffenen‘ mit in die Analyse einbezogen. Der Familiensoziologe Hans Bertram (1991: 43) schreibt hierzu: „Familienmitglieder sind meist Verwandte, müssen es aber nicht sein. Aus der Sicht der Befragten sind jedoch nicht alle, die zur Familie gehören könnten, auch tatsächlich Mitglieder ihrer Familie. Andererseits werden Personen zur eigenen Familie gerechnet, die nach dem allgemeinen Verständnis nicht dazu gehören“
Dies Beschreibung von Familie stellt die ‚wahrgenommene‘ Familie in den Mittelpunkt. Eine solche Sichtweise ist bislang aber noch nicht umfassend in das wissenschaftliche Verständnis von Familie aufgenommen worden. Wenn in der Literatur zum Themenfeld Sozialisation von Familie gesprochen wird, dann ist in aller Regel ein Familienbild wie das von Nave-Herz oder vom Statistischen Bundesamt umrissene gemeint und es wird von einer so genannten Klein- bzw. Kernfamilie ausgegangen. Die deutschsprachige Familienforschung war lange Zeit durch den Dissens geprägt, zwischen individualisierungstheoretisch (siehe dazu Kapitel 2.3.4) beeinflussten Forschern, welche eine Pluralisierung der Familienformen prognostizierten, und Familienforschern, welche die weiterhin hohe Stabilität und Kontinuität der herkömmlichen Familienform hervorhoben (vgl. z. B. Burkart 2008: 14). Bei der Durchsicht aktueller Forschungsergebnisse zeigt sich denn auch, dass das Zusammenleben in ‚klassischen‘ Formen von Ehe und Familie von der Bevölkerungsmehrheit weiterhin geschätzt wird, gleichzeitig aber in einem doppelten Sinn seiner normativen Verbindlichkeit entkleidet ist: Insofern Familien biografisch später gegründet werden und eine Zunahme von Trennungen bzw. Scheidungen zu verzeichnen ist, sind erstens einer weiterhin häufig vorhandenen Zwei-Eltern-Familien-Phase vielfältige Lebensformen sowohl vor- als auch nachgelagert. Zweitens sind aber auch die Strukturen ‚klassischer‘ Zwei-Eltern Familien deutlich in Bewegung geraten: So ist beispielsweise in Folge der Bildungsexpansion, dem Wandel der Geschlechterrollen und dem Übergang zu einer Dienstleistungsgesellschaft eine Zunahme von Zwei-Verdiener Familien nachzuweisen, wie im Rahmen demographischer Veränderungen sich Beziehungen zwischen den Erwachsenengenerationen zumindest lebenszeitlich extensiviert, möglicherweise aber auch intensiviert haben. Demgemäß wird das Bild der neolokalen Klein- bzw. Kernfamilie vermehrt als reduktionistisch kritisiert und die wachsende Bedeutung multigenerationaler Bindungen in multilokalen Mehrgenerationenfamilien hervorgehoben. Die diagnostizierte Pluralisierung 73
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von Familienformen kann damit präziser als Diversifizierung familialer Lebensführung im Lebensverlauf gefasst werden (vgl. Bertram 2009: 18ff.). Aus der Perspektive von Familien bzw. Eltern bedeutet dies vor allem, dass die Entwicklung und Gestaltung einer familialen Lebensform zu einer individuell wie – im Rahmen der so genannten ‚Aushandlungsfamilie‘ (vgl. Ecarius 2007: 143f.) – gemeinschaftlich zu bewältigenden Aufgabe wird, der man sich insbesondere im Rahmen von familialen Übergängen immer wieder neu zuwenden muss (vgl. Bertram 2009). Die Vorstellung, Familie als alltäglich herzustellenden Sozialzusammenhang zu betrachten ist im englischsprachigen Kontext in Anlehnung an das sozialkonstruktivistische Konzept des doing gender (vgl. West und Zimmermann 1987) entwickelt worden und es ist folglich vom doing family die Rede (vgl. Finch 2007, Sarkisian 2006), während im deutschsprachigen Kontext unter Einbeziehung differenter Theorietraditionen zumeist von Familie als Herstellungsleistung gesprochen wird (vgl. Lange 2009). ‚Doing family‘ stellt jedenfalls einen Konzeptimport aus der Frauenforschung in die Familienforschung dar. Noch vor nicht allzu langer Zeit waren derartige Vorstellungen von Familie unbekannt. Ein Blick in die Geschichte soll dies verdeutlichen. 3.1.2 Zur Geschichte der Familie Um die Herausbildung der in der Gegenwartsgesellschaft dominanten Lebensform ‚Kleinfamilie‘ zu verstehen, müssen wir rund zweihundert Jahre zurückblicken. Die Familie war zu dieser Zeit mit der Hausgemeinschaft identisch. Jede Person war in diesem so genannten ‚ganzen Haus‘ in das gemeinsame Zusammenleben und Arbeiten eingebunden (vgl. Shorter 1977). Die Blutsverwandtschaft spielte hierfür keine Rolle. Der untrennbare Zusammenhang von Leben und Arbeiten war geprägt von der patriarchalischen Herrschaft des ‚Hausvaters‘. Diese war je nach der ökonomischen Bedeutung des Haushalts mehr oder weniger stark. Ehe und Familie ergaben sich aus sozialstrukturellen Zusammenhängen, d. h. geheiratet wurde nach Zugehörigkeit zu Stand, Zunft oder zur besitzenden ‚Klasse‘ (vgl. Rosenbaum 1982). Die Heirat diente dem Erhalt oder der Vergrößerung des ‚ganzen Hauses‘. Eine große Zahl der Erwachsenen konnte oder durfte überhaupt nicht heiraten. Ihnen fehlten es an Besitz, Erbe, Mitgift oder einem Beruf. Die Kirche und die weltlichen Obrigkeiten versuchten sogar Eheschließungen der ärmeren Bevölkerungsteile zu verhindern, indem sie für eine Heiratserlaubnis verschiedene Auflagen vorsahen – meistens Besitz oder eine bestimmte Geldsumme. Wurde in dieser Zeit eine Ehe geschlossen und eine Familie gegründet, dann war diese durch ein hohes Maß an Verlässlichkeit, Stabilität und Halt gekennzeichnet. Das garantierten die starke soziale Kontrol74
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le des Familienbandes, die sozialstrukturellen Auswahlprinzipien (Stände und Zünfte), aber auch die Notwendigkeit des gemeinsamen Erhalts der Familienwirtschaft zur Existenzsicherung. In den Familien waren die Grenzen zwischen Produktions- und Reproduktionsarbeit unscharf, d. h. das Familienleben war gleichzeitig auch Wirtschaftsleben. Oft wird mit dem Bild des ‚ganzen Hauses‘ auch die Vorstellung einer ‚Großfamilie‘ (Dreigenerationenhaushalt) als dominierendes Familienbild des vorbürgerlichen Zeitalters verbunden. Mittlerweile wird diese Vorstellung jedoch als ein Mythos beschrieben, denn niedrige Lebenserwartung, hohes Heiratsalter und hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit führten in der Regel nicht zur Herausbildung von Großfamilien (vgl. Peuckert 1996: 21). Vor allem im späten 18. und 19. Jahrhundert differenzierte sich im Bürgertum eine zeitliche und räumliche Trennung von Familienleben und Erwerbsarbeit heraus. Dies hatte auch Folgen für die Bestimmung dessen, was wir heute unter einer ‚modernen‘ Familie verstehen: „Während der ‚Hausstand‘ – das legale Konstrukt für die Sozialform des ‚ganzen Hauses‘ – in der Folge nicht mehr als systematischer Rechtsbegriff verwendet wurde, rückte das Ehe- und Familienrecht in den Vordergrund. Mit der ‚Entpolitisierung des Hausstandes‘ wurden die Individuen aus der hausherrlichen Gewalt entlassen. Das wurde durch die Aufhebung der Rechtswirksamkeit der Zünfte (Gewerbefreiheit), die Bauernbefreiung und neue Formen der Steuergesetzgebung unterstützt“ (Sieder 1987: 128).
An die Stelle des ‚ganzen Hauses‘ trat jetzt der Familienvater mit seiner Erwerbstätigkeit außer Haus (vgl. Sieder 1987: 28ff.). Damit einher ging die Herausbildung eines intimen und privaten familialen Binnenraumes als Basis des ‚bürgerlichen Familienmodells‘. Kennzeichen dieses Modells waren die ‚glückliche Familie‘, die ‚liebevolle Ehefrau‘ und die ‚gehorsamen Kinder‘ – eine Ideologie, die in der Realität widersprüchliche Folgen nach sich zog. Beispielsweise war die Frau nun nicht mehr Arbeitsgefährtin oder Wirtschaftsleiterin des ‚ganzen Hauses‘, sondern eben die ‚liebevolle Ehefrau‘, was nicht nur Fortschritt, sondern auch eine weitgehende Einschränkung des weiblichen Lebenszusammenhangs bedeutete. Familien mit diesem Rahmen von Emotionalisierung und Intimisierung waren jedoch – quantitativ gesehen – im 19. Jahrhundert noch eher selten. Historisch bedeutsam ist aber die Leitbildfunktion dieses Rahmens als normative Orientierung für die Gesamtgesellschaft (vgl. Peuckert 1996: 20ff.). Zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte das ‚bürgerliche Familienideal‘ nicht nur das familiale Zusammenleben des Bürgertums, sondern durchdrang mehr und mehr alle gesellschaftlichen Klassen. Es wurde damit letztlich auch 75
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zum Vorläufer des Bildes der ‚traditionellen‘ Familie im 20. Jahrhundert. Drei Aspekte dieser Entwicklung sind dabei von besonderer Bedeutung: Erstens: Mit dem Übergang vom ,ganzen Haus‘ zur ,privatisierten Familie‘ veränderte sich auch das Verhältnis der Ehepartner. Die Selbstverständlichkeit der Koppelung von nützlichen und vernünftigen Zwecken mit der Partnerwahl begann brüchig zu werden; es kam fortan eher darauf an, dass Frau und Mann gefühlsmäßig zueinander passten, d. h. sich liebten. Zweitens: Es entwickelte sich so etwas wie eine patriarchalische Binnenstruktur der Familie mit eindeutigen Rollenzuschreibungen. Diese Entwicklung wurde begleitet von einer „sentimentalen Auffüllung des innerfamiliären Bereichs“ (vgl. Weber-Kellermann 1976: 107). Die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert nach bürgerlichem Vorbild etablierende Familienform war in den 1960er Jahren für viele junge Menschen Anlass, neue Formen des Zusammenlebens zu ,entwickeln‘ und zu erproben. Drittens: Die gesellschaftlich durchgesetzte Norm des bürgerlichen Familienideals ermöglichte es nahezu allen Erwachsenen, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Die endgültige Befreiung von standesrechtlichen Beschränkungen fand für die moderne Familie in den 1960er Jahren ihren Abschluss (vgl. Sieder 1987: 280). Was bedeutet diese Entwicklung nun für Kinder und Jugendliche? Im ,ganzen Haus' der vorbürgerlichen Zeit war die Stabilität und der Charakter der Familie nicht an Personen gebunden. Kinder, verstanden als kleine Erwachsene, wuchsen ganz nebenbei im alltäglichen Getriebe auf und wurden früh zur Verrichtung anfallender Arbeiten mit herangezogen. Sie waren nie Mittelpunkt der Familie. Mit dem Entstehen des sozialen Konstrukts der ,Mutterliebe' im Kontext der bürgerlichen Familie weichen fortan Gleichgültigkeit und Desinteresse am Kind: Die Familie wurde kindzentriert. In der Gegenwartsgesellschaft ist eine gegenteilige Entwicklung zu verzeichnen, d. h. die Abnahme der Kindzentriertheit (vgl. von Trotha 1999: 229ff.). Aber noch weitere Entwicklungen berühren die familiale Sozialisation: Die normative Kraft von Ehe und Familie schwindet und alternative Lebensformen weichen in vielen Aspekten vom bislang dominanten Leitbild der Klein- bzw. Kernfamilie ab, fast jede zweite Ehe scheitert und die Perspektiven und Möglichkeiten von Frauen (Müttern) haben sich grundlegend geändert. Was diese und weitere Entwicklungen für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen bedeuten, wird im Kapitel 3.1.4 erörtert. Zunächst gehen wir jedoch auf einige Theorien ein, mit deren Hilfe Sozialisationsvorgänge in der Familie analysiert werden können.
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3.1.3 Theorien und Konzepte zur Sozialisation in der Familie Es gibt keine umfassende Theorie, mit der Sozialisationsvorgänge in der Familie erklärt werden können. Im Folgenden gehen wir auf sozialpsychologische, psychoanalytische und sozialökologische Theorieperspektiven näher ein, die uns als Bausteine für eine Analyse familialer Sozialisation dienen. Alle Theorien haben ihren Erklärungswert, wobei der sozialökologische Ansatz in der Erforschung familialer Sozialisation bislang am weitesten operationalisiert wurde. 3.1.3.1 Sozialpsychologische Zugänge Bei der Suche nach Antworten auf die Frage, welche Bedeutung die Familie als Ort des Zusammenlebens für die Beteiligten hat, können Studien aus dem Bereich der Sozialpsychologie herangezogen werden, bei denen das Beziehungsgefüge und das Miteinander in Familien im Zentrum der Analysen steht. Folgende Ansätze können dabei unterschieden werden (vgl. Hofer et al. 1992: 18ff): dimensionale Beschreibungsmodelle (1), rationale Theorien (2) und die Familienstresstheorie (3). (1) Dimensionale Beschreibungsmodelle: David H. Olson (vgl. 2000) geht bei seiner Beschreibung der möglichen Familienbeziehungen von zwei Dimensionen aus. Die eine Dimension bezeichnet er als Kohäsion. Die andere Dimension als Adaptabilität. Beide Dimensionen dienen ihm zur Erstellung einer typologischen Matrix des Familienklimas. Kohäsion bezieht sich dabei auf die Qualität des familialen Zusammengehörigkeitsgefühls und beschreibt die emotionale Nähe der Familienmitglieder zueinander. Adaptabilität bezieht sich auf die Flexibilität von Familienprozessen wie Machtstrukturen, Rollenverteilungen oder Kommunikationsmustern, und dient als Maß für die Anpassungsfähigkeit von Familien an veränderte strukturelle Rahmenbedingungen. Dergestalt gibt es Familien mit extremen Ausprägungen in den Dimensionen und es gibt balancierte Familien, die mit mittleren Ausprägungen aufwarten. Untersuchungen haben belegt, dass balancierte Familien über umfängliche kommunikative Fähigkeiten verfügen und besser mit Belastungen fertig werden. Anders ausgedrückt: Balancierte Familien bieten ein gutes Sozialisationsmilieu im Sinne eines positiven Familienklimas. Das Modell von Olson wurde häufig kritisiert, weil die Dimensionen empirisch nicht eindeutig unterscheidbar wären und ausgesprochen abstrakt sind. Gleichwohl ist dieses Modell das erste, welches Wechselwirkungsprozesse in der Familie theoretisch zu fassen versucht hat.
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3 Sozialisationsbereiche
(2) Rationale Theorien: Rationale Familientheorien basieren auf der Annahme bzw. auf dem Menschenbild, dass sich das Verhalten von Menschen als rationaler (Entscheidungs-)Prozess analysieren und erklären lässt. Familienbezogene Handlungen sind hiernach als Ergebnis von Entscheidungsprozessen aufzufassen, die vor dem Hintergrund folgender Fragen ablaufen: Welche Ressourcen und Alternativen stehen einem Menschen für eine Beziehung zur Verfügung und nach welchen Kriterien wird verglichen und entschieden? Lohnt es sich, Mitglied eines Familienhaushalts zu sein bzw. lohnt es sich, in einer anderen Haushaltsform zu leben? Diese Fragen stehen im Kontext der Annahme, dass Menschen das, was sie geben, immer in ein Verhältnis zu dem setzen, was sie erhalten können oder wollen. Studien konnten beispielsweise belegen, dass Eltern mit ihren Kindern einen bestimmten Nutzen verbinden (vgl. Nauck und Tölke 1995). ‚Nutzen‘ lässt sich dabei wie folgt klassifizieren (vgl. Hofer et al. 1992: 23): ökonomischer Nutzen – Mithilfe der Kinder im Haushalt und im Betrieb, Unterstützung im Alter, psychischer Nutzen – Stärkung familialer Beziehungen, die Freude, Kinder aufwachsen zu sehen und sozial-normativer Nutzen – Statusgewinn, Kompetenzen in der Elternrolle, Weiterführung des Familiennamens. Die Kenntnis solcher Nutzenerwartung ist bedeutsam für die Einschätzung der Sozialisation in der Familie, denn es lassen sich zum Beispiel Aussagen über einzelne Erziehungspraktiken treffen: „Bei Eltern mit ökonomischen Nutzenvorstellungen ist ein höheres Ausmaß von Behütung und Kontrolle, sowie eine stärkere Betonung von Gehorsam zu erwarten als beim Überwiegen von psychischen Nutzenvorstellungen. Umgekehrt werden Eltern, die vorwiegend expressive Beziehungen mit ihren Kindern anstreben, mehr Wert auf deren Selbständigkeit und Individualität legen. In interkulturell vergleichenden Studien zeigen sich deutliche Zusammenhänge zwischen Nutzenerwartungen und elterlichen Erziehungsstilen“ (Hofer et al. 1992: 23).
Berücksichtigt werden sollte gleichwohl, dass rationales oder Nutzen maximierendes Verhalten nur ein Sozialisationsfaktor unter vielen anderen ist. Emotionale und psychosoziale Prozesse werden in der rationalen Familientheorie gar nicht oder nur randständig berücksichtigt. Diese Aspekte beleuchtet eine dritte sozialpsychologische Familientheorie stärker, die den Stress als Einflussfaktor für die familiale Sozialisation hervorhebt.
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(3) Familienstresstheorie: Mit der Familienstresstheorie kann die Frage angegangen werden, wie die Sozialisation in der Familie von kritischen Lebensereignissen und Stress beeinflusst wird. Für die Definition eines Ereignisses ist die Unterscheidung wichtig, ob es sich um normalen oder außergewöhnlichen Stress handelt. Normaler Stress gestaltet sich über vorhersehbare Ereignisse wie z. B. die Einschulung oder den Auszug der Kinder aus dem Familienhaushalt. Außergewöhnlicher Stress entsteht über nicht erwartbare Ereignisse. Dies kann ein Lottogewinn, aber auch eine Krankheit, Arbeitslosigkeit oder eine Trennung sein. Normaler Stress wird in Familien als belastend erlebt, außergewöhnlicher Stress wird darüber hinausgehend als bedrohlich erlebt (vgl. Hofer et al. 1992: 25). Für die Analyse familialer Sozialisation ist in diesem Zusammenhang wichtig, welche Bewältigungsmöglichkeiten in der Familie bestehen, um das Organisationsniveau des Zusammenlebens zu erhalten oder wiederherzustellen. Die Bewältigungsmöglichkeiten sind von den vorhandenen Ressourcen abhängig. Damit sind erstens persönliche Ressourcen gemeint, d. h. das Bildungsniveau, die finanziellen Möglichkeiten, das Selbstwertgefühl oder die Bereitschaft, sich Hilfe zu verschaffen, zweitens ‚innere‘ Ressourcen, d. h. die Art und Weise des Umgangs mit sich selbst, mit anderen und mit der sozialen Umwelt und drittens außerfamiliale Ressourcen bzw. Unterstützungssysteme, d. h. Freunde, Nachbarn, Verwandte, aber auch das Gesundheitswesen oder Wohlfahrtsorganisationen. Grundsätzlich gilt es in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass je stärker „eine Person in ein soziales Beziehungsgefüge mit wichtigen Bezugspersonen innerhalb und außerhalb der Familie eingebunden ist, desto besser kann diese Person auch mit ungünstigen sozialen Lebensbedingungen, kritischen Lebensereignissen und andauernden Lebensbelastungen umgehen“ (Hurrelmann 1993: 240). Ob jetzt die Sozialisation in der Familie für die Kinder (und natürlich auch für die Eltern) eher persönlichkeitsstärkend oder eher -belastend einzuschätzen ist, hängt sehr stark vom Einsatz vorhandener Ressourcen und der Art und Weise sozialer Beziehungen ab. Die sozialen Beziehungen einer Familie werden als soziale Netzwerke bezeichnet. Die Untersuchung von solchen Netzwerken und der Bedingungen und Erscheinungsformen von Belastungen und Einschnitten im Familienleben ist ein wichtiges Thema der Sozialisationsforschung. Gerade die Umbrüche und Veränderungen der Familienstruktur in der Gegenwartsge-
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sellschaft stellen für Heranwachsende enorme Chancen aber eben auch Risiken für die Persönlichkeitsentwicklung dar. Im Kapitel 3.1.4 werden wir darauf noch näher eingehen. 3.1.3.2 Psychoanalytische Aspekte Den Grundstein zur psychoanalytischen Erforschung von Familienbeziehungen legte Freud (vgl. 1966) mit seinen Beobachtungen zur Entstehung von psychischen Störungen durch frühkindliche Erfahrungen in der Familie. Im Rahmen seiner Studien versuchte er zu belegen, dass die Persönlichkeitsentwicklung ausgesprochen stark von der frühen Mutter-Kind-Beziehung abhängt (vgl. Tomann 1989: 85f., Petzold 1999: 50f.). Vor allem in den ersten beiden Lebensjahren ist das Kind von der betreuenden Person – in aller Regel ist dies nach wie vor die Mutter – abhängig, d. h. es ist auf deren Präsenz angewiesen. Diese Abhängigkeitsphase (orale Phase; siehe dazu Kapitel 2.1.1) wird etwa ab dem zweiten Lebensjahr überwunden. Jetzt erfährt das Kind aber auch, dass es sich an Regeln in der Familie halten muss, dass auch die anderen Familienmitglieder Ansprüche haben und dass die Eltern bezüglich der Kontrolle der Ausscheidungsfunktionen bestimmte Vorstellungen haben. Diese Phase wird bekanntlich als anale Phase bezeichnet. Etwa ab dem vierten Lebensjahr erfasst das Kind in der oft zitierten Ödipusphase, dass es zwei Geschlechter gibt. Der Junge rivalisiert in dieser Phase mit dem Vater um die Gunst der Mutter, das Mädchen rivalisiert mit der Mutter um die Gunst des Vaters. Diese Konflikte und Auseinandersetzungen in der Familie werden erst dann beigelegt, wenn sich der Junge mit dem Vater und das Mädchen mit der Mutter identifiziert. In der psychoanalytischen Sichtweise zur familialen Sozialisation wird nun angenommen, dass „das Kind auf die Inhalte und Verläufe dieser Phasen in seinen Interessen, emotionalen Einstellungen und sozialen Beziehungspräferenzen bedeutsam und oft nachhaltig geprägt wird. Außerfamiliäre Beziehungen zu anderen Kindern und Jugendlichen, zu elternähnlichen Autoritätspersonen, zu Freunden vom gleichen und anderen Geschlecht sind Anwendungen und Erweiterungen der Kindheitserfahrungen im Familienverband. Auch der Umgang mit Dingen, Tieren, Pflanzen, Geräten und Aufgaben bleibt häufig in den Bahnen, die in der Kindheit und frühen Jugend eingeschlagen wurden“ (Tomann 1989: 87).
In Untersuchungen zur therapeutischen Praxis wird diese Sichtweise von Sozialisation häufig bestätigt und auch bei Freud selbst finden sich mannigfaltige Belege, wie aktuelles Verhalten aus frühkindlichen Erfahrungen gespeist wird. Im Rahmen der Forschung zur Sozialisation in der Familie ist das psychoanalytische Verständnis von Persönlichkeitsentwicklung in die Analyse von Einzelaspekten eingegangen und dient dabei häufig als Interpretationsfolie bei der
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Erklärung von Eltern-Kind-Konflikten. Weitaus umfänglicher wird gleichwohl auf das Modell der sozialökologischen Sozialisationstheorie rekurriert. 3.1.3.3 Familiale Sozialisation in sozialökologischer Sicht Bei der Erforschung und Analyse familialer Sozialisationsprozesse kommt dem sozialökologischen Ansatz – vermutlich wegen seiner Anschaulichkeit und dem Einbezug sozialpolitischer Erwägungen – eine große Bedeutung zu. Dieser Ansatz ist im Hinblick auf seinen Ertrag für die Familienforschung sehr breit rezipiert worden. Zudem bietet er auch geeignete Hinweise, Individualisierungstendenzen im Familienalltag sowie alte und neue soziale Ungleichheiten angemessen zu erfassen. Zur Erinnerung: Der sozialökologische Ansatz beruht auf einem Modell der Unterscheidung konzentrisch angeordneter Sozialisationskontexte, die von Bronfenbrenner als Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem bezeichnet werden (siehe dazu Kapitel 2.2). Auf die Familie bezogen, kann dieses Modell wie folgt skizziert werden (vgl. Petzold 1999: 80): Das Mikrosystem ist die gegenwärtig vorherrschende Klein- bzw. Kernfamilie, eingebunden in unterschiedliche soziale Strukturen (z. B. Beruf der Eltern, Wohnverhältnisse usw.). Das Mesosystem beschreibt die Beziehungen zu anderen Familien, zum Kindergarten oder zur Schule. Das Exosystem besteht aus Lebensbereichen, an denen die im Fokus stehende Person nicht selber partizipiert (z. B. der Betrieb des Vaters oder die Schule der Geschwister usw.). Das Makrosystem bezieht sich auf die Rahmenbedingungen der familialen Sozialisation. Diese Rahmenbedingungen bestehen beispielweise aus der Möglichkeit, familienergänzende Betreuungsformen zu wählen oder aus der Arbeitszeitgestaltung der Eltern (z. B. Halbtagsarbeit). Mit diesem Modell der verschiedenen Sozialisationskontexte können die unterschiedlichen Einflüsse auf das Leben in der Familie detailliert beschrieben werden. Der Familiensoziologe Kurt Lüscher hat – unter Berücksichtigung von Aspekten dieses Modells – drei Thesen zu den Kernbereichen familialer Sozialisation formuliert: „Genetische Anlagen und Umwelteinflüsse ‚multiplizieren‘ sich gegenseitig in dem Sinne, dass günstige (familiäre) Lebensverhältnisse wesentlich dazu beitragen, das biologische Potential des Individuums optimal zu entfalten. Die Erziehungsleistungen von Eltern sind wesentlich davon abhängig, in welchem Ausmaß diese von ihrer sozialen Umwelt anerkannt und unterstützt werden. Die 81
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Entwicklung des Individuums wird wesentlich nicht durch einzelne Ereignisse, sondern durch spezifische, sein soziales Milieu kennzeichnende Sequenzen von Entwicklungsübergängen sowie von Lebenslaufmustern beeinflusst“ (Lüscher et al. 1989: 98).
Das sozialökologische Modell und die von Lüscher daraus abgeleiteten Thesen weisen auf die vielfältigen Einflussfaktoren familialer Sozialisation hin. Diese Vielfalt lässt sich zur besseren Übersicht zwei relativ umfassenden Analyseeinheiten zuordnen, zum einen der familienspezifischen Umwelt und zum anderen dem innerfamiliären Sozialisationsgeschehen. Beide Bereiche sind wechselseitig aufeinander bezogen. Die familienspezifische Umwelt lässt sich, dem sozialökologischen Ansatz zufolge, im Hinblick auf zwei Komponenten unterscheiden. Das ist zum einen die materielle Ausstattung des Nahraums (z. B. Wohngebäude, infrastrukturelle Einrichtungen) und zum anderen die soziale Zusammensetzung des Nahraums (z. B. Alter, Geschlecht, sozialer Status). Beide Komponenten zusammen ergeben den potentiellen Erfahrungsbereich einer Familie. Soziale Ungleichheiten ergeben sich hierbei aus den ungleich verteilten Möglichkeiten, Anteile aus den beiden genannten Komponenten für die Gestaltung des eigenen Lebens zu nutzen. Hieraus ergibt sich wiederum der aktuelle Erfahrungsbereich einer Familie. In der Auseinandersetzung mit potentiellen und tatsächlichen Erfahrungsbereichen lassen sich drei Dimensionen unterscheiden: Anregungsdimension – Hiermit sind Faktoren in der Umgebung der Familien gemeint, die Lern- und Erfahrungsräume eröffnen (z. B. Art und Umfang der Freizeitmöglichkeiten, Vielfalt und Häufigkeit der Sozialkontakte, Größe und Art der Wohnung usw.). Belastungsdimension – Darunter sind all jene Dinge zu verstehen, welche die Lebensqualität beeinträchtigen können (z. B. Straßenlärm, nahegelegene Industriegebiete oder enge Wohnverhältnisse usw.). Deprivationsdimension – Hierunter wird der entgegengesetzte Pol der Anregungsdimension verstanden, d. h. ein defizitäres Anregungsangebot. Der Erfahrungsbereich einer Familie ist dementsprechend eher durch Monotonie und Anregungsarmut geprägt. Das innerfamiliäre Sozialisationsgeschehen ist nun zum einen davon abhängig, wie sich die Erfahrungsbereiche von Kindern und Eltern überlappen (profitieren Eltern und Kinder mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen beispielsweise von82
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einander) und zum anderen davon, wie sich die Erfahrungsbereiche auf Gefühle und Stimmungslagen auswirken, d. h. auf die psychische Erlebnisqualität. Das Sozialisationsgeschehen in der Familie ist des Weiteren davon abhängig, wie das Erziehungsverhalten der Eltern, die Beziehung zwischen den Elternteilen selbst und das Familienklima insgesamt ausgestaltet ist. Diese drei Faktoren werden wiederum von den Persönlichkeitsmerkmalen der Eltern beeinflusst. Deutlich sollte geworden sein, wie vielfältig die Einflussfaktoren auf familiäre Sozialisationsprozesse sind und wie diese miteinander verknüpft sind. Die hierbei zu konstatierenden Entwicklungen und Veränderungen beziehen sich sowohl auf die Kinder als auch auf die Erwachsenen und stehen in mehrfachen wechselseitigen Zusammenhängen. Die Analyse dieser Zusammenhänge steht im Mittelpunkt einer sozialökologisch ausgerichteten Familienforschung. 3.1.4 Familiale Sozialisation im Zeitalter von Pluralisierung und Individualisierung In den 1950er Jahren bestand die amerikanische Familie aus einem erwerbstätigen Vater, einer Mutter als Hausfrau und zwei oder mehr Kindern. Das galt für über 60% aller amerikanischen Haushalte. In ganz Europa verhielt es sich so, dass 90% aller Menschen, die zwischen 1930 und 1945 geboren wurden, heirateten und zum überwiegenden Teil auch Kinder bekamen (vgl. Sieder 1987: 256). Heute wissen wir, dass damit der Höhepunkt einer ‚Familialisierung‘ erreicht war. Seit den 1960er Jahren zeigen die familienstatistischen Trends in eine andere Richtung: Die Eheschließungszahlen sinken, die Scheidungsrate nimmt zu, die Anzahl kinderloser Ehen steigt, die Anzahl alleinerziehender Eltern wächst und Kinder wachsen vermehrt ohne Geschwister auf. Die genannten Entwicklungen stützen die These der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen. Wenn traditionelle Wege der Lebensgestaltung in Frage gestellt werden – und dies ist eine zentrale Aussage des Individualisierungstheorems (siehe dazu Kapitel 2.3.4) – dann ist hiervon insbesondere die Ehe und die Familie ‚betroffen‘, weil Ehe und Familie bislang auf eine langfristige Planung hin ausgerichtet waren und als Orientierungsmuster im Sinne einer ‚Normalbiographie‘ galten. Tatsächlich weisen statistische Daten aber darauf hin, dass neben die lange Zeit dominierende Klein- bzw. Kernfamilie andere Lebensformen getreten sind, seien es Einpersonenhaushalte, Lebensabschnittpartnerschaften, Alleinerziehende oder Ehepaare ohne Kinder. Die folgende Abbildung zeigt die prozentuale Verteilung solcher Lebensformen in Deutschland (vgl. Engstler 1998). Einen bedeutenden Anteil nehmen im Vergleich zur ‚traditionellen‘ Familie (Ehepaare mit Kindern) insbesondere Ehepaare ohne Kinder und Einpersonenhaushalte ein. 83
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Tabelle 1 Ehepaare mit Kindern
27%
Ehepaare ohne Kinder
25%
Einpersonenhaushalte von Frauen
21%
Einpersonenhaushalte von Männern
14%
Alleinerziehende
5%
Nichteheliche Lebensgemeinschaften ohne Kinder
4%
Familien mit nicht mehr ledigen Kindern
1%
Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern
1%
Sonstige ohne Kinder
1%
Haushalte mit drei und mehr Generationen
1%
Die Pluralität der Lebensformen begründet sich aber nicht nur über statistische Daten, sondern auch über die individuelle Sichtweise der ‚Betroffenen‘. Dieser liegen unterschiedliche Orientierungen im Rahmen von gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen zugrunde. Der Familienforscher Mathias Petzold (vgl. 1999: 36) unterscheidet drei Reinformen familienorientierter Lebensentwürfe: Normorientierung am Ideal einer Vater-Mutter-Kind-Familie, Familienleben mit Ehe und Partnerschaft als Basis und Familienleben als Realisierung von Elternschaft. Die Individuen orientieren sich mit ihren Lebensentwürfen an einer dieser drei Dimensionen oder kombinieren die drei Dimensionen in unterschiedlicher Weise. Im Sinne eines heuristischen Modells veranschaulicht Petzold (vgl. 1999: 37) dies in einer graphischen Darstellung:
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Abbildung 8
In den Kreisen stellen B, E und F Reinformen der Lebensentwürfe dar, A, C, D und G sind als Formen der Kombination unterschiedlicher Aspekte der Lebensentwürfe zu verstehen. Die folgende Tabelle fasst die familialen Lebensentwürfe zur besseren Übersicht beschreibend zusammen (vgl. Petzold 1999: 37): Tabelle 2 Familienform
Beispiele
A
normale Klein- bzw. Kernfamilie
traditionelle Vater-Mutter-Kind-Beziehung
B
Familie als normatives Ideal
Alleinstehende mit Orientierung an einem normativen Familienideal
C
kinderlose Paarbeziehung
unfreiwillig oder aufgrund eigener Entscheidung kinderlose Paare
D
nichteheliche Beziehung mit Kindern (aber mit normativem Familienideal)
moderne Doppelverdiener-Familie mit Kind(ern)
E
postmoderne Ehebeziehung ohne Kinder (aber mit Normorientierung)
auf Berufskarriere und intime Partnerschaft bezogene Ehe ohne Kinder
F
nichteheliche Elternschaft ohne Orientierung an einer Idealnorm
Wohngemeinschaften mit Kindern, Ein-Eltern-Familien
G
Verheiratete Paare mit Kindern (aber ohne normatives Ideal)
alternativ orientierte Eltern, die dennoch verheiratet sind
Je nach Perspektive der Individuen haben diese sieben Orientierungen nur eine beschränkte Gültigkeit. Die Darstellung soll ja auch – wie schon erwähnt – nur heuristischen Charakter haben, d. h. sie stellt ein Instrument zum Auffinden bzw. 85
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Entdecken vielfältiger Lebens- und Familienentwürfe dar. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass im Lebensverlauf unterschiedliche Lebensentwürfe ‚entwickelt‘ und gelebt werden können. Es geht also nicht nur um ein NebeneinanderExistieren verschiedener Lebens- oder Familienentwürfe, sondern auch um die Möglichkeit der Veränderung bzw. Neujustierung des eigenen Lebens, also um das Leben in eigener Regie. Das bedeutet aber auch, dass Erwachsene wie auch Kinder und Jugendliche verstärkt Umstellungs- und Koordinationsleistungen hinsichtlich der Gestaltung des eigenen Lebens erbringen müssen. Mit dem Wandel der äußeren Gestalt und der subjektiven Wahrnehmung von Familie hat sich auch das innere Beziehungsgeflecht familialer Lebensformen verändert. Gleichberechtigungsansprüche von Frauen bringen traditionelle Geschlechterhierarchien ins Wanken, was unter anderem zu erheblichen Irritationen bei der Beziehungsgestaltung von Paaren führen kann. Paarbeziehungen sind weit weniger durch traditionelle, geschlechtsspezifische Rollenbilder gekennzeichnet, sondern werden vermehrt über Aushandlungsprozesse gestaltet, wobei durch unterschiedliche Ansprüche Konflikte oftmals vorprogrammiert sind. Dergestalt sind die nach wie vor steigenden Scheidungsraten auch ein Indiz für bzw. eine Folge von Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen und den damit einhergehenden Wünsch- und Machbarkeiten. 3.1.4.1 Wandel der Eltern-Kind-Beziehungen Die Eltern-Kind-Beziehung verändert sich beständig. Die Entscheidung für ein Kind wird in westlichen Gesellschaften heutzutage nicht mehr aus Gründen der Altersversorgung, der Weiterführung des Familienbetriebs oder des -namens getroffen. Kinder stellen vielmehr eine luxuriöse Investition dar, die aufgrund persönliche Entscheidungs- und Abwägungsprozesse (z. B. Bilanzierung im Hinblick auf berufliche, private und finanzielle Kriterien) getätigt wird, d. h. der Wert von Kindern hat sich auf immaterielle Erlebnisbereiche (emotionale und biographische Lebensqualität) verlagert und für die Eltern gibt es in der Regel auch ein (‚neues‘) Leben nach den Kindern. Die genannten Aspekte wirken sich auf die (Persönlichkeits-)Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus. Der Nachwuchs wird schon sehr früh von seinen Eltern nicht nur als eigenständige Person mit eigenen Interessen und Bedürfnissen anerkannt, sondern darin in der Regel auch bestärkt und unterstützt. Damit verändern sich die Akzente im Umgang miteinander und im elterlichen Erziehungsstil. Eltern treten ihren Kindern eher als Partner gegenüber. Die Beziehungen sind dadurch nicht mehr über vorgegebene Rollenerwartungen definiert, sondern sind nun verstärkt einem Prozess des Aushandelns unterworfen. Beck (1986: 193f.) zufolge ist die Entscheidung für ein Kind auch ein treffendes Beispiel für die Ambivalenzen der Individualisierung: 86
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„Einerseits wird das Kind Hindernis im Individualisierungsprozeß. Es kostet Arbeit und Geld, ist unberechenbar, bindet an und würfelt die sorgfältig geschmiedeten Tages- und Lebenspläne durcheinander. Mit seinem Erscheinen entwickelt und perfektioniert das Kind seine ‚Diktatur der Bedürftigkeit‘ und zwingt mit der nackten Gewalt seiner Stimmbänder und dem Leuchten seines Lächelns den Eltern seinen kreatürlichen Lebensrhythmus auf. Gerade dies macht es auf der anderen Seite aber auch unersetzlich. Das Kind wird zur letzten verbliebenen, unaufkündbaren, unaustauschbaren Primärbeziehung. Partner kommen und gehen. Das Kind bleibt. Auf es richtet sich all das, was in die Partnerschaft hineingesehnt, aber in ihr unauslebbar wird […]. Das Kind wird zur letzten Gemeinsamkeit, die die Menschen gegen die ihnen entgleitenden Liebesmöglichkeiten errichten können.“
Kinder ziehen Einschränkungen nach sich, denn wo sie sich mit ihren spontanen Bedürfnissen durchsetzen dürfen, entsteht auch Mehrarbeit für die Eltern. Aber die Bedeutung von Kindern als ‚unaufkündbare Primärbeziehung‘ für die Erwachsenen ist nach wie vor gegeben, gleichwohl sich der Wert von Kindern – wie bereits erwähnt – von ökonomischen Erfordernissen hin zu immateriellen Erlebnisbereichen gewandelt hat. Der Kinderwunsch ist also nach wie vor lebendig, gleichwohl die meisten Paare davor zurückschrecken, mehrere Kinder zu zeugen, um Mehraufwand und Kosten zu beschränken. Die Kindzentrierung, der Bedeutungszuwachs von Kindern und die Zunahme von Emotionalität und partnerschaftlicher Kommunikation in der ElternKind-Beziehung erzeugen aber auch Probleme. Durch die Exklusivität dieser Beziehung wird der Ablösungsprozess zwischen Eltern und Kindern schwieriger. Aufgrund der Aufrechterhaltung einer starken gefühlsmäßigen und mit Sinngebung verknüpften Bindung an das Kind, können viele Eltern nicht ,loslassen‘ und finden nicht den richtigen Rhythmus bzw. Zeitpunkt für den Ablösungsprozess und das ,Entlassen‘ der Kinder in die Selbständigkeit – das bedeutet nun nicht, dass Eltern nicht auch ,frei-sein‘ wollen und sich auf das Leben nach den Kindern freuen; sie wollen aber eben auch nicht ,allein-sein‘. Solche psychosozialen Abhängigkeiten einerseits und die umfänglichen Möglichkeiten der Kinder andererseits, ihr Leben in eigener Regie zu gestalten, birgt vielerlei neuer Belastungs- und Konflikterfahrungen. Kommt noch der Umstand hinzu, dass ein Kind – was in der Gegenwartsgesellschaft weit verbreitet ist – ohne Geschwister aufwächst, konzentriert sich die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern auf dieses eine Kind, was die beschriebenen Probleme potenziert. In dieser Situation wissen manche Eltern nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen. Unsicherheit und Ratlosigkeit machen sich breit. Ein Vorgang, der typisch ist für hochindividualisierte Gesellschaften. Ein Indiz dafür und eine typische Reaktion darauf ist der mittlerweile unüberschaubare Markt an Bera-
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tungsangeboten für Familien und die umfängliche Ratgeberliteratur zum Thema Erziehungsfragen (vgl. Lindau-Bank und Zimmermann 1998). Es ist noch nicht absehbar, wie sich die Wandlungsprozesse der Eltern-KindBeziehung auf die Sozialisation von Heranwachsenden letztendlich auswirken. Es zeichnet sich jedoch ab, dass der Ablösungsprozess von Jugendlichen mannigfaltige Schwierigkeiten mit sich bringt und (nicht nur deshalb) eine deutliche Ausweitung der Lebensphase Jugend zu verzeichnen ist (siehe dazu Kapitel 3.3). Müssen einige Fragen zur Ausgestaltung familialer Sozialisationsprozesse unter Modernisierungsbedingungen noch offen bleiben, so gibt es dagegen zum Wandel der ,äußeren‘ Gestalt und dessen Auswirkungen auf die Sozialisation weitaus mehr Erkenntnisse, um deren Erläuterung es in den folgenden Kapiteln gehen wird. 3.1.4.2 Die Sozialisation von Kindern erwerbstätiger Mütter Die Veränderung der Situation bzw. der Möglichkeiten von Frauen im Zuge des Modernisierungsprozesses zeigt sich sehr deutlich in deren zunehmender Erwerbstätigkeit. Dabei spielt das Einkommen nicht zwingend die entscheidende Rolle. Frauen wollen auch wegen der Unabhängigkeit vom Partner, wegen der Kontaktmöglichkeiten am Arbeitsplatz und wegen der Möglichkeit der Selbstbestätigung einen Beruf ausüben (vgl. Bertram 1995). Auch geht es nicht um ein ,entweder Familie oder Beruf‘, sondern um die Vereinbarkeit beider Lebensbereiche. Im Jahr 2008 waren in Deutschland rund sechs von zehn Frauen mit Kindern unter 15 Jahren erwerbstätig (vgl. Destatis 2010). Eine solche Doppelorientierung der Frau ist mittlerweile auch gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Lange Zeit war die Erwerbstätigkeit der Mutter ein beliebtes, oftmals kurzschlüssiges Argument, um Störungen der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern zu begründen. Kurzschlüssig ist dieses Argument, wenn die Zeitdauer, die eine Mutter mit dem Kind verbringt, aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit als zu gering angesehen wird und damit dem Aspekt Zeit eine besonders bedeutsame Sozialisationswirkung beigemessen wird. In ihrer Arbeit über mütterliche Berufstätigkeit kommt Ursula Lehr (vgl. 1975) bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu dem Schluss, dass für die Erziehung von Kindern nicht die mit ihnen verbrachte Zeit, sondern die Einstellung und die Persönlichkeit der Eltern der entscheidende Faktor ist. Mütter, die den ganzen Tag mit ihrem Kind verbringen, können sich ausgesprochen belastend auf die Entwicklung von Kinder auswirken; im Gegensatz zu Müttern, die sich ‚lediglich‘ einige Stunden um ihr Kind kümmern, ihnen dafür aber umso mehr Aufmerksamkeit widmen. Aber auch diese Feststellung ist nicht ohne weiteres verallgemeinerbar. Es kommt nämlich darauf an, ob die betreffende Mutter freiwillig oder unfreiwillig zu Hause bleibt und ob sie tatsächlich den Wunsch hat, arbeiten zu gehen 88
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oder lieber bei ihrem Kind bleiben würde. Im einen Fall kann es zu unausgesprochenen Vorwurfshaltungen gegenüber dem Kind kommen, im anderen Fall kann die Mutter-Kind-Beziehung mit Schuldgefühlen belastet werden. Die zunehmende Erwerbstätigkeit von Müttern hat in der Tat zwei Seiten: Zum einen verwirklichen Frauen – wie oben schon erwähnt – neben der Kindererziehung ihren Wunsch, im Beruf zu bleiben oder wieder arbeiten zu gehen, zum anderen arbeiten viele Frauen natürlich auch gezwungenermaßen aus finanziellen Gründen. Ob sich die Erwerbstätigkeit von Müttern (oder von alleinerziehenden Vätern) nun negativ oder positiv auf die Sozialisation der Kinder auswirkt, kann mit den bislang vorliegenden Forschungsergebnissen nicht eindeutig beantwortet werden. Es liegen jedoch vielfältige Erkenntnisse zu Teilaspekten vor. Im Rahmen von kinderpsychologischen Studien wurde beispielsweise der Zusammenhang von mütterlicher Erwerbstätigkeit, der damit zumeist verknüpften außerfamilialen Betreuung, und der kindlichen Sozialisation untersucht. Wassilios E. Fthkenakis (vgl. 1989) hat die Rahmenbedingungen, unter denen eine außerfamiliale Betreuung organisiert wird, untersucht. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei den Aspekten Stabilität (Verweildauer der Kinder) und Qualität (Ausbildungsniveau der Beschäftigten) der Pflegebedingungen zu. Bei gut ausgebildeten Betreuungspersonen und entsprechend gut ausgestatteten Betreuungsstätten kann von einer Förderung der intellektuellen und der sozialen Entwicklung ausgegangen werden. Die Bedeutung des Einflusses einer qualifizierten Betreuung (gerade im Vorschulalter) wird auch von einer anderen Studie herausgestellt. Als Rahmenbedingungen einer erfolgreichen außerfamilialen Betreuung wird unter anderem auf die Erarbeitung von praxisfähigen Konzepten zur Gestaltung der Eingewöhnungssituation hingewiesen, was darauf schließen lässt, dass durch gut abgestimmte Eingewöhnungsphasen Risiken der Fremdbetreuung verringert werden können (vgl. Laewen 1989). Günstige Rahmenbedingungen vorausgesetzt, lassen sich für die soziale und intellektuelle Entwicklung von Kindern in außerfamilialen Betreuungseinrichtungen reichlich positive Effekte aufführen. Kinder erwerbstätiger Mütter entwickeln beispielsweise stärker partnerschaftliches Denken und ein positiveres Bild der weiblichen Geschlechterrolle. Fremdbetreute Kinder unterscheiden sich vor allem in zwei Dimensionen von Kindern, die zu Hause aufgewachsen sind: Zum einen zeigen sie positivere Beziehungen zu Gleichaltrigen, zum anderen wurden Unterschiede in der Häufigkeit positiver Interaktionen, in der Komplexität des Spiels, im sozialen Vertrauen, im Interesse an Gleichaltrigen und in der Beliebtheit bei Gleichaltrigen festgestellt. Ähnlich positive Ergebnisse erbrachte die viel diskutierte Untersuchung des Modellprojekts ‚Tagesmütter‘. Die im Rahmen dieses Projekts untersuchten Kinder zeigten hinsichtlich der 89
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emotionalen Entwicklung und der Intelligenzentwicklung keine Auffälligkeiten im Vergleich zu Kindern, die von der eigenen Mutter betreut wurden. Aber auch in dieser Untersuchung wird auf eine wichtige Rahmenbedingung hingewiesen: „Die Zufriedenheit der Mutter mit ihrer Situation als Frau, ihre Sicherheit, mit der sie ihre eigenen Interessen, Berufstätigkeit und Mutterrolle balanciert, beeinflusst die Entwicklung des Kindes und die Mutter-Kind-Beziehung langfristig stärker als die Umstände der Betreuungsform“ (Gudat 1982: 194).
Allen Untersuchungen gemeinsam ist unseres Erachtens, dass sie zu vorschnellen Schlussfolgerungen verführen. Gerade bei Forschungsfragen zu emotionalen Aspekten sind die Studien mit Vorsicht zu genießen, denn sie versuchen in Laboruntersuchungen durch die Befragung der Mütter zu einer Einschätzung der Mutter-Kind-Beziehung zu gelangen. Zudem liegen bislang keine Ergebnisse – weder im positiven noch im negativen Sinne – zu den (innerpsychischen) Auswirkungen einer außerfamilialen Betreuung von Kindern vor. Verstärkt wird daher in letzter Zeit eine Neuorientierung der empirischen Vorgehensweisen eingeklagt. Bislang wurden nämlich kaum Einflussfaktoren über die Tagesbetreuung hinaus beachtet und nur unzureichend nicht-standardisierte Erhebungsinstrumente in Anschlag gebracht. Anders ausgedrückt: Der Tagesablauf von Kindern sollte nicht in einzelne Teilsequenzen untergegliedert, sondern einer Gesamtbetrachtung und -analyse unterzogen werden. 3.1.4.3 Aufwachsen als Einzelkind In der öffentlichen Meinung werden Einzelkinder immer noch mit Vorurteilen im defizitären Sinn konfrontiert: Sie seien altklug, eigensinnig, schwierig und nicht in der Lage, zu teilen. Dieses Meinungsbild steht nicht im Einklang mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien zum Thema ‚Aufwachsen als Einzelkind‘. Cécile Ernst und Jules Angst haben Einzelkinder und Kinder mit unterschiedlicher Geschwisterzahl und Stellung (z. B. erstgeborenes Kind, mittleres Kind usw.) Persönlichkeitstests unterzogen und diese miteinander verglichen. Sofern Kinder im ‚gleichen‘ sozialen Milieu aufwachsen, dann unterscheiden sich Einzelkinder in Bezug auf ihr Selbstbewusstsein, ihre Kooperationsfähigkeit, ihre Verantwortungsbereitschaft, ihre Schulleistung und ihre Anfälligkeit für psychische Krankheiten nicht von Kindern mit Geschwistern (vgl. Ernst und Angst 1983). Thomas von Kürthy (vgl. 1988) kommt in seiner repräsentativen Befragung von Studierenden zu dem Ergebnis, dass Einzelkinder insgesamt selbstständiger, idealistischer, aufgeschlossener, ernsthafter, selbstsicherer und zärtlicher, aber auch streitsüchtiger und egoistischer seien. Auch die Ergebnisse einer großangelegten Studie von Judith Blake (vgl. 1989) weisen auf positive
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Effekte hin: Einzelkinder haben mehr Zeit für die Ausbildung als Kinder mit Geschwistern, beweisen bessere sprachliche Ausdrucksfähigkeit, haben mehr Anregungen durch Reisen, nehmen öfter Führungspositionen ein und werden von Kolleginnen und Kollegen als wesentlich geselliger im Vergleich zu Geschwisterkindern beschrieben. Einige Studien weisen zudem darauf hin, dass Einzelkinder in ihren kognitiven Leistungen weiter entwickelt sind als Kinder mit Geschwistern. Auch Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung von Einzelkindern seien nicht belegbar (vgl. Rollin 1990, Kasten 1999 und 2007). Mit solchen Ergebnissen wird das eingangs beschriebene Meinungsbild über die Defizite von Einzelkindern zwar relativiert, doch zur umfänglichen Beschreibung des Aufwachsens, der Lebenswelt von Einzelkindern können sie aufgrund der methodischen Anlage (standardisierte Fragebogenerhebung) nicht beitragen. Eine Besonderheit des Aufwachsens als Einzelkind liegt zweifelsohne in der Art der Sozialkontakte. Vor dem Kindergartenalter gibt es verschiedene Möglichkeiten: Einmal kann das Einzelkind allein aufwachsen und muss mit keinem anderen Kind teilen oder sich streiten und sich durchsetzen; oder es hält sich tagsüber in einer Kinderkrippe bzw. Tagespflegestelle auf und ist dann in der Regel mit gleichaltrigen Kindern zusammen. Hier erlebt das Einzelkind schon sehr früh das Problem von Konkurrenz und Rivalität. Das Geschwisterkind hingegen ist üblicherweise mit einem älteren oder jüngeren Kind zusammen, wobei Rivalitäten sicherlich nicht ausgeschlossen werden können, doch besteht eher die Chance, Hilfe zu bekommen oder zu geben und Verantwortung füreinander zu übernehmen, d. h. auch Solidarität zu üben. Im Kindergartenalter sind Einzelkinder ebenfalls zumeist mit Kindern gleichen Alters zusammen, denn es kann davon ausgegangen werden, dass der größte Teil aller Heranwachsenden einen Kindergarten besucht. Auch Einzelkinder haben demnach durchweg Kontakte zu anderen Kindern. Diese Sozialkontakte sind aber nicht mit Geschwisterkontakten vergleichbar, denn im Kindergarten sind die Heranwachsenden ständig unter der Kontrolle von Erwachsenen. Zu Hause können sich Kinder zurückziehen oder nach draußen gehen, wenn sie sich der Kontrolle ihrer Eltern entziehen wollen. Im Kindergarten haben Heranwachsenden diese Möglichkeiten des unkontrollierten Umgangs nicht. Zudem bleiben die Sozialkontakte im Kindergarten in der Regel immer an die Gesamtgruppe gebunden. Nach der Kindergartenzeit sind Einzelkinder auf die Schule angewiesen, um Freundschaften zu schließen. Die Schule wird angesichts abnehmender Straßensozialisation und zahlreicher Einzelkinder zum zentralen Ort der Freundschaftsbildung und der Aufnahme von Kontakten (vgl. PreussLausitz 1993). Die wachsende Zahl von Einzelkindern kann zukünftig (für Kinder wie auch gesamtgesellschaftlich) ein Zurückgehen von Verwandtschaftskontakten bedeu91
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ten. Das heißt, dass die Sozialkontakte zu Tanten, Onkeln, Cousinen oder Neffen der den Einzelkindern nachfolgenden Generationen fehlen werden. Doch, wie bereits angedeutet, sind dies bloße Vermutungen, die nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen herangezogen werden sollten (vgl. Blöchlinger 2008). 3.1.4.4 Die Sozialisation von Scheidungskindern In den letzten drei Jahrzehnten ließen sich im Vergleich zu den 1960er Jahren mehr als doppelt so viele Paare scheiden. Hält die gegenwärtige Scheidungshäufigkeit an, so kann davon ausgegangen werden, dass fast jede dritte Ehe auch wieder geschieden wird (vgl. Statistisches Bundesamt 1997: 37). Scheidungen werden mittlerweile auch nicht mehr als zu sanktionierendes Vergehen betrachtet. Trotz abnehmender gesellschaftlicher Diskriminierung ist eine Scheidung der Eltern für die betroffenen Kinder aber immer noch eine Verlusterfahrung und ein trauriges sowie nicht selten ein dramatisches Ereignis. Eine der ersten Längsschnittstudien zur Sozialisation von Scheidungskindern wurde Ende der 1980er Jahre veröffentlicht. Judith Wallerstein und Sandra Blakeslee (vgl. 1989) haben von 1971 bis 1986 insgesamt 131 Scheidungskinder in 60 Familien der amerikanischen Mittelschicht beobachtet und befragt. Die Autorinnen merken an, dass für Eltern die Scheidung eine Befreiung aus einer untragbaren Situation darstellen mag, auf Kinder trifft dies jedoch in der Regel nicht zu: Auch wenn Scheidungskinder nach Jahren die Entscheidung der Eltern gutheißen, so berichten sie gleichwohl von Gefühlen des Leidens und vom Mangel an Geborgenheit. Fast alle Kinder schildern zudem, dass ihre Kindheit und ihre Pubertät von der Scheidung überschattet wurde. Die Mehrzahl der von den beiden Wissenschaftlerinnen untersuchten Kinder berichten, dass sie sich als Teenager psychisch und emotional im Stich gelassen gefühlt haben. Gerade in der Pubertät wurden sie von inneren Zweifeln und von Zukunftsängsten gequält. Ein weiterer Aspekt sollte unter sozialisatorischen Gesichtspunkten besonders hervorgehoben werden: Das Scheitern der elterlichen Ehe dominiert noch nach 15 Jahren die eigene Beziehungsgestaltung der Kinder. Die Scheidungskinder spürten als junge Erwachsene, dass ihnen das Modell einer liebevollen und dauerhaften Partnerschaft fehlte, obwohl es gerade ihr Ziel war, mit allen Kräften eine dauerhafte Liebesbeziehung einzugehen. Viele kämpfen noch immer mit Angst- und Schuldgefühlen. Auch Fthenakis (vgl. 1996: 57ff.) hat in seiner Untersuchung festgestellt, dass in Langfristperspektive bei Scheidungskindern Unsicherheiten im Eingehen und Führen eigener Partnerschaften festzustellen sind. Einige neuere Studien weisen zudem darauf hin, dass das Risiko für eine Scheidung bis zu dreimal so hoch ist, wenn die oder der Betreffende selbst aus einer Scheidungsfamilie stammt. Auffällig ist des Weiteren, dass Kinder aus
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Scheidungsfamilien als junge Erwachsene eher nicht-traditionelle Partnerbeziehungen bevorzugen (vgl. Schwarz 1999: 171). Es gibt aber auch Heranwachsende, vor allem in der zu Beginn genannten Untersuchung von Wallerstein und Blakeslee, die gut mit der Trennung ihrer Eltern zurechtkamen. Einige, weil sie sich bewusst vom Beispiel ihrer Eltern abgegrenzt haben, andere, weil die geschiedenen Eltern in der Lage waren, bei Erziehungsfragen zu kooperieren. Wieder andere Kinder erlebten mit, wie die geschiedenen Eltern ihr Leben neu ausgestalten und erfolgreich aufbauen konnten. Auch hilfreiche Beziehungen zu einem oder beiden Elternteilen, zu Stiefeltern, Geschwistern oder Großeltern sind Faktoren, die eine erfolgreiche Verarbeitung einer Scheidung unterstützen können. In einer Sekundäranalyse von Studien zum Themenfeld Scheidungskinder kommt Elisabeth Sander (vgl. 1993) zu dem Schluss, dass es den meisten Kindern gelingt, die Scheidung der Eltern ohne langfristige Entwicklungsbeeinträchtigungen zu bewältigen. Sehr wichtig für die Situation von Kindern und Jugendlichen im Verlauf einer Scheidung ist der Prozess der Neuorganisation des Familiensystems. Elsa Ferri kommt im Rahmen einer groß angelegten Langzeituntersuchung zu folgendem Ergebnis: „Die Mehrzahl der (Stief-)Kinder [...] schien zufriedenstellende Familienbeziehungen zu haben, ähnlichen schulischen Erfolg zu erzielen wie Kinder in anderen (Familien-)Situationen und für ihre eigene Zukunft gleiche positive Erwartungen zu hegen. [...] Für die Mehrheit der untersuchten Kinder gab es keinen klar erkennbaren nachteiligen Effekt, und es unterschied sie nur wenig von ihren Altersgenossen, die mit beiden leiblichen Eltern zusammenlebten. Dennoch gab es genügend Hinweise auf Unglück und Entwicklungsschwierigkeiten bei einer Minderheit von Stiefkindern, die darauf schließen lassen, dass Wiederverheiratung nicht als sofortiges Allheilmittel für die vielen Probleme der Ein-Eltern-Familie gesehen werden darf, insbesondere nicht, wenn die Probleme aus der Sicht der Kinder gesehen werden“ (Ferri zitiert nach Schattner und Schumann1988: 84).
Der Prozess der Neuorganisation wird auch maßgeblich von der sozialen – das meint auch institutionellen – Unterstützung, von der sozio-ökonomischen Situation und den vorhandenen oder entstehenden Stressfaktoren mitbestimmt (vgl. Niepel 1994). Es geht dabei um die Frage, ob Elternteile und Kinder über notwendige Anpassungsstrategien verfügen. Zudem ist wichtig, ob es gelingt, ein so genanntes binukleares Familiensystem (Zwei-Haushalte-Familie) aufzubauen. Ein intaktes binukleares Familiensystem besteht, wenn trotz Scheidung eine gemeinsame, am Wohle des Kindes orientierte Elternrolle aufrechterhalten wird. Nachweislich zeigen Kinder dann in der Langfristperspektive die geringsten Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Peuckert 1996: 167, Hetherington 2002). Wie 93
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Kinder die Scheidung ihrer Eltern bewältigen, hängt also sehr stark von der jeweiligen Ausgestaltung der Beziehung zwischen den getrennten Partnern und von deren Verhältnis zu den Kindern ab (vgl. Amato 2000, Walper 2002). Es kann dementsprechend nicht mehr pauschal und zwingend von einem Zusammenhang zwischen Scheidung und dem Auftreten psychosozialer Probleme bei Scheidungskindern ausgegangen werden: „Die Frage, ob sich später soziale Problemlagen entwickeln, hängt vielmehr von den ökonomischen Begleiterscheinungen der Trennung, den wahrgenommenen Möglichkeiten zur Entschärfung der mit Trennung verbundenen Konflikte sowie den Reaktions- und Umgangsweisen wohlfahrtsstaatlicher Institutionen ab“ (Lakemann 1999: 81).
Manchmal können Scheidungen soziale Problemlagen von Kindern und Jugendlichen auch verhindern. Längsschnittstudien belegen, dass Heranwachsende, die in einem beständig konfliktbehafteten Familienalltag die Scheidung der Eltern erleben, wesentlich glücklicher und zufriedener sind als Heranwachsende in Familien, in denen sich die Eltern trotz bestehender Konflikte nicht scheiden lassen (vgl. Peuckert 1996: 165). 3.1.4.5 Sozialisation in Ein-Eltern-Familien Ebenso differenziert sollten die Sozialisationsbedingungen von Kindern in so genannten Ein-Eltern-Familien beurteilt werden. Für die weit verbreitete Annahme, Kinder in dieser Familienform seien durch eine starke Ichzentriertheit, ein geringes moralisches Urteilsniveau und ein vermindertes Selbstwertgefühl charakterisierbar, fehlen jedenfalls eindeutige empirische Belege (vgl. NaveHerz 1995, Fthenakis 1995). Ein-Eltern-Familien sind nicht – wie lange Zeit nicht nur in der öffentlichen Meinung sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs angenommen wurde – ‚unvollständige Familien‘, sondern eine Lebensform, in der „ein Elternteil die Erziehungsverantwortung oder das Sorgerecht für das Kind bzw. die Kinder besitzt, mit dem es in einer Haushaltsgemeinschaft zusammenwohnt“ (Nave-Herz und Krüger 1992: 32). Unkonventionelle Familienkonstellationen werden gleichwohl hinsichtlich ihrer angenommenen Sozialisationswirkungen seit eh und je vornehmlich unter Defizitgesichtspunkten untersucht und als Störung und Bruch in der Familienkonstellation beschrieben. Es wird von Zusammenhängen zwischen Verhaltensstörungen der Kinder einerseits und Scheidung, häufigem Streiten der Eltern oder dem Fehlen eines Elternteils andererseits ausgegangen, wobei es im Wesentlichen Phänomene sind, die als ‚aggressive‘ oder ‚delinquente‘ Verhaltensformen eingestuft werden. Auf die Problematik der normativen Bewertung dessen, was als Verhaltensstörung anzusehen ist, wird in den meisten Studien 94
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ebenso wenig eingegangen wie auf den sozialen Handlungskontext der beobachteten Phänomene, d. h. die interaktionsspezifischen Definitions- und Aushandlungsprozesse (vgl. Havers 1978: 41). Wesentlich entscheidender ist, wie Luise Wagner-Winterhager (vgl. 1988) feststellt, dass die Versorgung und Betreuung der Kinder für erwerbstätige Alleinerziehende das größte Problem darstellt, insbesondere bei ganztägiger Abwesenheit von der Wohnung. Mit der Problematik der Versorgung und Betreuung geht einher, dass der Alltag der betreffenden Kinder in hohem Maße von ‚standardisierten‘ Zeitstrukturen bestimmt wird. Kindliches Zeiterleben wird zwangsläufig eingebettet in Zeitrhythmen der Berufstätigkeit, der Betreuungsinstitutionen und der privaten Lebensführung des alleinerziehenden Elternteils. Inwieweit diese für Kinder recht frühen Anpassungen an die Zeitstrukturen der Erwachsenen Einfluss nehmen auf die leiblich-sinnlichen Erfahrungen von Welt, bedarf noch einer genaueren Klärung. Viele Eltern klagen auch darüber, dass sie Entscheidungen in der Regel allein treffen müssen und vor allem, dass sie die alleinige Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen tragen (vgl. Nave-Herz und Krüger 1992). Werden Kinder mit in Entscheidungsprozesse einbezogen oder wird von ihnen erwartet, dass sie Entscheidungen ebenso wie beispielsweise Probleme verstehen, dann werden sie häufig – vor allem, wenn sie noch klein sind – geistig und emotional überfordert. Ob und inwieweit das Aufwachsen in einer Ein-Eltern-Familie Schulleistung und Schulerfolg beeinträchtigt, kann anhand der deutschen Daten der PISA-Studie erörtert werden. Klaus Tillmann und Ulrich Meier (vgl. 2001) kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder von Alleinerziehenden genauso gute oder schwache Lese- und Mathematikleistungen aufweisen wie Kinder aus so genannten vollständigen Familien. „Die These, dass Kinder, die bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern aufwachsen, aufgrund problematischer Lebensbedingungen auch zu schlechteren Schulleistungen gelangen, kann für die PISA-Stichprobe nicht bestätigt werden“ (Tillmann und Meier 2001: 480). Jenseits vermuteter Erziehungsprobleme und Defizite zeigt sich noch ein anderer, die Lebenslage von Kindern in Ein-Eltern-Familien kennzeichnender Aspekt: Empirische Befunde deuten darauf hin, dass für Ein-Eltern-Familien insbesondere die ökonomische Situation dem Familienleben erhebliche Restriktionen im Hinblick auf den materiellen Lebensstandard und die zur Verfügung stehende Zeit für gemeinsame Aktivitäten auferlegt. Bei jeder vierten Ein-Eltern-Familie – so ein Ergebnis der Untersuchung von Napp-Peters (vgl. 1995) zur Armut Alleinerziehender – liegt eine soziale Randstellung, Armut sowie soziale und materielle Benachteiligung vor. In einer älteren Untersuchung weist Napp-Peters (vgl. 1985) zudem darauf hin, dass für Alleinerziehende die – aufgrund der restriktiven ökonomischen Lage und der Zeiten der Erwerbstä95
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tigkeit – entstehenden Alltagsprobleme bei die Betreuung und Versorgung der Kinder wiederum Konsequenzen beim Umfang und der Intensität sozioemotionaler Kontakte nach sich ziehen. Vor diesem Hintergrund wäre es sinnvoller, Fragen nach besserer Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung, nach verbesserten außerfamilialen Kinderbetreuungen und ökonomischer Absicherung von Alleinerziehenden in den Vordergrund zu stellen, anstatt beständig auf die scheinbar problembehaftete Sozialisation von Kindern und Jugendlichen aus Ein-Eltern-Familien hinzuweisen. 3.1.4.6 Sozialisation in armen Familien (Nicht nur) in den Medien ist wieder die Rede davon, dass (auch) in Deutschland immer mehr Familien in Not geraten und nicht einmal mehr finanzielle Reserven für die Grundausstattung ihres Nachwuchses haben. Das Thema ‚Armut‘ kommt damit wieder stärker in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung (vgl. Huster et al. 2008). Es gibt keine allgemeingültige Definition von Armut, denn Menschen nehmen – je nach Perspektive, Region oder Lebensumfeld – Armut unterschiedlich wahr, weswegen es (insbesondere auf Deutschland bezogen) wenig Sinn macht, vom Ansatz der absoluten Armut auszugehen, denn Armut wird hierbei gekennzeichnet als Unterschreiten des physischen Existenzminimums (die Weltbank z. B. setzt die absolute Armutsgrenze bei einem Einkommen von einem Dollar pro Tag an). Demgegenüber orientiert sich der Ansatz der relativen Armut an materiellen und immateriellen Lebensbedürfnissen. Unterschieden wird, je nach Dimensionierung, der Ressourcenansatz (eindimensional): Es wird von einer materiellen Unterversorgung ausgegangen, die anhand eines vorher festgelegten Existenzminimums gemessen wird. Einkommensarmut: Armut liegt dann vor, wenn das Einkommen einer Person weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Äquivalenzeinkommens (nach Haushaltsgröße und -zusammensetzung gewichtetes monatliches Nettohaushaltseinkommen) in Deutschland beträgt. Sozialhilfeschwelle: Armut wird dabei nach politisch-normativen Vorgaben festgelegt; diese Definition ist ausgesprochen umstritten, da hierfür als Indikator der Bezug von ‚Hilfe zum Lebensunterhalt‘ (früher: Sozialhilfe) gilt, deren Bemessungsgrenze politischen Entscheidungen unterliegt und zumal damit nicht die verdeckte bzw. latente Armut erfasst werden kann, d. h. Personen, die keine ‚Hilfe zum Lebensunterhalt‘ beantragen.
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Lebenslagenansatz (mehrdimensional): betrachtet nicht nur die ‚harten‘ Dimensionen von Armut wie Arbeit, Einkommen oder Bildung, sondern auch die ‚weichen‘ Dimensionen wie Ernährung, Gesundheit oder Erholung sowie Aspekte sozialer, kultureller und politischer Partizipationsmöglichkeit. Es hat sich im wissenschaftlichen Diskurs mittlerweile durchgesetzt, Armut zum einen als relative Größe zu verstehen, und sie zum anderen in mehreren Facetten bzw. im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte der Lebenswelt von Individuen zu analysieren. Zunächst ist zwar festzustellen, dass die Lebensbedingungen und -chancen der meisten Heranwachsenden ausgesprochen gut sind. Gleichwohl wächst das Risiko, in Armut ‚abzurutschen‘. Nach dem Ressourcenansatz gelten 14% aller Kinder in Deutschland als arm. Jedes sechste Kind unter sieben Jahren lebt von ‚Hilfe zum Lebensunterhalt‘. In Nordrhein-Westfalen lebt fast jedes vierte Kind unter 18 Jahren in einem einkommensarmen Haushalt (Sozialbericht NRW 2007: 10). Einkommensarmut kann zwar – wie bereits erwähnt – als ein Merkmal von Armut gelten, in der Regel tritt sie aber nicht isoliert auf, sondern im Zusammenhang mit anderen Merkmalen, die als Risiko-, Belastungs- oder Begleitfaktoren bezeichnet werden (vgl. Walper 1999, Chassé et al. 2010). Dazu zählen
ein niedriges Bildungs- und Qualifikationsniveau, ein niedriger Berufsstatus, Gesundheits- und Ernährungsprobleme, Arbeitslosigkeit (vor allem Langzeitarbeitslosigkeit) und beengte Wohnverhältnisse.
Beispielsweise hat das Bildungsniveau erheblichen Einfluss darauf, wie sich finanzielle Probleme als Belastung auf das elterliche Erziehungsverhalten auswirken: "Ein im Vergleich zu einkommensstabilen Familien vermehrt restriktivbestrafendes Verhalten deprivierter Väter und Mütter ist vornehmlich in Familien mit niedrigem Bildungsniveau, nicht jedoch in Familien mit mittlerer und höherer Bildung zu beobachten" (Walper 1999: 340). Belastend können des Weiteren Wohnungsnot und beengte Wohnverhältnisse wirken. Diese schlagen sich insbesondere auf das Wohlbefinden der Kinder nieder, denn Platz zum Spielen, nach Möglichkeit in einem eigenen Kinderzimmer, ist für Heranwachsende ausgesprochen wichtig. In vielen Studien zum Thema Armut wird die Arbeitslosigkeit der Eltern in den Mittelpunkt gesetzt. Aber auch deren Auswirkungen müssen immer im Zusammenhang mit anderen Belastungsfaktoren betrachtet werden. Nicht übersehen werden darf auch der Zeitfaktor: Je länger Armut andauert, desto stärker beeinträchtigt sie den Prozess der Sozialisation von Heran-
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wachsenden, beispielsweise über die Erfahrung sozialer Diskriminierung oder von Kontaktverlusten (vgl. Iben 2000). Ein in diesem Zusammenhang erheblicher Belastungsfaktor ist die Familienkonstellation, auch wenn diese in der Regel nicht als Teilaspekt von Armut betrachtet wird (vgl. Walper 1999: 298). In etlichen Studien wird darauf hingewiesen, dass in bestimmten Familienkonstellationen ein erhöhtes Armutsrisiko besteht (vgl. Napp-Peters 1995, Otto 1997). Betroffen sind hierbei insbesondere Ein-Eltern-Familien und kinderreiche Familien. Die Zahl der Empfänger von ,Hilfe zum Lebensunterhalt' unter den Alleinerziehenden steigt beständig an (vgl. Schuler 2011). Meistens sind es Frauen, die infolge von Trennung oder Scheidung in finanzielle Not geraten. Im Volksmund heißt es bekanntlich, dass Kinder arm machen, was vor allem für Familien mit mehreren Kindern gilt, die ein stark erhöhtes Risiko aufweisen, in Armut ,abzurutschen' (vgl. Iben 1998). Das Armutsrisiko von Kindern nimmt in Deutschland seit den 1980er Jahren kontinuierlich zu, während das von älteren Menschen sinkt. Das deutet auf eine Tendenz zur ,Infantilisierung der Armut' hin (vgl. Andrä 2000: 271), d. h. Armut verlagert sich von der älteren auf die jüngere Generation. Die Sozialisation von Heranwachsenden in von Armut betroffenen Familien ist in vielfältiger Weise beeinträchtigt: Armut beeinflusst im erhöhten Maße die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Die Probleme liegen hier vor allem im Bereich schlechter und mangelnder Ernährung, was zu erhöhten Gesundheitsrisiken führt. Kinder in armen Familien klagen zudem vermehrt über Kopfschmerzen und Schlafstörungen und sind insgesamt häufiger krank. Sie treiben weniger Sport und putzen sich seltener die Zähne. Die Körpersozialisation wird hiervon langfristig beeinflusst, da gesundheitliche Beschwerden und Krankheiten im Erwachsenenalter auf Ernährungsfehler im Kindes- und Jugendalter zurückzuführen sind (vgl. Walper 1999). Es wird vermutet, dass die psychosozialen Folgen von Armut Heranwachsende noch stärker belasten als die Konsequenzen in Bezug auf die Gesundheit. Kinder aus armen Familien haben häufig ein geringes Selbstwertgefühl, sie sind misstrauisch, traurig, hilflos, empfindlich und weniger gesellig als andere Kinder (vgl. Iben 2000: 109). Sie schauen pessimistisch in die Zukunft und resignieren häufig bei an sie gestellten Anforderungen, sei es in der Schule oder im späteren Berufsleben. Dies führt letztlich auch zu einer ,sozialen Vererbung' von Armut. Die Wahrscheinlichkeit ist um das Zweieinhalbfache erhöht, dass Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, insgesamt eine geringere Lebenszufriedenheit aufweisen und stärkeren
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Belastungen ausgesetzt sind als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen (vgl. Klocke und Lück 2001). Finanzielle Knappheit und andere belastende Faktoren von Armut – insbesondere die Wohnsituation – führen sehr häufig zu Einschränkungen in den sozialen Kontakten bis hin zu einer sozialen Isolation. Kinder aus armen Familien werden in der Schule häufig gemieden und ausgegrenzt, was dann vor allem im Jugendalter, wenn es um Anerkennung in der Gleichaltrigengruppe geht, zu Identitätsfindungsproblemen führen kann (vgl. Iben 2000: 108). Damit einher geht die Gefahr der Ausbildung und Manifestation abweichender Verhaltensweisen (siehe dazu Kapitel 3.2.7). Armut birgt im großen Maße das Risiko, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden (vgl. Beisenherz 2002: 145ff.). Armut wirkt sich auch auf die kognitive Entwicklung und auf die schulischen Leistungen aus (vgl. Hurrelmann und Quenzel 2010). Bereits ab dem fünften Lebensjahr ist die Intelligenzentwicklung von den finanziellen Ressourcen der Familie abhängig. Entsprechend wirken sich finanzielle Belastungen auf die schulischen Leistungen aus. ,Arme' Kinder zeigen schlechtere Leseleistungen und ein geringeres Problemlöseverhalten in der Klasse als Kinder, die in sozio-ökonomisch gesicherten Familienverhältnissen aufwachsen. Auch ein Zusammenhang mit der Wohnsituation konnte nachgewiesen werden: Kinder, die in ,armen' Familienverhältnissen aufwachsen und die zudem auch noch in beengten Wohnverhältnissen leben, wiederholen signifikant häufiger eine Schulstufe (vgl. Walper 1999: 314ff.). Die Darstellung dürfte deutlich gemacht haben, dass Armut für Heranwachsende negative Konsequenzen für deren Persönlichkeitsentwicklung haben kann. Natürlich ist Reichtum keine Garantie für eine gelingende Sozialisation, aber die Chancen sind gleichwohl um ein Vielfaches größer. Es wurde zudem deutlich, dass Armut schon im frühen Kindesalter mit einer erheblichen Einschränkung von Lebenschancen einhergeht. Familiäre Faktoren – wie gemeinsame familiäre Aktivitäten – scheinen für die Lebenslage von Heranwachsenden jedoch eine ähnlich große Rolle zu spielen wie die materiellen Bedingungen des Aufwachsens. Zur weiteren Analyse armutsbedingter Sozialisationsrisiken wären vor allem multiperspektivische Längsschnittstudien notwendig, welche die – über akute Mangellagen hinausweisende – Folgen von Armut klären. Dies könnte eine gezielte Beratung und Unterstützung betroffener Familien erleichtern. Das primäre Ziel sollte darin bestehen, Armutsrisiken zu senken und dergestalt allen Heranwachsenden bzw. allen Familien zumindest in Grundzügen ein Leben in eigener Regie zu ermöglichen.
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3.2
Schule
Ab dem 6. Lebensjahr muss (nicht nur) in Deutschland jedes Kind mehrere Stunden am Tag in der Schule verbringen. Die Schule steht mindestens neun Jahre lang im Mittelpunkt alltäglicher Anstrengungen der Heranwachsenden, denn die Schule ist eine Pflichtveranstaltung des Staates. Die zentrale Aufgabe der in ihr arbeitenden Lehrerinnen und Lehrer (und mittlerweile auch Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen) ist die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Diese Aufgabe erfüllen die in Schulen Beschäftigten auf den ersten Blick vor allem über geplanten und kontinuierlichen Unterricht, d. h. durch die Evozierung systematischer und rationaler Lernprozesse auf Seiten der Schülerschaft. Wir wissen aber alle aus eigener, manchmal sogar leidvoller Erfahrung: Schulunterricht hat es ‚in sich‘ und in der Schule geschieht bekanntlich mehr als bloße Wissensvermittlung. Wie Schule über Jahre hinweg erlebt, bewältigt oder auch nicht bewältigt wird, das wirkt jedenfalls lange, manchmal ein Leben lang nach. Für die wissenschaftliche Analyse der schulischen Sozialisation ergeben sich hieraus folgende zentrale Fragen: Welche Funktionen und Aufgaben hat die Schule in der Gesellschaft und wie erfüllt sie diese? Welche Funktionen und Aufgaben werden ihr zugesprochen? Wie wird die Rolle von Lehrern und Schülern in dieser Institution ausgehandelt? Welche Sozialisationseffekte sind zu beobachten, oder anders gefragt: Wie wirkt sich die Schule auf die Persönlichkeitsentwicklung von Heranwachsenden aus? In diesem Kapitel werden die Fragen aus dem Blickwinkel unterschiedlicher (Sozialisations-)Theorien und unter Berücksichtigung ausgewählter Ergebnisse der Schul- und Bildungsforschung beantwortet. Einige Arbeiten sind älteren Datums, die Aussagen sind aber nach wie vor gültig, denn die institutionellen Rahmenbedingungen von Schule, auf die sie sich beziehen, sind weitgehend unverändert geblieben. 3.2.1 Schulische Sozialisation und Selektion Einer der ersten, der versucht hat, die Schule unter sozialisationstheoretischen Gesichtspunkten zu betrachten, ist Talcott Parsons (siehe dazu Kapitel 2.3.1). Aus strukturfunktionalistischer Perspektive kommen der Schule zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung einer Gesellschaft zwei zentrale Aufgaben zu: Erstens soll sie den Heranwachsenden Rollenerwartungen vermitteln – und zwar so, dass sie die Bereitschaft und Fähigkeit zur erfolgreichen Erfüllung ihrer späteren (Erwachsenen-)Rollen verinnerlichen – und zweitens soll die Schule Heranwachsende auf die unterschiedlichen Rollen in der Erwachsenenwelt ‚verteilen‘, d. h. ihr kommt die Funktion der Selektion zu. Wie erfüllt die Schule diese
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beiden Aufgaben? Parsons (vgl. 1981: 161ff.) geht darauf in seinem berühmten Aufsatz ‚Die Schulklasse als soziales System‘ näher ein. Rollenhandeln ist aus strukturfunktionalistischer Sicht gleichgewichtsorientiert oder anders ausgedrückt: Es ist ein sich selbst regulierendes System. In der Schule interagieren Lehrer und Schüler. Ihre Handlungen sind an gesellschaftliche Erwartungen, an Rollen geknüpft: Der Lehrer lehrt und der Schüler soll lernen. Diese Rollen gehören zur Funktionalität der Schule. Werden die Erwartungen erfüllt, folgen Anerkennung und Belohnung, werden sie nicht erfüllt, folgen Ablehnung, Bestrafung oder sogar Sanktion. Ein optimaler Verlauf des Rollenhandelns findet dann statt, wenn der Einzelne den Rollenerwartungen entspricht und seine eigenen Bedürfnisse im Rollenhandeln verwirklichen kann. Sozialisation heißt in diesem Zusammenhang, einen Weg zur Übereinstimmung von Rolle und Persönlichkeit zu finden (vgl. Parsons und Bales 1955). Wird ein Gleichgewicht gefunden, dann hat auch eine erfolgreiche Sozialisation stattgefunden. Nach Parsons (vgl. 1951: 205) besteht Sozialisation insbesondere darin, dass diejenigen Orientierungen erworben werden, die ein befriedigendes Rollenhandeln ermöglichen. Auf die Gesamtgesellschaft übertragen heißt dies: Verläuft das Rollenhandeln im Subsystem Schule (wie natürlich auch in anderen Subsystemen) störungsfrei, dann herrscht auch im gesamtgesellschaftlichen System Stabilität. Sozialisation hat in diesem Sinne eine harmonisierende Funktion und schulische Sozialisation verfolgt das Ziel, Heranwachsenden kompetentes Rollenverhalten nahe zu bringen. Wie läuft das im Einzelnen ab? In der Familie lebt das Kind in einer Statusdifferenzierung, die über das Alter und Geschlecht festgelegt ist. In der Familie herrschen zudem partikularistische Wertorientierungen, d. h. die Beziehungen sind eher affektiv gefärbt und bestehen ohne Leistungshintergrund. In der Schule erfahren Kinder nun, dass sie eine Position nicht mehr qua Geburt einnehmen, sondern dass sie sich einen Status erwerben bzw. ‚verdienen‘ müssen (vgl. Parsons 1981: 166f.). Was die Wertvorstellungen angeht, beinhaltet die Schule eher universalistische Orientierungen (beispielsweise affektive Neutralität, Spezifität und Leistungsorientierung). Kinder, die aus der Familie in die Schule eintreten, müssen sich dementsprechend umorientieren. Der Umgang, beispielsweise mit einer Lehrerin, verlangt eine Reorganisation der kindlichen Erwartung an Rollen. Zwar ist die Lehrerin auch eine Frau und möglicherweise Mutter, aber das Kind stellt auch fest, dass sie nach verallgemeinerten, für alle Kinder gleichen Gesichtspunkten handelt und in diesem Sinne austauschbar ist. Kinder als Schulkinder verinnerlichen über diese Erfahrungen gesellschaftliche Normen und Werte im Sinne universalistischer Orientierungen. Dergestalt werden sie auf das Leben in der Erwachsenenwelt vorbereitet. Eine Hilfestellung auf dem Weg dorthin erhalten die Heranwachsenden über die Gleichaltrigengruppe (Peer-Group; siehe dazu 101
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Kapitel 3.3.4.1). Die Gleichaltrigengruppe ist zum einen Übungsfeld der Unabhängigkeit im Verhältnis zur Kontrolle durch Erwachsene und zum anderen Quelle der Zustimmung und Anerkennung von Seiten Nicht-Erwachsener (vgl. Parsons 1981: 172ff.). Von Anfang an ist der Sozialisationsprozess, im Sinne der Verinnerlichung von Rollenerwartungen, begleitet von kontinuierlicher Schulleistungsbewertung. Aus strukturfunktionalistischer Sicht ist das Erbringen von Leistung ein entwicklungsnotwendiger Schritt. Zur Begründung der Leistungsbereitschaft von Kindern wird von Parsons (1981: 175) der Begriff ‚Identifizierung‘ aus dem Bereich der Psychoanalyse übernommen: „Das heißt, daß das Erlernen von Leistungsmotivation psychologisch gesprochen ein Prozess der Identifizierung mit dem Lehrer ist, ein Prozess, bei dem sich der Schüler (oftmals unter dem Druck der Eltern) anstrengt, um dem Lehrer zu gefallen, im selben Sinne wie das vor-ödipale Kind neue Fertigkeiten erlernt, um der Mutter zu gefallen.“
Mit der Identifizierung findet im weiteren Verlauf eine Akzeptierung der Lehrerrolle (auch im hierarchischen Sinne) statt. Lehrerinnen und Lehrer loben und tadeln, belohnen und strafen und bewerten (in Deutschland spätestens in der dritten Grundschulklasse) die Leistungen der Schülerinnen und Schüler durch die Vergabe von Noten. Dies ist funktional notwendig, da die Schule eine Verteilungsinstanz ist. Die Leistungsbewertung stellt die Selektionsbasis für zukünftige Karrieren der Heranwachsenden dar; und wenn die Bewertung gerecht geschieht, d. h. wenn tatsächlich auf der Grundlage individueller Leistung Noten verteilt werden, dann besteht laut Parsons (1981: 179f.) auch Chancengleichheit: „Damit wird vor allem anerkannt, dass es fair ist, unterschiedliche Belohnungen für verschiedene Leistungsniveaus zu erteilen, solange eine faire Offenheit der Chancen besteht, und dass es ebenso fair ist, wenn diese Belohnungen zu Chancen höherer Ordnung für die Erfolgreichen führen.“
Wird in dieser Art und Weise die Bewertung von Leistung vorgenommen, dann ist also auch Selektion gerechtfertigt. Damit legitimiert Parsons aber gleichzeitig soziale Ungleichheiten in Schule und Gesellschaft, denn wie er selbst ausführt, stammen ‚Spitzenschüler‘ in der Regel aus Familien mit hohem sozioökonomischen Status, besuchen ‚bessere‘, von ihm so bezeichnete ‚progressive‘ Schulen, womit sich der Kreis schließt in Bezug auf die Chance, ‚Spitzenschüler‘ zu werden (vgl. Parsons 1981: 168ff.). Parsons leugnet also durchaus nicht, dass auch sozio-ökonomische Faktoren in der schulischen Sozialisation bedeutsam sind, aber die Selektion ist für
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ihn entscheidend durch die Möglichkeiten der individuellen Leistungsfähigkeit bestimmt. Erfüllt die Schule die hier beschriebenen Funktionen, ‚funktioniert‘ auch die Gesellschaft. Der strukturfunktionalistische Ansatz zur schulischen Sozialisation ist – wie bereits erwähnt – gleichgewichtsorientiert. Dadurch, dass im Schulalltag in der beschriebenen Form sozialisiert und selektiert wird, wird auch immer wieder gesellschaftliche Stabilität erzeugt. Dergestalt eben, dass die „menschlichen Ressourcen innerhalb der Rollenstruktur der Erwachsenengesellschaft“ (Parsons 1981: 165), ihren Fähigkeiten entsprechend, verteilt werden. Deutlich sollte geworden sein, wie allein durch theoretische Überlegungen, implizite Rechtfertigungen für soziale (Ungleichheits-)Verhältnisse geschaffen werden können, die nicht notwendigerweise mit der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit in Einklang stehen müssen, gleichwohl aber (scheinbar) plausibel wissenschaftlich begründet sind und in Form von Theorien gegossen werden. 3.2.2 Aufgaben und Funktionen schulischer Sozialisation In Deutschland wurde der Erklärungsansatz zur schulischen Sozialisation von Parsons vor allem von Helmut Fend (vgl. 1974 und 1981) einer kritischen Analyse unterzogen und weiterentwickelt. Dieser analysiert Sozialisationsprozesse nicht wie Parsons als stetige Wiederherstellung der sozialen Verhältnisse, sondern als dialektisches Verhältnis von Individuen und Gesellschaft. Durch den Prozess der Sozialisation von Heranwachsenden wird Gesellschaft zwar immer wieder reproduziert und stabilisiert, die Heranwachsenden werden aber auch dazu befähigt, sich in sozialen Feldern zu orientieren und dabei eigene Wertvorstellungen und Handlungsweisen zu entwickeln und auszuleben. Diese Aspekte beschreibt Fend (vgl. 1974: 11ff.) als Doppelfunktion des Sozialisationsprozesses. Wie Parsons geht auch Fend in seinen Analysen davon aus, dass für das Verständnis schulischer Sozialisationsprozesse geklärt werden muss, wie das Schulsystem mit anderen Bereichen der Gesellschaft zusammenhängt. Die zentrale These von ihm lautet, dass „das Schulsystem in einer instrumentalen Beziehung zu umfassenderen gesellschaftlichen Bezugssystemen steht, und zwar insbesondere zum Produktionsbereich, zur Sozialstruktur und zum politischen Bereich“ (Fend 1974: 62). Die instrumentalen Beziehungen werden durch die Qualifikationsfunktion, die Selektions- und Allokationsfunktion sowie die Legitimations- und Integrationsfunktion der Schule gewährleistet. Häufig wird noch eine vierte Funktion genannt, die von Walter Klafki (vgl. 1989) in die Diskussion eingebracht wurde, nämlich die Funktion der Kulturüberlieferung. 103
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Qualifikationsfunktion
Leistungsbereitschaft, Fleiß, Pünktlichkeit und Ordnung Kenntnisse (z. B. Rechnen, Schreiben usw.)
Die Schule hat die Aufgabe, Heranwachsende mit all jenen Qualifikationen auszustatten, die sie später für die Bewältigung der Anforderungen im (Arbeits-) Alltag benötigen. Diese Qualifikationen haben zwei Ausprägungen: Zur ersten Ausprägung gehören Schreiben und Rechnen oder naturwissenschaftliche Kenntnisse, die auch als funktionale Qualifikation bezeichnet werden. Zur zweiten Ausprägung gehören Einstellungen und Fähigkeiten wie Fleiß, Ausdauer, Teamarbeit, Konzentrationsfähigkeit oder Ordnungssinn, die auch als extrafunktionale Qualifikation bezeichnet werden (vgl. Offe 1975). Qualifizierung meint also nicht nur Fertigkeiten und Kenntnisse für die Ausübung konkreter beruflicher Tätigkeiten, sondern auch Vorbereitung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Selektions- und Allokationsfunktion
Zuordnung in weiterführende Schulen Zuordnung zu beruflichen Positionen
Mit dem Besuch weiterführender Schulen im Anschluss an die Grundschule und der damit verknüpften Vergabe unterschiedlicher Schulabschlüsse, werden die Heranwachsenden ‚sortiert‘ (Selektion) und damit gleichzeitig den verschiedenen Ebenen des Beschäftigungssystems (im Hinblick auf die für bestimmte Positionen erforderlichen Bildungsabschlüsse) ‚zugesprochen‘ (Allokation). Die Schule funktioniert dergestalt als großes ‚Rüttelsieb‘, aber als eines, das immer wieder die sozialen Ungleichheiten, das System von Über- und Unterordnung reproduziert (vgl. Fend 1981: 29ff.). Der Schulerfolg und ein hoher Bildungsabschluss – und damit die Chance auf Prestige und gutes Einkommen – sind bekanntlich abhängig von der sozialen Herkunft. Wird von Selektion gesprochen, dann wird hiernach eine Beziehung zwischen der sozialen Position der Schülerinnen und Schüler im Schulsystem, der sozialen Position der Eltern und der späteren sozialen Position der Schülerinnen und Schüler verdeutlicht. Für die Heranwachsenden selbst erfolgt die Selektion und Allokation weitgehend über die Notengebung (Prüfungssystem) und die Zertifizierung von Bildungsabschlüssen (Fend 1974: 177).
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Legitimationsund Integrationsfunktion
Unterricht in Politik und Geschichte ‚heimlicher Lehrplan‘
Mit dieser Funktion wird ein Zusammenhang zwischen der Schule und dem politischen System thematisiert. Der Beitrag der Schule zur Aufrechterhaltung des politischen Systems liegt darin, „die Schüler in einer Weise zu beeinflussen, dass sie die bestehenden politischen Verhältnisse erkennen, sie akzeptieren und sich ihren Forderungen gemäß verhalten lernen“ (Fend 1974: 174). Eine explizite Unterweisung im Unterricht findet hierzu – anders als bei der Qualifikationsfunktion – allenfalls in den Fächern Politik oder Geschichte statt. Darüber hinaus geschieht die Vermittlung von Norm- und Wertorientierungen im Verbund, quasi als ‚Nebenprodukt‘ der anderen Funktionen von Schule. Das, was in der Gesellschaft positiv konnotiert wird und das politische System legitimiert (z. B. Erfolg durch Leistung oder Gehorsam), wird nicht im Rahmen eines Unterrichtsfachs, sondern ‚nebenbei‘ vermittelt, weswegen auch häufig vom ‚heimlichen Lehrplan‘ an Schulen die Rede ist (siehe dazu Kapitel 3.2.3). Diese indirekten Faktoren sind den Beteiligten in ihrer Bedeutung und Wirkungsweise oft gar nicht bewusst. Dennoch wirken Elemente wie Schulordnungen, Strafarbeiten, Schulferien oder Rituale fundamental als Legitimations- und Integrationsfaktoren. Funktion der Kulturüberlieferung
Tradierung und Entwicklung der Kultur im Kunst-, Sport-, Sprach-, und Musikunterricht Entwicklung einer kulturellen Identität
Im Rahmen dieser Funktion kommt der Schule die Aufgabe der Kulturüberlieferung und damit auch gleichzeitig die Herausstellung und Entwicklung einer kulturellen Identität auf Seiten der Heranwachsenden zu. Es sind insbesondere Institutionen, die kulturelle Bereiche vertreten und an einer Nachwuchsausbildung interessiert sind (z. B. Sportvereine oder Kirchen). Diese „erwarten von der Schule, dass sie der nachwachsenden Generation wenigstens ein Mindestmaß, einen Grundstock von Verständnis, Interesse, Kenntnissen und Fähigkeiten und damit die Zugangsmöglichkeit zu den [...] Dimensionen des kulturellen Lebens eröffnet“ (Klafki 1989: 25). Mit dieser Zusammenstellung unterschiedlicher Aufgaben von und Erwartungen an Schule wird versucht, schulische Sozialisationsprozesse in ein umfassendes Modell der modernen Gegenwartsgesellschaft einzugliedern. Dabei muss aber betont werden, dass die vier Funktionen in der Regel nicht isoliert
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vorkommen, sondern in einem Wechselverhältnis zueinander stehen. Wird dies berücksichtigt, ergeben sich wichtige zentrale Erkenntnisse bezüglich der Aufgaben und Funktionen schulischer Sozialisation. Die ‚Schlagseite‘ der Analysen sollte aber auch deutlich gemacht werden: Mit den vier Funktionen werden die Aufgaben der Schule einseitig von den gesellschaftlichen Anforderungen her interpretiert. Was zwangsläufig dabei ausgeblendet wird, soll in den folgenden Kapiteln erörtert werden. 3.2.3 Schulische Sozialisation über den ‚heimlichen Lehrplan‘ Der Begriff ‚heimlicher Lehrplan‘ ist eine Übersetzung bzw. eine Übertragung des Begriffs ‚hidden curriculum‘, den der Kulturanthropologe Phillip W. Jackson (1975: 29) in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht hat. Er weist darauf hin, dass es „in jeder Schule und in jeder Klasse in Wirklichkeit zwei Lehrpläne gibt, nach denen die Schüler unterrichtet werden. Den einen können wir den amtlichen Lehrplan nennen [...]. Den zweiten Lehrplan könnte man vielleicht als den nichtamtlichen oder sogar als den heimlichen Lehrplan bezeichnen [...]. Dieser heimliche Lehrplan besitzt auch eine goldene Mitte: den Grundkurs in den sozialen Regeln, Regelungen und Routinen. Diesen Grundkurs haben sich Schüler wie Lehrer anzueignen, wenn sie ohne großen Schaden zu nehmen, ihren Weg durch die Institution, die da Schule heißt, machen wollen.“
In diesem Sinne werden mit dem ‚heimlichen Lehrplan‘ alle sozialen Lernerfahrungen bezeichnet, die Schülerinnen und Schüler (offiziell nicht intendiert) im Schulalltag machen. Es handelt sich dabei also um die unintendierten Folgen absichtsvollen Handelns. Schulische Sozialisation über den ‚heimlichen Lehrplan‘ umfasst in der Regel alles, was das Leben in der Schule jenseits von Lehrplänen oder Schulordnungen ausmacht und bei den Schülerinnen und Schülern – zwar ungeplant, aber dennoch zwangsläufig – soziale Verhaltenskonformität hervorruft. Dazu zählt die
Unterdrückung spontaner Bedürfnisartikulation und spontaner Einfälle, Einordnung in die Gruppe, Unterordnung unter die Zwecke der Institution und die Verinnerlichung von Geboten (vgl. Ulich 1976: 206).
Beim heimlichen Lehrplan geht es um die ,lautlosen Mechanismen' der Einübung in die Regeln und Rituale der Institution Schule. Es geht darum, „sich an Oben und Unten, an Gutsein und Schlechtsein, an Auffälligwerden und Durchwursteln zu gewöhnen. Um es in den gängigen Fremdwörtern zu formulie-
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ren: es geht um die Einübung in hierarchisches Denken, in Leistungskonkurrenz und Normkonformität“ (Meyer 1988: 65).
Jürgen Zinnecker (vgl. 1975) hat die genannten Aspekte als ,Hinterbühne' schulischer Sozialisation beschrieben. Was wird nun konkret neben den ,offiziellen' Lehrplänen, also der ,Vorderbühne' von Schulen auf deren ,Hinterbühne' für die schulische Sozialisation bedeutsam? Im Folgenden werden einige Dimensionen beschrieben, deren theoretischer Hintergrund sozialökologische und interaktionistische Sichtweisen umfasst. Raum und Zeit: Mittlerweile gehört es zum Gemeinplatz, im Rahmen von Forschungsarbeiten zur schulischen Sozialisation darauf hinzuweisen, dass die räumliche Umwelt eine formende und verstärkende Kraft ist, die auf Menschen einwirkt. Es ist ja auch unmittelbar einsichtig, dass die Gestaltung des Schulgebäudes und des Klassenzimmers Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Lernstimmung der Schülerinnen und Schüler hat. Untersuchungen haben in diesem Zusammenhang ergeben, dass das Schülerleben vor allem von zwei Dimensionen beeinflusst wird (vgl. Fromm 1989): Erstens: Die konkrete bauliche Ausgestaltung vermittelt den Schülerinnen und Schülern nachdrücklich, was sich Gebäudeplaner unter Schule und Unterricht sowie unter dem, was Schülersein ausmacht, vorstellen. Es wird zudem definiert, welche Räume von welchen Personen wie genutzt werden können und wo sie sich im Raum platzieren dürfen. Zweitens: Die Gestaltung der Unterrichtsräume, beispielsweise über die Anordnung der Tische, vermittelt den Schülerinnen und Schülern, was ihre Lehrerinnen und Lehrer von ihnen erwarten. Die Einrichtungsgegenstände lassen zudem nur bestimmte Interaktionen und Bewegungen zu. Schülerinnen und Schüler dürfen sitzen, gehen oder stehen, aber nicht rennen oder womöglich liegen. Kinder und Jugendliche erfahren in der Schule, dass Lernen in einem vorstrukturierten Zeitrahmen erfolgen soll. Dies geschieht durch Einteilung in einen Jahres-, Tages- und Stundenturnus. ,Offizielle' Zeitnehmer sind die Lehrerinnen und Lehrer, welche die Feinstruktur des vorgegebenen Stundenplans regeln und über die Macht verfügen, den Beginn des Unterrichts, der Einzelarbeit oder der Gruppenarbeit zu bestimmen. Der ,heimliche Lehrplan' vermittelt den Heranwachsenden nachdrücklich, dass ihre Zeit und die Zeitplanung von anderen strukturiert wird, also fremdbestimmt ist (vgl. Jackson 1975).
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Leistung: Infolge der Bewertung ihrer Schulleistungen fühlen sich die Schülerinnen und Schüler stets auch als Person beurteilt. Vermutlich auch deshalb stehen in der Rangreihe zu Fragen der Belastung und Probleme im Schulalltag Zensuren, Zeugnisse oder Klassenarbeiten bei empirischen Untersuchungen weit oben (vgl. Ulich 1991: 379). Der ,heimliche Lehrplan‘ der Leistungsbeurteilung beeinflusst ganz entscheidend wichtige Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung. Etliche Untersuchungen haben gezeigt, dass zwischen guten und schlechten Schülerinnen und Schülern beachtliche Unterschiede im Hinblick auf ihr Selbstwertgefühl bestehen. Kinder und Jugendliche mit guten Schulleistungen haben (im Vergleich zu weniger erfolgreichen Schülern und Schülerinnen) ein weitaus stabileres Selbstbild in Bezug auf ihre eigene Leistungsfähigkeit, das entscheidend zu ihrem positiven Selbstwertgefühl beiträgt (vgl. Ulich 1991: 389). Die Bewertung der Schulleistung trägt somit zur Ausgestaltung der persönlichen Identität bei, d. h. die Schulleistung ‚wächst‘ über den ‚heimlichen Lehrplan‘ zu einer Persönlichkeitskomponente heran. Oftmals macht sich Resignation bei schlecht bewerteten Schülerinnen und Schülern breit, da sie vermittelt bekommen bzw. glauben, dass es ausschließlich an ihnen läge, wenn sie nicht so gute Zensuren erhalten wie die erfolgreichen Mitschülerinnen und Mitschüler. Dieser Effekt des ‚heimlichen Lehrplans‘ ist der so genannte Abkühlungsprozess (vgl. Ulich 1991: 388), ein System abgestufter Enttäuschungen, das auch als ‚cooling-out‘ bezeichnet wird. Mädchen und Jungen: Offiziell sind für Mädchen und Jungen in der Schule im Rahmen der Koedukation (also der schulorganisatorischen Gemeinschaftserziehung von Jungen und Mädchen) gleiche Bildungsmöglichkeiten und gleiche Bildungsziele gegeben. Der ‚heimliche Lehrplan‘, hier in Bezug auf die geschlechtsspezifische Sozialisation, lässt aber immer wieder – trotz der formalen Gleichstellung – deutliche Unterschiede bei den ‚Schulkarrieren‘ von Jungen und Mädchen offenkundig werden. Lange Zeit wurden die ‚heimlichen‘ Effekte ausschließlich als Benachteiligung von Mädchen interpretiert, da – so die Annahmen – Jungen von Lehrerinnen und Lehrern für aufgeweckter, intelligenter, kreativer und phantasievoller gehalten werden als Mädchen. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass in Schulbüchern geschlechtstypische Rollenmuster vermittelt werden und Lehrerinnen und Lehrer einen störungsfreien Unterricht durch Auswahl von Themen, die das Interesse der Jungen wecken, erreichen wollen. Mädchen lernten dadurch, die Bevorzugung der Jungen und ihr Dominanz- und Störverhalten für normal und unabänderlich zu halten. Und selbst beim Aufbau von Selbstwertgefühl wirke die Kultur der Zweigeschlechtlichkeit in der Schule als Benachteiligung der Mädchen (siehe dazu Kapitel 4.7). Im Kapitel 3.2.8 werden wir ausführlich auf die genannten Aspekte der Koedukationsdebatte eingehen.
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Schülerstrategien: Das Hauptengagement von Schülerinnen und Schülern sollte im Unterricht auf das Lernen hin ausgerichtet sein. Nebentätigkeiten oder geistige Abwesenheit sind dabei unerwünscht. Durch den öffentlichen Charakter der Unterrichtssituation kann von den Lehrenden wie auch von den Mitschülern ganz gut die Art und Weise des Lernengagements kontrolliert werden und jeder Schüler oder jede Schülerin kann dabei die Erfahrung machen, dass man sich eine Abweichung vom erwarteten Engagement nicht allzu oft leisten kann. Trotz des „Systems kalkulierter Blicke“ (Foucault 1994: 229) ist es kaum durchhaltbar, sich kontinuierlich konform zu verhalten, und es widerstrebt in der Regel auch häufig den eigenen Bedürfnissen. Das Schulleben ist für Schülerinnen und Schüler zumeist nur dann befriedigend, wenn eigene Interessen, Wünsche und Erwartungen einigermaßen in die Vorgaben der Institution eingepasst werden können. Kinder und Jugendliche reagieren in ihren Schülerrollen häufig mit Geduld oder mit Resignation. Die geduldigen Schüler verfolgen ihre Zukunftspläne und wahren hiermit das Gefühl von Integrität. Resignierende Schüler geben einen Teil ihrer Pläne und Vorstellungen mitunter auf und entwickeln besondere Strategien, die als „heimliche Taktiken des Überlebens“ (Heinze 1980: 83) umschrieben werden können. Ein Schüler erkennt beispielsweise die Vorlieben des Lehrers und orientiert sich an ihnen, um sich vor seinem ‚Publikum‘, der Klasse, behaupten zu können. Ein anderes Beispiel: Er setzt die Maske des Interessierten auf. Oder: Antworten werden dem Beurteiler angepasst und lassen sich auf den offiziellen wie auf den heimlichen Lehrplan beziehen. Je besser sich Schülerinnen und Schüler im Unterricht den Erwartungen und Vorstellungen der Lehrer anpassen und je besser ihnen eine Tarnung im Sinne der Integration beider Lehrpläne gelingt, desto größer wird die Chance für eine erfolgreiche schulische Karriere. Dies bedeutet aber auch, dass der Schulalltag für die Heranwachsenden aus vielen widersprüchlichen und konkurrierenden Situationen und Anforderungen besteht. In Anlehnung an Goffman (vgl. 1971) hat Thomas Heinze (vgl. 1980) eine Systematik unterschiedlicher Strategien (so genannter Schülertaktiken) von Heranwachsenden im Schulalltag erarbeitet:
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Abgeschirmtes Engagement: Diese Taktik kann auch als ‚bluffen‘ beschrieben werden. Man gibt sich interessiert und aufmerksam und ist in Wirklichkeit mit den Gedanken ganz woanders. Selbst-Engagement: Beispielsweise mit der Haarspange spielen, die Fingernägel reinigen, Briefchen schreiben, gähnen oder leise fluchen. Diese Verhaltensweisen stellen, bzw. die Taktik des Selbst-Engagements stellt für Schülerinnen und Schüler eine Ventil-Funktion dar. In der Regel handelt es sich um Situationen, in denen sie sich langweilen und dergestalt gegen das Unterrichtsgeschehen protestieren (wollen). Geistige Absenz: Beispiele für geistige Absenz sind Tagträumereien, aber auch ‚Zu-sich-selber-Sprechen‘ oder das Herumkritzeln werden dazu gezählt. Es sind Zeichen „für die Entfernung von allen öffentlichen, konkreten Angelegenheiten innerhalb der Situation“ (Goffman zitiert nach Heinze 1980: 88). Okkultes Engagement: Das okkulte Engagement ist dadurch gekennzeichnet, dass die betreffenden Schülerinnen oder Schüler gar nicht merken, dass sie geistig abwesend sind. Die Hintergründe für dieses Verhalten bleiben für die Außenstehenden oft rätselhaft. Sie nehmen lediglich wahr, dass ein Schüler oder eine Schülerin abwesend und kaum erreichbar ist. Okkultes Engagement wird deshalb oft auch pathologisiert. Augensprache: Der Blickkontakt ist ein wichtiges Beziehungsvehikel. Es gibt im Unterricht häufig Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler den Blickkontakt mit Lehrern vermeiden. Sie schauen dann in ihr Buch oder Heft, zum Fenster hinaus oder auf den Boden. Diese Taktik wird immer dann in Anschlag gebracht, um zu signalisieren: Ich möchte nicht aufgerufen werden bzw. ich möchte mich nicht äußern. Die genannten Strategien bzw. Taktiken ermöglichen es den Schülerinnen und Schülern, die Anforderungen ihrer Lehrer zu unterlaufen und Einfluss auf die Unterrichtsgestaltung zu nehmen. Damit wird ein Aspekt schulischer Sozialisation angesprochen, der Kindern und Jugendlichen ein breites Betätigungsfeld und die Möglichkeit der Äußerung bzw. Verteidigung eigener Bedürfnisse eröffnet. Die Ausbildung von Strategien und Taktiken im Schulalltag ist im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung von Heranwachsenden ausgesprochen wichtig. 3.2.4 Schulische Sozialisation über Rituale Goffman (vgl. 1971) zufolge wird soziale Ordnung vor allem durch ritualisierte Verhaltensweisen in der Interaktionssituation hergestellt. Die Art und Weise unseres Zusammenlebens, die Tradierung von Normen und Werten kann dem-
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zufolge über die Analyse von Interaktionsritualen erschlossen werden. Wenn wir einem uns bekannten Menschen auf der Straße begegnen, begrüßen wir ihn in der Regel mit einem bestimmten Ritual, d. h. wir geben ihm beispielsweise die Hand. Mit diesem schlichten Beispiel eines Begrüßungsrituals nähern wir uns anschaulich einer Charakterisierung von Ritualen. Diese müssen von den sich zufällig Treffenden nicht erklärt werden, jeder versteht sie sofort und dergestalt stiften Rituale Vertrautheit und Gemeinschaft. Ein Ritual hat mit ‚Wiedererkennen‘ zu tun, mit einem für eine bestimmte Situation charakteristischen Handlungsmuster. Die wohl ursprünglichste Situation des ‚Wiedererkennens‘ finden wir nach Erikson (1968: 485) zwischen Mutter und Säugling als menschlichen Grundakt beiderseitigen Erkennens: Die Interaktionsrituale vermitteln dem Säugling das Gefühl „jemandem anzugehören und jemand zu sein.“ So wie die Interaktionsrituale zwischen Mutter und Säugling den beiden, aber vor allem dem Säugling, feste Haltepunkte im Wechselgeschehen eines Tages bieten, dienen Rituale auch im weiteren Sozialisationsprozess als wichtige Orientierungen im Interaktionsgeschehen, sei es in der Gestaltung eines Tages (gemeinsames Essen zu festgelegten Zeiten) oder eines Jahres (bestimmte Feste oder Feiern), sei es zu bestimmten biographischen Ereignissen (Kommunion, Konfirmation, Volljährigkeit oder Geburt eines Kindes). Fragen wir nun nach Ritualen in der schulischen Sozialisation, taucht sogleich ein gewisses Unbehagen auf. Rituale werden mit Autorität, Gehorsam und schulischem Zwang verknüpft. Begründungen für diese eher negative Seite von Ritualen liefert Franz Wellendorf (vgl. 1979), der eine profunde Analyse der Funktionsweise und Wirkung schulischer Rituale vorgelegt hat. Seine schulkritischen Aussagen stammen zwar aus den 1970er Jahren, doch beziehen sie sich auf eine institutionelle Struktur, die bis heute – wie bereits erwähnt – weitgehend gleich geblieben ist. Schulische Rituale, die von ihm vor dem theoretischen Hintergrund des Symbolischen Interaktionismus (siehe dazu Kapitel 2.3.2) analysiert wurden, sind durch vier Merkmale gekennzeichnet (vgl. Wellendorf 1979: 67ff.): Rituale bezeichnen ,typische Szenen‘, in denen die Handlungen und Interaktionen der Einzelnen in einen Zusammenhang zum sozialen Miteinander gebracht werden, ohne dass Erwartungen oder Forderungen immer wieder neu beweispflichtig werden. Zum Beispiel ist allen Schülerinnen und Schülern nach einer gewissen Zeit klar, dass zur Überprüfung des Wissens Klassenarbeiten geschrieben werden müssen. Es wird im Rahmen des schulischen Unterrichts erwartet, dass sich alle daran beteiligen. Die Klassenarbeit ist ein Ritual, ein szenisches Arrangement, und wird in der Regel nicht in Frage gestellt. 111
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Durch Rituale bekommen Handlungen eine – über die konkrete Situation hinausweisende – Bedeutung, indem sie einer übergeordneten ,Macht‘ zugesprochen werden. Klassenarbeiten gehören in diesem Sinne zur gesellschaftlich anerkannten ,Macht‘ Leistung. Rituale bestehen aus relativ starren Handlungen und werden selbst dann noch beibehalten, wenn sich die ihnen zugrunde liegenden Umstände verändert haben. Beispielsweise gibt es immer noch das Ritual, dass der Mann, der mit einer Frau den Bürgersteig entlang spaziert, diese vor dem aufgewirbelten Dreck der vorbeitrabenden oder galoppierenden Pferde schützt, indem er die Straßenseite ,abdeckt‘. Eigentlich ist dieses ritualisierte Verhalten gar nicht mehr notwendig, da erstens Pferde im Straßenverkehr relativ selten vorkommen und zweitens die Straßen asphaltiert sind. Ein ganz wichtiges Merkmal von Ritualen ist der Umstand, dass die ritualisierte Interaktionssituation nicht reflektiert wird. Ansonsten wären ja schon eine Problematisierung des Rituals und eine Kritik an den bestehenden Verhältnissen vorhanden. Der Wert und der Zusammenhang eines Rituals werden begrifflich und bewusst nicht mit den jeweiligen Handlungen verknüpft. Ein Ritual erfüllt also, vereinfacht ausgedrückt, seine Aufgabe über die Köpfe der Beteiligten hinweg. Gerade das zuletzt genannte Merkmal ist nach Wellendorf für die schulische Sozialisation ausgesprochen bedeutsam. Die Wirkung schulischer Rituale beruht vor allem darauf, dass ihre Funktionen von den Beteiligten nicht thematisiert werden. Rituale erfüllen ihre Funktionen ganz nebenbei über den Mitvollzug der Lehrer und Schüler. Das bedeutet aber nicht, dass Rituale den Beteiligten äußerlich bleiben, denn zugleich ist deren Wirkung "subjektiv vermittelt, d. h. sie entfalten ihre Macht, indem sie an psychische Dispositionen der einzelnen anknüpfen, die in vorangegangenen Sozialisationsprozessen entstanden sind" (Wellendorf 1979: 71). Die Funktionsweise und Wirkung von Ritualen ist deshalb auch davon abhängig, was der Einzelne aus vorgängigen, außerschulischen Sozialisationsprozessen in das Arrangement der Schule mitbringt. Wellendorf (vgl. 1979: 143ff.) geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass in der Familie (und vermutlich auch in vorschulischen Einrichtungen) eine sprachliche Verständigung über den Sinn von Ritualen verhindert wird. Rituale können somit relativ ungebrochen ihre Wirkung entfalten und den Zwangscharakter schulischer Verhaltensanforderungen verstärken. In den Analysen von Wellendorf überwiegt die kritische Einschätzung von schulischen Ritualen. Sie führen Schülerinnen und Schüler Tag für Tag dazu, sich den Regeln der Institution Schule zu unterwerfen. Rituale wirken sich demzufolge im schulischen Sozialisationsprozess eher störend und belastend aus. 112
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Warum tun wir uns so schwer mit Ritualen? Sicherlich hängt dies mit historischen Erfahrungen zusammen: Richtschnur ist dann z. B. die ritualisierte Erziehung im Nationalsozialismus oder die Wirkung schulischer Rituale im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Restaurationsbemühungen in den 1950er und 1960er Jahren. Rituale werden folgerichtig häufig mit ,Rückschritt‘ gleichgesetzt. Des Weiteren „sind Rituale für manche geradezu die Inkarnation einer neokonservativen Wendepädagogik, dienen in dieser Sichtweise also der Wiedereintrainierung vorkritischer Schülerhaltungen“ (Ziehe 1997: 123). Solche Vorbehalte blenden den positiven Gehalt dessen aus, was Rituale für die Sozialisation von Heranwachsenden bedeuten können: In Gruppenkontexten (z. B. der Peer-Group) werden durch Rituale gemeinschaftliche Orientierungen ausgedrückt, in denen sich der Einzelne wieder erkennt. Rituale im Unterricht können der Förderung von Selbständigkeit der Schülerinnen und Schüler dienen, beispielsweise durch selbsterarbeitete und festgelegte Reihenfolgen von Lernschritten. Rituale können auch zum Mitdenken und zu eigenverantwortlichem Handeln führen, denn in der Regel besteht neben einem relativ fest gefügten Handlungsrahmen noch Raum für individuelle Ausgestaltungen, d. h. Rituale stiften in diesem Sinne hilfreiche Orientierungsmuster. Schließlich sind Rituale nicht ,fraglos‘ gültig, sondern veränderbar (wenn dies auch häufig erst in der Langfristperspektive sichtbar wird). Werden diese Akzente – die mitunter auch in den kritischen Analysen von Wellendorf erkennbar sind – berücksichtigt, dann können Rituale, wenn sie eben nicht nur als unterdrückende Automatismen des schulischen Alltags gekennzeichnet werden, als bereichernde Ereignisse einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leisten (vgl. Alberts et al. 1991). 3.2.5 Schulversagen und Schulverweigerung Schulbesuch und Schulerfolg sind für alle Heranwachsenden von entscheidender Bedeutung und von großer Wichtigkeit. Berufsausbildung, Verdienst und Lebensstandard, kurz: der gesamte künftige Lebensweg und die Lebensmöglichkeiten werden über den Schulerfolg oder den Schulmisserfolg entweder erschlossen oder versperrt. In diesem Kapitel soll es in erster Linie um die Seite des Schulmisserfolgs und den damit in Zusammenhang stehenden Benachteiligungen gehen. Zwei Begriffe werden in diesem Kontext häufig genannt: Schulversagen (1) und Schulverweigerung (2). 113
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(1) Schulversagen: Mit ,Schulversagern‘ werden von der Arbeitsgruppe Bildungsbericht am Max Planck Institut für Bildungsforschung (vgl. 1994: 276) jene Schülerinnen und Schüler bezeichnet, die nach Vollendung der Schulpflicht die allgemeinbildende Schule ohne Abschluss verlassen. Je höher das durchschnittliche formale Bildungsniveau der Bevölkerung steigt, desto mehr werden Schulversager und Schulversagerinnen (mitunter trotz aller schulischen Bemühungen) zu einer stigmatisierten Gruppe. Werden Schülerinnen und Schüler zur Schule befragt, dann beklagen sie sich über die sinnlosen Regeln, über die fehlende Lebensnähe der schulischen Inhalte und vor allem über den Leistungsdruck (vgl. Ulich 1991: 379). Damit haben sie genau den Nerv des sozialisatorischen Effekts von Schule getroffen: Er liegt in der Förderung und Forderung einer abstrakten und von Inhalten unabhängigen Leistungsbereitschaft. Im Kapitel zum ‚heimlichen Lehrplan‘ ist schon darauf hingewiesen worden, dass Leistungsbeurteilung auch immer als Beurteilung der eigenen Person empfunden wird. Erhält ein Schüler eine schlechte Note für seine schulische Leistung, dann verbindet er damit auch eine Abwertung oder Ablehnung seiner Person, eine gute Note führt hingegen zu einer Aufwertung. Gute Schulleistungen sind die Quelle positiven Selbstwertgefühls, schlechte Schulleistungen sind eher als identitätsbedrohend einzuschätzen. Deshalb steht das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen in einem direkten Zusammenhang mit ihrem Leistungsstand. Die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von der Akzeptanz oder der Ablehnung von anderen Menschen erfahren die Heranwachsenden nicht erst in der Schule. Meist sind es die Eltern, welche ihnen die grundlegenden Leistungsmaßstäbe und Leistungsanforderungen vermitteln. Fühlt sich ein Kind mit seinen Fragen bei den Eltern aufgehoben und wird es auf seinem Lernweg von ihnen unterstützt und ermutigt, dann baut es in der Regel ein positives Selbstwertgefühl auf. Im gegenteiligen Fall kann es zu Minderwertigkeitsgefühlen führen. In der Motivationspsychologie wird dann von einer Misserfolgsorientierung im Leistungsverhalten Heranwachsender gesprochen. Traut sich ein Kind aufgrund von Sozialisationserfahrungen wenig zu und erhält auch in der Schule kaum ermutigende Rückmeldungen, dann verfestigt sich das negative Selbstbild zusehends. Nun sind Schulen in aller Regel nach einem Leistungs- und Konkurrenzprinzip aufgebaut, was die schulische Sozialisation in der Polarität von Können und Nichtkönnen zu einem Ablauf angsterregender Bewährungssituationen werden lässt. Es ist mittlerweile unstrittig, dass „Angst in der Schule häufig ausgelöst wird und zwar vor allem im Kontext der subjektiven Verarbeitung schulischer Leistungsanforderungen“ (Ulich 1991: 389). Etliche Untersuchungen haben einen Zusammenhang zwischen Schulleistung und der Verbreitung von Schulbzw. Leistungsangst nachgewiesen (vgl. Rost und Schermer 1998). Treten die 114
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drei Faktoren – schlechte Schulleistungen, negatives Selbstbild und Schulangst – zusammen auf (bzw. in der Regel bedingen sie sich), dann fügen sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Bild einer problematischen schulischen Sozialisation zusammen, dessen Konsequenz Schulversagen ist. Schulversagen ist dadurch gekennzeichnet, dass es durch Zurückstellungen und Klassenwiederholungen zum einen zu Verzögerungen und Brüchen in der Schullaufbahn, zum anderen häufig auch zu sozialen Abwertungen und zu Etikettierungen kommt. Kritik und Strafen seitens der Eltern und Anerkennungsverluste bei Gleichaltrigen verschärfen diese schon ohnehin schwierige und belastende Situation. (2) Schulverweigerung: Wir kennen aus dem Alltag vermutlich alle das Phänomen, dass wir gegen etwas eine Abneigung empfinden. Auf Schule bezogen wird in der wissenschaftlichen Literatur häufig beklagt, dass mit zunehmender Dauer des Schulbesuchs auch die Abneigung gegen Schule zunehmen würde. Eine solche Abneigung – mitunter auch als Schulunlust oder Schulmüdigkeit beschrieben – kann sich bis zur Schulverweigerung ausweiten. Die Schule wird im Zuge dessen als unangenehm oder bedrohlich empfunden und in der letzten Konsequenz ganz gemieden. Nun sind Schulverweigerer aber keine homogene Gruppe: Bezeichnet werden damit Schülerinnen und Schüler, die zwar noch am Unterricht teilnehmen, jedoch die Leistungserbringung verweigern, aber auch solche, die konsequent – trotz Schulpflicht – dem Unterricht fernbleiben. Schulverweigerer können nach Thimm (vgl. 1998: 44f.) unterschiedlichen Typen zugeordnet werden: Passive Schulablehnung: Damit sind Formen des inneren Ausstiegs aus dem Unterricht gemeint (Träumen oder Inaktivität). Aktionsorientierte Schulverweigerung: Hiermit wird destruktives Verhalten im Unterricht bezeichnet, das über das ‚normale‘ Stören hinausgeht, sei es anhaltende Nichterfüllung von Aufgaben oder Beleidigung von Lehrkräften. Dauerhafte Schulabwesenheit: Gemeint ist hiermit das bekannte ‚Schwänzen‘, das jedoch über ‚normale‘ Dimensionen hinausgeht und auch mit weitreichenden Konsequenzen für die betreffenden Schüler verbunden ist. Schulverweigerung als psycho-somatischer Symptomkomplex: Zu diesem Typ der Schulverweigerung wird beispielsweise ausgeprägte Schulangst gezählt, die in der Regel dann auch therapeutisch behandelt werden muss. Die Gründe für bzw. die Ursachen von Schulverweigerungsverhalten sind vielfältig: Eine wichtige Rolle spielt sicherlich das Leistungs- und Konkurrenzprinzip in der Schule, d. h. vor allem die vergleichende Bewertung von Leistungen. Häufig werden für Schulverweigerung aber auch familiäre Lebensverhältnisse
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als Ursache genannt. Dabei geht es um Vernachlässigung wie auch um Überbehütung als Auslöser des Fernbleibens von der Schule. Des Weiteren werden Suchtprobleme, Gewalt in der Familie, Scheidung und häufige Partnerwechsel der Eltern als Mitverursacher von Schulverweigerung genannt (vgl. Thimm 1998: 50). Ein weiterer, wichtiger Aspekt ist auch, dass Eltern mitunter die Schulverweigerung ihrer Kinder akzeptieren oder sich für den Schulbesuch der Kinder überhaupt nicht interessieren. Es gibt Eltern, die die Ansicht ihrer Kinder zur Sinnlosigkeit der Schule teilen und Zweifel haben, ob der Schulbesuch überhaupt nützlich ist. Schließlich ist noch die Form der kollektiven Schulverweigerung zu nennen, wobei insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Banden und Cliquen eine Rolle spielen. Die Angst vor den Mitgliedern einer anderen Bande führt dazu, dass mitunter eine ganze Schülergruppe dem Schulunterricht fern bleibt (vgl. Schreiber-Kittl 2001). Angst – nicht nur Schulangst – ist ein zentraler Dreh- und Angelpunkt der Schulverweigerungsproblematik. Schülerinnen und Schüler haben Angst vor Lehrkräften, vor den Eltern und vor ‚mobbenden‘ Mitschülerinnen und Mitschülern. Schulverweigerung ebenso wie Schulversagen dürfen aber nicht nur auf Probleme von Kindern und Jugendlichen mit der Schule zurückgeführt werden, sondern stehen auch immer im Zusammenhang mit der Schule als Institution. Mit den hier behandelten Phänomenen lassen sich besonders deutlich die sozialisatorischen Effekte von Schule aufweisen, die der Paradoxie des gesellschaftlichen Auftrags von Schule zuzuschreiben sind. Diese Paradoxie, zugleich fördern und auslesen zu müssen, wird vermutlich nicht aufzulösen sein, aber es sollte der Blick sehr viel stärker als bisher auf die individuelle Förderung von benachteiligten Schülerinnen und Schülern gerichtet werden, damit diese nicht zu Schulversagern bzw. Schulverweigerern werden. 3.2.6 Schule und Selbstwertgefühl Im vorigen Kapitel ist schon auf die Bedeutung des Selbstwertgefühls im schulischen Sozialisationsprozess hingewiesen worden (siehe dazu aber auch Kapitel 2.5). Die Schule eröffnet Kindern und Jugendlichen – sehr viel stärker und häufiger als die Familie – Gelegenheiten, sich mit Gleichaltrigen zu vergleichen oder eine Rückmeldung durch diese zu bekommen und dergestalt ein Gefühl für das eigene Leben, die eigenen Situation zu entwickeln. Es sind hierbei insbesondere drei Kernbereiche zu unterscheiden, die erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Selbstbewertung bzw. des Selbstwertgefühls haben.
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Tabelle 3 Schulerfolg
Anerkennung in der Altersgruppe
Lehrer-Schüler-Interaktion
Auswirkungen auf die Entwicklung des Selbstwertgefühls haben Zensuren, Schulform und das Kurssystem (z. B. Fachleistungskurse) im Sinne einer Erfolgs- oder Misserfolgsrückmeldung.
Sozialer Erfolg ist ein zirkulärer Prozess. Schülerinnen und Schüler, die ein positives Selbstwertgefühl ‚besitzen‘, erhalten auch eher informelle Anerkennung (hier zeigt sich oftmals die enge Verzahnung von kulturellem mit sozialem Kapital; siehe dazu Kapitel 2.3.3).
Wichtige Einflussfaktoren auf die Selbstbewertung der Schülerinnen und Schüler sind die Art und Weise, wie die Lehrkräfte den schulischen Erfolg oder Misserfolg kommunizieren und wie sie den Leistungsdruck im Unterricht aufbauen, vermitteln oder abschwächen.
Diese Bereiche schulischer Sozialisation stehen in einem Wechselverhältnis zueinander und können zu einer Bestätigung, Aufrechterhaltung und Verstärkung führen. Erfolge und Anerkennung sind dabei die zentralen Elemente, aus denen Kinder und Jugendliche ein positives Selbstwertgefühl entwickeln können. Wie kommt es nun aber dazu, dass einige Schülerinnen und Schüler in unterschiedlichen Schulsituationen Erfolge und Anerkennung finden, andere kaum oder überhaupt nicht? Als Antwort ist (nach wie vor) zunächst einmal der Verweis auf das familiäre Herkunftsmilieu wichtig: Ob sich das Selbstwertgefühl auf hohem Niveau bewegt, hängt stark davon ab, ob eine Entwicklung in diese Richtung in der Familie gefördert bzw. überhaupt darauf geachtet wird. Eine zweite – nicht weniger wirksame – Einflussvariable ist das Geschlecht. Mädchen verfügen infolge der geschlechtsspezifischen Sozialisation über ein wesentlich schwächer ausgeprägtes Selbstwertgefühl im Vergleich zu Jungen (vgl. Horstkemper 1987). Eine weitere Antwort zu der oben gestellten Frage liegt in der Wirkung von zwei Prozessen. Der erste kann als formeller Verstärkungsprozess bezeichnet werden: Finden Kinder und Jugendliche im Elternhaus frühzeitig Bestätigungen und Anerkennungen für ihr Tun und werden von ihren Eltern gefördert, dann folgt daraus eine Festigung des Selbstvertrauens, was zu einem positiven Selbstwertgefühl beiträgt und das wiederum kann zu besseren Leistungen in der Schule führen.
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Abbildung 9
Der zweite Prozess kann als informeller Verstärkungsprozess bezeichnet werden: Kinder und Jugendliche, die von ‚Haus aus‘ ein positives Selbstwertgefühl mitbringen, werden auch im Verhältnis zu ihren Mitschülern und Mitschülerinnen schneller und häufiger die Initiativen im Klassenverband ergreifen. Dies wird in aller Regel von den Mitschülerinnen und Mitschülern honoriert und führt wiederum zur Festigung des Selbstvertrauens und zu einer Stabilisierung des sozialen Habitus.
Abbildung 10
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Die beiden Verstärkungsprozesse sind nicht unabhängig voneinander zu betrachten und sind zudem stark von den jeweiligen Wertvorstellungen einer Altersgruppe abhängig. Es sollte aber deutlich geworden sein, wie stark die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls von der sozialen Herkunft sowie der frühzeitigen Unterstützung und Förderung seitens der Eltern abhängig ist – und wie sich das letztlich im Rahmen der schulischen Sozialisation niederschlägt, die in diesem Zusammenhang ein Teil jenes Prozesses ist, der dazu beiträgt, dass die Sozialstruktur einer Gesellschaft beständig reproduziert wird. 3.2.7 Abweichendes Schülerverhalten – Schulische Sozialisation und Etikettierung Im Grunde verhalten sich alle Schülerinnen und Schüler im Schulalltag mehr oder weniger deviant – anders ausgedrückt: Deviantes bzw. abweichendes Schülerverhalten ist keine Ausnahme, sondern der Normalfall. Abweichend wird ein Verhalten im Kontext der schulischen Sozialisation immer dann genannt, wenn es gegen die Regeln der Institution Schule verstößt. Solche Verstöße bilden beispielsweise auch Unterrichtsstörungen wie Sachen herumwerfen oder mit dem Tischnachbarn tuscheln. Aber erst dann, wenn eine Störung dem Lehrer oder der Lehrerin wiederholt auffällt und als gravierende Regelverletzung auch sanktioniert wird, handelt es sich tatsächlich um abweichendes Verhalten. Die Entstehung und die Folgen abweichenden Verhaltens können (nicht nur) im schulischen Bereich sehr gut mit dem Labeling Approach (Etikettierungsansatz) theoretisch gerahmt werden. Der Labeling Approach ist ein interaktionistisch orientierter Erklärungsansatz abweichenden Verhaltens, dessen Vertreter von folgenden Grundannahmen ausgehen (vgl. Lamnek 1997: 24): Abweichendes Verhalten wird von der sozialen Umwelt, die auf bestimmte Verhaltensweisen reagiert, erzeugt. Abweichendes Verhalten ist das Resultat eines interaktiven Prozesses. Die Zuschreibung des Etiketts ,abweichend‘ erfolgt gruppen-, situationsund personenspezifisch. Verhaltensweisen als abweichend zu definieren, ist informell und/oder formell durch offizielle Instanzen der sozialen Kontrolle möglich. Erfolgen solche Definitionen personen- oder rollenspezifisch, so werden ,normale‘ konforme Handlungsmöglichkeiten reduziert und es beginnt eine ,abweichende Karriere‘. Durch weitere Zuschreibungsprozesse entwickelt sich eine abweichende Identität und es verfestigen sich die zugesprochenen Verhaltensweisen.
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Für die Bestimmung abweichenden Verhaltens in der Schule wird als Ausgangspunkt die Definitionsmacht des Lehrers gesehen. Wie bewertet er beispielsweise lautes Reden? Ist es eine Störung des Unterrichts oder der Ausdruck eines Kommunikationsbedürfnisses? Da guter Unterricht zumeist mit ruhigem und geordnetem Unterricht gleichgesetzt wird, ist anzunehmen, dass lautes Reden eher als Störung angesehen wird. Die an den betreffenden Schüler herangetragene Feststellung ,Du bist ein Störer‘ wird (bei wiederholtem Auftreten der Störung) im Laufe der Zeit mit der Person in Verbindung gebracht. Anders ausgedrückt: Der Schüler hat nun ein Etikett oder ein Stigma, d. h. es wird ihm ein negativer sozialer Status zugeschrieben. Aufgrund dieses Etiketts wird sich der Schüler zunehmend so verhalten, wie es der Lehrer vormals definiert hat. Allmählich wird er also durch diese Fremddefinition in die Rolle des ,Abweichlers‘ gedrängt, weil von ihm seitens des Lehrers (aber auch Seitens der Mitschülerinnen und Mitschüler) kein anderes Verhalten mehr erwartet wird (vgl. Holtappels 1987). Etikettierung ist dementsprechend ein Kreislauf von Zuschreibung und Reaktion. Auch bei dieser Ausprägung schulischer Sozialisation ist die Schulleistung ein ausgesprochen einflussreicher Faktor. Die ungünstige Situation, in der sich leistungsschwache Schülerinnen und Schüler befinden, wird – häufiger als bei leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern – zusätzlich noch durch abweichendes Verhalten verschärft. „Die Haupttendenz besteht darin, daß leistungsschwache Schüler und Klassenwiederholer weitaus häufiger sich selbst als Abweichler typisiert sehen, und je stärker dies der Fall ist, desto zahlreicher werden die Normverstöße“ (Ulich 1991: 392).
Die institutionelle Reaktion auf leistungsschwache Schüler, die zusätzlich noch als Abweichler gelten, ist in der Regel die Aussonderung, sei es in eine untere Schulform – beispielsweise von der Realschule in die Hauptschule – oder in eine spezielle Schule, die Förderschule. Dieser Vorgang zeigt, wie die in der Institution Schule beschäftigten Lehrerinnen und Lehrer die Vorstellungen von ,Norm‘ und ,Abweichung‘ maßgeblich prägen und aufrechterhalten. Der interaktionistische Ansatz des Labeling Approach macht deutlich, dass im Schulalltag beispielsweise allein aufgrund gestörter oder verzerrter Kommunikationsprozesse immer wieder ,Abweichler‘ produziert werden. Der Verdienst dieses Ansatzes liegt darin, die Logik und die Mechanismen dieser ,Produktion' aufzudecken. Kritisch wird häufig angemerkt (und diese Kritik hat durchaus ihre Berechtigung), dass abweichendes Verhalten dem Labeling Approach zufolge lediglich als Produkt eines Zuschreibungsprozesses interpretiert werden kann und sich die Heranwachsenden scheinbar ohnmächtig den Fremdeinschätzungen der de120
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finitionsmächtigeren Lehrerinnen und Lehrer anpassen und sich dergestalt nicht mehr produktiv (im Sinne der Veränderung eigener Verhaltensweisen) mit der Schule auseinandersetzen würden (vgl. Helsper 1993: 354). Gleichwohl hat dieser Ansatz die Klärung schulischer Sozialisationsprozesse auf der Ebene des Subjekts ein gutes Stück vorangebracht. 3.2.8 Mädchen und Jungen in der Schule – Koedukation Wenn Kinder in die Schule kommen, dann wurden schon wesentliche Aneignungsprozesse im Sinne geschlechtsspezifischer Sozialisation vollzogen. Wie ergeht es nun Mädchen als Mädchen und Jungen als Jungen in der Schule? Dieses Themenfeld der Sozialisationsforschung wurde lange Zeit von der feministischen Schulforschung dominiert. Schule wurde aus dieser Forschungsperspektive grundsätzlich als eine Institution der patriarchalisch geprägten Gesellschaft interpretiert. Die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen ist seit Einführung der Koedukation im Jahr 1965 zwar zur ‚Normalität‘ geworden, doch im Unterricht werden die geschlechtsspezifischen Rollenklischees über den ‚heimlichen Lehrplan‘ immer wieder von neuem reproduziert (vgl. Hilgers 1994). Mädchen sind auf den ersten Blick in allen Schulformen angemessen repräsentiert und schneiden, was Noten und Schulabschlüsse anbetrifft, schon seit längerem besser oder zumindest gleich gut ab wie Jungen. Das Interesse der Schulforscherinnen besteht jedoch in der Klärung der Frage, ob die zahlenmäßig gute Vertretung von Mädchen und ihre guten Schulleistungen auch zu einem Abbau von geschlechtsspezifischen Benachteiligungen geführt hat. Dahinter steht die Frage, ob die Koedukation helfen kann, über die schulische Sozialisation den Weg zu einer faktischen Gleichberechtigung der Geschlechter zu ebnen (vgl. Kreienbaum 2006). Werden also Jungen und Mädchen im Unterricht gleichbehandelt? Im Folgenden sollen ausgewählte Ergebnisse der Schulforschung diskutiert werden. Es geht dabei vornehmlich um das Für und Wider der Koedukation und die sinnvollen oder weniger sinnvollen Veränderungen im schulischen Zusammenleben der Geschlechter. 3.2.8.1 Mädchen: Die Opfer der Koedukation? Zentraler Diskussionspunkt zum ‚pro und contra Koedukation‘ ist die Frage, wem die gemeinsame Erziehung am meisten nützt, den Jungen oder den Mädchen. Engagierte Lehrerinnen und Schulforscherinnen stellen in der Regel fest, dass Mädchen die Opfer bzw. Verlierer seien. Hintergrund dieser Sichtweise sind zahlreiche Interaktionsstudien, beginnend mit den Untersuchungen von Heidi Frasch und Angelika Wagner (vgl. 1984), die das geschlechtsspezifische Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern gegenüber Schülerinnen und Schü121
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lern zum Thema hatten. Die beiden Forscherinnen stellten fest, dass Jungen im Unterricht signifikant häufiger aufgerufen, gelobt, getadelt und aufgrund mangelnder Disziplin ermahnt werden. Kurz: Jungen erhalten in der Schule mehr Aufmerksamkeit von Lehrerinnen und Lehrern als Mädchen – und dies oftmals entgegen der ausdrücklichen Intention der Lehrpersonen. „Einstellung und selektive Wahrnehmung des Lehrers drücken sich darin aus, dass der Unterrichtsbeitrag von Jungen – unbemerkt – als wertvoller eingestuft und Jungen für förderungswürdiger erachtet werden. Lehrer spornen deshalb Jungen mehr an, was zu häufigerem Lob und Tadel und Disziplintadel führen kann, wenn die schulische Mitarbeit der Jungen durch deren aggressives Verhalten gefährdet ist“ (Frasch und Wagner 1982: 275).
Bemerkenswert ist, dass Lehrer zwar eher dazu neigen, ihre Aufmerksamkeit den Schülern zu schenken, der Unterschied zu Lehrerinnen ist aber nicht sonderlich stark ausgeprägt. Unabhängig von der Schulleistung halten Lehrerinnen und Lehrer die Jungen in der Schule für intelligenter, aufgeweckter, kreativer und phantasievoller (vgl. Brehmer 1991). Die Bevorzugung von Jungen im Unterricht – zumindest in Bezug auf die Häufigkeit der Berücksichtigung bei Wortmeldungen – wird in anderen Veröffentlichungen bestätigt (vgl. Spender 1985, Enders-Dragässer und Fuchs 1988). Bereits bei der Planung des Unterrichts wird von den Lehrenden zunächst einmal das (Lern-)Verhalten der Jungen antizipiert: Von Jungen erwartet man mehr Lernschwierigkeiten und deshalb erscheint es pädagogisch erforderlich, mehr für sie zu tun, damit auch sie sich die Unterrichtsinhalte aneignen können. Des Weiteren liegt die stärkere Berücksichtigung von Jungen darin begründet, dass guter Unterricht in der Regel gleichgesetzt wird mit störungsfreiem Unterricht – und Störungen werden am ehesten von Jungen erwartet. Deshalb werden bei der Unterrichtsvorbereitung weitgehend Themen ausgewählt, von denen sich die Lehrerinnen und Lehrer erhoffen, dass sie für Jungen interessant und spannend sind (vgl. Enders-Dragässer 1989, Böhnisch und Winter 1993: 105f.). „Den Mädchen wird auf diese Weise vermittelt, dass sie und ihre Interessen und Themen nicht wichtig genug sind, um im Unterricht gleichwertig behandelt zu werden. Sie lernen, die Bevorzugung der Jungen und ihr Dominanz- und Störverhalten für normal und unabänderlich zu halten“ (Enders-Dragässer 1989: 6).
Eine solche geschlechtsspezifische Hierarchisierung lässt sich auch in der Schüler-Schülerinnen-Beziehung feststellen. Monika Barz und Susanne MaierStörmer (vgl. 1982: 280ff.) haben das Verhältnis von Jungen und Mädchen zueinander untersucht. In den geführten Interviews wurde deutlich, dass Jungen
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immer wieder ihre Dominanz gegenüber den Mädchen herausstellen wollen – am häufigsten über verbale und physische Gewalt. Mädchen entwickeln demgegenüber eher passive Widerstandsformen im Sinne von Duldung oder Rückzug. Durch diese geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen stärken die Jungen ihr Durchsetzungsvermögen und ihr Selbstwertgefühl zu Lasten der Mädchen, die sie beständig lächerlich machen, belästigen und dergestalt verunsichern. Anders ausgedrückt: Sie demonstrieren ihre ‚männliche Überlegenheit‘ und tragen damit auch zur Reproduktion des Geschlechterverhältnisses bei (vgl. Barz 1984, Enders-Dragässer 1989). Gleichwohl Jungenverhalten das Unterrichtsgeschehen beeinträchtigt und stört, wird es von den Lehrkräften als ‚normal‘, nämlich als Ausdruck von Männlichkeit wahrgenommen und akzeptiert. Schulforscherinnen interpretieren diesen Sachverhalt als Effekt der Wahrnehmungsverzerrung im Sinne einer Fixierung auf geschlechterrollenstereotypes Verhalten (vgl. Heuer 1994). Die norwegische Forscherin Tone Skinningsrud (vgl. 1984) hat darauf hingewiesen, dass Mädchen sich im Unterricht eher kooperativ, integrativ und aufgabenorientiert verhalten. Sie stellen Verständnisfragen und erhöhen damit die Redundanz des Unterrichts (vgl. Enders-Dragässer und Fuchs 1988: 22f.). Anerkennung bekommen Mädchen für ihr Verhalten, das die Qualität des Unterrichts eher befördert, hingegen nicht. Es wird nicht als Lernleistung der Mädchen und nicht als soziales Gegengewicht gegenüber dem störenden Verhalten der Jungen wahrgenommen, sondern als selbstverständliches, ‚normales‘ Mädchenverhalten nachgerade erwartet. So entsteht ein Paradoxon: Das defizitäre Verhalten der Jungen stärkt deren Selbstwertgefühl, das kooperative, integrative und aufgabenorientierte Verhalten der Mädchen wird als selbstverständlich angenommen und ihr Selbstwertgefühl eher tangiert denn gestärkt. Dieser Sachverhalt wurde im Rahmen einer Längsschnittstudie an hessischen Gesamtschulen bestätigt, bei der die Schulforscherin Marianne Horstkemper (1987: 214) zu dem Schluss kommt, dass „der Zuwachs an Selbstvertrauen bei Jungen durchgängig auf höherem Niveau erfolgt als bei den Mädchen. Dieser Niveauunterschied ist zu Beginn der Sekundarstufe noch unbedeutend, vergrößert sich aber im Laufe der Zeit. Dieser Vorsprung des Selbstvertrauens von Jungen lässt sich als durchgängiges Ergebnis in allen Subgruppen unserer Stichprobe nachweisen. Wir können somit festhalten, dass die Erfahrungen im Laufe der Schulzeit nicht etwa zu einer Angleichung des Selbstvertrauens zwischen den Geschlechtern führen, sondern im Gegenteil auf eine Auseinanderentwicklung hinauslaufen, bei der die Mädchen schlechter abschneiden.“
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Die Ursache für eine Benachteiligung der Mädchen im Rahmen schulischer Sozialisationsprozesse liegt vermutlich in geschlechtsspezifischen Interaktionsund Attribuierungsmustern auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer: Eher als ‚männlich‘ kategorisierbare Verhaltensweisen erhalten eine höhere Wertschätzung als solche, die eher als ‚weiblich‘ eingestuft werden. Beispielsweise werden gute Schulleistungen – die unbestritten ein überaus wichtiger Faktor beim Aufbau von Selbstvertrauen sind (vgl. Mühlen-Achs 1987) – bei Mädchen eher als Ergebnis von Anstrengung, bei Jungen eher als Begabung interpretiert. Obwohl Mädchen in der Schule mittlerweile besser abschneiden als Jungen, nützt ihnen das bezüglich der Stärkung ihres Selbstvertrauens wenig, der Selbstvertrauensabstand zwischen den Geschlechtern vergrößert sich während der Schulzeit vielmehr stetig (vgl. Horstkemper 1987). Ein weiterer Faktor der Benachteiligung von Mädchen gegenüber Jungen wurde im Rahmen der Schulforschung durch die Analyse von Schulbüchern herausgearbeitet. Inhaltsanalysen von Deutsch-, Englisch- und Mathematikschulbüchern haben eine quantitative und qualitative Dominanz im Hinblick auf die positive Darstellung von Männern und Jungen ergeben (vgl. Glötzner 1982, Demes 1989). Frauen werden als defizitäre Menschen dargestellt, Männer sind das normative Ideal und die Hauptakteure, welche das Geschehen in den Schulbüchern dominieren. Dreiviertel aller Hauptpersonen in den untersuchten Schulbüchern sind Männer (vgl. Dick 1986) und diese Männer werden zudem bei der Ausübung attraktiver Berufe, Frauen – wenn sie überhaupt auftauchen – überwiegend bei der Hausarbeit und der Kindererziehung gezeigt. Anders ausgedrückt: In Schulbüchern werden geschlechtsspezifische, stereotype Rollenmuster vermittelt, die zum Teil nichts mehr mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun haben. Umstritten ist jedoch, ob die Inhalte von Schulbüchern tatsächlich Auswirkungen auf geschlechtsspezifische Verhaltes- und Denkweisen von Mädchen und Jungen haben (vgl. Ulich 1987). Im nächsten Kapitel werden wir darauf noch ausführlicher eingehen. Breiten Raum im Nachweis der Benachteiligung von Mädchen im Rahmen koedukativen Unterrichts nehmen die fachspezifischen Präferenzen von Mädchen und Jungen ein. In etlichen Studien wird immer wieder darauf hingewiesen, dass bei frei wählbaren Unterrichtsfächern in koedukativen Schulen eindeutig geschlechtsspezifische Fächerpolarisierungen nachgewiesen werden können. Mädchen wählen in allen Schulformen weitaus häufiger Fremdsprachen und künstlerische Fächer, Jungen mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer (vgl. Hurrelmann et al. 1986, Hannover 1989). Latein wiederum wird stärker von Jungen präferiert, da dieses Fach mitunter Zugangsvoraussetzung für attraktive Studienfächer wie beispielsweise Medizin oder Jura ist (vgl. Kreienbaum 1992: 49). Ohne das Konkurrenzverhältnis zu Jungen wählen Mädchen, die an Mäd124
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chenschulen unterrichtet werden, aus der gesamten Palette des Fächerangebots und studieren nach dem Abitur auch häufiger mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer im Gegensatz zu Absolventinnen koedukativer Gymnasien. Die Begründung hierfür liegt nahe: An Mädchengymnasien erfahren Schülerinnen weniger Vorurteile und Diskriminierungen in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern (vgl. Ulich 1991). Die Zusammenschau der referierten Forschungsergebnisse ergibt ein eindeutiges Bild: In koedukativen Schulen werden Mädchen benachteiligt – Lehrerinnen und Lehrer schenken Jungen mehr Aufmerksamkeit; Jungen beherrschen das Unterrichtsgeschehen durch Disziplinlosigkeit, während dem integrativen Verhalten von Mädchen wenig Beachtung geschenkt wird; Mädchen beenden ihre Schulzeit mit geringerem Selbstvertrauen, obwohl ihre Schulleistungen durchschnittlich besser sind als die ihrer Mitschüler; Jungen neigen zur Selbstüberschätzung, Mädchen zu einer unangemessenen niedrigen Selbsteinschätzung; Themen, Texte und Materialien, die im Unterricht bearbeitet bzw. herangezogen werden, unterstützen diesen Benachteiligungsprozess durch klischeehafte Darstellungen; immer dann, wenn Mädchen und Jungen die Möglichkeit der Fächerwahl haben, können ‚Wissensreviere‘ ausgemacht werden. Das Bild, welches hier von Jungen gezeichnet wird, verleitet auf den ersten Blick dazu, sich der Meinung anzuschließen, dass Jungen die Nutznießer des koedukativen Schulsystems sind. Zwischen den Zeilen wird immer wieder die These vertreten, dass die Diskriminierung der Mädchen gleichbedeutend mit der Privilegierung der Jungen sei. Doch die lange Zeit akzeptierten Ergebnisse der feministischen Schulforschung werden mittlerweile differenzierter und kritischer betrachtet, ja zum Teil (vgl. Breitenbach 1994: 185) sogar als ‚Flickwerk‘ ohne tragfähige theoretische und empirische Traditionslinien bezeichnet, worauf wir im folgenden Kapitel näher eingehen werden. 3.2.8.2 Einige (kritische) Anmerkungen zur Koedukationsdebatte Bis in die jüngste Zeit hinein, finden sich nur wenige Veröffentlichungen zum Themenfeld Koedukation, die die Situation von Jungen in der Schule einer differenzierten Betrachtung unterziehen. In einer der ersten Expertisen zum Thema ‚Jungensozialisation in der Schule‘ (vgl. Enders-Dragässer und Fuchs 1988) wird beispielsweise – stellvertretend für viele andere Studien – ein ausführliches Klagelied über klassische jungentypische Umgangsformen vorgetragen: „Jungen werden gegenüber Mädchen in einem jungenorientierten Schulsystem in vielerlei Hinsicht bevorzugt. Ihre inhaltlichen Einlassungen und ‚Störungen‘ erschweren die Aufhebung von Benachteiligungen der Mädchen. Es fällt Jungen schwer, sich anders als Konkurrent auf Gruppensituationen einzulassen. Sie haben offensichtlich beachtliche Schwierigkeiten damit, sich selbst Grenzen zu 125
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setzen, auch wenn dies in ihrem eigenen Interesse wäre, auf die Belange und Bedürfnisse anderer einzugehen, Rücksicht zu nehmen und selbstdiszipliniert und einfühlsam in einer Gruppe mitzuarbeiten“ (Enders-Dragässer und Fuchs 1988: 103).
Die Lösung sehen die Forscherinnen in der Bereitstellung von sensibilisierenden Bildungsangeboten für Jungen und Männer – in der Schule wie auch in außerschulischen Bereichen. Dahinter steht die Hoffnung, dass durch die systematische Auseinandersetzung mit der Sozialisation von Jungen auch den Stärken und Kompetenzen der Mädchen zur Anerkennung verholfen werden kann (vgl. Enders-Dragässer 1989: 8). Im Grunde ist in dieser Sichtweise ein schlichtes Ursache-Wirkungs-Modell enthalten – ein Modell, das zum ‚Mainstream‘ der feministischen Schulforschung zu zählen ist (vgl. Breitenbach, 1994: 186). Unberücksichtigt bleibt (nicht nur) in der Expertise von Enders-Dragässer und Fuchs (vgl. 1988), dass es sehr wohl auch Studien gibt, die belegen, dass Mädchen in der Schule beliebter sind, für ihre Leistungen gelobt oder besonders gefördert werden (vgl. Petillon 1978, Hagemann-White 1984: 65). Die Eindeutigkeit der Benachteiligung von Mädchen, wie sie in der genannten Expertise wie auch in Interaktionsstudien immer wieder nachgewiesen wurde, kann vor diesem Hintergrund zumindest relativiert werden (vgl. PreussLausitz 1990). Kritik ist aber auch noch unter anderen Gesichtspunkten zu üben. Mädchen werden als hilflos und passiv, Jungen dagegen als selbstbewusst und aktiv dargestellt. In einer solchen Darstellungsweise ‚regiert‘ die Vorstellung von Subjekten als manipulierte Wesen, als ‚Opfer‘ bzw. ‚Täter‘ (vgl. Tzankoff 1995: 120ff.). Trotz aller Differenziertheit in den Interaktionsanalysen belassen es die Schulforscherinnen bei einem Zirkelschluss: Die Mädchen finden sich mit den vorgegebenen Stärken der Jungen ab, was dann ihre Anpassung und Benachteiligung bewirkt. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass das Geschlechterverhältnis keine isolierbare Kategorie darstellt, die nur auf negative Auswirkungen hin eliminierbar ist (vgl. Breitenbach 1994: 187). Starke und aktive Mädchen oder sogar zurückhaltende und kooperative Jungen spielen in den Untersuchungen keine Rolle. Der immer wieder vorgebrachten Opfer-Täter-Argumentation liegt ein monokausaler Erklärungszusammenhang zugrunde, der überholte verhaltens- und lerntheoretische Annahmen des Behaviorismus in Anschlag bringt und zu statischen bzw. mechanischen Denkmodellen führt (vgl. Nyssen und Schön 1992: 865f.). Ebenfalls monokausale Sichtweisen werden vertreten, wenn es um die sozialisatorische Wirkung von Schulbüchern geht. Die quantitative und qualitative Unterrepräsentation von Frauen und Mädchen in Schulbüchern ist empirisch belegt und wird auch nicht bestritten. In neueren Untersuchungen wurde jedoch
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festgestellt, dass in Schulbüchern schon etliche Veränderungen bezüglich der Darstellung von Geschlechterstereotypen vorgenommen wurden (vgl. Hilgers 1994: 119ff.). Bestritten wird auch, dass die Darstellung von Geschlechterstereotypen in Schulbüchern Auswirkungen in der schulischen Sozialisation nach sich ziehen würden. Ulich (vgl. 1987: 18) weist darauf hin, dass es überzeugende und übereinstimmende Untersuchungsergebnisse gibt, wonach Schülerinnen und Schülern die thematischen Inhalte des Unterrichts ausgesprochen gleichgültig sind – und der Einwand, dass geschlechtsspezifische Verhaltensmuster eher versteckt und unbewusst erlernt werden, ist theoretisch wie empirisch nicht belegbar (vgl. Ulich 1987: 19). Darüber hinaus ist die Vorstellung, dass Schülerinnen und Schüler als passive Rezipienten zu verstehen sind, aus sozialisationstheoretischer Perspektive mittlerweile nicht mehr haltbar. Menschen sind eben gerade nicht als Wesen zu verstehen, die ohne eigenständige Auseinandersetzung Inhalte – wie ein Schwamm das Wasser – aufsaugen. Vor allem interaktionistische Theorien und Forschungsergebnisse – aber auch konstruktivistische Modelle – weisen darauf hin, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit eine Konstruktion ist, die hinterfragt, kritisiert und bewertet werden kann sowie prinzipiell veränderbar bzw. wandelbar ist. Statische Modellvorstellungen, die auf einer analytischen Trennung von Individuum auf der einen Seite und Gesellschaft auf der anderen Seite beruhen, greifen hier zu kurz. Aber auch die Behauptung, dass die Benachteiligung von Mädchen zweifelsfrei über die Fächerwahl nachgewiesen werden kann, ist umstritten. Kritiker des koedukativen Schulsystems verweisen gerne auf Studien zur Fächerwahl in reinen Mädchenschulen, welche die Auflösung der Mädchenbenachteiligung im Hinblick auf mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer belegen würden. Hannelore Faulstich-Wieland (vgl. 1991: 72) kommt hingegen durch eine Sekundäranalyse vorliegender Studien zu dem Ergebnis, dass es infolge des koedukativen Unterrichts nicht eindeutig zu positiven oder zu negativen Folgen für Mädchen oder Jungen kommen würde. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis von Sigrid Metz-Göckel und Christine Roloff (vgl. 1987), dass in Schulen, in denen keine Möglichkeit der Fächerwahl gegeben ist, Mädchen in den Leistungen genauso gut oder schlecht abschneiden wie Jungen. Ulf Preuss-Lausitz (vgl. 1993: 156f.) zieht daraus den Schluss, Naturwissenschaft als Pflichtfach (und also nicht als Wahlfach) gemeinsam für Jungen und Mädchen beizubehalten. Er belegt diese Forderung mit Daten zur Leistungskurswahl an Berliner Gymnasien und resümiert, dass Geschlechterdifferenzen nicht über die Koedukation, sondern über die freie Wahl von Fächern hervorgerufen werden. Einmal angenommen, Jungen sind tatsächlich die Gewinner der Koedukation, dann müsste sich dieser Umstand nicht nur in der Wahl karriereträchti127
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ger Schulfächer, sondern auch in den Schulleistungen insgesamt zeigen. Hinzu kommt auch noch die starke Zuwendung und Förderung, die Dominanz im Unterrichtsgeschehen und der Zuschnitt der Unterrichtsinhalte auf die Interessen von Jungen. Doch von einem besseren Abschneiden der Jungen kann nicht die Rede sein. So bleiben sie beispielsweise häufiger sitzen als Mädchen und sind mit ca. 60% auch häufiger in Förderschulen für Lernbehinderte (vgl. Ulich 1991: 394) sowie mit ca. 75% in Förderschulen für Erziehungsschwierige vertreten (vgl. Preuss-Lausitz 1993: 149). In der Statistik bei den Schulentlassungen sind sie in der Rubrik ‚ohne Hauptschulabschluss‘ mit einem Anteil von ca. 60% vertreten (vgl. Schnack und Neutzling 1990: 142). Die Daten weisen auf eine paradoxe Situation hin: Die Ergebnisse der feministischen Schulforschung machen darauf aufmerksam, wie die Schule den Jungen hilft, sich als das überlegene Geschlecht zu fühlen – aber nicht die Mädchen, sondern die Jungen scheitern in der Schule häufiger. Sie fühlen sich nicht wohler als Mädchen und sie kommen mit den schulischen Anforderungen schlechter zurecht. Warum dies so ist und warum Jungen so sind, wie sie sind, dieser Frage näher sich die beiden Journalisten Dieter Schnack und Rainer Neutzling (1990: 137f.) auf eine andere Art und Weise: „Ist es wirklich solch ein Zuckerschlecken, ständig Aufmerksamkeit einfordern zu müssen? Was sind das für Kinder, die enttäuscht sind, wenn sie nicht doppelt so oft drangenommen sind wie andere? Wie viel Selbstzweifel verbirgt sich dahinter, wenn ein Kind wenigstens einmal am Tag absolut im Mittelpunkt stehen muss, und sei es durch einen ausgekippten Schul-Tornister oder eine rüde Zänkerei? Wie unsicher müssen Jungen in der Konfrontation mit dem anderen Geschlecht sein, wenn sie es kaum ertragen können, dass nicht immer ‚ihre‘ Themen durchgenommen werden? Wie unterlegen fühlt sich jemand, der von morgens bis abends seine Überlegenheit demonstrieren muss?“
Die Antwort, auf die von Schnack und Neutzling aufgeworfenen Fragen, wird im Grunde genommen schon im Zitat mitgeliefert: Jungen kämpfen täglich darum, ihre Rolle als ‚richtiger‘ Junge auszufüllen. Es darf dabei aber auch nicht vergessen werden, dass ihnen diese Rolle abverlangt wird, von Lehrern wie von Lehrerinnen. Jungen demonstrieren Überlegenheit und Unabhängigkeit, drängen die Mädchen an die Seite und verweigern sich der Kooperation. Damit belasten sie aber nicht nur Mädchen, Lehrerinnen und Lehrer, sondern vor allem auch sich selbst. Jungen verursachen Probleme und sie haben Probleme. Die Strategie, durch auffällige bis hin zu abweichenden Verhaltensweisen, den Anforderungen der Schule etwas entgegen zu setzen, geht nicht auf. Lothar Böhnisch und Reinhard Winter (1993: 106f.) kommen zu dem Schluss: Die Jungen
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„werden im Bereich des sozialen Lernens nicht gefordert und auch – im Sinne der Bereitstellung von Lernmöglichkeiten – zu wenig gefördert. Auch die für die Entwicklung wichtige Erfahrung des Grenzen-Gesetzt-Bekommens kommt bei ihnen zu kurz. Insgesamt verlängern oder verdichten sich so in der Schule lediglich die ohnehin vorhandenen Lernerfahrungen für Jungen. Das heißt: Der scheinbare Verhaltensvorteil wird insgesamt zum Lernnachteil.“
Derartige Überlegungen führen schnell dazu, spezielle Jungenförderprogramme aufzulegen (vgl. Kaiser 1997) sowie eine eigenständige Jungenpädagogik und Jungenarbeit zu fordern. Ähnliches wurde bereits in den 1970er Jahren für Mädchen gefordert und teilweise auch umgesetzt. Auf solche Lösungsansätze der Geschlechterproblematik an Schulen gehen wir im folgenden Kapitel ein. 3.2.8.3 Mädchenschulen, Mädchenförderung, Jungengruppen – Sinnvolle Lösungen oder Sackgassen? Die in der feministischen Schulforschung thematisierte Diskriminierung von Mädchen in koedukativen Schulen führte zu der Forderung, wieder verstärkt Mädchenschulen zu gründen (vgl. Rauch 1989). Die existierenden Mädchenschulen sind in der überwiegenden Zahl private Schulen in konfessioneller Trägerschaft. Für den Erhalt und für die Neugründung von Mädchenschulen haben sich im Rahmen der Koedukationsdebatte insbesondere die Vertreterinnen und Vertreter katholischer Privatschulen zu Wort gemeldet (vgl. Faulstich-Wieland 1991: 156f.). Die tendenziell eher konservative Ausrichtung dieser Schulen hat aber auch dazu geführt, dass im feministischen Diskurs die Rückkehr zur Tradition der Mädchenschule als wenig wünschenswert erachtet wurde. Die Einrichtung von ‚feministischen‘ oder ‚frauenbewegten‘ Schulen wurde auch mehr als Utopie denn als realistische Veränderung des Schulwesens diskutiert. Die Diskussion ‚pro und contra Mädchenschulen‘ führte nämlich zu dem Ergebnis, dass eine dauerhafte Trennung der Geschlechter in den Schulen nicht erstrebenswert sei: „Die Gefahr, dass die ‚normalen‘ Mädchenschulen konservative Wertevermittlung betrieben, wäre ebenso groß wie die, dass sie wieder zur Bildung zweiter Klasse würden. Vorurteile und Diskriminierungen durch Jungen und Männer wären provoziert, und die Vorteile des unverkrampften Umgangs der Geschlechter miteinander, die auch durch koedukative Erziehung gegeben sind, wären wieder beseitigt. Zielrichtung kann auch nicht die dauerhafte Trennung in den Schulen sein, denn Schule ist eingebunden in die existierende Gesellschaft, und deren Entwicklung geht – wenngleich unendlich langsam und mühevoll – über eine Aufhebung patriarchaler Strukturen, nicht aber über eine dauerhafte Geschlechtertrennung“ (Faulstich-Wieland 1991: 159f.).
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Sehr viel breiter ist dagegen die Zustimmung für die teil- bzw. zeitweise Trennung von Jungen und Mädchen in koedukativen Schulen. Vor allem der so genannte Teilungsunterricht nach Geschlechtszugehörigkeit in mathematischnaturwissenschaftlichen Fächern stellt eine Form der Mädchenförderung dar. Schülerinnen werden dergestalt ermutigt, eigene Fragestellungen zu entwickeln und Experimente durchzuführen. Empfohlen wird zudem ein regelmäßiger Wechsel zwischen gleich- und gemischtgeschlechtlichen Gruppen, damit Mädchen im Unterricht auch Widersprüche erfahren und Konflikte auszutragen lernen (vgl. Kahlert und Müller-Balhorn 1993). Die Erfahrungen des nach Geschlechtern getrennten Unterrichts zeigen jedoch, dass dieser keine Universallösung der Geschlechterproblematik in der Schule sein kann. Getrennter Unterricht wirkt nämlich in der Regel eher als Verstärkung denn als Verminderung von Vorurteilen (vgl. Faulstich-Wieland 1991). In Rahmen einer Inhaltsanalyse von über 1700 Schulaufsätzen von Mädchen und Jungen zum Thema Koedukation kommen Hannelore Faulstich-Wieland und Marianne Horstkemper (vgl. 1995: 255) zu zwei zentralen Erkenntnissen: Erstens plädiert eine überwältigende Mehrheit der Jungen und Mädchen explizit für ein gemeinsames Lernen und zweitens fördert die Trennung von Jungen und Mädchen stereotype Einschätzungen des jeweils anderen Geschlechts. Vermehrt wird daher die Forderung nach Einführung schulpädagogischer Jungenarbeit laut – insbesondere zur Bearbeitung von psycho-sozialen Defiziten. Als Begründung für diese Forderung führen Schulforscherinnen an, dass Jungen im Rahmen des koedukativen Unterrichts nicht ihre Rollenkonflikte lösen sowie ihre Unterlegenheits- und Versagensängste bearbeiten können (vgl. Enders-Dragässer und Fuchs 1988: 21ff., Maxim 2009: 32ff.). Im Zuge der Diskussion um Bewältigungsprobleme männlicher Sozialisation (vgl. Hollstein 1991) wurde schon vor einigen Jahren in der außerschulischen, sozialpädagogisch orientierten Bildungsarbeit die Förderung von Jungen organisiert. Der Sozialpädagoge Uwe Sielert (vgl. 1989) verbindet mit seinem Ansatz zur ‚reflektierten Jungenarbeit‘ die Hoffnung, dass Jungen dadurch in die Lage versetzt werden, ihr Verhaltensrepertoire zu erweitern und in der Folge dann zu einem ganzheitlichen Ausleben ihrer Persönlichkeit kommen können. Weitere Schwerpunkte liegen im Bereich der sexualpädagogischen Jungenarbeit (vgl. Sielert 1997) und des Anti-Aggressivitäts-Trainings für Jungen (vgl. Weidner 1997). Die Schulpädagogin Astrid Kaiser (vgl. 1997: 163ff.) hat demgegenüber ein Konzept der ‚sozialen Jungenförderung‘ entwickelt, das vier Schwerpunkte beinhaltet: Den Umgang mit Angst und Schwäche lernen, die Beachtung der Bedeutung von Männern als Bezugspersonen für Jungen, 130
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die hausarbeitsnahe Gestaltung des Schullebens (Hausarbeitsdidaktik) und die Forcierung nicht-patriarchaler Didaktik. So wichtig es auch ist, die Zwänge und Nöte von Jungen und Männern zu thematisieren, so sehr besteht doch auch die Gefahr, dass durch die Etablierung von Jungenarbeit in der Schule oder von getrenntgeschlechtlichem Unterricht das bestehende Geschlechterverhältnis vielmehr stabilisiert denn neu justiert wird. Jungengruppen – wie auch Mädchengruppen – führen unseres Erachtens eher zu einer Polarisierung der Geschlechter und befördern die geschlechtsspezifische Sozialisation (nicht nur) in der Schule. 3.2.8.4 Reflexive Koedukation Trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten bei der zeitweiligen Trennung von Mädchen und Jungen in der Schule, wird dieser Weg immer dann als durchaus sinnvoll eingeschätzt, wenn Trennung mehr bedeutet als bloße Sortierung nach Geschlecht. Mit dem Modell der reflexiven Koedukation wird beabsichtigt, die koedukative Praxis zu reflektieren, weiterzuentwickeln und neu zu gestalten (vgl. Faulstich-Wieland 1999). Die Zielsetzung besteht darin, ein gleichberechtigtes Zusammenleben und Zusammenlernen beider Geschlechter zu erreichen, geschlechterrollenstereotype Zuweisungen aufzulösen und alle notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen zu fördern. Zudem geht es darum, ein positives Verständnis von männlicher und weiblicher Identität zu ermöglichen und Unterschiede ohne Benachteiligung erlebbar zu machen. Es geht also darum, die unterschiedlichen Erfahrungen, Verhaltensweisen, Einstellungen und Vorlieben von Jungen und Mädchen zu respektieren sowie für beide Geschlechter ein breit orientiertes Berufsinteresse zu entwickeln, sie auf ein Leben in Beruf und Familie vorzubereiten, um einengenden Lebensund Berufsentwürfen entgegenzuwirken (vgl. Kaiser 1997). Die pädagogische Arbeit in der Schule sollte derart gestaltet werden, dass Interessen, Kenntnisse, Motivationen und die jeweiligen Lebensweltbezüge von Jungen und Mädchen gezielt Beachtung finden. In diesem Sinne sollte eine reflexive Koedukation folgende Aspekte berücksichtigen (vgl. Horstkemper und Kraul 1999): Die Auswahl von Inhalten und Themen könnte die historische Entwicklung des Geschlechterverhältnisses sichtbar machen. In der methodisch-didaktischen Umsetzung sollten die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Lernmodalitäten von Jungen und Mädchen beachtet werden und der Unterricht so gestaltet sein, dass beide Gruppen handelnd miteinander und voneinander lernen können.
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3 Sozialisationsbereiche
Im sozialen Umgang miteinander sollte es darum gehen, den heimlichen Lehrplan der Zweigeschlechtlichkeit aufzudecken und Alternativen zu suchen. In der Verwirklichung einer so verstandenen (reflexiven) Koedukation sind vermutlich noch die größten Chancen enthalten, das Geschlechterverhältnis über schulische Sozialisationsprozesse langfristig im Interesse beider Geschlechter zu verändern und zu verbessern. Koedukation muss aber auch gestaltet werden. Es fängt damit an, dass Jungen und Mädchen nicht auf ,typische' Verhaltensweisen festgelegt, sondern dass Abweichungen unterstützt und akzeptiert werden. Dies wird oft als Aufforderung missverstanden, das Gegenteil – jungenhafte Mädchen und mädchenhafte Jungen – zu stärken. Richtig verstanden bedeutet es aber, eine Vielfalt möglicher Verhaltensweisen sichtbar werden zu lassen. In der Schule sollte nicht versucht werden, Geschlechterdifferenzen zu neutralisieren oder im Sinne von Androgynität Mädchen und Jungen ,gleichzumachen', sondern das Leben in Rollenpluralität zu ermöglichen. Hierzu gibt es erprobte Ansätze einer geschlechterbewussten und subjektorientierten Pädagogik. Die Ansätze wurden entwickelt, um die Geschlechterfrage in der Schule zu lösen, gleichzeitig aber auch das Lernen insgesamt zu verbessern (vgl. Kreienbaum und Urbaniak 2006: 142ff.). Im Grunde schwingt beim Ansatz der reflexiven Koedukation das Prinzip von ,Gleichheit in der Differenz‘ mit. Eine solch verstandene Koedukation macht aber nur dann Sinn, wenn neben den Ideen, Vorschlägen und dem Engagement von Lehrerinnen und Lehrern, auch Kinder und Jugendliche Schule mitgestalten können, wenn sie also all ihre Fähigkeiten, Phantasien und Träume mit in die Schule bringen und dort auch entfalten können: „Aus der dichotomen Diskussion um ,die Mädchen‘ oder ,die Jungen‘ sollte ein vielfältiger Chor werden, der Chor selbstsicherer und kooperativer Kinder“ (Preuss-Lausitz 1999: 14). Es stellt sich dann nicht mehr die Frage ,Geschlechtertrennung, ja oder nein?‘, sondern die Frage nach dem Verhältnis von Schule und Leben bzw. der Freizeit von Schülerinnen und Schülern. Reflexive Koedukation könnte dergestalt ein wichtiger Bestandteil schulischer Sozialisationsprozesse sein. Bislang herrscht in der wissenschaftlichen Diskussion jedoch noch eine strikte Trennung von Bildung und Freizeit vor, d. h. es werden in der Regel die Bildungsaspekte von Schule und die Erlebnisaspekte von Freizeit betont (vgl. Reinders 2006). Die Dichotomisierung hinsichtlich der Merkmale von Freizeit und Bildung verstellt unseres Erachtens den Blick auf die Erlebnisaspekte von Schule ebenso wie auf die Bildungsaspekte von Freizeit. Welche für die Sozialisation bedeutsamen Aspekte in der Freizeit von Kindern und Jugendlichen eine wichtige Rolle spielen, die sie im weiten Feld der Jugendkulturen bzw. in
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3 Sozialisationsbereiche
ihren jugendkulturellen Gruppierungen und Gemeinschaften verbringen, darauf gehen wir unter anderem im nächsten Kapitel ein.
3.3
Jugendkulturen
Über die Klärung von Sozialisationsvorgängen im Rahmen von Familie und Schule hinaus ist das Themenfeld Jugendkulturen ausgesprochen wichtig. Nicht nur, weil die so genannte Lebensphase Jugend als ausgesprochen turbulent und ereignisreich angesehen wird, sondern auch, weil dieser Lebensabschnitt mit erheblichen körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklungen bzw. Veränderungen auf Seiten der Heranwachsenden einhergeht. Diese haben selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Sozialisationsvorgänge in der Familie und in der Schule. In diesem Kapitel richten wir gleichwohl den Blick auf jugendkulturelle Gruppierungen und Gemeinschaften, d. h. auf Erfahrungsräume von Jugendlichen, die sich weitgehend der Kontrolle (und mitunter auch der Strukturierung) durch Erwachsene entziehen. Jugend als Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenensein ist eine Erfindung der Aufklärung (vgl. Hitzler 2006: 87). Jean-Jaques Rousseau (vgl. 1998) legte mit seinem Erziehungsroman ,Emil‘ den Grundstein für die Beschäftigung mit ‚Jugend‘ und lenkte damit die Aufmerksamkeit von Pädagogen erstmals auf die Spezifika dieser Lebensphase (vgl. Krüger und Grunert 2002). Seiner Ansicht nach geht mit der Lebensphase Jugend eine zweite Geburt einher, nämlich die Geburt der Leidenschaft, durch die Erziehung schwieriger als in der Lebensphase Kindheit, aber zugleich in besonderer Weise erforderlich ist. Kindheit und Jugend sind die Phasen der Nicht-Entfremdung des Menschen (und je länger sie dauern, desto besser ist es). Nach Rousseau ist die Jugend deshalb als eigenständige Lebensphase durch ausgedehnte Bildungsprozesse sicherzustellen, denn diese garantieren wiederum eine Erneuerung der Gesellschaft. Was hier bereits anklingt ist die Vorstellung von Jugend als marginaler – im Sinne von Bevormundung – und innovativer sozialer Status. Anders ausgedrückt: „Jugend wurde in wenigen Jahrzehnten transformiert – von einer Kriegs- zu einer Friedensjugend; von einer arbeitenden zu einer scholarisierten Adoleszenz; von einem Hort erotisch-sexueller Askese und Sublimierung zur hedonistischen Avantgarde der europäischen Konsumgesellschaft“ (Zinnecker 1997: 495).
Zum Sozialisationsbereich Jugendkulturen gibt es mittlerweile eine unüberschaubare Fülle an Literatur, weswegen es im Folgenden lediglich um eine rudimentäre Einführung in Theorien und Forschungen zu diesem Bereich geht.
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3 Sozialisationsbereiche
Zunächst einmal ist aber klärungsbedürftig, was eigentlich unter dem Begriff Jugend (alles) verstanden wird. 3.3.1 Jugend – Eine Begriffsklärung Unter Jugend wollen wir, bekundet Friedhelm Neidhardt (1970: 9) Anfang der 1970er Jahre, „vorläufig sehr vage, die Altersphase verstehen, die zwischen Kindheit und Erwachsenheit liegt. Jugend stellt in diesem Sinne eine Übergangszeit dar, die in bestimmte Lebensjahre fällt. Mit dem Begriff verbinden sich Altersvorstellungen.“ Jugend ist aber zunächst einmal ein Begriff aus der Alltagssprache, der Annahmen über besondere Verhaltensmuster und Eigenschaften – die als jugendtypisch gelten – (in Abgrenzung zu Kindern und zu Erwachsenen) nahe legt. Kindheit, Jugend und Erwachsensein werden üblicherweise als drei aufeinander folgende Phasen des Lebensverlaufs begriffen: Kindheit gilt als die Lebenszeit weitestgehender Bevormundung zum Schutz vor Selbstgefährdung, Jugend gilt als die Lebensphase, in der die Bevormundungen der Kindheit allmählich entfallen, die eigene Existenz aber noch nicht letztverantwortlich selber gestaltet und gesichert werden muss, und Erwachsensein gilt im Wesentlichen als der biographische Zustand umfassender Selbstverantwortlichkeit und moralisch geforderter Fremdsorge (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010a: 100f.) Berücksichtigt werden muss, dass sich erst mit Ausbildung einer städtischen Kultur langsam überhaupt so etwas wie eine ‚Art‘ Jugendphase etablieren konnte. Im 18. und 19. Jahrhundert ist sodann eine Ausweitung auf immer breitere Bevölkerungsschichten zu verzeichnen, d. h. mit Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und Familie (Stichworte: Familiarisierung, Verhäuslichung) sowie der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht (Stichwort: Pädagogisierung). Die Schulpflicht und die Durchsetzung von Jahrgangsklassen verstärkten dann den Trend zur Bildung altershomogener Gruppen (vgl. Hurrelmann 1995, Schäfers 1998): Vorindustrielle Gesellschaft Alte und junge Menschen haben ähnliche Aufgaben und leben unter einem Dach. Industrialisierung Beginn der Trennung von Arbeit und Leben (außerhäusliche Produktionsformen); Verstädterung (neues soziales und pädagogisches Verständnis von Kindheit und Jugend). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden die beruflichen Anforderungen immer komplexer Schulpflicht und (Berufs-)Ausbildung. Zunächst handelte es sich um eine sehr kurze Übergangsphase, die in der Gegenwartsgesellschaft mitunter sehr lange andauert. Hinzu kommt, dass 134
3 Sozialisationsbereiche
Jugend nicht mehr nur – wie eingangs (auch) noch von Tenbruck beschrieben – als eine Übergangsphase sondern als eine eigenständige Lebensphase im menschlichen Lebenslauf verstanden wird. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass Jugend keine Natursache sondern ein gesellschaftliches Phänomen ist: Nicht das biologische Faktum der körperlichen Geschlechtsreife, das lange Zeit als einziges Kriterium des Übergangs von der Lebensphase Kindheit in die Lebensphase Jugend genannt wurde, sondern soziale Praktiken und soziale Reaktionen (z. B. von Eltern, Freunden usw.) darauf sind für den Übergang entscheidend. Folgende Aspekte spielen darüber hinaus eine wichtige Rolle (vgl. Hurrelmann 1995: 20ff.): Die Lebensphase Jugend gilt als ,Experimentierraum‘ im Sinne der Identitätssuche, von Fragen nach eigenen ethisch-moralischen, religiösen und politischen Überzeugungen sowie der anzustrebenden beruflichen und familialen Lebensführung. Seit den späten 1960er Jahren wird Sexualität (im Jugendalter) nicht mehr tabuisiert. Dadurch entfällt ein traditionelles Abgrenzungskriterium zum Erwachsenenalter. Auch hinsichtlich der Erwerbsarbeit und folglich der Konsummöglichkeiten und Freizeitgestaltung sind Jugendliche qualitativ nicht mehr von Erwachsenen zu unterscheiden. Es bilden sich eigenständige Jugendkulturen und Szenen heraus, die z. B. durch je eigene Kleidungsstile, musikalische Präferenzen oder Sprachen gekennzeichnet sind. Jugend ist ein normativer Begriff, d. h. einerseits werden weitreichende Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen artikuliert (die in der Regel wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht standhalten), andererseits ,herrscht‘ ein gesamtgesellschaftliches Ideal von Jugend vor (körperliche Erscheinung, Sportlichkeit, Flexibilität und Lernbereitschaft). Ein (rein) auf traditionellen Vorstellungen beruhendes Verständnis von Jugend (Beginn: Pubertät; Ende: Eintritt in das Erwerbsleben, Familiengründung) ist demzufolge nicht mehr angemessen. Der Beginn ist zwar (relativ) bestimmbar in dem Sinne, dass mit dem Einsetzen der Geschlechtsreife ein Übergang markiert wird, auf den insbesondere das Umfeld reagiert. Demgegenüber kann aber kein singulärer Zeitpunkt bzw. kein soziales Ereignis mehr angegeben werden, mit dem das Ende der Lebensphase Jugend eindeutig angezeigt ist. Jugend ist vielmehr – wie bereits erwähnt – ein gesellschaftliches Phänomen, das durch eigenständige Inhalte und Lebensvollzugsformen seine Konturen gewinnt. Und 135
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das heißt im Weiteren, dass Jugend keine homogene Sozialgruppe ist – zu berücksichtigen sind hier insbesondere Aspekte der sozialen Ungleichheit (z. B. Familie oder Migration), des Bildungssystems, der Geschlechterordnung oder Unterschiede zwischen Stadt und Land. Gleichwohl gilt Jugend grundsätzlich als Lebensphase der sozialen Platzierung, d. h. im Rahmen der Identitätsentwicklung kommt es zur Ausprägung von Persönlichkeit und zur Positionierung innerhalb der Gesamtgesellschaft. Die Soziologen Bernhard Schäfers und Albert Scherr (2005: 23) definieren Jugend denn auch als „eine gesellschaftlich institutionalisierte, intern differenzierte Lebensphase, deren Verlauf, Ausdehnung und Ausprägungen wesentlich durch soziale Bedingungen und Einflüsse (sozioökonomische Lebensbedingungen, Strukturen des Bildungssystems, rechtliche Vorgaben, Normen und Erwartungen) bestimmt sind. Jugend ist keine homogene Sozialgruppe, sondern umfasst unterschiedliche Jugenden.“
Ein weiteres Beispiel dafür, wie in der Wissenschaft versucht wird, Jugend zu beschreiben, ist die ,Auflistung‘ des Pädagogen Robert James Havighurst (1971: 118), der vor allem mit dem Konzept der ,Entwicklungsaufgaben‘ große Bedeutung im Hinblick auf die Analyse von Sozialisationsvorgängen in der Lebensphase Jugend erlangt hat (siehe dazu Kapitel 3.3.4.2): „1. Der Jugendliche durchläuft einen biologischen Reifeprozess, der zum biologischen Erwachsenenstatus führt. 2. Der Jugendliche durchläuft einen sozialen Reifeprozess. 3. Der Jugendliche versucht sich in den Rollen der Erwachsenen. 4. Der Jugendliche hat mehr Initiative und mehr Freiheit, seine Impulse auszudrücken, als das Kind, jedoch nur während einer begrenzten Periode, der dann die Verpflichtungen des Erwachsenenalters folgen. 5. Der Jugendliche befreit sich von den primären Eltern-Kind-Bindungen. 6. Der Jugendliche unterhält sich nicht selbst.“
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die oben genannten Entwicklungen zunehmend von sozialmarktpolitischen Aspekten überlagert (d. h. durch Rationalisierung sank der Bedarf an Arbeitskräften im industriellen Sektor, den der Dienstleistungssektor nicht ausgleichen konnte). Die Rationalisierungsbestrebungen in der Wirtschaft und geburtenstarke Jahrgänge führten dazu, dass sich das Bildungssystem zum biographischen Warteraum (Moratorium) für die Heranwachsenden entwickelte (was zu einer weiteren Ausdehnung der Lebensphase Jugend führte). Nach wie vor wird die Lebensphase Jugend aber auch als eine Art Zwischenschritt (Transition) betrachtet: Vom abhängigen Kind zum unabhängigen Erwachsenen. Zudem sollte berücksichtigt werden, dass der
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Übergang in den einzelnen Teilbereichen zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgt bzw. erfolgen kann (vgl. Hurrelmann 1995): Ökonomie: Jugendliche verdienen in der Regel bereits Geld, gleichwohl ist der Übertritt in den Vollerwerbsstatus problematisch geworden. Heirat, Familiengründung und Kinderzeugung liegen mitunter zeitlich weit auseinander oder werden nicht angestrebt. Konsum: Frühe Teilhabe am Konsummarkt und Erwerb von Kompetenzen. Politik: Frühe Entwicklung eigener Stile und Lebensformen im Sinne von ,life politics', was zu einem enormen ,gesellschaftlichen‘ Gestaltungs- und Veränderungspotential auf Seiten der Jugendlichen führt. Die Verschiebung der Zeitpunkte des Übergangs von Jugendlichen in den einzelnen Teilbereichen und das Innehaben von sozialen Positionen mit verschiedenartiger kultureller Bedeutung wird gemeinhin mit dem Begriff der Statusinkonsistenz bezeichnet: Das heißt frühe finanzielle, mediale, konsumtive, erotische, ,politische‘ und freundesbezogene Teilselbständigkeit und (wenn überhaupt) späte ökonomische und familiale Selbständigkeit. Die Art und Weise, wie Jugendliche ihre Alltagsanforderungen meistern, ist nachgerade zu einem Muster für Erwachsene in anderen Lebensphasen geworden (sei dies in Bezug auf den Umgang mit Brüchen, mit Autonomiebeschränkungen oder die ständige Arbeit an Statusinkonsistenzen). Die Lebensphase Jugend kann dergestalt als ein Wechselspiel zwischen Transition und Moratorium beschrieben werden, d. h. zwischen raschem Übergang in den Erwachsenenstatus (Transition) und langsamen Übergang (mit vorübergehendem Rückzug) in den ,Schonraum‘ Jugendphase (Moratorium). 3.3.2 Pubertät, Adoleszenz, Postadoleszenz Im Alltagsbewusstsein wird Jugend häufig mit der Pubertät verknüpft und ebenso häufig hat sich zur Kennzeichnung von Jugend die aus der Psychologie stammende Bezeichnung Adoleszenz eingebürgert. Mit Adoleszenz wird die über die Pubertät hinausgehende Entwicklungsphase von Jugendlichen bezeichnet. Als hilfreiches Raster hat sich in diesem Zusammenhang folgende Alters- und Phaseneinteilung bewährt (vgl. Kasten 1999: 15):
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Tabelle 4 Mädchen
Jungen
Phase
08-10 Jahre
10-12 Jahre
späte Kindheit
10-12 Jahre
12-14 Jahre
Vorpubertät
12-14 Jahre
14-16 Jahre
Pubertät
14-15 Jahre
16-17 Jahre
frühe Adoleszenz
15-17 Jahre
17-19 Jahre
mittlere Adoleszenz
17-19 Jahre
19-21 Jahre
späte Adoleszenz
19-21 Jahre
21-25 Jahre
Post-Adoleszenz
Der Tabelle können wir entnehmen, dass die Entwicklung von Mädchen jener von Jungen voraus ist und dass Jungen die Phase der Post-Adoleszenz später abschließen. Dies ist aus psychologischer Perspektive genetisch bedingt und hat mit unterschiedlichen Steuerungs- und Reifungsprozessen zu tun (vgl. Kasten 1999: 16). Pubertät bezeichnet in erster Linie ein biologisches Geschehen. Augenscheinlich und oft dramatisch sind die Veränderungen hinsichtlich der körperlichen Geschlechtsmerkmale. Bemerkenswert sind auch ein beschleunigtes Längenwachstum und Veränderungen der Körperproportionen. Als weitere physiologisch-biologische Zeichen tauchen bei Mädchen die erste Monatsblutung und bei Jungen die erste Pollution auf. Mit diesen biologischen und körperlichen Veränderungen gehen geistige Entwicklungen einher, die sich oftmals in unverständlichen, unvorhersehbaren und unkontrollierten Verhaltensweisen von Jugendlichen ausdrücken. Auch wenn die Phase der Pubertät bereits beendet ist, bleiben diese Gefühlsschwankungen und Verhaltensauffälligkeiten häufig bestehen. Bei der Frage, was eigentlich puberale Prozesse auslöst, gehen Entwicklungspsychologen nach wie vor davon aus, dass ausschließlich ein endogen gesteuerter biologischer Plan vorliegt. Diese Annahme ist aber umstritten und bis heute sind die ‚Mechanismen‘ für die Auslösung der Pubertät nicht hinlänglich geklärt (vgl. Fend 2001: 111f.). Der Begriff Adoleszenz wird weitaus unspezifischer benutzt als der Begriff Pubertät. Im Grunde genommen wird mit Adoleszenz die Gesamtheit der psychosozialen Entwicklungsprozesse und Entwicklungsbedingungen zwischen der Lebensphase Kindheit und dem Erwachsensein bezeichnet. Der Psychoanalytiker Peter Blos (vgl. 1983) betont insbesondere die zeitliche Erstreckung dieser Prozesse und beschreibt verschiedene Phasen des Übergangs von der Präadoleszenz zur frühen, mittleren und späten Adoleszenz. 138
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Die Entwicklung der Persönlichkeit erfolgt also in mehreren Schritten und stellt keine situative Wandlung dar. Erikson hat die Zeit der Adoleszenz als Moratorium, d. h. als einen Schonraum beschrieben. Nach der obigen Alters- und Phaseneinteilung beginnt dieses Moratorium (je nach Geschlechterzugehörigkeit) zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr und endet zwischen dem 19. und 21. Lebensjahr. Mit dem Ende der Adoleszenz ist das frühe Erwachsenenalter erreicht, das seit geraumer Zeit auch als Phase der PostAdoleszenz beschrieben wird. Post-Adoleszenz wird im Sinne einer Nach-Jugendphase verstanden, die erst seit Ende der 1980er Jahre Berücksichtigung findet. Hintergrund hierfür ist der Trend, dass für die meisten Jugendlichen die ökonomische Unabhängigkeit aufgrund einer Vollerwerbstätigkeit lebensgeschichtlich im Verhältnis zu früher wesentlich später erreicht wird. Konsumorientierte, kulturelle und auch politische Handlungsbereiche (siehe dazu Kapitel 3.3.1) – ebenso wie partnerschaftlich-sexuelle Beziehungen – erschließen sich Jugendliche hingegen sehr viel früher. Galt die Feststellung des vermeintlich späten Eintritts in das Berufsleben zunächst nur für Studenten und arbeitslose Jungakademiker, so haben die im Kapitel 3.3.1 genannten Veränderungen im Hinblick auf die Lebensphase Jugend dazu geführt, dass eine starre Untergliederung der Adoleszenz mehr oder weniger obsolet geworden ist – zumal es mittlerweile empirische Belege für eine Juvenilisierung der Gesellschaft gibt, d. h. dass ‚Juvenilität‘ bzw. ‚Jugendlichkeit‘ nicht mehr am Alter einer Person festzumachen ist, sondern dass es sich dabei um eine mentale Disposition handelt (siehe dazu Kapitel 6). Das aber bedeutet, dass es mitunter (sehr) junge alte Menschen ebenso wie (sehr) alte junge Menschen im Hinblick auf ihre juvenilen Dispositionen gibt (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010a). 3.3.3 Typologien von Jugend – Generationenspezifische Sozialisation In den Medien ist es schon seit längerem populär, Verhaltensweisen oder Verhaltensauffälligkeiten von Jugendlichen mit dem Deutungsmuster Generation zu belegen. Aber auch in der wissenschaftlichen Literatur zum Themenfeld Jugendkulturen wird mitunter der Versuch unternommen, bestimmte generationenspezifische Tendenzen zu einem Jugendtyp zusammenzufassen um zu erklären, wie sich die Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte von Jugendlichen bzw. wie sich die Phase der Adoleszenz gewandelt hat. Jugendgenerationen werden dann im Hinblick auf soziale, entwicklungspsychologische oder kulturelle Eigenarten analysiert. Zu einer Generation werden alle ungefähr gleichaltrigen Personen eines Kulturkreises gerechnet, die in einem definierten historischen Zeitraum ähnliche kulturelle und soziale Orientierungen, Einstellungen und Verhaltensweisen 139
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aufweisen (vgl. Griese 1987: 73). Dabei darf aber nicht von einer einheitlichen Gestalt ,Jugend‘, d. h. von einheitlichen Orientierungen, Einstellungen und Verhaltensweisen Jugendlicher, sondern allenfalls von die Öffentlichkeit stark dominierenden und meinungsbildenden Teilgruppen der Jugend ausgegangen werden. Von einer Jugendgeneration sollte zudem nur dann gesprochen werden, wenn sie etwas ,Neues‘ hervorbringt, also wenn ihr ein innovativer sozialer Status zugesprochen werden kann. Der ,Großmeister‘ des Generationsbegriffs (vgl. Zinnecker 2002: 68) ist der Soziologe Karl Mannheim, der mit diesem Deutungsmuster versucht hat, den gesellschaftlichen Wandel zu erklären. Mannheim (vgl. 1928) unterscheidet in seinem Aufsatz über ‚Das Problem der Generationen‘ zwischen einer positivistischen und einer romantisch-historischen Fragestellung. Zum einen sind eindeutige soziale und biologische Rahmenbedingungen nachweisbar, welche den Generationswechsel bestimmen und seinen Ablauf mehr oder weniger naturgemäß festlegen. Zum anderen bilden Generationen eine Gleichzeitigkeit, da die Individuen über gleiche Erfahrungen verfügen und die gleichen Erlebnisse teilen. Es ist diese Verbundenheit im Sinne einer Partizipation an den gemeinsamen ‚Schicksalen‘ (Generationserlebnisse), die Geburtenkohorten zu einer Generation machen. Mannheim verweist in seinen Ausführungen auf Wilhelm Dilthey, den er als Vater des historischen Generationsbegriffs bezeichnet. Dieser schreibt: „Generation ist alsdann eine Bezeichnung für ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit von Individuen; diejenigen, welche gewissermaßen nebeneinander emporwuchsen, d. h. ein gemeinsames Kindesalter hatten, ein gemeinsames Jünglingsalter, deren Zeitraum männlicher Kraft teilweise zusammenfiel, bezeichnen wir als dieselbe Generation. Hieraus ergibt sich dann die Verknüpfung solcher Personen durch ein tieferes Verhältnis. Diejenigen, welche in den Jahren der Empfänglichkeit dieselben leitenden Einwirkungen erfahren, machen zusammen eine Generation aus. So gefaßt, bildet eine Generation einen enger gefaßten Kreis von Individuen, welche durch Abhängigkeit von denselben großen Tatsachen und Veränderungen, wie sie in dem Zeitalter ihrer Empfänglichkeit auftreten, trotz der Verschiedenheit hinzutretender anderer Faktoren zu einem homogenen Ganzen verbunden sind“ (Dilthey 1957: 37).
Um eine Verknüpfung der Themenfelder Generation und Jugend hat sich Eduard Spranger nachdrücklich bemüht. Zur Charakterisierung von Jugend entwickelte er eine Typologie, die zwar nicht historisch-generationenspezifisch angelegt ist, gleichwohl aber als gutes Beispiel für eine systematisch-anthropologisch ausgerichtete Jugendtypik herangezogen werden kann. In seinem Werk ‚Psychologie des Jugendalters‘ geht es Spranger (vgl. 1924) darum, Jugendliche mittels einer Wert-Typologie zu beschreiben. Er unterscheidet den 140
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intellektuellen, ökonomischen, ästhetischen, sozialen, politischen und den religiösen Typus.
Diese Darstellung von ahistorischen, ,zeitlosen' Typen hat lange Zeit – vor allem in der Lehrerschaft bis weit in die 1960er Jahre hinein – das Bild der Erwachsenen bzw. deren Vorstellungen von Jugendlichen dominiert. Zu Recht wird Spranger aber kritisiert, dass es so etwas wie eine ,objektive Kultur' nicht gibt und seine Deutung der Jugend eine normative Theorie sei. Kultur ist immer gesellschaftlich und historisch überformt und deshalb lässt sich auch kein allgemeingültiges Jugendkonzept formulieren. Spranger sprach über die Jugend an sich und nicht über die Jugend in ihrer konkreten Lebenswelt. Das berühmteste Beispiel für eine generationenspezifische Jugendtypologie, die gleichzeitig eine Zäsur der Jugendforschung in Deutschland markiert, ist die Untersuchung des Soziologen Helmut Schelsky (vgl. 1957). Er war der erste, der Jugend nicht unter normativ-wünschbaren Gesichtspunkten, sondern die Interdependenz von generationstypischen Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Verhältnissen untersucht hat. Schelsky hat seine Untersuchungen Ende der 1940er Jahre bis Mitte der 1950er Jahre durchgeführt und zu einem Gesamtbild der Nachkriegsjugend zusammengefasst, die er als ,Skeptische Generation‘ bezeichnet. Überkommene volksgemeinschaftliche Mythen, Zerstörung, Not, Hunger und Vertreibung stellen die Basis für die Skepsis der damaligen Jugend gegenüber der Politik und den vorherrschenden Ideologien dar, die zu einer eher pragmatischen Handlungseinstellung der politisch desillusionierten Wiederaufbau-Jugend in den 1950er Jahren führte. Es war die Zeit der von Schelsky (vgl. 1957: 451) so bezeichneten unpolitisch-demokratischen Generation. Mitte der 1960er Jahre wurde von Viggo Graf Blücher (vgl. 1966) ein neuer Generationentypus identifiziert, nämlich die ,Generation der Unbefangenen‘. Unbefangen lebte die Jugend in der Wohlstandsgesellschaft und arrangierte sich mit der immer stärker um sich greifenden Kommerzialisierung von Kultur und Freizeit; sie wähnte sich politisch und geistig-moralisch ideologiefrei und passte sich unauffällig an. Auch Walter Jaide (vgl. 1963) kommt in seiner Untersuchung zu ähnlichen Ergebnissen und unterscheidet naive, konservative, desinteressierte, distanzierte, suchende und entschiedene Jugendliche (sowie ,All-Round-Fälle' und atypische Fälle). Ganz im Sinne der These von der Unbefangenheit war die Gruppe der konservativen und desinteressierten Jugendli-
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chen am größten. Die ,Generation der Unbefangenen‘ vertrat zudem Tugenden wie Fleiß und Pünktlichkeit (vgl. Jaide 1988). Als legendär gilt mittlerweile der Typus der ,68er-Generation‘. Jugendliche dieser Generation bzw. der Erfahrungsraum dieser Generation ist durch eine nonkonformistische Protesthaltung, die Abwendung vom engen, geordneten Raum der kulturkonservativen Haltung, einem erbitterten Kampf gegen ein System, das Auschwitz und Vietnam ermöglichte sowie gegen die mit dem Kapitalismus in Verbindung gebrachten Werte und Normen gekennzeichnet. Der Typus der oben genannten ,Protestgeneration‘ wurde Mitte der 1970er Jahre abgelöst vom ,Oralen Flipper‘, dem so genannten ,Neuen Sozialisationstyp‘ (kurz: NST), der als weitgehend unpolitisch, privatistisch und selbstverliebt beschrieben wurde (vgl. Ziehe 1978). Jugendliche der 1970er Jahre galten in diesem Sinne als narzisstisch und unfähig, Konflikte auszutragen. Zudem wurde ihnen attestiert, dass sie in einer frühen kindlichen Entwicklungsphase, in der oralen Phase, stecken geblieben wären und folglich nur mehr konsumieren wollten. Zu Beginn der 1980er Jahre setzte sich die ,Generation der Geschockten‘ (vgl. Jugendwerk der deutschen Shell 1997) als neue Jugendtypik durch. Jugendliche wurden mit sozialen Tatsachen wie Jugendarbeitslosigkeit und Umweltkatastrophen konfrontiert, die ihre Lebensentwürfe sehr empfindlich berührten, was zu Verunsicherung und Desillusionierung beitrug. Gegen Ende der 1980er Jahre wurden die Bestimmungsversuche unschärfer. Gleichwohl können zumindest zwei besonders auffallende Generationentypisierungen verzeichnet werden: Zum einen die ,Überflüssige Generation‘, d. h. Jugendliche auf dem Abstellgleis, sie sich in ungesicherten Arbeitsverhältnissen, Warteschleifen und Umschulungskursen wiederfanden. Zum anderen die ‚Yuppie-Generation‘, d. h. Jugendliche, die sich dem zuvor genannten Trend widersetzten, die also auf Karriere sowie auf einen hedonistischen Lebensstil beharrten. Zum Ende des 20. Jahrhunderts setzte sich der – oben bereits angedeutete – Unschärfetrend fort: Zur Beschreibung der Vielschichtigkeit von Jugend wurde das Bild der ‚Generation X‘ kreiert, wobei X eben eine unbekannte Variable darstellt. Jugendforscher beschrieben die Jugend in der Folge als unberechenbar und unkalkulierbar, als ‚gut getarnte Generation‘ und ‚schweigende Individualisten‘ (vgl. Stolz 1996). Das Bild der Jugend fügt sich nicht mehr zu einem Ganzen, zu einer Generationengestalt, es ist zersplittert und unscharf (vgl. Hornstein 1999: 23), d. h. jugendliche Verhaltensweisen, Orientierungen, Haltungen bzw. Lebensstile sind infolge von Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen kaum noch eindeutig zuzuordnen bzw. lassen sich nicht zu einem Typus verdichten.
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Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es populär geworden, von einer ‚Netzgeneration‘ oder ‚Generation @‘ zu sprechen. Der Freizeitforscher Horst W. Opaschowski (vgl. 1999: 20) spricht in diesem Zusammenhang von Jugendlichen, für die elektronische Medien zum Alltag gehören und dabei vor allem von der Nutzung des Internets als Informations- und Kommunikationsmedium geprägt werden. Ob infolge technologischer Innovationen und den Internet-Nutzungsgewohnheiten von Jugendlichen tatsächlich von einer neuen Generationengestalt gesprochen werden kann, oder ob diese Entwicklungen nicht vielmehr gesamtgesellschaftliche Veränderungstendenzen anzeigen, sei dahin gestellt. Gleichwohl sollte berücksichtigt werden, dass von einer Jugendgeneration eben erst dann gesprochen werden kann, wenn sie etwas ‚Neues‘ hervorbringt, das sich deutlich von den Verhaltensweisen und Tradierungen vorheriger Generationen abgrenzen lässt. Ähnlich verhält es sich mit der Typisierung von Jugend als ‚Generation der Egotaktiker‘ (vgl. Jugendwerk der deutschen Shell 2002). Diese Generationentypisierung wurde bereits in den 1990er Jahren zur Etikettierung von Jugendlichen herangezogen. Jugendliche scheinen sich – so die Annahme – sehr stark auf die Gestaltung der eigenen Persönlichkeit zu konzentrieren. Das Eigene ist der Maßstab für das Selbst. Diese Grundeinstellung paart sich mit einer äußerst pragmatischen Einstellung zur Lösung von ‚Problemen‘ (vgl. dazu auch Jugendwerk der deutschen Shell 2010). Zum Egotaktiker gehört Opportunismus wie auch ein Hang zur Bequemlichkeit. Aktiv wird er vor allem dann, wenn es um die Verfolgung eigener Interessen geht. Möglicherweise spiegelt sich im hier beschriebenen hohen Grad der Selbstzentriertheit (gekoppelt mit situativen Anpassungsfähigkeiten bzw. -leistungen) auch die Anforderung an den von Richard Sennett (vgl. 1998) so bezeichneten ‚flexiblen Menschen‘ wider, den dieser jedoch als Prototypen zukünftiger Verhaltensvirtuosen beschrieben und also nicht zur Generationentypisierung für Jugendliche ‚entwickelt‘ hat. 3.3.4 Theorien und Konzepte zur Sozialisation in der Lebensphase Jugend In der wissenschaftlichen Diskussion zum Themenfeld Jugendkulturen wird bei der Begründung von Zusammenhängen auf Theorien unterschiedlichster Ausrichtung rekurriert. Im Folgenden werden einige theoretische Konzeptionen erläutert bzw. vertieft, die (auch) auf jugendspezifische Fragen bzw. Aspekte Bezug nehmen. Theoretischen Konzeptionen zum Themenfeld Jugendkulturen kommt dabei insbesondere die Aufgabe zu, die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen unter besonderer Berücksichtigung jugendlicher Gesellungsformen in den Blick zu nehmen (vgl. Grundmann 2004: 23), da in diesen Abgren143
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zungsbestrebungen von Jugendlichen im Verhältnis zu bzw. in der Auseinandersetzung mit Erwachsenen besonders deutlich zu Tage treten. 3.3.4.1 Strukturfunktionalismus Auf Basis der strukturfunktionalistischen Theorie von Parsons (siehe dazu Kapitel 2.3.1) entwickelte Shmuel N. Eisenstadt (vgl. 1966) ein stringentes Konzept zum Zusammenhang zwischen der Sozialstruktur einer Gesellschaft und der Entstehung – von ihm so bezeichneter – jugendlicher Teilkulturen. Ihn interessierte die Frage, wie es zur Gruppenbildung innerhalb einer Gesellschaft kommt und welche Funktionen Gruppen im Hinblick auf die soziale Ordnung einer Gesellschaft zukommen. Eisenstadt (vgl. 1966: 17) geht davon aus, dass eine der wichtigsten Aufgaben von Gesellschaft die Aufrechterhaltung von Strukturen, Normen und Werten ist. Eine Voraussetzung für die Lösung dieser Aufgabe besteht darin, dass Jugendliche ihre (neuen) Rollen in der Gesellschaft lernen, dass sie sich also in gewissem Maße mit den Erwachsenen identifizieren und sich diese zum Vorbild im Hinblick auf universalistische Orientierungen machen (vgl. Eisenstadt 1966: 18). Dafür müssen sich Jugendliche von den ihnen vertrauten, partikularistischen Orientierungen in der Familie lösen (siehe dazu Kapitel 2.3.1). Die Verhaltensmuster und Orientierungen, die Kinder in der Familie erlernen, sind für das Agieren in der Gesellschaft (z. B. im Berufsalltag oder im Konsumbereich) nicht mehr ausreichend. Der Übergang von der der Familie in die ‚Gesellschaft‘ erfordert also, dass „das Individuum nach universalistischen Kriterien handeln lernt, das heißt die Auswahl seiner Objekte, das Verhalten und Verhaltenserwartungen ihnen gegenüber nach generalisierten, universalistischen Standards auszurichten, ohne Bezug auf seine partikularistischen Eigenheiten“ (Eisenstadt 1966: 39).
Probleme des Übergangs von der Familie in die Gesellschaft können sich dadurch ergeben, dass in der Familie – im Gegensatz zu gesellschaftlichen (Sub-) Systemen wie Wirtschaft, Politik oder Verwaltung – andere Strukturprinzipien herrschen (vgl. Eisenstadt 1966: 37). Die emotionalen, partikularistischen Beziehungsformen können Jugendliche in der Regel nicht einfach bei Seite schieben. Emotionale Bedürfnisse bleiben bestehen oder werden für Jugendliche in dieser Übergangssituation mitunter besonders wichtig. Neue Interaktionsformen erproben und erlernen Jugendliche vor allem in der Peer-Group (Gleichaltrigengruppe). Darunter werden relativ informelle Zusammenschlüsse/Gruppen von zumeist lokalen Freundeskreisen mit ausgeprägt hoher wechselseitiger Akzeptanz bezeichnet (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010a). Die hohe Kontaktdichte unter Gleichaltrigen bedeutet emotionale
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Sicherheit bzw. geht in der Regel mit sich ähnelnden Bedürfnisdispositionen einher (vgl. Hurrelmann1995: 58). „Unter allen Arten von Beziehungen genügen wahrscheinlich nur die Altersgenossen, mit Mitgliedern altershomogener Gruppen diesen Typen von Bedürfnisdispositionen […] Sie haben auch eine inhärente Tendenz zur Solidarität (a) wegen einer gemeinsamen Definition von Lebensraum und Schicksal und (b) wegen gemeinsamer emotionaler Spannungen und Erfahrungen während der Zeit des Übergangs und emotionaler Belastungen“ (Eisenstadt 1966: 40).
Für Individuen kommt der Peer-Group die Funktion zu, den Übergang von emotionalen zu sachlichen Beziehungen zu erleichtern. Für ‚Gesellschaft‘ kommt der Peer-Group die Funktion zu, Motivation für die Zustimmung zu den Rollen der Erwachsenengesellschaft zu evozieren. Peer-Groups werden dementsprechend als Transiträume verstanden, in denen emotionale Bedürfnisse noch befriedigt werden, in denen aber auch sachliche Beziehungen erprobt werden, ohne dass daraus in der Regel negative Konsequenzen erwachsen. Peer-Groups stellen darüber hinaus aber auch einen sozialen Raum dar, in dem der soziale Status von Individuen nicht mehr zugeschrieben wird (wie z. B. in der Familie oder in der Schule), sondern in dem er von persönlichen Leistungen abhängt (Ausdruck davon sind beispielsweise Gruppenhierarchien). Die Funktion der Gleichaltrigengruppe ist hiernach die Vermittlung zwischen Familie und Gesellschaft – sie ist das Verbindungsglied von privaten und öffentlichen Bereichen. Peer-Groups stellen aber auch ein Risiko für die Stabilität und Funktionsweise von Gesellschaft dar. Eisenstadt geht davon aus, dass in Gleichaltrigengruppen potentiell auch immer abweichende Verhaltensweisen zu verzeichnen sind (Eisenstadt 1966: 318ff). Dies liegt laut Robert R. Bell (1971: 83f.) vor allem darin begründet, dass die Definitionsmacht auf Seiten der Erwachsenen liegt und Jugendliche keinen logischen Zusammenhang in den Bestimmungen der Erwachsenen erkennen, denn die „Erwachsenen predigen dem Jugendlichen häufig etwas anderes, als was sie selbst tun.“ Für Erwachsene besteht das zentrale Problem im Hinblick auf Jugendliche folglich darin, dass sich diese der ‚Demokratie in gewissen Grenzen‘, d. h. der Restriktionen seitens der Erwachsenen bewusst sind. Solange die „Gesellschaft die Rolle des Jugendlichen nicht genau definiert, entwickeln die Heranwachsenden eine eigene Teilkultur, die ihre Welt sorgfältig von der der Erwachsenen abgrenzt“ (Bell 1971: 84). Wenn sich infolge der Abgrenzung Wertorientierungen herausbilden können, die sich von den Wertorientierungen der Erwachsenengesellschaft unterscheiden, dann werden durch die abweichenden Verhaltensweisen von Jugendlichen die vorherrschenden Strukturen, Normen und Werte einer Gesellschaft in Frage 145
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gestellt. Eisenstadt und Bell begreifen in ihren Analysen ‚Abweichung‘ dementsprechend nicht als Element des sozialen Wandels, denn die Strukturerhaltung und die dafür notwendigen Funktionen zur Integration von Individuen stehen im Vordergrund ihres analytischen Interesses (vgl. Schäfers 1998: 39). Jugendliche werden aus strukturfunktionalistischer Perspektive allenfalls als ein unfertiges Produkt angesehen, das aufgrund seiner Unfertigkeit keine gesellschaftlichen Funktionen übernehmen kann und daher den Transitbereich ‚Peer-Group‘ bzw. ‚Teilkultur‘ nach Möglichkeit zügig verlassen sollte. Die Gleichaltrigengruppe wird – im Sinne einer wichtigen Sozialisationsinstanz – in der Jugendforschung nach wie vor umfänglich thematisiert. Mittlerweile wird ihre sozialisatorische Bedeutung in Bezug auf die physische, psychische und soziale Dimension wie folgt beschrieben (vgl. Noack und Haubold 2003): physische Dimension – Vergleich von körperlichen Entwicklungen unter Gleichaltrigen, psychisch Dimension – Identitätsfindung (Identifikations- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten in der Gruppe); Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe bzw. zu Gruppen; Orientierung, Stabilisierung und Sicherheit (in Bezug auf Verhalten und Status); Kompensierung von Einsamkeitsgefühlen; Entwicklung eines realistischen Selbstbildes durch Reflexion, soziale Dimension – Unterstützungsfunktion (vor allem auch in Belastungssituationen); Möglichkeit zum Experimentieren mit neuen Rollen und Verhaltensweisen (vor allem bezogen auf Autorität, Hierarchie und Geschlechterrollen); Beziehungsaufbau zum anderen Geschlecht; Rückhalt bei der Ablösung vom Elternhaus; Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und Infrage stellen von Autoritäten (z. B. Lehrer, Eltern). Neben den genannten Aspekten stellt die Peer-Group für Jugendliche eine der ersten Möglichkeiten dar – aufgrund spezifischer Räume bzw. Treffpunkte, die der Kontrolle bzw. dem System kalkulierter Blicke von Seiten Erwachsener weitgehend entzogen sind – ihr Leben in eigener Regie zu erproben. 3.3.4.2 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben Ein wichtiger Schritt bei der Erörterung von Aspekten des Sozialisationsprozesses besteht darin, Aufgaben und Probleme zu spezifizieren, die Menschen in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung bearbeiten müssen. Das allgemeine Konzept, das diesen Schritt thematisiert, ist jenes der altersspezifischen Entwicklungsaufgaben. Eine Entwicklungsaufgabe ist eine Aufgabe, die sich in einer bestimmten Lebensperiode des Individuums stellt. Ihre erfolgreiche Bewältigung führt zu Glück und Erfolg, während Versagen das Individuum unglücklich 146
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macht. Es stößt beim Versagen auch auf Ablehnung durch die Gesellschaft, was zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Entwicklungsaufgaben führt (vgl. Havighurst 1971). (Auch) im Jugendalter werden Heranwachsende mit spezifischen Anforderungen bzw. Aufgaben konfrontiert, die es zu bewerkstelligen gilt. Primär beziehen sich die Entwicklungsaufgaben in der Lebensphase Jugend auf das spätere Erwachsenensein, d. h. mit den Anforderungen bzw. Aufgaben gehen bestimmte Erwartungen an die Jugendlichen einher. Entwicklungsaufgaben sind durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: Sie sind kulturabhängig, haben eine zeitliche Dimension und werden subjektiv unterschiedlich wahrgenommen und geordnet. Es gibt Entwicklungsaufgaben, die ein ganzes Leben lang bestehen bleiben, andere sind durch Beginn und Abschluss gekennzeichnet. Sie stehen in einem Wechselverhältnis zueinander. Die erfolgreiche Bewältigung einer Aufgabe schafft Selbstvertrauen und Zuversicht für die Bewältigung weiterer Aufgaben. Entwicklungsaufgaben sind veränderlich, d. h. sie haben einen historische Bezug und unterliegen dem sozialen Wandel. Zwei Aspekte müssen bei der Analyse zudem berücksichtigt werden: Zum einen ist das der ,tatsächliche' Entwicklungsstand eines Individuums und zum anderen sind es die sozio-kulturellen Rahmenbedingungen bzw. Anforderungen. Beim Konzept der Entwicklungsaufgaben wird der aktive Part der Jugendlichen darin gesehen, dass sie ihren Entwicklungsstand, ihre Ziele und ihre Entwicklungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund ihrer sozialen Umwelt selbst einschätzen. Aus dieser Einschätzung ergeben sich dann in der Regel Aktivitäten, die darauf ausgerichtet sind, Entwicklungsziele zu erreichen. In Anlehnung an das Strukturmodell von Dreher und Oerter (vgl. 1986: 111) verdeutlicht die folgende Abbildung diesen Zusammenhang.
Subjektive Struktur (individueller Entwicklungsstand)
Konzeption des Entwicklungsziels
Objektive Struktur (gesellschaftliche Normen und Werte)
Abbildung 11
Jugendliche wählen aus der objektiven Struktur – ihrem aktuellen Entwicklungsstand entsprechend – Aspekte aus, mit denen sie Ziele für die Zukunft entwi-
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ckeln können. In diesem Modell bestimmen und determinieren Jugendliche ihre Entwicklungsziele selbst (gleichwohl dies selbstverständlich nicht unabhängig von den Gegebenheiten der sozialen Umwelt erfolgen kann). Wie sehen nun die Entwicklungsaufgaben im Einzelnen aus? Die Ausführungen von Havighurst wurden mittlerweile umfänglich rezipiert und erweitert. In der folgenden Übersicht finden sich Entwicklungsaufgaben, die auf dem Weg zum Erwachsenensein gelöst werden sollten (vgl. Oerter und Dreher 1995, Ferchhoff 1999): Sich des eigenen Körpers bewusst werden. Heranwachsende müssen lernen, den Körper in der Freizeit und bei der Arbeit sinnvoll zu nutzen. Erwerb von Kompetenzen zur Ausgestaltung der Geschlechterrolle. Entwicklung emotionaler Unabhängigkeit gegenüber den Eltern und Hinwendung zu Gleichaltrigen. Vorbereitung auf die Arbeitswelt. Lernen im Jugendendalter zielt auf eine zukünftige berufliche Tätigkeit hin ab. Erwerb von Kenntnissen und sozialen Fertigkeiten für Partnerschaft und Familie. Ausbildung eines sozial-verantwortungsvollen Verhaltens. Aufbau eines Wertsystems und eines ethischen Bewusstseins durch die produktive Auseinandersetzung mit den Normen und Werten einer Gesellschaft. Entwicklung von reflexivem Wissen über sich selbst, d. h. Aufbau eines relativ stabilen Selbstkonzepts. Aufnahme von intimen Beziehungen. Entwicklung einer Zukunftsperspektive, Entwurf eines Lebensplans. In zahlreichen empirischen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die oben genannten Aspekte in der Lebensphase Jugend tatsächlich von großer Bedeutung sind und dass die Bearbeitung in verschiedenen Etappen stattfindet (vgl. Dreher und Dreher 1985, Fuchs 1985). Nicht alle Jugendlichen meistern die Etappen in gleichem Tempo. Für alle geht es jedoch darum, ,ihre‘ Entwicklungsaufgaben zu lösen, die zudem unterschiedlichen Bereichen zugeordnet werden können (vgl. Dekovic et al. 1997).
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Persönliche Aufgaben (intrapersonaler Bereich): Selbständigkeit in Bezug auf wichtige Entscheidungen erwerben (z. B. Zeitpunkt des Nachhausekommens selber bestimmen, Kleidung selbst wählen usw.), erfolgreich mit Alltagssituationen zurechtkommen (z. B. mit Freunden in die Disco gehen, den Urlaub ohne Erwachsene verbringen, über das Wochenende alleine zu Hause bleiben usw.), mit der pubertären Entwicklung klarkommen (z. B. Veränderung des eigenen Körpers akzeptieren usw.), Selbstbewusstsein entwickeln (z. B. sich seiner eigenen Stärken und Schwächen bewusst werden, auf die Meinung eines anderen bezüglich sich selbst eingehen usw.), Wertmaßstäbe finden (z. B. eine Meinung oder Neigung bezüglich politischer Parteien haben, eine Meinung zu sozialen Fragen wie Abtreibung oder Todesstrafe haben usw.). Beziehungsaufgaben (interpersoneller Bereich): eine stabile Freundschaftsbeziehung aufbauen (z. B. einen festen Freundeskreis haben, einen besten Freund bzw. eine beste Freundin haben usw.), eine intime Beziehung aufbauen. Sozio-institutionale Aufgaben (kulturell-sachlicher Bereich): die Schulzeit erfolgreich beenden, sich auf das Berufsleben vorbereiten (einen Beruf anvisieren), ökonomische Unabhängigkeit erreichen, sich auf die Verantwortung für eine eigene Familie vorbereiten. Havighurst wie auch der Entwicklungspsychologe Oerter gehen davon aus, dass – aufgrund der vielfältigen Ansprüche und Herausforderungen – Jugendliche im Vergleich zu Erwachsenen wesentlich anfälliger für Störungen sind. Gleichwohl reagieren Jugendliche auf Ansprüche und Herausforderungen relativ gelassen, was damit in Zusammenhang steht, dass der Fokus des Interesses und der Beschäftigung jeweils auf eine bestimmte Entwicklungsaufgabe bzw. auf eine spezifische Thematik im Rahmen einer Entwicklungsaufgabe gerichtet ist: Sodann diese Entwicklungsaufgabe bearbeitet ist, wenden sich Jugendliche einer neuen (Teil-)Aufgabe zu (vgl. Hurrelmann 1995: 63). Das Konzept der ‚Entwicklungsaufgaben‘ – von Havighurst in den 1950er Jahren entwickelt – hat auch heute nichts von seiner Anziehungskraft verloren (vgl. Reinders 2002). Es ist durchaus bemerkenswert, dass in Bezug auf die Mehrzahl der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter relative Einmütigkeit besteht, was insbesondere damit in Zusammenhang steht, dass die Konzeption der
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Entwicklungsaufgaben einen sehr plausiblen Hintergrund für die Beschreibung und Analyse von Prozessen der Persönlichkeitsentwicklung im Jugendalter bildet. „Es lassen sich damit auch sehr schön gesellschaftlich bedingte Erschwernisse und Verhinderungen einer gesunden und gedeihlichen Entwicklung von Jugendlichen aufzeigen, während die Jugendlichen zugleich noch immer als handelnde Subjekte begriffen werden, denn sie sind es, die die Aufgaben lösen (müssen)“ (Hagemann-White 1997: 70).
Die Konzipierung der Lebensphase Jugend als einen ‚Satz‘ von Entwicklungsaufgaben verdeutlicht dabei insbesondere die Interaktion zwischen äußeren Bedingungen und inneren Dispositionen in Bezug auf die Autonomie/Ablösung von den Eltern, die Findung von Identität in der Geschlechterrolle, den Aufbau eines Systems von Moral- und Wertvorstellungen und die Entwicklung von Zukunftsperspektiven. Havighurst macht auf die Vielfalt der Anforderungen bzw. Aufgaben aufmerksam, mit denen Jugendliche konfrontiert sind bzw. konfrontiert werden. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sich um ein ausgesprochen schematisches Konzept handelt, das mehr oder weniger standardisierte Lebenswege zugrunde legt und diese in dem Sinne normt, dass das ‚Eine auf das Andere‘ zu folgen habe. Alternative Lebenswege können nur schwer berücksichtigt werden bzw. sind eher als ein Hinweis für spätere Lebenskrisen zu deuten; dabei sind für ‚Entwicklungsstörungen‘ bei Havighurst keine plausiblen Begründungen zu finden. 3.3.4.3 Das Konzept der Identität Was Havighurst als Entwicklungsaufgaben bezeichnet hat, das hat Erikson (siehe dazu Kapitel 2.1.2) als Krisen bezeichnet, die ebenso einer Lösung durch das Individuum bedürfen. Die zentrale Krise im Jugendalter besteht für ihn im Konflikt zwischen Identität und Rollendiffusion. Der Kern seiner Theorie zum Themenfeld Jugendkulturen bezieht sich auf die Frage der Heranwachsenden nach dem ‚Wer bin ich und wer bin ich nicht?‘ (vgl. Abels 1993: 242). Ohne Beantwortung dieser Frage werden Jugendliche weder eine stabile Identität entwickeln, noch wird ihnen eine dauerhafte Integration in die Gesellschaft gelingen. Identität definiert Erikson als das bewusste oder unbewusste Erleben der ‚Ich-Kontinuität‘. Der Mensch lernt, dass er trotz erheblicher Veränderungen der gleiche bleibt, ob er sich nun in der Familie, in der Schule oder im Sportverein aufhält. Identität ergibt sich aus der Erfahrung „der eigenen Gleichheit und Identität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität anerkennen“ (Erikson 1973: 18). Der Weg zu einer stabilen Identität wird von ihm als ein Prozess im Sinne von Wachstum 150
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und Krisen beschrieben. Das Ziel der Entwicklung ist ein Individuum mit ‚gesunder‘, ‚reifer‘ Persönlichkeit, das eine gewisse Einheitlichkeit zeigt, das die Welt und sich selbst ‚richtig‘ erkennt und das in der Lage ist, die Umwelt aktiv mitzugestalten (vgl. Erikson 1973: 57). Die Lebensphase Jugend ist Erikson zufolge als eine Entwicklungsphase zu verstehen, in der die Suche nach Identität besonders ausgeprägt ist, weil die kognitive Entwicklung zum ersten Mal so weit vorangeschritten ist, dass sich die Heranwachsenden gefühlsmäßig und intellektuell als einheitlich und selbstständig begreifen und wahrnehmen können. Der Selbstdefinition auf der einen Seite stehen Rollenzuweisungen und Rollenerwartungen der sozialen Umwelt auf der anderen Seite gegenüber. Zwischen diesen beiden Polen müssen sich die Jugendlichen verorten. Die Sozialisation in der Lebensphase Jugend beschreibt Erikson im Weiteren als eine turbulente Zeit, als eine natürliche Periode der Wurzellosigkeit, wobei die ständige Suche nach Identität im Mittelpunkt steht. Folgende Verhaltensschwerpunkte sind dabei beobachtbar (vgl. Abels 1993: 242ff.): Die Angst, nicht so recht zu wissen, wie und was man sein wird, führt zur Aufstellung von ,Wächtern' einer wünschenswerten Identität: Jugendliche orientieren sich an wechselnden Idolen und Idealen. Jugendliche zweifeln häufig an der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges und unterliegen vielen Schwankungen, was zur Verunsicherung ihres Selbstwertgefühls beiträgt. Das Gefühl von Diffusion kann zu Befürchtungen der völligen Auflösung von Identität führen. Eine Reaktion auf diese Furcht sind oftmals übertriebene und rigide Abgrenzungsbemühungen, die von Erwachsenen häufig als Profilneurose bezeichnet werden. Eltern und Lehrer haben in solchen Situationen zu Jugendlichen oftmals keinen Zugang mehr. Auf der Suche nach Identität wird die Identifikation mit Gleichaltrigen wichtig, weil sich Jugendliche in Peer-Groups ihrer ,Normalität' versichern können. Aufgrund der Angst vor Identitätsverwirrung kommt es oft zu fanatischen Wahrheitsansprüchen, Dogmatismus und Intoleranz. Dies zeigt sich zum Beispiel in Abgrenzungsbestrebungen zu all denjenigen, die anders gekleidet sind oder einen anderen Musikgeschmack haben. Die Angst, nicht zu wissen, wer man ist, führt bisweilen zu moralischer Rigidität. Jugendliche haben dann festgefügte Vorstellungen von richtig und falsch oder von gut und böse – die gleichwohl von Tag zu Tag wechseln können.
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Die genannten Verhaltensschwerpunkte verschwinden im Prozess der Sozialisation nach und nach. Auf die Identitätsdiffusion folgt in der Regel die Ausbildung einer stabilen Identität in beständiger Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Erfordernissen. Aufgrund dieser Sichtweise wurde Erikson vielfach kritisiert, denn seinem Verständnis nach handelt es sich bei Sozialisationsvorgängen um einseitige Anpassungsprozesse des Individuums an gesellschaftliche Strukturen, Normen und Werte. 3.3.4.4 Individuation und Integration Das zentrale Merkmal für Sozialisationsvorgänge in der Lebensphase Jugend ist für Klaus Hurrelmann (vgl. 1995: 72ff.) der Individuations- und Integrationsprozess von Jugendlichen. Das Zusammenwirken von psychisch-biologischen und sozial-ökologischen Anforderungen verlangt von Heranwachsenden umfängliche Bewältigungsstrategien, da die Sozialisation ansonsten krisenhafte Formen bis hin zur Identitätsdiffusion annehmen kann. Einige der verwendeten Begriffe weisen bereits darauf hin, dass Hurrelmann in seinem Modell von Sozialisation im Jugendalter unterschiedliche theoretische Ansätze bzw. Aspekte dieser Ansätze zu verbinden sucht. Mit dem Begriff Individuation bezeichnet er die Entwicklung einer individuellen, einzigartigen Persönlichkeit. Dieser Prozess führt zum Aufbau der personalen Identität, die aus den biographischen Erfahrungen eines Individuums besteht. Integration bezeichnet demgegenüber den sozialen Anpassungsprozess an gesellschaftliche Normen und Werte, was insbesondere in den Erwartungen und Anforderungen der sozialen Umwelt gegenüber dem Individuum seinen Ausdruck findet. Dieser Prozess führt zum Aufbau der sozialen Identität, die letztlich von Gruppenkontexten und den Möglichkeiten in Bezug auf die Übernahme von Rollen abhängig ist (siehe dazu Kapitel 2.3.2). Jugend ist die Lebensphase, in der beide Prozesse – Individuation und Integration – von den Heranwachsenden das erste Mal bewusst und intensiv aufeinander bezogen werden. Eine wichtige (‚Entwicklungs-‘)Aufgabe im Jugendalter besteht nun darin, zur Synthese von Individuation und Integration zu gelangen. Gelingt dies, so lässt sich von gelungener Sozialisation sprechen. Eine gelungene Sozialisation ist durch die Fähigkeit zum autonomen Handeln und durch den Aufbau einer stabilen Ich-Identität gekennzeichnet. Das durchaus zu verzeichnende Spannungsverhältnis von Individuation und Integration besteht darin, dass in den verschiedenen Sozialisationsbereichen (z. B. Familie, Schule oder Jugendkulturen) gewisse Standards festgelegt werden müssen (Regeln, Anforderungen und Erwartungen an Jugendliche). 152
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Für Jugendliche geht es letztlich darum, Spielräume zu nutzen und Regeln anzuerkennen, d. h. eine Balance zu finden bzw. eine Kunst der Auslegung zu entwickeln. Hurrelmann begreift die Lebensphase Jugend also nicht als eine determinierte Phase im menschlichen Lebenslauf, sondern als eine ausgesprochen flexible und vielfältige Phase, in der Jugendliche durchaus auch aus der Balance geraten können. Letztlich sieht er aber eben nur durch eine möglichst offene und freie Gestaltung von Erfahrungsräumen die Möglichkeit, dass sich Jugendliche zu autonomen, handlungs- und gesellschaftsfähigen Subjekten entwickeln und in die Situation kommen, Gesellschaft (auch) zu gestalten. Das Persönlichkeitsideal von Hurrelmann ist demnach nicht der gehorsame, sondern der emanzipierte Bürger. Mechanische Einpassungsbemühungen seitens der Erwachsenen würden den Individuations- und Integrationsprozess nur stören. Das folgende Schaubild (vgl. Hurrelmann 1995: 75) zum Spannungsverhältnis von Individuation und Integration soll diesen Aspekt noch einmal verdeutlichen. Individuation (als Prozess der Entwicklung individueller Persönlichkeit)
Integration (als Prozess der Übernahme verantwortlicher sozialer Rollen) Spannungsverhältnis mit individuellen Krisenerfahrungen
personale Identität (eigene biographische Erfahrungen)
soziale Identität (Gruppenkontexte, Erwartungszusammenhänge)
Ich-Identität (Synthese aus personaler und sozialer Identität) Abbildung 12
In der Lebensphase Jugend muss die Koordination dieses Spannungsverhältnisses von den Heranwachsenden zum ersten Mal in eigener Regie übernommen werden. Diese Aufgabe unterscheidet die Jugendphase von den vorausgegangenen Lebensphasen und es handelt sich dabei um eine Gratwanderung zwischen gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnissen, zwischen Freiheit und Begrenzung, zwischen Stimulation und Belastung sowie zwischen Individuation und Integration.
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3.3.4.5 Individualisierte Jugend – posttraditionale Gemeinschaften Das Individualisierungstheorem (siehe dazu Kapitel 2.3.4 und 3.3.1) wird hier herangezogen, um den Einfluss der Veränderung traditioneller Bindungen und sinnstiftender Momente für die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen zu thematisieren. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von einer Entstrukturierung oder Destandardisierung der Lebensphase Jugend gesprochen (vgl. Heitmeyer und Olk 1990, Popp 1996). Es sind verschiedene übergreifende Aspekte zu nennen, die das Aufwachsen von Jugendlichen berühren: Jugendliche entwickeln Ich-Identitäten, die durch hohe Ansprüche an das Leben in eigener Regie gekennzeichnet sind. Die Einteilung von Menschen in Altersgruppen (im Sinne einer ,Normalbiographie') verliert an Bedeutung. Die Lebensphase Jugend dehnt sich aus und es gibt keine ,Ereignisse‘ mehr, die den Übergang in das Erwachsenensein anzeigen. Die Bedeutung herkömmlicher Agenturen der Sozialisation (z. B. Familie, Schule, Vereine oder Kirchen) nimmt ab. Motor des Prozesses der Individualisierung waren zunächst sozialstrukturelle Veränderungen wie der Anstieg des durchschnittlichen Einkommens, die Zunahme an frei verfügbarer Zeit oder die Bildungsexpansion. Wo ein immer komplexeres Systemnetzwerk samt Formalismen und Standardisierungen entsteht, wird das Individuum für seine Positionierung zunehmend selbst verantwortlich. Dem stehen zwischenzeitlich gravierende Strukturveränderungen des Arbeitsmarktes gegenüber: Dessen Differenzierung, Liberalisierung und Globalisierung setzen den Einzelnen immer größeren Kompetenz-, Flexibilitäts- und Mobilitätserwartungen und einem immer höheren und ‚unberechenbareren‘ Konkurrenzdruck aus. Solche strukturellen Veränderungen haben einen erheblichen – und ambivalenten – Einfluss auf individuelle Handlungsbedingungen, -möglichkeiten und -konsequenzen: Einerseits wird das Individuum aus überkommenen Bindungen freigesetzt, wodurch es mehr Entscheidungschancen und Lebensoptionen erlangt. Andererseits verliert es nicht nur – wie sozusagen ‚schon immer‘ im Zuge von Modernisierungsprozessen – gemeinschaftliche, sondern zusehends auch bislang gesellschaftlich ‚garantierte‘ Verlässlichkeiten (wie z. B. beim Übergang von der Ausbildung zum Beruf oder im Hinblick auf einen ‚berechenbaren‘ Lebenslauf). Kurz: In modernen Gegenwartsgesellschaften zeitigt Emanzipation im weitesten Sinne eben (auch) nichtintendierte und zu großen Teilen dysfunktionale Konsequenzen.
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Individualisierung führt – vereinfacht gesprochen – einerseits zu einer Vermehrung von Handlungsressourcen und Handlungsalternativen für jene Akteure, die die Kompetenzen haben, die zunehmende Komplexität des (‚globalisierten‘) sozialen Lebens für sich zu nutzen. Andererseits befördert sie aber auch die Erfahrung vermehrter und einengender Restriktionen bei solchen Akteuren, die diese Kompetenzen (warum auch immer) nicht besitzen. Die Rede von der ‚Individualisierung‘ konnotiert also Chancen und Risiken zugleich, die daraus resultieren, dass sozialstrukturelle Veränderungen eben auch Veränderungen des individuellen Lebensvollzuges provozieren, welche ihrerseits kulturelle Transformationen evozieren und so auf die Sozialstruktur zurückschlagen (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010b). Jugendliche sehen sich im Rahmen dieser generellen Bedingungen des heutigen Lebensvollzugs einem besonders hohen Erwartungsdruck ausgesetzt: Die Verlängerung der Schul- und Ausbildungszeiten verschafft ihnen zwar zunächst einen größeren Freiraum, für den sie darüber hinaus mit durchschnittlich wesentlich mehr finanziellen Ressourcen ausgestattet sind als alle vorhergehenden Generationen. Allerdings stellt sich dieser Freiraum als zwiespältiges Moratorium dar, an dessen – immer unklarer werdendem, gleichwohl aber anvisiertem – Ende im kulturell und politisch erwünschten ‚Normalfall‘ schließlich unter anderem dann offenbar doch (wieder) jene Kompetenzen erworben sein sollten, die den Zugang zur ‚Sonnenseite‘ der Individualisierung möglich machen. Diese ‚Normal-Erwartung‘ wird übrigens nicht lediglich von Erwachsenen an Jugendliche herangetragen. Vielmehr sind es (auch) die Erfahrungen und Vorstellungen der Jugendlichen selber, die dieses Sozialisationsmuster evozieren und perpetuieren. Die (oft durch den Rückgriff auf elterliche Geldressourcen ermöglichte) Teilnahme an vielfältigen freizeitlichen Erlebniswelten, das überall sichtbare Waren(über)angebot und die implizite und explizite Propagierung multipler Lebensoptionen in den omnipräsenten Medien kreieren ein anscheinend unerschöpfliches Panoptikum von Wünschbarkeiten. Hieraus erwächst ein doppeltes Entscheidungsproblem: Einerseits gilt es, aus der (Über-)Fülle des Wähl-, Nutz- und Machbaren eine bestimmte Kombination von Konsumund Erlebnisoptionen für sich als wünschbar zu setzen. Andererseits muss sich der Jugendliche – zumindest vorläufig – für eine Variante der Lebensführung entscheiden, die ihm diese Partizipation finanziell und zeitlich überhaupt erst ermöglicht. Dies konkretisiert sich beispielsweise in Fragen wie: Ist mir eine berufliche Karriere wichtig – und wenn ja: welche soll das sein, und welche Ausbildung ist dafür notwendig? Will ich mit meinem Lebens(abschnitts)partner bzw. meiner Lebens(abschnitts)partnerin eine Wohnung teilen oder eine Familie gründen – und wenn ja: wann? Ist mir meine Freizeit wichtiger als alles andere – und wenn ja: was tue ich da und mit wem? 155
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Die Konsequenzen solcher Entscheidungen sind allerdings immer weniger (verlässlich) voraussehbar, da Jugendlichen mehr und mehr die Vorbilder (hinlänglich) gelingender ‚Normalbiografien‘ abhanden kommen. Weder lassen sich innerhalb einzelner Lebensbereiche zuverlässige Abfolgen von Lebensphasen finden, noch liegen (verbindliche) Vorgaben zur Bewältigung des Problems bereit, die verschiedenen Lebensbereiche aufeinander abzustimmen. Auch in diesem Sinne stellt sich ‚Jugend‘ mithin nicht mehr als eine soziokulturell ‚geregelte‘ oder zumindest angeleitete Lebensphase dar, die mit dem Ende der Kindheit beginnt, bestimmte Ereignis- und Erlebnisabfolgen impliziert und mit dem Eintritt in das Berufsleben endet. Die Konturen von ‚Jugend‘ als einer Lebensphase verschwimmen. Gleichwohl bleibt der von Jugendlichen (auch) selbst formulierte Anspruch, eine stabile Identität zu entwickeln, insoweit bestehen, als es gilt, Chancen zu erkennen und zu verwirklichen oder auch mit nicht-realisierbaren bzw. nicht-gelebten Möglichkeiten zurechtzukommen (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010b). Die ‚Leistungen‘ herkömmlicher Agenturen der Sozialisation – wie z. B. Vereine, Schule, Kirchen oder Familie – werden unter den gegebenen Bedingungen erhöhter Komplexität dem Bedarf von Jugendlichen immer weniger gerecht. Es stellt sich also die Frage, welche neuen Erfahrungsräume die Entwicklung von Werthaltungen, (Entscheidungs-)Kompetenzen, Verhaltensweisen oder Deutungsmustern maßgeblich beeinflussen. Nun, es entwickeln, verstetigen und vermehren sich neue bzw. neuartige Vergemeinschaftungsformen, deren wesentlichstes Kennzeichen darin besteht, dass sie eben nicht mit den herkömmlichen Verbindlichkeitsansprüchen einhergehen (vgl. Hitzler 1998). Für Jugendliche – weit pointierter als für Erwachsene – scheint diese sozusagen ‚individualisierte‘ Form der Vergemeinschaftung nicht mehr nur zur (wie auch immer zu ertragenden) ‚Normalität‘ zu werden, sondern zu einer zunehmend kompetent gehandhabten Selbstverständlichkeit. Situationsadäquate Weltdeutungsschemata, Wertekataloge und Identitätsmuster werden von Jugendlichen in den herkömmlichen ‚Sozialisationsagenturen‘ nicht nur immer weniger gefunden, sondern auch immer seltener überhaupt ‚gesucht‘. ‚Sinn‘ – und zwar im Überfluss – finden Jugendliche heutzutage in ‚ihren‘, gegenüber anderen Lebensbereichen relativ autonomen freizeitlichen Sozialräumen. Jugendforscher behandeln dieses Phänomen herkömmlicherweise unter dem Etikett ‚Peer-Group‘. Seit Mitte der 1990er Jahre taucht ein neuer Begriff, der Begriff ‚Szenen‘ im Zuge der Entwicklung der Jugendforschung vom Sub- bzw. Teilkulturansatz zum Konzept Jugendkulturen fast beiläufig, allerdings immer häufiger, an prominenten Stellen der einschlägigen Literatur auf. Zurückzuführen sein dürfte der Import dieses Begriffes aus der Alltagssprache in die Jugendforschung vor allem auf Dieter Baacke, der schon frühzeitig (1987a, 1987b) von ‚Szenen‘ ge156
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sprochen hat. Allerdings verschwimmen bei Baacke, ebenso wie später bei Wilfried Ferchhoff (1999, 2007) die Konturen (wieder) hin zum Begriff der ‚Jugendkulturen‘. Dementsprechend ist Szene lange Zeit einer jener sozialwissenschaftlichen Begriffe geblieben, die zwar häufig – vor allem in der Jugendforschung – benutzt, aber nur selten definiert und theoretisch begründet wurden. Der Begriff Szene verweist auf ein Gesellungsgebilde (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010b), das nicht aus vorgängigen gemeinsamen Lebenslagen oder Standesinteressen der daran Teilhabenden heraus entsteht, das einen signifikant geringen Verbindlichkeitsgrad und Verpflichtungscharakter aufweist, das nicht prinzipiell selektiv (= aussondernd) und exkludierend (= ausschließend) strukturiert und auch nicht auf exklusive (= ausschließliche) Teilhabe hin angelegt ist, das aber gleichwohl als thematisch fokussierter vergemeinschaftender und symbolisch markierter Erlebnis- und Selbststilisierungsraum fungiert. Gegenüber anderen, sozusagen ‚anrainenden‘ Gesellungsgebilden zeichnen sich Szenen generell vor allem durch fehlende oder zumindest sehr ‚niedrige‘ Einund Austrittsschwellen und durch symptomatisch ‚schwache‘ Sanktionspotentiale aus: Von Subkulturen z. B. unterscheiden sich Szenen wesentlich durch ihre Diffusität im Hinblick auf Inklusion und Exklusion; denn als Subkulturen werden relativ ‚geschlossene‘ Interaktionskontexte von Personen mit bestimmten, relativ exklusiven ‚Qualitäten‘ bezeichnet, in denen mittels spezifischer Praktiken eine von der gesellschaftlichen Gesamtkultur abweichende, gemeinsame Weltsicht und kollektive Identität erzeugt und gesichert wird. Von Milieus unterscheiden sich Szenen wesentlich durch ihren geringen Bezug auf vorgängige biographische Umstände; denn als ‚Milieus‘ werden kohäsive (= durch starken Zusammenhalt geprägte) Gesellungsformen bezeichnet, die aus kollektiv auferlegten Lebenslagen entstehen, für die also vorgängige biographische Umstände konstitutiv sind, und aus denen sich gemeinsame Lebensstile herausbilden können. Von Peer-Groups, mit denen relativ informelle Zusammenschlüsse von zumeist lokalen Freundeskreisen mit ausgeprägt hoher wechselseitiger Akzeptanz gemeint sind, unterscheiden sich Szenen schließlich wesentlich durch deutlich geringere Altershomogenität, durch geringere Interaktionsdichte und durch Translokalität. In Szenen suchen vorzugsweise Jugendliche bzw. junge Menschen das, was sie in der Nachbarschaft, im Betrieb, in der Gemeinde, in Kirchen, Verbänden 157
3 Sozialisationsbereiche
oder Vereinen immer seltener und was sie auch in ihren Familien und Verwandtschaften, und immer öfter noch nicht einmal mehr in ihren Intim-Partnern finden: Verbündete für ihre Interessen, Kumpane für ihre Neigungen, Partner ihrer Projekte, Komplementäre ihrer Leidenschaften, Freunde ihrer Gesinnung. Die Chancen, in Szenen Gleichgesinnte zu finden, sind signifikant hoch, denn zum einen wählen sich die Szenegänger ihre Szene bzw. Szenen entsprechend ihren Wichtigkeiten aus, zum anderen sind Szenen thematisch fokussiert. Jede Szene hat ihr ‚Thema‘, auf das hin die Aktivitäten der Szenegänger ausgerichtet sind. Dieses Thema kann z. B. ein Musikstil sein, eine ästhetische Neigung, eine Sportart, ein moralisches Anliegen, eine technische Faszination, selten auch eine explizit politische Idee; dieses Thema können spezielle Konsumgegenstände oder es kann auch ein ganzes Konsum-Stil-Paket sein, gepaart in der Regel mit einer mehr oder minder diffusen Weltanschauung. Szenen können dementsprechend als ‚Gefäße‘ heterogener individueller Sinn-Suche fungieren, in denen jeder seine eigenen Ideen, Phantasien und Spiritualismen pflegen kann: sei es die konspirative Faschismus-Gewissheit des Antifa-Aktivisten, sei es die ‚dämonische Wut‘ des Black Metal-Verschworenen, sei es das ‚kosmische Leiden‘ des Gothics, sei es das ‚triumphierende Gefühl‘ des Sprayers, sei es die ‚political correctness‘ des Hardcore-Protagonisten, sei es das Rebellen-Pathos des Punks, sei es der ‚göttliche‘ Trick des Skaters, sei es die Tanz-Ekstase des Liebhabers elektronischer Musik oder sei es irgendetwas anderes, was juvenile Menschen so bewegt. Und Szenegänger teilen nun eben das Interesse am jeweiligen Szene-Thema. Sie teilen im weiteren auch typische Einstellungen und entsprechende Verhaltensweisen und Umgangsformen. Im Hinblick auf die Lebensphase Jugend bedeutet dies, dass Jugendliche – da sie bereits sehr früh gelernt haben, sich in Ermangelung von Orientierungsmarken anders zu organisieren und zu orientieren – maßgeblich zur Veränderung und Gestaltung von Gesellschaft beitragen. Denn Szenen sind prototypische Gesellungsformen. Ihr prototypischer Charakter erweist sich zum einen darin, dass die Zahl originärer Szenen stetig wächst. Ihr prototypischer Charakter erweist sich zum anderen darin, dass auch das Miteinander in herkömmlichen Gemeinschaften immer mehr symptomatische Elemente posttraditionaler Vergemeinschaftung übernimmt (vgl. Hitzler 1998, Hitzler und Niederbacher 2010b).
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4
Sozialisation und Geschlecht
Keinem anderen Merkmal wird eine so grundlegende (Aus-)Wirkung auf den Sozialisationsprozess attestiert wie dem Merkmal ‚Geschlecht‘. In allen Kulturen werden Säuglinge nach der Geburt aufgrund ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale dem einen oder dem anderen Geschlecht zugeordnet. Grundlegend ist die Geschlechtszugehörigkeit auch deshalb, weil sie in der Regel – ähnlich wie die Hautfarbe – lebenslang festgelegt ist. Gleichwohl sind beispielsweise Fragen danach, wie wird ein Mädchen zum Mädchen und ein Junge zum Jungen, was sind weibliche und was sind männliche Verhaltensweisen oder was macht ein ‚richtiges‘ Mädchen und einen ‚richtigen‘ Jungen aus, nicht so einfach zu beantworten. Die vormoderne Ausgangslage könnte (idealtypisch) wie folgt beschrieben werden: Qua Tradition haben Mädchen und Jungen gesellschaftlich vorgegebene ‚Geschlechter-Skripts‘ mit Leben zu füllen. Es gibt keine Alternativen oder Weggabelungen, an denen sich Mädchen und Jungen entscheiden können. Die vorherrschenden Geschlechterrollenstereotype stehen nicht zur Disposition und werden letztlich (maßgeblich aufgrund von Erwartungen und Forderungen seitens der Erwachsenen an Jungen und Mädchen) reproduziert. Die moderne Ausgangslage könnte (idealtypisch) wie folgt beschrieben werden: Gesellschaftliche Wandlungsprozesse haben dazu beigetragen, dass Jungen und Mädchen Variationsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre Geschlechtsidentität haben. Die ‚Geschlechter-Skripts‘ sind offener, vielfältiger und der Aufbau von Geschlechtsidentität ist ausgesprochen selbstreflexiv und orientiert sich nicht (ausschließlich) an Geschlechterrollenstereotypen. Das, was vormals als ‚richtiges‘ bzw. ‚typisches‘ Geschlechterrollenverhalten ausgelegt wurde, hat deutlich an Relevanz verloren. Es wird dementsprechend seit geraumer Zeit von einer Angleichung der Verhaltensweisen von Mädchen und Jungen in unterschiedlichen sozialen Feldern gesprochen (vgl. Jugendwerk der deutschen Shell 2000: 374). Zudem wird darauf hingewiesen, dass es zwar nach wie vor Unterschiede im Verhalten von Jungen und Mädchen gibt, dass aber eben nicht mehr (ausschließlich) von stereotypen Verhaltenweisen gesprochen werden kann. Unschärfen bzw. Ungenauigkeiten der Geschlechter-Skripte führen sukzessive zu einer Vermischung und
A. Niederbacher, P. Zimmermann, Grundwissen Sozialisation, DOI 10.1007/978-3-531-92901-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Sozialisation und Geschlecht
das heißt, dass die Eindeutigkeit der Rollen bzw. Deutungsmuster von Frau/ Weiblichkeit und Mann/Männlichkeit abnimmt. Wie aber kommen überhaupt Geschlechter-Skripte zustande, nach denen Mädchen zu Mädchen und Jungen zu Jungen werden? Geschlechtsspezifische Sozialisation beginnt mit der Geburt: Über Sprache und über den Körper wird Kindern der „heimliche Code dieses Regelsystems“ (Bilden 1991: 295) der Zweigeschlechtlichkeit vermittelt. Doch zunächst einmal werden wir als Mädchen oder als Junge geboren, d. h. es gibt eine biologische Vorbestimmtheit. Die Frage, ob durch die biologische Vorbestimmtheit auch das Verhalten oder der Charakter eines Menschen vorbestimmt ist, wird schon seit langem in der Forschung kontrovers diskutiert.
4.1
Ist der Sozialisationsprozess vorbestimmt durch die Biologie?
Noch in den 1960er Jahren gehörte die Entwicklungstheorie von Heinz Remplein (vgl. 1966) zum Basiswissen angehender Lehrer und Lehrerinnen. Er geht davon aus, dass männliche und weibliche Eigenschaften und Verhaltensweisen auf eine biologische Vorbestimmung zurückzuführen sind. Diese Ansicht wird heute so nicht mehr vertreten. Es gibt zweifellos eine Konstante im menschlichen Dasein, nämlich die der unterscheidbaren Naturausstattung. Aber die Anerkennung dieser Konstante sollte nicht dazu verführen, dass das Geschlecht als unabhängige Variable für die Erklärung unterschiedlicher Entwicklungen von Mädchen und Jungen, von Frauen und Männern herangezogen wird. Carol Hagemann-White (vgl. 1984) hat in ihrer Bestandsaufnahme zur Forschung über Geschlechtsunterschiede darauf hingewiesen, dass Annahmen über biologische Ursachen für Geschlechtsunterschiede nicht belegt werden können. Auch Klaus-Jürgen Tillmann (1990: 54) kommt nach Sichtung kulturvergleichender, psychologischer und biologischer Forschungsarbeiten zu dem Ergebnis, dass es „für die große Mehrzahl der nach herkömmlichen Stereotypen bestehenden Geschlechtsunterschiede weder einen empirischen Beleg noch Hinweise auf biologische Verankerungen gibt.“ Lediglich zu einem Aspekt, nämlich dem Zusammenhang zwischen dem Hormon Testosteron und der Neigung zu aggressivem Verhalten, sind hinreichend Forschungsbelege vorhanden, die einen eindeutigen Zusammenhang nahe legen (vgl. Miedzian 1991: 44f.). Gleichwohl der Testosteronspiegel bei Männern im Vergleich zu Frauen sechs bis sieben Mal so hoch ist, kann nicht behauptet werden, dass aggressives Verhalten von Jungen und Männern ein ‚natürliches‘ Verhalten sei. Wie stark sich aggressives Verhalten äußert, hängt davon ab, wie dieses gesellschaftlich bewertet bzw. tabuisiert wird. 160
4 Sozialisation und Geschlecht
„Das Verhalten von Mädchen und Jungen in Bezug auf Aggression, Gehorsam/ Trotz und Angst wird nachhaltig beeinflusst durch die Machtverhältnisse und den Machtmissbrauch in der sie umgebenden erwachsenen Gesellschaft“ (Hagemann-White 1984: 45).
Aggressives Verhalten ist bei Männern zwar körperlich stärker disponiert, aber Verhaltensweisen sind grundsätzlich kulturell überformt, weswegen nicht von einem Kausalzusammenhang gesprochen werden kann (vgl. Tillmann 1990: 54, Keller 1979: 124ff.). Auch neuere Testosteron-Forschungen belegen diese Annahme (vgl. Nieschlag und Bhere 2004). Die Psychologin und Kriminologin Ann Campbell (vgl. 1995: 103ff.) kommt im Rahmen ihrer Untersuchungen zum Themenfeld ‚Aggression‘ zu dem Schluss, dass der Unterschied zwischen Männern und Frauen nicht in den Hormonen begründet liegt. Sie hat aggressive Männer und aggressive Frauen verglichen und festgestellt, dass Männer und Frauen Aggression lediglich unterschiedlich begreifen und interpretieren. Weit weniger zurückhaltend beurteilen Gehirnforscher die biologischen Unterschiede der Geschlechter. Sie suchen im Gehirn nach den Ursachen des Unterschieds von Frauen und Männern und berufen sich dabei auf neurobiologische und neuropsychologische Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten sollen, dass bei Frauen beispielsweise die Vernetzung zwischen rechter Gehirnhälfte (emotionaler, kreativer Gehirnbereich) und linker Gehirnhälfte (rationaler, logischer Gehirnbereich) sehr viel stärker ausgeprägt ist als bei Männern. Die Genetiker Anne Moir und David Jessel (1990: 68) beschreiben in diesem Zusammenhang die Unterschiede wie folgt: „Der Mann hält seine Gefühlsregungen an ihrem Platz; und dieser Platz ist auf der rechten Seite des Hirns, wohingegen die Fähigkeit, diese Gefühle sprachlich zu artikulieren, auf der anderen Hirnseite beheimatet ist. Weil die beiden Hälften seines Gehirns durch eine geringere Zahl von Nervenfasern miteinander verbunden sind als die der Frau, ist der Informationsfluss zwischen der einen Seite des Hirns und der anderen spärlicher. Es ist dann oft schwieriger für einen Mann, seine Gefühle auszudrücken, weil die Informationen es schwerer haben, zur linken – verbalen – Seite seines Hirns durchzudringen. Dass die Frauen möglicherweise weniger dazu befähigt sind als der Mann, Vernunft und Gefühle voneinander zu trennen, liegt wahrscheinlich schlicht an der Art und Weise, in der ihr Hirn konstruiert ist. Das weibliche Hirn verfügt über emotionale Kapazitäten in beiden Hemisphären; hinzu kommt der leichtere Informationsfluss zwischen den beiden Hirnhälften. Die emotionale Seite ist stärker mit der verbalen Seite verknüpft. Eine Frau kann ihre Gefühle deshalb in Worte fassen, weil das, was sie fühlt, besser und effektiver auf die verbale Seite ihres Hirns geleitet wird.“
Aber ist es wirklich biologisch bedingt, dass Männer ihre Gefühle schlechter ausdrücken können, oder rührt es eher daher, dass Jungen in der Kindheit emoti-
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4 Sozialisation und Geschlecht
onal nicht ausreichend gefördert werden? Eine biologische Tatsache ist es nämlich auch, dass Kinder nicht mit einem ‚fertigen‘ Gehirn auf die Welt kommen, sondern dass sich dieses erst entwickelt. Der Mensch ist kein ‚homo clausus‘, kein in sich abgeschlossenes Wesen, in dem alles bereits angelegt und vorprogrammiert ist. Das heißt aber auch, dass die Idee, Geschlechterunterschiede ausschließlich über die unterschiedliche Kommunikation der Gehirnhälften zu erklären, nicht zielführend ist. Auch in der Evolutions- und Soziobiologie gibt es keine stichhaltigen Hinweise über mögliche biologisch-genetische Faktoren, die unterschiedliche Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Eigenschaften von Frauen und Männern determinieren. Klaus Leonhard (vgl. 1986: 121) zufolge ist es nachgerade naiv zu glauben, dass von Genen eine unmittelbare Verhaltenssteuerung ausgeht. Es ist schlicht eine falsche Suchbewegung, nach determinierenden Faktoren im menschlichen Verhalten zu forschen. Weitaus wichtiger wäre es, die Ursachen der Befreiung des Verhaltens von angeborenen Programmen aufzuklären.
4.2
Theoretische und konzeptuelle Überlegungen zur geschlechtsspezifischen Sozialisation
Wie sich Mädchen zu Mädchen und Jungen zu Jungen entwickeln ist nicht (rein) biologisch begründbar und Skepsis gegenüber einem biologischen Reduktionismus und seiner Instrumentalisierung ist durchaus angebracht. Gleichwohl könnten Erkenntnisse der Evolutionsbiologie und der modernen Soziobiologie die Diskussion um die geschlechtsspezifische Sozialisation durchaus befruchten (vgl. Scheunpflug 2000). Die überzeugendere Argumentation geht aber bislang in die Richtung, dass sich die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit auch in Geschlechterrollen ausdrückt und sich dementsprechend geschlechtsspezifische Verhaltensweisen von Mädchen/Frauen und Jungen/Männern aufzeigen lassen. Wie sich solche Verhaltensweisen bei Mädchen und Jungen entwickeln, lässt sich am Beispiel unterschiedlicher theoretischer und konzeptueller Überlegungen zeigen (vgl. Hagemann-White 1984: 74ff.). 4.2.1 Geschlechtsspezifische Sozialisation als Internalisierung eines Über-Ich Die Annahme von Freud, dass die Entwicklung hin zum ‚Mann‘ und hin zur ‚Frau‘ unvermeidlich mit dem Erkennen des anatomischen Geschlechtsunterschieds verknüpft ist, wurde schon häufig kritisiert und widerlegt (vgl. Dinnerstein 1979). Auch auf die Gefahr, die Konzeption des Ödipuskonflikts als 162
4 Sozialisation und Geschlecht
Urkonflikt für Vergesellschaftungsprozesse zu dogmatisieren, wird häufig hingewiesen (vgl. Rolff und Zimmermann 1997: 45). Unbestritten ist aber Freuds Hinweis auf die enorme Belastung, „die der männlichen wie der weiblichen Persönlichkeit durch die Tatsache auferlegt wird, dass die wichtigste Person in der Säuglingszeit und der frühen Kindheit weiblichen Geschlechts ist“ (Dinnerstein 1979: 13). Die Vertreter der Psychoanalyse versuchen die Frage zu beantworten, welche Auswirkungen es hat (bzw. was im ‚inneren‘ von Individuen passiert), dass die Mutter eine Frau ist. Bleibt man dem Denken von Freud nun aber nicht orthodox verhaftet, dann kann offen spekuliert werden, wie sich die geschlechtspezifische Sozialisation verändern würde, wenn die (nach wie vor weit verbreitete) gesellschaftliche Rollenzuweisung eine andere wäre, wenn also z. B. der Mann größere Anteile im Bereich der frühkindlichen Erziehung hätte. Damit wollen wir andeuten, dass die Innenseite der Sozialisation nicht – wie von Freud angenommen – schicksalhaft festgelegt, sondern von sozialen Einflüssen abhängig ist. Wie es dazu kommt, dass Individuen bestimmte (gesellschaftlich erwünschte) Verhaltensweisen reproduzieren – Jungen also beispielsweise ‚typisches‘ Jungenverhalten zeigen – wird im Rahmen der Psychoanalyse mit der Herausbildung eines Über-Ich erklärt (siehe dazu Kapitel 2.1.1). Die psychische Struktur eines Individuums setzt sich aus drei Schichten zusammen: Es, Ich und Über-Ich. Das Es – verstanden als „ein Chaos, ein Kessel voll brodelnder Erregungen“ (Freud 1982: 114) – bildet den Triebpol. Das Es strebt zur schrankenlosen Befriedigung von Trieben. Das ungehemmte Ausleben der Triebe würde aber im Extremfall zum Chaos, zu Zerstörung bis hin zum Tod führen. Deshalb muss eine Regel- und Kontrollinstanz die Persönlichkeit lenken. Diese Instanz ist die zweite psychische Schicht der Persönlichkeitsstruktur, das Ich, das zwischen dem Energieandrang des Triebpols – den Freud auch Lustprinzip (die Libido) nennt – und den Anforderungen der Außenwelt, die auf Zusammenleben und Überleben hin ausgerichtet ist, vermittelt. Die Anforderungen der Außenwelt bezeichnet Freud als Realitätsprinzip. Das Ich, zu rationaler Abwägung und Antizipation befähigt, kontrolliert die Befriedigung der Triebe und vermittelt dergestalt zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip. Mit den Anforderungen der Außenwelt, dem Realitätsprinzip, werden Individuen erstmals im Kindesalter konfrontiert, und zwar in Form von Geboten und Verboten im Rahmen der Wert- und Moralvorstellungen von Eltern. Nun sind wir aber triebhafte Wesen, die sich nur ungern Geboten oder Verboten unterwerfen – Kinder können sich Geboten und Verboten aber in der Regel nicht entziehen. In dieser widersprüchlichen Situation kommt die dritte Schicht der Persönlichkeitsstruktur zum tragen, das Über-Ich. In ihm sind die normativen Ansprüche verankert. Es bildet sich durch die Verinnerlichung elterlicher An163
4 Sozialisation und Geschlecht
sprüche aus. Die Funktion des Über-Ich ist sozusagen als Gewissen, das der Selbstbeobachtung unterliegt, zu verstehen. Das Über-Ich bewirkt, dass schon Gedanken an Gebots- oder Verbotsübertretung Gewissensangst auslösen und führt zu einer Unterdrückung unerwünschter Triebansprüche. In wesentlichen Aspekten zählt das Über-Ich zu den unbewussten Anteilen des Ich. Sie entstehen aus äußeren Autoritäten, die Angst hervorrufen, weil sie eigene Bedürfnisse bestrafen könnten. Eine Besonderheit des Über-Ichs besteht darin, dass durch Verinnerlichung, durch Internalisierung die vormals äußeren Autoritäten zu inneren Autoritäten werden. Im Rahmen des Sozialisationsprozesses wird der Über-Ich-Bildung besondere Bedeutung beigemessen, da die Verinnerlichung von Normen und Werten (z. B. durch den Einfluss von Eltern oder Lehrern) zu einem wichtigen Teil der Persönlichkeitsstruktur selbst wird. Diese Sichtweise zur Verinnerlichung von Normen und Werten wurde in Forschungsarbeiten zur Geschlechtersozialisation immer wieder aufgegriffen. Nancy Chodorow (vgl. 1994) hat beispielsweise die psychoanalytischen Überlegungen systematisch auf die Mutter-Tochter-Beziehung und die MutterSohn-Beziehung übertragen. Sie geht davon aus, dass – trotz gesellschaftlicher Wandlungsprozesse – nach wie vor die Mutter als primäre Versorgerin, Sozialisations-Agentin und inneres Objekt der Kinder bezeichnet werden kann (vgl. Chodorow 1994: 122). In Bezug auf die Sozialisation von Jungen (wie auch von Mädchen) muss nun berücksichtigt werden, dass Mütter in der Regel unbewusst mit einem Sohn anders als mit einer Tochter umgehen. Als Grundlage für diese Einschätzung führt Chodorow (1994: 131) Beispiele an, die Einblicke „in die Subtilität der Unterschiede im Verhalten gegenüber Söhnen und Töchtern, der Wahrnehmung von Söhnen und Töchtern und der daraus resultierenden unterschiedlichen Entwicklungsverläufe“ ermöglichen. Infolge der Abwesenheit von Männern (z. B. Berufstätigkeit des Vaters) behandelt die Mutter ihren Sohn (unbewusst) als Liebesobjekt oder Ersatzpartner. Sie erweitert also ihre Beziehung zum Sohn: Zum einen sieht sie ihn als Kind, zum anderen als männliches Wesen. „Genau diese Situation löst in unserer Gesellschaft den frühen Eintritt der Knaben in die ödipale Situation aus“ (Chodorow 1994: 142). Aufgrund der Andersgeschlechtlichkeit wird eine Mutter ihren Sohn unbewusst als ihr entgegengesetzt empfinden und ihn damit eine Separierung und Distanzierung spüren lassen. Chodorow zufolge ist die geschlechtsspezifische Sozialisation von Jungen also ein Prozess der Separierung und Distanzierung von der Mutter (siehe dazu Kapitel 4.3). Vor diesem Hintergrund werden wir im nächsten Kapitel einen theoretischen Ansatz vorstellen, der von der biologischen Grundtatsache der Unterteilung in Jungen/ Mädchen bzw. Männer/Frauen ausgeht, aber im Weiteren stärker die sozialen Implikationen in das Blickfeld rückt. 164
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4.2.2 Geschlechtsspezifische Sozialisation als rituelles Arrangement Nach der Geburt werden Kinder – wie bereits erwähnt – aufgrund ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale dem einen oder dem anderen Geschlecht zugeordnet. Dabei handelt es sich um eine Zuordnungspraxis, die in ähnlicher Weise auch bei Tieren durchgeführt wird. „Diese Zuordnung aufgrund der körperlichen Gestalt erlaubt die Verleihung einer an das Geschlecht gebundenen Identifikationsetikette (Mann-Frau, männlich-weiblich, Junge-Mädchen, er-sie)“ (Goffman 1994: 107). Jungen und Mädchen werden von Anfang an unterschiedlich behandelt, sie machen verschiedene Erfahrungen, dürfen andere Erwartungen stellen und müssen andere erfüllen: „Als Folge davon lagert sich eine geschlechtsklassenspezifische Weise der äußeren Erscheinung, des Handelns und Fühlens objektiv über das biologische Muster, die dieses ausbaut, mißachtet oder durchkreuzt. Jede Gesellschaft bildet auf diese Weise Geschlechtsklassen aus, wenn auch jede auf ihre je eigene Art. Aus der Perspektive des Forschers, der Individuen typisiert, kann dieser Komplex als ‚soziales Geschlecht‘ bezeichnet werden“ (Goffman 1994: 109).
Erving Goffman (vgl. 1994: 139) geht davon aus, dass die körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern eigentlich keine große Bedeutung für die menschlichen Fähigkeiten zur Bewältigung der meisten Aufgaben haben und fragt sich deshalb, wie es zur geschlechtsklassenspezifischen Überlagerung der biologischen Unterschiede kommt. Anders ausgedrückt: Wie wurden biologische Unterschiede, ohne biologische Notwendigkeit, derart sozial erweitert? Seine Antwort lautet: Aufgrund institutioneller Reflexivität, d. h. dass das soziale Geschlecht so institutionalisiert wird, dass es genau die Merkmale des Männlichen und des Weiblichen entwickelt, welche die unterscheidbaren Habitualisierungen und Typisierungen von männlichem und weiblichem Verhalten begründen. Goffman beobachtete und analysierte alltägliche face-to-face Interaktionen zwischen Frauen und Männern und hat dabei in jeder Interaktion ‚interpersonale Rituale‘ festgestellt, d. h. er hat bemerkt, dass die unterschiedlichen Verhaltenweisen das rechtfertigen, worauf sie sich stützen. In unterschiedlichen sozialen Situationen exerzieren sich Frauen und Männer ihre (angeblich) unterschiedliche ‚Natur‘ wirkungsvoll vor (vgl. Goffman 1994: 143). Er spricht in diesem Zusammenhang von ‚ritual idioms‘, die in der Darstellung wie auch bei deren Entschlüsselung ständig erneuert werden. Kulturelle Ressourcen sind hierbei also – historisch sedimentiert, aber sich auch stetig verändernd – auf männliche und weibliche Repertoires verteilt. Da Männer beispielsweise in der Regel stärker sind als Frauen, können sie diesen beim Tragen von schweren Gegenständen ihre Hilfe anbieten. Frauen nehmen dieses Angebot gerne an und
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zollen den Männern dafür Anerkennung. Dies ist ein Beispiel für soziale Praktiken, die es Männern und Frauen ermöglichen, die Bestätigung ihres sozialen Geschlechts zu inszenieren (vgl. Goffman 1994: 141). Der scheinbar unbedeutende Mikrokosmos des Alltags beinhaltet vielfältige Interaktionssituationen die darauf verweisen, dass wir es mit einem Arrangement der Geschlechter zu tun haben. Goffman liefert damit Belege für die Nicht-Zwangsläufigkeit oder NichtNatürlichkeit von Geschlechterverhältnissen (vgl. Tzankoff 1995: 51). Wie entwickeln sich nun aber die kognitiven Kompetenzen auf Seiten der Individuen zur Übernahme von Geschlechterrollen. Zur Beantwortung dieser Frage wenden wir uns im Folgenden der kognitionspsychologischen Lerntheorie zu. 4.2.3 Geschlechtsspezifische Sozialisation als rationaler Vorgang Die einflussreichste Theorie, welche die Entwicklung der Geschlechterrollen als kognitiven Vorgang zu erklären versucht, wurde von Lawrence Kohlberg (vgl. 1974) ausgearbeitet (siehe dazu Kapitel 2.1.4). Zentraler Hintergrund ist die Annahme, dass es eine Parallelität von kognitiver Entwicklung und Geschlechterrollenentwicklung gibt. Mit dem Fortschreiten des Ausbaus der kognitiven Fähigkeiten werden auch Änderungen zu Vorstellungen der geschlechtlichen Identität möglich. Die Geschlechterrollenkonzepte des Kindes sind das Ergebnis einer aktiven Strukturierung der eigenen Erfahrungen in Bezug auf den Körper und die soziale Umwelt. Kohlberg (1974: 334) geht davon aus, dass „die fundamentalen sexuellen Attitüden nicht direkt durch biologische Instinkte oder willkürliche kulturelle Normen, sondern durch die kognitive Organisation der sozialen Welt des Kindes in den Dimensionen der Geschlechtsrollen strukturiert werden.“
Aus den kindlichen Aktivitäten werden im Laufe der Entwicklung ‚normale‘ Erwachsenen-Geschlechterrollenattitüden, die als Restrukturierung früherer Attitüden und nicht als Produkte des direkten Lernens einer beliebigen kulturellen Identität aufgefasst werden. Auf dem Weg zu einer stabilen Geschlechtsidentität sind verschiedene Etappen zu durchlaufen. Der Beginn liegt beim Hören verbaler Bezeichnungen wie ‚Junge‘ oder ‚Mädchen‘. Das verbale Lernen der eigenen Geschlechtsidentität setzt etwa im Alter von zwei Jahren ein. Allerdings ist zu diesem Zeitpunkt eine richtige Selbstbezeichnung noch keine Selbstklassifikation im Sinne einer allgemeinen physischen Kategorie (z. B.: jedermann ist Junge oder Mädchen, jedermann ist ‚Miriam‘ oder ‚nicht Miriam‘). Ab dem dritten Lebensjahr kennt das Kind seine eigene Geschlechtsbezeichnung und verallgemeinert sie aufgrund einer Gruppierung physischer Merkmale unsyste-
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matisch auf andere. Im Alter von vier Jahren wird das Geschlecht nach allgemeinen physischen Kriterien bezeichnet, vor allem nach Kleidung und Frisur. Alle diese Ergebnisse zeigen, dass „Kinder die Selbstbezeichnung ihres Geschlechts früh (mit 2-3 Jahren) lernen, und daß sie in den nächsten Jahren lernen, andere aufgrund konventioneller Anhaltspunkte richtig zu bezeichnen“ (Kohlberg 1974: 352f.). Zur Entwicklung einer stabilen Geschlechtsidentität kommt aber noch ein weiterer Aspekt hinzu: Die Geschlechtsidentität eines Kindes kann nämlich nur dann einen stabilen Organisationsfaktor der psychosexuellen Attitüden des Kindes abgeben, wenn es von deren Unveränderbarkeit kategorisch überzeugt ist. Kohlberg (vgl. 1974: 354f.) kommt im Rahmen seiner Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass Kleinkinder erst ab dem fünften oder sechsten Lebensjahr von der Konstanz ihrer Geschlechtsidentität überzeugt sind. Die veränderte Reaktion auf Fragen in Bezug auf die zukünftige Identität spiegelt primär eine kognitive Stabilisierung der Geschlechterrollenkategorien und nicht eine veränderte Rollen-Präferenz wider. Die Entstehung einer konstanten Geschlechtsidentität ist demnach ein Teil des allgemeinen Reifeprozesses. In psychoanalytischen Vorstellungen zur geschlechtsspezifischen Sozialisation wird angenommen, dass die Identifikation mit einer Geschlechterrolle aus einer Identifikation mit einem familialen Vorbild resultiert. In kognitionspsychologischen Vorstellungen wird demgegenüber davon ausgegangen, dass – neben Mechanismen wie z. B. die Neigung, äußere Objekte und Stimuli zu erforschen oder Bewertungen vorzunehmen (vgl. Kohlberg 1974: 378ff.) – ein weiterer Mechanismus Geschlechterrollenkonzepte in maskuline und feminine Wertungen und Attitüden übersetzt. In diesem Zusammenhang ist Kohlberg, ähnlich wie die Vertreter der Psychoanalyse, der Meinung, dass dem ‚Ich‘ eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung zukommt. Kinder müssen, bevor sie eine Person imitieren, eine Vorstellung von ihr haben; und zwar eine Vorstellung, die dem Ich des Kindes ähnelt. Diese Vorstellung und deren Merkmale werden dann wegen der Ähnlichkeit imitiert. Um diese zu erkennen, muss eine gewisse Beziehung zwischen Kind und Imitationsfigur bestehen. Kohlberg bezweifelt allerdings, dass Persönlichkeitsmerkmale wie Moralität, Maskulinität oder Femininität direkt aus der Identifikation mit den Eltern herrühren, da noch weitere entwicklungsbedingte und kulturelle Faktoren auf das Kind einwirken. „Unsere Konzeption des Identifikationsbegriffes liegt irgendwo in der Mitte zwischen der vom sozialen Lernen ausgehenden Auffassung der Identifikation als einer situationsbedingten Vorbildübernahme oder Imitation und der psychoanalytischen Auffassung der Identifikation als einer plötzlichen, totalen und permanenten Inkorporation der Eltern-Imagines“ (Kohlberg 1974: 399).
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Die kognitive Entwicklung des Kindes führt zur Veränderung seines Ich-Konzeptes und des Konzepts über die andere Person. Dadurch wiederum finden Veränderungen im Prozess der Identifikation statt. Im Zusammenhang mit der Sozialisation von Jungen ist unter anderem bedeutsam, dass zwischen den Geschlechterrollenattitüden und Attitüden zur Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil eine enge Beziehung besteht. In der kognitiven Entwicklungstheorie wird dementsprechend davon ausgegangen, dass Jungen erst maskulin geschlechtstypisiert sein müssen (z. B. um Ähnlichkeiten zu erkennen), um sich dann mit dem Vater zu identifizieren. Jungen achten ihren Vater aufgrund der Ähnlichkeit – dies aber erst, nachdem sie eine eigene Geschlechtsidentität und maskuline Wertungen entwickelt haben. Voraussetzung ist hiernach die kognitive Kategorisierung der sozialen Umwelt in ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ und die Zuordnung zu einer bestimmten Geschlechtergruppe (wir Jungen – die Mädchen bzw. wir Mädchen – die Jungen). Die natürliche Entwicklung des kindlichen Körpers und die Entwicklung der Rollenkonzepte, die die Geschlechterrollenattitüden und Identifikationen festlegen, werden als Ergebnis relativ universeller Aspekte der Kindheitserfahrungen angesehen. Durch die soziale Umgebung und durch eigene Beobachtungen machen sich Kinder ein Bild von männlichen und weiblichen Rollen und können sie unterscheiden. Individuelle Unterschiede zwischen Geschlechterrollenattitüden von Kindern geben verschiedene Konzepte der Kinder wieder, die durch verschiedene Altersstufen, Intelligenzquotienten und Erfahrungen gebildet wurden. Die größten Unterschiede birgt der Altersunterschied. Kohlberg (1974: 446) deutet die Unterschiede als Auswirkungen der kognitiven Erfahrungen auf die Geschlechterrollenkonzepte und Geschlechterrollenattitüden: „Für gewöhnlich wird die altersbedingte Variation bei sozialen Attitüden als Produkt von direktem Training, Verstärkung oder Sozialisationsdruck aufgefasst, dem die Kinder auf verschiedenen Altersstufen ausgesetzt sind. Zwar erkennen wir die Existenz solcher Kräfte an, doch wir glauben gleichwohl, dass die Alterstrends der Geschlechts-Rollenentwicklung weitgehend die allgemeinen Auswirkungen kognitiver Erfahrung auf Geschlechtsrollen-Konzepte und -Attitüden reflektieren.“
Die soziale Umwelt beeinflusst sowohl die psychosexuelle Entwicklung des Kindes, als auch seine kognitive Entwicklung. Forschungsergebnisse zeigen, dass ein höherer sozio-ökonomischer Status, der die Entwicklung sozialer Konzepte begünstigt, auch die altersbedingte Entwicklung von Geschlechterrollenattitüden stimuliert. Allerdings trägt nicht nur kognitive Erfahrung zur Stimulierung oder Retardierung der Entwicklung von Geschlechterrollenattitüden bei, sondern auch das emotionale Klima im Umfeld des Kindes. Ein liebevolles, 168
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warmes Familienklima fördert eher die soziale Entwicklung, ein angstvolles, kaltes Familienklima behindert sie. Die Variable Familienklima ist zwar nicht kognitiv, aber begünstigt oder stört die intellektuellen und sozio-emotionalen Variablen der Altersentwicklung. Diese Vorstellung setzt voraus, dass die Bildung der Geschlechterrollenattitüden des Kindes von der kognitiven Organisation seiner gesamten sozialen Welt ausgeht, und dass die Motive hierfür unter anderem Kompetenz und Selbstachtung sind (vgl. Kohlberg 1974: 447). Das kognitionspsychologische Modell der geschlechtspezifischen Sozialisation orientiert sich in weiten Teilen an der Entwicklung von Jungen, weil die Veränderungen bei ihnen eindeutiger bestimmt werden konnten. Die entwicklungsbedingten Identifikationsmechanismen bei Mädchen sind demgegenüber wesentlich komplexer und zweideutiger. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass zum Untersuchungszeitpunkt in den 1970er Jahren die männliche Rolle positiver bewertet wurde, was mit einer Abwertung der weiblichen Rolle und damit einer schwächeren Selbstbewertung der Mädchen einhergeht. Auch wenn mittlerweile davon ausgegangen werden kann, dass die Vorstellung der männlichen Überlegenheit nicht mehr so selbstverständlich vermittelt wird, ist nach wie vor zu beobachten, dass bei Jungen immer noch eine männliche Überlegenheitssymbolik wahrnehmungsstrukturierend wirkt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass es Prozesse der Geschlechtsidentitätsentwicklung gibt, „die unterhalb der ‚Schicht‘ kognitiver Rationalitätsentwicklung zu liegen scheinen und deshalb mit dem kognitionspsychologischen Modell nicht hinreichend erfassbar sind“ (Böhnisch und Winter 1993: 51). Auch wird häufig kritisiert, dass in der Darstellung des Zusammenhangs allgemeiner kognitiver Entwicklungen und der Entwicklung der Geschlechterrollenkonzepte soziale Einflüsse zu wenig Beachtung finden (vgl. Alfermann 1996: 70ff.). Die sozial-kognitive Lerntheorie, welche im Folgenden dargestellt wird, greift diesen Aspekt auf. 4.2.4 Geschlechtsspezifische Sozialisation als Modelllernen Die aus dem Behaviorismus stammenden lerntheoretischen Ansätze gehen im Bereich geschlechtsspezifischer Sozialisation der Frage nach, welche Mechanismen bei der Weitervermittlung von Geschlechterrollen wirksam sind. Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen werden im lerntheoretischen Verständnis wie alle anderen individuellen Verhaltensweisen mit bestimmten Lerngesetzen erläutert. Dazu gehören das Lernen durch Verstärkung und das Lernen am Modell (siehe dazu Kapitel 2.1.3). Eine Deutung geschlechtsspezifischer Sozialisation über Lernen durch Verstärkung ist jedoch wenig überzeugend. Hierbei müsste nämlich angenommen werden, dass bei Mädchen und Jungen bestimmte Verhaltensweisen unter169
4 Sozialisation und Geschlecht
schiedlich belohnt bzw. bestraft werden. Untersuchungen haben zwar gezeigt, dass Eltern tatsächlich geschlechtsspezifische Aktivitäten fördern (z. B. über die Auswahl von Spielzeug oder Kleidung). Tillmann (vgl. 1990: 78) kommt bei der Durchsicht von Forschungsergebnissen gleichwohl zu dem Schluss, dass das Lernen über Verstärkung geschlechtsspezifische Verhaltensweisen nur spekulativ deuten kann. Forschungsergebnisse zum Lernen am Modell kommen hingegen zu weitaus plausibleren Erklärungen. Die Feststellung, dass komplexe Geschlechterrollen durch Identifikation und Imitation erworben werden können, ist auch unmittelbar einsichtig. Niemand wird bestreiten, dass Kinder bestimmte Verhaltensweisen beobachten und nachahmen. Der Lerntheoretiker Albert Bandura (vgl. 1979) versteht hierunter einen natürlichen Entwicklungsprozess, denn Menschen erlernen die meisten Verhaltensweisen durch Beobachtung von Modellen. Auch geschlechtsspezifische Verhaltensweisen eignen sich Heranwachsende durch die Beobachtung von Modellen an. Ob nun aber Jungen und Mädchen tatsächlich immer gleichgeschlechtliche Verhaltensweisen nachahmen, das müsste nach den Grundsätzen der Lerntheorie empirisch überprüft werden. Forschungsergebnisse hierzu sind älteren Datums und weisen eher in eine andere Richtung: Heranwachsende ahmen nämlich keineswegs systematisch das gleichgeschlechtliche Modell nach (vgl. Tillmann 1990: 80). Mit der sozial-kognitiven Lerntheorie kann demzufolge eher bzw. lediglich beschrieben werden, wie Heranwachsende mit Modellen umgehen und wie die Mechanismen der Vermittlung aussehen. Es können also die Lernsequenzen veranschaulicht werden. Aspekte der geschlechtsspezifischen Sozialisation liegen außerhalb des Theorierahmens. Unbeachtet bleiben zudem Entscheidungskriterien, also wie es dazu kommt, dass sich Kinder und Jugendliche bestimmte Modelle aussuchen. In diesem Zusammenhang könnte die sozial-kognitive Lerntheorie von Bandura an einigen Stellen durch konstruktivistische Forschungsergebnisse ergänzt werden, auf die wir im Folgenden näher eingehen werden. 4.2.5 Geschlechtsspezifische Sozialisation als Konstruktionsprozess Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive ist die Dichotomie von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ keine natürliche, sondern eine kulturell hervorgebrachte und normativ regulierende Klassifikation. Das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit (vgl. Hagemann-White 1984) umfasst einen Komplex von normativen Mustern, von polaren Bedeutungen, von Chiffren und Typologien. Es strukturiert dergestalt Gesellschaft grundlegend und prägt das Interaktionsgeschehen (vgl. Bilden 1991).
170
4 Sozialisation und Geschlecht
In der Theoriediskussion zum Thema geschlechtsspezifische Sozialisation werden die Begriffe Konstruktion und Dekonstruktion und die These der sozialen und kulturellen Konstruktivität der Kategorie ‚Geschlecht‘ vermehrt aufgegriffen (vgl. Hirschauer 1993). Weiblichkeit und Männlichkeit existieren nicht an sich, sondern sind Ergebnis andauernder sozialer Konstruktionsprozesse, d. h. sie werden alltäglich in der sozialen Praxis durch symbolische und gegenständliche Tätigkeit aktualisiert und reproduziert. Das soziale Geschlecht wird als Ergebnis von Handeln gefasst, welches sich ohne ‚natürliche‘ Vorgaben aus der durch soziale Diskurse bestimmten Zuordnung zu den Kategorien ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ ergibt und in seiner jeweiligen Ausformung in Interaktionsprozessen hergestellt und verstetigt wird. In konstruktivistischer Perspektive ist die Dichotomie von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ somit also keine natürliche, sondern eine kulturell hervorgebrachte und normativ regulierende Klassifikation, die – wie bereits erwähnt wurde – durch einen Komplex normativer Muster, polarer Bedeutungen sowie Chiffren und Typologien gerahmt wird (vgl. Bilden 1991, Hagemann-White 2002). Die Unterscheidung von Jungen und Mädchen ist das Ergebnis der Interaktionsarbeit des ‚doing gender‘ und wird als sozialer Konstruktionsprozess im Rahmen eines historisch gewachsenen kulturellen Kontextes verstanden. Das heißt aber auch, dass nicht die Differenz zwischen Jungen und Mädchen als zentrales Erkenntnisinteresse im Vordergrund steht, sondern vielmehr die Konstruktion dieser Differenz. Das Moment der Konstruktion enthält zudem immer auch eines der Dekonstruktion, welches in der ‚doing gender‘-Debatte die theoretische Meta-Klammer bildet. Das Moment der Dekonstruktion – im Sinne eines Verfahrens oder einer Strategie – geht auf Derrida (vgl. 1988) zurück, der in seiner ‚Theorie der Differance‘ die gesellschaftliche Wirklichkeit als Gewebe von Differenzen analysiert. ‚Differance‘ ist ein Kunstbegriff, mit dem Derrida die Wurzel der Verschiedenheit fasst. Diese Wurzel kann analysiert werden, indem sie aufgeteilt und in ihre Bestandteile zerlegt wird. Bezogen auf die Sex/Gender-Debatte folgt daraus, dass versucht wird, überlieferte Begriffsgerüste zu hinterfragen und in ihre Bestandteile zu zerlegen: Naturalisierende und ontologisierende Konzepte von Geschlecht werden in einem konstruktivistischen Zusammenhang dekonstruiert. Geschlecht als soziale und kulturelle Konstruktion ist mittlerweile ein gemeinsamer theoretischer Ausgangspunkt der neueren Geschlechterforschung. Gleichwohl zeigen sich unterschiedliche Ausprägungen. Es gibt feministisch-dekonstruktive Ansätze in kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen, diskursanalytische Ansätze in der Tradition von Foucault, ethnomethodologische Ansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften und 171
4 Sozialisation und Geschlecht
radikal-konstruktivistische/systemtheoretische Ansätze in den Sozial- und Sprachwissenschaften. Gemeinsamer Nenner der genannten Ansätze ist der Konsens darüber, dass das biologische Geschlecht nicht als Schicksal begriffen wird, sondern dass Vorstellungen von Mann und Frau 'gemacht' bzw. konstruiert und von daher als prinzipiell kontingent zu verstehen sind. Es ist nicht das biologische Geschlecht, nach dem sich die Vorstellung über das Geschlecht und die Geschlechtsidentität ausrichtet, sondern die agierenden und interpretierenden Subjekte konstruieren im Interaktionsprozess weibliche und männliche Identität. In der so genannten Jungenarbeit wird dieser Aspekt zum Teil schon aufgegriffen. Im Bereich der identitätskritischen Jungenarbeit besteht die Zielstellung beispielsweise darin, Formen geschlechtlicher Routinen nachzuzeichnen und damit gleichzeitig Brüche und Kontingenzen von Geschlechtsidentität abzubilden. Geschlechtliche Routinen werden insbesondere dann erlebbar, wenn sie Jungen als 'gemacht' bewusst werden, d. h. wenn die Jungen realisieren, dass 'Geschlecht' ein Ergebnis von sozialen Handlungen und Symbolisierungen im Interaktionsprozess ist. Die Identifikation mit einem Geschlecht und den Erwerb eines geschlechtsbezogenen Selbstkonzepts versteht Hagemann-White (1988: 233) als einen Prozess der Selbstsozialisation, in welchem Kinder "die 'verborgenen', von Erwachsenen gerade nicht bewusst vermittelten Signale und Zeichen für Geschlechtszugehörigkeit erlernen." Kinder erkennen bereits sehr früh im 'Geschlecht' ein fundamentales Ordnungsprinzip der Gesellschaft (im Sinne einer zweigeschlechtlichen Codierung der Welt) und verorten bzw. präsentieren sich dementsprechend. Die Einordnung und Selbstdarstellung als 'männlich' oder 'weiblich' bleibt gleichwohl nicht auf die Lebensphasen Kindheit und Jugend beschränkt, sondern setzt sich auch im Erwachsenenalter fort. Mit welchen Vorgaben, Attribuierungen und sozialstrukturellen Präformierungen Heranwachsende im Rahmen der geschlechtsspezifischen Sozialisation konfrontiert werden, soll im Folgenden am Beispiel von Jungen verdeutlicht werden.
4.3
Der Perspektivenwechsel in der Geschlechterdebatte: Vom Mädchen hin zum Jungen
Carol Hagemann-White (1984: 5) konstatierte Anfang der 1980er Jahre, dass in Forschung und wissenschaftlicher Literatur über Kinder- und Jugendfragen Mädchen wenig vorkommen, „da durchweg ohne Unterscheidung über die Lebenskonzepte, die Berufsorientierung, Ausbildungs-, Schul- oder Freizeitprobleme, Familiensituation und 172
4 Sozialisation und Geschlecht
Konfliktlagen ‚der Jugendlichen‘ oder der ‚Kinder‘ nachgedacht wird. Schon bei erstem Hinsehen zeigt sich: Es wird praktisch nur von Jungen berichtet – Mädchen erscheinen subsumiert bzw. allenfalls als eine (defizitäre) Untergruppe des ‚Normalfalls‘ der männlichen Jugendlichen.“
Wenn auch der Diagnose von Hagemann-White hinsichtlich der Nicht-Unterscheidung von Mädchen und Jungen in der Forschung weitestgehend zuzustimmen ist, so wird doch bei der Durchsicht des Forschungsstandes deutlich, dass Jungen in ihrer Geschlechtlichkeit keineswegs im Zentrum der Forschung standen (vgl. Schultheis und Fuhr 2006: 15, Lammerding 2004: 9). Gleichwohl hat diese Diagnose mit dazu beigetragen, dass Mädchen – als das ‚benachteiligte‘ Geschlecht – in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt sind (vgl. Scherr 1997: 214) und lange Zeit die Debatten in der Kinder-, Jugend- und Geschlechterforschung dominierten (vgl. Horstkemper 1987, 1995). Seit einigen Jahren ist, insbesondere aufgrund der Ergebnisse internationaler Schulleistungstests, die Rede davon, „dass Frauen und Mädchen das siegreiche Geschlecht des 21. Jahrhunderts sind […], währenddessen Männer und Jungen zunehmend ins Abseits geraten“ (Rose und Schmauch 2005: 7). Jungen wurden in der Folge als ‚Leerstelle‘ der bisherigen Forschung entdeckt und es zeichnet sich ein Perspektivwechsel „von der Benachteiligung der Mädchen zur Benachteiligung der Jungen“ (Cornelißen 2004: 128) ab. Die Debatten über die Benachteiligung von Jungen münden in der Regel in Problem-Diagnosen, die jenen der Ratgeberliteratur zum Thema Jungen gleichen und drei zentralen Diskurslinien zugeordnet werden können (vgl. Schultheis und Fuhr 2006: 16ff.): der ,Arme-Jungen-Diskurs‘ weist die Probleme von Jungen primär den Frauen/Müttern zu, der ,Die-Schule-Versagt-Diskurs‘ geht davon aus, dass die realen Bedürfnisse von Jungen von der Schule und ihren Organisationsstrukturen verkannt werden, wohingegen der ,Wie-Jungen-Sind-Diskurs‘ die natürliche – d. h. auf biologische Ursachen zurückzuführende – Jungenhaftigkeit postuliert und dergestalt die Missachtung der spezifischen Bedürfnisse von Jungen kritisiert. Unabhängig davon, welcher (sozialwissenschaftlicher) Quellen sich die Autoren und Autorinnen der Jungen-Ratgeberliteratur im Einzelnen bedienen, zeigt sich, dass die ‚realen‘ Bedürfnisse und Wissensvorräte von Jungen als gemeinhin bekannt proklamiert werden. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass durch die Ratgeberliteratur mitunter interessante Perspektiven auf das Thema ‚Jungen‘ eröffnet werden. Es zeigt sich aber, dass Jungen in der Berichterstat-
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4 Sozialisation und Geschlecht
tung nach wie vor als das Allgemeine verhandelt werden und nicht berücksichtigt wird, dass im Zuge von Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen das Spektrum dessen erweitert wurde, wie sich ein Junge als Junge reflektieren und darstellen kann (was gleichwohl auch den Zwang zur Reflexion und Darstellung impliziert). Dieser Perspektive folgend, kommen Jungen als das Besondere (vgl. Winter 2001, Meuser 2005) in den Blick und das meint in diesem Zusammenhang auch, dass es die männliche Sozialisation ebenso wenig gibt, wie es die Jungen gibt. Hafeneger (2005: 40) weist in seiner phänomenologischen Skizze über Jungenbilder darauf hin, dass es zwar „eine lange Geschichte der Jungenbilder und Vorstellungen über Jungen gibt […]. Wie die Bilder empirisch vorkommen, sich verteilen und mischen, auf welche sozio-kulturellen Milieus und sozialen Topographien sie sich beziehen, all das wäre […] noch genauer zu untersuchen.“
Mittlerweile gibt es verschiedentlich Diagnosenangebote, Beobachtungen und Theorieansätze zu Problemen der Persönlichkeitsentwicklung von Jungen (vgl. Böhnisch 2003). Empirische Befunde sind bislang aber nur vereinzelt, und dies lediglich im Rahmen von Jugendstudien oder Schulforschungen, die (auch) Geschlechterunterschiede thematisieren, zu verzeichnen. Arbeiten, die sich ausschließlich mit jungenspezifischen Fragen auseinandersetzen, sind – mit Ausnahme der Studien zu kollektiven Männlichkeitsorientierungen von Jungen in der Adoleszenz (vgl. Lammerding 2004), über die Einstellungen von Jungen zur Schule (vgl. Krebs 2002), über Jungenfreundschaften (vgl. Jösting 2005) und zu Vorstellungen vom ‚Mannwerden‘ und ‚Junge-Sein‘ in Bezug auf Sexualität und sexuelle Identität (vgl. Winter und Neubauer 1998) – bislang nicht vorzufinden. Dass Vorstellungen von Männlichkeit bei der Entwicklung der Geschlechtsidentität eine wesentliche Rolle spielen, weist Lammerding (vgl. 2004) in seiner Untersuchung nach. Er kommt zu dem Schluss, dass das Selbstwertgefühl von Jungen in Bezug auf ihre Männlichkeit schwach ausgeprägt ist und ständig neu bestätigt werden muss. Dies geschieht anhand unterschiedlicher Bewertungsmuster bzw. Männlichkeitsorientierungen. Geschlechtliches Handeln erfolgt aufgrund kollektiver Orientierungen im Sinne von „wir Männer und die Frauen“ (Lammerding 2004: 197). Potenz und Stärke bilden für die befragten Jungen wesentliche Geschlechtermuster. Die Selbstdefinition als Mann erfolgt zudem über eine kollektive Abwertung von Homosexualität und eine Verknüpfung von Männlichkeit und Leistung. ‚Junge-Sein‘ und ‚Mann-Werden‘ muss über Leistung und Aktion immer wieder aktualisiert und bestätigt werden. Es zeigt sich, dass viele Jungen in ihrer Selbstdefinition als Mann stereotypen Männlichkeitsvorstellungen folgen, die einem modernisierten Geschlechterver-
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4 Sozialisation und Geschlecht
hältnis eher entgegenlaufen. Verunsicherungen und Spannungen im Selbstbild von Jungen scheinen hierfür verantwortlich zu sein. Jösting (vgl. 2005: 314ff.) zeigt darüber hinaus auf, dass Jungen in der Her- und Darstellung von Männlichkeit weniger Variationen zugestanden werden als Mädchen in der Her- und Darstellung von Weiblichkeit. Bei Jungen dienen individuelle Unterschiede vor allem der Produktion von Hierarchie im homosozialen Raum. In der Studie von Winter und Neubauer (vgl. 1998) geben die befragten Jungen ein souveränes Bild von sich. ‚Junge-Sein‘ bzw. ‚Mann-Werden‘ scheint für die meisten Jungen eine selbstverständliche, unhinterfragte Angelegenheit zu sein. Dabei grenzen sie sich von traditionellen Männlichkeitsbildern ab, ohne aber einen alternativen Orientierungsrahmen aufzuzeigen. ‚Junge-Sein‘ bedeutet für die meisten Jungen offensichtlich ‚Normal-Zu-Sein‘ und dabei authentisch zu bleiben. In der Studie von Krebs (vgl. 2002) wird zudem festgestellt, dass Jungen sich selbst deutlich positiver wahrnehmen als sie von anderen Jungen wahrgenommen werden. Die befragten Jungen geben sich in ihrem Selbstbild als ehrlich, lustig und hilfsbereit, wohingegen sie an anderen eher das angriffslustige, dominante und selbstsichere Verhalten wahrnehmen. In den genannten Studien wird deutlich, dass bei Jungen nicht mehr nur traditionelle Vorstellungen von ‚Junge-Sein‘ und ‚Männlichkeit‘ vorherrschen, an denen sie sich orientieren. Allerdings bleibt unklar, wie es zu diesen (veränderten) Vorstellungen kommt und welche Deutungsmuster von ‚Junge-Sein‘ und ‚Männlichkeit‘ für sie relevant sind. Darüber hinaus geht es in der sogenannten kritischen Jungen- und Männerforschung seit Anfang der 1990er Jahre vor allem darum, die Strukturen der Sozialisation von Jungen und Männern in den Mittelpunkt zu rücken, um dadurch Erkenntnisse über deren Sozialisationsbedingungen zu erhalten. Das zentrale Anliegen der kritischen Jungen- und Männerforschung liegt dabei insbesondere auf der Erfassung der Binnenrelationen zwischen unterschiedlichen Männlichkeiten und den damit verknüpften Machtstrukturen. Theoretisch beziehen sich die meisten Arbeiten in diesem Forschungsbereich auf das Konzept der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ (vgl. Connell 1999). Meuser (vgl. 1998: 118ff.) hat diesen Ansatz dahingehend erweitert, dass er auf den männlichen Habitus verweist. Er versucht dadurch die unterschiedlichen Formen und Ausdrucksweisen von Männlichkeit zu fassen und zu erklären. Das Verhalten von Männern wird seiner Meinung nach durch die Rollenerwartungen der hegemonialen Männlichkeit beeinflusst, welche im Handeln und Agieren reproduziert werden. Hierbei seien Männer bestrebt, habituelle Sicherheit zu erlangen, was aufgrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse (Arbeit, Familie, Werte) insbesondere auch für Jungen schwieriger wird, da sie mit einer Vielzahl unterschiedlicher Erwartungen in Bezug auf ihre Männlichkeit konfrontiert werden. Traditionelle Männlichkeitsbilder existieren unwidersprochen und unreflektiert neben moder175
4 Sozialisation und Geschlecht
nisierten Anforderungen und Erwartungen. Jungen schwanken daher zwischen Geschlechterkonkurrenz, Verständnis für das andere Geschlecht und Rückgriff auf die ‚natürliche‘ Überlegenheit. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass von einer ausdifferenzierten und systematischen Jungenforschung bislang nicht gesprochen werden kann (vgl. Winter 2008, Budde und Mammes 2009). Die referierten Studien fokussieren auf (problematische) Teilaspekte des Alltags und des Verhaltens von Jungen und weisen auf geschlechtsspezifische Unterschiede hin. Insbesondere im Hinblick auf das Auseinanderklaffen der Selbstwahrnehmung von Jungen und der Forschungsergebnisse über Jungen gibt es Krebs (vgl. 2002: 61) zufolge erheblichen Erklärungsbedarf, weswegen er darauf hinweist, dass es dringend erforderlich sei, die Perspektiven der Jungen selbst einer eingehenden Analyse zu unterziehen, worauf auch Michalek (2006: 14) in Bezug auf die Kategorie Geschlecht hinweist: „Im Fokus der Untersuchungen steht die Frage, wann Geschlecht wie in Interaktionen eine Bedeutung erhält. Offen bleibt jedoch, welche Bedeutungen die Kategorie Geschlecht für Jungen selbst hat.“ Aus der Beobachtung von Geschlechterverhältnissen kann also nicht darauf geschlossen werden, was Junge-Sein für Jungen selbst bedeutet und welche Vorstellungen Jungen von Männlichkeit haben (und dasselbe gilt selbstverständlich auch in Bezug auf Mädchen).
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5
Sozialisation und Gesundheit
Der in diesem Kapitel zu erörternde Zusammenhang von Sozialisation und Gesundheit ergibt sich wesentlich aus der Wechselbeziehung zwischen den sozialen, ökonomischen und ökologischen Lebensbedingungen eines Individuums und seiner physischen und psychischen Gesundheitsentwicklung. Die Frage der Gesundheit von Heranwachsenden gewann erst seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend an Bedeutung. Insbesondere deshalb, da sich die Anzeichen mehren, dass die Risiken für Erkrankungen in dieser Altersgruppe im Vergleich zu allen anderen Altersgruppen in den letzten Jahren gestiegen sind. Das mittlerweile registrierte Ansteigen von gesundheitlichen Belastungen bei Heranwachsenden (vgl. Hurrelmann 1990, Engel und Hurrelmann 1993, Kolip et al. 1995) wird in der sozialwissenschaftlichen Gesundheitsforschung als Indiz für gestiegene Risiken des Aufwachsens in der Gegenwartsgesellschaft – d. h. unter Modernisierungsbedingungen im Sinne von Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen – gesehen (vgl. Höfer 1998: 341f.). Hurrelmann (1990: 58) kommt in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass trotz der „Erfolge bei der Versorgung der Bevölkerung mit materiellen Gütern und wichtigen Dienstleistungen das soziale, psychische und körperliche Wohlbefinden großer Teile der jungen und jüngsten Bürgerinnen und Bürger keineswegs ausreichend gewährleistet ist. Sie zahlen, um im Bild zu sprechen, einen hohen Preis für die fortgeschrittene Industrialisierung und Urbanisierung, der sich in körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen ausdrückt.“
Die Bedingungen des Aufwachsens für Heranwachsende sind – wie wir in den vorausgegangenen Kapiteln zu zeigen versucht haben – geprägt von ambivalenten Erfahrungen, für deren Bewältigung sie Ressourcen in großem Umfang bedürfen. Die Chancen für die Nutzung von inneren wie äußeren Ressourcen, die Heranwachsenden zur Aufrechterhaltung von Gesundheit und Wohlbefinden zur Verfügung stehen, sind ausgesprochen ungleich verteilt. Insgesamt erweisen sich (nicht nur) für die Lebensphase Jugend, die entwicklungsdynamisch gesehen durch eine Vielzahl von Veränderungen, Umstrukturierungen und notwendigen Anpassungsprozessen charakterisiert werden kann, die psychischen
A. Niederbacher, P. Zimmermann, Grundwissen Sozialisation, DOI 10.1007/978-3-531-92901-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Sozialisation und Gesundheit
und psychosomatischen Beschwerden als besonders relevant (vgl. Höfer 1998: 353ff.). Diese gesundheitlichen Belastungen „können als Ausdruck der Überbeanspruchung dieser Altersgruppe gewertet werden. Kinder und Jugendliche sind mit zahlreichen Belastungssituationen in Familie, Schule, Freizeit und öffentlichem Leben konfrontiert. Gelingt ihnen die Auseinandersetzung mit diesen Stressoren nicht, dann werden ihre körperlichen und psychischen Kräfte überstrapaziert und es kann zu unproduktiven Verläufen des weiteren Gesundheits- und Persönlichkeitsprozesses kommen“ (Kolip et al. 1995: 15).
Der Ansatz, das Spektrum von Gesundheit und Krankheit als Ergebnis und Ausdruck von Sozialisationsprozessen zu verstehen, ist – wie bereits zu Beginn erwähnt –relativ neuen Datums (vgl. Dippelhofer-Stiem 2008: 11ff.). Doch bevor wir darauf näher am Beispiel des Konzepts der Salutogenese eingehen (siehe dazu Kapitel 5.2), soll zunächst einmal der Begriff ‚Gesundheit‘ kurz erläutert werden.
5.1
Dimensionen des Begriffs ‚Gesundheit‘
Immer dann, wenn – wie in der Biomedizin üblich – zur Erklärung von Gesundheit der Begriff ‚Krankheit‘ mit herangezogen wird, scheint auf den ersten Blick eine eindeutige Definition möglich. Krankheit lässt sich mit Schmerzen, Beschwerden oder Einschränkungen eines Individuums beschreiben. Gesundheit ist dann die ‚Abwesenheit‘ von Schmerzen, Beschwerden oder Einschränkungen. Die Biomedizin und ihre Fachgebiete haben sich der Pathogenese verschrieben und widmen sich den Fragen, warum Menschen krank werden und unter welche Krankheitskategorie sie jeweils fallen. Diese rein biomedizinische Sichtweise ist weit verbreitet und regelt letztlich auch die Zusammenkunft von Experten und Laien. Bei Beschwerden bzw. Symptomen stufen sich Menschen als krank ein (oder werden von anderen als krank bezeichnet) und suchen so genannte Experten (z. B. Ärzte oder Therapeuten) auf. Die Betrachtung von Gesundheit über Negativbestimmungen vernachlässigt aber wichtige Dimensionen der menschlichen Befindlichkeit. Auch mit körperlichen Beschwerden oder Einschränkungen kann sich ein Mensch dennoch wohlfühlen; er kann zufrieden sein und würde sich selbst nicht als krank bezeichnen. Die ‚World Health Organization‘ definiert Gesundheit demgegenüber als einen Zustand des körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht ausschließlich als Zustand der ‚Abwesenheit‘ von Krankheit. Gesundheit muss also mehrdimensional, unter Berücksichtigung des subjektiven Wohlbefindens 178
5 Sozialisation und Gesundheit
eines Individuums, in den Blick genommen werden. Zunächst einmal bezeichnet Gesundheit eine bestimmte physische und psychische Befindlichkeit, einen Zustand, der in der Regel mit der relativen Abwesenheit von Krankheiten bzw. Krankheitssymptomen einhergeht. Das Erleben dieser Befindlichkeit muss aber von einem Menschen auch wahrgenommen werden, d. h. er muss sich selbst – seinen Körper und sein Gefühl diesem gegenüber – wahrnehmen. Gesundheit ist in dieser Perspektive Bestandteil der Identität einer Person, weil über Gesundheit eine Kontinuität des Selbsterlebens gesichert ist (vgl. Hurrelmann 1991: 17). Gesundheit ist aber kein statischer Zustand, sondern ein Prozess. Der Prozesscharakter wird (auch) im Rahmen von Sozialisationsvorgängen deutlich, d. h. durch die beständige Auseinandersetzung des Individuums mit seiner sozialen und materiellen Umwelt. Der Stellenwert von Gesundheit liegt darin begründet, dass sie Voraussetzung für diese Auseinandersetzung ist. Gesundheit ist in diesem Verständnis als Ressource zu begreifen, die mobilisiert wird, um handlungsfähig zu sein bzw. zu bleiben. Was letztendlich als Gesundheit definiert wird, d. h. welche physische und psychische Lebenssituation angestrebt wird, um handlungsfähig zu sein bzw. zu bleiben, hängt von den jeweiligen Wertvorstellungen und der jeweiligen Lebensführung eines Individuums ab. Dies ist aber keine – wie in den vorausgegangenen Kapiteln deutlich geworden sein dürfte – rein individuelle Entscheidung, sondern (auch) das Ergebnis des Prozesses der Sozialisation, d. h. Gesundheits- oder Krankheitszustände sind von den Bedingungen des Herkunftsmilieus und von der sozialen Integration und Partizipation eines Individuums abhängig, was im Folgenden am Beispiel des Konzepts der Salutogenese verdeutlicht werden soll.
5.2
Das Konzept der Salutogenese
Warum bleiben Menschen gesund – trotz gesundheitlicher Risiken, gesundheitsschädigender Einflüsse und kritischer Lebensereignisse? Was hilft uns dabei, nicht zu erkranken? Diese Fragen hat sich der Soziologe und Stressforscher Aaron Antonovsky (1997: 92) gestellt und zur Beantwortung ein Konzept entwickelt, das er mit dem Begriff Salutogenese – salus (lateinisch) = Gesundheit, genesis (griechisch) = Entstehung – bezeichnet hat. Im Unterschied zur pathogenen Orientierung, die sich an schädigenden Lebensbedingungen und krankmachenden Faktoren, den so genannten Risikofaktoren orientiert, geht die salutogenetische Forschung davon aus, dass menschliche Existenz nicht auf einem Gleichgewichtszustand und Gesundheit beruht, sondern auf Ungleichgewicht und Krankheit. Die Frage ist dann, warum befinden sich Individuen auf der po179
5 Sozialisation und Gesundheit
sitiven Seite des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums oder warum bewegen sie sich auf den positiven Pol zu? Erkrankung wird eher unspezifisch gesehen. Im Zentrum der Betrachtung stehen all jene Faktoren, die zu einer Bewegung in Richtung auf das positive Ende des Kontinuums beitragen (Gesundheitsfaktoren). Indem danach gefragt wird, warum Menschen gesund bleiben, ist es möglich, Individuen als ‚Ganzes‘ in den Blick zu nehmen, anstatt das Augenmerk ausschließlich auf die Ätiologie einer bestimmten Krankheit zu richten. Das salutogenetische Konzept beruht auf den folgenden Grundannahmen: Krankheiten gehören zur Normalität des Lebens. Die Ursachen von Gesundheit sind ebenso aufmerksam zu untersuchen wie die Ursachen von Krankheit. Gesundheit und Krankheit sind Pole eines Kontinuums, auf dem sich Menschen im Verlauf ihres Lebens hin- und her-bewegen. Es gibt bestimmte persönliche Merkmale, die dafür ausschlaggebend sind, zu welchen Polen des Kontinuums Individuen mehr oder weniger stark tendieren. Salutogenese meint, dass wir nicht in den gewohnten Mustern von Entwederoder denken, sondern ein Kontinuum zugrunde legen sollten. Antonovsky (vgl. 1997: 23) prägte hierfür den Begriff der Entropie und bezeichnet damit die Tendenz menschlicher Organismen, ihre organisierten Strukturen zu verlieren, wobei negative Entropie die Ordnung wieder aufzubauen vermag. In Bezug auf den Gesundheitszustand bedeutet dies, dass Gesundheit immer wieder aufgebaut werden muss und der Verlust von Gesundheit ein natürlicher, kontinuierlich ablaufender Prozess ist. In Bezug auf das Themenfeld Sozialisation stellt sich die Frage, wie und wodurch Heranwachsende ihre Gesundheit aufbauen, sich gesund entwickeln können. Salutogenese ist in diesem Sinne ein sensibles, dynamisches und auf ein erstrebenswertes Ziel hin gerichtetes Geschehen. Dieses Geschehen ist überaus anfällig und wird von bestimmten Bedingungen positiv oder negativ beeinflusst. Die zentrale Bedingung für eine positive Gesundheitssozialisation ist der Kohärenzsinn, der ‚Sense of Coherence‘. Darunter wird eine globale Orientierung verstanden, „die das Maß ausdrückt, in dem man ein durchdringendes, andauerndes aber dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, daß die eigene interne und externe Umwelt vorhersagbar ist und daß es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, daß sich die Dinge so entwickeln werden, wie vernünftigerweise erwartet werden kann“ (Antonovsky 1997: 16).
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5 Sozialisation und Gesundheit
Aufgrund des Kohärenzsinns können Aussagen darüber getroffen werden, welche Position ein Individuum auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum innehat. Es ist ein ‚Gefühl‘ der Stimmigkeit und zeigt an, wie gut oder wie schlecht Menschen in der Lage sind, vorhandene Ressourcen zum Erhalt ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens zu aktivieren. Je ausgeprägter der Kohärenzsinn eines Individuums ist, desto gesünder ist es bzw. desto schneller wird es gesund. Der Kohärenzsinn geht also mit der inneren Überzeugung einher, dass das Leben uns zwar vor Aufgaben stellt, dass wir diesen aber nicht hilflos ausgeliefert sind. Die Stärke, das Ausmaß des Kohärenzsinns entscheidet darüber, wie eine Person den Anforderungen des Lebens begegnet und wie fähig sie sich fühlt, ihre Gesundheit in die eigenen Hände zu nehmen. Diese Grundeinstellung zum Leben, nämlich die Welt als zusammenhängend und sinnvoll zu erfahren, wird (nicht nur) im Prozess der Sozialisation fortwährend mit neuen Lebenserfahrungen konfrontiert und von diesen beeinflusst. Damit es überhaupt zu einer solchen Grundeinstellung kommen kann, ist das Zusammenwirken von drei Komponenten erforderlich. Diese drei Komponenten werden als Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit bezeichnet und beinhalten mehrere Teilaspekte, die im Folgenden erläutert werden. Verstehbarkeit (‚sense of comprehensibility‘) bezeichnet das Gefühl, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen, sie als geordnet, vorhersehbar und erklärbar einzustufen. Diese Komponente drückt das Ausmaß aus, in welchem man Stimuli (bekannte wie unbekannte) als in sich konsistente, strukturierte und klare Informationen verarbeiten kann, d. h. dass sie nicht als Rauschen im Sinne chaotischer, willkürlicher oder zufälliger Widerfahrnis wahrgenommen werden. Für diejenigen, die Stimuli als ‚Information‘ wahrnehmen, ist die Welt verstehbar – diejenigen, die nur ‚Rauschen‘ wahrnehmen, vermuten ein unerklärliches Chaos in der Welt. Probleme oder Schwierigkeiten können immer auftreten, diejenigen Individuen aber, die einen ausgeprägten ‚sense of comprehensibility‘ aufweisen, können sich solche Ereignisse erklären. Für Heranwachsende mit ausgeprägtem Kohärenzsinn sind beispielsweise Misserfolge beim schulischen Lernen, die durch eine schlechte Note repräsentiert werden, erklärbar: Sie erleben die sich daraus ergebenen Anforderungen im Hinblick auf die zukünftige Vorbereitung für Klausuren als vorhersagbar und kontrollierbar. Der ‚sense of comprehensibility‘ ist also ein kognitives Verarbeitungsmuster.
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5 Sozialisation und Gesundheit
Handhabbarkeit (‚sense of manageability‘) bezeichnet das Gefühl der Überzeugung, dass man das eigene Leben aktiv gestalten kann. Im Weiteren geht es bei dieser Komponente auch um das wahrgenommene Ausmaß an zur Verfügung stehenden Ressourcen die dazu geeignet sind, Anforderungen zu begegnen bzw. Probleme zu lösen. Anders ausgedrückt: Es wird damit die Überzeugung eines Individuums beschrieben, dass Schwierigkeiten lösbar sind (auch unter Berücksichtigung des sozialen Netzwerks, d. h. die Unterstützungsleistungen durch andere Personen). Es herrscht also die tiefgreifende Überzeugung vor, dass das Leben ‚gemeistert‘ werden kann. Solange Heranwachsende das Gefühl haben, dass sie Rechnen, Lesen oder Schreiben erlernen können, dass sie mit der Unterstützung von Seiten der Familie, der Schule oder anderer Institutionen rechnen können, solange herrscht der ‚sense of manageability‘ vor, d. h. es handelt sich hierbei um ein kognitivemotionales Verarbeitungsmuster. Bedeutsamkeit (‚sense of meaningfulness‘) bezeichnet das Gefühl, dass das eigene Leben emotional als sinnvoll empfunden wird. Laut Antonovsky (1997: 35f.) bezieht sich diese Komponente im Weiteren darauf, dass „wenigstens einige der vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, daß man Energie in sie investiert, daß man sich für sie einsetzt und sich ihnen verpflichtet, daß sie eher willkommene Herausforderungen sind als Lasten, die man gerne los wäre.“
Der ‚sense of meaningfulness‘ repräsentiert also die motivationale Ebene und wird von Antonovsky als wichtigste Komponente beschrieben, da sie entscheidend zur Lösung von Problemen beiträgt. Es ist das Vertrauen darauf, in schwierigen Situationen nicht verzweifeln zu müssen, sondern Probleme lösen zu können, wobei in diesem Zusammenhang die Grundmotivation ‚Ich will zu einer Lösung kommen‘ im Vordergrund steht. Um das zuvor genannte Beispiel aufzugreifen: Nur wenn Heranwachsende von der Bedeutsamkeit und Richtigkeit der eigenen Anstrengungen und des eigenen Engagements überzeugt sind, können Schwierigkeiten in der Schule bewältigt werden. Auf Basis des Konzepts der Salutogenese ergeben sich im Zusammenhang mit Sozialisation folgende Fragen: Was ist zu tun, um Gefühle von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit aufzubauen sowie zu verstärken und welche Bedeutung kommt hierbei der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen zu? Antonovsky (1997: 93f.) zufolge müssen bei der Beantwortung dieser Fragen zwei Faktoren berücksichtigt werden: Zum einen die ‚generalisierten Widerstandsressourcen‘ (1) und zum anderen die ‚Lebenserfahrungen‘ (2). Auch hier bleibt er seiner Grundannahme treu, dass die Schutzfaktoren wesentlich bedeutsamer für die gesundheitliche Entwicklung von Individuen sind als die Risikofaktoren. 182
5 Sozialisation und Gesundheit
(1) Generalisierte Widerstandsressourcen werden als Hilfsmittel verstanden, um den Herausforderungen des Alltags begegnen zu können – dazu gehören zum einen gesellschaftliche und zum anderen individuelle Widerstandsressourcen. Die folgende Abbildung gibt einen Überblick zu den Ausprägungen der einzelnen Ressourcen. körperliche Ressourcen
Sie beinhalten vor allem die körperliche Konstitution, also Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit.
personale Ressourcen
Diese Ressourcenebene bezieht sich auf Problemlösefähigkeiten, Selbstvertrauen, und Optimismus.
materielle Ressourcen
Hierzu gehören finanzielle Unabhängigkeit und Sicherheit, ein sicherer Arbeitsplatz und der Zugang zu Dienstleistungen.
soziale Ressourcen
Dieser Bereich bezieht sich auf die Eingebundenheit in soziale Netzwerke (z. B. Familie, Freunde usw.)
gesellschaftlichkulturelle Ressourcen
Hierbei geht es um politische und ökonomische Stabilität, Frieden, intakte Sozialstrukturen und um funktionierende soziale Sicherungssysteme.
Abbbildung 13
Die genannten Ressourcen sind aber nicht nur im Hinblick auf die Bewältigung von schwierigen Situationen dienlich, sondern beinhalten grundsätzlich das Potential, den Prozess der Sozialisation von Heranwachsenden positiv zu beeinflussen und die Kompetenzen zum Erhalt von Gesundheit auszubauen bzw. zu stärken. (2) Lebenserfahrungen: Der Kohärenzsinn entwickelt sich bei Heranwachsenden vor dem Hintergrund der gesammelten Erfahrungen im Rahmen des Sozialisationsprozesses und ist durch die Merkmale Konsistenz, Belastungsbalance und Teilhabe gekennzeichnet (vgl. Antonovsky 1993: 4f.). Konsistenz: Schon im Säuglingsalter ist die Erfahrung von Beständigkeit und Verlässlichkeit außerordentlich wichtig (siehe dazu Kapitel 2.1.1). Wenn Kinder die Erfahrung machen, dass sie sich auf ihre Bezugspersonen verlassen können, dann entwickeln sie in der Regel einen starken Kohärenzsinn. Heranwachsende sollten aber auch die Erfahrung machen, dass sich Dinge wiederholen, dass Abläufe unter vergleichbaren Bedingungen ähnlich sind. Konsistente Lebenserfahrungen sind vor allem zur Ausbildung der Verstehbarkeitskomponente des Kohärenzsinns wichtig. Belastungsbalance: Hierbei geht es um die Ausbildung einer Balance zwischen Anspannung und Entspannung. Heranwachsende sollten sich nicht 183
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andauernd überfordert, aber auch nicht andauernd unterfordert fühlen. Vor allem im Säuglingsalter ist die Vermittlung von Wärme, Sicherheit und Geborgenheit sehr wichtig, um Entspannung erfahren zu können. Das Erleben einer Ausgeglichenheit zwischen Überlastung und Unterforderung ist notwendig zur Ausbildung der Handhabbarkeitskomponente des Kohärenzsinns. Teilhabe: Durch die Teilhabe an Entscheidungen bekommen Heranwachsende das Gefühl, auf die Gestaltung des eigenen Lebens Einfluss nehmen zu können und sie erfahren dergestalt auch Akzeptanz und Achtung. Diese Erfahrung ist vor allem relevant zur Ausbildung der Bedeutsamkeitskomponente des Kohärenzsinns. Gleichwohl die genannten Merkmale in ihrem Zusammenwirken ausgesprochen wichtig sind, wird dem Merkmal Teilhabe (zur Ausbildung der Bedeutsamkeitskomponente) die größte Wichtigkeit beigemessen, denn ohne sie ist ein hohes Maß an Verstehbarkeit und Handhabbarkeit nicht zu gewährleisten. Im Sinne des Konzepts der Salutogenese tragen die folgenden Rahmenbedingungen zu einer gesunden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bei – dabei sollte aber auch berücksichtigt werden, dass es nicht darum geht, dass das ‚gesamte‘ Leben verstehbar, handhabbar und bedeutsam ist um einen starken Kohärenzsinn entwickeln zu können, sondern es vielmehr entscheidend ist, ob es bestimmte Lebensbereiche gibt, die von subjektiver Bedeutung für das Individuum sind. Heranwachsenden sollte daher die Möglichkeit zur Entwicklung vertrauensvoller Bindungen an einzelne Menschen oder Gruppen eröffnet werden: Sie sind auf positive Rückmeldungen aus ihrem sozialen Umfeld in Form von Akzeptanz, Zuwendung und Anerkennung angewiesen. Zwischenmenschliche Kooperation sollte ihnen ein Gefühl für die Beeinflussbarkeit ihrer Lebenswelt vermitteln. Kinder und Jugendliche benötigen Orientierungsmuster, die für sie mit dem Gefühl der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit verknüpft sind, damit sie eine stabile Identität aufbauen können. Dadurch, dass Heranwachsende einen großen Teil ihrer Zeit in der Schule verbringen müssen, ist diese auch ein zentraler Ort, an dem sie kognitive, soziale und emotionale Kompetenzen erlernen und entfalten können. Renate Höfer (1998: 354f.) geht davon aus, dass aufgrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse (siehe dazu Kapitel 2.3.4 und 3.3.1) vor allem die Ausbildung von Kompetenzen auf Seiten der Heranwachsenden erforderlich ist, die sie dazu befähigen 184
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„Entscheidungen autonom treffen zu können, die Übersicht auch über unübersichtliche Prozesse zu gewinnen, Ambivalenzen auszuhalten und Erfahrungen des Nicht-Gelingens produktiv zu verarbeiten. Hinzu kommen vor allem noch soziale Fähigkeiten des Aushandelns, da aufgrund der Erosion der traditionellen Werte und der gestiegenen Optionalität gerade auch alltägliche Handlungen keineswegs selbstverständlich vorgegeben sind, sondern mit den jeweiligen Anderen erst ausgehandelt werden müssen. Je mehr an Kompetenzen und Ressourcen ein Jugendlicher zu dieser eigenbestimmten Lebensgestalt mitbringt, desto größer sind seine Chancen, auch in Zeiten raschen gesellschaftlichen Wandels die jugendspezifischen Handlungsaufgaben zu bewältigen. Je weniger er über diese Kompetenzen verfügt, desto eher kommt es auch zu Störungen in der Gesundheit. Dem Kohärenzsinn kommt bei der Bewältigung der gestellten Anforderungen unter den gegenwärtigen, veränderten Bedingungen des Aufwachsens eine besondere Rolle zu. In einer Gesellschaft, die für die individuelle Entwicklung nicht ausreichende Sicherheiten zur Verfügung stellt, die Ambivalenz zu einer umfassenden Erfahrung macht, beweist sich der Kohärenzsinn offensichtlich als wesentliche Kompetenz. Der Kohärenzsinn unterstützt die Selbstorganisationsprozesse, er befähigt Jugendliche für sich selbst ‚Sicherheit‘ herzustellen, und Ambivalenzen können somit nicht nur als Problem sondern auch als Herausforderung verstanden werden.“
Im Rahmen ihrer empirischen Studien zum Thema ‚Jugend und Gesundheit‘ kommt sie zu dem Ergebnis, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsstatus (psychosomatische Stress-Symptome und psychische Belastung) und der Höhe des Kohärenzsinns von Heranwachsenden gibt. Zur Beantwortung der Frage, inwieweit der Kohärenzsinn für die Ebene physischer Erkrankungen eine ebenso wichtige Ressource darstellt wie für die psychische Ebene, bedarf es jedoch noch weiterer Untersuchungen (vgl. Höfer 1998). Gesundheit sollte, das sei nochmals betont, als ein Prozess verstanden werden und das bedeutet zum einen, dass sie von Individuen immer wieder neu hergestellt werden muss. Gesundheit ist aber zum anderen immer auch eine soziale Kategorie (vgl. Faltermaier 1994: 57f.). Wenn wir beide Seiten – also die subjektive und die gesellschaftliche Seite – berücksichtigen, dann stellt sich Gesundheit als Koordinationsleistung von inneren und äußeren Anforderungen dar. Gesundheit spiegelt demnach die subjektive Verarbeitung und Bewältigung der gesellschaftlichen Verhältnisse wider, was in der folgenden Abbildung deutlich wird (vgl. Hurrelmann 2010: 132):
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personale Ressourcen Belastung: körperlich psychisch kulturell sozial politisch ökologisch
produktive Realitätsverarbeitung
Ergebnis des BelastungsBewältigungs-Prozesses gelingende Gesundheitsbalance gestörte Gesundheitsbalance
soziale Ressourcen Abbildung 14
Eine produktive Realitätsverarbeitung unter Berücksichtigung der bisher referierten Vorstellung von Gesundheit ist dann gegeben, wenn zwischen Ressourcen und Belastungen ein Gleichgewicht hergestellt werden kann. Ein solches Gleichgewicht ist aber davon abhängig, ob ausreichend personale und soziale Ressourcen zur Verfügung stehen. Eine Abstimmung zwischen den Umweltanforderungen und den eigenen Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten ist am besten möglich, „wenn eine Person konstruktive Sozialbeziehungen aufbauen kann, sozial integriert ist, die eigene Lebensgestaltung an die wechselhaften Belastungen des Lebensumfeldes anpassen und dabei die persönlichen Bedürfnisse ausdrücken und Sinnerfüllung finden kann, und wenn alles dieses im Einklang mit den biogenetischen und physiologischen Potentialen und den körperlichen Möglichkeiten geschieht“ (Hurrelmann 1991: 164).
Treten Probleme oder Beeinträchtigungen in einem dieser Bereiche auf, dann hat dies Auswirkungen auf die jeweils anderen Bereiche. Einen zentralen Einfluss auf Gesundheit hat dabei die Lebensführung: „Zu den wichtigsten Elementen einer für die Gesundheit günstigen Lebensführung zählt die positive Einstellung zu den alltäglichen Herausforderungen, die Akzeptierung des eigenen Körpers und der psychischen ‚Grundausstattung‘, eine auf optimistische Hoffnung, Zuversicht und Neugier aufgebaute Erwartung an die soziale und physische Umwelt und die Vorstellung von der Beeinflussbarkeit der wichtigsten Parameter für die eigene Lebensführung“ (Hurrelmann 2010: 143).
Beim Konzept der Salutogenese wurden diese Aspekte mit dem Begriff ‚Kohärenzsinn‘ bezeichnet. Von großer Bedeutung ist dabei letztlich die Verbindung von Selbstvertrauen mit bewusster Lebensführung, die unter anderem auf Ar-
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beit, Leistung, Anspannung und Rationalität gerichtet ist, und Genussfähigkeit, die unter anderem auf Entspannung, Bewegung, Bindung und Liebe zielt (vgl. Hurrelmann 2010: 143).
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Sozialisation im 21. Jahrhundert*1
Klaus Farin – Gründer des ‚Archivs der Jugendkulturen‘ (www.jugendkulturen. de) – thematisiert in seinem Aufsatz ‚Schlimmer wird‘s immer‘ (vgl. 2010) eines der zentralen Probleme, auf das man bei der Beschäftigung mit den Ergebnissen der Kindheits- und Jugendforschung stößt bzw. das beim Nachdenken alter Menschen über Kinder und Jugendliche virulent wird, nämlich dass relativ ältere Menschen Probleme mit jungen Menschen haben. Das war, soweit das historische Wissen zurückreicht, gleichsam ‚schon immer so‘. Bereits Sokrates (470 bis 399 vor Christus) konstatierte: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte“ (Sokrates zitiert nach Neidhardt 1970: 7). Nicht anders erging es dem amerikanischen Jugendforscher Robert R. Bell (1971: 86), der in seinem vielbeachteten Aufsatz über die ‚Teilkultur der Jugendlichen‘ zu dem Ergebnis kommt, dass „nichts dagegen einzuwenden [ist], wenn Jugendliche mit sechzehn Jahren dem Rock and Roll anhängen; bedenklich wird es aber, wenn sich jemand noch mit 26 Jahren mit dieser Art von Musik identifiziert. Die beibehaltene Identifizierung lässt vermuten, daß der Anschluß an die Erwachsenenwelt selbst dann nicht gelang, als er möglich wurde.“
Derartige Aussagen lassen sich in der neueren wissenschaftlichen Literatur zum Themenfeld Sozialisation nur mehr selten finden. Vielmehr bemühen sich Kindheits- und Jugendforscherinnen sowie Kindheits- und Jugendforscher darum, den in helfenden und lehrenden Berufen Beschäftigten ein besseres Verständnis und mitunter auch bessere Rezepte zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen an die Hand zu geben, damit diese zum Schutz relativ älterer Menschen vor jungen Menschen beitragen können. Auch angehende Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler, Lehrerinnen und Lehrer oder *1 Dieses Schlusskapitel rekurriert sehr stark auf von Ronald Hitzler und Arne Niederbacher im Laufe ihrer langjährigen vertrauensvollen Zusammenarbeit bei der Erkundung und Analyse jugendkultureller Phänomene gewonnenen und an anderen Stellen, insbesondere von Hitzler, auch immer wieder publizierten Einsichten, bei denen wir zu großen Teilen nicht mehr erinnern können, welcher Gedanke ursprünglich von wem gedacht worden ist.
A. Niederbacher, P. Zimmermann, Grundwissen Sozialisation, DOI 10.1007/978-3-531-92901-9_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Psychologinnen und Psychologen werden in Bildungseinrichtungen mit Forschungsergebnissen und Theorien zum Themenfeld Sozialisation konfrontiert. Das ist grundsätzlich zu begrüßen, sofern in diesen Einrichtungen auch darauf hingewiesen wird, dass es sich bei den Forschungsergebnissen und Theorien zum Themenfeld Sozialisation letztlich um Versuche einer Bestimmung dessen handelt, was relativ ältere Menschen als wünschenswertes bzw. ‚normales‘ Verhalten junger Menschen oder als Ziel von Sozialisation bzw. Entwicklung in den Lebensphasen Kindheit und Jugend ansehen. Farin (vgl. 2010) resümiert, dass sich die Fragen, die sich Heranwachsende stellen, im Lauf der Zeit verändert haben, und verweist dabei auf Dr. Martin Goldstein, der von 1969 bis 1984 unter dem Pseudonym ‚Dr. Sommer‘ der Aufklärungsheld mehrerer Jugendgenerationen war. Dieser „stellte neulich bei der Lektüre einer aktuellen Bravo fest, dass die Gefährlichkeit des Samenschluckens auch 40 Jahre nach dem Start seiner Aufklärungskolumne immer noch ein heißes Thema ist. Nur, dass verängstigte Teenager damals von ihm erfahren wollten: Werde ich davon schwanger? Heute lautet die Frage: Macht Samenschlucken dick?“
(Auch) junge Menschen – und das nicht nur in Bezug auf die Frage ‚Samenschlucken‘ – haben sich verändert, denn Fakt ist zum einen, dass immer weniger junge Menschen rauchen, Alkohol trinken oder illegale Drogen konsumieren, junge Menschen haben später Geschlechtsverkehr und auch die Kinder- und Jugendgewalt sowie -kriminalität ist seit Jahren stark rückläufig (vgl. Jugendwerk der deutschen Schell 2010). Fakt ist zum anderen aber auch, dass immer mehr relativ ältere Menschen – die aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation jungen Menschen helfen wollen oder sie unterrichten sollen – um immer weniger junge Menschen konkurrieren müssen. In den 1950er Jahren war in Deutschland jeder dritte Mensch unter 20 Jahren alt. Heute ist es nur noch jeder fünfte. Und auf absehbare Zeit werden wir im Verhältnis zur Zahl der Älteren noch deutlich weniger Heranwachsende haben – wie wir aus den tagtäglichen Hochrechnungen zur Unfinanzierbarkeit des dräuenden ‚Altenheims Deutschland‘ gelernt haben und lernen (vgl. Hitzler 2006). Einerseits scheint sich das, was man die Lebensphase Jugend nennt, immer mehr in die Länge zu ziehen und zu entstrukturieren. Andererseits aber schwindet das, was sich da pädagogisch, ökonomisch, politisch, kurz: was sich kulturtypologisch seit den 1950er Jahren ‚aushärtet‘, seit jener Zeit demografisch gesehen mehr und mehr schon wieder dahin. Selbst wenn man, wie es in der einschlägigen Forschung immer häufiger geschieht, die Lebensphase Jugend ausweitet bis zum Alter von 30 oder 35 Jahren, scheinen die jungen Menschen statistisch gesehen zu einer sozialen Marginalie zusammenzuschmelzen. Unbeschadet dessen steht ‚die‘ Jugend anhaltend im Fokus öffentlicher Aufmerk190
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samkeit. Das hat allerdings weniger damit zu tun, dass die uns verbliebenen und verbleibenden jungen Menschen sozusagen die konkurrenzlosen Träger aller möglichen politischen und vor allem ökonomischen Hoffnungen sind. Es hat vielmehr damit zu tun, dass das Phänomen Jugendlichkeit (siehe dazu Kapitel 3.3.2), mit seinen Konnotationen von Vitalität und Erlebnisorientierung, (auch demografisch) keineswegs dahinschwindet, sondern – im Gegenteil – sich in Gegenwartsgesellschaften rapide ausbreitet. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich daraus, dass Jugendlichkeit eben keine Frage des Alters (mehr) ist, sondern eine Frage der Einstellung zur Welt. Diese Einstellung zur Welt, diese mentale Disposition, ist dadurch gekennzeichnet, dass man weder (mehr) kindisch ist, noch erwachsen, sondern dass man in einem komplizierten Zusammenhang von eigenen, nicht etwa von individuellen, sondern von eben nicht-erwachsenen-typischen Wichtigkeiten lebt. Diese Einstellung ist in Gegenwartsgesellschaften keineswegs immer seltener zu finden (wie es dem schrumpfenden Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung entsprechen würde). Diese Einstellung, die symptomatischerweise das argwöhnische Interesse von Erwachsenen weckt, weil sie mit ‚sonderbaren‘ Wichtigkeiten und Wertsetzungen einhergeht, breitet sich vielmehr immer weiter aus und streut über immer mehr Altersgruppen hinweg – und erfasst immer mehr Lebensbereiche von immer mehr Menschen: Juvenilität als prinzipielle Lebensform wird zur kulturellen Alternative gegenüber der Lebensform des Erwachsenseins. Dementsprechend wird Jugendlichkeit in diesem Verstande also keineswegs mehr nur für Heranwachsende, Postadoleszente und Dauerpubertierende, sondern längst auch für die Absatz-Ziel-Gruppen der ‚50 plus‘-Best Agers propagiert, die ja nun bekanntlich auf keinen Fall als ‚Senioren‘, ja noch nicht einmal mehr als ‚junge Alte‘ bezeichnet werden wollen (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010a). Berücksichtigt werden sollte aber, dass durchaus nicht alle Heranwachsenden der Geisteshaltung Jugendlichkeit frönen, und durchaus nicht alle Menschen mit der Geisteshaltung Jugendlichkeit Heranwachsende sind. Gerade die in seriösen Repräsentativerhebungen gewonnenen Erkenntnisse darüber, was jungen Menschen wichtig ist, deuten vielmehr darauf hin, dass einige der heute 15- bis 25-Jährigen Jugendlichkeit im Sinne einer selbstbewusst unerwachsenen Einstellung zum Leben frühzeitig verabschieden (vgl. Jugendwerk der deutschen Shell 2010). Nach wie vor ist es aber so, dass nicht nur im medialen, sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs insbesondere das Thema jugendliche Randgruppen (positiv ausgedrückt: jugendliche Sonderwelten) befeuert wird, damit die sorgsam gehegten Sozialisationsideale und -ziele bzw. Entwicklungsideale und -ziele nicht über Bord geworfen werden müssen und die (Sozial-)Pädagogisierung der Welt ungehindert voranschreiten kann. Ob Fremdenfeindlichkeit, Gewalt, 191
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Kriminalität, Medien- oder Drogenkonsum – stets konzentrieren sich Medienvertreter und Forscher auf jene jungen Menschen, denen sie noch Schwierigkeiten oder Probleme attestieren können. Dass es keinen Sinn macht, von Minderheiten auf Mehrheiten zu schließen, wird dabei selten erwähnt. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass junge Menschen (zu allen Zeiten) erhebliche Orientierungsprobleme haben. Junge Menschen heute müssen ihre Orientierungsprobleme aber zusehends selber lösen, denn Erwachsene kommen kaum selber noch zurecht. (Auch) heute sind junge Menschen der Zukunft vielleicht nicht unbedingt zugewandt. Sie sind etwelchen Zukünften aber auch (nach wie vor) nicht einfach ausgesetzt. Wie alle Generationen vor ihnen erhandeln auch sie sich diese Zukünfte unter den Umständen, die ihnen hinterlassen werden. Aber vermutlich noch nie in der Geschichte der Moderne waren die kulturellen Werkzeuge – oder anders ausgedrückt: war das geistige Rüstzeug – von Erwachsenen so stumpf. Bildungsziele wie beispielsweise die Entwicklung intellektueller und sozialer Fähigkeiten, um selbstverantwortlich schulischen und anschließend beruflichen Qualifikationen nachzukommen, eine berufliche Erwerbsarbeit aufzunehmen und dadurch die Basis für eine selbstständige Existenz als Erwachsener zu sichern – solche Bildungsziele sind für Heranwachsende vor dem Hintergrund ihrer eigenen Realitätserfahrungen und Zukunftsaussichten heutzutage dermaßen obsolet, dass sie sie bestenfalls als irrelevant ansehen, im schlechteren Falle als das, was man im einschlägigen Jargon ‚Verarsche‘ nennt. Somit sind junge Menschen darauf verwiesen, sich alle möglichen, ihnen zukunftstauglich erscheinenden Kompetenzen anzueignen – auf durchaus unvorhergesehenen Wegen und nicht selten auf zumindest von Erwachsenen als problematisch empfundene Weisen. Dazu gehören, um nur einige besonders ‚kritische‘ – aber keineswegs irrationale – Kompetenzformen zu benennen: Eigenzeitvermehrung durch ‚Zeitdiebstähle‘ (insbesondere mittels Schulschwänzen), gewaltförmige Interessendurchsetzungen, Erfahrungen bzw. Kleinhandel mit illegalen Drogen sowie diverse Formen der illegalen Nutzung des Internets. Weniger kriminalisierend gesprochen: Junge Menschen können bei dem und mit dem, womit sie sich konfrontiert sehen, immer weniger damit rechnen, für sie brauchbare Problemlösungen von Erwachsenen angeboten zu bekommen. Sie sehen sich stattdessen darauf verwiesen, eigene Konzepte für Ressourcenbeschaffung, für die Nutzung von Konsumangeboten und kulturellen Optionen sowie für ihre Selbstverwirklichungs- und Lebenschancen im Allgemeinen zu entwickeln (vgl. Hitzler 2006). Berücksichtigt werden muss dabei auch, dass Jugendkulturen – wie auch das Fernsehprogramm, das Warenangebot, die Sinnoptionen, die Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, wie überhaupt nahezu alles, was in unserer Kultur so bereitgestellt wird bzw. ist – heute viel zerfaserter, viel 192
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heterogener sind als früher. Denn in der Gegenwartsgesellschaft gibt es weit eher zu viel von zu Vielem, als zu wenig. Wenn uns etwas fehlt, dann sind das hinlänglich verlässliche Orientierungsmarken für und Wegweiser durch das Leben (vgl. Hitzler und Niederbacher 2010a). Heranwachsende machen sich in der Regel keine Gedanken über die Kanalisation oder kommunale Sparprogramme. Aber sie machen sich, und zwar nachgerade ständig, ihre Gedanken über das, was ihnen wichtig ist. Jugendlichkeit ist eine Geisteshaltung dezidierter Selbst-Entpflichtung. Diese kulturelle Option ist selbstverständlich nicht aus dem Nichts entstanden, sondern hat sich vor allem seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in westlichen Industriestaaten allmählich entwickelt und ausgebreitet. Für Jugendliche wie für Menschen mit der Geisteshaltung Jugendlichkeit ist es symptomatisch, dass sie all das, was getan wird, weil es, dem Selbst- und Weltverständnis von Erwachsenen zufolge, ‚aus guten Gründen‘ getan werden muss, ebenso praktisch wie beiläufig in Frage stellen dadurch, dass sie es nicht nur nicht tun, sondern dass sie sich schlicht nicht damit befassen wollen. Kurz: Dem Protagonisten von Jugendlichkeit ist symptomatischerweise die Erwachsenengesellschaft so lange relativ gleichgültig, wie diese ihn hinlänglich akzeptabel ‚versorgt‘ und zugleich ‚in Ruhe‘ lässt (vgl. Hitzler 2006). Was jungen Menschen wirklich wichtig ist, geschieht mehr und mehr in juvenilen Sonderwelten. Das heißt: Was ihnen wichtig ist, finden sie in einer kaum noch überschaubaren Vielzahl von größeren, kleineren und kleinsten Gesellungsgebilden, in denen heterogene Themen von Bedeutung und ganz unterschiedliche Verhaltensweisen angemessen sind. Bildung – im weiten Sinne der Entwicklung und Aneignung lebenspraktisch relevanter Kompetenzen – erwerben Jugendliche heutzutage vor allem in solchen ‚besonderen‘ Sozialräumen. Bestimmte Varianten derartiger Sozialräume, wie sie sich insbesondere seit den 1980er Jahren entwickeln, werden als Szenen bezeichnet (siehe dazu Kapitel 3.3.4.5). In solchen thematisch fokussierten Sonderwelten leben und erleben heutige Jugendliche also die für sie wesentlichen Teile ihres Lebens. Das bedeutet umgekehrt eben, dass für sie andere – von ‚der‘ (Erwachsenen-)Gesellschaft als wichtig erachtete – Relevanzen von nachgeordneter Bedeutung sind, dass sie also eine Einstellung an den Tag legen, welche irritierte Erwachsene vor Fragen stellt wie die, wer sich unter den Bedingungen grassierender Juvenilität denn dann noch um die Kanalisation kümmere. Unbeschadet dessen sind Heranwachsende sehr wohl dazu fähig, eigene, auf als relativ ‚offen‘ verstandene Zukünfte hin orientierte Lebensentwürfe zusammenzubasteln: Lebensentwürfe, die symptomatisch um Werte wie die soziale Anerkennung der eigenen Individualität und Autonomie zentriert zu sein scheinen.
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